»Revolution muss sein«: Karl Radek - Die Biographie 9783412215071, 9783412207250

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»Revolution muss sein«: Karl Radek - Die Biographie
 9783412215071, 9783412207250

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wolf - dietrich gutjahr

re volution muss sein karl radek – die biographie

2012 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Karl Radek, (o. J.). Foto: Deutsches Historisches Museum, Berlin.

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20725-0

Inhaltsverzeichnis Vorwort: Karl Radek – eine Gestalt im Zwielicht............................................. 7 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22.

„Ein sehr begabter Bursche“ (1885–1904)................................................ 19 Die Schule der Revolution (1904–1908)................................................... 42 Polnische Querelen (1908–1914).............................................................. 61 „L’enfant terrible“ der deutschen Sozialdemokratie (1909–1914).............. 84 Lenins widerspenstiger Helfer (1914–1917) ............................................. 126 Zwischenstation Stockholm (1917)........................................................... 189 Russischer Oktober – Petrograd (1917/18)............................................... 235 Russischer Oktober – Moskau (1918)....................................................... 267 Exkurs: „Die Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat“ (1918)......................................................................................... 321 Deutscher November (1918–1919)........................................................... 333 Gefangen in Moabit (1919–1920)............................................................ 378 Sekretär der Komintern (1920)................................................................. 420 Lenins „Deutscher“ (1920/21) ................................................................. 453 „Ein wertvoller Genosse“ (1922)............................................................... 513 Deutscher Oktober (1923)........................................................................ 561 Als Sündenbock abgehalftert (1924).......................................................... 618 Schattenexistenz (1925–1926).................................................................. 654 Opposition, Verbannung, Kapitulation (1926–1929)............................... 688 Stalins Lohnschreiber (1929–1931)........................................................... 741 Stalins Starjournalist und Agent (1932–1933)........................................... 770 Gallionsfigur des Stalinismus (1934–1936)............................................... 800 „Nach allem, was ich für Stalin getan habe!“ (1936–1939)........................ 840

Anstelle eines Nachworts: Mythos und Legende – das Bild Karl Radeks in der Belletristik.............................................................................................. 894 Verzeichnis der Abkürzungen........................................................................... 902 Pseudonyme, Decknamen und Kryptonyme Karl Radeks................................. 905 Bibliographie.................................................................................................... 906 Personenverzeichnis.......................................................................................... 933

Vorwort: Karl Radek – eine Gestalt im Zwielicht Karl Radek, geboren als Karol Sobelsohn 1885 im polnischen Galizien, ist eine der faszinierendsten, aber auch umstrittensten Gestalten des revolutionären Sozialismus. Schon die Urteile seiner Zeitgenossen bewegten sich zwischen Extremen. Den einen galt er als „Intimus“ und „alter ego Lenins“1. Für andere war er nichts weiter als ein „schmieriger Kerl“ und „gemeiner Judenjunge“2. Radek, der mit 51 Jahren zunächst spurlos im GULAG verschwand und, wie wir heute wissen, 1939 als politischer Häftling in einem Gefängnis im Südural erschlagen wurde, war zweifellos eine der unkonventionellsten und schillerndsten Figuren der kommunistischen Weltbewegung. Nach seiner Verurteilung zu zehn Jahren Haft im Moskauer Schauprozess von 1937 wurde der weltweit bekannte Starjournalist und Propagandist des Sowjetregimes zur Unperson. Sein Name wurde aus den Annalen des Bolschewismus getilgt und über Jahrzehnte hinweg im Sowjetblock totgeschwiegen, bis in Moskau 1988 im Zuge von Glasnost’ und Perestroika seine Rehabilitierung posthum erfolgte. In der westlichen Welt sind der ungewöhnliche Lebensweg, das politische Wirken und das journalistische Schaffen Radeks ebenfalls fast vergessen, auch wenn vor allem im Zusammenhang mit den neomarxistischen Strömungen der 1970er Jahre einzelne Übersetzungen und Reprints seiner Schriften neuerlich erschienen sind.3 Die Erinnerung an ihn verbindet sich zumeist nur mit dem Bild einer zwielichtigen Randfigur des Sowjetkommunismus, einer grauen Eminenz der Weltrevolution, die in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts dunklen politischen Ge-

1 Bericht des k.u.k. Generalkonsuls in Moskau, George de Pottere, an den [österreichischen] Minister des Äußeren Stefan Graf Burian von Rajecz, 6. Oktober 1918. Baumgart, Vor fünfzig Jahren, in: „Aus Politik und Zeitgeschichte“, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B43/68, 26.10.1968, S. 19. 2 Walther Rathenau 1922. Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 144. 3 Radek, Karl: (1) Nojabr’. Iz vospominanij; in: „Krasnaja Nov’“, no. 10, 1926. Deutsche Übersetzung in: Schüddekopf, Karl Radek in Berlin. Ein Kapitel deutsch-russischer Beziehungen im Jahre 1919, Hannover 1962. (2) Avtobiografija, in: Dejateli SSSR i revoljucionnogo dviženija Rossii = Ėnciklopedičeskij Slovar’ Russkogo Bibliografičeskogo Instituta Granat, 7 izd., tom 41, čast’ II, Moskva 1927–1929, Sp.138–169. Reprint: Moskva 1989. Gekürzte französische Übersetzung in: G. Haupt/J.-J. Marie: Les bolchéviks par eux mêmes, Paris 1969, S. 321–343. Gekürzte englische Übersetzung in: Dies., Makers of the Russian Revolution, Ithaka/New York 1974, S. 361–384. (3) Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse (1912), Reprint: New York & London 1972. (4) Auszüge aus Reden und Aufsätzen 1909–1934, in: Möller, Dietrich: Karl Radek in Deutschland. Revolutionär, Intrigant, Diplomat, Köln 1976. (5) Portrety i pamflety (1927), Reprint: London 1979. (6) Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches (1919); Reprint: Stuttgart 1979. (7) Die Gewerkschaften und die Kommunistische Partei 1919 (Kapitel aus: Die Entwicklung der Weltrevolution und die Taktik der Kommunistischen Parteien im Kampf um die Diktatur des Proletariats; geschrieben 1919) und Bericht über die Gewerkschaftsbewegung auf dem II. Kongress der Kommunistischen Internationale 1920; Reprint: Dortmund, 1979.

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schäften nachging. Dafür typisch ist die Kurzcharakteristik, die Georg von Rauch formulierte: „Karl Radek stammte aus Galizien. Er war in der Schweiz mit Lenin zusammengetroffen und auch gemeinsam mit ihm nach Russland zurückgekehrt, Als recht belesener und gewandter Journalist machte er sich Lenin unentbehrlich. Lenin verwendete ihn auch gelegentlich zu kleinen diplomatischen Aufträgen. Radek war ein zynischer Menschenverächter und zog es vor, aus dem Halbdunkel heraus zu wirken.“4

Die Historiographie beschäftigte sich mit Karl Radek als einem Akteur im zweiten Glied der sozialistischen Bewegung und der bolschewistischen Revolution zunächst nur mit thematisch und zeitlich eng begrenzten Studien. Hervorzuheben sind OttoErnst Schüddekopfs Untersuchungen über Radeks Verstrickung in die Göppinger Affäre von 19125, den Aufenthalt im revolutionären Berlin im Jahre 19196 und sein Taktieren mit dem Phänomen des deutschen Nationalbolschewismus7. Der britische Historiker Edward Hallett Carr beschrieb Radeks „politischen Salon“ im Gefängnis von Berlin-Moabit.8 Seinen Anteil am Zustandekommen des Vertrages von Rapallo haben Theodor Schieder9 und Herbert Helbig10 dargestellt. 1959 erfuhr Radek durch Lyman H. Legters erstmals eine ausführlichere Würdigung als „Sprachrohr des Bolschewismus“.11 In dem amerikanischen Historiker Warren Lerner, der ihn als den „letzten Internationalisten“ des Sowjetregimes beschrieb, fand er 1970 erstmals einen Biographen.12 Unter den Untersuchungen seiner Rolle in den deutsch-sowjetischen Beziehungen ragt die Arbeit von Marie-Luise Goldbach heraus.13 1988 veröffentlichte der US-Autor Jim Tuck eine Radek-Biographie, die ihn als „Triebkraft des Bösen“ interpretierte.14 Mit dem 1995 erschienenen Roman „Radek“ wurde der 4 von Rauch, Geschichte der Sowjetunion, S. 118. 5 Schüddekopf, Otto-Ernst, Der Revolution entgegen: Materialien und Dokumente zur Geschichte des linken Flügels der deutschen Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg; in: Archiv für Sozialgeschichte IX, 1969, S. 451–497. 6 Ders., Karl Radek in Berlin. Ein Kapitel deutsch-russischer Beziehungen im Jahre 1919; in: Archiv für Sozialgeschichte II, 1962, S. 87–166. 7 Ders., Linke Leute von rechts. Die nationalrevolutionären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 1960. 8 Carr, Edward H., Radeks „Political saloon“ in Berlin 1919; in: „Soviet Studies“, Vol. III, 1951/52, S. 411–430. 9 Schieder, Theodor, Die Entstehungsgeschichte des Rapallo-Vertrages; in: „Historische Zeitschrift“ Nr. 204, 1967, S.545–609. 10 Helbig, Herbert, Die Träger der Rapallo-Politik, Göttingen 1958. 11 Legters jr., Lyman H.: Karl Radek als Sprachrohr des Bolschewismus, Berlin 1959. 12 Lerner, Warren: Karl Radek. The last Internationalist, Stanford/California 1970. 13 Goldbach, Marie-Luise: Karl Radek und die deutsch sowjetischen Beziehungen 1918–1923, BonnBad Godesberg 1973. 14 Tuck, Jim: Engine of Mischief. An Analytical Biography of Karl Radek, New York, Westport/Connecticut, London 1988.

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mittlerweile fast wieder Vergessene von dem ostdeutschen Schriftsteller Stefan Heym neuerlich ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt.15 Die vorläufigen Schlusspunkte der Auseinandersetzung mit einer der „originelleren und phantasievolleren Gestalten in der Geschichte des Kommunismus“ bilden die 2003 veröffentlichte und auf bislang unbekannten sowjetischen Dokumenten beruhende Arbeit des St. Petersburger Historikers Oleg Nikolaevič Ken über Radeks Wirken im Büro für internationale Information des CK der VKP(b) in den Jahren 1932–193416, die 2004 in französischer Sprache publizierte „politische Biographie“ Radeks des Genfer Historikers Jean-Francois Fayet17 sowie eine biographische Skizze von Dietrich Möller, die ihn als „skeptischen Revolutionär“ beschreibt.18 Schließlich stellt ihn ein 2009 aktualisierter Aufsatz des Moskauer Historikers Aleksandr Vatlin, der sich auf bisher unveröffentlichte Dokumente aus Stalins Archiven stützt, als eine von Tragik umwitterte Gestalt zwischen sowjetischem Politbüro und deutscher Revolution vor.19 Siebzig Jahre nach dem Tod Karl Radeks existiert noch keine umfassendere deutschsprachige Biographie des Mannes, der auch in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg auf dem linken Flügel der SPD und später in der Kampfzeit der KPD eine wichtige Rolle gespielt hat. Zudem konnten in den älteren US-amerikanischen Arbeiten weder die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bekanntgewordenen Materialien Berücksichtigung finden noch wurde darin näher auf die zahlreichen Belege von Radeks ungeheuer fruchtbarer publizistischer Tätigkeit eingegangen. Angeregt durch seinen Lehrer Georg Stadtmüller an der Hochschule für Politik in München, beschäftigt sich der Verfasser seit langem mit dem Lebensweg und dem Wirken Karl Radeks. Die vorliegende Lebensbeschreibung Karl Radeks soll einem historiographischen Desiderat Rechnung tragen und zugleich biographische Defizite in bisherigen Darstellungen ausfüllen. Karl Radek besaß den Hang zur Selbsterläuterung, war stets ein äußerst mitteilsamer Mensch und galt in seinen biographischen Angaben als ein im Prinzip 15 Heym, Stefan: Radek, München 1995. 16 Ken, Oleg: Karl Radek i Bjuro Meżdunarodnoj Informacii CK VKP(B), 1932–1934 gg. [Karl Radek und das Büro für Internationale Information des CK der VKP (b), 1932–1934], in: „Cahiers du Monde russe“, 44/1, Janvier-mars 2003, p. 135–178. Internet-link: http://www.olegken.spb.ru/ work/hid/article/Karl_Radek_i_RMI_CK_VKP%28b%29_%282003%20.pdf 17 Fayet, Jean-Francois: Karl Radek (1885–1939). Biographie politique. Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt/M., New York, Oxford, Wien 2004. 18 Möller, Dietrich: Der skeptische Revolutionär – Karl Radek in Deutschland, in: Stürmische Aufbrüche und enttäuschte Hoffnungen. Russen und Deutsche in der Zwischenkriegszeit; Hrsg. Karl Eimermacher, München 2006 = West-Östliche Spiegelungen. Neue Folge, Band 2. Es handelt sich um die aktualisierte Fassung von Möllers Essay „Revolutionär, Intrigant, Diplomat“ in seinem 1976 publizierten Buch „Karl Radek in Deutschland“. 19 Vatlin, Aleksandr: „Die Krise unserer Partei bedroht die Weltrevolution“. Karl Radek zwischen sowjetischem Politbüro und deutscher Revolution, in: „Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte“, 1997, Heft 2, S. 135–162. Aktualisierte Version in: Vatlin, Alexander: Die Komintern. Gründung, Programmatik, Akteure. Berlin 2009, S. 223–247.

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zuverlässiger Berichterstatter. Auch ein großer Kreis von Zeitgenossen hatte nahezu ungehinderten Einblick in vieles, was sein Leben betraf. Dennoch konnte sich die Forschung bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion fast ausschließlich auf die außerhalb des Sowjetblocks vorhandenen Dokumente stützen.20 Erst nach dem Zerfall der UdSSR wurde auch Material aus den ehemaligen sowjetischen Archiven zugänglich. Der Bestand des ehemaligen Parteiarchivs der KPdSU(B) befindet sich im Russischen Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte (RGASPI)21 in Moskau, das bis 1999 den Namen „Russisches Zentrum für die Aufbewahrung und Erforschung der Dokumente der neuesten Geschichte [RCChIDNI)“22 trug, sowie im Archiv des Präsidenten der russischen Föderation.23 Die Bestände des RGASPI wie auch des Staatsarchivs der Russischen Föderation (GARF)24 sind sukzessiv freigegeben worden, darunter auch die Korrespondenz zwischen Stalin und Radek sowie zahlreiche Beschlüsse des Politbüros zur Tätigkeit Radeks. Die vorliegende Arbeit greift auf Dokumente aus Stalins Archiven zurück, die Wladislaw Hedeler, Oleg Ken, Aleksandr Vatlin und Dmitrij Volkogonov erschlossen und publiziert haben. Herangezogen wurde auch ein autobiographischer Beitrag Radeks in russischer Sprache, der bis heute nicht ins Deutsche übersetzt, seinen Werdegang bis in die 1920er Jahre abhandelt.25 Ebenfalls Verwendung fanden das biographische Material aus Radeks kaum beachteter 1913 erschienener Verteidigungsschrift „Meine Abrechnung“26, die Auskunft über angebliche „Jugendsünden“ und seine Rolle im polnischen Parteistreit vor dem Ersten Weltkrieg gibt sowie seine Berichte über die Reise im „plombierten Waggon“ Lenins27 und die Erlebnisse im revolutionären Deutschland der Jahre 1919/20.28 Eingeflossen sind viele Zeugnisse 20 Erschlossen wurden die Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes in Bonn, des Haus-, Hof- und Staatsarchivs in Wien sowie der National Archives in Washington. Über weitere Radek betreffende Archivalien verfügen das Bundesarchiv Koblenz, das Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, das International Institut voor Sociale Geschiedenis Amsterdam und die Archive verschiedener amerikanischer Universitäten. 21 Rossijski Gosudarstvennyj Archiv Social’no Političeskoj Istorii (RGASPI). 22 Rossijskij Centr Chranenija i Izučenija Dokumentov Novejšej Istorii (RCChIDNI). 23 Bereits ab 1989 erfolgten Dokumentenpublikationen in der Zeitschrift „Izvestija CK KPSS“, die 1991 mit der Auflösung der Staatspartei ihr Erscheinen einstellte. Seit Anfang 1995 veröffentlicht man Dokumente insbesondere im „Boten des Archivs des Präsidenten der Russischen Föderation [Vestnik Archiva Presidenta Rossijskoj Federacii]“, der alle zwei Monate in der Zeitschrift „Die Quelle [Istočnik]“ erscheint. Chlewnjuk [Chlevnjuk], S. 14–23; Hedeler, S. XXVII–XVIII. 24 Gosudarstvennyi Archiv Rossijskij Federacii (GARF). 25 Radek, Karl, Avtobiografija, siehe oben, Anm. 3. 26 Radek, Karl, Meine Abrechnung, Bremen 1913. 27 Radek, Karl, Im plombierten Wagen durch Deutschland; in: Platten, Fritz, Die Reise Lenins durch Deutschland im plombierten Wagen, Berlin 1924. 28 Radek, Karl, Nojabr’, Iz vospominanij; in: Krasnaja Nov’, no. 10, 1926. deutsche Übersetzung in: Schüddekopf, Otto-Ernst, Karl Radek in Berlin. Ein Kapitel deutsch-sowjetischer Beziehungen im Jahre 1919; in: Archiv für Sozialgeschichte II, 1962, S. 119–166.

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seines umfangreichen Schaffens als politischer Journalist und Publizist29 sowie Auszüge aus seinen Reden. Zusammen mit Protokollen, Berichten, Aufrufen und Resolutionen der Kommunistischen Partei Deutschlands und der Kommunistischen Internationale von 1919–1925 geben sie Aufschluss über seine von erstaunlichen Konstanten geprägte politische Linie. Bisher für biographische Zwecke unausgewertet gebliebene Materialien über Radek wurden unter anderem entnommen: Karl-Ernst Morings Untersuchung über die Bremer SPD, Willi Gautschis Arbeit über Lenin als Emigrant in der Schweiz, Horst Lademachers Sammlung von Dokumenten der Zimmerwald-Bewegung, dem Moskauer Tagebuch Alfred Paquets, den Erinnerungen Curt Geyers, den von Jens Becker publizierten Dokumenten über das Parteiverfahren gegen Radek im Jahre 192530 sowie auch den Werken Lenins und Stalins. Zurückgegriffen wurde auf Schilderungen und Charakteristiken zahlreicher Zeitzeugen, die ihren persönlichen Eindruck von Radek schriftlich festgehalten haben. Im Wesentlichen handelt es sich um Berichte von Journalisten, Memoiren von Diplomaten, Äußerungen von Kominternangehörigen, die mit Stalin gebrochen haben und Aussagen von Überläufern des sowjetischen Geheimdienstes. Aus der Fülle der Namen seien erwähnt: Viscount d’Abernon, Anželika Balabanova, Margarete BuberNeumann, Anna Larina Bucharina, Louis Fischer, Ruth Fischer, Curt Geyer, Gustav Hilger, Val’tr Krivickij, Bruce Lockhart, Leo Matthias, Valeriu Marcu, Gustav Mayer, Rosa Meyer-Leviné, Aleksandr Orlov, Alfons Paquet, Paul Scheffer, Moritz Schlesinger und Edgar Sisson.

29 Für Radeks deutschlandpolitische Artikel in der sowjetischen Presse wurde herangezogen: Helmut Grieser, Die Sowjetpresse über Deutschland in Europa 1922–1933. Revision von Versailles und Rapallo-Politik in sowjetischer Sicht. Stuttgart 1970. 30 Als wichtige Materialgrundlagen wurden verwendet: (1) für Radeks Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in Bremen: Karl-Ernst Moring: Die Sozialdemokratische Partei in Bremen 1890–1914. Reformismus und Radikalismus in der Sozialdemokratischen Partei Bremens, Hannover 1968; (2) für seinen Aufenthalt als Emigrant in der Schweiz: (2.1) Willi Gautschi: Lenin als Emigrant in der Schweiz, Zürich und Köln 1973. (2.2) Horst Lademacher (Hrsg.): Die Zimmerwalder Bewegung. Protokolle und Korrespondenz. Band 1 und 2. The Hague 1967; (3) über sein Wirken im Moskau des Jahres 1918: das Tagebuch von Alfons Paquet; in: Winfried Baumgart: Von Brest-Litowsk zur deutschen Novemberrevolution. Aus den Tagebüchern, Briefen und Aufzeichnungen von Alfons Paquet. März bis November 1918, Göttingen 1971; (4) für Radeks Tätigkeit in der KPD 1920/21: die Erinnerungen von Curt Geyer; in: Wolfgang Benz/Hermann Graml (Hrsg.): Die revolutionäre Illusion. Zur Geschichte des linken Flügels der USPD. Erinnerungen von Curt Geyer, Stuttgart 1976; (5) über Radeks Beitrag zur Faschismus-Diskussion der Komintern: Leonid Luks: Entstehung der kommunistischen Faschismustheorie. Die Auseinandersetzung der Komintern mit Faschismus und Nationalsozialismus 1921–1935. Stuttgart 1984; (6) über das Parteiverfahren gegen Radek im Jahre 1925: Jens Becker u.a.: Das erste Tribunal. Das Moskauer Parteiverfahren gegen Brandler, Thalheimer und Radek, Mainz 1993; (7) über Radeks Wirken als Leiter des Büros für internationale Information des CK der VKP(b) 1932–1934: die Arbeit von Oleg Ken (siehe oben, Anm.16).

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Berücksichtigung fanden selbstverständlich auch die Radek-Studien und Biographien der eingangs erwähnten Autoren. Für Grundlagenmaterial zur Geschichte von KPD, KPdSU(B), Komintern sowie biographische Angaben über kommunistische Führer wurden vor allem die Arbeiten von Robert Conquest, Isaac Deutscher, Werner Hahlweg, Peter Nettl und Hermann Weber sowie die Enzyklopädie „Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft“ benutzt. Die Darstellung des Lebens und Wirkens von Karl Radek folgt der Chronologie der von ihm durchlaufenen biographischen Stationen und verknüpft sie mit dem auf ihn fokussierten zeitgeschichtlichen Hintergrund. Unerlässlich war die Einbettung seines Lebensweges in Entwicklungen der polnischen und der deutschen Sozialdemokratie sowie des Bolschewismus, die bestimmend für die Herausbildung seiner totalitär geprägten weltanschaulichen Überzeugung und ihre Umsetzung in sein radikales Denken und Handeln waren. Gleiches gilt für die Einbeziehung zeitgeschichtlicher Ereignisse und Personen. Die Biographie schlägt einen Bogen von der politischen Sozialisation Radeks im damals zur Donaumonarchie gehörenden Teil Polens um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert über die Lehr- und Kampfjahre in der polnischen und deutschen Sozialdemokratie hin zum Anschluss an die Exil-Bol’ševiki in der Schweiz während des Ersten Weltkrieges; von dem Weg an der Seite Lenins in Sowjetrussland über seine Allianz mit Trockij hin zu seinem Wiederaufstieg und Fall unter Stalin in den 1930er Jahren. Jedes der 22 Kapitel gliedert sich in einen beschreibenden Teil, gefolgt von einem die biographischen Daten ergänzenden, vertiefenden und bewertenden Part. Die Hervorhebungen in Zitaten entsprechen dem jeweiligen Originaltext. Sofern nicht anders vermerkt, erfolgte die Übersetzung der fremdsprachigen Texte ins Deutsche durch den Verfasser, das Essay von Oleg Ken mit Unterstützung durch Regina Olszewska-Rautner und Andreas Rautner. Die Wiedergabe russischer Namen und Bezeichnungen folgt der philologisch-wissenschaftlichen Transkription. Allen Datumsangaben liegt der gregorianische Kalender zugrunde. Die ersten drei Kapitel beschreiben Radeks Entwicklung bis zum 28. Lebensjahr: Kindheit und Jugend; die Wandlung vom polnischen Nationalisten zum Sozialdemokraten und die Tätigkeit als politischer Journalist; seine politische Radikalisierung durch Rosa Luxemburg und Leo Jogiches, als deren Schüler er erste Erfahrungen mit Revolution und Gefängnis sammelt; das Zerwürfnis mit seinen Mentoren und die beginnende Hinwendung zu Lenin. Zeitlich parallel zum Streit mit Luxemburg und Jogiches verläuft Radeks skandalträchtiger Weg in der deutschen Sozialdemokratie, den das vierte Kapitel ins Blickfeld nimmt. Mit 22 Jahren kommt er nach Deutschland. Wegen seines Engagements am linksradikalen Rand der SPD wird er bald ihrer Führung ein Dorn im Auge und unter fadenscheinigen Argumenten aus der Partei geworfen. Das fünfte Kapitel untersucht Radeks Aufenthalt von 1914– 1917 in der Schweiz, wohin er während des Ersten Weltkrieges als österreichischer „Militärflüchtling“ emigriert. Er schließt sich dem dort im Exil lebenden Lenin an und entwickelt sich zu einem der fähigsten Akteure der Bol’šéviki. Das sechste Kapitel handelt von der Fahrt mit Lenin im „plombierten Wagon“ durch Deutschland im

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Jahre 1917. Radek wird aber nicht nach Russland mitgenommen, sondern beendet die Reise in die russische Revolution bereits in Stockholm. Dort beteiligt er sich an der Abwicklung der durch den zwielichtigen Mittelsmann Berlins, Parvus-Helphand, organisierten heimlichen Finanzierung der Bolšéviki durch das kaiserliche Deutschland und hilft mit, die deutschen Gelder für Lenin nach Russland zu transferieren. Zugleich agiert er als Sprachrohr und Horchposten Lenins im Westen. Erst nach der Oktoberrevolution gelangt er im November 1917 ins rote Petrograd. Er ist an seinem politischen Wunschziel angekommen. Im Machtrausch legitimiert er propagandistisch Gewalt und Terror der Bol’šéviki. Die beiden folgenden Kapitel sieben und acht sind seiner Rolle im russischen „roten Oktober“ gewidmet. In Petrograd leitet er im Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten die revolutionäre Auslandspropaganda der Bol’šéviki. 1918 begleitet er Trockij als Berater zu den Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten nach Brest-Litovsk. Als Gegner eines Friedensschlusses sucht er die Konfrontation mit Lenin und plädiert für den Revolutionskrieg gegen die „deutschen Imperialisten“. Nach der Verlegung der Sowjetregierung in das von deutschen Truppen nicht unmittelbar bedrohte Moskau beendet Radek die Opposition gegen den Frieden von Brest-Litovsk. Mit Lenin wieder ausgesöhnt, widmet er sich als Leiter der Mitteleuropa-Abteilung des Außenkommissariats und Abteilungsleiter der Internationalen Abteilung der Kommunistischen Partei der Revolutionierung Deutschlands. Er zählt nun zur Führungsmannschaft des Kreml’. Innenpolitisch betätigt er sich weiterhin als Propagandist des „Roten Terrors“. Blickt man auf den bisherigen Weg Radeks im linksradikalen Sozialismus zurück, so bestand er in der ständigen Suche nach einem erfolgverheißenden Revolutionsrezept. Mit Lenins in der Oktoberrevolution praktisch erprobter Revolutionstheorie glaubt er den Stein der Weisen für den Umsturz gefunden zu haben. So beschäftigt sich das neunte Kapitel als Exkurs mit Radeks 1918 verfasster Schrift „Die Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat“. Darin empfiehlt er die von den Bol’šéviki mit totalitären Mitteln praktizierte Machtergreifung und Machtbehauptung als Aktionsmodell für die Revolutionierung Westeuropas. Die Kapitel zehn und elf beinhalten Radeks Aktivität in Deutschland von 1918 bis 1920. Mit dem militärischen Zusammenbruch der Mittelmächte Ende 1918 vermeint er endlich den „eisernen Schritt“ der Weltrevolution zu hören. Von Lenin mit Instruktionen für die Arbeit im „Rücken des Feindes“ versehen, begibt er sich illegal nach Deutschland, wo er zum „eigentlichen Gründer der KPD“ wird. Als er erkennt, dass die Situation keineswegs reif für die Revolution ist, versucht er vergeblich die noch schwache neue Partei aus den Januarkämpfen 1919 herauszuhalten. Er wird als angeblicher Drahtzieher des „Spartakusaufstandes“ verhaftet, ins Gefängnis von Berlin-Moabit eingeliefert und verbleibt bis Januar 1920 in „militärischer Schutzhaft“. Während der Haft führt er eine Art „politischen Salon“, in dem er deutsche Politiker, Publizisten, Wirtschaftsführer und Militärs empfängt, um ihnen den neuen Sowjetstaat als attraktiven Partner für eine künftige Kooperation zu empfehlen. Er nimmt auch unmittelbaren Einfluss auf den weiteren Ausbau der deutschen kommunistischen Partei. Es ist die wohl politisch fruchtbarste Zeit in Radeks Leben. Er ist nach Deutschland gekommen,

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um Revolution zu machen und bleibt, um sowjetische Außenpolitik zu betreiben. Er wird zum Bahnbrecher der deutsch-sowjetischen Annäherung, die sich später im Vertrag von Rapallo und Projekten militärischer Zusammenarbeit materialisieren wird. Im Mittelpunkt von Kapitel zwölf steht Radeks politische Aktivität im Anschluss an die Rückkehr nach Moskau im Jahre 1920. Er avanciert zum Vollmitglied des neunzehnköpfigen Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Russlands und zum Sekretär des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale. Damit gehört er zum Führungskern der Partei und ist neben dem Vorsitzenden Zinov’ev als Sprecher des internationalen Kommunismus und Stratege der Weltrevolution zum wichtigsten Funktionär der III. Internationale geworden. Mit 34 Jahren steht er im Zenit seiner Karriere und geht gemeinsam mit Zinov’ev erfolgreich daran, die Komintern aus einem losen Propaganda-Unternehmen in eine zentralisierte Kampforganisation umzuwandeln: eine kommunistische Weltpartei unter einem Generalstab in Moskau. Im Sommer 1920 nimmt er im russisch-polnischen Krieg als Mitglied des polnischen Revolutionskomitees, das als provisorische kommunistische Regierung Polens fungiert, am Marsch der Roten Armee auf Warschau teil. Er hatte Lenin von dem Feldzug abgeraten, der – wie von ihm prognostiziert – in einer militärischen Katastrophe endet. Kurz darauf legt Radek das Amt als Komintern-Sekretär nieder um sich, wie in Kapitel 13 untersucht, als Deutschlandbeauftragter der Kommunistischen Internationale und als Deutschlandexperte im außenpolitischen Braintrust Lenins sowohl dem Management der deutschen Revolution als auch der Durchsetzung der Koexistenzpolitik Moskaus gegenüber dem Reich zu widmen. Er ist in informelle Sondierungen eingeschaltet, die der Vorbereitung der Aufnahme der vollen diplomatischen Beziehungen zwischen Moskau und Berlin dienen. In ihm personifiziert sich die Zweigleisigkeit sowjetrussischer Politik: Einerseits korrekte politische Beziehungen und Kooperation und andererseits – wenn opportun – deren Sabotage durch Agitation, Propaganda und kommunistische Wühlarbeit. Ende 1920 begibt Radek sich illegal nach Deutschland, um durch die Spaltung der USPD den Ausbau der KPD zur Massenpartei VKPD zu forcieren. Er schaltet den an der Tradition Rosa Luxemburgs orientierten KP-Führer Paul Levi durch Intrigen aus und hievt seine eigenen Gefolgsleute an die Spitze der Partei. Damit leitet er die Bolschewisierung der KPD ein, die das Ziel hat, die deutschen Kommunisten für die revolutionären Ziele der Bol’ševiki und die Außenpolitik Sowjetrusslands zu instrumentalisieren. In der Zeit revolutionärer Ebbe erfindet Radek Anfang 1921 eine neue Kampfmethode, die dem Kommunismus durch Propaganda und Zusammenarbeit mit zeitweiligen Bündnispartnern den Weg zur Machtergreifung ebnen soll. In einem „Offenen Brief“ an die deutschen Sozialdemokraten wirbt er mit einem Minimalprogramm sozialer Forderungen für die Zusammenarbeit mit den Kommunisten. Damit ist er der Schöpfer der Idee einer „Einheitsfront“ mit Sozialdemokratie und Gewerkschaften, die ein wesentliches Element der offiziellen Weltstrategie der Komintern wird. Das vierzehnte Kapitel befasst sich mit dem janusgesichtigen Agieren Radeks in der Moskauer Politik. Seine diplomatische „Mission Roemer“, die ihn 1922 nach Berlin führt, lässt ihn zum Architekten des Vertrages von Rapallo und zum Wegbereiter der

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Zusammenarbeit von Roter Armee und Reichswehr werden. Damit hat er herausragenden Anteil an den Bemühungen Sowjetrusslands, die internationale Isolierung zu durchbrechen und die völkerrechtliche Anerkennung zu erreichen. Das moderate außenpolitische Auftreten Radeks als Verfechter eines „modus vivendi“ mit den kapitalistischen Staaten ist auf das Ziel ausgerichtet, das Überleben des Sowjetstaates zu gewährleisten. Es steht damit nur scheinbar in völligem Gegensatz zu seinem scharfmacherischen Verhalten in innersowjetischen Angelegenheiten, wo es ebenfalls um die Sicherung der bolschewistischen Herrschaft geht. Hier ist er der kompromisslose Anwalt des als „Regime der sozialistischen Gerichtsbarkeit“ legalisierten roten Terrors. Den Schauprozess gegen die Führer der Sozialrevolutionäre – die ehemaligen Koalitionspartner und nunmehrigen Gegner der Bol’ševiki – begleitet er mit einer wüsten Hetzkampagne und der Forderung nach physischer Vernichtung der Angeklagten. Kapitel fünfzehn behandelt die Ereignisse des Jahres 1923, das zum Schicksalsjahr für Radek wird und den Wendepunkt in seiner Karriere bedeutet. Lenin ist nach dem dritten Schlaganfall handlungsunfähig und der Kampf um seine Nachfolge setzt ein. Radek unterstützt engagiert Trockij gegen Stalin und Zinov’ev. Als man im Kreml’ der Illusion erliegt, mit der Zuspitzung der Ruhrkrise in Deutschland bestünden dort reale Chancen für eine siegreiche Revolution, wird Radek zur Führung des erhofften „deutschen Oktobers“ ins Reich abkommandiert. Bereits bei seinem Eintreffen ist ein stümperhaft inszenierter kommunistischer Umsturzversuch kläglich gescheitert. Nicht nur der Putsch, sondern auch Radeks Einheitsfronttaktik in Deutschland sind fehlgeschlagen. Sein „Schlageterkurs“ zur Gewinnung der Rechten und das Werben der KPD um Verbündete aus Sozialdemokratie und Gewerkschaften sind ohne Erfolg geblieben. 1924 wird er, wie in Kapitel sechzehn dargestellt, zum Sündenbock für die revolutionäre Niederlage in Deutschland erklärt und verliert mit dem Tod Lenins sowohl seinen Sitz im Zentralkomitee der Partei als auch im Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale. Es wird ihm verboten, sich künftig in die Angelegenheiten von Komintern und KPD einzumischen. Der Manager der Revolution ist von der Bühne der Moskauer Politik verbannt und tritt den Rückzug in die Sowjetpropaganda an. Obwohl von Stalin als „subversiver Trotzkist“ geschmäht, füllt er seine neue Rolle linientreu aus und unterstützt als Journalist die „Kampfaufgaben“ der sowjetischen Außenpolitik. Das Kapitel siebzehn geht auf die Tätigkeit Radeks von 1925 bis zum Frühjahr 1926 ein. Er hält sich von den Fraktionskämpfen in der Kreml’-Führung fern und ist als außenpolitischer Redakteur von „Pravda“ und „Izvestija“ in seinen Artikeln bemüht, im sowjetischen Interesse Einfluss auf Stresemanns Locarnopolitik und die deutschen innenpolitischen Verhältnisse zu nehmen. Provokation, Verleumdung, Rufmord und Instrumentalisierung von Antisemitismus betrachtet er in seiner publizistischen Arbeit als legale Waffen im Klassenkampf. Ein heimlicher Versuch, weiter in den Angelegenheiten der Kommunistischen Partei Deutschlands mitzumischen, bringt ihm ein Parteiverfahren ein, das mit einer Parteistrafe endet. Damit ist die „Ära Radek“ in der KPD endgültig abgeschlossen. Im Sommer 1925 wird er zum Rektor der Moskauer SunJat-sen-Universität berufen, einer Kaderschmiede für chinesische Kommunisten.

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Eine Weichenstellung, die für die beiden folgenden Jahre sein Schicksal mit dem der chinesischen Revolution verknüpft. In Kapitel achtzehn wird beschrieben, wie er die kontrovers diskutierte Frage der Revolution in China auf die politische Tagesordnung bringt, nachdem er sich im Frühjahr 1926 der von Trockij und Zinov’ev geführten Vereinten Opposition gegen Stalin angeschlossen hat. Für den aktiven Oppositionellen, der als Internationalist Stalins Politik des isolierten Aufbaus des Sozialismus in Sowjetrussland ablehnt, werden die Spalten der Parteipresse gesperrt. Als er 1927 Stalins Chinapolitik kritisiert, verliert er auch seinen Posten als Hochschulrektor. Nach dem ohnmächtigen Versuch mit den Führern der Opposition öffentlich gegen die Diktatur von Stalins Parteisekretariat zu demonstrieren, wird er aus der Partei ausgeschlossen und im Januar 1928 zusammen mit anderen Oppositionellen nach Sibirien verbannt. Im Sommer 1929 beendet Radek seinen Widerstand und kapituliert vor Stalin, dem er fortan dient. Er bricht politisch mit Trockij, der ihm über viele Jahre hinweg freundschaftlich verbunden war, aber längst in die Türkei abgeschoben ist. Die letzten vier Kapitel behandeln Radeks Rückkehr auf die Moskauer Bühne als Publizist, Kulturfunktionär, Berater und Agent Stalins sowie seinen Sturz. Kapitel neunzehn umfasst die Zeitspanne von 1929 bis 1931, in der Radek Stalin seine Loyalität beweist, indem er seinen Freund Bljumkin der OGPU ausliefert und – wieder in die Partei aufgenommen – publizistisch Hexenjagd auf angebliche innere „konterrevolutionäre und kapitalistische Feinde“ macht. Er geißelt sich wegen seines früheren Luxemburgismus und Trockismus. Als „Lohnschreiber Stalins“ verbiegt er trickreich die Wahrheit und lügt ungeniert für seinen Herrn. Kapitel zwanzig stellt dar, wie Radek 1932/33 als Leiter des Büros für Internationale Information beim CK der VKP(b) zum Politikberater und Agenten der Geheimdiplomatie Stalins avanciert. Er ist der sowjetische Starjournalist und das „quasi-diplomatische Sprachrohr“ des Kreml’. Mit der Machtergreifung Hitlers ist Radeks Wert als Berater, Mittelsmann und Einflussagent in deutschen Angelegenheiten für Stalin noch gestiegen. An der außenpolitischen Propagandafront wirft er propagandistische Nebelkerzen gen Westen Er verbreitet sich über die angebliche Friedenspolitik der Sowjetunion und preist Stalin als „Friedensfürsten“. Scheinheilig behauptet er, die Sowjetunion habe die Weltrevolution ad acta gelegt. Seine Artikel finden im Westen oft größere Beachtung als die offiziellen Erklärungen der Sowjetregierung. Das Kapitel einundzwanzig widmet sich den Aktivitäten Radeks von 1934 bis 1936. Er betätigt sich als Hagiograph. Mit dem Artikel „Der Baumeister des Sozialismus“ entwirft er die Grundlage für den künftigen Personenkult um Stalin. Als Kulturfunktionär propagiert er das Dogma des Sozialistischen Realismus in der Literatur und versucht getreu seinem alten Rezept der Einheitsfront, im Westen eine „Volksfront“ moskaufreundlicher Literaten zu initiieren. Er hat maßgeblichen Anteil an der Ausarbeitung der Stalin-Verfassung, die er als die „demokratischste Verfassung der Welt“ propagiert. Auch in seinen zahlreichen Publikationen wirkt er emsig an der Errichtung einer Potemkinschen Fassade für Stalins Sowjetunion mit. Die letzten Jahre im Leben Radeks sind Gegenstand von Kapitel 22. Im September 1936 erfasst ihn die Terrorwelle von Stalins „Großer Säuberung“, die Lenins „alte Garde“ auslöscht. Er

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wird unter der falschen Beschuldigung „konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit“ verhaftet und im Moskauer Zentralgefängnis des NKVD, der Lubjanka, zweieinhalb Monate verhört, bis er unter Folter seine angeblichen politischen Verbrechen gesteht. Er rettet vorerst sein Leben, indem er sich Stalin im Moskauer Schauprozess von 1937 mit Falschaussagen gegen seine mitangeklagten politischen Freunde als Kronzeuge zur Verfügung stellt. Zu einer Haftstrafe von zehn Jahren verurteilt, wird er 1939 auf Geheiß Stalins in einem Gefängnis im Südural ermordet. Jahrzehntelang im Sowjetblock eine „Unperson“, erfährt er als Opfer der Stalinschen Verfolgungen ein halbes Jahrhundert nach dem Tod seine posthume Rehabilitierung durch den Obersten Gerichtshof der UdSSR. Dennoch war er wohl mehr Täter als Opfer, beteiligte er sich doch engagiert an der Errichtung eines von Terror und Lüge geprägten totalitären Systems, das über mehr als siebzig Jahre hinweg seine menschenverachtenden Ziele brutal durchsetzte, bevor es in einem welthistorisch beispiellosen Akt seinen Untergang selbst herbeiführte. An Stelle eines Nachworts findet sich ein kurzer Überblick über das sowohl idealisierte als auch dämonisierte und von Mythen und Legenden geprägte Bild Karl Radeks in der belletristischen Literatur. Fast siebzig Jahre nach seiner Ermordung steht er zusätzlich im Mittelpunkt einer Oper, die ihn als tragische Gestalt interpretiert, als einen Menschen, der das Paradies auf Erden verwirklichen wollte, aber letztlich daran mitgewirkt hat, eine Hölle zu schaffen. Karl Radek hat einmal auf den Einwand, doch zu bedenken, wie dereinst das historische Urteil über ihn lauten werde, kaltschnäuzig mit dem Satz reagiert: „Wen kümmert schon die Geschichte, wir alle werden dann tot sein.“ Die Terrormaschine, die er zu schaffen half und der er zuletzt noch seine politischen Freunde auslieferte, hat ihn schließlich selbst vernichtet. Auch seine Frau Rosa starb im GULAG. Lediglich Radeks Tochter Sonja hat Lager und Verbannung überlebt. Aus historischer Distanz betrachtet, ist die Gestalt Karl Radeks exemplarisch für den Typ des ideologisch geprägten Schreibtischtäters im totalitären 20. Jahrhundert. Er nahm die Opfer seines Wirkens zynisch und ohne schlechtes Gewissen als „historische Notwendigkeit“ in Kauf und wurde schließlich selbst zum Opfer. Denkt man an die grauenvolle Bilanz von vielen Millionen Toten durch die Verbrechen des Bolschewismus, so kommen einem die von Schmerz und Trauer getragenen Verse Anna Achmatovas in den Sinn: „Und Städte wechseln ihren Namen, und die Zeugen dessen was geschah sind tot und niemand tauscht mit uns Erinnerungen und weint mit uns.“31

Dem Gedenken der Opfer ist dieses Buch gewidmet. 31 Anna Achmatova: Gedichte, Frankfurt/Main 1990, S. 81. Nachdichtung von Uwe Grüning. [Russisch: Anna Achmatova: Severnye Ėlegii, Moskva 1988].

1.  „Ein sehr begabter Bursche“ (1885–1904) Der kleine Lolek war eine Halbwaise und bei den Klassenkameraden in der Schule nicht gerade beliebt. Seine Mutter musste ihn oft vor dem Spott der anderen Kinder in Schutz nehmen. Noch nach sechzig Jahren erinnerte sich ein Mitschüler an ihn als ein wenig attraktives und seltsames Kind: „Er war klein, mager und körperlich unterentwickelt; von frühester Jugend an hatte er immer eine Brille auf seiner Nase sitzen. Aber trotz seiner allgemeinen Häßlichkeit, war er sehr überheblich und selbstbewußt […]. Lolek war in Tarnow ziemlich bekannt. Seine häßliche Nase, sein aufgeworfener Mund und vorstehende Zähne kennzeichneten ihn klar. Er trug immer ein Buch oder eine Zeitung mit sich. Er las ständig – zu Hause, auf der Straße, in den Schulpausen – Tag und Nacht und sogar während des Unterrichts […].“1

Der Name Lolek war als Diminutiv des polnischen Vornamens Karol der mütterliche Kosename und zugleich der Rufname für den gelegentlich auch „Kopel“2 genannten jungen Karl Sobelsohn. Er wuchs gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der damals zu Österreich gehörenden westgalizischen Kleinstadt Tarnów auf. Lolek, hatte ein Lieblingsbuch, den Roman „Syzyfowe Prace [Die Sisyphusarbeit]“ von Stefan Żeromski3. Das Buch erzählt vom erwachenden Nationalbewusstsein polnischer Schüler an einem Gymnasium in Russisch-Polen. Der eigentliche Held des Romans, der aus bescheidenen Verhältnissen stammende Bauernbursche Andrzej Radek, ist der eloquente Führer einer radikalen Schülergruppe, die sich gegen Russifizierung und autoritäre Unterdrückung auflehnt. Die Rebellion gegen die repressive Gesellschaftsordnung und der Kampf um die Bewahrung der nationalen Identität sind für ihn untrennbar miteinander verbunden, und er entfacht die revolutionäre Begeisterung seiner Kameraden als er bei einer ihrer Zusammenkünfte das Arbeiterlied anstimmt, „Nehmt die Hämmer in die Hände – lasst uns Waffen schmieden“! Die Gestalt des Andrzej Radek faszinierte Lolek. Radeks Herkunft, sein Fühlen und Trachten erschienen ihm wie ein eigenes Spiegelbild und forderten ihn zur Identifikation heraus. Der junge Sobelsohn wollte Radek sein und ahmte eifrig die Rolle seines Romanhelden nach. 1901 musste er deshalb wegen verbotener politischer Agitation das Gymnasium in Tarnów verlassen. Als revolutionärer Aktivist 1 Shaynfeld, S., Der yunger Karol Radek [Der junge Karl Radek], in: Torne: Kiyum un Khurbn fun a yidisher shtot [Tarnów: Leben und Sterben einer jüdischen Stadt], Tel Aviv 1954, S. 318; zitiert nach Lerner, S. 4. 2 Polski Słownik Biograficzny. Tom 29, S.10; zitiert nach Hebig, Saur Polskie Archivum Biograficzne, Seria Nova, Mikrofiche II/305, Nr. 427. 3 Żeromski, Stefan (1864–1925), sozialkritischer polnischer Schriftsteller. „Syzyfowe Prace“ wurde erstmals 1897 veröffentlicht.

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und linksradikaler Journalist benutzte er von 1904 an seinen Familiennamen immer seltener. Er führte den Namen seines literarischen Vorbildes Radek als Pseudonym4 und Parteinamen und legte den Namen Sobelsohn nach der Oktoberrevolution 1917 in Russland endgültig ab.5 Nach neueren russischen Angaben wurde Karl Radek am 31. Oktober 18856 in Lemberg geboren, der Hauptstadt des damaligen österreichischen Kronlandes Galizien7. Um seine Herkunft rankt sich noch immer die schon früh kolportierte Fama vom „Bub aus dem Ghetto.“ Dies gehört ebenso ins Reich der Fabel, wie die Behauptung, seine Mutter habe ein Kabarett besessen.8 Allerdings war Radek an der Entstehung solcher Geschichten nicht ganz unschuldig. So flunkerte er beispielsweise 4 Lerner, S. 5f., weist erstmals auf den Ursprung des Pseudonyms hin. Er widerlegt damit die unter Anspielung auf angebliche Jugendsünden Radeks in der KPD kolportierte und verbreitet in die Literatur übernommene Ableitung des Namens „K. Radek“ vom polnischen Wort für Diebstahl – „kradziez“ – als unzutreffend. Ebenfalls auf vorgebliche Eigentumsdelikte bezog sich auch der später in Moskau kursierende Spitzname Radeks, der – auf der Signatur seiner Zeitungsartikel mit „K. Radek“ basierend – den Anfangsbuchstaben seines Vornamens mit seinem Nachnamen zu „kradek“ verband, was Dieb bedeutet. Allerdings äußerte niemand die naheliegende Vermutung, er habe sich aus Protest und Selbstironie hinter diesem Namen versteckt, denn man traute ihm alle Schlechtigkeiten zu. Nicht zu belegen ist die Deutung Ströbingers (S. 14), dass das Pseudonym Radek an das Wort „radikal“ erinnern sollte. 5 Buszko erwähnt die Februarausgabe 1904 der polnischen sozialdemokratischen Jugendzeitschrift „Promień [Der Strahl]“, in der ein mit „Karol Radek“ gezeichneter „Korrespondenzbericht aus Krakau“ enthalten ist („Promień“, Nr. 2, Februar 1904, S. 69–71). Er weist damit den wohl erstmaligen journalistischen Gebrauch des Pseudonyms nach. Buszko, S. 215, Anm. 51. Lerner zufolge hat Radek seit 1904 seinen eigentlichen Namen kaum noch benutzt. Lerner, Anm. 14, S. 118. Der polnische Sozialist Bolesław Drobner (1883–1968) erinnert sich, dass Radek als SDKPiL-Mitglied [1905] begann, das Pseudonym Karol Radek zu führen. Drobner, S. 133. Allerdings schrieb er beispielsweise noch im Oktober 1916 unter dem Namen „Sobelson“ aus der Schweiz nach Deutschland. Mayer, Gustav, S. 249. Auch behielt er bis 1918 seinen auf den Namen Sobelsohn lautenden österreichischen Pass. Schurer, Part I, S. 59. 6 Abweichend vom Geburtsjahr 1885, das Radek und alle russischen Quellen nennen, geben einige Autoren 1883 an; so beispielsweise Koszutka, Maria, Pisma i Przemówienia, Tom I, Warszawa 1961, S. 312; Stern, Leo (Hrsg.), Die Auswirkungen der großen sozialistischen Oktoberrevolution auf Deutschland, Berlin (Ost) 1959, S. 200; Weber, Hermann, Die kommunistische Internationale, 1966, S. 379; Benz/Graml (Hrsg.), 1976, S. 84, Anm. 45; Meyer- Leviné (Hrsg. Weber, H.), 1979, S. 363. Auf 1883 deutet auch eine Bemerkung Brupbachers hin, der erwähnt, dass Radek ihn 1905 als „zweiundzwanzigjähriger Jüngling“ während eines Streiks in Zürich heftig angepöbelt habe. Brupbacher, S. 261. Möglicherweise gab sich Radek gelegentlich für älter aus, als er tatsächlich war. Hermann Weber nannte in seiner erwähnten Schrift 1883, weil Rosa Meyer-Leviné ihm gesagt hatte, Radek sei tatsächlich 1883 geboren. Inzwischen ist er aber davon überzeugt, dass diese Angabe nicht richtig ist und das Geburtsjahr 1885 zutrifft. Mitteilung Hermann Webers an den Verfasser vom 13. Februar 2002. 7 Soweit nicht anders vermerkt, fußen die im folgenden wiedergegebenen biographischen Daten auf Radek, Avtobiografija, Sp. 138–142; ders., Meine Abrechnung, S. 11–42; Lerner, S. 2–6; Shaynfeld, S. 318f., zitiert nach Lerner, S. 4. 8 Alexandrow, S. 71.

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1912 einem jüdischen Journalisten vor, sein Vater sei ein frommer und weltfremder chassidischer Jude gewesen und seine hübsche Mutter habe es als Wirtin einer Weinstube, in der fesche k.u.k Offiziere verkehrten, mit der ehelichen Treue nicht so genau genommen9. In Wahrheit jedoch waren Radeks Eltern, Bernhard und Sophie Sobelsohn, ein Muster an Solidität und Respektabilität. Sie waren um 1880 in Lemberg zugezogen und zählten zu dem kleinbürgerlichen Kreis emanzipierter, germanophiler Juden, der in Osteuropa die städtische Schicht par excellence bildete. Der Vater war ein Postbeamter in untergeordneter Stellung. Die Mutter entstammte einer für die deutsche Kultur schwärmenden, bildungsbeflissenen Familie in Tarnów. Lolek hatte eine um drei Jahre ältere Schwester, mit der ihn aber nichts weiter verband. Als kleiner Junge war er gezwungen worden, ihre spitzenbesetzten Höschen aufzutragen, wogegen er sich vehement wehrte, da er dies als eine tiefe Demütigung empfand und zu Recht den Spott seiner Schulkameraden fürchtete.10 Immerhin sind die spitzenbesetzten Dessous der Schwester ein weiteres Indiz dafür, dass die Familie Sobelsohn eine kleinbürgerlich-mittelständische Existenz führte. Radek selbst sprach allerdings später von der „Not“, die in seiner in ärmlicher Umgebung lebenden Familie geherrscht habe. Es ist aber naheliegend, dass das lediglich eine Zweckbehauptung war, mit der er sich die Aura einer halbwegs proletarischen Abkunft zu verleihen suchte. Sicherlich zutreffend zählt ihn sein galizischer Landsmann Isaac Deutscher11 zu der Sorte von Revolutionären, die die soziale Not, gegen die sie zu Felde zogen, nur aus der Ferne kannten und nicht unmittelbar am eigenen Leibe verspürt hatten12. Als im Jahre 1890 der Vater überraschend verstarb, übersiedelte die Mutter mit dem kleinen Lolek und seiner Schwester auf Drängen ihrer dort lebenden Brüder wieder in ihre Heimatstadt Tarnów in Westgalizien. Tarnów war das Verwaltungszentrum der gleichnamigen galizischen Bezirkshauptmannschaft, Bischofssitz und Garnisonsstadt. Von den über 27.500 meist polnischen Einwohnern waren mehr als 11.700 Juden.13 Sophie Sobelsohns älterer Bruder hatte dort eine Anstellung als Bierbrauer. Ihr jüngerer Bruder war Offizier in der k.u.k. Armee. Sophie, die in Tarnów als „Panna Zosia [Fräulein Sophie]“ bekannt war, arbeitete dort zunächst als Kindergärtnerin und fand schließlich eine Stelle als Volksschullehrerin. Radeks Mitschüler Shaynfeld erinnerte sich an sie als eine sehr gütige Frau und äußerst liebevolle Mutter. Lolek wuchs weitgehend in den Familien seiner beiden Onkel auf, die der Mutter brüderlich halfen und ihn und seine Schwester „ernährten und kleideten“. Er traf 9 Litvak, S. 33; zitiert nach Tuck, S. 3. 10 Meyer-Leviné, S. 363f. 11 Deutscher, Isaac (1907–1967); Journalist und Schriftsteller polnischer Abstammung; Biograph Trockijs. 1924–1939 Mitglied der Kommunistischen Partei Polens; als Stalingegner aus der Partei ausgestoßen, emigrierte er 1939 nach Großbritannien. 12 Deutscher, Stalin, S. 40. 13 1890 zählte Tarnów 27.574 meist polnische Einwohner, darunter 11.722 „Israeliten“ . Brockhaus 1895.

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dort auf eine Umgebung, die vom autodidaktischen Bemühen um den Aufstieg in die Welt des Bildungsbürgertums geprägt war und die er wie folgt beschrieb: „Nicht die polnische klerikal-katholische Kultur bildete die Quelle der Bildung der Familie der Mutter, sondern – wie bei allen jüdischen Familien in Galizien – die klassische deutsche Literatur mit ihren universellen humanitären Ideen. Lessings „Nathan der Weise“ war das Lieblingsbuch des älteren Bruders der Mutter, […] der sich in seiner Freizeit eine Reihe europäischer Sprachen angeeignet hatte und philosophische Schriften verschlang. Heine war der Lieblingsschriftsteller des anderen Onkels.“14

Das Milieu deutsch-jüdischer Lesekultur, das er bei seinen Verwandten vorfand, bildete für Lolek eine prägende Erfahrung. Er entwickelte sich zu einer richtiggehenden Leseratte. Noch später liebte er Kleist, Grillparzer, Heine und Goethe. Auch wurde durch die vom Vater hinterlassenen deutschsprachigen Bücher sein historisches Interesse frühzeitig geweckt, wobei Rottecks „Allgemeine Weltgeschichte für alle Stände“15 eine Hauptrolle bei seiner Lektüre spielte. Allerdings sollte er sich seiner deutsch-jüdischen Umgebung bald entfremden. Radek, der zunächst die Höhere Bürgerschule in Tarnów besuchte16, wandte sich in jugendlichem Trotz und pubertärem Protest vom germanophilen Reformjudentum seiner Verwandtschaft ab und begann offen gegen seine Mutter zu revoltieren. Sein Schulkamerad Shaynfeld, der sich über Loleks respektloses und beleidigendes Benehmen der Mutter gegenüber mokierte, merkte zudem säuerlich an: „Für die jüdische Bevölkerung und jüdische Probleme zeigte er nicht das geringste Interesse“17 – ein Hinweis darauf, dass er die Bindung an den Glauben seiner Väter bereits in jungen Jahren innerlich gelöst hatte. Radeks eigenen Worten zufolge, fing er in der Schule an, sich für das polnische patriotische Kulturerbe zu begeistern und mit dem katholischen Glauben zu liebäugeln: „Ungeachtet seiner katholischen Hülle nahm mich der polnische Patriotismus gefangen. Und ich bekannte mich zu ihm. Auch war ich bis zum dreizehnten Lebensjahr nicht nur ein polnischer Patriot, sondern ich besaß sogar eine Neigung zum Katholizismus.“18 Damals bildete das österreichische Galizien, in dem die Polen 1867 eine autonome Landesverwaltung erhalten hatten und wo das Polnische Unterrichts- und Amtssprache war, die letzte Zuflucht der vor allem in Russisch-Polen unterdrückten polnischen Nationalbewegung. Lolek wurde von der dort Ende der achtziger Jahre 14 Radek, Avtobiografija, Sp. 138. 15 Ein damals noch populäres und fortgeschriebenes Werk des Freiburger Historikers Carl von Rotteck (1775–1840). 16 In Tarnów gab es zwei höhere Schulen, die Höhere Bürgerschule und das von Radek ab Untersekunda besuchte Polnische Staats-Obergymnasium als Oberstufengymnasium. Vgl. Brockhaus, 1895, a.a.O. 17 Shaynfeld, S. 319; zitiert nach Lerner, S. 4. 18 Radek, Avtobiografija, Sp. 138.

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des 19. Jahrhunderts einsetzenden Wiederbelebung des polnischen Patriotismus voll erfasst. Er vertiefte sich mit Enthusiasmus in das polnische Nationalepos „Pan Tadeusz“ von Adam Mickiewicz, das am Vortage von Napoleons Russlandfeldzug spielt und den Kampf der Polen gegen die Russen zum Thema hat. Er beschäftigte sich mit patriotischen Broschüren über die polnischen Freiheitskämpfe und lauschte als Zehnjähriger während der Ferien auf dem Lande den Geschichten, die ein alter Knecht über den Krakauer Aufstand von 1846 zum besten gab; Erzählungen, aus denen ihm der Atem der Revolution erstmals entgegenwehte, wie er später behauptete. Der Geist der Auflehnung und des Aufruhrs begann ihn zu beseelen und im November 1895 zeigte er sich fasziniert von Presseberichten über die Straßendemonstrationen und die Revolutionsstimmung in Wien wegen der stürmische Proteste auslösenden Sprachenverordnung des Ministerpräsidenten Graf Badeni. Auch Zeitungsbilder, welche die wüsten Szenen einer aus gleichem Anlass zur Saalschlacht ausartenden Wiener Parlamentssitzung zeigten, hinterließen einen nachhaltigen Eindruck auf ihn. Seine jugendliche Aufsässigkeit und seine Begeisterung für die Romantik des polnischen Freiheitsmythos sprechen aber zugleich für das Bestreben, seine jüdische Identität abzustreifen und sich im polnischen Milieu kulturell zu assimilieren. Als er in das Polnische Staats-Obergymnasium in Tarnów eintrat, schloss er sich einer patriotischen Schülergruppe an, die ihn zu Mutproben auf den nächtlichen Friedhof schickte und die schließlich aufflog, als einer der Schüler versuchte, dem Brauereibesitzer Getz19 in Tarnów „Geld für die Befreiung Polens“ zu rauben und deshalb zu einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt wurde. Im Österreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts bildete neben der Nationalitätenfrage der Kampf der Sozialdemokratie für das allgemeine Wahlrecht das beherrschende innenpolitische Thema. Zwar hatte Radek über die politische Aktivität der Sozialdemokraten schon in der Zeitung gelesen, aber nach seiner Erinnerung nahm der eigentliche Prozess seiner Politisierung den Anfang mit einer Begegnung im Stadtpark von Tarnów: „Den ersten Arbeiter lernte ich kennen, als ich vierzehn Jahre alt war. Ich ging täglich um fünf Uhr morgens in den Stadtpark zum Lesen. Und als ich mich dort eines Sonntags aufhielt, waren am Parkausgang Bauarbeiter. Der Älteste, des Lesens und Schreibens unkundig, fragte mich, ob ich ihm nicht aus der Zeitung vorlesen könnte. Er zog die sozialdemokratische Zeitung ,Naprzód [Vorwärts]‘ aus der Tasche und ich mußte sie ihm von der ersten bis zur letzten Seite vorlesen. Von ihm erfuhr ich, daß es in der Stadt eine Gewerkschaft der Stoffmützenmacher gab und etliche Leute organisierte Bauarbeiter waren. Ich blieb mit ihm in Verbindung […].“20 19 Vermutlich war der als Brauer tätige Onkel Radeks Angestellter der Brauerei Getz, aber es bleibt Spekulation, ob Radek als Tippgeber für den Raub in Frage kommt. 20 Radek, Avtobiografija, Sp. 139. Die seit 1892 in Krakau herausgegebene sozialdemokratische Zeitung „Naprzód“ erschien zunächst vierzehntägig, ab 1895 wöchentlich und nach der Jahrhundertwende als Tageszeitung.

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Ob Radek die Zeitung „Naprzód“ wirklich auf diese Art und Weise kennengelernt hat, bleibt dahingestellt. Bei dem hohen Prozentsatz von Analphabeten in Galizien ist seine Darstellung aber zumindest nicht unwahrscheinlich.21 Auf alle Fälle begann er die allwöchentlich erscheinende Zeitung der Polska Partia Socjal-Demokratyczna/ PPSD [Polnische Sozialdemokratische Partei] nunmehr regelmäßig zu lesen, wobei er sich wohl zunächst besonders von der kompromisslosen nationalistischen Haltung des Blattes angezogen fühlte. Die 1893 in Galizien von Ignacy Daszyński22 gegründete PPSD war die Schwesterpartei der im russischen Teil Polens 1892 entstandenen Polska Partia Socjalistyczna/PPS [Polnische Sozialistische Partei], die vom Nestor der polnischen Sozialisten Bolesław Limanowski23 geleitet wurde. Beide Parteien, die sich in ihren sozialen Zielen im Wesentlichen mit dem Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie identifizierten, verkörperten den nationalistischen Flügel der polnischen Arbeiterbewegung. Sie strebten die Befreiung Polens von der Fremdherrschaft der Teilungsmächte sowie die Schaffung eines unabhängigen polnischen Staates als Vorbedingung für die Verwirklichung ihrer sozialdemokratischen Programmatik an. Obwohl ihm als Gymnasiast jegliche politische Betätigung verboten war, nahm er – durch die Episode im Stadtpark neugierig geworden – heimlich Kontakt zu den gewerkschaftlich organisierten Mützenmachern auf, die sich im Hinterzimmer einer jüdischen Bäckerei zu versammeln pflegten – der Ort, wo sie auch ihre deutschsprachigen politischen Bücher aufbewahrten. Dort las er das von Karl Kautsky und Eduard Bernstein verfasste „Erfurter Programm“ der SPD, die Schrift „Die Frau und der Sozialismus“ von August Bebel, die Reden Ferdinand Lassalles und Franz Mehrings „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie“. Dem jungen Gymnasiasten erschloss sich eine neue Welt. Die sozialdemokratischen Traktätchen, die er bisher gelegentlich gelesen hatte, hatten ihn kaum beeindruckt, aber jetzt war er nach seinen eigenen Worten fasziniert: „Für den Rest des Jahres vernachlässigte ich das schulische Lernen und las Tag und Nacht diese Literatur. Ich begriff die Grundzüge des Sozialismus und machte mich ans Werk, sie im Gymnasium zu propagieren.“24 Im Hinblick auf die den jungen Radek politisch prägende Wirkung dieser Schriften lohnt es sich einen kurzen Blick auf ihre Inhalte zu werfen: „Das Erfurter Programm – in seinem grundsätzlichen Teil erläutert von Karl Kautsky“ – war auf dem SPD-Parteitag 1891 verabschiedet worden. Es machte den Marxismus zur ideologischen Basis der Partei. Im theoretischen Teil analysiert Kautsky auf Marx fußend die ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und geht von einer weiteren Verschärfung des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse aus:

21 1890 konnten von 6.607.816 Einwohnern Galiziens nur 1.239.122 lesen und schreiben, 492.680 lediglich lesen und 4.876.614 weder lesen noch schreiben. Brockhaus 1895, a.a.O. 22 Daszyński, Ignacy (1866–1936). 23 Limanowski, Bolesław (1835–1935), Nestor der polnischen Sozialisten, „Las[s]alleaner“. 24 Radek, Avtobiografija, Sp. 139f.

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„Immer größer wird die Zahl der Proletarier, immer massenhafter die Armee überschüssiger Arbeiter, immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der die moderne Gesellschaft in zwei feindliche Heerlager trennt und das gemeinsame Merkmal aller Industrieländer ist.“25

Erst die Vergesellschaftung der in privatkapitalistischer Hand befindlichen Produktionsmittel führt zur Befreiung des Proletariats und zur Abschaffung der Klassengesellschaft. Den politischen Kampf für dieses Ziel organisiert die Sozialdemokratische Partei: „Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist notwendigerweise ein politischer Kampf […]. Diesen Kampf der Arbeiterklasse zu einem bewußten und einheitlichen zu gestalten und ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen, das ist die Aufgabe der socialdemokratischen Partei.“26

Der von Eduard Bernstein verfasste politisch-praktische Teil des Programms artikuliert die Forderungen nach Demokratisierung des Staates und Sozialreformen und verlangt das allgemeine Wahlrecht, die Gleichberechtigung der Frau, den Achtstundentag, den kostenlosen Schulbesuch, die unentgeltliche Rechtspflege und ärztliche Versorgung, die Meinungs-, Koalitions- und Versammlungsfreiheit sowie den Wegfall der indirekten Steuern. Dieses im Geiste des Marxismus formulierte ideologische Grundsatzprogramm der SPD diente zahlreichen anderen sozialistischen Parteien – darunter auch der polnischen Sozialdemokratie – als Vorbild für eigene Prinzipienerklärungen. Insbesondere die revolutionäre Idee des Klassenkampfes stieß bei den in drei Ländern ohne demokratische Tradition – Österreich, Russland und Deutschland – beheimateten polnischen Sozialisten auf große Resonanz. Wie in den anderen sozialdemokratischen Parteien dieser Staaten setzte sich bei ihnen ebenfalls die Überzeugung durch, dass die Macht der herrschenden Klassen – Aristokratie, Großgrundbesitzer, Hochfinanz und Großindustrie – nur durch die Revolution gebrochen werden konnte und dass daher die Revolution die unvermeidliche Voraussetzung für die sozialistische Neugestaltung der Gesellschaft sei.27 Und Radek meinte wohl vor allem Klassenkampf und Revolution, wenn er behauptete, die Grundzüge des Sozialismus begriffen zu haben. Bebels „Die Frau und der Sozialismus“ – eine Kampfschrift von 1879 für Frauenwahlrecht und Emanzipation – setzt sich ein für die Befreiung der Frau sowohl vom „Joch des Kapitalismus als auch des Patriarchats“ und betont die besondere Bedeu-

25 Brockhaus 1895, Band 14, S. 2. 26 Ebenda. 27 Vgl. Braunthal, S. 8f.

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tung der Frauenfrage im Klassenkampf. Ein Thema, das Radek auch noch später in der Stalin-Ära beschäftigte. Lassalle war ein Gegner des parlamentarischen Prinzips. In Übereinstimmung mit Hegel lehnte er das Prinzip parlamentarischer Mehrheitsbildung und Entscheidung ab und stellte dem liberalen Staatsgedanken einen absoluten Staatsbegriff gegenüber. Die von Eduard Bernstein 1891–1893 edierten „Reden und Schriften“ Lassalles enthalten einen Teil der forensischen Reden, die er für seine zahlreichen Prozesse verfasste. Sie gehören zu dem Teil seines Werkes, der in den Bereich der politischen Agitation fällt. Darin lag seine eigentliche Begabung, wobei er die Stilmittel Heines mit Marx’ kritischer Diktion kombinierte und in der Zügellosigkeit der Polemik beide übertraf.28 Dem jungen Radek gefiel das offenbar so gut, dass er sich dies zum Vorbild nahm. Er urteilte immer wieder positiv über Lassalle, und noch 1921 schrieb er in seinem Gedenkaufsatz für Rosa Luxemburg, dass die Idee des Sozialismus – soweit sie vom Westen kam – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Broschüren Lassalles in Polen eingedrungen sei.29 Franz Mehring versucht in seiner 1897/98 erschienenen „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie“ nachzuweisen, dass der Frühsozialismus und der geheime Bund der Kommunisten die unmittelbaren Vorläufer der SPD waren. Diese Darstellung nimmt so breiten Raum ein, dass der erste Teil des ersten Bandes eher eine Studie zu den frühen sozialistischen Strömungen ist als eine Geschichte der Sozialdemokratie. Hier waren es wahrscheinlich die geheimbündlerische Aktivität und die Verschwörertaktik des Bundes der Kommunisten, die Radek besonders anzogen und seine Phantasie anregten, zumal er gezwungen war, sein ihm als Gymnasiast untersagtes politisches Engagement zu verheimlichen. Auf der Suche nach einem Ideal verabschiedete sich Karol jetzt von aller nationalpolnischen Romantik. Er hatte zur „Idee des Sozialismus“ gefunden, eine Erfahrung über die er später generalisierend postulierte: „Nicht in der Vergangenheit, in der Gegenwart und Zukunft mußte die polnische Jugend das suchen, was ihr Herz erwärmen, ihren Geist ernähren konnte“.30 Er hatte sich politisch für das Programm der PPSD entschieden, deren Anziehungskraft sich auf die Verquickung von polnischem Nationalismus und Marxismus gründete. Während dieser Phase der Identifikation mit sozialistischen Ideen muss er auch den eingangs erwähnten Roman „Syzyfowe Prace“ von Stefan Żeromski gelesen haben, der in dem von Russland annektierten Königreich Polen spielt und die dortige Tradition der illegalen Selbstbildungszirkel an den russischen Gymnasien als zeitge28 Mommsen, Hans, in: Kernig, Band 3, Sp. 1337. 29 Radek, Rosa Luxemburg, S. 12. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es auch in Deutschland keineswegs ungewöhnlich über die Schriften Lassalles zum Sozialismus zu finden. August Bebel erinnert sich: „Ich bin vielmehr, wie fast alle, die damals Sozialisten wurden, über Lassalle zu Marx gekommen. Lassalles Schriften waren in unseren Händen, noch ehe wir die erste Schrift von Marx und Engels kannten.“ Bebel, S. 131. 30 Ebenda.

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nössischen Hintergrund nimmt. Dabei handelte es sich um Kleingruppen von Schülern, die sich mit der offiziell unterdrückten Geschichte der polnischen Befreiungskämpfe und den verbotenen patriotischen Werken polnischer Dichter, aber auch mit gesellschaftlichen Problemen und aus dem Ausland hereindringendem sozialistischem Gedankengut beschäftigten. Auch im österreichischen Galizien waren solche kleinen Gruppen entstanden, deren ideologischen und organisatorischen Kristallisationspunkt die 1899 ins Leben gerufene sozialistische Jugendzeitschrift „Promień [Der Strahl]“ bildete.31 Sein sich formierendes politisches Bewusstsein, der daraus erwachsende Betätigungsdrang, das Beispiel der „illegalen Selbstbildungszirkel“ und der organisatorische Impuls durch den „Promień“ motivierten Karol, einen eigenen Zirkel „auf sozialistischer Grundlage“ zu gründen. Es gelang ihm etwa zwanzig Mitglieder dafür zu gewinnen, darunter seine später prominenten Mitschüler Stefan Jaracz32 und Marian Kukiel.33 In diesem Kreis schlüpfte er in die Rolle des „Andrzej Radek“ und verkündete wie sein literarisches Vorbild das Credo, dass der Kampf für die polnische Unabhängigkeit mit dem Kampf für den Sozialismus identisch sei – eine Parole, die bei seinen Kameraden Resonanz fand. Er fasste die politischen Ideen seiner Gruppe so zusammen: „Patriotismus, Demokratie, Sozialismus – diese drei Begriffe, die den Titel der gesammelten Artikel des Veteranen des polnischen patriotischen Sozialismus Bolesław Limanowski darstellten – drückten die Gesamtheit unserer politischen Ideen aus.“34 Für die Arbeit im Zirkel und die Agitation im Gymnasium wertete Radek die deutsche sozialdemokratische Presse aus, namentlich den „Vorwärts“, das offizielle Organ der SPD und die „Leipziger Volkszeitung“ als die bedeutendste Tageszeitung des linken SPD-Flügels. Ihm wichtig erscheinende Artikel exzerpierte er; eine Auswertemethode, die er sich damals angewöhnte und die er zeitlebens beibehielt. Auch las er 1901 die zwei Bücher, mit denen das marxistische Denken gegen Ende des 19. Jahrhunderts breitere Durchsetzungskraft erlangt hatte. Es handelte sich um den ersten Band des „Kapitals“ von Karl Marx und „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“, den 1878 erstmals publizierten „Anti-Dühring“ von Friedrich Engels. Darin entwickelt Engels aus Lehren der deutschen Philosophie, der englischen Politökonomie und des französischen Sozialismus eine in sich geschlossene dialektisch-materialistische Weltanschauungslehre. Er versucht den Nachweis zu führen, dass die kapitalistische Gesellschaftsform gesetzmäßig durch die kommunistische abgelöst werden wird. Aussagen also, die Radeks Bildungsbedürfnis ebenso entgegenkamen wie seinem Gerechtigkeitsempfinden und seinem Wunsch nach revolutionärer Weltorientierung. Für ihn gilt, was Michael A. Meyer als ge31 Drobner, S. 132f. 32 Jaracz, Stefan (1883–1945), populärer polnischer Schauspieler und Theaterintendant. 33 Kukiel, Marian (1885–1973), entstammte einer Adelsfamilie, wurde später Piłsudski-Anhänger und absolvierte eine herausragende militärische Laufbahn als Divisionsgeneral, Kommandeur der Kriegsakademie, Verteidigungsminister der polnischen Exilregierung und Militärhistoriker. 34 Radek, Avtobiografija, Sp. 140.

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nerelle Motivation für die Linksorientierung deutscher und osteuropäischer Juden beschreibt: „Was Juden zum Sozialismus zog, waren Idealismus und Utopismus: die Suche nach einer Gesellschaft, in der ererbte oder willkürliche Unterscheidungen – seien es klassenbedingte oder zugeschriebene – verschwinden würden“. Und, wie es für Radek nicht zutreffender formuliert werden könnte, fügt er hinzu: „[…] einiges an diesem Idealismus war revolutionär und predigte den Umsturz als einzigen Weg zur Gerechtigkeit.“35 Am Gymnasium in Tarnów führte seit der aufsehenerregenden Auflösung der patriotischen Schülergruppe im Jahre 1899 ein neuer strenger Rektor das Regiment. „Für zwei tragische Jahre des Heranreifens schüchterte er uns ein“36, schreibt Radek, der seinen politischen Zirkel auch als eine Widerstandsgruppe gegen die repressive Schulobrigkeit verstand. Obwohl einige der Lehrer, wie Tadeusz Pini37 und Franciszek Nowicki38, mit Radek und seinen Freunden politisch sympathisierten und sie deckten, kam es im Sommer 1901 zum Eklat. Am 15. Juli, dem Jahrestag der Schlacht bei Grunwald [Tannenberg], fand in der westgalizischen Ortschaft Dombrowo, dem heutigen Dąbrowa Tarnowska39, eine Bauernversammlung statt. Karol war mit einigen Schulkameraden, die aus dieser Gegend stammten, in einem Pferdewagen dorthin gefahren und hielt eine öffentliche Rede: „Zum ersten Mal in meinem Leben trat ich in einer großen Versammlung auf dem Marktplatz mit einer Ansprache auf. Diese Rede war nicht nur gegen die Gutsbesitzer und nicht nur gegen die Kapitalisten gerichtet, sondern auch gegen die österreichische, deutsche und russische Regierung, und sie endete mit dem Aufruf zum gemeinsamen Kampf der Arbeiter und Bauern für ein unabhängiges sozialistisches Polen.“40

Diese politische Jungfernrede sollte Folgen haben. Durch einen denunziatorischen Zeitungsbericht auf Radeks öffentlichen Auftritt aufmerksam geworden, verwies ihn der Direktor des Tarnower Gymnasiums deshalb von der Schule. Bemerkenswerterweise wurde diese Entscheidung aber revidiert, als der ihm wohlgesonnene Gymnasialprofessor Pini eine Überprüfung des Falles durch die vorgesetzte Schulbehörde erreichte. Der für die polnischen Gymnasien zuständige Schulrat Max Herrmann41 legte Karol daraufhin nahe, mit der „sozialen Revolution“ doch noch so lange zu warten, bis er das Gymnasium beendet habe, und nahm ihm das Versprechen ab, sich bis dahin aller politischen Betätigung zu enthalten. Radek hielt sich allerdings 35 36 37 38 39

Meyer, Michael A., S. 273f. Radek, Avtobiografija, Sp. 141. Pini, Tadeusz (1872–1937), polnischer Literaturhistoriker, damals Gymnasialprofessor in Tarnów. Nowicki, Franciszek (1864–1935), sozialistischer Dichter, damals Gymnasialprofessor in Tarnów. Dąbrowa Tarnowska liegt ca. 15 km nördlich von Tarnów. Mit von der Partie war sicherlich Radeks Freund Kukiel, der aus Dąbrowa stammte, wo sein Vater Bankdirektor war. 40 Radek, Avtobiografija, Sp. 140. 41 Herrmann, Max (1865–1942), Literatur- und Theaterhistoriker, Übersetzer des Nibelungenlieds ins Polnische.

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nicht an diese Zusage: „[…] aber ich hatte trotz allem keine Lust zu warten, und binnen kurzem fiel ich mit einem Päckchen sozialistischer Literatur auf und wurde zum zweiten Mal aus dem Gymnasium ausgeschlossen, aber immerhin mit der Bewilligung des Rechts, die Reifeprüfung in einer anderen Stadt abzulegen.“42 Offensichtlich hatte er das Consilium abeundi erhalten, das heißt den förmlichen Rat, das Gymnasium zu verlassen, um ihm den Verweis von der Anstalt zu ersparen. Seine Mutter war außer sich. Sie befürchtete nicht nur, dass jetzt aus ihrem Lolek nichts mehr rechtes werden könnte, da man ihn an einem anderen Gymnasium beim Abitur bestimmt durchfallen lassen werde, sondern sie hatte – so Radek – angeblich auch Angst davor, ihre Stelle als Lehrerin wegen der politischen Aktivität ihres Sohnes zu verlieren. Es ist unklar, wie sich fortan das Verhältnis Radeks zu seiner Mutter und seinen Verwandten in Tarnów gestaltet hat. Spätestens 1904, das heißt zu dem Zeitpunkt, als er in Krakau sein Jurastudium vernachlässigte, um sich voll in der sozialistischen Bewegung zu engagieren, muss ihm die Familie ihre Unterstützung entzogen haben, denn Radek schrieb, dass er dieses Jahr in „großer materieller Not“ verbracht habe. Wahrscheinlich galt er fortan als „der verlorene Sohn“. Dennoch sprechen zwei Indizien dafür, dass er seiner Mutter weiterhin innerlich verbunden blieb, wohl auch von dem Wunsch beseelt, sich ihr gegenüber zu rechtfertigen. 1919 schlug er seiner Frau in einem Brief aus dem Gefängnis in Berlin-Moabit vor, die neugeborene Tochter Sophie zu nennen, das heißt ihr den Vornamen seiner Mutter zu geben43, und als Stalins Emissär nutzte er 1933 eine Reise nach Polen dazu, seine alte Mutter in Tarnów zu besuchen, um ihr zu demonstrieren, dass aus ihrem „Lolek“ eine wichtige Persönlichkeit geworden war.44 Aber zunächst bereitete er sich nach dem Hinauswurf aus dem Gymnasium in Tarnów erst einmal auf das Externenabitur in Krakau vor. In diese Zeit fällt die „Affäre vom Bette und was darin war“, wie Radek sie selber nannte.45 Nach einem alkoholischen Exzess verunreinigte er das Bett eines Schulfreundes, bei dem er in Tarnów übernachtete, „in parlamentarisch nicht wiederzugebender Weise.“46 Dieser Vorfall sollte Jahre später durch seine Gegner in politische Munition gegen ihn umgemünzt werden und als es zu einem Parteigerichtsverfahren gegen ihn kam, rechtfertigte er sich 1913 so: „Die Perfidie scheut kein Ding, mag es noch so wenig duftend sein, wenn es nur dem Gegner an den Kopf geschmissen werden kann […]. Bevor jedoch die Leser, dem Gericht folgend, auf Grund dieses Inhaltes des Bettes von Joseph Heynar vom Jahre 1901 meine ,moralische Physiognomie‘ untersuchen wollen, mögen sie sich an die frohe Tradition von Till Eulenspiegel erinnern, die bis heute in den Kreisen der deutschen Burschen lebt 42 43 44 45 46

Radek, Avtobiografija, Sp. 141f. Brief Radeks an seine Frau vom 20.3.1919, in: Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 113. Lerner, S. 157. Radek, Meine Abrechnung, S. 28. Radek, a.a.O., S. 21.

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und unter der so viele Betten gelitten haben. Und bevor sie über mich den moralischen Stab brechen, mögen sie in Betracht ziehen, daß es sich um die Folgen meiner ersten Zeche handelt – ich war damals 16 Jahre alt – und daß der so beschädigte Herr Joseph Heynar – denn nur die Bescheidenheit läßt ihn von seiner Abwesenheit sprechen, während er in besagtem Bette schlummernd, dem Akte, um den es sich handelt, beiwohnte – mir meine Untat später verziehen hat.“47

Ungeachtet der Vorbereitung auf die Reifeprüfung setzte Karol seine politische Agitationsarbeit im Hinterzimmer der Bäckerei und im Schülerzirkel in Tarnów fort. Bolesław Drobner, damals für die sozialistischen Jugendgruppen in Galizien zuständig, besuchte im Mai 1902 eine Versammlung des Selbstbildungszirkels „sozialistischer Gymnasiasten“ in Tarnów bei der die miteinander befreundeten Schüler Karol Sobelsohn und Marian Kukiel Vorträge hielten. Höchst angetan von Radek, gelangte Drobner dabei zu der Überzeugung, dass dieser „ein unglaublich begabter Bursche“ sei.48 Bereits ein halbes Jahr zuvor, gegen Ende des Jahres 1901, hatte Radek den Chefredakteur des „Naprzód“ Emil Haecker49 in Krakau aufgesucht und selbstbewusst zu einem Vortrag nach Tarnów eingeladen. Durch Haecker lernte er auch Zygmunt Żuławski50 kennen, einen damals noch linksstehenden Jugendfunktionär und Anhänger Rosa Luxemburgs,51 der das Amt des Gewerkschaftssekretärs in Tarnów übernehmen sollte. Beide Bekanntschaften erwiesen sich als bedeutsam. Der aus Tarnów stammende Haecker, der Radeks Begabung erkannte, wurde sein erster politischer Mentor, leitete ihn zur systematischen Lektüre marxistischer Literatur an und ebnete ihm nach dem Abitur den Weg in den politischen Journalismus. Durch Żuławski kam er erstmals näher mit dem Gedankengut einer polnischen marxistischen Splitterorganisation in Berührung, die sich von der polnischen Sozialdemokratie abgespalten hatte. Es handelte sich um die Socjaldemokracja Królestwa Polskiego i Litwy/SDKPiL [Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen] 47 Radek, a.a.O., S. 28f. Radeks Version klingt zwar plausibel, ist aber möglicherweise zu exkulpatorisch verharmlosend. Der von Radek geschädigte und blamierte Heynar datierte den Vorfall zwei Jahre später und bekundete schriftlich, „daß Radek, als er bereits Student der Universität war, im Jahre 1903 bis 1904 folgende unerhörte Tat beging: Nachdem er eine Nacht bei Heynar in Tarnów zugebracht hatte, verunreinigte er absichtlich in der Frühe, während der Abwesenheit seines Gastgebers, dessen Bett […], nahm ihm einen Anzug fort und erzählte das dann selbst, um Heynar lächerlich zu machen. Die Kleider hat er übrigens nicht wiedergegeben.“ Radek, a.a.O., S. 21. 48 Drobner, S. 133. 49 Haecker, Emil, Pseudonym von Samuel Haker (1875–1934), führender PPSD-Politiker und Chefredakteur des „Naprzód“. 50 Żuławski, Zygmunt (1880–1949), ursprünglich linksradikaler Gewerkschaftspolitiker, der dann aber von der SDKPiL zur PPSD überwechselte. 51 Luxemburg, Rosa (1870–1919); aus Polen stammende deutsche sozialistische Politikerin; Mitbegründerin des Spartakusbunds und der KPD; nach den Januarkämpfen 1919 in Berlin von Freikorpsangehörigen ermordet.

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mit Rosa Luxemburg als intellektuell herausragender Führerin. Entgegen der nationalistischen Haltung der polnischen Sozialdemokraten zur Frage der polnischen Unabhängigkeit vertrat sie den Standpunkt, in einer Klassengesellschaft existiere die Nation als politisches und soziales Gebilde nicht. Eine Verbindung zwischen der utopischen Idee der Wiederherstellung eines unabhängigen Polen und dem Kampf um den Sozialismus führe die Arbeiterklasse in „die Sackgasse des Nationalismus“. Rosa Luxemburgs Haltung zur Frage der Unabhängigkeit war der Grund dafür, weshalb sie in unversöhnlicher Feindschaft die PPS nach kurzer Mitgliedschaft verlassen und 1893 zusammen mit Leo Jogiches52, Julian Marchlewski53 und Adolf Warszawski54 die Socjaldemokracja Królestwa Polskiego/SDKP [Sozialdemokratie des Königreichs Polen] gegründet hatte, die sich nach dem Beitritt einer von Feliks Dzierżyński55 geführten Gruppe litauischer Sozialisten in SDKPiL umbenannte. Bis zur russischen Revolution von 1905 bestand diese Partei im Wesentlichen nur aus der Führungsgruppe der Gründungsmitglieder und trug mehr den Charakter eines Intellektuellenzirkels als den einer Partei. Für sie ging Einfluss vor Macht und intellektueller Rang vor Mitgliederzahl. Sie war mehr eine pressure group im internationalen Sozialismus als eine politische Partei. Von Żuławski erhielt Radek auch die erste Nummer der „Przegląd Socjaldemokratyczny [Sozialdemokratische Rundschau]“ zur Lektüre, der theoretischen Zeitschrift der SDKPiL, die von Jogiches, Luxemburg, Marchlewski und Warszawski im Berliner Exil herausgegeben wurde.56 In der Retrospektive beschreibt Radek den Eindruck, den diese Zeitschrift bei ihm hinterließ: „Diese Zeitschrift und insbesondere die Artikel von Warski [Warszawski] machten auf mich einen überwältigenden Eindruck. Aus ihnen erfuhr ich, wie die polnischen Marxisten in der polnischen Bewegung die Programmfrage stellten und innerlich mit der Ideologie des polnischen Sozialpatriotismus gebrochen hatten.“57

Das war 1902. Drei Jahre später sollte Radek der SDKPiL selbst angehören und Warszawski-Warski sein neuer Mentor sein. Aber noch hielt er sich an den Luxemburg-Gegner Haecker, dem er sich allerdings auch dann noch „zu großem Dank verpflichtet“ fühlte58, als er politisch und persönlich mit ihm völlig gebrochen hatte. 52 Jogiches, Leo (1867–1919), Parteiname: Tyszka; marxistischer Publizist und Revolutionär. Lebensgefährte Rosa Luxemburgs; nach den Januarkämpfen 1919 in Berlin ermordet. 53 Marchlewski, Julian (1866–1925), Parteiname: Karski; marxistischer Publizist und Revolutionär. 54 Warszawski, Adolf (1868–1937), Parteiname Warski; marxistischer Publizist und Revolutionär. 55 Dzierżyński, Feliks (1877–1926), russisch: Dzeržinskij, Feliks Edmundovič; aus polnisch-litauischem Adel stammender Revolutionär, Angehöriger des Hauptvorstandes der SDKPiL, nach der Oktoberrevolution in Sowjetrussland Volkskommissar und Vorsitzender der „Allrussischen außerordentlichen Kommission zum Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage“, d.h. der berüchtigten Geheimpolizei Čeka und späteren GPU/OGPU. 56 „Przegląd Socjaldemokratyczny“ erschien 1902–1904 in Berlin und 1908–1910 in Krakau. 57 Radek, Avtobiografija, Sp. 142. 58 Ebenda.

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In Krakau legte er schließlich im Sommer1902 als Externer das Abitur am Gymnasium ab. Anschließend hielt er sich noch in Tarnów auf, wo er nunmehr der PPSD beitrat59. Er vertiefte sich in den gerade erst von Franz Mehring in vier Bänden herausgegebenen literarischen Nachlass von Karl Marx und hatte dabei die Empfindung, dass ihn die Jugendarbeiten von Marx „in das Laboratorium führten, in dem der Marxismus geboren wurde.“60 Beim örtlichen Rechtsanwalt Simche61, einem Sozialdemokraten, bei dem er vermutlich im Hinblick auf das angestrebte Jurastudium hospitierte, stieß er auf eine komplette Sammlung der Exemplare der theoretischen Wochenschrift der SPD „Die Neue Zeit“, die er „Nummer für Nummer“ durchlas. Daneben unternahm er erste journalistische Gehversuche und schrieb zwei Artikel, die er in der sozialdemokratischen Presse unterbrachte: Eine für die jugendlichen Leser des „Promień“ gedachte Arbeit über den historischen Materialismus sowie einen Artikel über die soziale Lage der Bäckereiarbeiter in Tarnów, den der „Naprzód“ abdruckte und der dem betroffenen Bäckereiunternehmer so missfiel, dass er dem Autor deshalb Prügel androhte.62 1903 verfasste er überdies eine Besprechung des Buches „Zuckerproduktion und Zuckerprämien bis zur Brüsseler Konvention“ von Max Schippel63. Es ist nicht ganz klar, wann genau Radek Tarnów verließ, um endgültig nach Krakau zu gehen. „Ich kam auf die Universität als 17½jähriger lebendiger Bursche“64, lautet die eine Version Radeks, die auf das Sommersemester 1903 hinweist. Dagegen deutet die autobiographische Bemerkung, er habe sich „im Herbst“ an der Universität in Krakau eingeschrieben65, eher darauf hin, dass er sich für das Wintersemester 1903/1904 an der Jagellonischen Universität für das Jurastudium immatrikulierte. Allerdings widmete er sich in dem neugotischen Prachtbau der Universität weniger dem Studium der Jurisprudenz, als vielmehr dem politischen Engagement in dem sozialistischen Hochschülerverein „Ruch [Bewegung]“, der als linke Opposition gegen die Führung der PPSD agierte und dessen Sekretär zu diesem Zeitpunkt noch der erwähnte Zygmunt Żuławski war.66 Radek hatte die Entscheidung getroffen, wie er später schrieb, sich „nicht so sehr mit der Rechtswissenschaft zu beschäftigen, als vielmehr damit, die galizischen Sozialdemokraten für eine konsequente marxistische Politik zu gewinnen. Dies wollte ich gemeinsam mit Zygmunt Żuławski erreichen […].“67

59 Lunačarskij, S. 447. Radek gehörte der PPSD bis zu seinem Wechsel zur SDKPiL im Jahre 1905 an. 60 Radek, Avtobiografija, Sp. 142. 61 Nicht identifiziert. 62 Diese frühen Artikel Radeks sind verschollen. Lerner, S. 180, Anm. 19. 63 Schippel, Max (1859–1928), Nationalökonom in Freiburg und Sozialpolitiker. 64 Radek, Meine Abrechnung, S. 39. 65 Ders., Avtobiografija, Sp. 143f. 66 Buszko, S. 213. 67 Radek, Avtobiografija, Sp. 143.

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Im sozialistischen Hochschülerverein „Ruch“, der – wie Radek beklagte – zwar mehrere hundert Mitglieder, aber „gerademal eine Handvoll“ Aktivisten hatte,68 avancierte er zum Stellvertreter von Żuławski und schließlich zu dessen Nachfolger. Gleichzeitig begann er Kontakte zur SDKPiL zu unterhalten, und als er den vom legendären Nimbus des Revolutionärs umgebenen Feliks Dzierżyński kennenlernte, war dies für ihn der Auslöser, sich in seinen politischen Überzeugungen noch weiter zu radikalisieren und politisch von der PPSD zu entfernen. Dzierżyński war 1903 unter dem Decknamen „Josef“ in Krakau aufgetaucht, um für die Exil-SDKPiL die Zeitung „Czerwony Sztandar [Rote Fahne]“ herauszugeben und den Schmuggel von Propagandamaterial nach Russisch-Polen zu organisieren. Er gehörte dem Hauptvorstand der SDKPiL um Rosa Luxemburg und Leo Jogiches an und ihm war bereits zweimal die Flucht aus der zaristischen Verbannung geglückt. Er war ein leidenschaftlicher Gegner des polnischen Nationalismus und plädierte für die Integration der polnischen Sozialisten in Russisch-Polen in die Russkaja Social-Demokratičeskaja Rabočaja Partija/RSDRP [Russische Sozial-Demokratische Arbeiter-Partei]. In Dzierżyński begegnete Radek erstmals einem leibhaftigen Berufsrevolutionär, und er war von ihm ungemein beeindruckt: „Hochgewachsen, schlank, mit feurigen Augen und leidenschaftlicher Sprache – so habe ich ihn im Herbst 1903 kennengelernt, als er in Krakau eintraf, um sich vor der zaristischen Geheimpolizei zu verbergen und den Transport sozialdemokratischer Schriften in eigener Initiative und in großem Maßstab in die Wege zu leiten.“69

Radeks Begeisterung sollte schließlich so weit gehen, dass er Dzierżyński bei der Weiterschleusung des sozialistischen Propagandamaterials nach Russisch-Polen als Mittelsmann behilflich war70. Aber ungeachtet seines auch schon zuvor offenbaren linksradikalen Engagements wurde er von seinem Förderer Haecker Ende 1903 in die Redaktion der Parteizeitung „Naprzód“ aufgenommen, und der galizische Parteiführer Ignacy Daszyński signalisierte zu dieser Personalentscheidung sein Einverständnis, indem er kritische Einwände gegen Radek lachend mit den Worten beschwichtigte „[…] Radikalismus ist eine Kinderkrankheit, die nicht lange dauert, und jedermann startet seine Parteikarriere in der Überzeugung, dass die Parteigeschichte erst mit ihm ihren Anfang nimmt.“71 68 Ders., „Korrespondenzbericht aus Krakau“, in: „Promień“ Nr. 2, Februar 1904; zitiert nach Buszko, S. 215f, Anm. 51. 69 Radek, Portrety i pamflety, S. 40. Lerner schreibt unter Verweis auf Radek, Avtobiografija, Sp. 140, dass die Begegnung auf einer politischen Versammlung in der Jagellonischen Universität in Krakau stattfand. Das geht aber aus der von ihm genannten Quelle so nicht hervor. 70 Ein Polizeivermerk in Krakau vom Februar 1904 registriert, dass eine angebliche Büchersendung aus Berlin-Charlottenburg an den Sekretär der „Ruch“, K. Sobelsohn, in Wahrheit 5000 vom SDKPiL-Vorstand nach Ausbruch des russisch-japanischen Krieges herausgegebene Flugblätter gegen die zaristische Regierung enthielt. Buszko, Anm. 39, S. 213. 71 Radek, Avtobiografija, Sp. 143.

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Als „wohlbestallter Redakteur des Krakauer Parteiblattes“ verdiente Radek monatlich 70 Kronen, die allerdings nur unregelmäßig und in kleinen Teilbeträgen ausgezahlt wurden und zum Leben kaum ausreichten. Sein Jugendfreund Stefan Jaracz, der 1904 gemeinsam mit ihm an der Jagellonischen Universität studierte, schrieb über diese Zeit: „Wir wohnten damals zusammen und litten die gewöhnliche Studentennot, gesteigert durch die allgemeine galizische Misere. Oft kam es vor, daß wir als Mittagsessen eine Portion Spaziergang im Park Jordans oder in den Krakauer Plantationen genossen.“72 Radek hat diese Schilderung der Lebensumstände noch anschaulicher ergänzt: „In dieser Situation war man auf Schulden angewiesen […]. Und Schulden mußten desto eher gemacht werden, weil ein junger Intellektueller eventuell kein Mittag essen konnte, aber nachmittags und abends ins Café kommen mußte, wo die älteren Genossen aus der Intelligenz, die literarische Welt usw. sich versammelten. Daß ich, mit achtzehn Jahren der ehrbaren Zunft der Redakteure angehörend, auch in dieser Tafelrunde glänzen mußte, ist klar. Und die ominösen Schulden, die nebenbei gesagt, lächerlich gering waren, wurden bei Freunden und Kollegen gemacht. Es wurde gepumpt, und nicht immer war man in der Lage, die Moneten zur rechten Zeit wieder zurückzugeben.“73

Seine ständige Geldverlegenheit brachte Radek in Schwierigkeiten. Sein wohlhabender Kommilitone Zembaty, in dessen Wohnung er während der Weihnachtsfeiertage 1903 vorübergehend Aufnahme gefunden hatte, beschuldigte ihn anschließend, ein Buch im Wert von zehn Kronen – die „Geschichte der Philosophie“ von Struve – gestohlen und an einen Antiquar verkauft zu haben. Ein deshalb im Juni 1904 einberufenes akademisches „kollegialisches Schiedsgericht“ des „Ruch“ sprach ihn aber vom Vorwurf des Bücherdiebstahls frei74. Allerdings blieb er Zembaty 90 Kronen für andere Bücher, die er von ihm bezogen hatte, schuldig, und als dieser ihn einmal mahnte, soll er ihn mit der frechen Bemerkung abgespeist haben, dass ihm seine „sozialdemokratisch-marxistische Weltanschauung verbiete, Schulden zu bezahlen.“75 Damals ließ Radek auch Bücher aus der Redaktion des „Naprzód“ heimlich mitgehen, um sie zu Geld zu machen, was er später immerhin zugegeben hat: „Das einzige, was sie [meine Gegner] auf diesem Gebiet [der Entwendung fremden Eigentums] gegen mich haben oder haben können, war, daß ich eine Anzahl alter Schartekenbücher, die einst zur Rezension an die Redaktion geschickt wurden und in den Winkeln herumlagen, die ich dann zu verschiedenen Zeiten entliehen habe, in prekärer Lage Anfang 1904 verkaufte.“76 72 Ders., Meine Abrechnung, S. 39f. 73 Ebenda. 74 A.a.O., S. 18f. und S. 22ff. 75 A.a.O., S. 24f. 76 Brief Radeks vom 24.September 1910; zitiert a.a.O., S. 19.

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Unter dem Einfluss Feliks Dzierżyńskis entfremdete sich Radek politisch immer mehr von seiner Partei, den polnischen Sozialdemokraten. Gleichzeitig vollzog er die Abkehr von der von ihren Gegnern als „Sozialpatriotismus“ diffamierten ideologischen Position der PPSD, wonach ein unabhängiger polnischer Staat die Vorbedingung für die Bildung eines sozialistischen Systems sei: „Ich war nämlich auf Grund des Studiums der polnischen wie der deutschen Parteiliteratur nach kurzem Schwanken schon während der Zeit, wo ich Mitglied der galizischen Sozialdemokratie war, Gegner des Sozialpatriotismus geworden.“77 Radeks wohlmeinender Parteivorsitzender Daszyński hatte sich gründlich geirrt, als er dessen revolutionäres Ungestüm als temporäre Jugendtorheit abtat. PPSD und „Ruch“ erschienen Radek immer ungeeigneter als organisatorische Plattformen für ein auf radikalen gesellschaftlichen Umbruch gerichtetes Wirken. Im Verlauf des Jahres 1904 wurde ihm auch zunehmend bewusst, dass im agrarisch geprägten, rückständigen Galizien mit einer revolutionären Entwicklung nicht so schnell zu rechnen sei. Politisch um so verlockender und seinem revolutionären Temperament eher zu entsprechen schien ihm die Situation in dem von Russland annektierten Königreich Polen. Es war der größte und bedeutendste Teil des von den Großmächten zerstückelten Polen. Dort lebten damals sechzig Prozent der fünfzehn Millionen umfassenden polnischen Bevölkerung und eine sich entwickelnde Großindustrie hatte sowohl ein Anwachsen der Arbeiterschaft als auch die Verschärfung der ökonomischen und politischen Gegensätze bewirkt. Radek schreibt, dass er den Anstoß für diese Überlegungen durch Feliks Dzierżyński erhalten habe: „Dzierzynskis „revolutionäre Leidenschaft, kameradschaftliche Offenheit und Herzlichkeit förderten meine Entwicklung und verschafften mir Klarheit darüber, daß Erfolge der Sozialdemokratie in einem kleinbürgerlichen Land ohne Industriearbeiterschaft nicht so leicht zu erringen waren und daß es fruchtbarer sein würde, im Königreich Polen zu arbeiten […].“78

Obwohl Radek nunmehr Russisch-Polen als ein geeigneteres Feld für die Entfaltung seiner Talente zu betrachten begann, war er der Meinung, dass eine Verlagerung seiner politischen Aktivität dorthin und der damit verbundene Schritt in die Illegalität noch der „ernsthaften Vorbereitung“ bedürfe. Vermutlich über Dzierżyński nahm er Verbindung zu Adolf Warszawski auf, einem der Mitbegründer der SDKPiL, der sich den Parteinamen Warski zugelegt hatte. Er „war Jude; ein ausgezeichneter Agitator und Redner, der es verstand, die komplizierten Gedankengänge des Marxismus in leichtfassliche Parolen für die Massen umzuschmelzen“, aber zugleich auch ein farbloser Mensch, der nichts Genialisches an sich hatte, unermüdlich arbeitete und völlig in seiner Arbeit aufging.79 Warski, dessen publizistische Arbeiten Radek impo77 Ders., Meine Abrechnung, S. 40. 78 Ders., Avtobiografija, Sp. 143. 79 Nettl, Rosa Luxemburg, S. 89.

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nierten, gehörte dem Hauptvorstand der SDKPiL an, hielt sich in der Emigration in München und in der Schweiz auf und gab die marxistische Wochenschrift „Głos [Die Stimme]“ heraus, die damals als einzige legale sozialistische Zeitschrift in Warschau erschien. Er lud Radek jetzt zur Mitarbeit an diesem Blatt ein. Im Herbst 1904 ging Radek auf offenen politischen Konfrontationskurs zu seinem Chefredakteur Haecker, und als er ihn auf einer öffentlichen Versammlung verbal angriff, kam es zum bleibenden Zerwürfnis. Radek erinnert sich, dass der Krach mit seinem Mentor nur der äußere Anlass für seinen Entschluss gewesen sei, in die Schweiz zu gehen.80 Das ist sicherlich zutreffend. Tatsächlich hatte er sich beim PPSD-Establishment in Krakau als aktiver SDKPiL-Unterstützer bereits viele Sympathien verscherzt. Auch drohten ihm seine Schulden über den Kopf zu wachsen, nachdem er als „Naprzód“-Redakteur untragbar geworden, seine ohnehin schon dürftige materielle Existenzgrundlage eingebüßt hatte. Insgesamt also Gründe genug, um seiner Heimat den Rücken zu kehren und voller Abenteuerlust das Glück außerhalb der Donaumonarchie zu suchen. In einem Blick zurück, deutete er 1913 die Motive seiner Abreise nachträglich an: „Als ich im Jahre 1904 ins Ausland fuhr, um dort Nationalökonomie zu studieren, hinterließ ich neben dem Ruf eines ,sehr begabten Burschen‘ – wie Haecker in seinem Artikel gegen mich schrieb – auch den eines das Zigeunerleben mit Vorliebe treibenden Menschen. Da ich dabei die finanzielle Misere mit gutem Humor auszuschmücken suchte und den Catos, die mit Stentorstimme und moralischer Entrüstung mahnten: Mensch bezahle deine Schulden! sehr oft statt mit Moneten mit Spott bezahlte, sorgten sie dafür, daß ich für jede nicht bezahlten 5 Kronen ein Renomee eines Katilina bekam.“81

In seinen späteren Memoiren beschreibt er seine optimistische Aufbruchsstimmung: „[…] ohne eine Kopeke in der Tasche, aber in der Hoffnung mich durch Mitarbeit an der […] „Głos [Die Stimme]“[…], eine Zeit lang durchzuschlagen, […] machte ich mich [im Herbst 1904] voller Vertrauen in die Zukunft, unter Hinterlassung meiner unbezahlten Schulden in Krakau, in die Schweiz auf.“82 Damit endete die erste Etappe in Radeks Leben – einem politischen Leben, das „in seiner Abenteuerlichkeit ohne Beispiel“ war83, das ihn an der Seite Lenins in den Kreml’ führte, ihn zum Spitzenfunktionär der Kommunistischen Internationale und zur Schlüsselfigur in den deutsch-sowjetischen Beziehungen werden ließ, bis er schließlich als Opfer Stalins im Gulag umkam. ***

80 Radek, Avtobiografija, Sp. 143. 81 Ders., Meine Abrechnung, S. 40. 82 Ebenda. 83 Ströbinger, S. 16.

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Als Kind Galiziens war Karl Radek im Grenzgebiet verschiedener Religionen und Kulturen aufgewachsen. Bereits in jungen Jahren hatte er sich dem Milieu seiner jüdischen Herkunft entfremdet. Emil Belzner84 kolportiert ein angebliches politisches Erweckungserlebnis Radeks, wonach dieser als Schüler im Anschluss an ein Pogrom in Wilna Zeuge einer Gottesverurteilung durch die dortige jüdische Gemeinde gewesen sein soll: „Die Aufsässig-Frommen warfen Gott vor, er befolge in seinen Beziehungen zu seinem Volk die Vorschriften seiner eigenen Thora nicht. Demütig-verzweifelt ermahnten sie ihn, die Thora künftig genauso zu respektieren, wie er das von den Menschen verlange. Viele Juden, Mann, Weib und Kind, waren in Wilna erschlagen worden. Alle Hoffnungen richteten sich auf einen Messias, der Gott besserte. Radek meldete sich an diesem Urteils-Tag bei allen göttlichen Instanzen ab und wurde Revolutionär, Berufsrevolutionär.“85

Das litauische Wilna lag auf russischem Territorium, das Radek nicht als Schüler, sondern erstmals Ende 1905 betreten hat. Möglicherweise hat sein späterer Mentor, der aus Wilna stammende Leo Jogiches, ihm diese Begebenheit erzählt, und Radek hat sie dann phantasievoll ausgeschmückt. Obwohl also biographisch nicht korrekt, illustriert sie dennoch das Motiv seiner Abkehr vom jüdischen Glauben und der Hinwendung zur Suche nach irdischer Gerechtigkeit. Sicherlich hat sich dies nicht so schlagartig vollzogen, wie er es in dramatischer Überhöhung Belzner erzählt hat. Voraus ging vielmehr ein längerer Prozess des Suchens und der allmählichen Orientierung während seiner Jugendjahre in Tarnów und Krakau. Dabei haben vermutlich antisemitische Kindheitseindrücke eine Rolle gespielt, denn die Judenemanzipation hatte in Galizien die inoffizielle Benachteiligung und die gesellschaftliche Diskriminierung der Juden keineswegs beseitigt. Sie waren bei den Polen unbeliebt, auch weil man sie prodeutscher Sympathien verdächtigte. Das war möglicherweise auch ein Grund, weshalb Radek als Kind Pole sein wollte und sich nach einem kurzfristigen Schwärmen für den Katholizismus zunächst mit dem polnischen Nationalismus identifizierte, bis er sich schließlich den revolutionären Ideen des Marxismus verschrieb. Diese Erlösungsideologie, welche die Revolution als befreiende Tat feiert und deren faszinierendes Endziel die Vision einer in glücklicher Harmonie lebenden Menschheit darstellt, wurde ihm zur Ersatzreligion und die Dogmen des historischen Materialismus zum Glaubensbekenntnis. Die Anziehungskraft des Sozialismus für Radek ist aber auch insofern nicht erstaunlich, weil die sozialdemokratischen Parteien im Großen und Ganzen frei von Antisemitismus waren und damit für seine politischen und journalistischen Ambitionen ein geeignetes Medium darstell84 Belzner, Emil (1901–1979), Journalist und Schriftsteller. Als sechzehnjähriger Gymnasiast machte er im April 1917 Hilfsdienst bei der Eisenbahn in Rastatt, wobei er gegen alle Vorschriften in den „plombierten Waggon“ Lenins gelangte. Er schilderte diese Begebenheit später in seinem Buch „Die Fahrt in die Revolution“. 85 Belzner, S. 241f.

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ten. Bildung, Emigration und Revolution boten damals für die polnischen Juden die Möglichkeit aus ihrem Milieu auszubrechen, und Radek sollte alle diese Optionen für sich in Anspruch nehmen. Geboren als polnischer Jude und österreichischer Staatsbürger, war Polnisch seine Muttersprache. Aber er war nicht nur in der polnischen, sondern auch in der deutschen Literatur zu Hause, „fühlte sich durch engste kulturelle Bande an Deutschland gefesselt und sprach Deutsch besser als jede andere Sprache“86. Deutsch galt als die Sprache der Revolution und die deutsche Sozialdemokratie, deren Materialien er sich im Original erschließen konnte, war in seiner Jugend sein bewundertes Vorbild. Und wenn die Sprache der Ort des Seins ist, dann charakterisieren zwei Äußerungen Radeks seine emotionale Identifikation mit Polen und sein eher rationales Verhältnis zu Deutschland: „Ich wurde weder an der Volga, noch im gebirgigen Kaukasus, noch in den Weiten Sibiriens geboren. Wenn mir eine Landschaft im Traum erscheint sehe ich die Hügel von zwei Dörfern. Als ich im vergangenen Jahr von Miechow kommend, eines Abends in Krakau eintraf und den Sonnenuntergang sah, kam es mir vor, als ob es keinen schöneren Platz auf Erden gäbe […]. Und wenn aus meiner Erinnerung Sprachbilder auftauchen, sind es nicht die Schilderungen von Puškin, sondern von Mickiewicz. Und wenn ich Worte der Zärtlichkeit zu einer geliebten Frau spreche, so sind es polnische Worte, die von meinen Lippen kommen […].“ Und er fährt fort: „[…] wenn ich aber über die Sache der Revolution nachdachte, pflegte ich in Deutsch zu denken, denn in der deutschen Arbeiterbewegung habe ich meine Sporen verdient.“87 Und: „Glauben Sie nicht, daß ich ,Patriot‘ der russischen Revolution bin. Ich bin, wenn es sich um Selbstbestimmung handelt, enger mit der deutschen als mit der russischen Arbeiterklasse verbunden. Ich denke in deutschen Worten und meine Gefühle drücken deutsche Dichter aus.“88

Karl Radek passte in keine nationale Schublade. Er hing einer universalen Menschheitsauffassung an und fühlte sich nicht einer bestimmten Nation zugehörig, sondern als ein Vertreter der internationalen Klasse des Proletariats. „Sein Vaterland“ sollte zunächst der Teil der Menschheit sein, der versuchte, sich in Russisch-Polen von der zaristischen Unterdrückung zu befreien, und er äußerte die Erwartung, dass es „in Zukunft die ganze Welt sein würde“89. Mit anderen Worten: Seine eigentliche Heimat war Utopia und sein Ziel die Weltrevolution. Im Urteil seiner Zeitgenossen hieß es:

86 87 88 89

Hilger, S. 59f. Cummings, S. Xf. Radek an Barthel, 1919. Barthel, S. 58. Cummings, S. X.

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„Radek entstand zwischen den Rassen und zwischen den Kulturen. Weit draußen an der galizischen Grenze geboren, blieb er stets auf der Mittellinie zwischen West und Ost. Er ist Pole und Jude, Deutscher und Russe, Asiate und Europäer: alles zusammen und nichts von alledem im Besonderen.“90 Oder: „Karl Radek ist im Grunde Jude, dann aber nebeneinander Russe, Pole und Deutscher“91.

Eine für die 1920er Jahre erstaunlich differenzierte Einschätzung, die ihn als „Jude und Europäer“ kategorisierte, kam zu dem Schluss: „Er ist geistig nicht nur NichtJude, sondern sogar auch Jude.“92 Damit wurde der überzeugte Atheist und Internationalist jedoch primär als das klassifiziert, was er am allerwenigsten sein wollte. Er benutzte zwar gelegentlich jüdische Ausdrücke – so etwa, wenn er als späterer Sowjetfunktionär von dem Gesandten Moskaus in Berlin, Adolf Ioffe, als der „meschuggene Jud“93 sprach. Aber er lehnte alles betont Jüdische ab und beherrschte auch kein Jiddisch94. Darin glich er seinen Lehrmeistern Warszawski-Warski und Rosa Luxemburg, polonisierten und assimilierten Juden wie er selbst, aber auch russifizierten und gleichermaßen assimilierten Juden wie Trockij und Zinov’ev, die eine fortwährende Feindseligkeit gegenüber dem Judentum, seinen politischen Organisationen und der jiddischen Sprache an den Tag legten.95 Jakob S. Hertz, der Geschichtsschreiber des „Jüdischen Arbeiter-Bundes“ urteilt in Bezug auf Rosa Luxemburg: „Sie haßte Juden. Und noch mehr als Juden haßte sie das Jiddische. Das ist charakteristisch für viele assimilierte Persönlichkeiten.“96 Warszawski-Warski warf den Juden vor, dass sie sich seit jeher absonderten und noch immer ihren „Jargon“, das heißt Jiddisch, sprächen. Erst wenn sie dieses „Relikt des finsteren Mittelalters“ aufgäben, sei eine politische Zusammenarbeit mit ihnen überhaupt möglich97. Im Hinblick auf die damit zutage tretende Einstellung zum Judentum urteilt der amerikanische Historiker Samuel A. Portnoy: „Man kann den Gedanken nicht unterdrücken, daß Warski und die anderen eine ,Endlösung‘ für die Judenfrage und auch für die ethnische Existenz der Juden anstrebten, wenn auch eine gnädigere als die Hitlers.“98 Radek verschleierte seinen Antisemitismus vielfach mit Selbstironie, die zuweilen den Charakter von Selbsthass trug. Er erzählte mit besonderer Vorliebe solche Anek90 Blum, S. 91. 91 Marcu, S. 196. 92 Matthias, Leo, S. 144. 93 Radek zu Alphons Paquet am 18. August 1918. Paquet-Tagebuch, S. 114. 94 Radek zufolge hat man immer darüber gelacht, dass in der Führung der polnischen Sozialdemokratie, in der es eine ganze Reihe von Juden gab, nur der polnische Adlige und ehemalige Katholik Dzierżyński Jiddisch lesen konnte. Radek, Portrety i pamflety, S. 41. 95 Vgl. Medem, S. 486f., Anm. 3. 96 Tonbandinterview von Samuel A. Portnoy mit Jakob S.  Hertz am 23. April 1973; in: Medem, ebenda. 97 Ebenda. 98 Ebenda.

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doten, die Juden der Lächerlichkeit preisgaben oder sie herabwürdigten99. Während des Roten Terrors in Moskau beobachtete Alfons Paquet100 bei ihm sogar einen Zug von ausgesprochenem Judenhass. Am 10. September 1918 notierte er nach einem Besuch bei Radek in seinem Tagebuch: „Gespräche über Judentum. Radek will die Juden ausrotten, nach dem Heineschen Wort ist ihm das Judentum eine Krankheit.“ Und fassungslos fügte Paquet hinzu: „Aber seine ganze Umgebung, er selbst ist Jude.“101 Offensichtlich bezog sich Radek bei dieser Äußerung auf Heinrich Heines Urteil, wonach die altjüdische Religion, gar keine Religion, sondern „ein Unglück“ sei. Aber selbst wenn Radeks Forderung nach Ausrottung des Judentums wie bei Karl Marx in übertragenem Sinne gemeint gewesen sein sollte, so hat Paquet seinen Gesprächspartner nicht dahingehend verstanden.102 Bereits als Kind zeigte Karl Radek eine unstillbare Leidenschaft für alles Gedruckte, und auch spätere Schilderungen seiner Person sprechen davon, dass er „in den ausgebeulten Taschen seines Mantels ständig eine halbe Bibliothek mit sich führte und immer „ein großes Bündel Zeitungen unter dem Arm hatte, obenauf die London Times“103. Seine Wohnung „war stets vollgestopft mit Büchern und Zeitschriften“ und „sicher hatte Radek die meisten davon gelesen.“104 Angesichts seiner Lesefreude und intellektuellen Potenz entwickelte er sich schon in jungen Jahren im Selbststudium zum Kenner der marxistischen Literatur, und er baute auf dieser Grundlage seinen Beruf als politischer Journalist auf. Nicht ohne Stolz erinnerte er sich daran, „[…] wie ich inmitten des leichtsinnigen Studentenlebens Zeit und Kraft fand, mit solchem Eifer den Sozialismus zu studieren, daß ich als zwanzigjähriger Bursche schlecht oder recht mein Leben fristen konnte aus meiner Mitarbeit an einer marxistischen Revue [„Głos“], deren Leitartikler A. Warski, Mitglied des polnischen Parteivorstandes, war.“105

Auch betonte er gerne seine humanistische Schulbildung, so etwa, wenn er als Sowjetfunktionär anmerkte, dass er sich im Warschauer Gefängnis 1907 an den Dialogen Platons in formaler Logik geübt habe und hinzufügte, dass er für Platon „schon auf der Bank des Gymnasiums eine Leidenschaft besaß – denn dank dem hervorragenden Griechischlehrer lasen wir diese Dialoge im Original und lernten viele davon auswendig.“106 Allerdings ist diese Bemerkung nicht nur als bloße Bildungsprotzerei 99 Vgl. Balabanoff [Balabanova], My Life as a Rebel, S. 255. 100 Paquet, Alfons (1881–1944), Journalist und Schriftsteller. 101 Paquet-Tagebuch, S. 152. 102 Heine, Die Bäder von Lucca, S. 363. Karl Marx: „Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.“ Marx Engels Werke, Bd.1, S. 377. Vgl. auch Merz, S. 322. 103 Fischer, Ruth, Stalin, S. 249. 104 Hilger, S. 79. 105 Radek, Meine Abrechnung, S. 38. 106 Radek, Avtobiografija, Sp. 147.

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gegenüber den bolschewistischen Genossen zu verstehen, sondern – die Ambivalenz vieler seiner Äußerungen verdeutlichend – auch als ein versteckter posthumer Seitenhieb auf Lenin zu bewerten, denn noch zu dessen Lebzeiten war Platon in Sowjetrussland verboten worden. Es machte ihm Spaß, andere seine geistige Überlegenheit spüren zu lassen. Moritz Schlesinger107, der ihm 1919 begegnete, berichtet: „Nachdem ich bejahte, daß ich der Sozialdemokratischen Partei angehöre, war es ihm nicht schwergefallen herauszufinden, daß mir die Werke von Karl Marx nur dem Namen nach bekannt waren. Gönnerhaft sagte er, daß in Deutschland genügend Voraussetzungen gegeben seien, mir in nicht allzu weiter Ferne den erforderlichen Anschauungsunterricht zu erteilen […]. Als ich Radek verließ, fühlte ich mich ziemlich unbehaglich bei dem Eingeständnis, daß ich diesem geistreichen Revolutionär […] nicht gewachsen war.“108

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Radek tatsächlich der „sehr begabte Bursche war“, als den ihn Drobner und Haecker charakterisierten. Seine herausragenden intellektuellen Fähigkeiten waren es, die ihm das Wohlwollen seiner Lehrer und die Freundschaft seiner polnischen Schulkameraden am Gymnasium in Tarnów verschafften, und unter den polnischen Sozialdemokraten rückte er mit seinem agitatorischen und journalistischen Talent rasch ins Blickfeld der Parteiführer. Seine jugendliche Persönlichkeitsstruktur offenbarte aber bereits erste rücksichtslose und zynische Züge, die zu den Nachtseiten seines Charakters gehörten und ihm den Ruf eintrugen, nicht nur „ein hochintelligenter polnischer Revolutionär, ein gebildeter und begabter Journalist“, sondern „auch ein Mann ohne jede Skrupel“ zu sein.109

107 Schlesinger, Moritz (1886–1974), Importkaufmann; ab Ende 1918 Stellvertretender Leiter der Reichszentralstelle für Kriegs- und Zivilgefangene, der die Rückführung der Kriegsgefangenen oblag. 1918–1933 Sachverständiger für die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen im Auswärtigen Amt. 108 Schlesinger, S. 110. 109 Vgl. Balabanoff [Balabanova], Lenin, S. 65.

2.  Die Schule der Revolution (1904–1908) Vor dem Ersten Weltkrieg war die Schweiz sowohl das Mekka als auch das Refugium der europäischen Vorkriegslinken. Insbesondere bildete das Land das wichtigste Zentrum des russischen revolutionären Marxismus. Auch stellten „die Russen“, vor allem russische Juden, den Hauptanteil der zahlreichen ausländischen Studenten. Daneben gab es noch eine ganz besondere Art von Gästen, nämlich linke „radikale Elemente“, die vor allem aus Deutschland kamen und in der schweizerischen Gewerkschaftsbewegung politisch aktiv wurden. „Karl Radek, den damals noch niemand kannte“1, fiel in dieser Umgebung kaum auf, als er im Herbst 1904 in Bern eintraf, um sich „dem Studium und der Mitarbeit in der Arbeiterbewegung“ zu widmen2. Im Gegensatz zu der Berner Bevölkerung war die Universität der Stadt sehr fremdenfreundlich eingestellt. Die Vorlage eines Abiturzeugnisses reichte auch für Ausländer zur Immatrikulation aus. Radek arbeitete viel in den Bibliotheken der Hauptstadt und befasste sich mit Nationalökonomie. Dabei legte er den Schwerpunkt auf Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die damals Gesellschaftskritik und soziale Frage thematisierten, wobei die Sozialgeschichte mit der Geschichte der Arbeiterbewegung begrifflich gleichgesetzt wurde. Im Vergleich zu Krakau empfand er die „Studienbedingungen“ in Bern als wesentlich besser, denn „die großartige Universitätsbibliothek enthielt alles Notwendige für das Studium der Wirtschaftsgeschichte, [und] in der Staatsbibliothek befand sich umfangreiches Material zur Geschichte der Arbeiterbewegung.“ Um die Bibliotheksgebühren einzusparen, verkehrte er auch mit Vorliebe im „Internationalen Verein“, einem mit Masse von deutschen Arbeitern frequentierten Gewerkschaftsklub, der über „eine herrliche Bibliothek alter sozialistischer Bücher“ verfügte, in dem Zeitungen zur Lektüre auslagen und wo allwöchentlich politische Versammlungen stattfanden. Im Verlauf seines Aufenthalts in der Schweiz zog er nach Zürich um, vermutlich um Anschluss an die dortige polnische Kolonie zu finden und in den Bibliotheken der größten Stadt der Schweiz zu arbeiten. „Zürich beherbergte eine nach Zehntausenden zählende Menge von ausländischen Arbeitern, Deutschen, Oesterreichern, Italienern, Tschechen“ und auch Emigranten, die in den schweizerischen Gewerkschaftsversammlungen bei jeder Gelegenheit in Erscheinung traten, um für ihre radikalen Ideen Propaganda zu machen3. Im Milieu des Gewerkschaftshauses und sozialdemokratischen Parteilokals „Eintracht“ am Neumarkt, wo Radek verkehrte, machte er Bekanntschaft mit den dort tonangebenden Anarchosyndikalisten und Anarchisten, die für wilde Streiks als Kampfform plädierten. Als 4000 Maurer gegen den Willen der Sozialistischen Partei und der Gewerkschaftsführung in den Ausstand traten, 1 Brupbacher, S. 109. 2 Radek. Avtobiografija, Sp. 143ff. Soweit nicht anders vermerkt, sind die biographischen Angaben zu Radeks Aufenthalt in der Schweiz sowie die Zitate der gleichen Quelle entnommen. 3 Brupbacher, S. 108f.

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kam es zu heftigen Diskussionen zwischen den Befürwortern und den Gegnern dieser Aktion. Einer der Streikbefürworter, der Anarchist und Sozialist Fritz Brupbacher4, schreibt, dass Radek sich mit Verve auf Seiten der Streikgegner engagierte: „An den wilden Diskussionen beteiligte ich mich natürlich eifrig […] und wurde dabei von einem jungen, nicht überbescheidenen Burschen angepöbelt, der sich aufs heftigste entrüstete, daß ich es wagte, die Disziplin der S.P. [Sozialistischen Partei] zu brechen und den andern riet, es auch zu tun. Dieser Bursche war – er hat es mir später selbst erzählt – Karl Radek […].“5

Bei Radek liest sich die Schilderung des Vorfalls so: „Als Gegner des Reformismus empfand ich Sympathie mit seiner Kritik [an der Schweizer Sozialdemokratie als einer rein opportunistischen Organisation], war aber tief empört darüber, daß er [Brupbacher] die schmutzige Wäsche der Partei auf einer feindlichen Versammlung wusch. Ich griff ihn dermaßen an, daß die Anarchisten mich beinahe verprügelt hätten.“

Tatsächlich verprügelt wurde Radek, der offensichtlich die Konfrontation suchte und gerne provozierte, auf einer anderen anarchistischen Versammlung. Als er einem der Redner unterstellte, dieser würde sich früher oder später an die Bourgeoisie verkaufen, fielen die Versammlungsteilnehmer erbost über ihn her und gaben ihm eine „ordentliche Abreibung.“6 Auch wenn Radek sich auf politischen Versammlungen tummelte und dort politische Gegner lauthals angriff, so stellte doch die journalistische Tätigkeit seine eigentliche Betätigung dar, mit der er auch seinen Lebensunterhalt bestritt. Er verfasste Artikel für verschiedene PPSD-Blätter in Galizien, worüber er allerdings später nichts mehr verlauten ließ und – seine Biographie schönend – nur noch erwähnte, dass er sich „in den Jahren 1904/05 in größter Not durchschlagen mußte als Mitarbeiter zweier armer sozialdemokratischer Wochenschriften“.7 Die eine Zeitschrift war die von Warszawski-Warski redigierte marxistische „Głos“ in der er noch 1904 einen ersten Artikel über die Entwicklung der Bauernbewegung in Galizien veröffentlichte und für die er dann unter den Kryptonymen „K.R“, „M.B.“ und „M.-i.“ als „der eifrigste Mitarbeiter“ wöchentlich über die Arbeiterbewegung in Westeuropa schrieb und Buchrezensionen verfasste8. Das andere Blatt, an dem er ebenfalls seit 1904 mitarbeitete, war die „Volkszeitung“ im preußischen Posen, mit Rosa Luxemburg als Redakteurin. Er fühlte sich von dieser leidenschaftlichen Propagandistin 4 5 6 7 8

Brupbacher, Fritz (1874–1945); schweizerischer Arzt, Kommunist und Anarchist. Brupbacher, S. 109. Nomad, S. 36. Der Vorfall ereignete sich 1904 und Radeks Prognose erwies sich als zutreffend. Radek, Meine Abrechnung, S. 25. Luxemburg, Briefe an Leon Jogiches, S. 140, Anm. 5.

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des revolutionären Sozialismus, die ihre Marx-Interpretation unter den Primat der politischen Aktion gestellt hatte, besonders angezogen und blickte zu ihr als einem verehrten Vorbild auf. Mit der in Deutschland lebenden geistigen Führerin sowohl der SDKPiL als auch der Parteilinken der deutschen Sozialdemokratie, hatte er über Adolf Warszawski einen Briefwechsel begonnen.9 Er nahm auch Verbindung zum wichtigsten Organ des linken SPD-Flügels, der „Leipziger Volkszeitung“, auf. Ihrem politischen Redakteur Gustav Jaeckh10, der über die Geschichte der Ersten Internationale (1864–1876) arbeitete, sandte er Material über die polnischen Mitglieder der Internationalen Arbeiter-Assoziation zu. Er war „unglaublich stolz“, als Warszawski ihm eines Tages ein Manuskript von Karl Kautsky11, dem führenden sozialistischen Theoretiker der Zeit, zur Übersetzung ins Polnische gab: Das Vorwort zu einer Neuauflage des „Kommunistischen Manifests“. In Bern lernte er auch Karl Moor kennen, den Gründer der Schweizer Sozialdemokratie und Redakteur der Parteizeitung „Berner Tagwacht“; ein Bohemien, den seine Gegner als eine „Kreuzung zwischen Reineke Fuchs, Richard III. und Casanova“ bezeichneten. Er hatte für Lenin und Zinov’ev bei den Berner Behörden gebürgt, und Radek sprach später von ihm als „mein alter Schweizer Freund und Genosse Moor“. Gleich Radek war er ein hochintelligenter Mann, dessen scharfe ironische Art des Urteilens und Schreibens ihm viele Feinde geschaffen hatte.12 Zeitgleich zu Radeks Aufenthalt in der Schweiz kam es in Russland zu der das Zarenreich erschütternden Niederlage im russisch-japanischen Krieg und zum Ausbruch der ersten russischen Revolution von 1905. Der „kleine Krieg gegen den japanischen Zwerg“, der 1904 auch begonnen worden war, um die inneren Missstände des zaristischen Regimes durch außenpolitische Erfolge zu überdecken, schlug auf seine Urheber zurück. Ausgelöst durch den „blutigen Sonntag“ am 22. Januar 1905 in St. Petersburg, an dem Truppen vor dem Winterpalais auf Demonstranten feuerten, brachen in den Industriegebieten Streiks aus, die dann zu Unruhen im ganzen Land führten. Die Revolution erfasste Russisch-Polen am 27. Januar 1905 und nicht nur die polnischen Revolutionäre in der SDKPiL wurden von ihr überrascht: „In der ersten Phase der russischen Revolution, die ihren Höhepunkt im Juni erreichte, suchten sich alle sozialistischen Parteien den Ereignissen anzupassen, dem rollenden Rad der Geschichte zu folgen und ihre Politik so gut es ging, auf die Aktion der Massen abzustimmen.“13 Für Radek, der seine Kenntnisse in marxistisch-revolutionärer Theorie vervollkommnet hatte, war dies der Anlass dazu, „Position zu den Hauptfragen der Revolution zu beziehen“. Obwohl formell noch Mitglied der PPSD, hatte er Anschluss an 9 Radek Avtobiografija, Sp. 144. 10 Jaeckh, Gustav (1866–1907), Publizist, seit 1901 Redakteur der „Leipziger Volkszeitung“. 11 Kautsky, Karl (1854–1938), ehemaliger Mitarbeiter von Friedrich Engels und Hauptautor des Erfurter Programms der SPD. 12 Radek, Nojabr´, S. 151 und Schüddekopf, Deutschland, S. 228f. 13 Nettl, Rosa Luxemburg, S. 306.

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die Berner Sektion der SDKPiL gefunden. Sie gehörte dem „Bund Sozialdemokratischer Organisationen Russlands“ an und in diesem Umfeld lernte er wichtige Persönlichkeiten des russischen Sozialismus kennen. Aus den Reihen der Bol’ševiki, die für eine aus Berufsrevolutionären gebildete Elite-Partei eintraten, begegnete er Grigorij Zinov’ev14, einem rundgesichtigen Studenten mit wässrigen Augen und weibischer Stimme, der dann Lenins engster Mitarbeiter im Schweizer Exil wurde. Er sollte später in Radeks Leben noch eine entscheidende Rolle spielen. Erstmals hörte Radek auch Lenin selbst auf einer politischen Versammlung sprechen, aber er „verstand von seiner Rede kein einziges Wort“, da er noch kein Russisch konnte. Er erlebte einen Auftritt des Führers des russischen „Jüdischen Arbeiter-Bundes“, Medem15, dessen intellektuelle Brillanz und Eloquenz ihm sehr imponierten, während Georgij Plechanov16, der als der Gigant des russischen Marxismus galt, jedoch kein charismatischer Redner vor großen Auditorien war, keinen großen Eindruck auf ihn machte. Radek ließ jetzt keinen Zweifel mehr daran, wem seine politischen Sympathien galten. Ganz besonders identifizierte er sich mit den Ideen Rosa Luxemburgs. Aus seiner Sicht trat in ihren Schriften „die marxistische Theorie wie ein Block aus Granit auf, als eine gesellschaftlich-historische Theorie, die man entweder akzeptieren oder ablehnen muß.“17 Voller Zustimmung verfolgte er ihre knappen Artikel in der „Neuen Zeit“, dem theoretischen Organ der SPD, in denen sie zu einzelnen Fragen der Revolution Stellung bezog. Vom „Donner der russischen Revolution“ angezogen, entschloss er sich, für die Partei Rosa Luxemburgs im zaristischen Polen zu arbeiten. Mit einem Brief vom 6. September 1905 bat er sie um Aufnahme in die SDKPiL. Im Bestreben unter seine Vergangenheit in Krakau, über die dort noch viel geredet wurde, einen Schlussstrich zu ziehen, beichtete er ihr in diesem Schreiben als „Jugendsünden“: „[…] eine private Schuld nicht bezahlt, eine Parteirechnung, sei es im Betrage von einigen Kronen, nicht beglichen, kleine Lügen.“18 Als ihm später vorgeworfen wurde, damit absichtlich falsch informiert und nur einige geringfügige Vergehen eingestanden zu haben, um den Eindruck von Offenherzigkeit und Reue hervorzurufen, verteidigte er sich mit der Begründung: „Als ich mich also an Rosa Luxemburg wandte, schrieb ich ihr in meiner ganzen damaligen Naivität von all dem traurig-lustigen Quark, den ich, weil ich damals noch unter seinem Druck stand, viel ernster behandelte, als er es verdiente. Meine ,Beichte‘ war ganz 14 Zinov´ev, Grigorij Evseevič (1883–1936), Pseudonym und Parteiname von Radomysl´skijApfelbaum, Ovsej-Geršen Aronovič. Wassezki, S.  139. Engster Mitarbeiter Lenins, 1917–1925 Vorsitzender des Petrograder Sowjets, 1919–1926 Vorsitzender des Exekutivkomitees der Komintern; ZK- und Politbüromitglied; als Anhänger Trockijs und Gegner Stalins 1936 hingerichtet. 15 Medem, Vladimir Davidovič (1880–1923). 16 Plechanov, Georgij Valentinovič (1856–1918), einer der Gründer und Führer der russischen Sozialdemokratie, der seit 1882 vorwiegend in Genf lebte. 17 Radek, Leben und Kampf unserer Genossin Rosa Luxemburg, S. 23. 18 Ders. Meine Abrechnung, S. 21.

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überflüssig […]. Der Parteivorstand kannte alles, was über mich irgendwo geklatscht wurde.“19

Diese nachträgliche Beurteilung der Angelegenheit ist gewiss richtig, denn Rosa Luxemburg, die allgemein als die Personifizierung sozialistischer Moral angesehen wurde, stimmte sicherlich in Kenntnis von Radeks „Jugendeseleien“ seinem Eintritt in die Partei zu. Das geht auch aus einer 1909 von Leo Jogiches publizierten „Ehrenerklärung“ für Radek hervor: „Die Genossen, an die sich Genosse Radek im Herbst 1905 wandte mit der Bitte um Zulassung zur Parteiarbeit, glaubten nicht, daß die im privaten Leben begangenen Fehler […] so ernst waren, daß sie ihm das Leben verderben sollten. Umgekehrt vom Standpunkt der sozialistischen Moral sahen sie keine Hindernisse, ihm die Gelegenheit zu geben, die von ihm bedauerten Fehler gutzumachen […]. Eine der Bedingungen, die ihm dabei gestellt wurde, war, daß er angesichts des Revolvercharakters der Blätter in der Art des Naprzód seine bis zuletzt fortgesetzte Mitarbeit an der galizischen Parteipresse […] unterbreche.“20

Im Oktober 1905 wurde er als Mitglied in die Auslandszelle der SDKPil in Bern aufgenommen und gleichzeitig dazu aufgefordert, sich bei Rosa Luxemburg in Berlin einzufinden21, die ihn seinen journalistischen Fähigkeiten entsprechend in der Partei verwenden wollte. Vor dem Hintergrund der sich in Russland durch eine Welle von Generalstreiks erneut zuspitzenden Lage begab er sich noch im gleichen Monat nach Berlin, wo er im Vorort Tegel wohnte. Am 20. Oktober suchte er Rosa Luxemburg in der Cranachstraße 58 in Friedenau bei Berlin auf. Sie war anfangs von ihm nicht besonders angetan. Misstrauisch berichtete sie am 22. Oktober an Leo Jogiches: „Radek erwähnte mir gegenüber, er schicke Dir sogar heute schon das Manuskript für ,Czerw[ony Sztandar]‘22. Ist das wahr?“ Und am 26.10. teilte sie lakonisch mit: „Die Adresse von Radek: R. Goldblum, Tegel bei Berlin, Schliepelstr, 22 Part[erre].“23 Aber dann schrieb sie an Leo Jogiches doch wohlwollend-verständnisvoll über ihren neuen jungen Mitstreiter, indem sie ihn bat, Radek ja nicht „en canaille“ zu behandeln, denn „[…] der Ärmste, fühlt sich hier sicher unter aller Kritik, da er […] bei mir eine ziemlich kühle oder eher eine zurückhaltende Aufnahme fand, so daß er sich hier gleich wie auf einer unbewohnten Insel fühlte.“24 Und: „Er wird Dir be19 Ebenda, S. 40f. 20 „Przegląd Socjaldemokratyczny“, Bd. 5, Mai 1909, S.115; zitiert nach Radek, Meine Abrechnung, S. 42. 21 Radek, Meine Abrechnung, S. 41. 22 „Czerwony sztandar: organ socjaldemokracji królestwa Polskiego i Litwy [Rote Fahne: Organ der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen]“. 1902–1918 unregelmäßig an verschiedenen Herausgabeorten erscheinende Zeitung des Hauptvorstandes der SDKPiL. 23 Luxemburg, Briefe an Leon Jogiches, S. 240 und S. 243. 24 Brief Rosa Luxemburgs vom 27. Oktober 1905. Luxemburg, Bd. 2, S. 224.

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stimmt gefallen, er hat ein sehr originelles Aussehen, er erinnert mit seinen Locken etwas an Trotzki.“25 Jogiches befand sich zu diesem Zeitpunkt in Krakau, und stand kurz davor, mit der gesamten Führung der SDKPiL nach Warschau überzusiedeln. Als Zar Nikolaus II. am 30. Oktober ein Manifest erließ, in dem er eine Verfassung sowie eine neue Duma mit größeren Rechten zugestand und gleichzeitig eine Amnestie für politische Häftlinge und Emigranten verkündete, eröffnete sich der SDKPiL die Möglichkeit aus der Illegalität herauszutreten und den politischen Kampf in RussischPolen legal zu führen. Elf Tage nach dem Manifest wurde allerdings das Kriegsrecht verhängt, was einem faktischen Widerruf der Versprechungen des Zaren gleichkam und die SDKPiL wieder in den Untergrund abdrängte. Erneut anlaufende Massenstreiks und Aufstandsvorbereitungen gaben jedoch den revolutionären Hoffnungen der Parteiführer bis zum Jahresende wieder neue Nahrung. Radek verbrachte diese Tage in Berlin unter den Fittichen Rosa Luxemburgs, die voller Unruhe und Ungeduld darauf wartete, nach Warschau zu gehen. Er arbeitete in Bibliotheken, besuchte SPD-Versammlungen, lernte die führenden Redakteure der „Leipziger Volkszeitung“ kennen und wurde „bis ins innerste erbebend“ Karl Kautsky vorgestellt. Die ursprüngliche Absicht, Radek ins „literarische Hauptquartier der Partei“ nach Krakau zu entsenden wurde aber hinfällig, als Jogiches im November nach Berlin kam, von wo er in Anbetracht der sich stürmisch entwickelnden revolutionären Ereignisse nach kurzem Aufenthalt illegal nach Polen weiterreiste. Radek schreibt: „Mitte November kam Tyszka [Jogiches] und verabredete mit mir meine Übersiedlung nach Warschau, wo die Partei ein Tagblatt gründete.“26 In Warschau eingetroffen, hatte sich Leo Jogiches seit dem 23. November mit deutschem Pass auf den Namen Otto Engelmann im Hotel „Viktoria“ am ZielonyPlatz angemeldet. Er war auf Radek ursprünglich durch dessen namentlich gezeichnete Artikel in der Zeitschrift „Głos“ aufmerksam geworden27. Jetzt wollte er ihn – den Empfehlungen Adolf Warszawskis und Rosa Luxemburgs folgend – im revolutionären Warschau als Mitarbeiter der legalen Tageszeitung der Partei „Trybuna Ludowa [Die Volkstribüne]“28 und des illegalen Parteiorgans „Czerwony Sztandar [Rote Fahne]“, vor allem aber auch in der Gewerkschaftsarbeit einsetzen. Im Dezember überquerte Radek deshalb mit einem falschen Pass die österreichisch-russische Grenze, reiste nach Warschau und meldete sich bei Jogiches29. Der erste Genosse, der ihn dort „mit offenen Armen und Bruderkuss“ empfing, war Josef Domanski30, 25 Brief Rosa Luxemburgs vom 20. Oktober 1905, a.a.O., S. 210. 26 Radek, Meine Abrechnung, S. 41. Vgl. auch Luxemburg, Briefe an Leon Jogiches, S. 253f., Anm. 6. 27 Ebenda. 28 Die erste Nummer der „Trybuna Ludowa“ erschien in Warschau am 17.12.1905. Nach fünf Tagen wurde die Zeitung von den zaristischen Behörden verboten. Luxemburg, Briefe an Leon Jogiches, S. 253, Anm. 6. 29 [Warszawski-]Warski, S. 594f.; zitiert nach Lerner, S. 11. 30 Domanski, Josef, Angehöriger des SDKPiL-Hauptvorstandes.

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einer der Ruch-Schiedsrichter in der Affäre Zembaty von 1904. Gleichzeitig traf Radek dort auch Feliks Dzierżyński wieder, seinen alten Bekannten aus Krakau. Rosa Luxemburg, die mit einem deutschen Pass auf den Namen Anna Matschke am 29. Dezember 1905 ebenfalls illegal nach Warschau gekommen war, schildert die in der Stadt herrschende Atmosphäre und die Arbeitsbedingungen der Partei sehr illustrativ: „[…] hier ist es sehr schön. Jeden Tag werden zwei bis drei Personen in der Stadt von Soldaten erstochen, Verhaftungen kommen täglich vor, sonst ist es aber sehr lustig. Trotz Kriegszustand geben wir den ,Sztandar‘ täglich heraus, und er wird auf den Straßen verkauft. Sobald der Kriegszustand aufgehoben wird, erscheint wieder die legale Tageszeitung ,Trybuna [Ludowa]‘. Jetzt muß man den Druck des ,Sztandar‘ täglich mit Revolvern in der Hand in den bürgerlichen Druckereien erzwingen. Auch die Meetings werden sofort beginnen, wenn der Kriegszustand vorbei ist […]. Grimmige Kälte herrscht hier und man fährt nur Schlitten […].“31

Auch Radek, der es später als „Glück“ bezeichnete, „damals mit ihr [Rosa Luxemburg] in der Bewegung zu arbeiten“32, wurde beauftragt, mit einigen Arbeitern im Gefolge den Druck des „illegalen Zentralorgans“ durch Einschüchterung und Gewaltandrohung sicherzustellen, und er fand es ganz lustig, wie der Redakteur einer liberalen Zeitung schnell aufhörte „über die Freiheit der Presse […] zu plappern, als er in unseren Händen den geladenen Browning erblickte“.33 „In Warschau machte ich eine vortreffliche Schule durch“34, fasste Radek seine revolutionären Erfahrungen im Kreise der SDKPiL-Führer zusammen. Er schrieb nicht nur flammende Aufrufe für die Parteizeitungen. In den Arbeitern der Warschauer Fabriken traf er erstmals auf wirkliches Industrieproletariat, und er war angesichts der ab Januar 1906 wieder abflauenden Streikbewegung gerade noch rechtzeitig genug eingetroffen, um in großen Streikversammlungen als Redner auftreten zu können und für die Durchführung militanter Aktionen zur Wiederbelebung der Revolution zu werben. Als Jungfunktionär der mittlerweile auf fast 30.000 Mitglieder angewachsenen SDKPiL arbeitete er von Dezember 1905 bis Januar 1907 in der mit der Parteiführung nahezu personalidentischen „Zentralkommission der sozialdemokratischen Gewerkschaften in Russisch-Polen“ als Redakteur der Gewerkschaftszeitung und Propagandist35. Die unmittelbare „Mitarbeit an der Schaffung einer revolutionären Massenpartei und Massengewerkschaft“ bildete für ihn gleichzeitig einen praxisbe-

31 Brief Rosa Luxemburgs vom 11. Januar 1906. Luxemburg, Briefe an Karl und Luise Kautsky, S. 95f. 32 Radek, Leben und Kampf unserer Genossin Rosa Luxemburg, S. 27. 33 Radek, Avtobiografija, Sp. 146. 34 Ebenda, Sp. 145. 35 Vgl. ders., Meine Abrechnung, S. 30 und Avtobiografija, Sp. 146.

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zogenen ideologischen Klärungsprozess für all das, was er bisher insbesondere in der theoretischen „Schule der deutschen Sozialdemokratie“ gelernt hatte. Dieser „Prozess des Durchrüttelns“, wie Radek ihn nannte, war für ihn aber umso fruchtbarer, als er in unmittelbarer Zusammenarbeit mit den glänzendsten Köpfen des polnischen Marxismus stattfand: Rosa Luxemburg, Leo Jogiches (Tyszka) und Adolf Warszawski (Warski). Von diesen drei Parteiführern wurde Jogiches, „in dessen Schule […] [er] die publizistischen Sporen erwarb“36, zur prägenden Gestalt für Radek. Der 1867 in Wilna geborene Jogiches stammte aus einer reichen jüdischen Familie, war einer der Mitgründer der SDKPil und der Lebensgefährte Rosa Luxemburgs. Er wies als „starke rücksichtslose Natur“ ungemein autoritäre Züge auf und verhielt sich nach einem in Parteikreisen kursierenden Witz so konspirativ, dass er selbst nicht wusste, wo er wohnte. Radek feierte ihn später als sein journalistisches Vorbild und seinen politischen Mentor: „Ich hatte als Zwanzigjähriger das Glück, zum Teil sein literarischer Sekretär, zum Teil als junger Mitarbeiter diesem großen Organisator bei der Arbeit zuzusehen […]. Er wußte jede Kraft zu benutzen, jedem wies er die Stelle zu, in der er am besten der Partei dienen konnte und jede Bemerkung, die er uns Jungen über unsere schriftstellerischen Anfänge machte, war eine politische Schule. Er zeigte uns immer, daß jede Zeile, die man schreibt, einem konkreten politischen Zweck dienen muß, daß die revolutionäre Journalistik keine Literatur, sondern der Kampf mit der Feder in der Hand sei. Und er zeigte, daß eine revolutionäre Zeitung […] ein Kampforgan ist, dessen verschiedene Teile von verschiedenen Menschen fabriziert werden, aber alle e i n e m konkreten Ziel dienen.“37 Und: „Den stärksten Einfluß auf mich hatte Tyszka selbst, welcher der beste Redakteur war, der mir im Leben begegnet ist. Für ihn bildete eine revolutionäre Zeitung nicht eine Sammlung revolutionärer Artikel, sondern ein Kampfinstrument, wie ein Geschütz, an dem jeder Artikel und jede kleinste Notiz Schräubchen waren, die den zentralen Tagesaufgaben dienten. Tyszka selbst, […] setzte die Ausgaben der Zeitung wie ein Kampfgeschoß zusammen.“38

Allerdings war die Arbeit für Jogiches kein reines Honigschlecken. Mitten im Trubel der Revolution verlangte er „eifriges Studium“ und er zwang Radek dazu, „alte Schriftsteller durchzuarbeiten, deren Namen kaum bekannt waren“.39 Und „man seufzte unter Leos Tyrannei sogar im Gefängnis“, von wo aus er – nachdem er zusammen mit Rosa Luxemburg am 4. März 1906 verhaftet worden war – akribisch „über die ganze nächste Arbeit der Zeitung [„Czerwony Sztandar“] disponierte“.40

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Radek, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, S. 79. A.a.O., S. 83; Hervorhebung durch den Verfasser. Ders., Avtobiografija, Sp. 145 f. Frölich, S. 29. Radek, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, S. 83f.

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Als sich im Frühjahr 1906 die Revolution ihrem Ende zuneigte, befanden sich viele ihrer Führer in Haft oder waren wieder ins österreichische Krakau zurückgekehrt. In Warschau verblieben nur die beiden erfahrensten Verschwörer des Vorstands, Dzierżyński und Hanecki41. Nachdem auch Warszawski festgenommen worden war, bestand die in einer konspirativen Wohnung in der Nähe der Jasnastraße untergebrachte Redaktion der „Czerwony Sztandar“ noch aus Marchlewski, Malecki42 und Radek. Ihre Hauptaufgabe war es, den Wahlkampf der bürgerlichen Parteien für die erste Duma, die am 27. April zusammentreten sollte, zu stören, denn die SDKPiL hatte jetzt als Teil der russischen Sozialdemokratie zum Wahlboykott aufgerufen. Radek agitierte in diesem Sinne in den Wahlversammlungen der anderen Parteien, und er war auch dabei, wenn diese Veranstaltungen des Öfteren von den polnischen Revolutionären mit Waffengewalt gesprengt wurden. Noch während des Wahlkampfes ging er der Polizei bei einer zufälligen Straßenkontrolle ins Netz, kam aber durch Bestechung ziemlich schnell wieder frei. Zwei Wochen darauf – wahrscheinlich im April – erneut verhaftet, wurde er für sechs Monate unter ganz annehmbaren Bedingungen im Warschauer Pawiak-Untersuchungsgefängnis inhaftiert. Er las dort Lenin, Plechanov und die von Kautsky aus dem Nachlass von Karl Marx herausgegebenen „Theorien über den Mehrwert“ und nutzte die Haftzeit dazu, um Russisch zu lernen, eine Sprache die er bislang nicht beherrscht hatte. Im Gefängnis schrieb er auch seinen ersten Artikel für Kautskys „Neue Zeit“ über die Rolle der Gewerkschaftsbewegung in Polen43 – ein Plädoyer für die sozialistische Politisierung und die revolutionäre Mobilisierung der polnischen Gewerkschaften – und er war hocherfreut, als dieser in dem führenden sozialdemokratischen Theorieorgan veröffentlicht wurde und er das Belegexemplar erhielt. In den letzten Oktobertagen des Jahres 1906 wurde er gegen eine Kaution aus dem Gefängnis entlassen. Er wohnte in Warschau wieder unter seinem eigenen Namen Sobelsohn und hatte den Eindruck, von der Polizei als mutmaßlicher Redaktionsangehöriger der verbotenen „Czerwony Sztandar“ überwacht zu werden44. Dennoch setzte er seine Arbeit in der mit der SDKPiL eng liierten und ebenfalls illegal tätigen Gewerkschaftskommission als Redakteur, Propagandist und wohl auch als Streikagitator fort45. Dabei geriet er in den Verdacht finanzieller Unregelmäßigkeiten. So hatte er einmal drei Rubel Reisespesen aus der Parteikasse für die Teilnahme an einer Versammlung behalten, zu der er gar nicht hingefahren war46. Ein wesentlich gravierenderer Vorwurf bezichtigte ihn jedoch, Gewerkschaftsgelder in Höhe von 41 Hanecki, Jakob (1879–1937), russisch Ganeckij, Jakov Stanislavovič, Pseudonym von Fürstenberg, Jakub, polnischer Revolutionär und späterer Sowjetfunktionär. 1937 hingerichtet. 42 Malecki, Aleksander; Pseudonym von Rubinstein, Maurycy (1879–1937); seit 1904 SDKPiL-Aktivist. 43 Vgl. Lerner, S. 12. 44 Radek, Meine Abrechnung, S. 33 und S. 36. 45 A.a.O., S. 30 und ders., Avtobiografija, Sp. 146. 46 A.a.O., S. 6.

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300 Rubel unterschlagen zu haben. Er hat dies später vehement bestritten, und darauf verwiesen, dass die im Untergrund agierenden Gewerkschaften keine Bankkonten unterhalten konnten. Es war üblich die Gelder an bürgerliche Sympathisanten auszuhändigen, die als Strohmänner die Beträge auf ihren Privatkonten deponierten. Um der Polizei kein gerichtsverwertbares Belastungsmaterial in die Hände fallen zu lassen, wurde verständlicherweise auf das Ausstellen von Quittungen weitgehend verzichtet.47 Zur Sache selbst, die nie völlig aufgeklärt wurde48, äußerte Radek 1913: „Ich wurde von dem Sekretär der Gewerkschaftskommission, Makar, der krank lag, Ende November 1906 gebeten, das Geld, das der Sekretär der Schneidergewerkschaft, Genosse Juljan, brachte – es waren 300 bis 500 Rubel – zum Genossen Stanislas, der als Arzt selbst oder durch Bekannte sie leicht unterbringen konnte, zu tragen. Ich tat das. N a t ü r l i c h bekam ich von diesem Genossen so wenig eine Quittung, w i e i c h e i n e s o l c h e d e m S e k r e t ä r d e r K o m m i s s i o n g a b . Stanislas behauptet jetzt, das Geld von mir nicht bekommen zu haben. Da er mehrmals mit Parteigeldern zu tun hatte, kann er es leicht vergessen haben, um so mehr, als er behauptet, er habe von dem Genossen Juljan Geld bekommen: es ist sehr wohl möglich, daß seine Erinnerung hier versagt, daß er die Person, die das Geld brachte, mit der, der es angehörte, verwechselte.“49

Als sich Radek im Frühjahr 1907 während des bis in den April dauernden viermonatigen Winterstreiks von 30.000 Textilarbeitern in Łódź aufhielt, kam es zu seiner neuerlichen Festnahme und er wurde in die Warschauer Zitadelle überführt. Die außerhalb der Stadt am Ufer der Weichsel gelegene Festung wurde seit jeher als Haftanstalt für politische Gefangene benutzt. Auch Rosa Luxemburg war dort ein Jahr zuvor im sogenannten „X. Pavillon“ inhaftiert gewesen. Jetzt wurde Radek im gleichen Bau in einer ruhigen Einzelzelle mit glatten weißgetünchten Wänden festgehalten. Die Haftbedingungen waren keineswegs hart. Die Zelle war hell und sauber, das Essen recht gut, das Verhalten des Wachpersonals ganz zivil und der Hof, in dem die Gefangenen ihre Spaziergänge absolvierten, glich mit seinen schönen Kastanienbäumen, Akazien und Fliederbüschen einer Parkanlage. Vor allem aber gab es im Gefängnis eine attraktive und gutbestückte Bibliothek50, sodass Radek, wie immer lesend, dort nach eigenem Bekunden „höchst fruchtbare Studienmonate“ verbrachte. Er lernte Englisch, indem er zwei Klassiker der Wirtschaftswissenschaften51 in der Original47 A.a.O., S. 30ff. 48 Vgl. Lerner, S. 181, Anm. 42. Demzufolge ist 1913 auch ein Untersuchungsausschuss der SPD zu keinem eindeutigen Ermittlungsergebnis in der Affäre der 300 Rubel gekommen. 49 Radek, Meine Abrechnung, S. 33f. 50 Medem, S. 501f. 51 Die Abhandlung des „Vaters der Nationalökonomie“,Adam Smith (1723–1790), „An Inquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations“ und „Principles of Political Economy and Taxation“ von David Ricardo (1772–1843), der aus der Malthusschen Verelendungstheorie sein Lohngesetz entwickelte.

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sprache durcharbeitete, las „drei Bände ,Kapital‘“ von Karl Marx und übte sich an den von ihm seit seiner Gymnasialzeit geschätzten Dialogen Platons in formaler Logik. Der Winter war bereits angebrochen als er gegen das Jahresende 1907 aus dem Gefängnis entlassen und nach Österreich abgeschoben wurde, wo er zunächst einige Tage bei seinen Genossen in Krakau Station machte. Als frischbewährter Revolutionär wurde er selbst von dem durch die Bettaffäre geschädigten Josef Heynar mit offenen Armen empfangen, der ihm nun verzieh und Radek trotz der ehemals negativen Erfahrung mit ihm als Übernachtungsgast sein Bett erneut zu Verfügung stellen wollte52. Auf Weisung der Parteiführung reiste er dann über Berlin weiter nach Finnland, das im russischen Kaiserreich den Status eines autonomen Großfürstentums besaß und in dynastischer Union mit dem Kaiserhaus Romanov verbunden war. In dem Badeort Terijoki, dem heutigen russischen Zelenogorsk, hatten sich auf dem vergleichsweise sicheren finnischen Boden die russischen revolutionären Führer im Ortsteil Kuokkala niedergelassen. Hier, vor den Toren von St. Petersburg, befand sich das geheime bolschewistische Zentrum mit Lenin, Bogdanov53 und Krasin54 und auch Rosa Luxemburg hatte sich dort 1906 vorübergehend aufgehalten. Peter Nettl schildert das Leben der revolutionären Führer: „Am Tag verstohlene Besuche in der Hauptstadt [St. Petersburg], nach der abendlichen Rückkehr ins stille Kuokkala tabakverqualmte Sitzungen bis in die frühen Morgenstunden.“55 In diesem Refugium der Revolutionäre lebten nach ihrer Flucht aus russischen Gefängnissen mittlerweile auch Leo Jogiches, Adolf Warszawski und Feliks Dzierżyński. Die Redaktion des „Czerwony Sztandar“ hatte sich in Kuokkala von neuem etabliert, und als Radek eintraf, sorgte Leo Jogiches „wie ein Vater“ für die Einrichtung seines jungen Mitstreiters und brachte ihm sogar gelegentlich Konfitüren vorbei. Radek machte erstmals nähere Bekanntschaft mit den russischen bolschewistischen Führern, von denen Lenin sich aber schon wieder ins Ausland abgesetzt hatte. Allerdings dauerte diese revolutionäre Idylle nur wenige Monate. Im März 1908 wurde Krasin verhaftet, und der wachsende Fahndungsdruck der zaristischen Polizei bildete für Leo Jogiches den Anlass, mit Radek über Schweden nach Deutschland zu fliehen. Dort hatte inzwischen der Vorstand der SDKPiL sein Hauptquartier in Berlin aufgeschlagen, von wo aus er „die Leitung der legalen, wie der illegalen Parteipresse, wie der Organisation in der Hand hatte“. Im Berliner Exil wurde von Warszawski seit dem Frühjahr 1908 auch wieder die „Przegląd Socjaldemokratyczny [Sozialdemokratische Rundschau]“ herausgegeben, und Radek, der bei seiner An52 Radek, Meine Abrechnung, S. 28f. 53 Bogdanov, Aleksandr Aleksandrovič, (1873–1928), Pseudonym von A. A. Malinovskij; Arzt, Soziologe und Philosoph; zusammen mit L. Krasin (s. Anm. 54) technischer Manager der bolschewistischen Raubüberfälle und Finanzfunktionär des bolschewistischen Zentrums. Trennte sich 1909 im Streit von Lenin und zog sich aus der aktiven Politik zurück. 54 Krasin, Leonid Borisovič (1870–1926), Ingenieur und terroristischer Bombenbauer. Nach der Oktoberrevolution hoher Sowjetfunktionär und Diplomat. 55 Nettl, Rosa Luxemburg, S 280f.,

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kunft in der Reichshauptstadt von den polnischen Parteiführern wie ein verlorener Sohn begrüßt worden war, arbeitete jetzt an diesem theoretischen Parteiorgan sowie auch an anderen SDKPiL-Publikationen mit. Rosa Luxemburg und Julian Marchlewski, die neben ihrer Zugehörigkeit zur SDKPiL seit längerem auch Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) waren, verfügten über enge Beziehungen zu deutschen sozialdemokratischen Führern. Sie ebneten Radek den Weg in die deutsche Sozialdemokratie, und nachdem sie selbst überwiegend publizistisch tätig waren und Radek durch die Arbeit für die exilpolnische Parteipresse keineswegs ausgelastet und wohl auch auf weitere Einkünfte angewiesen war, verschafften sie ihm Zugang zu den Spalten deutscher sozialdemokratischer Blätter. Deutschland galt vor dem 1. Weltkrieg als das führende Land innerhalb der sozialistischen Bewegung. Die großen Theoretiker und Organisatoren wie Marx, Engels, Lassalle und Bebel waren Deutsche56, und die deutsche Sozialdemokratie hatte sich zur stärksten und geistig glanzvollsten Partei der II. Internationale entwickelt. Sie war das weithin bewunderte Vorbild der Sozialisten in aller Welt, besonders aber in Osteuropa57. Allerdings hatte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert das Spannungsverhältnis zwischen dem theoretischen Anspruch der SPD als einer marxistisch-revolutionären Partei und ihrer praktischen Politik zu einer ideologischen Spaltung geführt. Drei sich bekämpfende Gruppierungen standen einander gegenüber: Mit dem Ziel, den Sozialismus unter Verzicht auf revolutionäre Methoden zu verwirklichen, hatten sich auf dem rechten Flügel die Revisionisten bzw. Reformisten um Eduard Bernstein58 gesammelt. Sie wendeten sich gegen die von der Erwartung eines revolutionären Zusammenbruchs geprägte Politik der SPD-Führung. Die Mehrheit der Mitglieder bildete das Parteizentrum – das sogenannte orthodoxe marxistische Zentrum – unter Karl Kautsky und August Bebel59. Obwohl das Parteizentrum den Revisionismus theoretisch verurteilte, verfolgte es trotz Beibehaltung der revolutionären Terminologie in der Praxis eine durchweg reformistische Politik. Am linken Flügel standen die Radikalen um Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht60, Clara Zetkin61 und Franz Mehring62. Im Hinblick auf die Frage „Sozialreform oder 56 Vgl. Pfeiler, S. 13. 57 Vgl. Braunthal. S. 8. 58 Bernstein, Eduard (1850–1932), sozialistischer Schriftsteller und Politiker. Hauptvertreter des Revisionismus der deutschen Sozialdemokratie. 59 Bebel, August (1849–1913), einer der Parteigründer und der bedeutendste Führer der SPD im Reichstag. 60 Liebknecht, Karl (1871–1919), Reichstagsabgeordneter der SPD und Führer des linken Parteiflügels. Mitbegründer des Spartakusbundes (1917) und der KPD (1918/19); nach den Januarkämpfen 1919 in Berlin ermordet. 61 Zetkin, Clara, geborene Eißner (1857–1933); Lehrerin; in der Frauenbewegung engagierte, führende linke Sozialdemokratin; Freundin Rosa Luxemburgs; Mitbegründerin von II. Internationale, Spartakusbund und KPD; Mitglied der KPD-Führung; 1920–1933 Mitglied des Reichstages. 62 Mehring, Franz (1846–1919), linksstehender Parteihistoriker und einflussreichster Publizist der SPD.

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Revolution ?“ – so der Titel einer von Rosa Luxemburg 1899 verfassten Schrift – forderten sie eine strikte Befolgung der marxistischen Prinzipien, und sie begannen sich in der seit der russischen Revolution von 1905 geführten Massenstreikdiskussion immer stärker von den orthodoxen Marxisten abzugrenzen. Selbstverständlich engagierte sich Radek auf dem linken Flügel der SPD, trat nach eigenen Angaben unter dem Namen „Kropatsch“ in die SPD ein63 und begann für das wichtigste Blatt der Linken, die „Leipziger Volkszeitung“ zu arbeiten. Daneben publizierte er in der Dortmunder „Arbeiter-Zeitung“ und in der linksradikalen von Alfred Henke64 herausgegebenen „Bremer Bürgerzeitung“. Gleichzeitig verfasste er aber auch Artikel für die führenden Organe der SPD und ihres orthodoxen Parteizentrums, den „Vorwärts“ und die „Neue Zeit“. Er urteilte scharf und kritisch und konnte in erstaunlich kurzer Zeit qualitätsvolle Artikel schreiben, sobald die Redaktionen sie benötigten65. Als thematischen Schwerpunkt wählte er Fragen der Außenpolitik. Im Jahre 1908 hatte sich die europäische Politik von der geographischen Peripherie der imperialistischen Expansion wieder zurück nach Europa gewendet. Russland war auf seine alte Balkan- und Meerengenpolitik zurückgeschwenkt. Der Verfall des Osmanischen Reiches ließ den Balkan zum weltpolitischen Spannungsraum werden, in den alle europäischen Großmächte verwickelt waren und nach der Marokkokrise von 1906 setzten sich die politischen Krisen der Zeit vor dem 1. Weltkrieg mit der jungtürkischen Revolution66 und der Bosnischen Krise fort. Radek, der sich bislang vor allem mit polnischen Angelegenheiten befasst und sich eigentlich erst während des russisch-japanischen Krieges für außenpolitische Dinge zu interessieren begonnen hatte, widmete sich nunmehr „mit allen Kräften dem Studium des zeitgenössischen Imperialismus“ und seiner „Triebkräfte“, das heißt, er beobachtete die internationale politische Entwicklung, indem er deutsche und ausländische Zeitungen auswertete und gestützt auf dieses Material täglich Artikel zu aktuellen Fragen der Außenpolitik verfasste. Dabei stand der Komplex Imperialismus und Krieg im Mittelpunkt seiner Arbeit. Im Herbst des Jahres 1908 schrieb er seine erste größere Analyse in deutscher Sprache für die „Bremer Bürgerzeitung“, 63 Brief des Sozialdemokratischen Zentralvereins für Teltow-Beeskow-Storkow an den Parteivorstand vom 31. August 1912, in: Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 485: „In Sachen Karl Radek teile ich hierdurch ergebenst mit, daß dieser tatsächlich ,seit 1908 organisiertes Mitglied der deutschen Partei‘ ist, – wenn Kropatsch und Radek identisch sind. Am 25. Oktober 1908 wurde ein Kropatsch, Berlin, Scharnhorststraße 11 wohnhaft, im Wahlverein des 6. Berliner Reichstagswahlkreises als Mitglied aufgenommen. Er bekam das Buch Nr. 30984. Damit hatte er seine Parteipflicht allerdings erfüllt. Seitens des Sekretariats des 6. Kreises ist festgestellt worden, daß dieser Genosse nach seinem Eintritt keine Beiträge an die Organisation bezahlt hat, der er als Mitglied angehörte.“ – Demzufolge bleibt Radeks Identität mit dem genannten Kropatsch fraglich. 64 Henke, Alfred (1868–1946), Chefredakteur der „Bremer Bürgerzeitung“, SPD-Politiker, 1912– 1932 Reichstagsmitglied. 65 Pannekoek, Anton, Erinnerungen aus der Arbeiterbewegung (Manuskript), S. 10; zitiert nach: Moring, S. 178. 66 Von Enver Pascha (1881–1922) geführter Militäraufstand in Saloniki.

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in der er seine Einschätzung der Aufgaben und Fehler der deutschen Sozialdemokratie vor dem Hintergrund der internationalen Lage systematisch darlegte67. Unter der Überschrift „Die auswärtige Politik der deutschen Sozialdemokratie“68 umriss er seine Position wie folgt: Die Auffassung von Marx und Engels, jede kriegerische Auseinandersetzung werde den revolutionären Prozess beschleunigen und auch Lassalles „Vive la guerre (Es lebe der Krieg)“ entsprechen nicht mehr den konkreten Gegebenheiten in Europa und müssen deshalb relativiert und unter historischen Aspekten beurteilt werden. Heute sei die Sozialdemokratie ein „Hort des Friedens“. Dennoch sei festzuhalten: „Die ökonomischen Verhältnisse in Westeuropa sind schon für den Sozialismus reif […]. Die soziale Revolution rückt in greifbare Nähe. Der Kapitalismus will eine Zuflucht und Rettung in den Kolonien finden. Es wird nur eine Galgenfrist sein […]. Die Kolonialpolitik der Regierungen kann zu einem Zusammenstoß der konkurrierenden Großmächte führen, der den Zusammenbruch des Kapitalismus beschleunigen würde.“ Gelingt es nicht, den Ausbruch eines Krieges zu verhindern und kommt es zum Krieg, dann ist „die von ihm geschaffene Situation für einen kräftigen Vorstoß der proletarischen Armee zu benutzen“. Ein solcher imperialistischer Krieg könnte aus dem deutsch-englischen Gegensatz in der Kolonialfrage als eine Auseinandersetzung um Einflussgebiete, Märkte und Rohstoffquellen entstehen. Der Gedanke, dass dieser Krieg wegen der drohenden Gefahr einer gegenseitigen Unterjochung und damit um die Wahrung der nationalen Unabhängigkeit geführt werden müsse, sei „Blödsinn“ und nur als eine patriotische Vernebelungsparole der imperialistischen „Kriegshetzer“ zu bewerten. Auch die viel beschworene „russische Gefahr“ ist nur ein Popanz und „jetzt nur eingebildet“, denn „Rußland ist nicht imstande, im Gebrauch der Mittel, die in der heutigen Kriegstechnik zur Anwendung gelangen müssen, mit geistig und moralisch höher entwickelten Völkern Schritt zu halten“. – „Der Verfall der Macht des Zarismus“ und des Osmanischen Reiches geht einher mit den Unabhängigkeitsbestrebungen der Balkanvölker. Die Gefahr, dass diese Bewegungen einen Krieg auslösen könnten, „liegt aber ausschließlich in den kolonialpolitischen Gelüsten der Großmächte, in ihrem Streit um die Türkei“. Aus dieser Analyse leitete Radek als Schlussfolgerungen für eine durch die SPD zu implementierende „proletarische Politik“ ab: „Die deutsche Sozialdemokratie müßte weiter aus allen Kräften die deutschen Kolonialund Flottenschwärmer bekämpfen, sie müßte die Einschränkung der Flottenrüstungen fordern […]. Die SPD kann ihre Identität als revolutionäre Partei unmöglich bewahren, indem sie die Regierung teilweise unterstützt. Die Pflicht der Sozialdemokratie besteht […] darin, nicht ihre Bereitschaft zum Kampfe um die Unabhängigkeit [des Deutschen 67 Radek, Avtobiografija, Sp. 148. 68 Publiziert 1909 in der „Bremer Bürgerzeitung“. Radek wählte diesen Artikel 1919 als ersten Beitrag für seinen Sammelband „In den Reihen der deutschen Revolution 1909–1919“ aus. Alle nachstehenden Zitate sind dieser Artikelsammlung, S. 17–37 pass., entnommen.

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Reiches] zu betonen, sondern die Masse zum Kampf gegen die Kriegshetzer zu führen, durch ihre Aktion den herrschenden Klassen vor die Augen zu führen, daß es gefährlich werden kann, die Arbeiterklasse auf die Schlachtbank führen zu wollen […]. Die Aufgabe der Sozialdemokratie muss es sein, die Arbeiterschaft davon zu überzeugen, „daß der Kapitalismus heute schon reif zum Untergange ist, daß heute schon eine andere Politik als die der Kriegsvorbereitung möglich ist“.

Überzeugt von der Idee des revolutionären Klassenkampfs artikulierte Radek in diesem Artikel den Protest gegen die politische Linie einer verbürgerlichten SPD, die de facto bereits auf ihre revolutionäre Ausrichtung verzichtet hatte, auf parlamentarische Taktik setzte und sich mit dem Glauben begnügte den Zusammenbruch des Kapitalismus als historisch determiniert, abwarten zu können. „Das war keine Weltanschauung für Revolutionäre, das bedeutete deren intellektuelle Kastration“69. Als Parteilinker hatte Radek sehr schnell Anstoß an der „theoretischen Inkohärenz“ der SPD genommen. Ihr Pazifismus verurteile sie zur völligen Untätigkeit gegenüber den heraufziehenden Kriegsgefahren des Imperialismus, kritisierte er. Zudem verfolge sie wegen ihrer völligen Überschätzung der Bedrohung durch das zaristische Russland einen antirussischen Kurs, der sie in die Arme der Regierung treibe70. In seinen wesentlichen Inhalten kreiste der Artikel jedoch um die Inhalte der Debatten über Militarismus und Krieg auf dem Internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart 1907 und interpretierte die von Rosa Luxemburg und Lenin maßgeblich beeinflusste Schlussresolution des Kongresses71. Der Beitrag in der „Bremer Bürgerzeitung“ sollte 69 Möller, S. 19. 70 Radek, a.a.O. 71 Die Kerninhalte der Schlussresolution lauteten: „Der Kongreß […] stellt aufs neue fest, daß der Kampf gegen den Militarismus nicht getrennt werden kann von dem sozialistischen Klassenkampf im ganzen. Kriege zwischen kapitalistischen Staaten sind in der Regel Folgen ihres Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkte, denn jeder Staat ist bestrebt, sein Absatzgebiet nicht nur zu sichern, sondern auch neue zu erobern […]. Diese Kriege ergeben sich weiter aus den unaufhörlichen Wettrüstungen des Militarismus […]. Begünstigt werden die Kriege durch die bei den Kulturvölkern im Interesse der herrschenden Klasse systematisch genährten Vorurteile des einen Volkes gegen das andere […]. Der Kongreß betrachtet es deshalb als Pflicht der arbeitenden Klasse […] mit allen Kräften die Rüstungen zu Wasser und zu Lande zu bekämpfen und die Mittel hierfür zu verweigern […]. Droht der Ausbruch des Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen […] verpflichtet, […] alles aufzubieten, um durch Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern […]. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassengesellschaft zu beschleunigen.“ Vgl. Nettl, Rosa Luxemburg, S. 309ff. Die den Krieg betreffende Passage der Resolution ist nahezu identisch mit Rosa Luxemburgs Formulierung in „Militarismus, Krieg und Arbeiterklasse“: „Wenn ein Krieg auszubrechen droht, so ist es die Pflicht der Arbeiterklasse und ihrer parlamentarischen Vertreter […] jede Anstrengung zu unternehmen, den Ausbruch des Krieges zu verhindern […] Sollte der Krieg trotzdem ausbrechen, so ist es ihre Pflicht,

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den Genossen also einerseits die Stuttgarter Resolution als ein Grundsatzdokument des internationalen Sozialismus in einprägsamen Formulierungen vermitteln. Auf der anderen Seite bildete diese Entschließung aber auch Radeks Koordinatensystem für die Beurteilung der Weltlage und den Maßstab seiner Kritik am Kurs der Partei. 1911 griff er die Gedanken aus diesem Artikel erneut auf und entwickelte sie zu einer allgemeinen Charakteristik des Imperialismus, eine Analyse, mit der er seinen Ruf „als guter Kenner der internationalen Kreuzungen der Weltpolitik“72 begründete. *** Hätte Radek seine „Schule der Revolution“ beschreiben wollen, dann hätte er sehr wahrscheinlich seine Erfahrungen als junger Erwachsener in den vier Jahren von 1904 bis 1908 so bezeichnet, dem Zeitraum in dem er sich von den nationalistischen Sozialdemokraten Polens abwendete, sich der ihn politisch entscheidend prägenden internationalistischen Splittergruppe um Rosa Luxemburg und Leo Jogiches anschloss, die Feuertaufe als Revolutionär erhielt und schließlich am linken Flügel der deutschen Sozialdemokratie – „in den Reihen der deutschen Revolution“, wie er es nannte – zu agieren begann. Die Revolution hatte damals sein äußeres Erscheinungsbild noch nicht erreicht. Ein vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland entstandenes Foto73 gleicht in keiner Weise dem Bild des ungekämmten Bürgerschrecks der späteren Jahre. Es zeigt Radek als einen sorgfältig frisierten, mit Anzug und Weste, Stehkragen und Krawatte konservativ gekleideten, milchgesichtigen, bartlosen jungen Mann, der durch eine randlose Brille ernsthaft in die Linse des Fotografen starrt. Ein „sanft und gelehrtenhaft aussehender jugendlicher Mensch, einem harmlosen Universitätsabsolventen ähnlich“74; ein „empfindsamer junger Mann, makellos gekleidet und gepflegt und in einer nachdenklichen Pose, wie ein junger Rechtsanwalt, der Klienten auf sich aufmerksam machen möchte“75, oder wie Möller treffend charakterisiert, „Klugheit in den kurzsichtigen Augen, ein wenig träumerisch – tatsächlich ein Hauch von Heine […] der ihm nachgesagte Zynismus stand ihm noch nicht im Gesicht geschrieben“76. Ein unvoreingenommener Beobachter beschrieb ihn als blassen, schmächtig wirkenden Menschen, der aber durch seinen ungewöhnlich geschulten Intellekt und die zugunsten einer raschen Beendigung desselben zu intervenieren und alles in ihrer Macht stehende zu tun, die durch den Krieg verursachte wirtschaftliche und politische Krise zu benutzen, um die Völker zu entflammen und dadurch die Beseitigung der Herrschaft der kapitalistischen Klasse zu beschleunigen.“ Ausgewählte Reden II, S. 493. 72 Laufenberg, Heinrich/Wolffheim, Fritz, Moskau und die deutsche Revolution, Hamburg 1920, S. 35; zitiert nach: Goldbach, S. 33. 73 Wiedergabe des Fotos in: Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, nach S. 96. 74 Schurer, Part I, S. 60. 75 Lerner, S. 19. 76 Möller, S. 16.

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Prägnanz, mit der er sich auf Deutsch ausdrückte, auffiel77, und Rosa Luxemburg fühlte sich bekanntlich durch sein originelles Aussehen und seine Locken entfernt an Trockij erinnert. Sein durchaus bürgerlicher Habitus entsprach dem der anderen polnischen Revolutionäre, in deren Kreis er in Warschau seine ersten revolutionären Erfahrungen gesammelt hatte. Dabei war die Einschüchterung eines bürgerlichen Redakteurs mit dem Browning in der Hand allem Anschein nach sein militantestes Revolutionserlebnis. Es erhellte gleichzeitig seine von totalitärer Ideologie bestimmte Haltung zur Frage der Pressefreiheit und der revolutionären Gewaltanwendung. Wie auch andere revolutionäre Marxisten betrachtete er die Pressefreiheit in der kapitalistischen Gesellschaft als eine Fiktion, denn die Produktionsmittel für die Zeitungen gehörten der Bourgeoisie, die über die ihr ergebene Presse die öffentliche Meinung manipulierte. Die revolutionäre Arbeiterklasse, die keine Verfügungsgewalt über Zeitungsdruckereien hatte, konnte hingegen ihren Meinungen und Interessen in der Öffentlichkeit nicht angemessenen Ausdruck geben. Die Freiheit der Presse hörte demnach also erst dann auf eine Heuchelei zu sein, wenn die Druckereien und das Papier der Bourgeoisie weggenommen wurden und in die Hände der Arbeiter gelangten. Deshalb bildete das gewaltsame Vorgehen in den Warschauer Druckereien für ihn lediglich einen Akt der revolutionären Gerechtigkeit. Radek zog eindeutig den „Kampf mit der Feder in der Hand“ und die Agitation dem bewaffneten Kampf als Aufständischer vor. Auch die Arbeit als Partei- und Gewerkschaftsorganisator entsprach, wie er bald herausfand, nicht seiner eigentlichen Berufung. Sein Hauptarbeitsgebiet wurde die revolutionäre Publizistik. Auf dem Höhepunkt seiner journalistischen Karriere galt er „gleich nach Trotzki [als] der brillanteste und geistreichste bolschewistische Pamphletist“78, den ausländische Journalisten als ihren gescheitesten und begabtesten Kollegen schilderten79. Seine Zeitungsartikel und theoretischen Schriften waren in anschaulichem und prägnantem Stil verfasst, und er verstand es, die ermüdenden Wiederholungen kommunistischer Agitation mit Originalität und Leben zu füllen80. Marx und Engels hatten durch ihre praktische journalistische Tätigkeit und ihr erfolgreiches publizistisches Wirken zwar die kommunikativen Leitbilder der Marxisten geprägt, aber erst durch Jogiches hatte Radek gelernt, die Publizistik als Waffe einzusetzen. Über die journalistische Verbreitung der marxistischen Ideen sollte die Bewusstseinsbildung der Massen befördert werden. Die Theorie musste die Massen ergreifen und zur materiellen Gewalt, das revolutionäre Wort zur revolutionären Tat werden. Das konkrete Ziel des „Kampfes mit der Feder in der Hand“ war also die Revolutionierung und Manipulierung der Massen zur revolutionären Aktion. In diesem Sinne sollten Radeks journalistische Arbeiten zu revolutionären Taten führen: „Für den Kampf jedes einzelnen Tages sollten sie fruchtbar gemacht werden. Der Arbeiterklasse sollten sie in jeder Tagesfrage 77 78 79 80

Mayer, Gustav, S. 195. Deutscher, Trotzki II, S. 202. Vgl. Marcu, S. 203. Vgl. Goldbach, S. 10.

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den Weg zur Lösung weisen und damit der ganzen Politik eine Zielsicherheit, Geschlossenheit und Stetigkeit verleihen, die die Kräfte des Proletariats konzentrierte und potenzierte.“81 Bereits nach etwa einem Jahr seines Aufenthalts in Deutschland wurde Radek von der Führung der SDKPiL als der wirksamste Journalist der Exilpartei beurteilt.82 Er wurde zum wichtigsten Sprachrohr Rosa Luxemburgs in der sozialdemokratischen Parteipresse. Mit seinen pointiert formulierten und dialektisch geschickt argumentierenden Beiträgen im „Vorwärts“, in der „Leipziger Volkszeitung“, der „Bremer Bürgerzeitung“ und einer Reihe kleinerer Blätter des orthodox-marxistischen Zentrums erreichte er vor allem die einfachen, theoretisch weniger geschulten Parteimitglieder83. Aufgrund seiner Artikel in der „Neuen Zeit“ und der Arbeiten über internationale Politik erwarb er sich den Ruf, „ein sehr versierter Journalist in Kolonialfragen“84, das heißt ein Experte für Außenpolitik, zu sein. Selbst ein Gegner bescheinigte ihm eine erstaunliche Belesenheit in der weltpolitischen Literatur, jedoch nicht ohne sogleich gehässig festzustellen: „Aber darüber hinaus: vollständiger Analphabetismus. Es war, als ob dieser Intelligenz die ganze Welt eine einzige Kolonialfrage bedeutete! Nichts, was über Weltexpansion der schweren Industrie, mesopotamische Baumwolle, diplomatisches Intrigenspiel, parteipolitische Kräfteverhältnisse ging, hatte für ihn Interesse, war ihm auch nur bekannt.“85

Das war natürlich eine bösartige Unterstellung, denn in der Tat war Radek schon vor dem 1. Weltkrieg ein anspruchsvoller und kenntnisreicher Gesprächspartner, wie uns Gustav Mayer86 überliefert: „Eines Abends lud ich diesen faszinierenden Menschen gemeinsam mit Adolf Grabowsky87, der seit 1911 neben der ,Zeitschrift für Politik‘ noch das ,kulturkonservative‘ ,Neue Deutschland‘ herausgab, zu mir in die Wohnung. Ich verhielt mich im wesentlichen zuhörend, während die beiden bis tief in die Nacht über solche Probleme der internationalen Politik diskutierten, die damals der Mehrzahl der Reichstagsabgeordneten, namentlich der sozialdemokratischen, noch böhmische Dörfer bedeutet hatten.“88

81 Frölich, Vorwort zu: Radek, In den Reihen der deutschen Revolution, S. 9. 82 Grünberg, Carl; Kozlovski, Cz.: Historia Polskiego Ruchu Robotniczego 1864–1918 [Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung 1864–1914], S. 322. Zitiert nach: Lerner, S. 14. 83 Vgl. Goldbach, S. 12. 84 Humbert-Droz, S. 131. 85 Blum, S. 87. 86 Mayer, Gustav (1871–1948), Historiker der Arbeiterbewegung, Journalist und Privatgelehrter. 87 Grabowsky, Adolf (1880–1969), Jurist, Journalist, Dozent an der „Deutschen Hochschule für Politik“ in Berlin, Publizist und Schriftsteller. 88 Mayer, Gustav, S. 195f.

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Radek hatte 1905 sein Schicksal mit den Führern der SDKPiL verbunden. Als Mitarbeiter von Leo Jogiches hielt er sich fast zwei Jahre in Russisch-Polen auf, wobei er wegen zwei Haftstrafen etwa die Hälfte dieser Zeit im Gefängnis verbringen musste. Folgt man Radeks Spur der Übersiedlung nach Deutschland, so stößt man vielfach auf die Auffassung, er sei 1908 aus Warschau unmittelbar nach Berlin gegangen, da ihn die Gewerkschaftsarbeit in Russisch-Polen frustriert habe, er sich dort politisch vereinsamt fühlte und wohl auch keine revolutionäre Perspektive mehr sah. Zusätzlich habe ihm der Klatsch der Genossen über seine angebliche Unterschlagung von Gewerkschaftsgeldern das weitere Bleiben verleidet89. Diese Version ignoriert jedoch, dass Radek in Warschau zuletzt im zaristischen Gefängnis einsaß und im Anschluss an diese zweite Strafverbüßung Ende 1907 als k.u.k. Untertan aus dem Königreich Polen nach Österreich abgeschoben wurde, von wo aus er sich sogleich wieder zu Jogiches gesellte, der inzwischen in Finnland untergetaucht war. Er wurde dort erneut für den Parteiführer tätig, bis den beiden im Frühjahr 1908 der Boden in Terijoki zu heiß wurde und sie gemeinsam nach Deutschland flohen. Selbstverständlich musste einen jungen Mann mit Radeks Neigungen und Fähigkeiten eine Tätigkeit in der deutschen Sozialdemokratie ganz besonders reizen. Aber zieht man die biographischen Details in Betracht, so waren Gewerkschaftsfrust und auch die sogenannte „300 Rubel-Affäre“ sicherlich nicht der äußere Anlass für seine Übersiedlung nach Deutschland. Er gelangte einfach deshalb dorthin, weil er seinem Mentor Jogiches ergeben durch dick und dünn folgte. Vielleicht ist ihm, wie auch Rosa Luxemburg, der Weggang aus Russisch-Polen nicht einmal leichtgefallen. Sie hatte sich nach ihrer Rückkehr aus der zaristischen Haft nach Deutschland energisch dagegen verwahrt, als „Märtyrerin und Dulderin der russischen Revolution“ betrachtet zu werden und erklärt, „daß jene Monate, die ich in Rußland zubrachte, die glücklichsten meines Lebens gewesen sind. Ich fühle mich tief betrübt, daß ich aus Rußland fort und herüber nach Deutschland mußte.“90 Radek, für den die Revolution eingestandenermaßen „doch das Schönste“ war91, hat möglicherweise bei seinem Abschied aus Warschau ganz ähnlich empfunden.

89 Vgl. Lerner, S. 13f.; Angress, S. 80; Goldbach, S. 12. 90 Nettl, Rosa Luxemburg, S. 289. 91 Radek 1919 zu dem deutschen Journalisten Hans Vorst; vgl. Merz, S. 298.

3.  Polnische Querelen (1908–1914) Als Radek sich 1908 in der deutschen Sozialdemokratie engagiert hatte, war er weiterhin Mitglied der SDKPiL geblieben, und diese Zugehörigkeit zur polnischen Partei sollte sein politisches Schicksal in Deutschland maßgeblich mit beeinflussen. Nach der Revolution von 1905 hatten sich die Schwerpunkte der Partei wieder aus dem Königreich Polen hinweg ins Ausland verlagert. Krakau war erneut der grenznahe Vorposten und die Kontaktstelle zum russischen Teil Polens geworden. In Deutschland lebten Radeks revolutionäre Lehrer Jogiches, Rosa Luxemburg, Marchlewski und andere Führer, wobei Rosa Luxemburg wegen ihres Ansehens in der deutschen Sozialdemokratie die Aufgabe der Vertretung der SDKPiL gegenüber der SPD zugewachsen war. Sie und Marchlewski waren in der SPD als die einzigen Polen „personae gratae“ und den deutschen Führern persönlich gut bekannt.1 Ein drittes polnisches Zentrum war in Paris entstanden, wo sich von 1908 bis 1912 das Hauptquartier der russischen Sozialisten befand und Lenin seit 1909 wohnte. 1906 war die SDKPiL als autonome Organisation in die wiedervereinigte Russkaja Social-Demokratičeskaja Rabočaja Partija/RSDRP [Russische Sozial-Demokratische Arbeiter-Partei] aufgenommen worden und der polnische Hauptvorstand ging mit den Bol’ševiki praktisch Hand in Hand; seit 1907 gehörten Radeks revolutionäres Vorbild Dzierżyński und sein Mentor Warszawski als polnische Vertreter dem russischen Zentralkomitee an, wobei letzterer gleichzeitig Redaktionsmitglied des von den Bol’ševiki dominierten RSDRP- Zentralorgans „Social-Demokrat“ wurde. Jogiches, Marchlewski, und Radeks Warschauer Revolutionsgefährten Malecki und Hanecki wurden Kandidaten des Zentralkomitees. Sie alle unterstützten die Bol’ševiki und waren Lenin persönlich bekannt, der zudem die Qualitäten Haneckis, Warszawskis und Dzierżyńskis schon für eine spätere Verwendung ins Auge gefasst hatte.2 Radek agierte nach seiner Ankunft in Deutschland als journalistischer Mitstreiter des polnischen Hauptvorstands zunächst im unmittelbaren Umfeld von Jogiches und Rosa Luxemburg in Berlin. Zu dieser Zeit hatte Rosa Luxemburg bereits das, was de facto ihre Ehe mit Leo Jogiches gewesen war, abrupt beendet und alle persönlichen Beziehungen zu ihm abgebrochen. „Als Mann war er für sie tot, wenn auch nicht als Parteiführer“3. Der private Bruch mit ihm wirkte sich auf ihre gesamten anderen menschlichen Beziehungen aus und damit sicherlich auch auf ihr Verhalten gegenüber Radek als dem Eleven von Jogiches. Sie hatte Radek von Anfang an nicht besonders gemocht und ihre Aversion verstärkte sich jetzt im näheren Umgang mit 1 Vgl. Nettl, Rosa Luxemburg, S. 546. 2 Vgl. a.a.O., S. 527. 3 A.a.O., S. 367. Der Grund für das Zerwürfnis war ein Verhältnis, das Jogiches 1907 nach seiner Flucht aus dem Gefängnis in Warschau allem Anschein nach mit der polnischen Genossin Izolska (Pseudonym von Irena Szer-Siemkowska) begonnen hatte. Ebenda, S. 366f.

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ihm. Sein familiäres Benehmen ging ihr auf die Nerven4. Seinen Hang zu redseliger Angeberei, sein offensichtliches Geltungsbedürfnis und seine oftmals taktlose Direktheit wertete sie wahrscheinlich als Ausdruck charakterlicher Defizite5, und Charakter war ihr wichtiger als politische Übereinstimmung. Sie hielt „Karl Radek, der ihr und Leos [Jogiches] begabtester Schüler war, […] von sich fern; ein gewisser Zynismus den er zur Schau stellte, stieß sie ab“6. Es wird auch der Verdacht geäußert, 1908 habe Rosa Luxemburg die Aufnahme Radeks in die Berliner Parteischule der SPD hintertrieben, obwohl sie selbst dort als Dozentin fungierte7. Dabei wird jedoch übersehen, dass es sich bei dieser Eliteschule für den Funktionärsnachwuchs der Partei um eine Einrichtung handelte, für deren Besuch man aus den Wahlkreisorganisationen der SPD oder von den Gewerkschaften vorgeschlagen werden musste. Unabhängig vom Wohlwollen Luxemburgs, kam Radek deshalb als ausländischer Neuankömmling in Deutschland und wegen seines ungesicherten Status als SPD-Mitglied „Kropatsch“8 schon allein aus formellen Gründen für eine Teilnahme an den Kursen nicht in Frage. Obwohl sie ihn eigentlich nicht mochte, behandelte Rosa Luxemburg ihren jungen Genossen jedoch anfangs durchaus noch solidarisch. Vermutlich verdankte er ihrer Fürsprache und auch Marchlewskis Protektion9 die Anstellung als Redakteur der „Leipziger Volkszeitung“ ab Sommer 1909. Sie gehörte neben Warszawski sehr wahrscheinlich auch zu denjenigen in der SDKPiL-Führung, die Radek an Lenin als Mitarbeiter für den russischen „Social-Demokrat“ empfahlen. Intern äußerte sie sich allerdings differenzierter, und sie beklagte sich gelegentlich bei Jogiches über Radeks publizistische Fehltritte: – „Radek muß man bei dieser Gelegenheit ebenfalls schreiben, daß er mich in eine unmögliche Lage gebracht hat […]. Zugleich werde ich [in einem Artikel über die innere Lage der RSDRP] ganz vorsichtig warnen, was Radek betrifft“.10 – „Es wäre mir schon lieber, wenn Radek mir in der ,L[eipziger] V[olkszeitung]‘ und in der „Bremer [Bürger-Zeitung] nicht ,helfen‘ würde, denn er schmiert wie mit Schuhwichse und ergeht sich in Klügeleien, was mehr stört als hilft (aber man darf ihm das natürlich nicht sagen).“11

4 Angress, S. 81. 5 Vgl. Lerner, S. 16ff. 6 Frölich, S. 221. 7 Lerner, S. 17; Tuck, S. 24. 8 Siehe oben, Kapitel 2, Anm. 63. 9 Marchlewski war von 1902 bis 1915/16 Mitarbeiter der „Leipziger Volkszeitung“. 10 Brief Rosa Luxemburgs vom (ca.) 8. September 1909, in: Luxemburg, Briefe an Leo Jogiches, S. 271f. 11 Brief Rosa Luxemburgs vom (ca.) 20. März 1910, in: a.a.O., S. 283. Die Unterstützung Radeks bezog sich auf Rosa Luxemburgs Position in der beginnenden Kontroverse mit Kautsky, insbesondere in der Frage des Massenstreiks.

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– „Das einzige was mir an ,Trybuna‘12 nicht gefallen hat, war die ordinäre Polemik von Radek mit dem Kerl von der Społeczeństwo [Genossenschaftsbewegung], das macht einen revolvermäßigen Eindruck.“13 Diese Äußerungen bewegten sich allerdings noch im üblichen Rahmen der freimütigen Anmerkungen Rosa Luxemburgs über Menschen in ihrem persönlichen und politischen Umfeld, und der Hinweis, dass man das Radek „natürlich nicht sagen“ dürfe, macht deutlich, dass sie Rücksicht auf seine Empfindlichkeit gegen Kritik nahm und ihn nicht verprellen wollte. Nachdem sie ihre polemischen Auseinandersetzungen mit dem Florett zu führen pflegte, musste es ihr einfach missfallen, wenn Radek mit grobem Geschütz gegen den politischen Gegner vorging. Auch im Hinblick auf seine Vergangenheit war Radek in den Augen der Parteiführer kein unproblematischer Mitarbeiter. In der Partei kursierten Geschichten über seine Jugendsünden in Krakau. Man munkelte über Kleiderdiebstahl und finanzielle Unregelmäßigkeiten in den Tagen der Revolution. Es hieß sogar, er habe einmal die Taschenuhr eines polnischen Genossen, der bei ihm übernachtete, entwendet und zu Geld gemacht14. Radek wehrte sich zwar gegen diese Vorwürfe, aber vermutlich nährte er solche Verdächtigungen noch, als er 1909 im „Przegląd Socjaldemokratyczny“ pauschal von den „Fehlern meiner Jugend“15 sprach und Jogiches sich veranlasst sah, im gleichen Blatt zu erklären, dass Radek die von ihm bedauerten Fehler als „ergebener und würdiger Kämpfer der sozialistischen Armee“ wiedergutgemacht habe: „Genosse Radek erfüllte in den stürmischen Jahren der Revolution pflichtgetreu seine nicht leichten Aufgaben, – er erfüllte sie ebenso während der unermüdlichen Agitation als er frei war, wie während der zweimaligen längeren Gefängnisstrafe.“16. Als die SDKPiL im Sommer 1910 eine Kampagne gegen die nationalpolnischen Grunwald-Feiern eröffnete und sie als „patriotischen Festrummel“ um die Schlacht bei Tannenberg verhöhnte, wurden der Hauptvorstand und insbesondere Radek zur Zielscheibe eines nationalistischen und antisemitischen Gegenangriffs. Der Herausgeber der rechtsgerichteten Zeitschrift „Myśl Niepodległa [Der freie Gedanke]“, Niemojewski17, mokierte sich im September 1910 in dem Blatt über die unpatriotische Haltung der SDKPiL, für die er den hohen Anteil von Juden in der Führung der 12 „Trybuna [Tribüne]“, von der SDKPiL 1910 in Warschau herausgegebene legale Wochenzeitung, deren Artikel fast vollständig in Berlin verfasst und nach Warschau geschickt wurden. Von der zaristischen Zensur regelmäßig verboten, erschien sie unter wechselnden Namen. S. a. unten, Anm. 19. 13 Brief Rosa Luxemburgs vom 9. oder 10. Juli 1910, in: a.a.O., S.  298. Es handelte sich um einen Disput über die „Grenzen der Genossenschaftsbewegung“ den Radek mit Stefan Lichtenstajn führte. 14 Abramovitch, S. 424, Anm. 277. 15 Radek, Meine Abrechnung, S. 59. 16 „Przegląd Socjaldemokratyczny“, Bd.5. Mai 1909, S. 115; a.a.O., S. 42. 17 Niemojewski, Andrzej (1864–1921), antisemitisch eingestellter Freidenker, Dichter und Publizist.

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polnischen Sozialisten verantwortlich machte. Im Zusammenhang mit dieser Attacke auf die Parteiführer denunzierte Haecker von der nationalistischen PPSD seinen ehemaligen Zögling Radek als einen Kleider- und Bücherdieb18. Der Parteivorstand nahm Radek empört gegen diese Anschuldigungen in Schutz und Jogiches gab im Warschauer „Młot [Hammer]“19 vom 1. Oktober 1910 eine redaktionelle Erklärung ab, in der es hieß: „Den Überfall Haeckers auf Radek halten wir für einen elenden Versuch eines moralischen Mordes an einem politischen Gegner, der unternommen wird, weil geistige Argumente fehlen.“20 Zuvor hatte er bereits am 28. September an Radek geschrieben: „Teurer Genosse (Moi Drozdy [Mein Teuerster]) ! […]. Leider ist sie [die redaktionelle Erklärung] nicht so stark und kraß (jaskrawe) geschrieben, d.h. mit einem Knüppel, wie es nötig wäre aus Rücksicht auf die Moral der Angreifer, aber es ist trotzdem genügend bestimmt und erlaubt keine Zweifel über unser Verhältnis zur Sache.“21

Zum Zeitpunkt des „Überfalls der Sozialnationalisten“ beziehungsweise der „Stinkbombe Haeckers“22, wie Radek die Angelegenheit bezeichnete, stand die SDKPiL als Partei bereits am Rande der Spaltung. Zu dieser Entwicklung hatten als wesentliche Faktoren der autoritäre Führungsstil von Jogiches und innerparteiliche Differenzen über die Gewerkschaftsfrage sowie das Verhältnis zur anderen sozialdemokratischen Partei Polens, der PPS, beigetragen. Der Ausgangspunkt dieser Divergenzen war im Grunde genommen der Generationskonflikt zwischen der alten Garde der Parteigründer und den „jungen Parteioffizieren“ von 1905, die „inzwischen eine fünfjährige Erfahrung in der Massenbewegung“ gesammelt hatten23. Radek charakterisierte in der Retrospektive das Verhalten von Jogiches als „Quelle der Spaltung“: „Die polnische Sozialdemokratie […] hatte mit Ausnahme des Kreises der Gründer der Partei nur ganz junge Intellektuelle, denen Jogiches natürlich in jeder Hinsicht überlegen war. Wenn in der Partei Meinungsverschiedenheiten entstanden und sich junge Intellektuelle zu Wortführern von Bestrebungen machten, die in der Organisation existierten, so übersah Jogiches, daß es nicht Marotten dieser jungen Genossen waren, die nicht genügend parierten, sondern daß die Differenzen in der Parteimitgliedschaft selbst basierten. Er sah in jeder Opposition in der Partei eine Rebellion gegen sich.“24 18 Radek, Meine Abrechnung, S. 26; Nettl, Rosa Luxemburg, S. 558; Tuck, S. 26. 19 Von der Zensur fortwährend verbotenes Kampfblatt der SDKPiL, das ständig unter geändertem Namen erschien: „Trybuna [Tribüne]“, „Wolna Trybuna [Freie Tribüne]“, „Nasze Drogi [Unser Weg]“, „Nasza Sprawa [Unsere Sache]“, „Wolny Głos [Freie Stimme]“ und „Praca [Arbeit]“. 20 A.a.O., S. 27. 21 Ebenda. 22 A.a.O., S. 56f. 23 Ders., Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, S. 85. 24 A.a.O., S. 84f.

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Bei dem Streit um die Gewerkschaften ging es um die Frage, ob man in RussischPolen die nunmehr dort zugelassenen, organisatorisch selbständigen aber zu parteipolitischer Neutralität verpflichteten Gewerkschaften unterstützen oder ob man stattdessen illegale, von der SDKPiL kontrollierte, kleine Organisationen aufbauen sollte. Jogiches und Luxemburg befürworteten die illegale Variante, da sie von Massenorganisationen, die sich dem Zugriff der Partei entzogen, nichts hielten. Beide nahmen auch eine negative Position im Hinblick auf den zweiten Streitpunkt ein, die von vielen Parteimitgliedern befürwortete Aussöhnung mit der PPS-Linken25. Radek teilte die Auffassung seiner Lehrmeister nicht. Er sympathisierte mit der von seinen Warschauer Revolutionsgenossen Hanecki und Malecki geführten Opposition, die für legale Gewerkschaften und eine Annäherung an die PPS eintrat, was im Übrigen auch den Wünschen der im russischen Teil Polens tätigen Parteiaktivisten entsprach, die unter der Verfolgung durch die Polizei litten und sich täglich mit der PPS auseinandersetzen mussten. Ein von ihm im Mai 1910 an die Redaktion des „Czerwony Sztandar“ eingesandter „Diskussionsartikel in diesen Fragen“ verdeutlichte, dass er sich im „taktischen Gegensatz“ zum Parteivorstand befand. Jogiches verhinderte deshalb prompt eine Veröffentlichung und bewegte Radek zur Zurücknahme des Artikels. Zdzisław Leder26, der Chefredakteur der Parteizeitung, rekapitulierte dies wie folgt: „Der Artikel ist nur deshalb nicht veröffentlicht worden, weil der dritte Redakteur (Tyszka [Jogiches]) in meiner […] Abwesenheit den Beschluß der Redaktion [zur Veröffentlichung] zunichte gemacht hat. Als ich gegen dieses Verfahren schärfsten Protest erhob, teilte mir Tyszka mit, daß er Radek zur Zurücknahme seines Artikels zugeredet hat, da der Artikel im ,opportunistischen Geiste‘ geschrieben wäre und er (Tyszka) verhindern wollte, daß Radek sich durch den Artikel seinen Ruf ,eines guten Radikalen‘ verderben solle. Radek hat tatsächlich schriftlich erklärt, er nehme seinen Artikel zurück, aber er behalte sich das Recht vor, zu diesen Fragen noch zurückzukehren.“27

Jogiches versuchte mit Zuckerbrot und Peitsche Radek wieder auf die Linie des Parteivorstandes zu bringen. Um ihn als Kritiker mundtot zu machen, verweigerte er ihm die Zulassung zu einer Parteikonferenz im August. Auch drohte er, ihm „die literarische Arbeit“ für die SDKPiL „unmöglich zu machen“ – „die einzige [Arbeit], mit der ich vom Auslande der Partei dienen konnte“, wie Radek schreibt28. Radek nahm die Drohung ernst. Da er die Parteiarbeit nicht aufgeben wollte, lenkte er äu25 Vgl. Nettl, Rosa Luxemburg, S. 547ff. 26 Leder, Zdzisław; Pseudonym von Feinstein, Wladisław (1880–1938); seit 1901 in der SDKPiL aktiv; nach Emigration in Frankreich ab 1921 Aufenthalt in der Sowjetunion, wo er Opfer der Stalinschen Säuberungen wurde. 27 Brief Leders an den SPD-Vorstand vom 6. September 1912; zitiert in Radek, Meine Abrechnung, S. 56. 28 Radek, Meine Abrechnung, S. 56f.

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ßerlich ein, und Jogiches zeigte sich sogleich dafür erkenntlich, indem er Radek ein Mandat des Vorstandes für die Teilnahme am Kongress der Sozialistischen Internationale29 in Kopenhagen erteilte. Zur SDKPiL-Delegation für das vom 28. August bis 3. September 1910 stattfindende internationale Treffen gehörten die Parteigründer Rosa Luxemburg, Julian Marchlewski und Adolf Warszawski sowie die Genossin Izolska und Karl Radek. Sie reisten gemeinsam mit Trockij30 und Karl Liebknecht, die Radek jetzt kennenlernte, von Berlin aus zum Kongress31. Angesichts der zunehmenden Spannungen zwischen den Großmächten war die II. Internationale zum politisch bedeutsamen Forum im Kampf gegen die Gefahr eines großen Krieges geworden und so bemühte man sich auch in der dänischen Hauptstadt darum, eine gemeinsame internationale Antikriegspolitik zu konzipieren und sich auf Aktionsmittel im Kampf gegen den Militarismus zu einigen. Radek, der sich in Deutschland intensiv mit dem Komplex Imperialismus und Krieg beschäftigte und sich Sachkenntnis in Abrüstungsfragen angeeignet hatte, wurde Mitglied der Militärkommission des Kongresses. Am 29. August, dem zweiten Sitzungstag, machte er bereits Furore als man über eine Resolution beriet, in der die sozialdemokratischen Parteien aufgerufen wurden, auf nationale und internationale Abrüstungsvereinbarungen hinzuwirken. Obwohl er nicht auf der Rednerliste stand, griff er unaufgefordert und lautstark in die Debatte ein und verlangte, dass die Forderung nach Einschränkung der Flottenrüstung, die auch von der SPD im Reichstag mit Nachdruck erhoben wurde, aus der Resolution gestrichen werden müsse. Er bezeichnete diesen Teil der Entschließung als utopisch, behauptete, es wäre nicht möglich, „diese Forderung auf sozialistische Argumente zu stützen“ und ging sogar so weit, die SPD für die Aufstellung einer solchen Forderung zu verurteilen32. Nachdem er früher selbst für eine Beschränkung der maritimen Rüstungsanstrengungen plädiert hatte, ist zu fragen, was ihn zu einem solchen Auftritt bewegte, den der Vorsitzende schließlich durch den Entzug des Wortes beenden musste. Aber es war nicht allein Profilierungssucht verbunden mit Provokationsfreude, die Radek zu diesem Parforceritt veranlasste, sondern es handelte sich vor allem um den Versuch, seine mitt29 Die auch als II. Internationale bezeichnete Sozialistische Internationale war eine lockere Föderation selbständiger Parteien, die erst seit 1900 über ein Koordinierungsorgan verfügte: Das „Internationale Sozialistischen Büro“ mit „Exekutivkomitee“ und „Sekretariat“ in Brüssel. 1904 wurde eine „Interparlamentarische Sozialistische Kommission“ gegründet, um die politische Aktionseinheit in den verschiedenen nationalen Parlamenten zu gewährleisten. Das wesentlichste Aktionsforum bildeten jedoch die periodisch stattfindenden Kongresse der Internationale. 30 Trockij, Lev Davidovič; Pseudonym von Bronstein, L. D. (1879–1940); anfangs ein führender Men’ševik, aber dann zusammen mit Lenin der Hauptorganisator der Oktoberrevolution. Erster sowjetischer Volkskommissar des Äußeren und als Kriegskommissar der Schöpfer der Roten Armee. Von Stalin verbannt und ausgewiesen, wurde er 1940 von einem NKVD-Agenten in Mexiko ermordet. 31 Radek, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, S. 72. 32 Huitième Congrés Socialiste International tenue à Copenhague du 28 août au 3 septembre 1910, Gand 1911, S. 181–183. Reprint Minkoff, Genève 1981.

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lerweile radikalisierte Position zur Rüstungsbegrenzung vor einem internationalen Auditorium zu formulieren. Die Sicherung des Friedens war für ihn jetzt in erster Linie eine Machtfrage und keine Rechtsfrage mehr. Erst der Sozialismus garantiere den Frieden und deshalb bedeute es Augenwischerei, die Kriegsgefahr durch zwischenstaatliche Abrüstungsvereinbarungen bannen zu wollen. In diesem grundsätzlichen Sinne verurteilte er die Anträge der SPD zur Flottenbegrenzung und auf ein internationales Schiedsgericht als Maßnahmen, mit denen lediglich die „Friedensheucheleien“ der deutschen und anderer imperialistischer Regierungen unterstützt würden.33 Rosa Luxemburg war als Radeks Delegationsleiterin über diesen Vorfall verstimmt und um Schadensbegrenzung bemüht, wie sie an Jogiches berichtete: „Mit Entsetzen erfuhr ich, was für einen Unfug Radek in der Militärkommission gemacht hat, was kein Mensch im voraus ahnen konnte. Ich habe dann mit den Franzosen, Deutschen etc. geredet und eine Deklaration geschrieben, die Radek heute [30.8.] bei der Sektion eingebracht hat. Mehr kann man da leider nicht machen.“34

Allerdings schrieb sie das Ganze dem Phänomen der „naturbedingte[n] Dummheiten“ zu, die auch durch Instruktionen nicht verhindert werden können und fügte resignierend, aber auch versöhnlich, an: „Radek sollte man lieber nicht ausschimpfen, das ist sinnlos, und er ist sehr fügsam.“35 Offensichtlich war Radek um Wiedergutmachung bemüht, wobei er sich aber durch polemische Äußerungen weiterhin den Zorn der SPD-Delegierten zuzog, wie Gustav Mayer als Korrespondent der „Frankfurter Zeitung“ beobachtete. Als er eines Morgens das Kongressgebäude betrat, stieß er auf eine „lärmvolle Szene“, deren Mittelpunkt der wohlgenährte sozialdemokratische Abgeordnete Südekum36 als prominenter Vertreter des Revisionismus und Radek bildeten, die schreiend und gestikulierend stritten, wobei auf Radek auch noch von anderen deutschen Delegierten Beschuldigungen niederregneten37. 33 Schumacher/Tych, S. 196f. Marchlewski und andere Linksradikale stimmten dieser Position zwar prinzipiell zu, hoben aber zugleich hervor, dass die Sozialdemokratie alle Abrüstungsbemühungen unterstützen müsse. Radek selbst erläuterte sein Vorgehen 1919 wie folgt: „Die deutsche Sozialdemokratie suchte in ihrer Presse, in ihrer parlamentarischen Aktion den Imperialismus als die Politik der Schwerindustrie darzustellen. Sie negierte seinen universellen Charakter als der dominierenden Politik des Kapitalismus in seiner reifsten Epoche und sie suchte den Massen einzureden, als seien einflussreiche Schichten des Weltkapitals interessiert an der Abrüstung und als könne die Arbeiterklasse durch ein Bündnis mit ihnen die Gefahr des Imperialismus bannen. Als diese Auffassung sich in der Presse und der parlamentarischen Aktion immer mehr durchsetzte, unternahm ich in der militärischen Kommission des Kopenhagener internationalen Kongresses den Vorstoß gegen diese Auffassung.“ Radek, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, S. 34f. 34 Luxemburg, Briefe an Leo Jogiches, Brief vom 30. August 1910, S. 310f. 35 A.a.O., S. 311. 36 Südekum, Albert (1871–1944), Schriftsteller, 1900–1918 Reichstagsabgeordneter der SPD, 1918– 1920 preußischer Finanzminister. 37 Mayer, Gustav, S. 195.

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Weit weniger spektakulär verlief in Kopenhagen die Begegnung mit Lenin, dem Radek von den SDKPiL-Führern dort erstmals vorgestellt wurde, „wobei sie ihm das allerbeste Zeugnis ausstellten“38. Lenin war auf dem Kongress mit dem Versuch gescheitert, die Debatte über die Funktion des Genossenschaftswesens zu radikalisieren. Er hatte der revisionistischen Auffassung widersprochen, dass die Genossenschaften für die Arbeiter Schulen der Demokratie und des Sozialismus seien und behauptet, dass diese Institutionen erst nach der Enteignung der Kapitalisten eine politische erzieherische Funktion ausfüllen könnten. Sein Antrag, eine Resolution des Kongresses dementsprechend abzuändern, wurde abgewiesen, und obwohl Lenin damit lediglich vor einer politischen Überschätzung der Genossenschaftsbewegung hatte warnen wollen, war Radek dadurch auf ihre revolutionäre Brauchbarkeit aufmerksam geworden. Bis dahin hatte er sie immer abgelehnt und verspottet: „Läden für den preiswerten Kauf von Waren sollen die Menschheit vom Elend des Kapitalismus befreien, und dadurch wird die größte Revolution der Geschichte auf ordentliche Art und Weise vollzogen; nicht unter Waffengeklirr, nicht nach einem langen und mühevollen Bürgerkrieg und ohne Waffen in ihren Händen werden die Menschen die rote Fahne des Sozialismus über dem Bollwerk des Kapitalismus hissen. Nein, mit ihren Waagen, mit ihren Meßbechern, mit ihrer Kreide und mit den Brillen auf ihren Nasen werden die ,Konsumgenossenschaftler‘ den Kapitalismus besiegen.“39

Er hielt es mit Marx, der befürchtet hatte, dass sich die Arbeiter durch die vereinzelte Schaffung von Gruppeneigentum vom Fernziel der Revolution abbringen lassen würden. Angeregt durch Lenins Beitrag revidierte Radek jetzt seine Meinung. Nach Ende des Kongresses verfasste er einen Artikel, in dem er, auf die Argumentation Lenins eingehend, dafür plädierte, die Genossenschaften für revolutionäre Zwecke auszunutzen und ihr revolutionäres Potential zu entwickeln. Wahrscheinlich auch in der Absicht Lenin zu beeindrucken, sandte er den Aufsatz nach Paris an den „Social-Demokrat“, die russische Parteizeitung, in der er bereits seit 1909 gelegentlich publiziert hatte und wo sein Protektor Warszawski Redakteur war. Dort erschien der Artikel, vermutlich auch mit dem Segen Lenins versehen, unter der Überschrift „Kooperativy i Internacional [Die Genossenschaften und die Internationale]“ im Dezember 191040. 38 Lenin, Rosa Luxemburg und der polnische „Partei“vorstand in Martows Fußstapfen, geschrieben vor dem 17. September 1912, in: Lenin, Ergänzungsband 1896 – Oktober 1917, Berlin (Ost) 1969, S. 255. 39 Radek, „Ruch współdzielczy na usługach kontrrevolucji i kapitalu [Die Genossenschaftsbewegung im Dienste von Konterrevolution und Kapital]“, in: „Przegląd Socjaldemokratyczny“, IV, Nr. 3 (Mai 1908), S. 206. Radek äußerte vergleichbare Auffassungen auch in anderen Zeitungsartikeln. Vgl. Lerner, S. 21. 40 „Social-Demokrat“, Nr. 15/16 vom 12./30. Dezember 1910, S. 2–3. Allerdings war dieses Thema für Radek nur von temporärem Interesse, und er schenkte den Konsumgenossenschaften nach 1910 kaum noch Beachtung.

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Auch wenn Lenin meinte, Radek sei in Kopenhagen zu weit gegangen und zu unnachgiebig aufgetreten41, so hatte ihm doch der kämpferische Elan des jungen polnischen Revolutionärs gefallen42. Auch spekulierte er wohl darauf, durch ihn ein Entree zu den Spalten der „Leipziger Volkszeitung“ zu erlangen, wo Radek als Redakteur arbeitete. Als Radek im Anschluss an den Kongress noch im September zwei Briefe an Lenin richtete, einen Artikel über die Kopenhagener Abrüstungsresolution für den „Social-Demokrat“ anbot43 und die Meinung des Führers der Bol’ševiki zu seinen Leitartikeln über die Abrüstungsfrage in der „Leipziger Volkszeitung“ erfragte, antwortete dieser dem „werten Genossen“ argumentativ wohlwollend und mit der Schlussformel: „Ich drücke Ihnen die Hand. Ihr Lenin.“44 Zehn Tage später bat er Radek, „mit besten Grüßen“ um Schützenhilfe bei der Übersetzung und Veröffentlichung eines gegen seine menschewistischen Gegner Martov45 und Trockij gerichteten Artikels über den historischen Sinn der inneren Parteikämpfe in Russland sowie die Aufnahme mehrerer Feuilletons zu diesem Thema in der „Leipziger Volkszeitung“. Nachdem aus dem Vorhaben offenbar nichts wurde, schlief der Kontakt zwischen beiden zwar zunächst wieder ein, aber bereits zwei Jahre später sollte deutlich werden, dass 1910 in der Gestalt Lenins das Schicksal Radeks Weg gekreuzt hatte. Aus Kopenhagen nach Deutschland zurückgekehrt, und weiter mit der innerparteilichen Auseinandersetzung konfrontiert, lavierte Radek noch einige Wochen zwischen den streitenden Gruppen. Er schrieb an Jogiches und die Führer der Opposition, Hanecki und Malecki, dass er trotz aller Differenzen „einen Kampf gegen den Vorstand wegen seiner organisatorischen Politik solange für unzweckmäßig, ja schädlich halte“, bis die Partei sich wieder konsolidiert habe46. Jogiches interpretierte das als eindeutiges Votum für sich. Er belohnte Radek, indem er im Warschauer „Młot“ dessen Artikel über den Kopenhagener Kongress abdrucken ließ, ihm die Spalten der Parteipresse wieder „breit und weit“ öffnete und ihn gemeinsam mit Rosa Luxemburg, Marchlewski und Warszawski vehement gegen die erwähnten Diebstahlvorwürfe Haeckers verteidigte. Zu dieser Zeit scheint Radek auch neuerlich organisatorische Aufgaben für die SDKPiL erledigt zu haben. Gustav Mayer

41 Schurer, Part I, S. 62. 42 Sicherlich fand bei Lenin auch die These Radeks Anklang, dass die Ergebnisse des Kongresses als ein „allgemeiner Sieg des Revisionismus“ zu bewerten seien. Das Mitglied des Parteivorstandes Marchlewski, ebenfalls SDKPiL-Delegierter in Kopenhagen, sah dies allerdings anders. Er schrieb an Dzierżyński, Radek sei, was den Kongress betreffe, zu pessimistisch eingestellt. „Von einem angeblichen allgemeinen Sieg des ,Revisionismus‘ kann keine Rede sein.“ Schumacher/Tych, S.181. 43 Der Artikel wurde nicht veröffentlicht, da bereits ein anderer Bericht zu diesem Thema akzeptiert worden war. „Ihr Angebot kam leider zu spät“, schrieb Lenin an Radek. Brief Lenins an Karl Radek vom 30. September 1910. Lenin, Werke, Band 36, S. 146. 44 A.a.O., S. 146f. 45 Martov, Lev; Pseudonym von Cederbaum, Julij Osipovič (1873–1923), Wortführer der Men’ševiki. 46 Radek, Meine Abrechnung, S. 57.

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erzählte er bei einer Zufallsbegegnung in Berlin, dass er jetzt „in Russisch-Polen unterirdische Gewerkschaften organisiere.“47 Die Situation änderte sich grundlegend als Hanecki, der die Gegner der politischen Linie des Parteivorstandes um sich sammelte, Radek im Oktober 1910 in Leipzig aufsuchte. Als einer der Parteiführer gehörte er seit 1903 dem Hauptvorstand an, besaß wie sonst niemand Verbindungen zu den Organisationen in Polen und Russland48, und er kannte Radek aus den Revolutionstagen in Warschau. Es gelang ihm Radek zu überzeugen, sich auf Seiten der in Warschau, Łódź und Krakau konzentrierten Opposition zu engagieren, und als er ihm gleichzeitig eine Stelle als Redakteur an einer noch zu gründenden Oppositionszeitung in Aussicht stellte, sagte Radek seine Mitwirkung schriftlich zu: „Trotz meiner Differenzen zu den taktischen Ansichten Hanetzkis [Haneckis] und Maletzkis [Maleckis] in einzelnen Fragen entschloß ich mich am Kampfe teilzunehmen […]. Ich schrieb im Oktober an die Adressen der Genossen Hanetzki , Maletzki […] einen Brief in dem ich mich bereit erklärte, a u f j e d e F o r d e r u n g d e s W a r s c h a u e r [ Pa r t e i - ] Ko m i t e e s n a c h Po l e n z u r ü c k z u k e h r e n u n d die Mitredaktion eines zu schaffenden Oppositions-Organs z u ü b e r n e h m e n . “49

Die Nachricht von Radeks klammheimlichem Frontwechsel sickerte in Berlin durch, als Hanecki den Brief einigen Genossen im Umfeld der Parteiführung zeigte, um sie zum Anschluss an die Opposition zu bewegen. „Auf diesem Wege erfuhr davon auch der Parteivorstand, und somit begann der Kampf“50, in dem laut Radek sein Mentor Jogiches rachsüchtig versuchte, ihm „nach allen Regeln der Kunst das Genick zu brechen“51. Jogiches fühlte sich von seinem Protegé hintergangen und verraten. Er beschloss, an dem „abtrünnigen Sohn, der jetzt die Hand biss, die ihn jahrelang gefüttert hatte“52 und der sich in seiner Reichweite in Deutschland befand, ein Exempel zu statuieren. „Mit seiner Vernichtung würde einer der überzeugendsten Kritiker des Hauptvorstands zum Schweigen gebracht werden“53. Von einer Verteidigung gegen die Diebstahlvorwürfe Haeckers, die ein Schiedsgericht des „Vereins Arbeiterpresse“ klären sollte, war jetzt keine Rede mehr. Am 17. November 1910 signalisierte Jogiches in einem Brief an Radek, dass er von seinem Parteivorsitzenden keine Entlastung mehr zu erwarten habe: „Jeder andere an Ihrer Stelle würde auf die Wand kriechen, bis er die Anklagen [Haeckers] nicht entkräftigt und sich 47 Mayer, Gustav, S. 195. 48 Nettl, Rosa Luxemburg, S. 549. 49 Radek, a.a.O., S. 58. 50 Ebenda. 51 Ders., Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, S. 84. 52 Schurer, Part I, S. 62. 53 Nettl, Rosa Luxemburg, S. 557.

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nicht von solchen Sachen rehabilitiert hätte.“54 Das war für Radek der Anlass, die bislang geübte vorsichtige Zurückhaltung abzulegen. Er engagierte sich offen für die Opposition55 und übernahm gemeinsam mit Malecki die Redaktion des Warschauer Oppositionsorgans „Gazeta Robotnicza [Arbeiterzeitung].“56 Der Rachefeldzug des Hauptvorstandes gegen Radek wurde 1911 mit einer Rufmordkampagne eröffnet. Man grub Radeks frühere Skandale aus, und dieser erbitterte sich darüber, dass Adolf Warszawski, den er im Gegenzug als „das alte Waschweib des Parteivorstandes“ beschimpfte, „die blödsinnigsten Gerüchte“ über ihn auszustreuen begann57. Um sich gegen diese „Verleumdungsarbeit“ zu wehren, beantragte er am 25. Juli 1911 die Einsetzung einer Untersuchungskommission durch die SDKPiL; eine Bitte, welcher die Parteiführung, ohne besondere Eile, nach nochmaliger Aufforderung, am 20. Oktober endlich grundsätzlich zustimmte. Am 2. Dezember kam es schließlich zur Einsetzung einer dreiköpfigen Untersuchungskommission unter dem Vorsitz von Josef Domanski, der schon 1904 als Schiedsrichter in der Affäre Zembaty tätig gewesen war. Radek zufolge überwies ihr der Parteivorstand „so zirka ein Dutzend von der Straße gesammelter ,Anklagen‘“, zu denen er am 11. Dezember angehört wurde. Nachdem die Kommission wegen Domanskis Verschleppungstaktik mit ihrer Untersuchung nicht vorankam und sich dann auch der Absicht von Jogiches widersetzte, selbst die Leitung zu übernehmen, forderte der Parteiführer am 20. Juli 1912 das gesammelte Material „zur Einsicht“ an und löste den Untersuchungsausschuss am 30. Juli 1912 kurzerhand auf, um den Fall einem Parteigericht zu überantworten.58 Den Anstoß für diese neuerliche Initiative von Jogiches im Fall Radek gab die Anfang Juli öffentlich vollzogene Spaltung der SDKPiL in zwei Fraktionen, mit der die Fronten in der Partei zunächst einmal geklärt waren. Am 8. Juli 1912 hatte der SDKPiL-Hauptvorstand dem Internationalen Sozialistischen Büro mitgeteilt, dass die gegen ihn rebellierende Gruppe in Warschau, „die […] formell aufgelöst worden ist, weder zur Sozialdemokratie Polens und Litauens gehört, noch zur Sozialdemo-

54 Radek, Meine Abrechnung, S. 58. 55 Als Reaktionen auf den Brief von Jogiches vom 17.11.1910 nennt Radek: „ […] meine Teilnahme an der Konferenz der Opposition, die Unterzeichnung ihrer Beschlüsse, meine Diskussion mit Domanski in der Krakauer Organisation im Februar 1911 über Parteifragen […] und die Übernahme der Redaktion des Diskussionsorgans der Opposition zusammen mit dem Genossen Maletzki.“ A.a.O., S. 58f. 56 „Gazeta robotnicza: organ komitetu Warszawskiego SDKPiL [Arbeiter-Zeitung: Organ des Warschauer Komitees der SDKPiL]“. 57 Radek, a.a.O., S. 59 58 Ebenda. Zu Einzelheiten der Untersuchungskommission siehe die „Erklärung der vom Parteivorstand der Sozialdemokratie Russisch-Polens und Litauens eingesetzten Kommission zur Untersuchung der gegen den Genossen Radek erhobenen Beschuldigungen“ in: a.a.O., S. 6 u. S. 10.

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kratischen Arbeiterpartei Russlands, deren autonomes Glied sie bildet.“59 „Damit war der Bruch offiziell und publik.“60 An der Spitze der als „Rosłamowcy [Spalter]“ firmierenden Sezessionisten stand das bereits seit Herbst 1911 offen gegen den Parteivorstand rebellierende Warschauer Komitee mit Hanecki als unumstrittenem Führer. Dieser auch „SDKPiL-opozycja [-Opposition] genannten, abgespaltenen Parteiorganisation, die eine Gegenpartei in der Form von örtlichen Komitees schuf61, gehörten neben Radek auch Malecki, Unszlicht62 und eine Reihe jüngerer Funktionäre an. Die als „Zarzadowcy [Vorständler]“ bezeichneten Anhänger des Hauptvorstands formierten sich um die Parteigründer Jogiches, Rosa Luxemburg, Marchlewski und Warszawski, zu denen sich auch noch Dzierżyński gesellte. Aus dem harten Kern der Parteiführer meldete allein Rosa Luxemburg Bedenken gegen Jogiches Plan an, ein formelles Parteigerichtsverfahren gegen Radek einzuleiten. Obwohl sie Radek nicht leiden konnte, betrachtete sie ihn offensichtlich kaum als ebenbürtigen Gegner und billigte deshalb Jogiches Strenge nicht völlig; sie schrieb an Jogiches: „Meiner Meinung nach werden Radeks Möglichkeiten, ein Zentrum der Opposition zu werden, gewaltig überschätzt, und ich bin gegen Deinen Plan [eines Parteigerichts].“63 Jogiches schob diesen Einwand beiseite, da die sich in der SPD zur gleichen Zeit abspielende Göppinger Affäre Radeks die willkommene Gelegenheit bot, ihn auch in der deutschen Partei zu diskreditieren. Darauf soll noch an anderer Stelle eingegangen werden. Bereits einen Tag vor Auflösung der Untersuchungskommission informierte der Parteivorstand Radek am 29. Juli, dass ein Parteigericht über seinen Fall entscheiden werde. Am 17. August beschloss eine Parteikonferenz der SDKPiL, Radek statutenwidrig vor ein außerordentliches Parteigericht zu stellen. Er machte sich über den Ernst seiner Lage keine Illusionen, wie aus einem Brief an Alfred Henke, den Chefredakteur der „Bremer Bürgerzeitung“ hervorgeht: Entweder Unterwerfung unter den „widerrechtlichen Beschluß, um den unangenehmen Auseinandersetzungen über meine ,moralische Qualität‘“ zu entgehen oder Widerstand mit der Konsequenz, dass der Parteivorstand mich „für außerhalb der Partei stehend“ erklärt. Da Radek aber bei der ersten Möglichkeit fürchtete, dass der Hauptvorstand die Sache verzögern und das Warschauer Komitee dann während der anlaufenden Duma-Wahlagitation 59 Vgl. Mitteilung des Parteivorstands der SDKPiL an das ISB in Brüssel, Wiedergabe in: Nettl, Rosa Luxemburg, S. 560f. 60 Ebenda, S. 554. 61 Erst Anfang 1914 schuf die Opposition mit dem „Zarząd Krajowy [Landesvorstand]“ in Krakau ein eigenes Führungsorgan, so benannt, um sich vom Zarząd Główny [Hauptvorstand]“ in Berlin zu unterscheiden. 62 Unszlicht, Jozef; Pseudonym: Jurovski; russisch: Unšlicht, Iosif Stanislavovič (1879–1939); bis 1913 in der SDKPiL aktiv, dann bei den Bol’ševiki; 1918 Mitglied der Sowjetregierung; 1921– 1925 Stellvertretender Vorsitzender der Čeka; 1925–1931 Stellvertretender Vorsitzender im Volkskommissariat für Verteidigung; während der stalinistischen Säuberungen ermordet. 63 Brief an Jogiches, 1912 (?), zitiert in: Nettl, S. 558.

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ohne ihn als Redakteur dastehen würde, entschied er sich dafür, den Parteiausschluss zu riskieren und weiterhin offene Opposition auf Seiten der „Rosłamowcy“ zu üben: „Wir nehmen also den Kampf auf der ganzen Linie in Polen auf.“64 Begleitet von innerparteilichem Protest65, trat bereits zwei Tage nach dem Beschluss der Parteikonferenz das außerordentliche Parteigericht am 19. August zu seiner ersten Sitzung zusammen. Der zur Verhandlung vorgeladene Radek bestritt von Anfang an die Zuständigkeit des Tribunals und weigerte sich, es anzuerkennen66. Am 21. August 1912 wurde er in Abwesenheit zum Ausschluss aus der SDKPiL verurteilt. Das Gericht sah seine Schuld in folgenden Punkten als erwiesen an: „1. Entwendung eines Buches von Zembaty und Verkauf desselben,  2. Entwendung von Büchern aus der Redaktion des ,Naprzód‘ und Verkauf derselben,  3. Entwendung von 300 Rubeln, die der Gewerkschaft gehörten und die von Radek zu vorübergehender Aufbewahrung genommen und nicht an das Depot abgeführt wurden,  4. Verheimlichung vor den Parteiinstanzen bei seiner Aufnahme in die Partei 1905 von Tatsachen, die Gegenstand der Anklage in den Punkten 1und 2 sind und anderer geringerer Delikte.“67

Von diesem Schuldspruch ausgehend und angeblich darüber enttäuscht, „daß selbst die Revolution nicht vermochte, den Angeklagten moralisch zu heben“, begründete das Gericht den Parteiausschluss damit, „daß die moralischen Qualifikationen des Radek mit der Zugehörigkeit zur Partei unvereinbar sind, [und] daß er gegen die Interessen der Partei verstoßen hat.“68 Im Hinblick auf die Diebstahlvorwürfe Haeckers hingegen, welche die Kampagne gegen Radek ursprünglich ins Rollen gebracht 64 Undatierter Brief an Henke [15.–19. August 1912]; Moring. S. 179. 65 Zum einen bewerteten zwei von drei Mitgliedern der aufgelösten Untersuchungskommission das gegen Radek vorliegende Material als unzureichend für eine Anklageerhebung. Sie sprachen dem Hauptvorstand das Recht ab, über Radek zu urteilen und bezeichneten das Vorgehen der Führung als einen Akt der Vergewaltigung des Rechts und politisches Manöver. Radek, Meine Abrechnung, S. 6ff. Zum anderen beurteilte das Ausländische Büro der SDKPiL die Maßnahmen gegen Radek als nicht dem Parteistatut entsprechend, da sein Fall nur durch die für ihn zuständige Berliner Sektion der Partei an das Parteigericht hätte übergeben werden dürfen. Radek an die Redaktion der Neuen Zeit, 28.8 1912; vgl. Moring, S.179, Anm. 483. 66 Radek begründete seine Ablehnung in einer dem Gericht übergebenen Erklärung mit der Statutenwidrigkeit des Verfahrens und Formalfehlern (Zusammensetzung des Gerichts mit nur drei statt wie vorgesehen mit fünf Richtern; Verweigerung des Rechts, die Hälfte der Richter abzulehnen; Nichtaushändigung des Anklageaktes und damit keine Möglichkeit, Zeugen zu benennen). Gleichzeitig bot er an, sich dem Gericht unterwerfen zu wollen, wenn Kautsky, Haase und Hilferding es als führende SPD-Politiker nach formeller Prüfung akzeptieren würden. Wiedergabe der Erklärung in: Radek, Meine Abrechnung, S. 15f. 67 Wiedergabe des Urteils in: Ebenda, S. 18–22; hier S. 18. 68 Ebenda, S. 22.

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hatten, entschied das Gericht bemerkenswerterweise, „daß die Anklagen Haeckers grundlos waren und den Charakter einer Verleumdung trugen“.69 Radek brandmarkte das Urteil nicht zu Unrecht als ein „Meisterstück eines politischen Meuchelmordes“70, denn sein Ausschluss aus der SDKPiL führte letztendlich dazu, dass er auf Betreiben der polnischen Parteiführer 1913 auf dem Jenaer Parteitag auch aus der SPD ausgestoßen wurde. Aber bevor die Interdependenz des Falles mit den Entwicklungen in der deutschen Sozialdemokratie betrachtet wird, soll noch auf die russischen Reaktionen eingegangen werden, welche das mit dem polnischen Parteischisma eng verknüpfte Urteil gegen Radek zeitigte. Es sei daran erinnert, dass die SDKPiL eine autonome Partei in der Russischen Sozial Demokratischen Arbeiter-Partei (RSDRP) bildete, und deshalb war es für Lenins Haltung ausschlaggebend, dass 1912 der polnische Hauptvorstand seinen Spaltungsabsichten in der russischen Sozialdemokratie offen feindlich entgegentrat. Hinzu kam, dass Jogiches und Luxemburg im Verein mit dem Parteivorstand der deutschen Sozialdemokraten es abgelehnt hatten, bei ihnen deponierte Gelder der russischen Partei an Lenin abzuliefern. Der mittlerweile nach Krakau übergesiedelte Führer der Bol’ševiki verbündete sich deshalb mit den polnischen Spaltern, den „Rosłamowcy“, gegen den gemeinsamen Feind in Berlin. In der Sozialistischen Internationale machte er sich zum Anwalt der polnischen Opposition. Den Parteiausschluss des Warschauer Komitees auch aus der RSDRP durch die SDKPiL-Führung beantwortete er mit einer Gegenerklärung an das Internationale Sozialistische Büro, in der er lakonisch feststellte, „Der Parteivorstand der Soz[ial-]. Dem[okratie]. P[olens]. u[nd]. L[itauens]. hat absolut kein Recht weder zu entscheiden noch zu erklären, wer zu der S.D.A.P. Rußlands (die ich vertrete) gehört.“71 Dies bildete den Auftakt zu einem Streit zwischen Lenin auf der einen und Rosa Luxemburg und dem SDKPiL-Hauptvorstand auf der anderen Seite, der sich durch die Jahre 1912 und 1913 lärmend hinzog und in dessen Verlauf beide Seiten den Fall Radek für ihre gegenseitigen Vorwürfe instrumentalisierten. Unmittelbare Partei für Radek ergriffen zunächst führende Men’ševiki, wie Aksel’rod72 und Trockij, die von dem gerechtfertigten Verdacht sprachen, „daß es sich […] im Falle des Genossen Radek darum handelt, einen Gegner des [polnischen] Vorstandes moralisch totzumachen.“73 Rosa Luxemburg, die zunächst Vorbehalte gegen die von Jogiches initiierte Kabale eines Parteigerichtsverfahrens angemeldet hatte, stellte sich jetzt auf dessen Seite. Sie schrieb dem „Vorwärts“, es sei zwar menschlich verständlich, dass Radek „Himmel 69 70 71 72

Ebenda, S. 21. Ebenda, S. 18. Schreiben Lenins vom 31.8.1912; in: Nettl, Rosa Luxemburg, S. 561. Aksel’rod, Pavel Borisovič (1850–1928), Mitbegründer der russischen Sozialdemokratie und einer der Führer der Men’ševiki; Gegner Lenins; starb in der Emigration. 73 Erklärung führender Genossen der Sozialdemokratie Russlands in der „Bremer Bürgerzeitung“ vom 7.9.1912; in: Radek, Meine Abrechnung, S. 14.

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und Hölle in Bewegung setze, um sich als Opfer eines versuchten Justizmordes auszugeben“, aber sie richtete gleichzeitig einen scharfen polemischen Angriff gegen Radek und die russische Sozialdemokratie. Sie qualifizierte ihn und die „gekränkte[n] Leberwürste“, die jetzt für ihn eintraten, erbarmungslos ab, und ihr im „Vorwärts“ sowie dann auch in der „Bremer Bürger-Zeitung“ veröffentlichter Brief kam einer Entzauberung Radeks vor seinem Publikum gleich74: „Dabei erledigt sich die Legende vom politischen Märtyrertum Radeks durch zwei ganz einfache Tatsachen. Erstens sind die polnischen Wortführer [d.h. der Hauptvorstand] ohne Ausnahme selbst Vertreter der radikalen Richtung und haben […] in ihrer 20jährigen Arbeit in der russisch-polnischen Bewegung mehr für die Sache des revolutionären Marxismus geleistet als zwei Dutzend Radeks. Zweitens hat Radek nie in der polnischen Bewegung die geringste Rolle als Vertreter irgendeiner besonderen Richtung gespielt, nie an der Bestimmung der Haltung dieser Partei in prinzipieller und taktischer Hinsicht im geringsten teilgenommen, überhaupt ist in den brennenden Fragen der Theorie und der Taktik meines Wissens auch nur ein polnischer Artikel von ihm veröffentlicht worden.“75

Daneben mokierte sie sich über Aksel’rod und die anderen Verteidiger Radeks „gerade in der „Emigrantenwelt der russischen Partei, in der infolge der Fraktionskämpfe das wildeste Faustrecht tobt, wovon die bekannte Broschüre Martows76, eines der Freunde des ,greisen Gründers‘ [Aksel’rod] […] ein ausreichendes Beispiel bildet.“77 Jetzt sah sich auch Lenin herausgefordert. Als Antwort auf Rosa Luxemburgs Angriff schrieb er für die „Bremer Bürger-Zeitung“ einen von Malecki ins Deutsche übersetzten Artikel mit der Überschrift „Rosa Luxemburg und der polnische ,Partei‘vorstand in Martows Fußstapfen“, der allerdings nicht veröffentlicht wurde. Darin tadelte er zwar Radek dafür, dass dieser die Schützenhilfe der Men’ševiki gesucht habe, zog aber dann Parallelen zwischen den „abscheulichen Methoden“ der polnischen Parteiführer und den Verleumdungen Martovs und erklärte zum Fall Radek: „Gen[osse]. Radek trägt dazu bei, die Wahrheit festzustellen, nämlich, daß der polnische Parteivorstand ein Vorstand ohne Partei ist […]. Und nun, nachdem Radek politisch gegen den sogenannten Parteivorstand (ohne Partei) aufgetreten ist, kommt dieser ,Partei‘vorstand auf die Idee über Radek Gericht zu halten, wegen eines ,Falls‘ – man höre! – vom Jahre 1906! Das ist es, worum es hier eigentlich geht. Das ist es, was unsere illustre Rosa wegzuschwatzen sucht! […]. Das Wesen dieser Sache ist die politische Rache Rosa 74 Möller, S. 21. 75 Luxemburg, „Blinder Eifer“, „Vorwärts“, Nr. 215 vom 14.9.1912; in: Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 487f. 76 Martov, „Retter oder Zerstörer? Von wem und wie die SDARP [RSDRP] zugrunde gerichtet wurde“, Paris 1911. Verleumderische Schrift Martovs über finanzielle und politische Machenschaften Lenins. 77 Luxemburg ,a.a.O, S. 486f.

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Luxemburgs und ihres ,Partei‘vorstandes […]. Rosa Luxemburg versucht den deutschen Lesern weiszumachen, daß Gen. Radek ,nie die geringste Rolle gespielt hat‘ usf. Ich habe die Pflicht, als Antwort auf diesen elenden Altweiberklatsch die feststehende Tatsache zu konstatieren: Gen. Radek hat sowohl im Jahre 1909 als auch im Jahre 1910 als Mitarbeiter des Zentralorgans der sozialdemokratischen Partei Rußlands viel und erfolgreich gearbeitet. Ich war einer der Redakteure des Zentralorgans und ich kann Rosa Luxemburgs böswilligen Klatsch nicht unbeantwortet lassen.“78

Von da an war Lenin außerhalb der polnischen Sozialdemokratie Radeks stärkster Beistand79. Innerhalb der SDKPiL wurde Radek vom Warschauer Komitee sowie von den ausländischen Sektionen der Partei in Berlin, Crimmitschau, Zürich, Bern, Wien, Krakau, Paris, Lüttich und Brüssel unterstützt, die von den „Rosłamowcy“ kontrolliert wurden. Ende Dezember 1912 verabschiedete die Konferenz dieser Auslandssektionen eine Resolution „in Sachen des Ausschlusses des Genossen Radek“. Darin wurde Radeks Urteilsschelte aufgegriffen und die Einsetzung einer Untersuchungskommission gefordert: „Das Gericht war […] einfach ein Hohn auf jedes Gefühl der Gerechtigkeit […]. Diesem Gericht hat der Vorstand u.a. Sachen übergeben, die ihm seit Jahren sehr gut bekannt waren, und von denen er den Genossen Radek wiederholt öffentlich rehabilitiert hatte, indem es [sic!] ihn gegen die Angriffe politischer Gegner in Schutz nahm […]. Infolge alles dessen erhebt die Konferenz den schärfsten Protest gegen dieses Gericht und spricht die Notwendigkeit einer Revision in Sachen des Genossen Radek aus.“80

Zur Überprüfung des Falles empfahlen die Delegierten die Einsetzung einer Untersuchungskommission, in der nicht nur Mitglieder der SDKPiL, „sondern auch anderer Organisationen, die zur sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands gehören“, vertreten sein sollten81 und sie erklärten, dass bis zum Abschluss der Untersuchung dem „Genossen Radek alle Rechte eines Parteimitgliedes zustehen“ würden82. Die Kommission nahm ihre Arbeit jedoch erst im September 1913 auf, nachdem Radek 78 Lenin, „Rosa Luxemburg und der polnische ,Partei‘vorstand in Martows Fußstapfen“, geschrieben vor dem 17.9.1912; in: Lenin, Werke, Ergänzungsband, 1896 – Oktober 1917, Berlin (Ost) 1969, S.  255f. Radek hat diesen Artikel, der über Jahrzehnte hinweg unveröffentlicht im Archiv verstaubte, gekannt und äußerte seine Genugtuung darüber, „daß Genosse Lenin [...] in einem Briefe an [die] ,Bremer Bürgerzeitung‘ sich dem Protest in energischster Weise anschloß.“ Radek, Meine Abrechnung, S. 15. 79 Nettl, Rosa Luxemburg, S. 559. 80 Resolution der Konferenz der ausländischen Sektionen der SDKPiL (26.–30.12.1912); in: Radek, Meine Abrechnung, S. 13. 81 Zu den verschiedenen Fraktionen und Organisationen siehe Schapiro, Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, S. 142ff. 82 Ebenda, S. 14.

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auch aus der SPD ausgeschlossen worden war83. Dem in Paris tagenden Gremium gehörten Vertreter der beiden großen Fraktionen der russischen Sozialdemokratie an; die Bol’ševiki wurden durch Lunačarskij84 repräsentiert; die im „Organisationskomitee“ vereinten Gegner Lenins vertrat Pavlovič85; und die „Rosłamowcy“ hatten Leder86 bevollmächtigt. Der Delegierte des jüdischen „Bundes“, Frenkel87, nahm an den Verhandlungen nicht teil, stimmte aber nach Einsicht in das Material sämtlichen Beschlüssen zu. Nach fünfmonatiger Arbeit, im Februar 1914, entschied der Untersuchungsausschuss, Radek sei von jeder Anklage und jedem Verdacht freizusprechen. Dementsprechend gäbe es keine Gründe ihn vor ein Parteigericht zu stellen oder aus der Partei auszuschließen. Die Kommission empfahl allen sozialdemokratischen Organisationen und Gliederungen Russlands, Radek weiter als Mitglied der RSDRP und mithin der SDKPiL zu betrachten. In den auf den Spruch der Untersuchungskommission folgenden Wochen kam es in der russischen Sozialdemokratie zur völligen Rehabilitierung Radeks88: Lenin teilte dem „Zarząd Krajowy“, dem Landesvorstand der „Rosłamowcy“ am 2. April 1914 mit, er halte den Beschluss der Untersuchungskommission für „völlig maßgebend“ und erkannte Radek als vollberechtigtes Mitglied der RSDRP an. Der Landesvorstand, der sich in Krakau als Gegengremium zum Hauptvorstand in Berlin konstituiert hatte, übermittelte am gleichen Tage Radek seine Genugtuung über das Votum einer neutralen Instanz und stellte fest, dass „der sogenannte Fall Radek von der Gruppe des sogenannten Parteivorstandes tendenziös konstruiert war, um einen politischen Gegner moralisch zu ermorden.“ Auch das Organisationskomitee der russischen Sozialdemokraten bescheinigte Radek am 28.April, dass das einstimmige Vertrauensvotum aus Paris „selbstverständlich in vollem Umfang autoritativ“ sei. Am 5. Mai 1914 schloss sich dann Trockij in einem Brief aus Wien an Radek dem Urteil an. Für Radek war damit die ganze Angelegenheit, soweit es die russische Organisation betraf, erledigt. Er verfügte nun wieder über die Möglichkeit, in der russischen Parteipresse zu publizieren und wurde ständiger Mitarbeiter der von Trockij redigierten theoretischen Revue „Bor’ba [Der Kampf ]“; das konnte „kein Tyszka [Jogiches] 83 Soweit nicht anders vermerkt, folgt die Darstellung der Arbeit der Untersuchungskommission der Darstellung von Moring, S. 196f., der sich u.a. auf den „Bericht der Untersuchungskommission in Angelegenheit des Mitgliedes der SDRPL [= SDKPiL] Karl Radek, Februar 1914“ (International Institut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam, KA G 6, I) stützt. 84 Lunačarskij, Anatolij Vasilevič (1875–1933); Journalist und Schriftsteller; nach der Oktoberrevolution Volkskommissar für das Bildungswesen. 85 Pavlovič, Michail Pavlovič; Pseudonym von Vel’tman, Michail Lazarevič (1871–1927); Orientalist und sowjetischer Staatsfunktionär; lebte ab 1907 als menschewistischer Emigrant in Paris; 1918 Rückkehr nach Russland als Bol’ševik. 86 Leder hielt sich als Nachfolger von Warszawski in der Redaktion des russischen „Social-Demokrat“ ohnehin in Paris auf. 87 Frenkel, Abram Lazarevič ( 1866-?). 88 Vgl. Moring, S. 196f.

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und keine Luxemburg hintertreiben“, denn diese befanden sich „jetzt außerhalb der russischen S[ozial]. D[emokratie].“89 Triumphierend schrieb er an Henke: „Will die Tyszkaclique [d.h. der Hauptvorstand um Jogiches], die in Polen keinen Mann hinter sich hat, gegen das von allen Fraktionen der russischen Sozialdemokratie anerkannte Urteil ankämpfen, sie soll sich das Pläsier machen. Auf polnischem und russischem Boden geht mich die Sache nichts mehr an.“90

*** Der Fall Radek muss vor dem Hintergrund der polnischen Parteispaltung gesehen werden. In ihm spiegeln sich die politischen Differenzen zwischen den im Berliner Exil agierenden Parteigründern und der jungen Garde der Parteiaktivisten in Warschau wider; zugleich ist er aber auch Ausdruck des Generationenkonfliktes in der SDKPiL. Jogiches, Rosa Luxemburg und Marchlewski hüteten ihr Führungsmonopol in der Partei, „die keine 1.500 Mitglieder zählt[e]“91, eifersüchtig und behielten sich alle Entscheidungen über politische Theorie, Strategie und Taktik persönlich vor92. Das Triumvirat hatte seinen jungen Mitarbeiter Radek auf Distanz gehalten und sich geweigert, ihn als ebenbürtigen Kollegen in seinen Kreis aufzunehmen. Das nahm er den Parteiführern übel93, und als es zur Auflehnung gegen den Hauptvorstand kam, schlug er sich wohl nicht nur wegen dem politischen Dissens über die Parteilinie auf die Seite der Rebellen, die auch seine Altersgenossen waren. Als Rosa Luxemburg ihm im September 1912 auch noch jegliche Meriten in Bezug auf den revolutionären Marxismus absprach, machte seine Antwort deutlich, wie sehr sein Ego verletzt war: „Mich mit den Mitgliedern des polnischen P[artei]. V[orstandes]. in den Verdiensten um den polnischen Marxismus zu messen, brauche ich nicht, aus Rücksicht auf die viel kürzere Zeit, in der ich die Ehre hatte, für ihn einzutreten, wie auch in der Hoffnung, daß ich das Versäumte nachholen werde, trotz meiner Entlarvung.“94

Elzbieta Ettinger, Biographin Rosa Luxemburgs, konstatiert, dass die polnische Parteiführerin nach Radeks Ausschluss aus der SDKPiL erstaunlich viel Zeit und Energie darauf verwendete, ihn auch in der SPD zu vernichten; und sie nennt angesichts des von ihr als vergleichsweise gering eingeschätzten politischen Gewichts des An89 90 91 92 93 94

Radek an Henke, 26.6.1914; vgl. ebenda und Nettl, Rosa Luxemburg, S. 563, Anm. 109. Undatierter Brief (vor dem 17.4.1914); vgl. ebenda. Radek an Henke, 25.8.[1912] in: Schüddekopf, Der Revolution entgegen“, S. 483. Vgl. Lerner, S. 16f. Angress, S. 81. Erwiderung Radeks auf Luxemburgs Artikel „Blinder Eifer“ im „Vorwärts“, übernommen von der „Bremer Bürgerzeitung“, Nr. 220, 2. Beilage, vom 19.9.1912; in: Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 489.

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gegriffenen, die von Rosa Luxemburg geführte Anti-Radek-Kampagne „einzigartig“. „Mehr als ein Jahr lang beschäftigte Radek sie in ihren Briefen an Jogiches wie eine fixe Idee“.95 Noch im Frühjahr 1914 schrieb sie „von einer schauderhaften Parteiarbeit für Polen (in Radek-Sachen).“96 Ihre vehemente Reaktion auf Radeks Lossagung vom Luxemburg-Lager scheint dadurch erklärbar, dass sie sich verraten fühlte: „Mit ihrer Rache an Radek rächte sie sich für all die Enttäuschungen, die privaten und die öffentlichen, die sie in Jahren erlitten hatte. Dieses eine Mal konnte sie die Muskeln spielen lassen und sie tat es. An Radek selbst war sie kaum interessiert […]. Für sie war Radek ein Symbol der Illoyalität, der Unehrlichkeit und Niedertracht.“97

Friedrich Stampfer98, der vor dem 1. Weltkrieg im Berliner Café Josty am Potsdamer Platz einen zwanglosen politischen Stammtisch organisiert hatte, an dem auch Radek öfter zu Gast war, erinnert sich, dass Rosa Luxemburg bei ihren gelegentlichen Besuchen im Café diesen Tisch mied, „weil sie nicht mit Radek zusammensitzen wollte, den sie wie die Pest haßte“99. Ganz ähnlich äußerte sich auch Franz Mehring, der 1916 zum Verhältnis von Luxemburg und Radek bemerkte, „daß sie jenen wie den Tod haßt“.100 Im Jahre 1912 hatte sich Rosa Luxemburgs bisher noch vom Gefühl politischer Solidarität überdeckte Abneigung gegen Radek in tiefe Ablehnung verwandelt. Noch bevor das polnische Parteigericht zusammengetreten war, warnte sie im April ihre deutschen Freunde davor, sich mit Radek einzulassen. „Radek gehört zum Typus Dirne“, schrieb sie den Zetkins, „wir können mit ihm noch manches erleben; es ist deshalb besser, sich ihn vom Leibe zu halten“.101 Sie kritisierte Radek nun massiv, wo immer sie nur konnte: Er stecke seine Nase in Dinge, die ihn nichts angingen; er verderbe alles was er anfasse; wenn es ihn nicht gegeben hätte, wäre es den Radikalen auf den [SPD-]Parteitagen von 1912 und 1913 besser ergangen.102 Damit tat sie Radek offenkundig Unrecht, wie Peter Nettl feststellt: „Es entging ihr völlig, daß er mit seinen Ansichten über den Imperialismus, wie sie in der „Neuen Zeit“ und in der „Bremer Bürgerzeitung“ nachzulesen waren, ihr näher stand als sonst jemand in Deutschland. Statt ihn als energischen Mitstreiter für die radikale Sache willkommen zu heißen, sah sie in ihm nur den übelbeleumdeten Skandalmacher. Es ist 95 Ettinger, S. 116. 96 Brief an Paul Levi vom ca. 20./21.4.1914; zitiert nach Quack, S. 200. 97 Ettinger, S.116f. 98 Stampfer, Friedrich (1874–1957), sozialdemokratischer Publizist und Politiker; 1900–1902 Redakteur der „Leipziger Volkszeitung“; danach Herausgeber einer täglichen Korrespondenz für die sozialdemokratische Presse. 1916–1933 Chefredakteur des „Vorwärts“ und seit 1920 SPD-MdR. 99 Stampfer, S. 143. 100 Mehring an Henke, 15.6.1916; in: Lucas, S. 64. 101 Zitiert nach: Nettl, Rosa Luxemburg, S. 453. 102 Ebenda.

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nicht einmal erwiesen, daß sie seine Artikel überhaupt gelesen hatte […]. Gegenüber manchen Menschen konnte Rosa einfach nicht sachlich sein, und Radek war vielleicht der wichtigste Fall dieser Art.“103

Radek selbst scheint unter dem Zerwürfnis gelitten zu haben. Noch am Vorabend des Parteiverfahrens hatte er Henke anvertraut, das Schwerste an seinem Fall sei, dass zwischen ihm und Rosa „von jetzt an jedes Verhältnis unmöglich ist“. Indessen versprach er gleichzeitig: „Im Interesse der deutschen radikalen Bewegung verzichte ich auf irgendwelchen Angriff auf Rosa“104. Diese Selbstbeschränkung gab er allerdings auf, als er sich am 17. September 1912 im „Vorwärts“ gegen Rosa Luxemburgs Artikel „Blinder Eifer“ polemisch zur Wehr setzte. Ruth Fischer105, nicht gerade eine unvoreingenommene Zeugin, behauptet, dass Radek ihr „diese Geschichte“ wiederholt in unterschiedlichen Versionen erzählte, dabei „immer das ihm angetane Unrecht betonte, die Wichtigkeit der ganzen Angelegenheit überschätzte und sie der jüngeren Generation als das Musterbeispiel schmutziger Parteiintrige vorhielt“106. Wesentlich gelassener äußerte er sich allerdings gegenüber Rosa Meyer-Leviné107, der er „ohne jede Bitterkeit sagte, […] Jogiches sei vielleicht von dem Wunsche getrieben worden, sich selbst und die Partei von einem lästigen Unruhestifter zu befreien.“108 Welche nachrangige politische Bedeutung die ganze Angelegenheit in einer veränderten Situation besaß, belegt die Tatsache, dass Leo Jogiches und Rosa Luxemburg Anfang 1919 in der deutschen Revolution wieder mit Radek zusammenarbeiteten. Dennoch blieben die Beziehungen gespannt. „Mit Rosa und Leo haben wir von Anfang an den persönlichen Dreck begraben, mit ihr sprach ich davon nicht“109, schrieb Radek an seine Frau in Russland. Aber im Hinblick auf Rosa Luxemburg bedeutete das wohl nur, dass sie davon Abstand genommen hatte, die alte Geschichte

103 Ebenda. 104 Brief, undatiert (15.–19.8.1912), SPD-Archiv Bonn, Nachlass Henke; zitiert nach Moring, S. 185. 105 Fischer, Ruth, Pseudonym von Elfriede Gohlke, geb. Eisler (1895–1961); ursprünglich Sozialdemokratin, war sie 1918 Mitbegründerin der KPÖ in Wien; nach der Übersiedlung nach Berlin seit 1921 führende Funktionen in der KPD; Mitglied des Komintern-Präsidiums; MdR; zusammen mit Arkadij Maslov betrieb sie eine radikale Bolschewisierung der KPD; 1926 Parteiausschluss. 1933 Emigration (Frankreich, USA); von 1945 bis zum Tode lebte sie als Publizistin in Paris. 106 Fischer, Ruth, Stalin, S. 247f. 107 Meyer-Leviné, Rosa (1890–1979); Witwe des hingerichteten Führers der Münchner Räterepublik Eugen Leviné; als aktives Mitglied der KPD Radeks Sekretärin während seiner Haftzeit 1919–1920 in Berlin; heiratete 1920 den KPD-Führer Ernst Meyer; 1933 Emigration nach London. 108 Meyer-Leviné, S. 364. 109 Brief Radek an seine Frau vom 20.3.1919; zitiert nach: Schüddekopf, S. 111.

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wieder aufzurollen. Paul Levi110 erinnert sich, dass sie Radek 1919 mit Widerwillen und Abscheu begegnete: „Für Karl Radek hatte Rosa Luxemburg […] nur ein Gefühl: Ekel. Ich mußte damals erst intervenieren, um wenigstens einen korrekten Empfang zu ermöglichen. Unter dem Eindruck dieses Widerwillens nahmen auch ihre Äußerungen gegen die Bolschewisten drastischere Formen an. ,Wir brauchen keinen Kommissar für Bolschewismus‘, ,die Bolschewisten mögen mit ihrer Taktik zu Hause bleiben‘, so äußerte sie sich jetzt.“111

Radek muss es tief gekränkt haben, dass er auch noch als Emissär Lenins und der ersten siegreichen sozialistischen Revolution von der angesehensten Theoretikerin der deutschen Linken verachtet und gemieden wurde. Noch nach ihrer Ermordung fiel es ihm schwer, in seiner Gedenkbroschüre „Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches“ persönliche Betroffenheit über den Tod der KPD-Führerin zum Ausdruck zu bringen. Der Nachruf auf sie ist mit Abstand der kühlste unter den drei Nekrologen.112 Neben den Spannungen in der polnischen Partei fokussierten sich im Fall Radek jedoch auch die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Hauptvorstand der SDKPiL und Lenin in der RSDRP. Nicht zuletzt auf Betreiben Lenins war es zur Spaltung der polnischen sozialdemokratischen Partei gekommen. Damit sollten die beiden Führer Jogiches und Luxemburg innerhalb ihrer eigenen Partei isoliert werden113. Für den SDKPiL-Hauptvorstand war Lenin deshalb zum Hauptfeind geworden und das Vorgehen gegen Radek war gewissermaßen auch ein Stellvertreterkrieg gegen den Führer der Bol’ševiki. Obwohl es in dieser Auseinandersetzung bald gar nicht mehr um Radek ging, vermochte er davon zu profitieren. Er wurde für Lenin interessant und sein bis dahin lockerer Kontakt zu ihm wurde gefestigt114. Er passte sich der Terminologie seines neuen Protektors an und sprach wie dieser nur noch von der „Tyszkaclique“, wenn er den polnischen Hauptvorstand apostrophierte. Allerdings trennten ihn zu dieser Zeit noch wesentliche Meinungsverschiedenheiten von den Bol’ševiki; so nahm er in der Frage der Parteiorganisation und zum Selbstbestimmungsrecht der Völker noch einen völlig „luxemburgistischen“ Standpunkt ein.115 Aber wie bei den Polen war in der russischen Sozialdemokratie die Angelegenheit nicht nur eine Richtungs-, sondern ebenfalls eine Rechtsfrage. Die gegnerischen 110 Levi, Paul (1883–1930), Rechtsanwalt und Journalist; seit 1909 SPD-Mitglied; eng befreundet mit Rosa Luxemburg; 1918 Mitbegründer der KPD; bis 1921 Vorsitzender der VKPD; Parteiausschluss wegen Kritik an der „Märzaktion“ bzw. der Komintern; 1922 Rückkehr in die SPD. 111 Levi, „Zur Klarstellung“, in: „Unser Weg“, 1/2, 1921, S. 45; zitiert nach: Goldbach, S. 21. 112 Vgl. Goldbach, S. 22. Mitte der zwanziger Jahre versteht es Radek in seinen Erinnerungen und in seiner „Avtobiografija“ dieses unerfreuliche Thema geschickt zu übergehen, und nur der wissende Leser findet einiges zwischen den Zeilen. Ebenda. 113 Schapiro, S. 146. 114 Möller, S. 22. 115 Vgl. Lerner, S. 22.

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Gruppen in der RSDRP einigten sich auf die Bildung einer Untersuchungskommission, die Radek Anfang 1914 von Verdacht und Schuld freisprach. Das erklärt auch hinreichend, warum die Beschuldigungen seine spätere politische Karriere in Sowjetrussland nicht beeinträchtigten. Der Hinauswurf Radeks aus der SDKPiL wegen angeblicher moralischer Verfehlungen hatte 1913 auch seinen Ausschluss aus der SPD zur Folge. Er wurde auch hier zum Symbol des innerparteilichen Richtungsstreits, und als Konsequenz der ganzen Angelegenheit ziehen sich häufige Schilderungen von Radek als Tunichtgut mit dubiosem Charakter und zweifelhafter Moral durch die Literatur, die offenbar nicht mehr ausrottbar sind. Margarete Buber-Neumann116 mutmaßt, dass sich Radek zu politisch „zwielichtigen Aufgaben“ hergab, „[…] weil er durch Vorfälle während der Frühzeit seiner politischen Laufbahn moralisch angeschlagen war. Karl Radek hatte in Polen alle möglichen dunklen Dinge angestellt. Da war die Rede von einem entwendeten Pelzmantel, von geborgtem Geld, das er nicht zurückzahlte, und von gestohlenen Büchern. Aus diesem Grunde warfen ihn die polnischen Sozialdemokraten aus der Partei hinaus.“

Sie kommt zu dem Schluss, dass der listige Lenin diesen Umstand offenbar skrupellos ausgenutzt hat und Radek fürderhin „suspekte Aufträge“ erteilte.117 „Die Vergangenheit Radeks ist für uns hier eine dunkle, im doppelten Sinne“, meldete 1918 ein österreichischer Diplomat aus Moskau, und er fährt fort, „[…] auch sagt man, daß er […] wegen Vermögensdelikte[n] mit dem Gesetz in Konflikt geraten wäre. Daher der hier allgemein gebrauchte, aus seiner Schreibweise ,K. Radek‘ zusammengezogene Kosename Kradek (= Dieb).“118 Zutreffender ist da gewiss die Version Ruth Fischers, wonach Radek wegen verschiedener „Belanglosigkeiten“ verleumdet und als Dieb hingestellt wurde. „Die Spießer in der Partei machten gewaltigen Lärm über ein solches ,unsozialistisches‘ Verhalten“; aber die Tatsache, dass Rosa Luxemburg „als das Vorbild eines einwandfreien sozialistischen Lebenswandels sich dem Antrag auf Ausschluß Radeks angeschlossen hatte, zeichnete ihn bei den meisten radikalen Sozialisten als unmoralischen Menschen.“119 Ruft man sich die Anklagen gegen Radek im Parteiverfahren noch einmal in Erinnerung, so erscheinen sie geradezu lachhaft, wobei hinzukommt, dass sie in keinem Punkt bewiesen werden konnten. Die interfraktionelle Untersuchungskommission 116 Buber-Neumann, Margarete (1901–1989); Ehefrau des führenden KPD-Funktionärs Heinz Neumann; während ihres Exils in der Sowjetunion interniert und nach Abschluss des Hitler-StalinPaktes an Deutschland ausgeliefert; Gefangene im KZ Ravensbrück. 117 Buber-Neumann, S. 86. 118 Bericht des k.u.k. Geneneralkonsuls in Moskau, George de Pottere, an den Minister des Äußern vom 6.10.1918; in: Baumgart, „Vor fünfzig Jahren – Oktober 1918. Eine Dokumentation,“, „Parlament“ B 43/68 , 26.10.1968, S. 19. 119 Fischer, Ruth, Stalin, S. 245 und S. 247.

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der russischen Sozialdemokraten in Paris hat ihn schließlich von allen Schuldvorwürfen freigesprochen und völlig rehabilitiert. Allerdings blieb das in der Mehrzahl der späteren Schilderungen und Studien nahezu unberücksichtigt. So findet sich kaum der Gedanke, dass Radek, der „die bemerkenswerte und unübertroffene Neigung [besaß], sich Feinde zu schaffen“120, in dieser Affäre, wie so oft in seinem Leben, nur ganz einfach diffamiert worden ist.121

120 Angress, S. 81. 121 Vgl. Möller, S. 23.

4.  „L’enfant terrible“ der deutschen Sozialdemokratie (1909–1914) Auch wenn Radek vor dem Ersten Weltkrieg in erheblichem Maße in die innerparteilichen Auseinandersetzungen des radikalen Flügels der polnischen Sozialdemokraten verstrickt war, so wirkte er doch mit größerem Gewicht in der zahlenmäßig schwachen, aber äußerst aktiven radikalen deutschen Parteilinken. Es war die Zeit von 1910 bis 1913, in der als Folge der russischen Revolution von 1905 der Streit um die Parteilinie der SPD geführt wurde und, ausgelöst durch die Schrift Rosa Luxemburgs über den Massenstreik, „die Absonderung der kommunistischen Bewegung von der Sozialdemokratie“ begann1. Es waren die Jahre, in denen Radek auf der Suche nach Wegen und Mitteln zur revolutionären Beseitigung der herrschenden sozialen Ordnung zu der Überzeugung gelangte, „daß die Eroberung der Macht durch das Proletariat nicht möglich war, ohne die Zerstörung des bourgeoisen Staates“2. Er beschrieb später die Periode der Diskussionen mit dem marxistischen Zentrum der SPD über die Konsequenzen aus der russischen Revolution und über die Anwendung des politischen Massenstreiks als „die Zeit des Aufbaus der linksradikalen Richtung in der deutschen Sozialdemokratie“, und qualifizierte seinen publizistischen Einsatz für die Ziele der Parteilinken als „eine mich ausfüllende große Arbeit“3. Täglich schrieb er in den Zeitungen des linken SPD-Flügels, zweimal wöchentlich gab er die außenpolitische Zeitungskorrespondenz „Weltpolitik“ heraus, die in fünfzehn sozialdemokratischen Zeitungen abgedruckt wurde4, und in Kautskys „Neuer Zeit“ publizierte er vor dem Krieg mehr als fünfzig Artikel. Wie einer bei der Polizeidirektion in Bremen über ihn geführten Akte entnommen werden kann, hielt er sich in diesen Jahren vor allem in Berlin, Leipzig und Bremen auf5: Im Sommer 1909 ging er von Berlin nach Leipzig, wo er als Redakteur bei der „Leipziger Volkszeitung“ untergekommen war. Polizeilich gemeldet war er dort vom 4. Juli bis zum 14. Oktober 1909 und erneut vom 15. April 1910 bis 29. April 1911. In der sächsischen Metropole gehörte er auch von Oktober 1909 bis April 1911 der SPD als Mitglied an6. Vom 3. Mai 1911 bis Anfang September 1912 1 Radek 1921 unter Bezugnahme auf Rosa Luxemburgs Schrift „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“ von 1906. Radek, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, S. 58. 2 Radek, Avtobiografija, Sp. 150. 3 Ebenda, Sp. 150f. 4 Ebenda, Sp. 151. 5 Akte Radek der Bremer Polizeidirektion (4, 14a), jetzt Staatsarchiv Bremen; zitiert nach: Schüddekopf, Der Revolution entgegen, Dokument 1, S. 469. Auch die weiteren Daten über den Aufenthalt Radeks in Deutschland bis 1913 folgen dieser Quelle. 6 Schreiben des Sozialdemokratischen Vereins für den 12. Sächsischen Reichstagswahlkreis, Leipzig, vom 26.8.1912: Der „[…] damalige Beitragskassierer […] stellte nach seinem noch vorhandenen Beibuche fest, daß Radek im Jahre 1909/10 47 Vereins- und vier Wahlfondsmarken entnommen hat, also Mitglied gewesen ist.“ Zitiert nach: Ebenda, Dokument 6, S. 485. 1912 gelang es Radek

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lebte er „wegen persönlicher Verhältnisse“7 wieder in Berlin. Zuerst wohnte er in der Klopstockstraße und dann in der Hektorstraße in Halensee „in Chambregarnie und hat sich hier gut geführt“ und „durch Schriftstellerei ernährt“, wie das Königliche Polizeipräsidium vermerkte. Ab Ende Mai 1912 hielt er sich zudem für einige Wochen in Göppingen auf. Offiziell meldete er sich in Berlin erst am 15. September 1912 ab. Er war aber bereits am 4. September 1912 nach Bremen verzogen, wo er dreimal die Wohnung wechselte, bis er dann am 15. Oktober 1913 wieder nach Berlin zurückkehrte. Bei der Polizei gab er an, dass er in Bremen den Baumwollhandel studieren wollte. Dort wusste man aber schon, dass er für die „radikale“ „Bremer Bürger-Zeitung“ schrieb und fand deshalb, dass er „kein erwünschter Zuzug“ sei. Er gehöre zu den ultraradikalen sozialdemokratischen Genossen. „Nach Zeitungsberichten ist er ein gefährlicher Agitator und Hetzer.“ Der Grund für diese Ortswechsel waren die Arbeits- und Wirkungsmöglichkeiten, welche ein informelles Netzwerk personalpolitischer Selbsthilfe den jungen Linksradikalen im Umfeld von Rosa Luxemburg verschaffte. Sie zog aus ihrer Freundschaft mit Clara Zetkin und Luise Kautsky8 Nutzen für die Karriere ihrer Freunde und Schüler9, und es war dieses Netzerk der wechselseitigen Empfehlung zwischen gleichgesinnten Einzelpersonen und Lokalorganisationen von dem Radek nicht nur bis zu seinem Zerwürfnis mit Luxemburg, sondern auch noch darüber hinaus, Nutzen ziehen konnte. Schlüsselfiguren waren einige Rosa Luxemburg verehrende linksradikale Chefredakteure. Zu ihnen zählte Dr. Paul Lensch10, der leitende Redakteur der „Leipziger Volkszeitung“, in deren Redaktion Radek von 1909 bis 1911 arbeitete, nachdem er vermutlich von Rosa Luxemburg dorthin empfohlen worden war. Umgekehrt fühlte er sich ihr wohl auch deshalb verpflichtet. Zusammen mit Lensch, der bald als „sein Intimus“11 galt, suchte er sie noch 1910 von Leipzig aus in Berlin auf, „um sich über die gemeinsame Linie gegen den Vorstand [der SPD] zu verständigen“. Einen Freund Lenschs, den Chefredakteur der „Dortmunder Arbeiter-Zeitung“, Dr. Konrad Haenisch12, hatte Radek 1908 kennengelernt, durch eigene Nachforschungen seine Mitgliedschaft von Oktober 1909 bis April 1911 zu bezeugen. Moring, S. 186. 7 Radek, Avtobiografija, Sp. 149. Möglicherweise war das die Zeit, in der sich seine Frau vorübergehend von ihm getrennt hatte. 8 Ronsperger, Luise, mit der Karl Kautsky seit 1890 in zweiter Ehe verheiratet war; 1944 im Konzentrationslager Auschwitz verstorben. 9 Vgl. Nettl, Rosa Luxemburg, S. 441f. 10 Lensch, Paul, Dr. rer. pol. (1873–1926); seit 1902 Redakteur und 1908–1913 leitender Redakteur der „Leipziger Volkszeitung“; anfangs zum linken Flügel der SPD gehörend, nahm er mit Ausbruch des ersten Weltkrieges eine radikale Wendung nach rechts. 11 Haenisch an Franz, 13.9.1912, in: Franz, S. 475. 12 Haenisch, Konrad, Dr. phil. (1876–1925); Historiker und Journalist; 1906–1911 Chefredakteur der „Arbeiter-Zeitung“ in Dortmund; ursprünglich auf dem linken Flügel der SPD, wurde er 1914 zum begeisterten Befürworter der Vaterlandsverteidigung; 1919–1921 preußischer Kultusminister, 1923 Regierungspräsident in Wiesbaden.

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als jener kurzzeitig bei der „Arbeiter-Zeitung“ in Dresden tätig war. Haenisch, der aus einer bürgerlichen Familie in Greifswald stammte, war in seiner Jugend wegen sozialistischer Umtriebe vom Gymnasium relegiert worden und hatte als Bohemien das väterliche Erbe durchgebracht. Er ließ Radek nicht nur in seinem Blatt publizieren, sondern stellte ihm auch seine Anschrift als Deckadresse für die außenpolitische Korrespondenz zur Verfügung. 1912 trug Haenisch Letzteres einen Rüffel des SPDVorstands ein13. Zu diesem Kreis zählte auch August Thalheimer14. Als ehemaliger Kursteilnehmer Rosa Luxemburgs an der Parteischule zunächst an Lensch und dann an Haenisch empfohlen, fungierte er seit 1909 als Chefredakteur der „Freien Volkszeitung“ in Göppingen. Im Mai 1912 sorgte das Netzwerk der Selbsthilfe dafür, dass Radek nach Göppingen ging, um die Urlaubsvertretung seines Freundes Thalheimer zu übernehmen – „ein verhängnisvoller Schritt, wie sich zeigen sollte“.15 Als besonders bedeutsam erwies sich die Empfehlung Radeks an den leitenden Redakteur der „Bremer Bürger-Zeitung“, Alfred Henke, der SPD-Vorsitzender in Bremen und seit 1912 auch sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter war. Henke, ein vielbelesener Mann und „breit im Leben liegender barocker Sanguiniker“, war trotz verbaler Radikalität ein Mann des Ausgleichs. Unter seiner Ägide hatte sich der Aufstieg der „Bremer“, dem „Organ für die Interessen des Volkes“, zu einem der führenden Blätter der SPD vollzogen16. Henke residierte in dem Verlagshaus der „Bremer Bürger-Zeitung“, Am Geeren 6–8, einem vierstöckigen Gebäude mit Klinkerfassade und spitzem Doppelgiebel, wo sich auch das Sekretariat der SPD und die Parteidruckerei J. H. Schmalfeldt & Co. befanden. Radek kam bereits in den Jahren vor seiner Übersiedlung nach Bremen oft in die Hansestadt und hatte dort „viel Einfluß auf Henke“17, der auch andere Anhänger Rosa Luxemburgs förderte, darunter den Holländer Anton Pannekoek18 und den zweiten politischen Schriftleiter der 13 Haenisch war zu dieser Zeit Angestellter des Parteivorstands. Ihm wurde untersagt, Radek die Adresse weiterhin zu überlassen, da er eventuell für den Inhalt der Korrespondenz dieses Ausländers haften müsse, was für den Parteivorstand fatale parteipolitische Konsequenzen haben könne. Haenisch an Zetkin, 10.4.1912; zitiert nach Moring, S. 177, Anm. 471. 14 Thalheimer, August (1884–1948); Journalist, Mitglied der SPD seit 1904; Parteischüler Rosa Luxemburgs; 1909–1912 Chefredakteur der Göppinger „Freien Volkszeitung“. Mitbegründer der Spartakusgruppe; 1919–1923 Mitglied der KPD-Zentrale, „Chefideologe“; 1924–1927 in Moskau; 1929 Ausschluss aus Komintern und der VKP(b); 1928/29 Mitbegründer der KPO; 1933 Emigration (Frankreich, Kuba). 15 Nettl, a.a.O., S. 442. 16 Lucas, S. 13f. 17 Pannekoek, Erinnerungen aus der Arbeiterbewegung (Manuskript), S.  10; zitiert nach Moring, S. 176. 18 Pannekoek, Anton J. (1873–1960), holländischer Astronom und Sozialist; 1906/07 Dozent an der Parteischule der SPD in Berlin; um der Ausweisung als lästiger Ausländer zu entgehen, Beendigung der Lehrtätigkeit und Herausgabe der „a.p.-Zeitungskorrespondenz für die sozialistische Presse Deutschlands“; April 1910 Übersiedlung nach Bremen, wo er unter den Linksradikalen eine prägende Rolle spielte und bis 1914 als „Wissenschaftliche Lehrkraft“ in der Arbeiterbildung tätig war. Während des 1. Weltkriegs Mittelschullehrer in Holland; dort Mitglied der radikalen SDP,

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„Bremer Bürger-Zeitung“, Johann Knief19. Beide wurden Freunde Radeks. Weil sie für ihn eintraten, entzweite sich Rosa Luxemburg mit ihnen und auch mit Henke. Bremen war eine Hochburg der Linksradikalen in der SPD. Seit 1910 war die SPD der Hansestadt die einzige örtliche Organisation in der Partei, in der der linke Flügel die Mehrheit hatte20. Der Luxemburg-Schüler und spätere Präsident der DDR, Wilhelm Pieck21, war dort Parteisekretär und Mitglied der Bürgerschaft. Der böhmische Sozialist und spätere KPD-Führer Heinrich Brandler22 hatte sich nach seiner Ausweisung aus Hamburg in der Stadt niedergelassen. 1914 wurde der linksstehende Hamburger Journalist Paul Frölich23 Redakteur der „Bremer Bürger-Zeitung“. der späteren kommunistischen Partei, in der er die Opposition gegen die Bevormundung durch Moskau anführte. 1921 Rückzug von der Parteiarbeit und Dozent bzw. Professor für Astronomie an der Universität Amsterdam. 19 Knief, Johann (1880–1919), Lehrer; seit November 1911 zweiter politischer Redakteur der „Bremer Bürger-Zeitung“; als kompromissloser Linksradikaler, ein Feind jeglichen Ausgleichs. Während des Ersten Weltkriegs Führer der Bremer Linksradikalen und 1916 Mitbegründer der Wochenschrift „Arbeiterpolitik“. Pannekoek charakterisiert ihn als „eine etwas schwerfällige, aber aufrichtige und festhaltende Natur. Wenn er von einer Idee ergriffen war, dann setzte sie sich in ihm fest und wurde zur tiefen Überzeugung“ (zitiert nach Moring, S. 135). Lucas beschreibt ihn als düster und verschlossen, ein rastlos-nervöser und zutiefst zwiespältiger Charakter; er neigte dazu, die Dinge zu überspitzen und überall die äußerste Konsequenz zu ziehen, und sah immer mehr das Prinzip als die Person; bezeichnenderweise wählte er das Pseudonym „Peter Unruh“ (Lucas, S. 18 und S. 109, Anm. 27). Radek schildert seinen an Tuberkulose gestorbenen Freund als einen „in unserer kommunistischen Bewegung aufgehenden Menschen, der eisernen Willen und Organisationstalent mit außergewöhnlichem Wissen verband“ und über Führungsqualitäten verfügte. Radek, Avtobiografija, Sp. 153. 20 Lucas, S.12f. 21 Pieck, Wilhelm (1876–1960), Tischler; 1895 SPD-Mitglied; 1906 Parteisekretär in Bremen; 1906–1910 Mitglied der bremischen Bürgerschaft; 1914 Spartakusbund; 1919–1933 Mitglied der KPD-Führung und zeitweilig preußischer Landtagsabgeordneter und Mitglied des Reichstags; 1933 Emigration in Frankreich und in der Sowjetunion; 1945 Vorsitzender der KPD, 1946 der SED; 1949–1960 Präsident der DDR. 22 Brandler, Heinrich (1881–1967), aus Böhmen stammender Fliesenleger und Gewerkschafter; 1901 SPD-Mitglied, Vorsitzender des Arbeiterbildungsvereins Hamburg; 1904 nach Ausweisung aus Hamburg Niederlassung in Bremen, Verbindung zu Karl Liebknecht; 1914 Gewerkschaftsarbeit in Chemnitz; Mitbegründer der Spartakusgruppe; als KPD-Führer seit 1919 enge Zusammenarbeit mit Karl Radek und führende Rolle bei den Umsturzvorbereitungen der KPD 1923 in Deutschland; Kominternfunktionär; 1928 Ausschluss aus der KPD und 1929 aus der VKP(b) und der Komintern; Aktivität in kommunistischen Splitterorganisationen; 1933 Emigration in Frankreich und gemeinsam mit Thalheimer in Kuba; 1949 Rückkehr nach Deutschland. 23 Frölich, Paul (1884–1953), Angestellter; 1902 SPD-Mitglied; Volontär an der „Leipziger Volkszeitung“; 1908 Redakteur der „Altenburger Volkszeitung“, 1910 beim „Hamburger Echo“, 1914 bei der „Bremer Bürger-Zeitung“; Mitglied der Bremer Linksradikalen; gründet nach schwerer Verwundung im 1. Weltkrieg mit Johann Knief die Zeitschrift „Arbeiterpolitik“; 1918 Gründer der „Roten Fahne“; 1919 Mitglied der KPD; 1919/20 und 1923/24 Mitglied der KPD-Zentrale; 1921–1930 zeitweilig Mitglied des Reichstags; 1928 Ausschluss aus der KPD; Aktivität in lin-

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Aus diesen Linksradikalen kristallisierte sich schon am Vorabend des ersten Weltkriegs „der Kern der zukünftigen Kommunistischen Partei Deutschlands“ heraus, und nicht nur mit Pannekoek und Knief, sondern auch mit Clara Zetkin, Thalheimer, Brandler, Walcher24, Frölich und Pieck fühlte sich Radek damals durch „Bande, nicht nur der Zusammenarbeit im Kampf, sondern auch der persönlichen Freundschaft“ verbunden.25 In erster Linie waren es jedoch nicht diese persönlichen Beziehungen, sondern vor allem sein kämpferisches journalistisches Geschick und der Reichtum an politischen Kenntnissen, die Radek in der der linken Parteiszene reüssieren ließen. Während seines Aufenthalts in Leipzig erweiterte Radek sein Wissen durch Studien an der dortigen Universität. Er hörte eine Vorlesung über die Geschichte Chinas und „arbeitete wissenschaftlich auf dem Gebiet der Außenpolitik im Seminar von Lamprecht26“. Die Außenpolitik wurde zu seinem Spezialgebiet, und „durch großen Fleiß wußte R[adek]. sich hier ein so reiches Wissen anzueignen, daß er bald als eine der ersten Autoritäten auf dem Gebiete der Auslandspolitik unter den sozialdemokrat[ischen]. Schriftstellern Deutschlands galt27“. Aus der „Leipziger Polemischen Zeit“ gab er später eine der für ihn charakteristischen Anekdoten zum Besten. So habe ihn Liman, der Chef der bürgerlich-nationalen „Leipziger Neuesten Nachrichten“, einmal bitten lassen, aus menschlichen Gründen die gegen ihn gerichteten polemischen Angriffe [in der „Leipziger Volkszeitung“] ein paar Wochen einzustellen, bis seine Tochter einen preußischen Offizier geheiratet habe. Er habe antworten lassen: Gut, aber er wolle nicht warten, bis sie auch noch ein Kind gekriegt habe.28 In Leipzig lernte er auch Rosa Abramowicz kennen, eine jüdische Studentin, die 1909 seine Frau wurde29. Sie war eine „intelligente und liebenswürdige Polin ken Splitterparteien; 1933 KZ-Haft; 1934 Emigration (Frankreich, USA); 1950 Rückkehr nach Deutschland, SPD-Mitglied. 24 Walcher, Jacob (1887–1970), Journalist, Partei- und Gewerkschaftsfunktionär; 1910–1911 Lehrgang an der Parteischule der SPD; 1911–1914 Redakteur bei „Schwäbischer Tagwacht“ in Stuttgart; während des 1.Weltkriegs führendes Mitglied der Spartakusgruppe Berlin; 1919 Mitglied der KPD; als Anhänger Brandlers 1923 Teilnehmer an den Moskauer Beratungen über den in Deutschland geplanten Oktoberaufstand; 1928 Ausschluss aus der KPD; 1933 Emigration (USA); nach dem 2.Weltkrieg Rückkehr nach Deutschland, Mitglied von KPD und dann SED, Redakteur der DDR-Gewerkschaftszeitung „Tribüne“. 25 Radek, Avtobiografija, Sp. 151. 26 Ebenda, Sp. 148. Lamprecht, Karl (1856–1915), Historiker; seit 1891 Professor in Leipzig, wo er 1909 das Institut für Kultur- und Universalgeschichte gründete. Er versuchte die Geschichte als gesetzmäßige Entwicklung sozialpsychologischer Kräfte zu erfassen. Unter dem Einfluss seiner Kulturmorphologie wurde verschiedentlich der Versuch unternommen, naturwissenschaftliche Methoden in die Geschichtswissenschaften hineinzutragen und die geschichtlichen Abläufe aus allgemeinen Gesetzmäßigkeiten zu erklären. Es ist anzunehmen, dass Lamprechts methodische Aussage von Geschichte als einem gesetzmäßigen Prozess dem marxistischem Geschichtsverständnis Radeks sehr entgegenkam. 27 Wininger, Bd. 5; zitiert nach Saur, Jüdisches Biographisches Archiv, Mikrofiche Nr. 536. 28 Paquet, S. 98. Liman, Paul (1860–1916), Herausgeber der „Leipziger Neuesten Nachrichten“. 29 Radek gab 1918 den Namen des Bruders seiner Frau, also seines Schwagers, mit „Abramovič“ an, was den Rückschluss auf „Abramowicz“ als den polnischen Mädchennamen von Rosa Radek

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aus Łódź30“, „eine sehr sympathische, anmutig wirkende Frau31“, die „die deutsche Sprache als ihre Muttersprache beherrschte32“ und der SPD zeitweilig als Mitglied angehörte33. Rosa Meyer Leviné meint, dass es zumindest bei Radek „Liebe auf den ersten Blick“ war: „ […] sie wird meine Frau schwor er sich. Sie war sehr schön, ein oder zwei Jahre älter als er und Medizinstudentin; sie war ein geistig reifes Mädchen, selbstsicher, rebellisch. Als die beiden sich kennenlernten, hatte sie bereits ein Kind – einen Sohn34 – von einem anderen Mann. Radeks hohe Intelligenz und Stellung [als Redakteur der „Leipziger Volkszeitung“] ließen sie über sein jugendliches Alter und seine Unreife hinwegsehen; beides aber machte sich bei jedem Schritt bemerkbar, als sie ein gemeinsames Heim gründeten. Nach verhältnismäßig kurzer Zeit entschloß sie sich, ihn zu verlassen. ,Ich weiß, daß du wiederkommst – wir beide sind füreinander gemacht‘, erklärte er zuversichtlich. ,Und ich werde auf dich warten.‘ Der romantische Jüngling mit gebrochenem Herzen in Einsamkeit verschmachtend war nichts für Radek. Bald begann er, mit einem anderen Mädchen, einer Kollegin, zusammenzuleben […]. Er sagte ihr vorher, daß er seine Frau sehr liebe. Er betrachte ihre Trennung als kurzes Zwischenspiel und werde zurückeilen zu ihr, sobald sie auch nur den kleinen Finger rührte. Ein Jahr darauf kam sie zu ihm zurück und ihre Ehe überstand alle Widrigkeiten des Lebens eines russischen Revolutionärs, wie auch Radeks endlose Eskapaden.“35

erlaubt. Sisson, S. 279. Er widmete ihr 1919 aus Anlass der zehnjährigen politischen Zusammenarbeit und damit wahrscheinlich zehn Jahren Ehe sein Buch „In den Reihen der deutschen Revolution“. Lerner (S. 20) bezweifelt, dass Radek und Rosa durch eine regelrechte Eheschließung miteinander verbunden waren. In der Leipziger SPD wurde sie allerdings als die „bessere Hälfte“ von „Radek-Sobelsohn“ bezeichnet und offiziell als „seine Frau“ geführt. Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 485. 30 Hilger, S. 78. Rosa Radeks Herkunft aus Łódź in Russisch-Polen wird durch Schlesinger bestätigt, dessen Frau dort zusammen mit ihr die gleiche Schule besuchte. Schlesinger, S. 191. Radek nannte 1918 Lodz als den Wohnort seiner Schwiegereltern. Sisson, S. 279. 31 Schlesinger, S. 191. 32 Wiedenfeld, S. 124. Er bezeichnet als Herkunftsort von Rosa Radek die preußische Provinz Posen – eine Version, die auch Goldbach (S.12) übernimmt, die aber so nicht zutrifft. 33 Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 485 (Wiedergabe von zwei Schreiben des Sozialdemokratischen Vereins für den 12. Sächsischen Reichstagswahlkreis). 34 Rosa Radek hatte ihren Sohn 1914 in der Schweiz in Pflege gegeben. Sie beließ ihn dort, als sie nach Deutschland zurückkehrte und auch als sie 1917 zu Karl Radek nach Stockholm und später nach Sowjetrussland ging. Als Sowjetfunktionär händigte Radek Ende 1917 in Moskau „3000 Zarenrubel [= Goldrubel] für seinen Sohn Witold in Zürich“ an Alfons Paquet aus, die dieser einem Mittelsmann „zur persönlichen Auslieferung nach Zürich“ mitgeben ließ. Paquet, S. 253. Das weitere Schicksal Witolds ist nicht bekannt. 35 Meyer-Leviné, S. 364f.

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Nach dem Abschluss ihres Medizinstudiums arbeitete Rosa Radek unter anderem in Berlin und in der Schweiz als Ärztin. Sie folgte ihrem Mann auf die vielen Stationen seines Lebensweges, wobei sie ihn nach Kräften in seiner politischen Arbeit unterstützte, sich aber persönlich bescheiden zurückhielt und sich neben Propagandaaufgaben auch für humanitäre und soziale Belange einsetzte. 1918 war sie im Moskauer „Zentralen Kollegium für die Angelegenheiten der Kriegsgefangenen und Flüchtlinge (Centroplen)“ tätig36, und im August desselben Jahres – wahrscheinlich bereits im sechsten Monat schwanger – reiste sie als offizielles Mitglied der russischen Delegation für die finnisch-russischen Friedensverhandlungen zur Besprechung von Kriegsgefangenenfragen nach Berlin37. Auch nach der Geburt der von Radek „über alles in der Welt“ geliebten Tochter Sonja38 im November 1918, war sie noch weiter die Mitarbeiterin ihres Mannes. Im Laufe der Zeit scheint sie allerdings das Elitebewusstsein der Nomenklatura entwickelt zu haben, und man darf in ihr wohl eine geistige Mutter des späteren Kreml’-Krankenhauses für Sowjetfunktionäre sehen. Im April 1922 notierte Kurt Wiedenfeld39 nach einem Frühstück mit ihr: „Frau Radek bemüht sich selbst um ein Krankenhaus für die höheren Beamten, die – nach ihren Worten – doch auf eine andere Umgebung Anspruch haben, als ein gewöhnliches russisches Krankenhaus.“40 1937, im Anschluss an Stalins Schauprozess gegen Radek, zunächst nach dem südrussischen Astrachan im Mündungsgebiet der Volga verbannt und dort inhaftiert41, wurde sie dann in ein in der nördlichen UdSSR eingerichtetes Lager für Frauen von „Volksfeinden“ verlegt, wo sie 1941 verstarb42. Eines der Themen, mit dem Radek sich in Deutschland politisch besonders intensiv befasste, war die Forderung der SPD nach Abrüstung. Er hatte bereits 1910 auf dem Kongress der Sozialistischen Internationale in Kopenhagen die Haltung der SPD zur Abrüstungsfrage im Alleingang bekämpft. „Die deutsche Sozialdemokratie“ – so behauptete er – „suchte den Massen einzureden, als seien einflussreiche Schichten des Weltkapitals interessiert an der Abrüstung und als könne die Arbeiterklasse durch ein Bündnis mit ihnen die Gefahr des Imperialismus bannen.“43 Aber es sei eine Illusion, unter den bestehenden politischen Verhältnissen den Frieden durch internationale Schiedsgerichte und zwischenstaatliche Vereinbarungen zu sichern. In der „Leipziger Volkszeitung“ verkündete er im September 1910, dass unter den Rahmenbedingungen des Kapitalismus weder die Probleme einer allgemeinen Abrüstung

36 Bothmer, S. 57; Hilger, S. 78; Schlesinger, S. 191. 37 Paquet-Tagebuch, S. 136, Anm. 55, 58. 38 Hilger, S. 79. 39 Wiedenfeld, Kurt Dr. jur. (1871–1955); Wirtschaftswissenschaftler und Hochschullehrer; 1921– 1922 Vertreter der deutschen Reichsregierung in Moskau. 40 Wiedenfeld, S. 154 (Brief vom 17.4.1922). 41 Bucharina, S. 196 und 209f. 42 Wolin, S. 194. 43 Radek, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, S. 34.

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noch einer generellen Rüstungsbegrenzung lösbar seien, weil in einer kapitalistischen Gesellschaft eine solche Lösungsmöglichkeit einfach nicht existiere44. Als im März 1911 die SPD-Reichstagsfraktion den Antrag einbrachte, der Reichskanzler solle die Initiative zu einer internationalen Übereinkunft über generelle Rüstungsbeschränkungen ergreifen, stellten sich die „Leipziger Volkszeitung“ mit Paul Lensch und die „Bremer Bürger-Zeitung“ mit Anton Pannekoek auf Radeks Seite. Sie lösten eine bis zum Ersten Weltkrieg anhaltende innerparteiliche Abrüstungsdiskussion aus45. Das Bremer Blatt griff am 1. April 1911 die Führung der SPD mit dem programmatischen Leitartikel „Auf dem Holzwege“ an: Die Parteileitung verbreite in der Arbeiterschaft illusionäre Auffassungen über den Imperialismus und führe deshalb mit der Forderung nach Rüstungsbegrenzung „die Massen irre“. Der Imperialismus und die ihm immanente Aufrüstung seien das unvermeidliche Resultat der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die für die Eroberung neuer Märkte immer größere Heere und Flotten benötige. Die gegen das Parteizentrum gerichtete Polemik setzte Radek am 5. und 6. April 1911 fort. Er wiederholte in dem Bremer Organ die These, dass die Verstärkung der Rüstungen dasjenige Mittel des Kapitalismus sei, „das er nicht entbehren kann“46. Die von Kautsky vertretene Auffassung des orthodoxen marxistischen Zentrums, dass der bürgerliche Pazifismus unterstützt werden müsse, sei nichts anderes als „die berühmte revisionistische Fabel von der Milderung der Gegensätze in der kapitalistischen Gesellschaft47 und müsse als „Sozialpazifismus“ bekämpft werden. Radek warf dem Parteizentrum „eine gänzliche Verkennung der Tendenzen“ vor48; es gebe im Imperialismus – „dem Kapitalismus in seiner reifsten Epoche“ – keine gegen das Wettrüsten gerichtete Bewegung des Bürgertums49. Diese Abrüstungsdebatte war in Wahrheit eine Imperialismusdiskussion, in der die Linksradikalen den Imperialismus als die letzte Epoche des untergangsreifen Kapitalismus bewerteten. Sie hielten daher den Versuch, die Expansionspolitik des Imperialismus durch Rüstungsbegrenzungen zu zügeln und somit den Kapitalismus zu reformieren, für verfehlt und zwecklos. Radek hatte schon Ende 1910 „[…] die Überzeugung gewonnen, daß angesichts der heraufziehenden Kriegsgefahren die radikale Sozialdemokratie von kompromißlosen Protesten gegen den Kapitalismus unmittelbar zur massenhaften Vorbereitung des revolutionären Kampfes übergehen mußte.“50 Er plädierte für außerparlamentarische Kampfmethoden und forderte jetzt in der „Bremer Bürger-Zeitung“ Massenaktionen gegen den Imperialismus als einlei44 [Radek], „Kritisches über Kopenhagen“, in: „Leipziger Volkszeitung“, 14. und 15. September 1910. 45 Die Darstellung der Abrüstungsdiskussion folgt der Behandlung des Themas bei Moring, S. 142ff. 46 „Bremer Bürger-Zeitung“, 6.4.1911. 47 „Bremer Bürger-Zeitung“, 15.4.1911. 48 Ebenda. 49 „Bremer Bürger-Zeitung“, 13.4.1911. 50 Radek, Avtobiografija, Sp. 149.

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tende Kämpfe zur Ära der sozialen Revolution und zur Zertrümmerung des Staates51. Mit der Propagierung von Massenaktionen zur Initiierung der Revolution hatte er sich in diametralen Gegensatz zum auf „Ermattungsstrategie“ und legale Eroberung der Herrschaft gerichteten Kurs des Parteizentrums begeben und damit bereits im Frühjahr 1911 wesentlich zur Formulierung des Standpunktes der sich formierenden linksradikalen Opposition beigetragen. In Radeks Augen hatte der führende Theoretiker des Parteizentrums, Karl Kautsky, in dem Diskurs um die Parteilinie versagt: „Kautsky stellte sich auf die Seite der Sozialpazifisten und wurde zu ihrem Bannerträger“52. In der Tat hatte sich Kautsky geweigert, die Meinungsverschiedenheiten in der Abrüstungsfrage mit dem linken Parteiflügel auszutragen und Radek am 10. April 1911 mitgeteilt, eine Diskussion sei „unnütz und unzweckmäßig“ und könnte höchstens den Sinn haben, „einen ganz überflüssigen und unzeitgemäßen Parteikrakeel unmittelbar vor den [Reichststags-] Wahlen zu entfesseln“. Einen Artikel Radeks für die „Neue Zeit“ wollte er nur akzeptieren, wenn die Darlegung „mich eines besseren belehrt und mir annehmbar erscheint53“. Der Aufsatz von Radek unterblieb. Im Kontext mit der Zweiten Marokkokrise, die ihren Höhepunkt am 24. Juli 1911 mit der Entsendung des deutschen Kanonenboots „Panther“ – dem berüchtigten „Panthersprung“ nach Agadir – erreichte, brandmarkte die Parteilinke die Weigerung der Parteiführung, zu Demonstrationen gegen die drohende Kriegsgefahr aufzurufen. Ebenso wie Rosa Luxemburg, die „mit voller Energie gegen die Unaktivität des Parteivorstandes Anklagen erhob und für die Massenaktion als einziges Mittel gegen den Krieg eintrat“54, riefen auch die Bremer Linksradikalen nach Massenaktionen, die sich dann zum Angriff auf die bestehende Ordnung steigern ließen. Die „Bremer Bürger-Zeitung“ forderte, das Proletariat müsse „mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln“ den Krieg zu verhindern suchen55. Radek steigerte dies noch in einem weiteren Artikel und verlangte international organisierte Proteste und eine allgemeine deutsche Versammlungsaktion, die von den lokalen Verbänden „selbständig“ in Angriff zu nehmen sei. Dabei komme es darauf an, den besitzenden Klassen „die Einsicht einzuhämmern, daß es sich nicht um bloße Worte handelt, sondern um Worte, hinter welchen der Wille zur revolutionären Tat steckt“.56 Unmittelbar vor dem Parteitag der SPD im September 1911 in Jena erinnerte Radek schließlich daran, dass man bereits 1905 am gleichen Tagungsort eine Resolution angenommen habe, „die den Massenstreik in die Reihe der sozialdemokratischen Kampfesmit-

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„Bremer Bürger-Zeitung“, 15. und 16.4.1911. Radek, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, S. 35. Brief an Radek; zitiert nach Moring, S. 144. Radek, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, S. 35. „Bremer Bürger-Zeitung“, 27.7.1911. „Bremer Bürgerzeitung“, 31.7.1911.

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tel einreiht“57. Mit dieser „wuchtigen Waffe“ sollte sich die Arbeiterschaft künftig zur Wehr setzen, wenn man sie auf die Schlachtbank führen wolle58. Im Hinblick auf die bevorstehenden revolutionären Massenkämpfe – „von einer Heftigkeit und Schärfe, wie die Geschichte nicht gesehen“ – begrüße die Linke den Parteitag als einen „Kriegsrat vor dem Kampfe“.59 Nachdem die SPD-Führung sich insbesondere aus wahltaktischen Überlegungen allen Protestaktionen in der Marokkoaffäre versagt hatte, forderten die von der passiven Haltung der Führer enttäuschten Linksradikalen auf dem Jenaer Parteitag eine Reorganisation des zentralen Vorstandes60. Ein Entwurf zu Neuordnung sah vor, dass ein mit 32 Vertretern der Landesorganisationen besetzter Parteiausschuss künftig gemeinsam mit dem Vorstand über wichtige die Gesamtpartei betreffende Fragen entscheiden solle; auch das Vertretungsrecht der SPD-Reichstagsfraktion auf den Parteitagen müsse beschränkt werden. Radek, flankiert von seinen Freunden Pannekoek und Haenisch, befürwortete in der Artikelserie „Die Arbeitermasse und die Parteiorganisation“ in der „Bremer Bürger-Zeitung“61 die Annahme der Maßnahmen zur Reorganisation, weil der Parteiausschuss ihm als ein geeignetes Organ für die politische Steuerung des Vorstandes und damit für die Inszenierung von außerparlamentarischen Aktionen erschien. Nach seinen Vorstellungen sollte der Ausschuss allerdings personell dahingehend ausgestaltet werden, dass Delegierte aller Großstädte und der wichtigsten Industriegebiete vertreten seien; so organisiert würde die Institution Weitblick, Entschlusskraft und Verantwortung für Massenkämpfe vereinigen62. Daneben sah er in der Einschränkung des Vertretungsrechts der Fraktion eine heilsame Maßnahme, da die Teilnahme der Reichstagsabgeordneten den Parteitag „zur Überschätzung des Parlamentarismus wie der sogenannten positiven Arbeit und zur Unterschätzung der agitatorischen Momente der Selbständigkeit der Massen und ihrer Aktionen“ führe63. Insgesamt beurteilte er den Entwurf zur Reorganisation der Partei, der im Übrigen so nie realisiert wurde, unter dem Gesichtspunkt der Stärkung des Einflusses der Massen auf die Parteiführung, denn es seien schließlich Einrichtungen notwendig, die es der SPD erlaubten, sich „näher mit der Masse ihrer Mitglieder zu verbinden, auf denen schließlich die Hauptlast des Kampfes liegen wird“64. Zu unterstreichen ist jedoch, dass für Radek – wie auch für Rosa Luxemburg – nicht die Organisation, sondern die Massenaktionen an sich das Entscheidende 57 Radek, „Vor dem Parteitag“, „Bremer-Bürgerzeitung“, September 1911. Radek, In den Reihen der deutschen Revolution, S. 37. 58 Ebenda, S. 37. 59 Ebenda, S. 46f. 60 Vgl. Moring, S. 158ff. 61 „Bremer Bürger-Zeitung“, 22.–28.6.1912. 62 „Bremer Bürger-Zeitung“, 26.6.1912. 63 „Bremer Bürger-Zeitung“, 22.6.1912. 64 „Bremer Bürger-Zeitung“, 26.6.1912.

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waren. Anhand historischer Beispiele postulierte er, in der Geschichte der Arbeiterbewegung seien alle taktischen und ideologischen Wandlungen durch Veränderungen in den Gesinnungen der Massen verursacht worden. So sei auch der Revisionismus aus der verbreiteten Illusion der Arbeiterschaft entstanden, sich mit dem Regime arrangieren zu können; „Bernstein, David65 schrieben nur die Texte zu dieser opportunistischen Musik, die von unten herauftönte“. Aus seiner Analyse zog er den Schluss, „daß alle wichtigen Wendungen in der Parteitaktik, alle auf sie gehenden Bestrebungen von den Massen selbst ausgehen, die unter dem Einfluß der sich ändernden Lebens- und Kampfesbedingungen ihre Stellung zu taktischen Fragen einnehmen“. Er war also der Auffassung, „daß in der Zeit von revolutionären Massenbewegungen dem Instinkt der Massen mehr zuzutrauen ist als der Einsicht der Führer. Die Massen handelten unter dem Druck der Logik der Tatsachen“. Das war im Kern die berühmte Theorie von der „Spontaneität der Massen“, die Lenin schon 1902 für falsch gehalten hatte.66 1911 verfasste Radek mit der Schrift „Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse“ seine bedeutendste theoretische Arbeit. Im darauffolgenden Jahr als Broschüre veröffentlicht, nahm sie Gedanken aus dem Jahre 1908 auf67 und entwickelte sie zu einer allgemeinen Charakteristik des Imperialismus: – „Der Imperialismus bedeutet die Politik der Gewalt gegen schwache Völker, darum ist er ohne Gewaltmittel, Flotte und Landheer unmöglich.“68 – Er „erzeugt den Kampf aller Staaten gegen alle, darum ist er ohne Wettrüsten undenkbar.“69 – Der wachsende Finanzbedarf für das Mithalten im Rüstungswettlauf verschlechtert die Lage der Arbeiterklasse durch steigende Steuerlasten, generelle Teuerung und fehlende Mittel für soziale Belange; zugleich werden durch Kapitalexport und Mechanisierung der Produktion Arbeitsplätze vernichtet und die Arbeiterklasse ihrer Möglichkeit zur politischen Artikulation beraubt, indem der Parlamentarismus ausgehöhlt und das Parlament zur „Waffe des Imperialismus“ umgewandelt wird.70 Radek schrieb, Europa sei in ein „Zeitalter akuter Kriegsgefahr“ eingetreten. „Von Waffengeklirr hallt die Welt“71. Deutschland, der junge, wolfshungrige und England, der alte, satte kapitalistische Räuber, stehen sich „bis auf die Zähne gerüstet“ als Hauptgegner gegenüber, nachdem das Reich mit dem Bau einer offensivfähigen Kriegsflotte auf

65 David, Eduard (1863–1930); Gymnasiallehrer; Journalist und revisionistischer SPD-Politiker. 66 Vgl. Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 464f. und Lenin, Massenspontaneität und politische Führung, in: Ders., Theorie, Ökonomie, Politik, S. 188ff. 67 Vgl. oben, Kapitel 2. 68 Radek, Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse, S. 67. 69 Ebenda. 70 Ebenda, S. 67ff. 71 Radek, Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse, S. 3.

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Expansionskurs gegangen und „ins Fahrwasser des Imperialismus“ eingeschwenkt ist72. Der deutsch-englische Gegensatz birgt die Gefahr eines Weltkrieges in sich: „Durch ein weitverzweigtes System von Bündnissen sorgen Deutschland und England dafür, daß ihre Auseinandersetzung sich in einen Weltkrieg auswächst. Der deutsch-österreichisch-italienische Dreibund und der englisch-französisch-russische Dreiverband, das sind die Lager, in die die kapitalistische Welt geteilt ist, und die sich tagtäglich in Kriegslager verwandeln können. Einmal zerstreut, kehren die Kriegswolken wieder zurück, und von Zeit zu Zeit beweist ein Wetterleuchten, daß verwüstende Stürme im Anzug sind.“73

Die wichtigste Triebkraft des Imperialismus aber, ist der Kapitalexport. Die Ursache des konfliktträchtigen Expansionsdranges des Deutschen Reiches bildet der Zwang zum Kapitalexport, das heißt die Notwendigkeit, das im Inland akkumulierte Kapital in die Kolonien auszuführen, um genügend Anlagemöglichkeiten zu finden74. Zu diesem Zweck konzentriere sich die deutsche Außenpolitik mit Vorrang auf die „Erringung einer Position in China und in der Türkei [dem Nahen Osten]“, was naturgemäß zur Interessenkollision mit den anderen Großmächten, besonders mit England, führe75. Die Marokkokrise demonstriere jedoch, „die imperialistischen Gegensätze können [auch] an Punkten zur Austragung kommen, die keineswegs zu den Brennpunkten der deutschen auswärtigen Politik gehören“; denn „es gibt in dieser Zeit der großen weltpolitischen Spannungen keine imperialistischen Aktionen, denen nicht die Gefahr des Weltkrieges auf dem Fuße folgen würde“76. „Das Wettrüsten hört nicht auf, und der nächste Tag kann einen Zusammenprall zwischen dem deutschen und dem englischen Imperialismus bringen“77.

Die Gefahr eines solchen Zusammenstoßes wird durch die Folgen der revolutionären Entwicklungen in Nahmittelost und in Asien noch erhöht: „Volksbewegungen und terroristische Attentate zeigen England, daß es eines Tages genötigt sein wird, seine Herrschaft über Indien mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. ... Dieselben Anzeichen des Erwachens der Orientvölker sehen die Franzosen in IndoChina. Die persische Revolution spricht dieselbe Sprache. Und die türkische wie die chinesische Frage beginnt eine Entwicklung, deren Konsequenzen überhaupt noch nicht abzusehen sind.“78 72 Ebenda, S. 4 und S. 34ff. 73 Ebenda, S. 4. 74 Ebenda, S. 12ff. 75 Ebenda, S. 44ff. 76 Ebenda, S. 59f. 77 Ebenda, S. 64. 78 Ebenda.

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Diese Analyse der außenpolitischen Lage bestätige, dass die kapitalistische Entwicklung als Gesellschaftsordnung endet, „die die Gefahr eines Weltkrieges zur steten sozialen Tatsache erhoben hat“. Die Bourgeoisie und ihre Regierungen taumeln „aus einer Kriegsgefahr in die andere, bis sie auf dem Schlachtfelde aufeinander stoßen […]“. Es ist aber „utopisch“, wenn „bürgerliche Friedensfreunde vermeinten der Kriegsgefahr beikommen zu können, ohne den Kapitalismus abschaffen zu müssen79“; denn: „Die historische Entwicklung hat den Sozialismus schon lange aus dem Stern, der dem Wanderer aus weiter Ferne den Weg zeigte, zu einer Tatsache gemacht, für die die Gesellschaft ökonomisch reif ist.80 […] Damit ist schon gesagt, daß der Boden für den Sozialismus in den alten Ländern der kapitalistischen Entwicklung reif ist, daß die Ernte nur auf die Schnitter wartet.“81

In diesem Sinne stehe die Verwirklichung des Sozialismus jetzt als „Machtfrage“ zur Lösung an, „die mit der Zertrümmerung des Kapitalismus enden muß“82. Allerdings ist sich das Proletariat „nur in seiner Minderheit dieser Tatsache […] bewußt, und nur zu einem Teile bereit, sich für den Sozialismus in die Schanzen zu schlagen“83. Deshalb müssen die Linksradikalen, als „die vorgeschrittenen Elemente der Arbeiterklasse, […] angesichts der nahenden großen Kämpfe Aufklärung in die Massen tragen über den Charakter des Imperialismus und die historischen Aufgaben der Arbeiterklasse“. „Je energischer diese Arbeit geleistet wird, je mehr dem Imperialismus die Maske abgerissen wird, desto geringer werden die Opfer sein, die der Kampf erfordern wird. Daß sie aber nicht klein werden, weiß das Proletariat sehr wohl. Handelt es sich doch um nichts geringeres, als eine Klasse zu entthronen […] und an Stelle des Prinzips des weltbeherrschenden kapitalistischen Besitzes das Prinzip der Arbeit zu setzen. Daß die bevorstehenden Kämpfe nicht im nationalen Rahmen ausgefochten werden können, ergibt sich schon aus dem internationalen Charakter des Imperialismus.“84 – „Das Gerassel der auffahrenden Kanonen, die die zivilisierte Welt in ein Trümmer- und Leichenfeld zu verwandeln drohen, vermag nicht den dröhnenden Schritt der Arbeiterbataillone zu übertönen, die auf dem weltpolitischen Kampffelde antreten. Der akuten Kriegsgefahr folgt die Gefahr revolutionärer Straßenkämpfe, – eine Gefahr für das Kapital, ein Hoffnungsstrahl für die Menschheit.“85 – „Großen Kämpfen schreitet das Proletariat entgegen. Mögen auch die 79 80 81 82 83 84 85

Ebenda, S. 79. Ebenda, S. 80. Ebenda, S. 81. Ebenda, S. 80f. Ebenda, S. 81. Ebenda, S. 82. Ebenda, S. 66.

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Opfer groß sein, die seiner harren, es hat keine Ursache zu zaudern oder nervöse Voreile zu zeigen. Die Arbeiterklasse geht den künftigen Kämpfen freudig entgegen […] hat [sie] doch nur ihre Ketten zu verlieren. Ihr winkt in der Ferne der Sozialismus, dessen Sonne über blutige Schlachtfelder scheinen wird, wenn es dem Proletariat nicht gelingt, durch einen Krieg gegen das Kapital den Krieg der Nationen unmöglich zu machen.“86

Radek folgt in dieser Arbeit in zwei Aspekten Rudolf Hilferding87, der in seinem 1910 veröffentlichten Hauptwerk „Das Finanzkapital“ den Imperialismus als die Spätphase des Kapitalismus deutete und damit auch die Imperialismustheorie Lenins maßgeblich beeinflusste. Radek übernahm ebenfalls die Theorie Hilferdings, der Kapitalexport sei die Triebkraft der imperialistischen Staatenexpansion. Das brachte ihn in weiteren Gegensatz zu Rosa Luxemburg, die die Warenausfuhr als ökonomische Basis der Internationalen Politik betrachtete88. Von Interesse sind zudem Radeks Ausführungen zur Rolle des modernen Staates und seiner Bürokratie, die er aufgrund seiner Erfahrungen im wilhelminischen Deutschland als das zweite Machtmittel neben der Armee einordnete: „Der Staat greift jetzt in alle Winkel des gesellschaftlichen Lebens hinein. Er ist rege und mannigfaltig geworden, alle seine Teile greifen ineinander, fordern eine Regelung. Die Aufgaben der Bürokratie wachsen gewaltig. Entspricht sie ihnen nicht, beherrscht sie nicht das ganze soziale Leben, so verliert sie die Macht. Und so treibt sie die Gesellschaft zu immer schnellerem Wachstum: Das Heer der Bürokratie schwillt fortlaufend an. Die Erhaltungskosten der Armee, der Bürokratie werden immer größer, immer unerschwinglicher. Obwohl der moderne Staat alles zu besteuern sucht, obwohl er die Steuerlast immer mehr vergrößert, muß er zu Anleihen greifen. Die Staatsschuld wächst und mit ihr die Abhängigkeit der Regierungen vom Kapital, das die Anleihen deckt […]. Der Willensvollstrecker des Kapitals im Innern, wird der kapitalistische Staat zum Hüter der kapitalistischen Interessen nach außen hin.“ 89

Nach den Reichstagswahlen vom Januar 1912, in denen die Partei zur stärksten Fraktion im Parlament aufgestiegen war, stellte sich Kautsky dem Abrüstungsdiskurs und damit der Imperialismusdiskussion in der SPD. Er öffnete jetzt die Spalten der „Neuen Zeit“ für die Auseinandersetzung zwischen „der großen Mehrheit der Partei“ und „einigen anderen Genossen“, wie er die Kontrahenten charakterisierte. Er warb für einen Bund der europäischen West- und Mittelmächte, der das zaristische Russland als Nutznießer der Differenzen in Europa ausschließen und das Wettrüsten und

86 Ebenda, S. 82. 87 Hilferding, Rudolf (1877–1941), Dr. med., Nationalökonom und Publizist; 1906 Lehrer an der Parteischule der SPD, danach Redakteur des „Vorwärts“. 88 „Die Akkumulation des Kapitals“, 1913. 89 Radek, Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse, S. 14f.

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die Kriegsgefahr beenden könnte.90 Demgegenüber propagierte Radek zusammen mit Lensch und Pannekoek in der „Neuen Zeit“ die 1911 entwickelte Theorie des Imperialismus, wobei als neues Element im Kampf gegen die Gefahr eines Krieges die Forderung erhoben wurde, die SPD müsse sich für die Einführung eines Milizsystems einsetzen. Im Zuge der Propaganda des Milizgedankens forderte Radek in der „Bremer Bürger-Zeitung“ die Partei auf, „das ganze Gewicht auf die Förderung jener Tendenzen zu legen, die auf eine Demokratisierung des Heeres hinausliefen und es dadurch für imperialistische Raubkriege und arbeiterfeindliche Unternehmungen immer mehr unbrauchbar machen mußten“91. Die taktische Absicht war es, durch die Wiedererweckung des Volksheergedankens den der Vorbereitung der Revolution förderlichen Einfluss der Massen zu stärken – eine Überlegung, die die tatsächliche Waffenarmut des auf den Massenstreik beschränkten Arsenals der Linken sichtbar machte.92 Im Hinblick auf Kautskys Gedanken einer friedlichen Einigung der europäischen Mächte betonte er: „Nicht nur neue koloniale Lasten, sondern auch neue Militärlasten werden die Folge aller Verständigungsaktionen sein. Und deshalb ist nur eine einzige Haltung der Sozialdemokratie ihnen gegenüber möglich: Die Demaskierung der volksfeindlichen Ziele dieser Aktionen, der Hinweis, daß die Arbeiterklasse nichts von ihnen zu erwarten hat, daß ihre Aufgabe nur im entschiedensten Kampfe gegen den ganzen internationalen Kurs des Imperialismus besteht.“93

Zugleich wiederholte er das Postulat, dass der Entwicklungsstand des Kapitalismus das Deutsche Reich für die sozialistische Revolution reif gemacht habe und es die Aufgabe der Sozialdemokratie sei, die Massen zum Kampf um die Macht aufzurufen.94 Für die Augustnummer 1912 der „Neuen Zeit“ schrieb er schließlich einen als Generalabrechnung mit Kautsky konzipierten Artikel, der „eine abgeschlossene Darstellung des Standpunktes“ der Parteilinken intendierte. Unter der Überschrift „Wege und Mittel im Kampfe gegen den Imperialismus“95 fasste er in dem Aufsatz die strittigen Punkte der Imperialismustheorie zusammen und bezog dezidiert Stellung gegen die evolutionistische Interpretation des Marxismus durch Kautsky und dessen Vorschläge zur Beendigung des Wettrüstens. Er warf dem führenden Theoretiker des Marxismus vor, den Charakter des Imperialismus illusionär zu verkennen:

90 Vgl. Moring, S. 160f. 91 Radek, Kapitalistisches Wettrüsten, Volksheer und Sozialdemokratie; in: In den Reihen der deutschen Revolution, S. 208–270. Zitat (Paul Frölich), ebenda, S. 10. 92 Legters, S. 18. 93 Radek, Unser Kampf gegen den Imperialismus, „Neue Zeit“, Mai 1912; in: Radek, a.a.O., S. 167. 94 Ebenda, S. 175f. 95 Ebenda, S. 177–207.

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„Kautsky spitzt die Streitfrage […] auf die Formel zu: Er sei ein Anhänger der Reformen, auch auf dem Gebiete des Imperialismus, seine Gegner seien Revolutionäre, die alles oder nichts wollen. Und eben diese Übereinkommen der kapitalistischen Staaten sollen diese Reform des Imperialismus bedeuten. Wäre das in Wirklichkeit der Fall, würden solche Abkommen ein Anfang vom Ende des kriegerischen Imperialismus sein, so würde Kautsky endlich einen Boden unter den Füßen gewinnen. Da aber die Abkommen nur ein Mittel bilden, die kleinen Gegensätze zurückzustellen, um Kräfte zu sammeln zum Kampf um die großen, so wäre es eine gänzliche Verkennung ihres Charakters, in ihnen eine Abkehr vom Imperialismus zu sehen. Sie sind die P r a x i s des Imperialismus. Der letzte rettende Sprung Kautskys aus den Wolken stellt einen Sprung auf den Boden des Imperialismus dar. Und was Kautsky als Reform des Imperialismus ansieht, das ist seine Stärkung.“96

Abschließend geißelte er Kautsky und dessen Auffassung vom Imperialismus nochmals polemisch: „Mit Phantasien macht man Gedichte, mit Spekulationen schlechte Philosophie: aber der Kampf erfordert ein Schwert, und Eisen wächst nur in dem schwarzen Boden der Wirklichkeit.“97 Die Redaktion der „Neuen Zeit“ ließ den Artikel zwar in Satz gehen, verschob aber wegen Radeks „Göppinger Affäre“, seiner in Frage stehenden SPD-Zugehörigkeit und seinem gerade erfolgten Ausschluss aus der SDKPiL die Publikation. Radek verdächtigte Kautsky der Zensur, forderte in mehreren Briefen an die Redaktion eine Veröffentlichung und am 29. August 1912 die Rückgabe des Aufsatzes98. Daraufhin brachte die linksradikale „Bremer Bürger-Zeitung“ am 14. September 1912 den Artikel in einer Beilage, wenn auch „mit geringen Änderungen, die dadurch nötig wurden, daß das Polemische gegen den Genossen Kautsky in manchen Teilen zurückgedrängt werden mußte“99. Damit waren einen Tag vor dem Parteitag der SPD in Chemnitz die Unvereinbarkeit der Standpunkte der Linken und des Parteizentrums endgültig geklärt und die gegensätzlichen politischen Positionen festgelegt worden. 1912 profilierte sich Radek jedoch nicht nur als einer der führenden Theoretiker der Parteilinken, sondern er beschwor auch einen handfesten politischen Skandal herauf, der als die „Göppinger Affäre“100 in die Annalen der SPD einging. Im württembergischen Göppingen, einer Stadt mit rasch wachsender Metallindustrie, war Radeks Freund August Thalheimer seit dem Sommer 1911 leitender Redakteur der von Arbeitern auf genossenschaftlicher Basis getragenen „Freien Volkszeitung“101. Thalheimer, der in dem Blatt sehr zum Missfallen des revisionistischen Stuttgarter Landesvorstands 96 97 98 99 100

Ebenda, S. 200f. Ebenda, S. 207. Lerner, S. 26f. „Bremer Bürger-Zeitung“, 14.9.1912; in: Möller, S. 94. Vgl. Radek, Avtobiografija, Sp. 151 ff.; Fischer, R., Stalin, S. 245ff; Moring, S. 176ff.; Nettl, Rosa Luxemburg, S. 451ff.; soweit nicht anders vermerkt, folgt die Darstellung der Göppinger Affäre: Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 454ff. 101 Insgesamt 1.100 Arbeiter hatten das Betriebskapital von 30.000 Reichsmark aufgebracht; die Zeitung hatte eine Auflage von 5.000 Exemplaren.

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„eine radikale revolutionäre Propaganda“102 trieb, hatte in seine Zeitung von Anfang an auch Beiträge von Rosa Luxemburg, Anton Pannekoek und Karl Radek aufgenommen. Den ganz besonderen Unwillen der Parteiführung zog er aber auf sich, als er am 30. Dezember 1911 – unmittelbar vor der Reichstagswahl – den Leitartikel „Der Revolution entgegen“ veröffentlichte. Er schrieb, 1911 sei man noch einmal knapp am Weltkrieg vorbeigekommen, der aber 1912 mit Sicherheit ausbrechen werde. „Der Weltkrieg aber ist die europäische Revolution“, und die sozialistische Presse müsse die Fackel sein, die der Arbeiterklasse auf dem Weg dorthin voranleuchte. Als 1912 die „Freie Volkszeitung“ durch den Erwerb einer eigenen Druckerei in finanzielle Schwierigkeiten geraten war und den Landesvorstand um Sanierung ersuchen musste, sah dieser die Gelegenheit gekommen, den linksradikalen Thalheimer loszuwerden und das Blatt auf revisionistischen Kurs zu bringen. Thalheimer, der davon nichts ahnte, war Ende Mai in Urlaub gefahren und hatte zuvor noch Karl Radek als seinen Vertreter herangeholt. Zu diesem Zeitpunkt eröffnete der Landesvorstand der württembergischen SPD den Göppingern am 28. und 30. Mai 1912, dass die Schulden der Druckerei nur beglichen werden könnten, wenn Thalheimer entlassen und das Blatt mit einer von Stuttgart kontrollierten Zeitung fusioniert werde. Der Landesvorstand versicherte, dass diese Forderung auch vom zentralen Parteivorstand in Berlin gestellt worden sei, was sich allerdings später als unzutreffend herausstellen sollte. Radek, der jetzt eifrig an den Verhandlungen über die Sanierung der Zeitung teilnahm und Thalheimer telegraphisch aus dem Urlaub zurückrief, hatte jedoch aufgrund der irreführenden Erklärung des Stuttgarter Vorstandes den Eindruck gewonnen, der zentrale Parteivorstand wolle die linksradikale Propaganda unterbinden. Seine engen Beziehungen zur „Bremer-Bürger-Zeitung“ und „Leipziger Volkszeitung“ nutzend, griff er in beiden Blättern den Berliner Parteivorstand wegen der Göppinger Vorfälle an. So publizierte das Bremer Blatt am 1. Juni 1912 den Leitartikel „Ein Parteiskandal“, in dem er den Parteivorstand beschuldigte, in Göppingen eine linksradikale Minderheit zu vergewaltigen. Am 4. Juni 1912 wiederholte er unter der Überschrift „Ein Gewaltstreich“ seine Anschuldigungen gegen die Parteiführung in der „Leipziger Volkszeitung“103. Der Parteivorstand dementierte die Vorwürfe sofort, und der für die Parteifinanzen zuständige Otto Braun104 meinte verärgert, es gehe Radek nicht um die Sanierung der Zeitung, „sondern um den Krach in der Presse“. Sehr zum Missfallen der Parteioberen trat Radek auch auf einer Reihe von SPDVeranstaltungen in Württemberg auf. Während einer Mitgliederversammlung des sozialdemokratischen Vereins für Stuttgart am 11. Juni 1912 wurde gegen den Wil102 Thalheimer an Radek, 28.6.1911; in: Moring, S. 177. 103 Der Artikel wurde anonym veröffentlicht, aber auf dem SPD-Parteitag 1912 wurde in der Diskussion darüber Radek als Autor enttarnt. 104 Braun, Otto (1872–1955); Steindrucker; vom späteren SPD-Vorsitzenden Hugo Haase gefördert, absolvierte er eine typische Funktionärslaufbahn; 1911 bis 1919 bzw. 1921 Hauptkassierer (Schatzmeister) und Mitglied des Parteivorstandes; 1920–1933 wiederholt preußischer Ministerpräsident.

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len des Parteivorstandes die Behandlung der Göppinger Angelegenheit durchgesetzt. Radek hielt das Referat und die Teilnehmer sprachen „den Genossen […] Thalheimer und Radek für die mutige Erfüllung ihrer parteigenössischen Pflicht ihren Dank aus […]“, weil sie „ohne Rücksicht auf die zu erwartenden Angriffe und Anwürfe den Kampf geführt haben gegen den Versuch, unter dem Mantel einer Sanierung den Göppinger Arbeitern ihr Blatt zu nehmen“105. Wenige Tage darauf referierte Radek auf einer Parteiversammlung in Schwäbisch Gmünd über „Taktische Strömungen in der Sozialdemokratie; Revisionismus und Radikalismus“. Die Gmünder Genossen bildeten die zweitgrößte Organisation des Wahlkreises und hatten ein Drittel des Kapitals der Druckereigenossenschaft aufgebracht. Sie wählten Radek zum Delegierten für die Kreisgeneralversammlung in Göppingen-Hohenstaufen, auf der über das weitere Schicksal der „Freien Volkszeitung“ entschieden werden sollte. Diese Konferenz des 10. württembergischen Wahlkreises fand am 15. Juni 1912 statt. An ihr nahm der württembergische Landesvorstand teil, und aus Berlin waren als Vertreter des Parteivorstandes Friedrich Ebert106 und Otto Braun angereist. Es kam zum Konflikt als beide sich trotz des Gmünder Mandats weigerten, Radek als offiziellen Konferenzdelegierten anzuerkennen und an der Sanierungsdebatte teilnehmen zu lassen, da es sich um eine „schwierige, vorwiegend geschäftliche Angelegenheit handele“, mit der er nicht vertraut sei. Er sei auch nicht Mitglied einer Parteiorganisation des Wahlkreises und habe „zudem durch die parteischädigende Art, wie er diese Angelegenheit in der Öffentlichkeit behandelte, einen solchen Mangel an Verantwortungsgefühl an den Tag gelegt […], daß die Verhandlungen mit ihm zu keinem gedeihlichen Ergebnis führen können“. In seiner Autobiographie wiederholt Radek seine Anwürfe gegen Ebert und stellt den Vorfall so dar: Man habe in Sachen „Freie Volkszeitung“ „[…] an den zentralen Parteivorstand appelliert, ohne zu ahnen daß die ganze Angelegenheit mit dem Wissen Eberts, des zweiten Parteivorsitzenden, in Szene gesetzt worden war […]. Auf einer gemeinsamen Sitzung der Göppinger Parteiführer mit Vertretern des deutschen und des württembergischen Parteivorstandes führten wir den Beweis, daß die ganze Angelegenheit auf eine Erpressung hinauslief, um durch Ausnutzung ihrer finanziellen Schwierigkeiten eine linksradikale Zeitung wieder in opportunistische Hände zurückzubekommen. Darauf erklärten uns Ebert und Braun, sie seien angereist, um den Konflikt zu schlichten, aber wenn wir darauf nicht eingehen wollten, dann würden sie 105 Die Resolution der Stuttgarter Parteiversammlung zum „Fall Göppingen“, „Bremer Bürger-Zeitung“ 14.6.1912; in: Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 479. 106 Ebert, Friedrich (1871–1925); Sattler und Gastwirt; 1891 Niederlassung in Bremen: Lokalredakteur der „Bremer Bürger-Zeitung“, 1894 SPD-Vorsitzender, 1900 Vorsitzender der Bürgerschaftsfraktion; 1905 in den zentralen Parteivorstand gewählt, modernisierte er als „Hauptgeschäftsführer“ die Parteiverwaltung; 1912 Reichstagsabgeordneter; 1913 nach Bebels Tod (neben Hugo Haase) Parteivorsitzender; 1918 (nach Prinz Max von Baden) Reichskanzler, wobei er das Ziel verfolgte, die Revolution einzudämmen und die parlamentarische Demokratie durchzusetzen; 1919–1925 Reichspräsident.

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die Sitzung abbrechen. Sie lehnten es ab, die von uns vorgelegten Tatsachen ins Protokoll aufnehmen zu lassen. Die Göppinger Metallarbeiter jedoch, blockierten die Türen mit Tischen und erklärten Ebert, sie würden ihn solange nicht aus der Versammlung gehen lassen, bis die Fakten protokolliert seien. Wütend geworden, schrie Ebert uns an: ,In der Partei ist die linksradikale Eiterbeule reif geworden, und wir werden sie aufstechen‘.“107

Schließlich beantragte ein Vertreter aus Göppingen, Radek das Mandat zu entziehen, da er nicht im Wahlkreis wohne und seine Parteizugehörigkeit überhaupt zweifelhaft sei. Daraufhin verließ Radek gemeinsam mit Thalheimer und einer Reihe radikaler Delegierter die Kreisversammlung unverrichteter Dinge. Die „Freie Volkszeitung“ wurde in der Form saniert, dass man sie in ein Kopfblatt der revisionistischen „Schwäbischen Tagwacht“ in Stuttgart umwandelte und Thalheimer als Redakteur entließ. Radek und Thalheimer waren geschlagen. Es verblieb ihnen nur noch in einer gemeinsamen Erklärung in der „Bremer Bürger-Zeitung“ vom 20. Juni 1912 ein „Schlußwort“ zu veröffentlichen, in dem sie mitteilten, „das einzige Kampforgan für die radikale Sozialdemokratie in Württemberg ist auf der Strecke geblieben“, und weiter hieß es sarkastisch: „Die Unterzeichneten [Radek und Thalheimer] sprechen hiermit den ,verantwortlichen‘ Gen[ossen]. Braun und Ebert ihren Dank aus für die letzten Angriffe und die Mundtotmachung Radeks, denn solche unzuverantwortenden Taten werden der Gesamtpartei die Augen darüber öffnen, daß es sich bei der Göppinger Affäre nicht nur um eine lokale Geschichte handelt, sondern daß sich in der kleinen Stadt Württembergs ein Drama abgespielt hat, dessen Titel heißt: Das Vordringen des Revisionismus und das Versagen des ,radikalen‘ Parteivorstandes im Kampfe gegen ihn.“108

Sieht man von den Bremer Linksradikalen ab109, fanden diese Anklagen in der Partei allerdings vorwiegend negative Resonanz. Selbst Rosa Luxemburg sah in dem Bemühen die „Freie Volkszeitung“ künstlich am Leben zu erhalten, keinen Nutzen für die radikale Sache; wenn das Blatt nicht zu halten war, dann sollte es doch eingehen. Schon Ende Mai schrieb sie pikiert an Konstantin Zetkin110: „Was der Radek bei der Göppinger Sache zu tun hat, ist mir unerfindlich, dieser Kerl steckt doch überall seine Nase rein“. Und als im Juni 1912 Radek und ihr Freund Thalheimer 107 Radek, Avtobiografija, Sp. 152. 108 Zitiert in: Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 482. 109 Die dem zentralen Parteivorstand misstrauenden bremischen Linksradikalen, insbesondere Henke und Knief, bauten auf die Mitteilungen Radeks und fühlten sich in ihrer Kritik am Parteivorstand bestätigt. Obgleich diesem „die Verbreitung des prinzipiellen radikalen Sozialismus auf Kosten des Revisionismus als eine nützliche und wertvolle Sache am Herzen“ hätte liegen müssen, sei das Göppinger Blatt „mit Hilfe des Parteivorstandes“ beseitigt worden. „Bremer Bürger-Zeitung“, 21.7.1912 , in: Moring, S. 177. 110 Zetkin, Konstantin (1885–1980); Sohn Clara Zetkins und zu dieser Zeit der Geliebte Rosa Luxemburgs.

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nach Berlin kamen, um sich wenigstens der moralischen Unterstützung prominenter Radikaler zu vergewissern, wurden sie von Rosa kalt abgefertigt und als „traurige Gesellschaft“ bezeichnet.111 Radek war es vor allem darum gegangen, die „Freie Volkszeitung“ als linksradikale Propagandaplattform zu erhalten. Mit dem unzutreffenden Vorwurf eines heimlichen Zusammenspiels der Berliner Parteiführung und des revisionistischen Stuttgarter Landesvorstandes zur Ausschaltung eines kämpferischen linksorientierten Blattes, hatte er die Mehrheit der SPD gründlich gegen sich aufgebracht. Der Parteivorstand, vertreten vor allem durch Friedrich Ebert, betrachtete Radeks äußerst fruchtbare journalistische Tätigkeit in zahlreichen Parteizeitungen schon seit längerem mit äußerstem Missfallen. Nunmehr zu Unrecht angegriffen, beschloss er mit dem missliebigen Unruhestifter abzurechnen, den er im Frühjahr 1912 schon einmal aufs Korn genommen hatte112. Man ging den in Göppingen lautgewordenen Zweifeln an Radeks Parteizugehörigkeit nach und enthüllte, dass er zur Zeit der Göppinger Affäre kein Parteimitglied war. Tatsächlich war er seit seinem Weggang aus Leipzig im April 1911 kein eingeschriebenes Mitglied der SPD mehr. Anscheinend trat er in die Partei ein, wenn es ihm gerade passte, und er war auch kein zuverlässiger Beitragszahler113. Die Göppinger Affäre wurde zum „Fall Radek“.114 Radek wurde die existentielle Bedeutung des Nachweises der Parteimitgliedschaft für seine politische Zukunft in der deutschen Sozialdemokratie schlagartig bewusst. Am 1. Juli 1912 beantragte er in Berlin-Wilmersdorf erneut die Aufnahme in die SPD, bekam ein Mitgliedsbuch ausgehändigt und zahlte den Beitrag. Somit formal wieder Parteimitglied, wählten ihn am 13. August seine radikalen Bremer Genossen, bei denen er weiterhin Rückhalt besaß, zum Delegierten für den Mitte September anberaumten Parteitag in Chemnitz. Dort sollte er den Standpunkt der Linken in der Imperialismusfrage vertreten, auf eine Statutenänderung der SPD im Interesse der „Arbeitermasse“ hinwirken115, aber auch die Gelegenheit erhalten, sich wegen Göppingen verteidigen zu können. Was der Parteivorstand davon hielt, kann man sich leicht vorstellen. „Er setzte alle Hebel in Bewegung, um Radeks Delegierung als Vertreter Bremens nach Chemnitz zu verhindern“.116 Wegen der Göppinger Affäre war Radeks Position in der deutschen Partei im Hochsommer 1912 immer unhaltbarer geworden – ein Umstand, den sein erbitterter Gegner, der polnische Parteiführer Leo Jogiches, als geeigneten Moment ausnutzte, um sich in den Reihen der SDKPiL endlich der Radekschen Opposition zu entledigen und gleichzeitig dazu beizutragen, ihn auch in der deutschen Partei politisch 111 Vgl. Nettl, Rosa Luxemburg, S. 453. 112 Siehe oben, Anm. 13. 113 Legters, S. 13. 114 Sofern nicht anders vermerkt, folgt die Darstellung Moring, S. 177ff. 115 Inhaltlich sollte dies an der oben besprochenen Artikelserie „Die Arbeitermasse und die Parteiorganisation“ orientiert sein. 116 Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 464.

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auszuschalten. Am 24. August 1912 wurde der SPD-Vorstand in Berlin über den Ausschluss Radeks aus der polnischen Partei informiert und zwei Tage später ging ihm das Urteil des polnischen Parteigerichts zu. Radek schrieb zwar dem deutschen Parteivorstand zu Recht, dass es sich bei seinem Ausschluss aus der polnischen Sozialdemokratie „um einen aus politischen Gründen vorbereiteten Schlag gegen mich handelt“117, aber der Hinauswurf aus der polnischen Bruderpartei bot der SPD-Führung doch den willkommenen Anlass, einen unbequemen Genossen mit formalistischen und nicht einmal wahrheitsgemäßen Argumenten loszuwerden.118 Ein Indiz für diese Absicht war bereits die zu seinen Ungunsten endende Auseinandersetzung mit der „Neuen Zeit“ über seinen Artikel „Wege und Mittel im Kampfe gegen den Imperialismus“, bei der es sich nach Radeks Auffassung um eine generelle Klärung seiner Lage in der deutschen Partei und Parteipresse handelte. Die Schriftleitung konterte seine Proteste gegen die Nichtveröffentlichung mit der Herausforderung, der „einfachste Takt“ hätte es verlangt, dass er entweder seinen SDKPiL-Ausschluss berichtet oder – „noch richtiger“ – auf eine Publikation verzichtet hätte, solange er nicht „die Anklage ehrloser Handlungen zurückgewiesen“ hätte. Nachdem die Nachricht über den polnischen Parteiausschluss dem Vorstand der SPD vorlag, drängte Radek die deutsche Parteiführung auf eine rasche Entscheidung darüber, ob sie das Urteil der Bruderpartei akzeptieren oder – wie von ihm favorisiert – durch ein deutsches Parteigericht überprüfen lassen wolle. Am 25. August 1912 bat er seinen Freund Henke in der „Angelegenheit, in der es sich um meine politische Existenz handelt“, brieflich um Beistand und unterrichtete ihn gleichzeitig über das Ergebnis von Gesprächen mit verschiedenen Parteiführern, die offenbar noch unentschieden waren: „Ich habe privatens mit H a a s e 119 und offiziell mit Scheidemann120 und Pfannkuch121 gesprochen und dränge auf eine schnelle Lösung der Frage […]. Der P[artei-]. V[orstand]. hat die Frage bisher noch nicht entschieden. Seine off[iziellen]. Vertreter erklärten mir, daß ich mich einstweilen im Vollbesitze meiner Rechte befinde, daß das weitere nach meiner Verhörung entschieden wird […]. Ich glaube aber, daß weder die Bremer noch 117 Radek an den Parteivorstand der SPD, August 1912; zitiert nach: Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 453. 118 Ebenda, S. 454. 119 Haase, Hugo (1863–1919); Jurist und sozialdemokratischer Politiker; 1911 neben August Bebel zum Parteivorsitzenden gewählt; 1915 als Kriegsgegner Rücktritt vom SPD-Vorsitz; 1917 Mitbegründer der USPD und deren Vorsitzender; 1918 gemeinsam mit Ebert an der Spitze des Rates der Volksbeauftragten; er starb an den Folgen eines Attentats. 120 Scheidemann, Philipp (1865–1939); Journalist und sozialdemokratischer Politiker; seit 1903 MdR; nach dem Tod Bebels im Dezember 1912 Vorsitzender der SPD-Reichstagsfraktion; er rief am 9.11.1918 die Deutsche Republik aus; Februar bis Juni 1919 Ministerpräsident; 1920–1933 erneut MdR. 121 Pfannkuch, Wilhelm (1841–1923); Tischler, Journalist, Gewerkschafter, MdR; seit 1894 im Parteivorstand der SPD; 1919/1920 Alterspräsident der Deutschen Nationalversammlung.

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Leipziger Blätter ruhig zusehen dürfen, wie mir das Genick gebrochen wird [...]. Ich glaube, daß ich weder für Leipzig noch für Bremen als Zeilenrenner arbeite, sondern als Vertreter einer Weltanschauung [...], daß es Pflicht der Bremer und der Leipziger Redaktionen ist, die Forderung an den P.V. zu stellen [...] daß [er] mich einem deutschen Parteigericht überweist.“122

Henke reagierte unverzüglich auf diesen Solidaritätsappell. Am 30. August 1912 setzte der erweiterte Vorstand des Sozialdemokratischen Vereins Bremen die Angelegenheit auf die Tagesordnung und erteilte dem anwesenden Radek ein einstimmiges Vertrauensvotum. Kurz zuvor hatte sich allerdings der zentrale Parteivorstand in Berlin bereits gegen Radek entschieden. Bedingt durch sein Verhalten in der Göppinger Affäre und das ehrenrührige Ausschlussurteil der SDKPiL, aber auch beeinflusst durch Rosa Luxemburg, die den radekfeindlichen Auffassungen von Jogiches in der SPD-Führung Geltung verschaffte123, hatten sich die deutschen Parteiführer am 27. oder 28. August 1912 eindeutig der vordergründigen Sicht des polnischen Hauptvorstands angeschlossen, wonach der Ausschluss Radeks nicht aus politischen Gründen erfolgt war. Obwohl nicht explizit festgestellt, war Radek damit bereits von vornherein die Chance genommen, sich in einem deutschen Parteiverfahren zu rehabilitieren, und nun traf ihn Schlag auf Schlag: Am 1. September 1912 teilte das SPD-Organ „Vorwärts“ unter Bruch des Pseudonyms Radek und Nennung des bürgerlichen Namens Sobelsohn und der Anschrift in Berlin-Halensee ohne jeden weiteren Kommentar der Parteiöffentlichkeit in einer Notiz Radeks Ausschluss aus der SDKPiL mit. Gleichzeitig verschickte der Vorstand innerhalb der Partei seine „Materialien zum Fall Radek“, die das polnische Urteil, die Proteste Radeks und der von ihm zu seiner Verteidigung mobilisierten Rosłamowcy sowie die offizielle Mitteilung des polnischen Hauptvorstandes an die SPD umfassten. Die Tatsache, dass der deutsche Parteivorstand den Ausschluss Radeks aus der SDKPiL akzeptiert hatte und es ablehnte, den Fall innerhalb der SPD überprüfen zu lassen, verdeutlichte der „Vorwärts“ am 3. September 1912 erneut, als er Radek anheimstellte, es bleibe ihm überlassen, „den Instanzenweg gemäß dem Statut der polnischen Partei zu erschöpfen“. Nach dem Bekanntwerden des Urteils setzte sich innerhalb der SPD nur noch die „Bremer Bürger-Zeitung“ für Radek ein. In ihrer Urteilsschelte erklärte sie am 3. September 1912, es möge sein, „daß Radek moralisch nicht einwandfrei dasteht […]: zu dem Menschen, Politiker und Parteigenossen Radek haben wir nach wie vor Vertrauen“. Notwendigerweise müsse das Urteil von einem deutschen Parteigericht nachgeprüft werden. Die „Leipziger Volkszeitung“, deren Solidarität Radek ebenfalls erwartet hatte, ging zu ihm auf Distanz, nachdem ihr Chefredakteur, Paul Lensch, 122 Radek an Henke, 25.8.1912; in: Schüddekopf, Der Revolution entgegen, Dokument 5, S. 483f. 123 Rosa Luxemburg fand als Emissärin von Jogiches auch nach der Parteispaltung stets das Ohr des SPD-Vorstandes, selbst dann, als sie mehr und mehr in Opposition zu ihm geriet. Sie lamentierte zwar, dass sie „nicht mit jedem großen und kleinen Parteiskandal zu den Deutschen laufen“ könne, führte jedoch auch solche Aufträge pünktlich aus. Nettl, S. 546.

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durch den polnischen Hauptvorstand zur Neutralität bewogen worden war124. Im Gegensatz dazu trat jedoch sein Freund Konrad Haenisch, nach anfänglichem Schwanken, in Berlin zielstrebig für ihn ein. Radek hatte in der Reichshauptstadt in dem Glauben gelebt, dass der preußischen Polizei seine Verbindungen zur polnischen Partei verborgen geblieben waren und dass er deshalb nicht Gefahr lief, als unerwünschter Ausländer ausgewiesen zu werden. Nachdem der „Vorwärts“ ihn mit der Notiz vom 1. September 1912 enttarnt und seine Beziehungen zur SDKPiL offengelegt hatte, entschloss er sich aus Sorge, dass ihm in Berlin „das Kesseltreiben in der Öffentlichkeit den Boden polizeilich zu heiß macht“125, zu den letzten ihm noch verbliebenen Parteifreunden nach Bremen überzusiedeln. Am 4. September 1912 verzog er in die Hansestadt ohne zu ahnen, dass man in Berlin keine polizeilichen Maßnahmen gegen ihn erwog, weil man darauf vertraute, die SPD werde schon von sich aus den Fall im Sinne der Ordnungsbehörde regeln und Radek kaltstellen: „Ihn gerade jetzt auszuweisen, würde nicht opportun sein; denn dadurch erhielte seine augenblicklich im Streit befangene Persönlichkeit Märtyrerglorie und würde ihm Gelegenheit zur Reklame gegeben, der Partei aber Schwierigkeiten gemacht werden, in ihrem Bestreben, ihn abzuschütteln.“126

In Bremen wurde er aufgrund seines Mitgliedsbuches des Bezirks Berlin-Wilmersdorf sofort als Mitglied des Sozialdemokratischen Vereins der Hansestadt eingeschrieben. Nachdem aber mittlerweile der Wilmersdorfer Kreisvorstand der Aufnahme Radeks die nach dem Statut erforderliche Zustimmung verweigert hatte und der „Vorwärts“ dies am 6. September 1912 berichtete, konnte Radek nun in der gesamten SPD nicht mehr als Parteigenosse gelten. Mit dieser Entscheidung war zugleich erreicht worden, dass das Parteitagsmandat Radeks hinfällig wurde. Am 7. September 1912 legte Radek in der Vorstandssitzung der Bremer SPD notgedrungen sein Mandat für Chemnitz nieder, da ein in der SPD Nichtorganisierter selbstverständlich nicht zum Parteitag delegiert werden konnte. Dennoch dachte Radek nicht daran, widerstandslos aufzugeben, und er versuchte sich mit Hilfe seiner Bremer Freunde weiter in der deutschen Sozialdemokratie zu behaupten. Weil ihm durch die Verweigerung der Parteimitgliedschaft in Berlin auch das Recht genommen war, sich vor einem deutschen Parteigericht gegen die Anklagen des polnischen Hauptvorstandes zu verteidigen, verfielen Henke und Pannekoek auf einen trickreichen Ausweg: „Unter Berufung auf § 3 des Statuts des Sozialdemokratischen Vereins Bremen, nach dem jede über 18 Jahre alte im bremischen Staatsgebiet wohnende Person, die sich zu den Grundsätzen der SPD bekannte, Mitglied werden konnte, trugen die Bremer Radek ord124 Radek an Henke, undatiert (2.9.1912); zitiert nach Moring, S. 181. 125 Radek an Henke, undatiert (2.9.1912); zitiert nach: Moring, S. 183. 126 Aufzeichnung des Polizeibeamten Lindig, 14.9.1912; zitiert nach: ebenda.

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nungsgemäß in die Mitgliedsliste ein. Radek war – wie Henke triumphierend Hänisch am 7. September schrieb – ,jetzt also funkelnagelneues Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands‘.“127

Radek ersuchte nun den bremischen Parteivorstand, ein Schiedsgericht gegen ihn einzusetzen. Darüber sollte auf der Mitgliederversammlung am 12. September 1912 beschlossen werden. Um die Genossen darauf vorzubereiten, verfasste Knief einen von Radek beeinflussten Leitartikel für die Bremer Bürgerzeitung, der am 9. September unter der Überschrift „Der Fall Radek“ erschien. Darin hieß es, dass die Handlungsweise des polnischen Hauptvorstandes von „tiefem Haß“ und „Skrupellosigkeit“ geprägt sei; man habe einen politischen Tendenzprozess inszeniert. Der deutsche Parteivorstand habe dem Urteil aus politischen Gründen zugestimmt, da Radek sich durch seinen Linksradikalismus und die Göppinger Affäre „bei den leitenden Kreisen der Partei und den Revisionisten gründlich verhaßt gemacht“ hätte. Der Artikel fiel in Bremen auf fruchtbaren Boden – die Mitgliederversammlung stimmte der Bildung einer Untersuchungskommission mit großer Mehrheit zu. Sie sollte den Fall Radek, den der zentrale Parteivorstand für erledigt hielt, befriedigend klären. Rosa Luxemburg hingegen, sandte eine scharfe Erwiderung an die „Bremer Bürger-Zeitung“, in der sie die gegen den polnischen Hauptvorstand gerichtete Polemik als „so ziemlich das Unerhörteste, was man sich vorstellen kann“ bewertete und „einfach unverzeihlich“ fand. Für widersinnig hielt sie es auch, „gewaltsam die Radeksche Person zur Fahne des Radikalismus zu machen“.128 Als Redakteur Knief sich weigerte, die Antwort abzudrucken, erschien die Erklärung unter der Überschrift „Blinder Eifer“ dann einen Tag vor dem Chemnitzer Parteitag im „Vorwärts“ vom 14. September 1912. Am Fall Radek war damit die bisherige Allianz zwischen Rosa Luxemburg und den Bremer Linksradikalen zerbrochen.129 Am gleichen Tage feuerte die „Bremer Bürger-Zeitung“ Radeks Breitseite auf Kautsky und das Parteizentrum ab und veröffentlichte den von der „Neuen Zeit“ abgelehnten Aufsatz Radeks zur Imperialismusdebatte, „Wege und Mittel im Kampfe gegen den Imperialismus“, der – unmittelbar vor dem Parteitag an die Parteiöffent-

127 Radek an Henke. a.a.O. 128 Rosa Luxemburg, „Blinder Eifer“, „Bremer Bürger-Zeitung“, Nr. 202, 2. Beilage, vom 19.9.1912; in: Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 489. Der Artikel wurde zuerst im „Vorwärts“ vom 14.9.1912 veröffentlicht. 129 Wie tief die Kluft war, die sie nun trennte, machte ein Brief Rosa Luxemburgs an Alfred Henke vom 15. November 1912 deutlich. Er habe, so schrieb sie, „die polnische „Partei und ihre Instanzen beschimpft – ohne die geringste Kenntnis der Verhältnisse – bloß eines Individuums wegen und bloß unter den Einflüsterungen dieses Individuums […]. Sie haben dem Ansehen des Bremer Blattes und der Bremer Organisation aufs schwerste geschadet, und das alles, um ein Individuum zu retten, das für sie offenbar zum Inbegriff des Radikalismus geworden ist. Ich nenne das keine ernste radikale Politik, sondern Cliquenwirtschaft.“ Moring, S. 185.

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lichkeit gerichtet – die gegensätzlichen politischen Standpunkte pointiert formulierte. Die Bremer Redaktion merkte dazu an: „Wir konnten uns zu dem Standpunkte der Redaktion der ,Neuen Zeit‘ nicht bekennen, hielten es vielmehr für geboten, angesichts der Tatsache, daß die Frage des Imperialismus zu den wichtigsten gehört, die auf dem Chemnitzer Parteitag zur Verhandlung kommen, und uns ferner der Genosse Radek als einer der Berufensten einer erscheint, über diese Frage zu orientieren, den vorstehenden Artikel zum Parteitag zu veröffentlichen.“130

Auf dem Parteitag in Chemnitz vom 15. Bis 21. September 1912 wurde der Richtungsstreit in der Partei jedoch von der Diskussion über den „Fall Göppingen“ überdeckt. Friedrich Ebert, der den Geschäftsbericht vorzutragen hatte, konnte die unzutreffende Berichterstattung Radeks zurückweisen. Es sei Radek vor allem darum gegangen, „seinen Artikel in der ,Leipziger Volkszeitung‘ zu rechtfertigen und Spektakel zu machen“. Auf die Frage der Parteimitgliedschaft eingehend, rief Ebert aus: „Ja, dieser Mann geht in so unverantwortlicher Weise zu Werke, obgleich er selbst nicht die Verpflichtung in sich fühlt der Partei als Mitglied anzugehören. (Lebhafte Bewegung und Hört! Hört!) Alle gegenteiligen Behauptungen Radeks über seine Mitgliedschaft sind unwahr.“131 Für die Mehrzahl der Delegierten war Radek durch den Ausschluss aus der SDKPiL moralisch und rechtlich gerichtet, und ihre Auffassungen über den Fall Radek wurden von Vorurteilen und Aversionen geprägt. Der Parteivorsitzende August Bebel verlieh dieser Mehrheitsmeinung Ausdruck, als er erklärte: „Es wird Zeit, daß wir über diese geradezu ekelhafte Angelegenheit endlich hinwegkommen. Es ist schon zuviel darüber debattiert worden. Ich bitte zu beachten, daß die Beschuldigung, der württembergische Landesvorstand habe sich eine wucherische Erpressung erlaubt, von einer Persönlichkeit ausgegangen ist über deren moralische Qualitäten, nach dem was wir hier gehört haben, wohl keinerlei Meinungsverschiedenheiten bestehen. Ich will nicht einmal der Persönlichkeit die Ehre antun, ihren Namen zu nennen.“132

Der Bremer Parteivorsitzende Henke war einer der wenigen, die sich vor Radek stellten. Er warf Ebert vor, die Frage der Parteimitgliedschaft überzubetonen, um das Sachproblem des Richtungsstreites zu verwischen. „Ich will Ihnen mal was sagen, Genossen. Der Radek mag ein Lump sein. Aber Sie müssen es ihm beweisen“. Sollte dieser Beweis geführt werden, dann sei auch dem Parteivorstand Fahrlässigkeit vorzuwerfen, da er es zugelassen habe, dass Radek über viele Jahre hinweg Mitarbeiter 130 „Bremer Bürger-Zeitung“, 14.9.1912; zitiert nach: Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 469. 131 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten in Chemnitz vom 15. bis 21. September 1912, S. 214. 132 Ebenda, S. 253.

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führender Parteiblätter gewesen sei.133 Als Ebert kategorisch erklärte, im Hinblick auf die Parteimitgliedschaft Radeks gebe es „nichts mehr zu untersuchen“134, beugte sich Henke dem Druck des Vorstands und teilte dem Parteitag mit, dass nach seiner telefonischen Anordnung Radek von der Mitarbeit an der „Bremer Bürger-Zeitung“ suspendiert worden sei, bis „der ganze Fall erledigt ist“135. Am 19. September konnte man in dem Blatt lesen, der „Genosse Radek“ habe seine Mitarbeit an der Zeitung „bis auf weiteres eingestellt“. Alles in allem, führte jedoch in Chemnitz die Erörterung über Radeks Stellung in der SPD zu keinem greifbaren Ergebnis. Der Parteivorstand wurde aufgefordert, den Fall weiter zu prüfen, und dem Gebrandmarkten verblieb es lediglich, in einem an den Parteitag gerichteten Schreiben zu protestieren: „Außerstande, auf die gegen mich wegen der Göppinger Affäre erhobenen Angriffe auf dem Parteitag selbst antworten zu können, halte ich es doch für notwendig, nochmals mit aller Bestimmtheit auszusprechen, daß ich in den Jahren 1908–1911 in Berlin und Leipzig der Organisation unter Erfüllung aller Pflichten angehörte. Die entgegengesetzten Behauptungen beruhen auf Irrtum, den vor der Bremer Untersuchungskommission aufzuklären ich Gelegenheit haben werde.“136

In der Tat gelang es Radek unmittelbar nach dem Parteitag durch eigene Recherchen in Leipzig seine SPD-Mitgliedschaft von Oktober 1909 bis April 1911 zu belegen, und Henke und Knief sahen sich gehalten, dies dem Parteivorstand in einem geharnischten Brief mitzuteilen. „Wir haben“, so schlossen sie das Schreiben, „den Genossen Radek ersucht, seine nicht nur von uns geschätzte Mitarbeit an der Bremer Bürgerzeitung wieder aufzunehmen, und freuen uns, mitteilen zu können, daß er dem entsprochen hat.“137 Ab dem 2. Oktober 1912 wurden Radeks Artikel wieder abgedruckt. Am 4. November 1912 begann seine außenpolitische Leitartikelserie „Der Türkei Glück und Ende“ und in der Folge erschienen zahlreiche vollgezeichnete Buchbesprechungen. Weitere ungezeichnete Artikel um die Jahreswende 1912/13 lassen nach Thematik und Stil Karl Radek als Verfasser vermuten.138 Der Fall Radek, der mit seinen Auseinandersetzungen bereits die Exponenten der Linken untereinander verfeindet hatte, führte im weiteren Verlauf zum Streit innerhalb der SPD in Bremen und zum Konflikt zwischen den hansestädtischen Linksradikalen und dem zentralen Parteivorstand in Berlin. Als treibende Kraft gegen Radek agierte unverändert der Hauptvorstand der SDKPiL, der vertreten durch Rosa Luxemburg, beim deutschen Parteivorstand auf eine Entscheidung in der Sa133 Ebenda, S. 237f. 134 Ebenda, S. 288. 135 Ebenda, S. 287. 136 Ebenda, S. 515. 137 Henke/Knief an den SPD-Vorstand, undatiert (Ende September 1912); zitiert nach: Moring, S. 187. 138 Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 470.

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che drängte139. Die Polen lehnten ein Vermittlungsangebot des SPD-Vorstandes am 9. Oktober 1912 ab und stellten dann am 4. Februar 1913 die deutsche Führung vor die Alternative, den Fall entweder selbst zu untersuchen oder Radek aus der SPD auszuschließen. In einem von Julian Marchlewski-Karski unterzeichneten Brief des SDKPiL-Hauptvorstandes an den Parteivorstand der SPD wurde Radek bezichtigt „die Sache durch Winkelzüge bis ins Unendliche zu verschleppen“, und weiter: „Es geht jedoch nicht an, daß ein wegen Diebereien aus einer Bruderpartei ausgeschlossenes Subjekt in der deutschen Partei öffentlich und ostentativ tätig sein dürfte und sich auf diese Tätigkeit öffentlich – wie er dies tut – berufen könnte, um das polnische Urteil als belanglos und jeder moralischen und juristischen Bedeutung in den Augen der deutschen Genossen entbehrend hinzustellen. – Da müssen wir uns an Sie halten und ersuchen Sie, diesem unerhörten und absolut unzulässigen Zustande ein Ende zu bereiten. – Der deutschen Partei steht frei, entweder das Urteil der polnischen Sozialdemokratie als für sich maßgebend zu erachten. Dann muß aber Radek aus ihren Reihen formell und öffentlich entfernt werden, oder die deutschen Parteiinstanzen wollen für sich die Angelegenheit R. untersuchen und zu einem eigenen Urteil kommen […]. Eines von beiden muß aber geschehen.“140

Der Parteivorstand der SPD wählte das erstere. Der Sozialdemokratische Verein in Bremen wurde am 6. Februar 1913 aufgefordert, Radek die Mitgliedschaft abzuerkennen. Er sei von einer der Sozialistischen Internationale angehörenden Bruderpartei ausgeschlossen worden, und solange er sich nicht in der SDKPiL rehabilitiert hätte, könnte er nicht als Mitglied der SPD geführt werden. Bei den Bremer Linksradikalen hatten die Vorgänge nach dem Chemnitzer Parteitag den Eindruck verfestigt, dass der Parteivorstand nur darauf abziele, „mit aller Macht den unbequemen Kritiker [Radek] niederzuschlagen“141. Henke interpretierte die Kampagne gegen Radek als Angriff auf den Linksradikalismus. Damit machte er den Fall zum Prüfstein der politischen Einstellung der Parteimitglieder, was zum heftigen Streit mit der reformistischen Parteiminderheit in der Hansestadt führte. Jetzt scheute er allerdings die Kraftprobe mit dem Parteivorstand in Berlin und war gewillt, Radek preiszugeben. Noch am Tage der Berliner Aufforderung, Radek als Parteimitglied zu streichen, schrieb er aus der Reichshauptstadt nach Bremen: „Lieber Radek! […] Der deutsche Parteivorstand behauptet […] so lange sie sich nicht rehabilitiert, haben die Bremer Genossen kein Recht, einen von einer ,der Internationale angeschlossenen Bruderpartei Ausgeschlossenen‘ in der Parteiorganisation als Mitglied zu führen. Der Parteivorstand fordert deshalb die Parteiorganisation in Bremen auf, Sie aus der Mitgliederliste zu streichen […]. Ich befürchte daher, daß man in Bremen die Streichung ihres Namens aus der Mitgliederliste vornehmen wird; umso mehr muß ich 139 Nettl, Rosa Luxemburg, S. 452. 140 Zitiert nach: Moring, S.188. 141 Pannekoek, „Bremer Bürger-Zeitung“, 10.10.1912.

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das befürchten, als sie zu der Zeit, da sie in Bremen aufgenommen wurden, faktisch nicht Mitglied der Partei waren […]. Formell sind die Berliner, wie sie wissen, im Rechte […]. Was Ihre Mitarbeit an der Bürger-Ztg. betrifft, so bin ich der Meinung, daß es nach dem jüngsten Beschluß des deutschen Parteivorstandes für die Redaktion und auch für Sie das Klügste ist, daß Sie einstweilen ganz unauffällig, soll heißen ohne Mitteilung in der Zeitung, die Mitarbeit bis auf weiteres einstellen. Ich bitte Sie darum, es zu tun.“142

Von Knief und Pannekoek unterstützt, dachte Radek gar nicht daran, sich kurzerhand beiseiteschieben zu lassen. Am 8. Februar 1913 überzeugten er und seine beiden Freunde in einer Unterredung Henke nochmals davon, dass es sich nicht um eine Auseinandersetzung um die Rechtmäßigkeit des Parteiausschlusses handele, sondern um einen politischen Kampf für den Linksradikalismus. „Der trotz seiner massigen Gestalt ewig Schwankende“ und „aus Bedenklichkeiten und Katzenjammer“ nicht herauskommende Henke143 wurde noch einmal umgestimmt. Die von ihm geführte Bremer SPD stellte sich offen gegen den Parteivorstand und lehnte es ab, Radek als Mitglied zu streichen. Allerdings erschienen auf den Rat Henkes hin, die Tätigkeit an seinem Blatt „ganz unauffällig“ einzustellen, dort keine von Radek gezeichneten Artikel mehr. Vieles spricht aber dafür, dass viele ungezeichnete oder mit der Bemerkung „Man schreibt uns“ eingeleitete Texte aus Radeks Feder stammen. Von ihm vollgezeichnet waren nur noch die Leitartikelserie „Kapitalistisches Wettrüsten, Volksheer und Sozialdemokratie“ vom 11. bis 26. März 1913, die sogar den Beifall August Bebels fand144, und die ab 16. Juli 1913 veröffentlichte Serie „Miliz, Demokratie und Sozialdemokratie“. Dann verschwand sein Name aus den Spalten der „Bremer Bürger-Zeitung“, um dort erst für kurze Zeit nach dem Kriegsausbruch 1914 erneut aufzutauchen.145 Auf Veranlassung von Pannekoek und Knief verfasste Radek im März 1913 die Broschüre „Meine Abrechnung“146 in der er sich auf 63 eng bedruckten Seiten vehement gegen die Vorwürfe des polnischen Hauptvorstandes verteidigte. Die nach Kniefs Meinung ausgezeichnete Apologie sollte Radek und seinen Bremer Freunden

142 Henke an Radek, 6.2.1913; zitiert nach: Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 489ff. 143 Paul Frölich, in: Einleitung zu : Radek, In den Reihen der deutschen Revolution, S.11. 144 Knief hatte die Artikel Bebel zugeschickt, der sich höflich bedankte und Radek dafür lobte, dass er damit geholfen habe, die Militärfrage ins Blickfeld der Parteiöffentlichkeit zu rücken. Bebel an Knief, 21.4.1913; in: Franz, S. 478. 145 Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 470. 146 Wiedergabe wesentlicher Inhalte dieser Verteidigungsschrift: Oben, Kapitel 3., passim. Sie erschien 1913 im Selbstverlag Radeks und wurde von der Buchhandlung der „Bremer Bürger-Zeitung“ (und in Krakau) zum Preis von 30 Pfennig vertrieben. Zu dem Titel seiner Rechtfertigung wurde Radek vermutlich durch eine Sammlung satirischer Gedichte seines Bremer Genossen Rudolf Franz angeregt, die 1911 als „Abrechnung“ erschienen und von Radek besprochen worden war. Haenisch an Franz, 23.8.1911 in: Franz, S. 466 und ders., 8.3.1912; in: ebenda, S. 470.

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„tüchtige Dienste“ leisten147. Kurz zuvor hatte auch die im September 1912 gewählte bremische Untersuchungskommission die Arbeit aufgenommen. Das Ende Juli 1913 vorliegende Untersuchungsergebnis wurde am 14. August 1913 in der „Bremer Bürger-Zeitung“ publiziert. Es spiegelte die Meinungsverschiedenheiten zwischen der linksradikalen Mehrheit und der reformistischen Minderheit der Bremer SPD wider. Die Linken bewerteten die polnischen Vorwürfe als entweder erledigt und unerheblich oder aber als nicht ausreichend bewiesen; sie rechtfertigten keinesfalls einen Parteiausschluss. Im Gegensatz dazu folgten die Reformisten der Argumentation des deutschen Parteivorstandes und sprachen Radek die Berechtigung ab, Parteimitglied zu sein. Am darauffolgenden Tage stimmte die Bremer Mitgliederversammlung dem Mehrheitsvotum des Untersuchungsausschusses zu. Beeindruckt von Henkes neuerlichem rückhaltlosen Einsatz für Radek und dessen geschicktem Plädoyer in eigener Sache, erkannte man Radek als vollberechtigten Parteigenossen an. Im unmittelbaren zeitlichen Vorfeld des Jenaer Parteitages der SPD gewann die Entwicklung des Falles Radek nochmals an Dynamik. Ende August 1913 wurden Anschuldigungen Thalheimers bekannt, der seinen ehemaligen Mitstreiter in Göppingen des Diebstahls bezichtigte. Er behauptete in einem Brief an Henke, Radek habe sich widerrechtlich einen seiner Mäntel angeeignet148. Henkes Vertrauen in die Glaubwürdigkeit seines Protegés wurde dadurch so grundlegend erschüttert, dass er nunmehr gewillt war, sich von seinem Mitarbeiter Radek zu trennen. Dennoch akzeptierte er den schriftlichen Rat Pannekoeks, im Hinblick auf die für die Bremer Linke negative politische Signalwirkung dieses Schritts, die Entscheidung auf die Tage nach Jena zu verschieben. Pannekoek erklärte, die entscheidende Frage sei nicht die Ehrlichkeit Radeks in Eigentumsangelegenheiten, „sondern was er politisch bedeutet“. Durch seine Leistungen für Henkes Blatt und die Parteilinke habe er „moralische Ansprüche auf Anerkennung, auf Dankbarkeit unsererseits, und daher darf er nicht so ohne weiteres abgesägt werden“. Auf den Diebstahlvorwurf eingehend, argumentierte Pannekoek in seinem holperigen Stil: „So wie Sie [Henke] mir die Geschichte mit dem Überzieher mitteilen […] kommt sie mir vollkommen glaubhaft vor; sie sieht ihm [Radek] ähnlich […]. R[adek]. findet bei 147 Knief an Henke, 27.2.1913; zitiert nach: Moring, S.189. Demgegenüber kommt Margarete Buber-Neumann in ihrer Aversion gegen den „moralisch angeschlagen[en]“ Radek zu einer wenig vorurteilsfreien Wertung, wenn sie schreibt: „In […] ,Meine Abrechnung‘ versuchte Karl Radek auf sehr ungeschickte Weise, alle diese Vorwürfe und Verdächtigungen zu entkräften. Doch gelungen ist es ihm nicht.“ Buber-Neumann, S. 86. Zutreffender ist die Beurteilung von RadekBiograph Tuck: „In `Meine Abrechnung´ legt Radek seinen Fall mit Verstand, Klarheit und überwältigender Logik dar.“ Tuck, S. 30. 148 Als die Angelegenheit Anfang 1914 vor ein privates Schiedsgericht kommen sollte, erklärte Thalheimer sich gegenüber Haenisch „bereit, auch ohne Schiedsgericht eine Erklärung abzugeben, daß bei dem ganzen Vorgang von einem Diebstahl natürlich gar keine Rede sein könne und daß er auch selbst R.s Handlung niemals als Diebstahl qualificiert habe.“ Haenisch an Franz, 13.1.1914; in: Franz, S. 482.

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Th[alheimer]. in G[öppingen].einen alten Überzieher, vielleicht gibt Th. ihm diesen, für die Reise zu benutzen. R. behält das Ding, denkt nicht weiter daran, sieht ihn als sein Besitztum an; seine Frau findet ihn einmal und versetzt ihn. Ist das ein Eigentumsverbrechen, das den Täter ehrlos macht und unwürdig, seine Talente, die wir so gut brauchen können, für unseren Kampf zu verwenden? Aber mehr noch: er ist als Kamerad nach G. zu Th. gekommen, um einzuspringen, ihm Ferien zu ermöglichen, hat ihm vorher Artikel geliefert, ohne sie bezahlen zu lassen; soll das nicht mitzählen, wenn er mal von diesem Kameraden einen Überzieher mitnimmt, der vielleicht keine 20 M[ark] wert ist? Was soll man von einem Kameraden denken, der (sic!) damals so bereitwillig geholfen wurde und nun hinterher über den Überzieher Redensarten umlaufen läßt. Mag Th. noch so sehr Groll haben, weil R. ihn damals tiefer in die unpopuläre [Göppinger] Affäre hineinzog, als ihm lieb war – nachdem dieser ihm derart geholfen hat […] , hätte er jetzt schreiben müssen: diesen Überzieher hat er mit Recht mitgenommen. Wenn die Sache genau so steht, wie es hiernach scheint, stände Th. der ,Bestohlene‘ niedriger in meiner Achtung als der ,Dieb‘.“149

Für Flankenschutz sorgte auch Haenisch in Berlin. „Das Allermeiste in der Sache gegen R. Vorgebrachte ist elender Emigrantenklatsch“150, urteilte er und entschloss sich dazu, eine Unterschriftenaktion für Radek zu initiieren. Nachdem in der SPD die juristische Problematik des Falles im Vordergrund stand, griff er im – Gegensatz zur politischen Wertung der Angelegenheit durch Pannekoek – die zweifelhafte Rechtslage des polnischen Ausschlussurteils an. Wie bereits Knief, hatte er sich in diesem Sinne zuvor schon an Bebel gewandt, indes ohne den Parteivorsitzenden zur Revision seiner negativen Beurteilung Radeks bewegen zu können. Bei seinem Werben um Unterschriften unterstrich Haenisch, es handele sich „durchaus nicht um eine Richtungs-, sondern um eine Rechtsfrage“. Radek müsse „ein ordentliches Verfahren nach deutschem Parteirecht zuteil werden. Das polnische Verfahren war nichts anderes als eine e l e n d e F a r c e “.151 Ein inhaltlich gleichlautendes Manifest, das Angehörige der Parteiprominenz aller Richtungen vom Linksaußen Franz Mehring bis zum Revisionisten Heine152 unterzeichnet hatten, erschien am 28. August 1913 in der „Bremer Bürger-Zeitung“. Die SPD-Führung in Berlin ließ diese außerordentliche Aktion völlig unbeeindruckt. Der Parteivorstand beharrte auf der Streichung der Mitgliedschaft Radeks. Als acht Tage vor Beginn des Parteitags in Jena die Vorstandsanträge veröffentlicht wurden, befand sich darunter auch die auf den Fall Radek gemünzte „Resolution 45“, in der es hieß: 149 Pannekoek an Henke, 11.9.1913; in: Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 496 (Dokument 10). 150 Haenisch an Franz, 13.9.1912; in: Franz, S. 475. 151 Haenisch an Heine, 19.8.1913; zitiert nach: Moring, S.  191. Vgl. auch Haenisch an Franz, 13.9.1912; in: Franz, S. 474f. 152 Heine, Wolfgang (1861–1944); Anwalt und Notar; SPD-Mitglied seit 1898; MdR; 1918/19 preußischer Justizminister; 1919–1920 preußischer Innenminister; 1933 Emigration in der Schweiz.

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„Personen, die aus einer dem Internationalen Sozialisten-Bureau angeschlossenen Bruderpartei aus Gründen, die auch in der deutschen sozialdemokratischen Partei zum Ausschluß führen, ausgeschlossen worden sind, können in der sozialdemokratischen Partei Deutschlands ohne Zustimmung der Partei, die den Ausschluß vollzogen hat, die Mitgliedschaft nicht erwerben.“153

Auf dem Parteitag in Jena vom 14. bis 20. September 1913 empfahl die von den Delegierten gewählte Beschwerdekommission, die den Fall Radek formell zu prüfen hatte, die Annahme der „Resolution 45“ und ihre rückwirkende Anwendung auf Radek. Der Antrag Karl Liebknechts, die Angelegenheit an das Internationale Büro der Internationale zu überweisen, wurde ebenso verworfen, wie Rosa Luxemburgs neuerlicher Vorschlag, einer Untersuchung durch ein deutsches Parteigericht; er war ohnedies nur taktischer Natur und in der Gewissheit seiner Ablehnung vorgetragen worden. In der Abstimmung wurde die Resolution des Vorstands mit übergroßer Mehrheit gebilligt. Dennoch stieß der als „Lex Radek“ bekanntgewordene Jenaer Beschluss mit seiner rückwirkenden Kraft nicht nur auf den Protest Mehrings, der ihn als „Schandfleck der Partei“ verurteilte; für Haenisch war er „schreiendes Unrecht“ und selbst die erklärten „Revisionisten“ Heilmann154 und Heine kritisierten hart das ungesetzliche Vorgehen. Sogar Kautsky musste voller Unbehagen einräumen, der Vorstand habe in der Sache „nicht glücklich“ operiert.155 Nachdem Karl Radek auf Beschluss des Parteitages nicht länger SPD-Mitglied sein durfte, lag sein weiteres Schicksal erneut in den Händen des Sozialdemokratischen Vereins Bremen. Dort war es über den Gegensatz zwischen Reformisten und Radikalen hinaus, in der Auseinandersetzung um die Lex Radek zur völligen Zersplitterung der Linken und zur Palastrevolution gegen Henke gekommen. Wahrscheinlich beraten von Henke, Pannekoek und Knief, beendete Radek diese Zerreißprobe im Kampf um seine Parteimitgliedschaft, indem er nun freiwillig den Parteiaustritt erklärte. Auf der Bremer Mitgliederversammlung am 14. Oktober 1913 wurde ein Schriftstück Radeks verlesen, in dem er erklärte: Da der Erweiterte Parteivorstand meine, dass eine Nichtstreichung einem Disziplinbruch [gegenüber den Berliner Parteiführern] gleichkomme, sehe er sich genötigt, aus dem Sozialdemokratischen Verein Bremen auszutreten. Damit gehörte er nicht mehr der SPD an.

153 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten in Jena vom 14.–20. September 1913, S. 183. 154 Heilmann, Ernst (1891–1940); Publizist und sozialdemokratischer Politiker; 1909–1917 Chefredakteur der „Chemnitzer Volksstimme“; 1940 im KZ Buchenwald verstorben. Heilmann kritisierte in seinem Aufsatz „Parteijustiz“ die „Lex Radek“ 1913 mit den Worten: „Ein solches Strafgesetz mit rückwirkender Kraft konnte der durch den Ärger über Radeks Göppinger Treiben über alle Grenzen der Gerechtigkeit herausgerissene Parteivorstand nur durch die wildeste Demagogie durchsetzen“; zitiert in: Schorske, S. 324. 155 Vgl. Moring, S. 193.

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Bereits zuvor war Henke allerdings von Mehring und Haenisch in Berlin gedrängt worden, Radek auch weiterhin als Mitarbeiter zu halten.156 Entscheidend sollte es deshalb sein, dass die Bremer Lokalorganisation mit knappster Mehrheit dem Vorschlag Pannekoeks zustimmte, dass „ungeachtet der Entscheidung über die Mitgliedschaft, der weiteren Mitarbeit Radeks an der ,Bremer Bürger-Zeitung‘ nichts im Wege steht“. So stand ihm weiterhin ein Medium zur Verfügung, in dem er die Ideen und Anschauungen des Linksradikalismus propagieren konnte, zumal auch die Zeitungskommission der hansestädtischen SPD die weitere Mitarbeit Radeks entschieden billigte, sofern er sich von parteiorganisatorischen Themen fernhielt. Der Betroffene selbst, kommentierte dies später mit den Worten: „[…] während vieler Jahre bot die Bremer [Bürger-]Zeitung ein Schauspiel ohnegleichen in der internationalen Arbeiterbewegung: Ein Kämpfer, ausgeschlossen aus zwei Parteien, behandelte in einer der besten Parteizeitungen nicht nur alle Fragen der allgemeinen Politik, sondern auch alle Fragen der Taktik der Partei.“157

Über Haenisch und Dittmann158 brachte Knief die Artikel Radeks zudem in Nordhausen und Solingen unter. Haenischs Vermittlung war es auch zu verdanken, dass Radek seine Korrespondententätigkeit für die „Leipziger Volkszeitung“ ab 1. April 1914 wiederaufnehmen konnte. Mit dem Ausscheiden aus der der SPD war Radeks publizistische Einflussnahme auf die Entwicklung des deutschen Linksradikalismus also keineswegs gebrochen.159 Radek gelang es jedoch nicht, seine Rehabilitierung in der deutschen Sozialdemokratie zu erreichen. Nach dem Freispruch durch die interfraktionelle Untersuchungskommission der russischen Sozialdemokraten im Februar 1914, hatte sich die paradoxe Situation ergeben, dass die RSDRP und die SDKPiL-Opposition („Rosłamowcy“) Radek als Parteimitglied bestätigten, während die SPD und ein Teil der polnischen Sozialdemokratie (SDKPiL) seine Parteizugehörigkeit verneinten. Die osteuropäische Parteientwicklung am Vorabend des Ersten Weltkrieges ließ die Absurdität der Situation besonders deutlich werden: – Die „Rosłamowcy“ boten Radek ein Mandat für den bevorstehenden Kongress der Internationale in Wien an, wobei sein Auftreten als Delegierter in Wien ihn eo ipso auch für die SPD rehabilitiert hätte. – Eine zweite Möglichkeit, den Fall innerhalb der polnischen Sozialdemokratie zu erledigen, ergab sich aus einem Einigungsantrag, den der Hauptvorstand der

156 Haenisch an Franz, 9.10.1913; in: Franz, S. 481. 157 Radek, Avtobiografija, Sp. 153f. 158 Dittman, Wilhelm (1874–1954); Tischler; Redakteur in Bremerhaven und Solingen, SPD-MdR; als Kriegsgegner 1917 Wechsel zur USPD; 1918 Mitglied des Rats der Volksbeauftragten. 159 Vgl. Moring, S.193f. und S. 197 sowie Franz, S. 481.

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SDKPiL den „Rosłamowcy“ gemacht hatte und bei dem auch die Bereinigung der Affäre Radek Verhandlungsgegenstand sein sollte.160 In Anbetracht dieser für Radek günstigen Strömungen, stellten Henke und der wieder mit Radek versöhnte Lensch in der SPD-Reichstagsfraktion am 15. Mai 1914 den Antrag, eine Untersuchungskommission der Fraktion einzusetzen, um den Fall zu prüfen und gegebenenfalls den nächsten Parteitag in Würzburg zu veranlassen, „den voreilig gefaßten Jenaer Beschluß wieder aufzuheben“. Henke appellierte an seine Fraktionskollegen, Radek wieder als Genossen zu akzeptieren: „Bedenkt der Parteivorstand nicht, daß der von uns verstoßene Radek als Vertreter der russischen Gruppen im Internationalen Büro und auf dem Kongreß deren Interessen wahrnehmen kann? Es ist Torheit, Radek aus der deutschen Partei auszuschließen und im Internationalen Büro mit ihm eventuell die Interessen des gesamten Proletariats zu vertreten. Ist er dort würdig genug, ist er auch würdig, Mitglied der deutschen Partei zu sein.“161

Gegen den Protest Eberts und Scheidemanns beschloss die Fraktion die Gründung eines Untersuchungsausschusses, dem neben anderen auch Karl Liebknecht und Gustav Noske162 angehörten. „Damit hatte der SPD-Vorstand eine entscheidende Schlacht im Falle Radek verloren.“163 Die Aufhebung der „Lex Radek“ war in den Bereich des Wahrscheinlichen gerückt, wurde aber durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhindert, wie auch Radek in seinen Memoiren mokant vermerkt: „Bald räumte die interfraktionelle Kommission der russischen Sozialdemokratie die persönlichen Anschuldigungen restlos aus, die in der Hitze des Fraktionskampfes in Polen gegen mich erhoben worden waren, und mir wäre wohl auf dem folgenden deutschen Parteitag die Ehre zuteil geworden, erneut Mitglied der deutschen Sozialdemokratie zu werden, wenn die historische Entwicklung nicht so verlaufen wäre, daß es für einen Revolutionär keine Ehre mehr war, Mitglied der deutschen Sozialdemokratie zu sein. Der Parteitag, auf dem mein Fall wiederaufgerollt werden sollte, kam nicht mehr zustande. Am 1. August 1914 begann der Weltkrieg; die deutsche Sozialdemokratie wechselte auf die Seite des Imperialismus über.“164

*** 160 Radek an Henke, 26.6.1914; vgl. Moring, S. 198. 161 Protokoll der Fraktionssitzung, 15.5.1914; zitiert nach: Moring, S. 198. 162 Noske, Gustav (1868–1946); Korbmacher; seit 1906 SPD-Reichstagsabgeordneter und Experte für Militär- und Kolonialfragen; 1918 ging er als Gouverneur von Kiel gegen den Matrosenaufstand vor; 1919 ließ er als Mitglied des „Rats der Volksbeauftragten“ den Spartakistenaufstand und die Bremer Räterepublik niederwerfen; 1919–1920 Reichswehrminister. 163 Moring, S. 198. 164 Radek, Avtobiografija, Sp. 154.

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Als Zweiundzwanzigjähriger war Karl Radek nach Deutschland gekommen und bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges war er achtundzwanzig Jahre alt. Sein journalistisches und rednerisches Wirken in diesem Lebensabschnitt hatte ihm den Ruf verschafft, „das Wunderkind des internationalen revolutionären Sozialismus“165 zu sein. „In der Zweiten Internationale machte er sich bald als hochbegabter, junger radikaler Flugschriftenverfasser und aggressiver Redner […] einen Namen.“166 In der SPD war er „als radikaler geistreicher Pamphletist berühmt geworden“.167 Er schrieb in den Vorkriegsjahren hunderte von Artikeln sowie zahlreiche Broschüren und Redetexte, die ihn als einen exzellenten, vielseitig belesenen Journalisten und „theoretischen Kopf von großer Klarheit und Konsequenz des Denkens“ ausweisen.168 „Er hatte eine Begabung dafür, direkt zum Kern einer Sache zu kommen und überzeugende Argumente aufzubauen. Mancher Journalist beneidete ihn um den kraftvollen Gebrauch der deutschen Sprache.“169 Seine Arbeiten befassten sich hauptsächlich mit rüstungspolitischen Fragen, analytischen Betrachtungen des deutschen Imperialismus, möglichen politischen Aktionsmöglichkeiten der Arbeiterschaft und dabei auch immer wieder mit dem Thema des „revolutionären Instinkts der Massen“. Das Blatt der Bremer Linken, die „Bremer Bürger-Zeitung“, wurde zu seinem wichtigsten Sprachrohr in Deutschland. „Kaum eine Zeitung dieses minderen Ranges im kaiserlichen Kolonialreich kümmerte sich so um die Begebenheiten in Übersee. Radeks Blick für tatsächlich oder scheinbar Typisches weit jenseits der Grenzen Deutschlands und Europas wurde hier geschult und geschärft.“170 Schließlich prägte er selbst das Gesicht des Blattes. Als Henke 1912 sein Reichstagsmandat in Berlin antrat, agierte Radek in Bremen als heimlicher Chefredakteur, wenngleich Knief der nominelle Vertreter des abwesenden Herausgebers war. In einem 1913 als Freundschaftsdienst für Radek verfassten Schreiben an Henke, würdigte Pannekoek die Rolle Radeks insgesamt zutreffend: „Und für uns allen (sic!) ist R. etwas anderes als irgendein Korrespondent, der mal Artikel lieferte. Jeder weiß, daß er durch seine Artikel, gezeichnet oder nicht, in hohem Maß die Haltung und den Wert, den Charakter der Zeitung bestimmt hat […]. Er ist fast mehr als ein Redakteur für das Blatt gewesen, hat ihm in hohem Maße seinen Stempel aufgedrückt […]. Sie wissen, wie jedermann weiß, daß in dem verflossenen Jahr, während sie im Reichstag waren, die Bremer Bürgerzeitung nur durch Radeks Mitarbeit zu einem wichtigen politischen Factor in unserer Partei geworden ist; ohne ihn wäre es wahrscheinlich wie 165 Schurer, Part I, S. 59. 166 Angress, S. 81. 167 Deutscher, Totzki I, S. 342. 168 Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 467. 169 Mayer, Gustav, S. 195. 170 Möller, S.  19f. Äußerst fragwürdig erscheint hingegen die ebenda geäußerte Meinung, in Deutschland habe sich Radek im Hinblick auf seinen späteren Ruf, als Journalist in Bremen seine ersten Sporen verdient. „Es waren freilich keine güldenen.“

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die Masse unserer Parteiblätter gewesen, die aus Korrespondenzen zusammengestoppelt werden und nichts besonderes für die Partei als Ganzes bedeuten. Durch seine Tätigkeit in der Br[emer]. B[ürger-]Z[eitung]. hat er für die geistige Entwicklung der Partei Wichtiges geleistet.“171

Paul Frölich beschrieb 1921 Radeks publizistisches Wirken geradezu hagiographisch: „Tiefschürfend […] hat Karl Radek […] die Einzeltatsachen der weltpolitischen Entwicklung verfolgt, ihren Zusammenhängen nachgespürt und mit dem Stereoskop der marxistischen Methode die weiteren Etappen auf den einzelnen Entwicklungslinien und deren gemeinsamen Knotenpunkt abgesteckt. Hegels Grundsatz: Alles was ist, ist vernünftig! leitete ihn beim Studium des modernen Imperialismus, indem er jede moralische Entrüstung über die Politik, die die Arbeiterschaft knebelte und zum Kriege trieb, verschmähte, und statt dessen die Triebkräfte zu erkennen suchte, die jene Politik erzwang […].172 Aber diese theoretischen Erkenntnisse genügten Radek nicht. Erkenntnisse haben für ihn nur insoweit Wert, als sie zu Taten führen. Für den Kampf jedes einzelnen Tages sollten sie fruchtbar gemacht werden. Der Arbeiterklasse sollten sie den Weg zur Lösung weisen und damit der ganzen Politik eine Zielsicherheit, Geschlossenheit und Stetigkeit verleihen, die die Kräfte des Proletariats potenzierte. Diesem Zweck diente Radeks journalistische Tätigkeit.“173

Wesentlich differenzierter äußerte sich 1911 Konrad Haenisch über seinen Freund. Er sah bei aller Wertschätzung dessen fehlendes Augenmaß und eine gewisse Einseitigkeit durchaus kritisch, wobei er ihn mit Rosa Luxemburg auf eine Stufe stellte: „Ich schätze Radek als sehr scharfsinnigen und konsequenten Denker und gründlich gebildeten kenntnisreichen Parteijournalisten sehr hoch; aber es liegt in der Natur seiner Entwicklung, daß er etwas einseitig ist.174 […]. So recht Radek und Rosa fast immer sachlich haben, so sehr schaden sie der Sache, der sie dienen, oft durch Übertreibung im Ausdruck der Kritik und im Zeitpunkt, den sie wählen.“175

Dennoch ist auch angesichts dieses nüchternen Urteils, die euphorische Wertung Frölichs keineswegs unzutreffend. Seine Propagandatätigkeit war „von einer Qualität, wie sie die radikale Sache nicht besser aufzuweisen hatte.“176 Sicherlich war Rosa Luxemburg die große Theoretikerin der radikalen deutschen Linken, aber ihre wis171 Pannekoek an Henke, 11.9.1913; in: Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 494 (Dokument 10). 172 Frölich, Einleitung zu: Radek, In den Reihen der deutschen Revolution, S. 8. 173 Ebenda, S. 9. 174 Haenisch an Franz, 23.8.1911; in: Franz, S. 466. 175 Ders., 29.8.1911; in: ebenda, S. 467. 176 Legters, S. 14.

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senschaftlichen Einsichten wurden selbst von ihren Parteigängern nicht generell geteilt. Auch Radek und Pannekoek, die sich zu Luxemburgs Antagonisten entwickelt hatten, zählten zu den führenden Köpfen der keineswegs einheitlichen linksradikalen Szene. Pannekoek, der die Eroberung der Macht auf legale Weise für Utopie und Illusion hielt, hatte noch vor Luxemburg sein Revolutionsmodell entwickelt, das die Revolution als eine lange Periode eskalierender politischer und gewerkschaftlicher Streiks sah, in deren Verlauf sich die Zerstörung des kapitalistischen Staates und der Aufbau der proletarischen Macht durch die Integration der übrigen Arbeiterschaft vollziehen werde.177 Er bereicherte mit seinen Ideen Radeks Theorien über die Unvermeidbarkeit eines katastrophalen Krieges und die Unausweichlichkeit einer internationalen Revolution und steuerte damit Gedanken bei, die von Radek populär gemacht, Bestandteil der bolschewistischen Ideologie werden sollten.178 Die wichtigen Vorkriegsarbeiten Radeks sind zwischen 1911 und 1913 erschienen. Die in ihnen enthaltene Polemik verdeckt keineswegs ihren bedeutsamen wissenschaftlichen Gehalt. Diese Schriften „halten einem Vergleich mit denen der älteren Führer, wie Kautsky, Rosa Luxemburg und Lenin, durchaus stand.“179 Insbesondere die Analyse „Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse“ fordert heute noch zur Auseinandersetzung heraus. Für die Beurteilung von Radeks Persönlichkeit und seines politischen Standortes äußerst aufschlussreich ist seine positive Bewertung des Lassalle-Nachfolgers Johann Baptist von Schweitzer180, in dem er einen einsichtsvolleren und konsequenteren Marxisten erblickte als in Wilhelm Liebknecht181 und August Bebel. Schweitzer hatte nach Lassalles Tod die Führung des Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins übernommen. Er war Jesuitenzögling, Bewunderer von Machiavelli und bei der Verfolgung seiner Ziele heiligte ihm oftmals der Zweck die Mittel. August Bebel und Wilhelm Liebknecht waren seine Gegner. Radek nahm in seiner Publizistik wiederholt Partei für Schweitzer, der in der Sozialdemokratie in sehr schlechtem Kurs stand. Aus Gustav Mayers 1909 erschienener Schrift zur gerechteren historischen Würdigung des Verfemten182 konnte er ganze Abschnitte des Schlusskapitels auswendig zitieren.183 Für Radek war „ […] der ,Lassalleaner‘ Schweitzer einer der ersten, die den Inhalt des ersten Bandes des ,Kapitals‘ wirklich verarbeitet haben, er war der einzige Mann in der deutschen Arbeiterbewegung, der vom Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung die poli177 Moring, S. 125. 178 Schurer, Part I, S. 60. 179 Legters, a.a.O.. 180 Schweitzer, Johann Baptist von (1833–1875). 181 Liebknecht, Wilhelm (1826–1900); neben Bebel der erste Führer der deutschen Sozialdemokratie; arbeitete mehrere Jahre mit Karl Marx in London; Vater von Karl Liebknecht. 182 Mayer, Gustav: Johann Baptist von Schweitzer und die Sozialdemokratie. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Jena 1909. 183 Mayer, Gustav, S. 192.

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tische Tagesgeschichte schrieb; Bebel war in seinen Anfängen sehr weit vom Marxismus entfernt, was seine Broschüre über die Ziele der Sozialdemokratie, seine Besprechung der Dühringschen Schriften beweist, während Liebknecht in seinen damaligen Auffassungen, wie das Studium des Volksstaates beweist, mehr süddeutscher revolutionärer Demokrat als Marxist war.“184

Radek verstärkte diese Argumentation, die sich indirekt auch gegen die sozialdemokratische Führung seiner Zeit richtet, in einer zweiseitigen Besprechung der von Franz Mehring 1912 edierten Sammlung „J. B. Schweitzer: Politische Aufsätze und Reden“ in der „Bremer Bürger-Zeitung“ vom 29. November 1912. Sie erschien trotz des Schreibverbots unter voller Namensnennung und hatte die Ehrenrettung Schweitzers zum Ziel. Das Material belegt – so Radek – dass Schweitzer „zur Sozialdemokratie nicht als verkrachte bürgerliche Existenz, sondern infolge seiner konsequenten geistigen Entwicklung kam“. Leidenschaftlich verteidigt er Schweitzer gegen Vorwürfe moralischer Natur und gegen Bebels Urteil, er habe sich als ein Catilina in die deutsche Arbeiterbewegung eingeschlichen. Dabei läßt Radek unausgesprochen die Empörung über die ungerechte Behandlung seiner Person durch seine politischen Widersacher in der SPD mitschwingen, und er stimmt Mehring zu, der erklärte, als Populisator des Marxismus sei Schweitzer „kaum jemals übertroffen worden und jedenfalls nicht zu seiner Zeit.“185 Wie seine „schwesterliche Feindin“186 Rosa Luxemburg wollte Radek die SPD in den Bereich der aggressiven politischen Massenaktion lenken, um die revolutionäre Entwicklung voranzutreiben. Seine darauf abzielenden radikalen und oft beißenden Artikel brachten ihn in schroffen Gegensatz zur parlamentarisch orientierten Parteimehrheit und zum Parteivorstand, der mit Bebel die Hauptaufgabe darin sah „daß wir organisieren und agitieren“ und nicht ständig Straßendemonstrationen veranstalten. Die Männer, die die Partei leiteten waren tüchtig, nüchtern und völlig unrevolutionär. Für Ebert, Scheidemann und Braun „bedeutete Revolution Selbstmord, sachlich wie persönlich, und sie wußten es.“187 Sie organisierten die Partei straff durch. „Organisation war gleichbedeutend mit machtvollem Vormarsch.“188 Nicht ohne Grund zeigte Radek deshalb eine starke Abneigung gegen die Parteibürokratie.189 Er spürte die Gefahr, welche die Bürokratisierung für die revolutionäre Virulenz der Partei bedeutete.190 Für ihn war der organisatorische Bürokratismus 184 Radek, Die Arbeitermasse und die Parteiorganisation, in: „Bremer Bürger-Zeitung“, 22.– 28.6.1912. 185 Vgl. Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 466f. 186 Barthel, S. 66. 187 Nettl, Rosa Luxemburg, S. 315. 188 Ebenda, S. 314. 189 Pannekoek, Erinnerungen…, S. 10; vgl. Moring, S. 176. 190 Bereits 1907 wies Max Weber auf den drohenden Verlust der revolutionären Identität der Sozialdemokratie hin: „Es fragt sich nur, wer auf die Dauer das [die Bürokratisierung] mehr zu fürchten hat, die bürgerliche Gesellschaft oder die Sozialdemokratie. Ich persönlich bin der Meinung, die

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Eberts systemstabilisierend und verhinderte die Revolution. Es war also neben der Verbitterung über die wegen der Göppinger Affäre erlittenen Kränkungen vor allem die Rolle Eberts als Revolutionsgegner, die Radek nach dem Tode des nachmaligen Reichspräsidenten zu einem bösartigen Epigramm veranlasste: „Ebert wurde ein Schurke aus Reformismus, seine Nachfolger werden Reformisten sein, weil sie Schurken sind.“191 Der Grund dafür, dass Karl Radek zum „Symbol des Richtungsstreites“192 in der SPD wurde, lag neben seinen linksradikalen Angriffen in der Parteipresse auch an seiner exponierten Stellung als Ausländer und polnischer Jude in Deutschland.193 In den zeitgenössischen Materialien gibt es manchen Hinweis darauf, dass er bereits wegen seiner Herkunft auf Ablehnung stieß. Seine Polizeiakte in Bremen enthält eine Fülle gegen ihn gerichteter antisemitischer Zeitungsartikel.194 Ausgerechnet in der Heimat von Marx und Engels begegnete man dem glühenden Marxisten mit Feindseligkeit und betrachtete ihn als fremdartigen intellektuellen Unruhestifter. Einen aufschlussreichen Einblick in die Gefühle unterschwelliger Aversion, die ihm wie auch anderen osteuropäischen Marxisten entgegenschlugen, vermittelt Gustav Noske: „Eine gewisse Art von Ausländerei in der Sozialdemokratischen Partei ging einer ganzen Anzahl von Mitgliedern je länger je mehr auf die Nerven […]. Verärgernd empfunden wurde die Prätention mit der eine Anzahl aus Polen und Rußland stammender Ausländer als Schulmeister für die deutschen Arbeiter auftraten […]. Es hat mit Antisemitismus nichts zu tun, wenn festgestellt wird, daß die ostjüdischen ,Marxisten‘ eine besondere Veranlagung dafür besaßen, den Sozialismus zu einem Dogma auszubilden und Gemeinplätze in Glaubensbekenntnisse zu verwandeln. Sie brüteten eine Art Geheimwissenschaft aus, die den deutschen Arbeitern stets unverständlich geblieben ist.“195

In diesen Zusammenhang fügt sich ebenfalls die Bemerkung eines Parteitagsdelegierten in Jena ein, der von den „drei Weisen aus dem Morgenlande“ sprach, womit neben anderen auch Radek gemeint war.196 Im Führungsgremium der deutschen Sozialdemokraten wurde er von Anfang an „als wieder einer dieser unverschämten letztere, d.h. diejenigen Elemente in ihr, welche die Träger revolutionärer Ideologien sind“. Weber, Max, S. 409. 191 Radek, „Ebert“; in: Portrety i pamflety, S. 126. 192 Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 463. 193 Im tendenziell antisemitischen „Semi-Kürschner“, einem „Lexikon der Schriftsteller, Dichter, Bankiers, Geldleute, Ärzte, Schauspieler jüdischer Rasse und Versippung“ ist 1913 über Radek vermerkt: „Radek, Karl, gebor. Löbelsohn [sic!] – Szdkt [Sozialdemokrat]; Ma [Mitarbeiter]: Vorwärts, Bremer Bürgerztg, Leipziger Volksz – * Russ-Polen“. Saur, Jüdisches Biograph. Archiv, Mikrofiche Nr. 247. 194 Schüddekopf, a.a.O., S. 469. 195 Noske, S. 26f. 196 Schüddekopf, a. a. O., S. 468.

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und radikalen polnischen Juden“ angesehen, der darauf aus war, neue Unruhe in die Partei zu tragen197. In der SPD gab es „eine überaus starke Antipathie gegen Radek“ verbunden mit ziemlicher Gleichgültigkeit im Hinblick auf die Auseinandersetzungen in den osteuropäischen Parteien198, wie Konrad Haenisch erfahren musste, als er sich bei den Parteigenossen für die Rehabilitierung des Freundes einsetzte: „Durch seine Übertreibungen und Taktlosigkeiten in der Göppinger Sache hat R. sich leider fast überall Feinde gemacht. Die Empfindung herrscht allgemein vor: ,Bleibt uns vom Halse mit dem ganzen polnischen Dreck! Mögen sich die Polen doch gegenseitig die Hälse abschneiden! Einer von der Bande taugt so wenig wie der andere!‘“199

Der Fall Radek – so kann zusammengefasst werden – war ein Resultat der Spaltung der SDKPiL und zugleich auch Ausdruck des ideologischen Richtungsstreits in der SPD vor 1914. Konrad Haenisch, der das Verhalten des Parteivorstandes der SPD gegenüber Radek von Anfang an nicht zu Unrecht als überzogen und „direkt dämlich“200 einstufte, stellte dabei die entscheidende Frage: „Hat R. Schweinereien begangen – warum kommt man dann erst jetzt, nach so viel Jahren damit heraus?“201 Durch die Manipulationen des polnischen Hauptvorstands schloss ein willfähriges polnisches Parteigericht Radek just in dem Moment aus, als jener wegen der Göppinger Affäre von der deutschen Parteiführung als politischer Gegner ins Visier genommen worden war. Die Frage nach seiner formalen SPD-Zugehörigkeit war dabei ein Vorwand, denn es galt das ungeschriebene Gesetz, dass jeder Angehörige einer ausländischen Bruderpartei automatisch der SPD zugehöre und in ihr wirken könne. Das Verdikt der Polen bot der SPD die willkommene Gelegenheit sich eines lästigen Unruhestifters ohne weitere Prüfung zu entledigen, indem sie im Falle eines ausländischen Parteiausschlusses analog verfuhr. Der Parteitag in Jena beschloss mit der „Lex Radek“ ein entsprechendes Sondergesetz mit rückwirkender Kraft. Radek erklärte daraufhin seinen Austritt aus der von den Linksradikalen beherrschten bremischen SPD, die ihm bis dahin Rückhalt geboten hatte. Er arbeitete jedoch – und das war der springende Punkt – weiterhin in der linken SPD-Presse mit. „Für seine Tätigkeit hatten diese Ereignisse also wenig Konsequenzen, die Spalten der radikalen Parteipresse standen ihm weiterhin zur Verfügung.“202 Der nüchternen Betrachtung des Sachverhalts halten die vielfach geäußerten Auffassungen nicht stand, wonach das letzte Jahr Radeks in Deutschland „recht düster“ verlief, er „ziemlich am Nullpunkt“ stand203, ihm mit dem Jenaer Beschluss der Ruin 197 Angress, S. 81. 198 Haenisch an Franz, 13.9.1912; in: Franz, S. 474. 199 Ders., 12.4.1913; ebenda, S. 477. 200 Ders., 2.4.1912; ebenda, S. 471. 201 Ders., 31.8.1912; in: ebenda, S. 442. 202 Goldbach, S. 13. 203 Angress, S. 83.

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ins Gesicht starrte204 und er mit Achtundzwanzig „erledigt“ zu sein schien.205 Der Rückschlag, den er auf seinem Lebensweg erlitten hatte, war keineswegs so „ernsthaft“ wie sein Biograph Lerner annimmt.206 Es muss daran erinnert werden, dass Radek auch für die russische Parteipresse schrieb und publizistisch für die polnischen „Rosłamowcy“ tätig war. In Deutschland wurde er wegen seines politischen Gewichts von den Bremer Linksradikalen und Freunden wie Haenisch und Lensch sowie auch von Karl Liebknecht und Franz Mehring unverändert gestützt.207 Insbesondere die Bremer waren erfüllt von Bewunderung „für diesen einzig revolutionären Charakter von riesigen Dimensionen.“208 Haenisch, der Radek nach dessen Rückkehr nach Berlin im Oktober 1913 gelegentlich traf, berichtete, „Radek sehe ich von Zeit zu Zeit. Es geht ihm ganz wohl.“209 Auch die preußische Polizei hatte ihr Interesse an Radek bereits nach dem Chemnitzer Parteitag verloren. Man war dort der Meinung, „diese Personalfrage“ interessiere „nur noch die Ultraradikalen“.210 So ist Legters zuzustimmen, der zu dem Ergebnis kommt: „Auf jeden Fall hatte der Beschluß [des Jenaer Parteitages] nur geringe Auswirkung auf Radeks Tätigkeit. Bis zum Ausbruch des Krieges setzte er seine wirksame Propaganda für die radikalen Anschauungen fort.“211 Seine Frau stand diese schwere Zeit tapfer mit ihm durch. Er bekannte später, „daß er es ohne ihre Loyalität nicht geschafft hätte“. Er fühle sich ihr deshalb „ganz tief verpflichtet“.212 Allerdings wäre er ohne die Hilfe seiner Freunde wahrscheinlich doch bald am Ende gewesen; „trotz seiner Unzuverlässigkeiten“213 und „Schlamperei“214 hielten sie zu ihm. „Wir mögen ihn gelegentlich ausschimpfen und ausfluchen“, schrieb Pannekoek an Henke, „aber Sie haben ihn als Mitarbeiter genommen, nicht weil er so ein braver Mensch ist […] sondern wegen seiner außerordentlichen politischen Talente.“215 Konrad Haenisch, der sich über die Saumseligkeit Radeks ärgerte, richtete an Rudolf Franz216, seinen Vertrauensmann in Bremen, die 204 Schurer, Part I, S. 62. 205 Tuck, S. 29. 206 Lerner, S. 30. 207 Bezogen auf diesen Kreis linksradikaler Sympathisanten ist Möllers Feststellung, Radek habe offenbar keine Freunde, sondern nur Genossen gehabt, nicht haltbar. Vgl. Möller, S. 13. 208 Franz an Haenisch, 8.9.1912; zitiert nach: Moring, S. 200. 209 Haenisch an Franz, 29. 12. 1913; in: Franz, S. 481. 210 Polizeipräsidium Berlin, Aktennotiz vom 11.10.1912; vgl. Moring, S. 187. 211 Legters, S. 20. 212 Meyer-Leviné, S. 366. 213 Pannekoek an Henke, 11.9.1913; in: Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 496 (Dokument 10). 214 Henke an Haenisch, 25.9.1913; zitiert nach: Moring, S. 193. 215 Pannekoek an Henke, a.a.O., S. 496. 216 Franz, Rudolf (1882 – ?), Dr. phil.; Freund Kniefs und Haenischs; seit 1907 freier Mitarbeiter der „Bremer Bürger-Zeitung“; 1910 Schauspielreferent der Bremer SPD; er trat im Juli 1912 aushilfsweise der Schriftleitung des Bremer Blattes bei. Als einer der Bewunderer Radeks schrieb er im

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Aufforderung: „Sagen Sie dem verfluchten Bummelanten, dem Radek, er soll mir nun endlich die Schriftstücke in seiner Angelegenheit schicken. Heute vor 2 Wochen hat er es mir für die ,nächsten Tage‘ feierlich versprochen.“217 Und als Radek nach zwei weiteren Wochen noch immer nicht auf diese Mahnung reagiert hatte, bekundete Haenisch zwar Verständnis für dessen „Bohemientum“, fügte aber hinzu, „[…] muß denn Bohémetum und Unzuverlässigkeit identisch sein?“218 Auf einen wesentlichen Folgeaspekt von Radeks kollegialen und freundschaftlichen Beziehungen in der linksradikalen Szene weist Lerner hin. Sie versetzten Radek später in die „einzigartige Position, […] der einzige bolschewistische Führer mit persönlicher Gefolgschaft in Deutschland zu sein.“219 Ein Umstand, der Lenin dann bewog, ihm im Rahmen seiner Deutschlandpolitik konspirative und diplomatische Aufträge zu erteilen. 1914 freilich, ärgerte sich Lenin, wie auch später noch so oft, über den politischen Journalisten Radek, und er erbitterte sich darüber, dass die „Bremer Bürger-Zeitung“ nicht den Standpunkt der Bol’ševiki zu russischen Fragen abdrucke, sondern zu diesem Thema nur die Artikel des Emigranten Radek, „der lediglich seine persönliche Ignoranz und seine Phantastereien repräsentiert und nicht gewillt ist, konkrete Tatsachen zu übermitteln.“220 Allerdings lag der kühle Realist Lenin mit dieser Beurteilung gar nicht so falsch, baute Radek doch zu dieser Zeit noch darauf, dass die radikalmarxistischen Strömungen in der Sozialdemokratie die Oberhand gewinnen würden. Den in dieser Frage skeptischen Lenin reihte er spöttisch unter „diese vermaledeiten Kerle ein“, die – wie Plechanov und Parvus-Helphand221 – nicht so schnell umzulernen vermochten; eine von Frölich später als „Blasphemie“ bezeichnete Sottise, die am 4. August 1914, als die Partei zum Burgfrieden aufrief und die Kriegskredite geschlossen bewilligte, „sich so bös gegen ihn [Radek] gewandt“ habe.222 In der Literatur wird Radek auch aufgrund bestimmter Eigenarten seines Charakters oft als eine schillernde und fragwürdige Persönlichkeit beschrieben. Zu diesem Bild haben fraglos auch seine Gegner in der SPD beigetragen – so etwa August Bebel mit dem Stoßseufzer über Radek: „Wenn alles bei ihm so unantastbar wäre wie Kontext zum Chemnitzer Parteitag empört an Haenisch: „[Eberts] Rede, Manieren des ,Vorwärts‘, Rosas [Luxemburg] Hysterie, Bebels Altersschwäche – ist das nicht alles unsagbar erbärmlich? […] Was glaubt Ihr denn überhaupt alle, daß ein genialer Kerl wie Radek diese Parteibonzen braucht? Daß er materiell oder moralisch durch solche Männlein sich vielleicht unterkriegen ließe? Leute seines Formats können von eingeschriebenen deutschen Normalgenossen überhaupt nicht kapiert werden.“ Franz an Haenisch, 17.9.1912; zitiert nach: Moring, S. 186. 217 Haenisch an Franz, 18.10.1912; in: Franz, S. 476. 218 Ders., 31.10.1912; ebenda, S. 477. 219 Lerner, S. 78. 220 Lenin an Wijnkoop, 12.1.1914; in: Lenin, Band 35, S. 108. 221 Alexander Israel Lazarevič Helphand; Pseudonym Parvus (1867–1924). Dr. phil., russischer Sozialist und Teilnehmer der Revolution von 1905. Während des Ersten Weltkriegs Berater der deutschen Reichsregierung in Fragen der russischen Revolution. Zugleich Schieber und Kriegsgewinnler. 222 Frölich, Einleitung zu: Radek, In den Reihen der deutschen Revolution, S. 11.

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seine Intelligenz, wäre es gut.“223 Aber man kommt damit zweifellos zu einem „Klischee, das Radeks Bedeutung in der Geschichte des radikalen Flügels der deutschen Sozialdemokratie nicht gerecht wird.“224

223 Bebel an Knief, 21.4.1913, in: Franz, S. 478. 224 Schüddekopf, Der Revolution entgegen, S. 467.

5.  Lenins widerspenstiger Helfer (1914–1917) Radek hielt sich in Berlin auf, als am 28. Juni 1914 serbische Attentäter den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau in Sarajewo ermordeten. Davon überzeugt, dass Europa durch den Terroranschlag an den Rand einer bewaffneten Auseinandersetzung geraten war, rief er in der „Bremer BürgerZeitung“ zum Kampf gegen die drohende Gefahr eines Krieges auf. Die folgenden Wochen und Monate erlebte er in engem Kontakt mit den linksradikalen Reichstagsabgeordneten Alfred Henke und Otto Ruehle1. Auch seine Verbindungen zu Franz Mehring, dem Nestor der Linksradikalen und Karl Liebknecht wurden intensiver. Er schloss sich der kleinen Gruppe um Liebknecht an, die vergeblich versuchte bei sozialdemokratischen Antikriegskundgebungen Zusammenstöße mit der Polizei zu provozieren, um so die Initialzündung für erhoffte Massenaktionen gegen den Krieg auszulösen.2 „Die Entscheidung naht […] Mars regiert die Stunde“, schrieb er noch einen Tag vor Kriegsausbruch und appellierte an die Arbeiterschaft, sich nicht „auf Befehl von oben wie eine Herde Schafe in den Krieg treiben zu lassen“. Die Arbeiter müssten sich bewusst sein, dass sie nicht für die Freiheit Deutschlands, sondern für die „Ausbeuterfreiheit des deutschen Kapitals“ bluten sollten und dass vielleicht nur noch wenige Tage verblieben, „die Gefahr durch mutigen Kampf abzuwenden“3. Am 1. August 1914 ordnete das Deutsche Reich die allgemeine Mobilmachung an und erklärte Russland den Krieg. Der Erste Weltkrieg hatte begonnen. In Deutschland war es unter dem Eindruck der Kriegserklärungen, der Mobilmachungen und von Meldungen über vereinzelte Kampfhandlungen in den ersten beiden Augusttagen zu einer wahren Kriegshysterie gekommen, die am 3. August in eine überschäumende Kriegsbegeisterung umschlug. Um der Sache der Landesverteidigung willen entschloss sich die Reichstagsfraktion der SPD einen Burgfrieden mit der Regierung zu schließen und den geforderten Kriegskrediten zuzustimmen. Da der Krieg nicht zu verhindern gewesen sei, könne die Alternative für die Sozialdemokratie nur Verteidigung oder Verrat des Vaterlandes lauten. Man dürfe die Existenz der Partei nicht aufs Spiel zu setzen, und es gelte, einen Sieg des zaristischen Russland zu verhindern, der die Errungenschaften der Arbeiterklasse gefährden würde. Als der aus der entscheidenden SPD-Fraktionssitzung kommende Henke am Abend des 3. August Radek über die beabsichtigte Zustimmung der Partei zu den Kriegskrediten informierte, war dieser völlig fassungslos. In seinen Augen war das nackter Verrat 1 Ruehle, Otto (1874–1943), Sozialpädagoge, Publizist; ursprünglich Wanderlehrer für den Zentralen Bildungsausschuss der SPD; 1912–1918 MdR; Gründungsmitglied der KPD; 1919 als Linkskommunist aus der Partei ausgeschlossen. 2 Radek, Avtobiografija, Sp. 154. 3 Radek; „Wofür sollen wir bluten“, „Bremer Bürger-Zeitung“, Nr. 176 vom 31.7.1914. Radek, In den Reihen der deutschen Revolution, S. 276–281.

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an der Sache der Arbeiterbewegung. In seinem letzten Artikel vor der Abstimmung über die Kriegskredite hatte er in der Hoffnung, dass selbst die Revisionisten gegen die Kredite stimmen würden, jeden Bezug auf die Richtungskämpfe in der Partei unterlassen und voller Optimismus von sozialistischer Opposition gegen den Krieg geschrieben.4 Nun konnte er nur noch seinen Freund Henke drängen, gegen die Kreditvorlage zu stimmen. Er versprach ihm, bis zum nächsten Morgen eine politische Begründung des ablehnenden Votums zu Papier zu bringen, mit der Henke weitere Fraktionskollegen umstimmen sollte. Radeks Erwartungen, dass einzelne linksradikale Volksvertreter ein Zeichen gegen den Krieg setzen würden, indem sie den Krieg öffentlich brandmarkten und die Kredite ablehnten, wurden jedoch bitter enttäuscht: „Als ich am nächsten Morgen Henke meinen Entwurf der Erklärung aushändigte, war seinem Gesichtsausdruck schon abzulesen, daß er sich entschlossen hatte, nicht gegen den Strom zu schwimmen. Liebknecht, den ich ebenfalls am 4. August traf, erklärte, weshalb er sich entschieden hatte, nicht gegen den Antrag zu stimmen: Nach seiner Meinung unterlag es keinem Zweifel, daß die Regierung sehr schnell mit der Verfolgung der Partei beginnen werde, und dann werde die gesamte Partei geschlossen Front gegen den Krieg machen.“5

Die Kriegsgegner unter den Abgeordneten hatten sich der Fraktionsdisziplin unterworfen. Am 4. August 1914 bewilligte die SPD-Fraktion im Reichstag einstimmig die Kriegskredite. Radek erinnert sich, dass die sich offenbarende Kampfunfähigkeit der Partei auch ihn lähmte und er das Gefühl hatte, „daß es vollkommen unnütz ist, gegen den Zusammenbruch der Partei zu schreiben.6 […] In den ersten Tagen hatte ich, wie auch meine Parteifreunde, das Gefühl, daß es nichts nützte, zu schreiben. Hatten es doch 40 Jahre Jahre fortwährender sozialistischer Propaganda nicht vermocht, selbst die Führer der Sozialdemokratie vor dem Verhängnis des 4. August zu bewahren.“7 Noch mehr verletzte es ihn jedoch, dass zwei seiner engsten politischen Weggefährten, Paul Lensch und Konrad Haenisch, eine radikale Wendung nach rechts nahmen und von überzeugten Revolutionären zu glühenden Verfechtern der Vaterlandsverteidigung mutierten – oder, um mit Radek zu sprechen, „auf die Seite der sozialpatriotischen Mehrheit überging[en]“. „Paul Lensch, der Radek persönlich schon längst verraten hatte“, polemisiert Paul Frölich, „braute jetzt aus revolutionären Phrasen imperialistisches Gift zusammen“8. Besonders enttäuschte Radek jedoch, dass sein „alter Freund“ Haenisch, „einer der besten Männer der ra4 „Bremer Bürger-Zeitung“, a.a.O. 5 Radek, Avtobiografija, Sp. 155. Radek betont, dass er Liebknechts Prognose keinen Glauben schenkte. 6 Ders., Rosa Luxemburg, S. 36. 7 Ders., Avtobiografija, Sp.155. 8 Frölich, Vorwort zu: Radek, In den Reihen der deutschen Revolution, S. 11.

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dikalen Richtung“9, das Ja der SPD zu den Kriegskrediten verteidigte, indem er argumentierte, die Partei habe sich mit dem Vaterland identifizieren müssen, um politisch nicht auf den Status einer machtlosen Sekte zurückgeworfen zu werden. Als die Briefe in denen Radek an Haenisch appellierte, den Frontwechsel rückgängig zu machen und Haenischs Rechtfertigungsschreiben, in dem er die Internationale als einen schönen Traum, „aber keine machtvolle Wirklichkeit“ bezeichnete und das mit den Worten „Deutschland, Deutschland über alles“ schloss, in die Hände von Radeks politischen Gegnern in der Hamburger Sozialdemokratie gerieten und von diesen prompt publiziert wurden, war Radek als „vaterlandsloser Geselle“ öffentlich desavouiert.10 Der 4. August 1914 wurde für die Linksradikalen zum Synonym für den Sündenfall der SPD. Es war mit aller Deutlichkeit klargeworden, dass es in Deutschland keine revolutionäre Massenpartei gab. Die SPD hatte sich aus einer sozialrevolutionären Bewegung zu einer nationalistischen Reformpartei entwickelt. Die seit Jahren beschworene internationale Solidarität der Arbeiterklasse gegen den Krieg und der abstrakte Pazifismus der Sozialdemokratie hatten der Probe des Krieges nicht standgehalten. Wie Paul Frölich festhält, „traf ihn [Radek] der moralische Zusammenbruch der Partei am 4. August doch furchtbar. Er schrieb […] der Redaktion der ,Bremer Bürgerzeitung‘ einen Brief, in dem die tiefe Enttäuschung, Zorn und Scham erzitterten. Der Schlag war hart und schwer. […] Aber mit Klagen hielt sich Radek nicht auf. Er stellte sich auf den neugeschaffenen Boden und wirkte im alten Sinne.“11 In seinen Memoiren bestätigt Radek, dass seine depressive Stimmung „nur wenige Tage andauerte. Ich ging an die Arbeit und begann, ungeachtet der Zensur, im Bremer Parteiorgan den Charakter des Krieges zu beleuchten.“12 Radek erwog jetzt, „die revolutionären Kräfte in Hamburg, Bremen und benachbarten Städten zu sammeln“13. Im September 1914 traf er sich in Bremen mit zwei Gesinnungsgenossen aus Hamburg, Dr. Heinrich Laufenberg14 9 Radek, Avtobiografija, Sp.156 10 Ebenda. In seinem Rechtfertigungsbrief an Radek schreibt Haenisch: „Um alles in der Welt möchte ich jene Tage inneren Kampfes nicht noch einmal durchleben! Dieses drängendheiße Sehnen, sich hineinzustürzen in den gewaltigen Strom der allgemeinen nationalen Hochflut und von der anderen Seite her die furchtbare seelische Angst, diesem Sehnen zu rückhaltlos zu folgen, der Stimmung ganz sich hinzugeben, die ringsum brauste und brandete und die, sah man sich ganz tief ins Herz hinein, auch vom eigenen Innern ja schon längst Besitz ergriffen hatte“; zitiert nach Trotnow, S. 187. Dazu Paul Frölichs ironischer Kommentar: „Hänisch schrieb süßliche Briefe, in denen er zu rechtfertigen suchte, daß er künftig seinen Bedarf an Begeisterungsstimulantien im Lager des Feindes zu decken gedenke“. Frölich, Vorwort zu: Radek, In den Reihen der deutschen Revolution, S. 11. 11 Frölich, Vorwort zu : Radek, In den Reihen der deutschen Revolution, S. 11f. 12 Radek, Avtobiografija, Sp. 155. 13 Ebenda, Sp. 156. 14 Laufenberg, Heinrich (1872–1932); wurde zur treibenden Kraft der Revolution in Hamburg und war dort 1918/19 Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrats. Er trat der KPD bei, wurde aber 1920 wegen Opposition zur Parteiführung wieder ausgeschlossen. 1920 gründete er die KAP, aus der er im gleichen Jahr wegen seines Eintretens für die Idee des Nationalbolschewismus ebenfalls

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und Fritz Wolffheim15. Der als starke und zielbewusste Persönlichkeit geltende Volkswirt Laufenberg war auf Empfehlung Mehrings 1907 nach Hamburg berufen worden, um im Auftrag der SPD-Landesorganisation eine Geschichte der lokalen Arbeiterbewegung zu verfassen. Er wurde dort bald Leiter der Parteischule, aber 1912 entschied ein Parteiverfahren, dass er keine Ämter mehr innehaben dürfe. Mit Beginn des Krieges schrieb er gegen den Burgfrieden und die Militarisierung der Jugend. Seine revolutionäre Gesinnung und sein Ehrgeiz brachten ihn und seinen Mitarbeiter Wolffheim jetzt in Kontakt mit Radek, der in Bremen politisch fest verankert war und über Verbindungen nach Berlin verfügte.16 Fritz Wolffheim stammte aus einer Berliner jüdischen Kaufmannsfanilie und war nach einem längeren Aufenthalt in den USA erst 1913 nach Hamburg gekommen. Ein wie ein Ostfriese aussehender politischer Schriftsteller, der als „ein ganz gerissener und unglaublich frecher Bursche“ galt. Seine mit Laufenberg eng verwandten Auffassungen und Charaktereigenschaften hatten zu einem Verhältnis enger Zusammenarbeit zwischen beiden geführt.17 Die beiden linksradikalen Hamburger Parteiaktivisten, die Rosa Luxemburg ablehnten, waren Männer nach Radeks Geschmack, und so kam man überein, gemeinsam gegen den Krieg gerichtete Propagandaschriften zu verfassen und alle Aktivitäten mit denen der Berliner Kriegsgegner zu koordinieren.18 Dadurch ermutigt, skizzierte Radek gegenüber Henke einen Plan zur Sammlung der Opposition: Man müsse überall „propagandistische Zirkel“ bilden und die „Bremer Bürger-Zeitung“ solle „dabei der Mittelpunkt sein“19. Das Organisationsmodell für diese Idee, die allerdings nicht realisiert wurde, waren offenbar die sozialistischen Selbstbildungszirkel in Galizien, die sich dort in seiner Jugend um die Zeitschrift „Promień“ herauskristallisiert hatten. Zugleich gab er auch überspannten Erwartungen Ausdruck und schrieb allen Ernstes an Henke: „[…] jetzt wo auf Bremen die ganze Internationale schaut […] müssen wir beide unsere ganze Wachsamkeit anstrengen“.20 In Berlin intensivierte Radek seinen Kontakt zu Julian Borchardt21, einem freien Mitarbeiter der „Bremer Bürger-Zeitung“ und anderer sozialdemokratischer Zeitungen. Als Wanderlehrer für den Zentralen Bildungsschuss der SPD sowie auch als Lehrer an der „Berliner Arbeiterbildungsschule“ hatte Borchardt Kurse über Nationalökonomie und historischen Materialismus abgehalten und von 1911 bis 1913 die SPD im Preußischen Abgeordnetenhaus vertreten. Nach innerparteilichen Auseinausgeschlossen wurde. Daraufhin gründete er zusammen mit Wolffheim den nationalbolschewistischen „Bund der Kommunisten“. 15 Wolffheim, Fritz (1888–1942): kommunistischer Politiker, Autor, Gewerkschafter; bis 1923 eng mit Laufenberg liiert; 1936 verhaftet und 1942 im Konzentrationslager Ravensbrück verstorben. 16 Vgl. Schüddekopf, Linke Leute von rechts, S. 440f., Anm. 2. 17 Ebenda, S. 441f., Anm. 3. 18 Radek, a.a.O., Sp. 156. 19 Radek an Henke, 23.10.1914; zitiert nach: Lucas, S. 31. 20 Ebenda. 21 Borchardt, Julian (1868–1932); aus einer jüdischen Familie im preußischen Bromberg stammender Journalist und freier Schriftsteller, der sich vor allem der Popularisierung des Marxismus widmete.

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andersetzungen und einem Parteiverfahren war er aus der Bildungsarbeit der SPD ausgeschieden und hatte eine eigene Zeitschrift gegründet, die „Lichtstrahlen“ – „ein monatliches Bildungsorgan für denkende Arbeiter“. Auch führte er nun in Berlin eigene Kurse über theoretische und praktische Fragen der Arbeiterbewegung durch. Der Anarcho-Sozialist Borchardt, von Radek als „großer Sonderling, aber aufrechter Mensch“ charakterisiert, hatte „ohne jedes Schwanken“ seine Berliner Privatschule und seine Zeitschrift in den Dienst der Antikriegspropaganda gestellt. „Unter dem Deckmantel von Vorlesungen über die Geschichte des englischen Imperialismus,“ so erinnert sich Radek, „hielt ich in dieser Schule vor hunderten von Arbeitern Vorträge, welche unsere Propagandisten für den Kampf gegen die Verräterei der Scheidemänner grundlegend schulen sollten.“22 Als die deutschen Zeitungen, durch ihre Berichterstattung über die PatriotismusKontroverse mit Haenisch, die Aufmerksamkeit der Behörden auf die unpatriotische Haltung Radeks lenkten, erteilte dieser dem Ansinnen von seiner Fundamentalopposition Abstand zu nehmen und pragmatisch für konkrete Zugeständnisse der Regierung an die SPD zu agitieren, eine Abfuhr. Eine briefliche Mahnung des Chefredakteurs der „Chemnitzer Volksstimme“, Ernst Heilmann, sich politisch zu mäßigen, wertete er misstrauisch als Indiz dafür, dass es nicht möglich war, die „umfangreiche Arbeit geheimzuhalten“: Die politischen Gegner, das heißt „die [revisionistischen und zentristischen] Sozialdemokraten[,] kannten alle unsere Verbindungen bestens […].“23 Da er auch nicht gewillt war, in der k.u.k. Armee zu dienen, obwohl er als österreichischer Staatsbürger im Zuge der allgemeinen Mobilmachung militärdienstpflichtig war, wurde nach seinem persönlichen Gefährdungsempfinden, in Deutschland „die Luft […] immer dicker“24 für ihn. Um sich aus der Schusslinie deutscher Militärzensur und Obrigkeit zu entfernen, akzeptierte er deshalb bereitwillig den Vorschlag Liebknechts, „in die Schweiz zu gehen, um Verbindungen mit der italienischen Partei und französischen Internationalisten herzustellen“25. Ob dies tatsächlich der Hauptzweck seiner Reise war, bleibt dahingestellt, denn über greifbare Ergebnisse dieses angeblichen Vorhabens verlautete nichts und Anželika Balabanova26, die die italienischen Sozialdemokraten in der Schweiz vertrat, erwähnt vor 1915 keinerlei Begegnung mit Radek.27 Wahrscheinlicher ist, dass er den Besuch vor allem dazu benutzte, um geeignete Wirkungsmöglichkeiten für sich selbst zu sondieren. Darauf deutet jedenfalls eine weitere Äußerung hin, wonach er „im No22 Radek, Avtobiografija, Sp. 156. 23 Ebenda. 24 Ebenda, Sp. 157. 25 Ebenda. 26 Balabanova, Anželika Izaakovna (1878–1965); aus der Ukraine stammende sozialistische Aktivistin; nach dem Studium in Westeuropa 1912–1914 Redakteurin des italienischen Parteiorgans „Avanti“; 1914–1917 Aufenthalt in der Schweiz, dort ab 1915 Sekretärin des Zimmerwald-Komitees; seit 1917 Sowjetfunktionärin und zuletzt im Sekretariat der Komintern tätig, wendete sie sich 1921 enttäuscht vom Sowjetkommunismus ab und verließ Sowjetrussland. 27 Balabanoff [Balabanova], My Life as a Rebel, S. 143.

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vember 191428 nach der Schweiz ging, um dort die „Berner Tagwacht“ für die Rolle eines ausländischen Organs der deutschen Opposition zu gewinnen.“29 Das Blatt war „Offizielles Publikationsorgan der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS)“ und damit die wichtigste, am weitesten verbreitete und auch in Deutschland gelesene sozialdemokratische Zeitung der Eidgenossenschaft. Ihr Chefredakteur Robert Grimm30, einer der profiliertesten Führer der eidgenössischen Sozialdemokraten und seit 1911 Nationalrat, sympathisierte als entschiedener Kriegsgegner mit der Linken der II. Internationale. Er stand in Kontakt mit Karl Liebknecht, der an der Ausprägung seiner internationalistischen Haltung nicht unbedeutenden Anteil hatte.31 Es ist deshalb naheliegend, dass Radek mit einer Empfehlung Liebknechts versehen, bei Grimm auftauchte. Dieser offerierte Radek, in seinem Blatt über Fragen des internationalen Sozialismus zu schreiben. Wegen des fragwürdigen Rufes den Radek mittlerweile in der europäischen Sozialdemokratie genoss, aber wohl auch um ihn vor Nachstellungen der Behörden zu schützen, bestand Grimm gegenüber seinem neuen Mitarbeiter jedoch auf der Benutzung eines Pseudonyms. In Anlehnung an Vegetius „si vis pacem para bellum – wenn Du Frieden haben willst, musst Du zum Kriege rüsten“, wählte Radek als nom de plume „Parabellum“. Am 26. November 1914 erschien in der „Berner Tagwacht“ sein erster Artikel mit der Überschrift „Vor dem Zusammentritt des Reichstages“, der sich mit der bevorstehenden Abstimmung über die zweite Tranche der Kriegskredite befasste, und in den folgenden zwei Jahren publizierte er nahezu täglich in dem Blatt. Allerdings existierte auch ein ganz privater Grund für die Reise in die Schweiz, die er gemeinsam mit seiner Frau angetreten hatte. Angesichts der ungesicherten Zukunftsperspektive, der beide in Deutschland entgegensahen, beabsichtigten sie Witold, den Sohn seiner Frau, in Sicherheit zu bringen32, und allem Anschein nach, gaben sie ihn in Zürich in Pflege. Zahlreiche Emigrantengruppen waren vor dem Kriege oder kurz nach Kriegsausbruch in die Schweiz gekommen. Da war die russische Emigration mit den Bol’ševiki um Lenin und Zinov’ev, eine starke menschewistische Gruppe mit Aksel’rod und Martov, eine größere Gruppe des „Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes“ mit Feliks Kon33, eine polnische Emigrantengruppe, eine Reihe italienischer Emigranten, 28 Radek hielt sich bereits seit Oktober 1914 in der Schweiz auf. In einem Brief an Henke vom 23.10.1914 berichtet er über einen Meinungsaustausch, den er dort mit Robert Grimm und Pavel Aksel’rod führte. Lademacher, Band 1, S. LIIIf. 29 Radek, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, S. 39. 30 Grimm, Robert (1881–1958); Buchdrucker; führendes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS); 1905–1909 Gewerkschaftssekretär in Basel; 1909–1918 Chefredakteur der „Berner Tagwacht“; 1911–1955 Nationalrat; Initiator und Vorsitzender bei den internationalen sozialistischen Konferenzen in Zimmerwald 1915 und Kiental 1916, mit denen er versuchte, die Friedensvorstellungen vieler Sozialisten zu artikulieren und international zu organisieren. 31 Gautschi, S. 141. 32 Radek an Henke, 12. und 18. 12. 1914; vgl. Lucas, S. 30f. 33 Kon, Feliks Jakovlevič (1864–1941), geboren in Warschau, als Student wegen revolutionärer Umtriebe zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt; seit 1897 in der Emigration, bekannte er sich im

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wie Anželika Balabanova, deutsche Kriegsdienstverweigerer und Deserteure. Das Zentrum der ausländischen Emigration bildete Zürich.34 Radek bewegte sich dort in der Emigrantenszene der Russen, ohne aber zunächst auf Lenin zu treffen. Mit Aksel’rod, der sich im polnischen Parteistreits 1913 auf seine Seite gestellt hatte, führte er „lange Gespräche“. Der Mitbegründer der russischen Sozialdemokratie gab ihm „tausende Erklärungen“ für die enttäuschende Reaktion der europäischen Sozialdemokraten auf den Krieg, die aber, wie Radek meinte, nur dazu dienten, den „Sozialpatriotismus“ zu verteidigen.35 Dennoch erwärmte er sich für den von Grimm aufgegriffenen Gedanken Aksel’rods, man müsse in der Schweiz eine Konferenz radikaler Sozialisten aus Frankreich und Deutschland vorbereiten, um den Charakter des Krieges zu analysieren und erste gemeinsame Aktionen zu besprechen. An Henke schrieb Radek, er wolle in dieser Angelegenheit für Grimm in Deutschland sondieren.36 Diese frühen Überlegungen, die linke Opposition gegen den Krieg international zu formieren, sollten aber erst Monate später mit der Zimmerwalder Konferenz Gestalt annehmen. Im Zürcher Gewerkschaftshaus „Eintracht“ hielt Radek einen großangelegten Vortrag über „Krieg und Sozialismus“, in dem er nachwies, dass die kapitalistische Welt für die sozialistische Revolution noch nicht reif sei. Er wurde mit „beträchtlichem Interesse“37, aber auch mit Skepsis aufgenommen. Bei Litwak38, der Radek nicht mochte, heißt es, das Referat sei „nicht besonders tief“ gewesen. Übertreibungen und Selbstlob hätten einen bedeutenden Teil der Ausführungen gebildet und eine skeptische Zuhörerin, Natal’ja Semskova39, habe danach zu ihm abschätzig gesagt: „Ach Radek, das ist doch alles Bluff“40. Zuvor war er mit Trockij zusammengetroffen, den er schon 1910 kennengelernt hatte und für dessen Zeitschrift „Bor’ba“ er seit einigen Monaten schrieb. Der Russe arbeitete gerade an dem Pamphlet „Der Krieg und die Internationale“, dessen polemische Spitze sich vor allem gegen die deutschen Sozialdemokraten richtete. Er registrierte erfreut, dass Radek in diesem Kritikpunkt mit ihm übereinstimmte und war umso erstaunter, als sein Gesprächspartner dann Pessimismus im Hinblick auf die weitere revolutionäre Entwicklung zeigte41: 1. Weltkrieg zum Internationalismus; 1917 Rückkehr nach Russland; 1918 Mitglied der Bol’ševiki; in Sowjetrussland bis 1925 hohe Funktionen in Partei- und Komintern, dann im wesentlichen als Presse- und Kulturfunktionär tätig. 34 Vgl. Münzenberg, S. 170f. 35 Radek, a.a.O. 36 Radek an Henke, 23. 10. 1914; Lademacher, Band 1, S. LXIIIf. 37 Shub, S. 161. 38 Litwak, Anatol, Pseudonym von Helfand, Chajm Jakob (1874–1932); aus Wilna stammender Journalist und einer der Führer des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes; emigrierte 1921 in die USA. 39 Nicht feststellbar, ob es sich um eine Angehörige des Trockij-Mitarbeiters Sergej Semkovskij (Pseudonym von Semën Jul’evič Bronstein, 1882–1938) handelt. 40 Litwak, S. 244f.; zitiert nach: Gautschi, S. 109. 41 Radek, Avtobiografija, Sp. 157.

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„Radek äußerte sich in schärfster Weise über die regierende Schicht in der deutschen Sozialdemokratie. Darin waren wir einig. Aber mit Staunen gewahrte ich bei dem Gespräch mit ihm, dass er an die Möglichkeit einer proletarischen Revolution im Zusammenhang mit dem Krieg, wie überhaupt in der nächsten Epoche gar nicht dachte. Nein, sagte er, dazu sind die Produktivkräfte der Menschheit im Ganzen betrachtet noch nicht entwickelt genug.“42

Obwohl diese Passage aus Trockijs Autobiographie immer wieder als Beleg für Radeks skeptische Einschätzung der revolutionären Perspektiven herangezogen wird43, so richtete sich dessen Kritik jedoch in der Hauptsache gegen Trockijs utopische Vorstellung einer sozialistischen Organisation der Weltwirtschaft.44 Nüchtern und realistisch, hielt Radek die Bewusstseinslage der Arbeiterschaft, sowie den Entwicklungsstand der Produktions- und Arbeitsmittel im weltweiten Maßstab oder auch nur in Europa für insgesamt zu unterentwickelt, um eine revolutionäre Veränderung der Produktionsverhältnisse herbeizuführen und so die Wirtschaft auf internationaler Basis sozialistisch organisieren zu können. Aber auch wenn zu dieser Zeit für ihn die Weltrevolution und die gesamteuropäische Revolution nicht auf der Tagesordnung standen, so tat dies doch seiner langjährigen und von Trockij ignorierten grundsätzlichen Auffassung keinen Abbruch, dass „die Länder der alten kapitalistischen Entwicklung“, also die fortgeschrittenen Industriestaaten Westeuropas, grundsätzlich für den Sozialismus und damit für die Revolution reif waren, wenngleich er auch zu dieser Zeit aufgrund seiner Erfahrungen mit der SPD in Deutschland noch keinen unmittelbaren revolutionären Schub durch den Krieg erwartete. Nur kurze Zeit später bekräftigte Radek seinen prinzipiellen Standpunkt in dem Artikel „Historische Parallelen“45, wobei er sich jetzt aber Trockijs Vorstellungen vorsichtig annäherte. Während die englisch-französischen Handelskriege des 17. und 18. Jahrhunderts die Vorbedingungen für die Entwicklung des Kapitalismus geschaffen und damit letztlich den gesellschaftlichen Fortschritt bewirkt hätten, schrieb Radek, könne und wolle der Imperialismus die Produktivkräfte nicht mehr weiterentwickeln. Er beabsichtige, durch den aktuellen Weltkrieg lediglich die Existenz des Kapitalismus zu verlängern. Dennoch sei festzuhalten: 42 Trockij, Mein Leben, S. 224. 43 Vgl. Goldbach, S.14; Möller, S. 23f. 44 In „Der Krieg und die Internationale“ kommt Trockij zu einer 1914 utopisch erscheinenden Schlussfolgerung: „Unter den gegenwärtigen historischen Bedingungen ist das Proletariat nicht an der Verteidigung eines anachronistischen nationalen ,Vaterlandes‘ interessiert, das zum Haupthindernis des wirtschaftlichen Fortschritts geworden ist, sondern an der Schaffung eines neuen mächtigeren und beständigeren Vaterlandes, der republikanischen Vereinigten Staaten von Europa als einer Grundlage für die Vereinigten Staaten der Welt. Das Proletariat kann der imperialistischen Sackgasse des Kapitalismus als aktuelles Programm nur die sozialistische Organisation der Weltwirtschaft entgegenstellen.“ Vgl. Deutscher, Trotzki I, S. 210. 45 Radek, „Historische Parallelen“, „Lichtstrahlen“, Februar 1915. Radek, In den Reihen der deutschen Revolution“, S. 294–297.

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„Der Kapitalismus hat in den zivilisierten Ländern die Bedingungen des Sozialismus bereits entwickelt[…]. [Der] Weltkrieg des Imperialismus […] ist darum ein Krieg gegen den Sozialismus […]. Er kann nicht mehr, wie die Handelskriege des 17. und 18. Jahrhunderts zur Entfaltung neuer Produktivkräfte führen, denn er ist auf einer Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung ausgebrochen, auf der die kapitalistische Welt schon so große Produktivkräfte entwickelt hat, daß eine planmäßige Organisation der Gesamtwirtschaft möglich ist.“46

In Deutschland war mittlerweile Karl Liebknecht als Abgeordneter des Reichstags und des Preußischen Landtags zur zentralen Gestalt der Opposition gegen den Krieg geworden. Im November 1914 hatte er begonnen, in der Reichstagsfraktion der SPD für die Ablehnung der nächsten Kreditvorlage zu werben. Er war fest entschlossen, dieses Mal unter Bruch der Parteidisziplin und des Burgfriedens gegen die Kredite zu stimmen. Der sich in der Schweiz aufhaltende Radek hoffte, dass es Liebknecht gelingen würde, bei der unmittelbar bevorstehenden Abstimmung über den zweiten Nachtragshaushalt für die Kriegskredite einen Umschwung in der Fraktion zugunsten der Kriegsgegner in der SPD herbeizuführen. Um Liebknecht bei seinem Vorhaben zu unterstützen, kehrte er mit seiner Frau Ende November 1914 noch einmal „halb illegal“ und völlig mittellos nach Berlin zurück.47 Allerdings war die Zahl der Dissidenten in der Reichstagsfraktion der SPD zu dieser Zeit bereits drastisch zusammengeschmolzen, und Radek konnte Liebknecht nur noch bei den Versuchen helfen, die beiden „letzten Mohikaner“ Henke und Ruehle für ein ablehnendes Votum zu gewinnen. Am Vorabend der Abstimmung baten Liebknecht und Henke ihn, eine von Liebknecht entworfene Erklärung zu überarbeiten, die das Nein im Reichstag begründen sollte. Zum weiteren Ablauf der Ereignisse schreibt Radek: „Wir drei trafen uns erneut im Café Josty, wenige Stunden vor der Sitzung des Reichstags am 2. Dezember [1914] und Liebknecht und Henke zeigten sich mit meinem Entwurf zufrieden. Aber dennoch erklärte Henke, daß er nicht gegen die Kredite stimmen würde, und er begründete seine Entscheidung sehr offen: Die Gewerkschaftsbürokratie in Bremen sei stärker geworden und es gebe keinerlei Anzeichen für Unruhe unter den Arbeitern – deshalb könne er als Familienvater nichts riskieren. Als Liebknecht antwortete, daß ein paar Kinder die Haltung eines Revolutionärs nicht bestimmen dürften, entgegnete Henke gehässig, daß er [Liebknecht] leicht reden könne, da er finanziell unabhängig sei, es aber wohl kaum wagen werde, sich gegen die Partei zu stellen. Liebknecht erwiderte darauf nichts mehr. Wir begaben uns in den Reichstag und ich wurde auf der Galerie des Parlaments Zeuge des ungeheuer eindrucksvollen Augenblicks, als Liebknecht sich erhob und der imperialistischen Welt seine einsame Herausforderung entgegen schleuderte.“48 46 Ebenda, S. 297. 47 Radek an Henke, 12. und 18.12.1914; zitiert nach Lucas, S. 30 und Radek, Avtobiografija, Sp. 157. 48 Ders., Avtobiografija, Sp. 158.

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Über die Reichstagssitzung am 2. Dezember 1914 wird berichtet, dass vor ihrem Beginn auf der Besuchertribüne großer Andrang herrschte. Um 16.19 Uhr eröffnete der Reichstagspräsident die Beratungen. Als er die Abgeordneten bat, sich von ihren Plätzen zu erheben, um damit ihre Zustimmung zum „Entwurf des Gesetzes betreffend die Feststellung eines zweiten Nachtrags zum Reichshaushalt für das Rechnungsjahr 1914“ anzuzeigen, blieb Liebknecht als einziger auf seinem Platz im Plenum sitzen und demonstrierte damit sein ablehnendes Votum, was vom Präsidenten allerdings beinahe übersehen worden wäre.49 Der SPD- Abgeordnete Eduard David hielt die Szene in seinem Tagebuch so fest: „ 2. Dezember 1914: Bei der Abstimmung über die Kredite bleibt Karl Liebknecht sitzen. Rufe von den Bänken der Liberalen konstatieren das. Man lacht mehr, als daß man Entrüstung zeigt.“50 Erst n a c h der Abstimmung erhob sich Liebknecht, um dem Reichstagspräsidenten seine Abstimmungsbegründung zu überreichen, der indes die Aufnahme in den stenographischen Bericht ablehnte; in dieser Erklärung hieß es: „[…] Dieser Krieg, den keines der beteiligten Völker selbst gewollt hat, ist nicht für die Wohlfahrt des deutschen oder eines anderen Volkes entbrannt. Es handelt sich um einen imperialistischen Krieg um die kapitalistische Beherrschung des Weltmarktes, um die politische Beherrschung wichtiger Siedlungsgebiete für das Industrie- und Bankkapital. Es handelt sich vom Gesichtspunkt des Wettrüstens um einen von der deutschen und von der österreichischen Kriegspartei gemeinsam im Dunkel des Halbabsolutismus und der Geheimdiplomatie hervorgerufenen Präventivkrieg. Es handelt sich auch um ein bonapartistisches Unternehmen zur Demoralisierung und Zertrümmerung der anschwellenden Arbeiterbewegung. Das haben die verflossenen Monate trotz einer rücksichtslosen Verwirrungsstrategie mit steigender Deutlichkeit gelehrt. Die deutsche Parole ,Gegen den Zarismus‘ diente – ähnlich der jetzigen englischen und französischen Parole ,Gegen den Militarismus‘ – dem Zweck, die edelsten Instinkte, die revolutionären Überlieferungen und Hoffnungen des Volkes für den Völkerhaß zu mobilisieren. Deutschland, der Mitschuldige des Zarismus, das Muster politischer Rückständigkeit bis zum heutigen Tage, hat keinen Beruf zum Völkerbefreier. Die Befreiung des russischen wie des deutschen Volkes muß deren eigenes Werk sein. Der Krieg ist kein deutscher Verteidigungskrieg […].“51

In ihrer Diktion weist die Erklärung zweifellos auf die von Radek reklamierte Mitwirkung als Ghostwriter hin. Damit hatte er hinter den Kulissen Anteil an dem Zeichen, das Liebknecht gegen den Krieg setzte, und das von jetzt an zum Symbol der sich in Europa artikulierenden Antikriegsstimmung wurde. Um so größer war seine Enttäuschung darüber, dass es ihm nicht gelungen war, Henke zu einem Separatvotum an der Seite Liebknechts zu bewegen, und so markierte das Verhalten seines 49 Vgl. Laschitza, Karl Liebknecht, S. 238 und Trotnow, S. 209. 50 Laschitza, ebenda. 51 Ebenda, S. 239f.

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Freundes bei der zweiten Kreditvorlage den entscheidenden Einschnitt in den Beziehungen zwischen beiden.52 Er warf ihm vor, sich nicht neben Liebknecht gestellt zu haben und ließ nun seine noch vorhandenen ideologischen Vorbehalte gegenüber Karl Liebknecht fallen, wie er später in einem Brief an Henke schrieb: „Sie wissen, wie kritisch ich Karl Liebknecht gegenüberstehe […] aber jetzt [nach dem 2. Dezember] diente er unserer Sache.“53 Kaum einen Monat nach seiner Rückkehr nach Deutschland ging Radek Ende Dezember 1914 desillusioniert von der SPD erneut in die Schweiz. Seine Frau verblieb zunächst noch in Berlin, wo sie als Ärztin am Krankenhaus in Moabit arbeitete54. In seiner Avtobiografija schreibt er, er habe die Enttarnung seines Pseudonyms „Parabellum“, unter dem er die Antikriegspropaganda in der „Bremer-Bürger-Zeitung“ führte, befürchten müssen und deshalb vor der Frage gestanden, „ob man die Verhaftung riskieren solle, oder ob es wohl vernünftiger wäre zu versuchen, in der Schweiz eine konspirative Basis für die Opposition aufzubauen“. Als die Genossen sich für das Letztere aussprachen, habe er sich in die Schweiz durchgeschlagen.55 „Durch die Denunziationen der sozialpatriotischen Presse genötigt“, habe er dann dort bleiben müssen.56 Diese Version unterschlägt aber die weiteren Motive für seinen neuerlichen Weggang. Vermutlich drohte ihm als Ausländer die Ausweisung wegen seiner politischen Aktivität, wobei es keinen Beleg dafür gibt, dass er bereits „wegen antimilitaristischer Propaganda aus dem Deutschen Reich ausgewiesen worden war“, wie Isaac Deutscher behauptet.57 Auf alle Fälle konnte er sich mit diesem Schritt dem Wehrdienst in der k.u.k. Armee entziehen58, und so galt er fortan in der Donaumonarchie als „Militärflüchtling“59. Es gab jedoch auch einen ganz gewichtigen wirtschaftlichen Beweggrund dafür, Deutschland zu verlassen. Durch die Restriktionen der Militärzensur und die kriegsbedingte Unterbrechung seiner Mitarbeit in der sozialistischen Presse des Auslands war er mittlerweile finanziell völlig von den Honoraren für die Artikel abhängig geworden, die Aufnahme in der „Bremer Bürger-Zeitung“ fanden. Nachdem die ihm freundschaftlich verbundenen Redakteure Knief und Frölich zum Militärdienst einberufen worden waren und Henke mit einer ihm offen feindselig gesonnenen lokalen Bremer SPD-Pressekommission um seinen Posten als Chefredakteur des Blattes kämpfen musste, war dies aber bald zu wenig Geld, um Radek das Existenzminimum zu sichern.60 Als er sich wieder in die Schweiz absetzte, tat er das also auch, um seinen Lebensunterhalt durch die ihm 52 Lucas, S. 30. 53 Radek an Henke, 16.7.1916. Lucas, S. 65 und Trotnow, S. 233. 54 Radek, Avtobiografija, Sp. 159. 55 Ebenda. 56 Radek, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, S.74. 57 Deutscher, Trotzki I, S. 208. 58 „Er kam […] dem Aufruf zum österreichischen Militärdienst zuvor durch seine Emigration in die Schweiz […].“ Fischer R., Stalin, S. 248. 59 De Pottere, 16.10.1918; in: Baumgart, Vor fünfzig Jahren, S. 19. 60 Radek an Henke, 12. und 18.12.1914; in: Lucas, a.a. O.

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von Grimm ermöglichte Tätigkeit für die „Berner Tagwacht“ wieder einigermaßen geregelt bestreiten zu können. Für mehr als zwei Jahre wurde die Schweiz jetzt zu seinem neuen Aufenthaltsland. Ein Mitemigrant, der Men’ševik Oscar Blum schreibt über Radek, das Leben dort „war ihm nicht leicht. Ein paar polnische Freunde nahmen sich seiner an.“61 In Bern, wo er sich erst am 28. Oktober 1915 anmeldete, wohnte er in Untermiete bei Wollermann in der Pestalozzistraße 9II.62 Vor der Abreise aus Deutschland hatte er mit Franz Mehring noch die „Einzelheiten der „illegalen Nachrichtenübermittlung“ ins Lager der deutschen Kriegsgegner verabredet.63 Seine in Berlin zurückgebliebene Frau Rosa, über die die „illegalen Verbindungen“ nach Berlin dann ebenfalls liefen, besuchte ihn im Sommer 1915 für mehrere Wochen in seinem neuen Domizil, und als sie nach Berlin zurückreiste, nahm sie als Kurier die Einladung an deutsche Linksradikale zu der im September geplanten internationalen sozialistischen Konferenz in Zimmerwald mit64. Vermutlich 1916 übersiedelte sie ebenfalls in die Schweiz und erhielt eine Anstellung als Ärztin im „Basler Sanatorium“ in Davos-Dorf.65 Radek der sich 1915 während seines Strohwitwerdaseins in Bern vorübergehend mit der Schwester eines menschewistischen Emigranten aus Russland getröstet hatte66, lebte nun wieder mit seiner Frau zusammen. Er zog Mitte 1916 nach Davos-Dorf um und wohnte gemeinsam mit Rosa in einem kleinen Häuschen außerhalb des Graubündener Gebirgskurortes.67 Als Radek sich 1915 in Bern niederließ, war in Europa die patriotische Hochstimmung der ersten Kriegswochen wieder verflogen. Unter der Devise, das „imperialistische Völkermorden“ sofort zu beenden und die internationale Zusammenarbeit über die Schlachtfelder hinweg aufzunehmen, begannen sich radikale Kleinkreise, osteuropäische Emigrantenzirkel und sozialistisch-pazifistische Gruppen zu formieren. Die neutrale Schweiz wurde zur Drehscheibe der Aktivität der Kriegsgegner in der internationalen Sozialdemokratie. Diese bildeten zwei Lager: Die sozialen Pazifisten, die eine Rückkehr zur friedlichen Koexistenz der Nationen und Klassen anstrebten, um den friedlichen Kampf für soziale Reformen fortzusetzen, und die revolutionären 61 Blum, S.  87. Darunter sehr wahrscheinlich die ebenfalls in der Schweizer Emigration lebenden „Rosłamowcy“ Hanecki-Fürstenberg und Henryk Kamiénski (Pseudonym von Henryk Stein, 1883–1937, Redakteur der „Gazeta Robotnicza“ und wie Hanecki Mitglied des Zarząd Krajowy SDKPiL). 62 Gautschi, S. 314, Anm. 38 und Lademacher, Band II, S. 89 (Brief Radek an Nobs, 4.8.1915). 63 Radek, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, S. 39. 64 Radek, Avtobiografija, Sp. 159. Grimm verschickte die Einladungen zur Zimmerwalder Konferenz in der zweiten Augusthälfte 1915. Rosa Radek dürfte in diesem Zeitraum wieder nach Deutschland zurückgefahren sein und die Einladung an die „Lichtstrahlen-Gruppe“ Julian Borchardts überbracht haben. 65 Ebenda, Sp. 162 . 66 Lerner, S. 35, Anm. 16. 67 Bericht Paul Levis; Beradt, S.19 und Quack, S. 120. Gautschi nimmt an, dass Radek sich im Winter 1916/17 im Basler Sanatorium in Davos zur Kur befand. Gautschi, S. 345.

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Antimilitaristen, welche mit dem Krieg die lange ersehnte Gelegenheit zum Sturz der Bourgeoisie gekommen sahen und die „Sozialpazifisten“ bekämpften.68 Als radikaler politischer Journalist reihte sich Radek in das Lager der revolutionären Kriegsgegner ein. Ohne zunächst Anschluss an eine bestimmte Gruppierung zu suchen, blieb er nach Deutschland orientiert und publizierte weiterhin in der „Bremer-Bürger-Zeitung“ und Borchardts „Lichtstrahlen“ sowie auch im „Braunschweiger Volksfreund“. Seinen eigenen Angaben zufolge wurde er Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS).69 Er hielt Vorträge über den Imperialismus an der Parteischule der SPS in Bern und schrieb nicht nur als „Parabellum“ für Grimms „Berner Tagwacht“, sondern unter dem Pseudonym „Arnold Struthahn“ auch für dessen „Monatsschrift für sozialistische Bildung ,Neues Leben‘“ und für das linksstehende sozialdemokratische Zürcher „Volksrecht.“70 Zwei Briefe Radeks an den Redakteur des „Volksrechts“, Ernst Nobs71, machen den Tenor seiner journalistischen Arbeit in der Schweiz deutlich: „Ich würde Ihnen Artikel liefern, die 1) vom prinzipiellen Standpunkt die vom Krieg aufgeworfenen Fragen beleuchten, 2) wenn größere neue Vorgänge weltpolitischen Charakters kommen. Als erstes würde ich sehr gerne am 31. über Jaurès72 schreiben und dann, wenn Sie nichts dagegen haben, eine Artikelserie: Das erste Jahr des Krieges. Sie würde zusammenfassend in knappen abgeschlossenen Artikeln a) den historischen Inhalt des Krieges, b) seine Einwirkung auf die Entwicklung der Demokratie, c) die Aussichten des Sozialismus darstellen. Da jeder Artikel abgeschlossen wäre, müssten Sie die Serie – sie wird höchstens 4 Art[ikel] haben – nicht auf einmal bringen.“73

Ein Gedenkartikel Radeks über Jaurès und die Artikelserie „Das erste Jahr des Krieges“ erschienen im „Volksrecht“ nicht, und so schlug Radek vor, eine andere Artikelreihe in das Blatt aufzunehmen, 68 Vgl. Waldman, S.73f. 69 Auf den 1915 in der deutschen Sozialdemokratie erhobenen Vorwurf, dass er keinerlei Parteimitgliedschaft besitze, reagierte er in der „Neuen Zeit“ mit der Feststellung, dass er sowohl der „Sozialdemokratischen Partei der Schweiz“ als auch der „Russischen Sozialdemokratischen ArbeiterPartei“ angehöre. Karl Radek, „Notiz“, in: „Die Neue Zeit“, Nr. 9, 28.05.1915, S. 288. Radeks Angaben sind zutreffend. Als „Rosłamowcy“, das heißt Angehöriger des Zarząd Krajowy [Landesvorstand] der SDKPiL war er automatisch Mitglied der RSDRP. In Bezug auf die SPS werden seine Angaben durch einen Agentenbericht vom 6. Februar 1917 bestätigt, wonach er auf einer von Grimm geleiteten Veranstaltung der Internationalen Sozialistischen Kommission am 1.2.1917 in Bern das Wort als Schweizer Genosse ergriff. Lademacher, Band 2, S. 682ff. 70 Radek, Avtobiografija, Sp. 159. 71 Nobs, Ernst (1886–1957); Schweizer Sozialdemokrat und Parteijournalist; seit 1915 Redakteur des Zürcher „Volksrecht“ und seit 1915 auch Nationalrat. 72 Jaurès, Jean Auguste (1859–1914), führender französischer Sozialist, der am Vorabend des Ersten Weltkrieges, am 31. Juli 1914, von einem Nationalisten erschossen wurde. 73 Radek an Nobs, 25.7.1915. Lademacher, Band 2, S. 85f.

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„[…] die die Strömungen in der Internationale behandelt, die den Krieg hervorgerufen hat [sic!] und sie ruhig und systematisch würdigt. Sie lautet: Internationale und Imperialismus. I. Der Sozialpatriotismus, II. Sozialimperialismus, III. Sozialpazifismus, IV. Die neue Epoche und der Marxismus. […] Sie [die Artikel] behandeln Theorie und Praxis der neuen Fragen.“74

Die Artikelreihe wurde am 11., 21. und 28. August sowie am 11. und 14. September 1915 im „Volksrecht“ veröffentlicht, mit den Titeln „Der Sozialpatriotismus“, „Der Sozialimperialismus“, „Der Sozialpazifismus“, „Sozialismus gegen Imperialismus“, „Zusammenbruch und Auferstehung“. Dazu merkte die Redaktion an, dass mit der Artikelserie „die während des Weltkrieges entstandenen ,neuen‘ Strömungen in der Internationale (Sozialpatriotismus, Sozialimperialismus, Sozialpazifismus) vom Standpunkt des Marxismus untersucht und im Gegensatz zu ihnen die internationale Politik des Proletariats geschildert“ würden.75 Entscheidend für Radeks weitere politische Entwicklung war jedoch, dass er wieder mit Lenin, Zinov’ev und anderen Bol’ševiki in Kontakt kam. Lenin, der sich bereits seit September 1914 im Exil in der Schweiz befand, hatte in seinem „Manifest“ die SPD verdammt, die II. Internationale für tot erklärt und zur Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg aufgerufen: „Je größer die Verluste im Krieg werden, desto klarer wird es den werktätigen Massen werden, daß die Opportunisten [das heißt: die Sozialdemokraten und die II. Internationale] die Sache der Arbeiter verraten haben, und daß es notwendig ist, die Waffen gegen die Regierungen und die Bourgeoisie der betreffenden Länder zu wenden. […] Diesen imperialistischen Krieg zu einem Bürgerkrieg zu machen, ist die einzig richtige proletarische politische Losung.“76

Radek behauptete zwar, dass das Manifest „einen gewaltigen Eindruck“ auf ihn gemacht habe, aber er bewertete Ende 1914 und auch in den ersten Monaten des Jahres 1915 die radikalen politischen Konsequenzen, die sich aus Lenins Lagebeurteilung ergaben, zunächst noch ziemlich zurückhaltend: „Völlig einverstanden war ich mit seiner Einschätzung des Krieges und auch der Internationale, aber im Hinblick auf den Zustand der deutschen Sozialdemokratie war ich der Auffassung, daß der Weg bis zum Bürgerkrieg noch sehr lang sein werde und daß es noch zu früh sei, die Frage der Spaltung [der SPD] zu stellen.“77

74 Radek an Nobs, 4.8.1915. Ebenda, S. 89. 75 Ebenda. 76 Zitiert nach Shub, S. 160. 77 Radek, Avtobiografija, Sp. 158. Radek spielte die Meinungsverschiedenheit mit Lenin über die Frage der Parteispaltung herunter, indem er behauptete, dieser habe ihm zugestanden, „es handele

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Er hielt immer noch an der Vorstellung fest, dass es den Linksradikalen in der SPD letztlich doch gelingen würde, „einen geschlossenen kampffähigen linken Flügel“ zu schaffen, der den vollkommenen Zusammenbruch der Internationale verhindern und die Arbeiterschaft gegen den Krieg mobilisieren könne. Selbst nach der neuerlichen Bewilligung von Kriegskrediten mit Unterstützung der SPD im März 1915, erwartete er trotz der Verbitterung über die weiter vom Gedanken des Burgfriedens dominierte Haltung der Sozialdemokraten noch eine Wiederbelebung der radikalen Strömungen in der Partei.78 Das Erscheinen der ersten Nummer der von Rosa Luxemburg und Franz Mehring herausgegebenen Zeitschrift „Die Internationale“ im April 1915 bewertete er euphorisch als einen „Schritt vorwärts“ und als Indiz dafür, dass die Linke in der SPD neue Bedeutung gewonnen habe.79 Nachdem diese „Monatszeitschrift für Praxis und Theorie des Marxismus“ aber, sofort von der Zensur verboten, nur in einer einzigen Ausgabe erscheinen konnte, Luxemburg inhaftiert war und man den aus der SPD ausgeschlossenen Karl Liebknecht als Armierungssoldat zwangsrekrutiert hatte, wurde auch Radek schließlich deutlich, dass die Linksradikalen in der SPD keine politische Chance hatten, das Ergebnis des 4. August 1914 zu revidieren. Er brachte diese Einsicht zwar nicht explizit auf den Seiten der „Berner Tagwacht“ zum Ausdruck, aber er äußerte sich dort kaum noch zu möglichen linksradikalen Perspektiven in Deutschland. Bis zum Mai 1915 näherte er sich in seinen Artikeln Lenins radikalen Auffassungen jedoch so unverkennbar an80, dass sein Protektor Robert Grimm von dem befreundeten menschewistischen Führer Aksel’rod gewarnt wurde, „[…] sich nicht ganz vertrauensvoll auf ihn [Radek] zu verlassen, wie er entsprechend seinem schriftstellerischen Talent verdient hätte, wenn er ein charakterfester Mann wäre. Er ist aber einer der Leninschen Kanäle oder Instrumente; es fehlt ihm eben […] das nötige moralische Rückgrat, um ganz selbständig zu sein und nicht gerade vor [von] asiatischen Kraftäusserungen sich imponieren zu lassen und sich willenlos zu beugen.“81

Lenin lebte seit September 1914 in Bern und Radek begegnete ihm im Kreis der russischen politischen Emigranten regelmäßig. Als im Volkshaus in Bern vom 27.  Februar bis 3. März 1915 die Konferenz der bolschewistischen Auslandssektionen der RSDRP stattfand, bat der Russe um Radeks Einschätzung, wie Rosa Luxemburg und andere westliche Sozialisten sich wohl zu dem Gedanken stellen würden, dass der Krieg notwendigerweise zu einer proletarischen Revolution in ganz Europa und damit zum Entstehen der sozialistischen „Vereinigten Staaten von Europa“ führen würde. Das

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sich um eine taktische Frage, die nicht losgelöst von der Stärke der Opposition im jeweiligen Lande entschieden werden könne.“ Ebenda, Sp. 159. Parabellum [Radek], „Das Budget angenommen“ ,in: „Berner Tagwacht“, 22.3.1915. Ders., „Ein Schritt vorwärts in Deutschland“, in: „Berner Tagwacht“, 21.4.1915. Vgl. Lerner, S. 37. Aksel’rod an Grimm, 20.5.1915; in: Lademacher, Band 2, S. 71.

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Thema, Gegenstand einer Kontroverse zwischen Lenin und Trockij82, befand sich auf der Agenda der Tagung und Radeks skeptische Beurteilung dieser Frage trug mit dazu bei, dass Lenin von der politischen Parole „Vereinigte Staaten von Europa“ wieder Abstand nahm.83 Der von der deutschen Sozialdemokratie und auch von den russischen Men’ševiki vom Schlage Aksel’rods enttäuschte Radek datiert seine Konversion zu Lenin und den Bol’ševiki auf das Frühjahr 1915, indem er schreibt: „Der tägliche Umgang mit Lenin und der Meinungsaustausch mit ihm überzeugten mich schließlich davon, daß die Bol’ševiki die einzige revolutionäre Partei in Russland waren, und bereits zum Zeitpunkt der Internationalen Frauenkonferenz im April 1915 half ich im Kampf gegen Clara Zetkins zentristische Politik. Gleichzeitig arbeiteten wir unter den jungen Leuten, welche die ,Jugendinternationale‘ herausgaben und gemeinsam führten wir die Propaganda unter den Schweizer Sozialdemokraten.“84

Radek bezieht sich damit zunächst auf zwei internationale Konferenzen, die im März und im April 1915 im Berner Volkshaus stattfanden und bei denen er bereits als einer der Helfer Lenins fungierte: Vom 26. bis 28. März tagte die von Clara Zetkin im engen Kontakt mit Robert Grimm initiierte und von ihr geleitete internationale sozialistische Frauenkonferenz mit etwa 30 Teilnehmerinnen aus fast ganz Europa. Das Manifest der Konferenz bildete den ersten internationalen Protest gegen den Krieg und forderte die Arbeiterfrauen auf, weltweit für den Frieden zu kämpfen, der nur im Zeichen des Sozialismus möglich sei. Lenin hielt diese Resolution für zu sanftmütig-pazifistisch. Er wollte die Tagung als Ansatzpunkt für die Gründung einer neuen Internationale nutzen und verfolgte den Verlauf der Veranstaltung vom Café des Volkshauses aus, wo er den fünf bolschewistischen Delegierten – darunter die Krupskaja85, Ines Armand86 und Zinovévs Frau Lilina87 – fortwährend politische Ratschläge und Weisungen erteilte. Als Drahtzieher im Hintergrund erreichte er schließlich, dass eine bolschewistische Resolution mit seinem Vorschlag zur Schaffung einer neuen Internationale ins Protokoll aufgenommen wurde.88 Auch Radek hat offenbar versucht, den Gang der Ver-

82 Vgl. Deutscher, Trotzki I, S. 210 und S. 229f. 83 Lerner, a.a.O. 84 Radek, Avtobiografija, Sp.159. Radek irrt sich in der Datierung der Frauenkonferenz, die bereits Ende März 1915 stattfand; siehe unten. 85 Krupskaja, Nadežda (Nadja) Konstantinova (1869–1939), Tochter eines adligen Gerichtsbeamten, Lehrerin. Heiratete Lenin 1898, um ihm in die Verbannung nach Sibirien folgen zu können. 86 Armand, Ines (genannt Inessa; russische Vornamen: Elizaveta Fjodorovna), geb. Steffen (1875– 1920); in Paris geborene und in Russland mit dem Wollfabrikanten Armand verheiratete Revolutionärin. Nachdem sie ihren Mann und ihre vier Kinder verlassen hatte, wurde sie Lenins Geliebte und seine engste Mitarbeiterin. 87 Lilina: Geburtsname von Zinov’evs erster Ehefrau Zina I. Zinov’eva (1882–1929). 88 Vgl. Gautschi, S. 119f.

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handlungen im Sinne Lenins zu beeinflussen. Toni Sender89, eine der Delegierten, erinnerte sich daran, dass Radek im Volkshaus gegenüber Clara Zetkin als Emissär Lenins auftrat, was man ihm schon allein wegen seines in der deutschen Sozialdemokratie lädierten Rufes übelnahm: „Sie [Clara Zetkin] und viele andere Delegierte, die ihn kannten, waren keinesfalls erfreut, als Karl Radek, der als Assistent Lenins anwesend war, hereinkam und sich zu uns setzte. Wir kannten seinen miesen Charakter zu gut, um ihn als Mitglied haben zu wollen.“90 Eine Woche später, während der Ostertage vom 5. bis zum 7. April, wurde eine Versammlung sozialistischer Jugendorganisationen, die gegen die Burgfriedenspolitik ihrer Parteien opponierten, durchgeführt. An dieser ebenfalls mit Grimms Unterstützung von Willi Münzenberg91 geleiteten internationalen sozialistischen Jugendkonferenz nahmen vierzehn Delegierte aus zehn europäischen Staaten teil. Erneut steuerte Lenin die beiden bolschewistischen Teilnehmer aus dem Café des Volkshauses und wieder gelang es, die von ihm als zu pazifistisch empfundene Resolution der Veranstaltung durch die Aufnahme einer militanten bolschewistischen Resolution ins Protokoll zu konterkarieren. Für Münzenberg, den Sekretär des sozialdemokratischen Jugendverbands der Schweiz, war dies die erste schicksalhafte Begegnung mit Lenin und er dürfte bei dieser Gelegenheit auch Radek kennengelernt haben. Er wurde ein eifriger Bewunderer der Bol’ševiki und verschaffte ihren Ideen nun Raum in seinen Publikationsorganen. Am 1. September 1915 erschien die erste Nummer des von ihm in Zürich herausgegebenen Kampforgans „Jugend-Internationale“. Sie enthielt eine „Sammlung der besten revolutionären und antimilitaristischen Aufsätze über die proletarische Jugendbewegung, von Führern der Arbeiterbewegung geschrieben“ und einen Aufruf zur „Verschärfung des antimilitaristischen und Antikriegskampfes“. Mit dem Artikel „Jugend vor die Front!“ war in dieser Ausgabe auch Karl Radek vertreten, der ebenso wie Lenin und Trockij fortan zu den ständigen Mitarbeitern der vierteljährlich erscheinenden Jugendzeitschrift zählte.92 Münzenberg zog Radek auch als Autor für die Hefte seiner „Sozialistischen Jugendbibliothek“ heran, von der 1916 und 1917 zwanzig Ausgaben erschienen und für die Radek unter dem Pseudonym Struthahn den in 2000 Exemplaren verbreiteten Titel „Was bedeutet die Ablehnung 89 Sender, Sidonie Zippora – selbstgewählter Vorname: „Toni“ (1888–1964); Linkssozialistin; 1920– 1933 Reichstagsabgeordnete der USPD und dann der SPD; 1933 Emigration in die USA, wo sie als Journalistin und Mitarbeiterin des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften tätig war. 90 Sender, S. 78. Eine der Delegierten, die Radek kannten, war Berta Thalheimer, die Schwester August Thalheimers, der Radek 1913 des Manteldiebstahls bezichtigt hatte. 91 Münzenberg, Willi (1889–1940); Gastwirtssohn aus Erfurt, Schuhmacher, seit 1910 in Zürich wohnhaft, Sekretär der sozialdemokratischen Jugendorganisation der Schweiz, 1918 aus der Schweiz ausgewiesen, 1919–1921 Sekretär der von ihm geschaffenen Jugendinternationale, 1924 Reichstagsabgeordneter der KPD sowie Propaganda- und Pressechef der Partei, 1933 Emigration nach Frankreich, 1937 als Stalin-Gegner aus der KPD ausgeschlossen, 1940 erhängt in einem Wald bei Lyon aufgefunden. 92 Münzenberg, S. 198ff.

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der Landesverteidigung?“ verfasste.93 Die Broschüre ist verschollen, aber Radek hat später eine russische Übersetzung des Textes veröffentlicht. Darin propagiert er die Auffassung Lenins, wonach die Landesverteidigung zur Bewahrung des bürgerlichen Staates politisch abzulehnen sei und erst nach der sozialistischen Umgestaltung des Vaterlandes akzeptiert werden könne. Dennoch entspräche nicht die Verweigerung des Militärdienstes, sondern die Umkehr der Waffen gegen die eigene Bourgeoisie den Aufgaben des Proletariats.94 Radek, spielte im Sommer 1915 sogar mit dem Gedanken als Soldat in der Truppe als Agitator zu wirken, wie Karl Liebknecht. Offenbar hatte er einen Musterungsbescheid für den 28. Juli 1915 erhalten.95 Als er Lenin davon in Kenntnis setzte, schrieb ihm dieser: „Soldat zu werden, rate ich Ihnen nicht. Den Feinden darf man nicht helfen. Sie werden den Scheidemännern einen Dienst erweisen. Emigrieren Sie lieber. Das ist wirklich besser. Linke Kräfte werden jetzt ganz dringend gebraucht.“96 Er blieb Zivilist, empfahl nun aber seinen schweizerischen Genossen zum Militärdienst einzurücken, um dann soweit als möglich die Disziplin in der Armee zu untergraben.97 Bei aller Annäherung an die Bol’ševiki, trennten Radek von Lenin allerdings noch unterschiedliche ideologische Auffassungen im Hinblick auf die Frage der revolutionären Organisation, die Rolle der Parteiführung und das Problem der nationalen Selbstbestimmung der Völker. Er teilte zu diesen Themenkomplexen weiter den Standpunkt Rosa Luxemburgs. Marx und Engels folgend, betrachtete er die Arbeiterklasse als revolutionäre Hauptkraft. Wie Rosa Luxemburg war auch er davon überzeugt, dass sich weder Massenstreiks noch Revolutionen „auf Kommando“ machen ließen. Sie könnten erst dann zustande kommen, wenn die historischen Voraussetzungen dafür gegeben seien. Aus den sozialen Verhältnissen würden sich mit geschichtlicher Notwendigkeit die Massenaktionen als Akte der Spontaneität ergeben, und erst dann könne und müsse die Partei die politische Leitung der revolutionären Entwicklung übernehmen. Im Unterschied dazu setzte Lenin auf eine im Kern aus disziplinierten Berufsrevolutionären bestehende Elitepartei, die den revolutionären Kampf von vornherein organisieren und gewissermaßen die Initialzündung für die Revolution geben müsse. Bereits 1902 hatte er in seiner Schrift „Čto delat’ [Was tun]?“ formuliert, man dürfe das Proletariat nicht sich selbst überlassen. Es sei nicht in der Lage in seinem spontanen wirtschaftlichen Kampf das Bewusstsein 93 Ebenda, S. 189f. 94 Radek, Čto značit otkaz zaščity otečestva? [Was bedeutet die Ablehnung der Vaterlandsverteidigung?]; in: Radek, Germanskaja revoljucija, tom I, S. 503ff. In der politischen Aussage deckungsgleich mit: Lenin, „Die Aufgaben der Linksradikalen (oder der linken Zimmerwaldisten) in der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz“; in: Werke, Band 23, S. 135ff. 95 Darauf deutet ein Schreiben Radeks an Nobs vom 25.7.1915 hin: „Werter Genosse Nobs! […] Falls ich am 28. d. h. bei der neuen KK Fleischbeschau nicht eingezogen werde, um das Vaterland zu verteidigen, werde ich gern von Zeit zu Zeit [für das Zürcher „Volksrecht“] schreiben“. Lademacher, Band 1, S. 85. 96 Lenin an Radek, vor dem 4. August 1915; in: Lenin, Werke, Band. 36, S. 317. 97 Brupbacher, S. 197, der über eine SPS-Versammlung mit Radek im Frühjahr 1917 berichtet.

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revolutionärer Bestimmung zu entwickeln. Ein solches Bewusstsein müsse vielmehr von außen her in die Arbeiterklasse hineingetragen werden. Als besonders ausgeprägt erwies sich zwischen beiden der Dissens über die nationale Selbstbestimmung, der sich an der polnischen Frage entzündete. Während Radek der internationalistischen Auffassung Luxemburgs folgend, die nationale Selbstbestimmung zu einer historisch überholte Utopie erklärte, glaubte Lenin, die im Zarenreich unterdrückten Völker als noch unerschlossene Potentiale in den Dienst der Revolution stellen zu können, indem er ihnen die Unabhängigkeit zusicherte. Den Polen billigte er deshalb 1914 ausdrücklich das Recht auf Selbstbestimmung zu, was in der Folge noch zu einer giftigen Polemik mit Radek Anlass geben sollte. Anfang Mai 1915 wurde Radek erstmals als Briefschreiber für Lenin tätig und bot in dessen Auftrag Trockij die Mitarbeit an einer noch zu gründenden Revue an, einem „Kampforgan“, um das sich die „internationalistischen Kräfte sammeln sollten.98 Nachdem sich die II. Internationale als unfähig erwiesen hatte, eine gemeinsame Aktion der sozialistischen Parteien gegen den Krieg durchzuführen, griff Grimm, der schon 1914 mit oppositionellen Sozialisten der kriegführenden Mächte die Möglichkeit eines Aktes der internationalen Solidarität diskutiert hatte, im Frühjahr 1915 den Gedanken wieder auf, die internationalistisch gesinnten Minderheiten aus den gegeneinander kämpfenden Staaten zu einer gemeinsamen Konferenz in der neutralen Schweiz zusammenzurufen. Wie schon zuvor bei den Konferenzen der sozialistischen Frauen und der sozialistischen Jugend in Bern, wollte Lenin diese Gelegenheit nutzen, um seine Bürgerkriegslosung vor einem multinationalen Forum zu propagieren und sich so eine Plattform für Schritte in Richtung einer neuen revolutionären Internationale verschaffen. Über die Vorbereitungen dieser von Grimm geplanten Tagung, die als Konferenz von Zimmerwald99 in die Geschichte eingehen sollte, wurde Lenin, der den Sommer in Sörenberg verbrachte100, von Zinov’ev und Radek aus Bern auf dem Laufenden gehalten. Als der Eindruck entstand, Grimm wolle von den russischen Sozialisten nur das Organisationskomitee (OK) der RSDRP, also die Men’ševiki, nicht aber das Zentralkomitee (CK) der RSDRP, das heißt die Bol’ševiki, einladen, meinte Radek, es handele sich lediglich um ein Versehen. Doch Lenins Argwohn war geweckt. Er warnte Radek vor Gutgläubigkeit: „Sie schreiben, ,Grimm macht das (= Umgehung des ZK?) ohne Absicht‘. […] Hm, hm! Es scheint mir wenig glaubhaft zu sein. Ist Grimm wirklich ein Kind? Nach zwei Konferenzen

98 Brief Radeks an Trockij vom 4. Mai 1915. Wilde Harry, Leo Trotzki, Hamburg 1969, S.  83– 85. 99 Wenn nicht anders vermerkt, folgt die Darstellung der Zimmerwald-Konferenz Gautschi, S. 140– 156. 100 Wegen der Basedowschen Krankheit der Krupskaja, die einen Aufenthalt im Gebirge erforderlich machte, hielt sich Lenin mit ihr von Anfang Juni bis Anfang Oktober 1915 im Bergdorf Sörenberg im Kanton Luzern auf. Von dort aus nahm er dann auch an der Zimmerwalder Konferenz teil.

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in Bern??“101 Noch voller Skepsis gegenüber Grimms Plänen, legte Lenin in seinem Brief an Radek die Marschrichtung für eine Beteiligung an dem Treffen fest: „Die Dreckkerle werden zusammenkommen, sagen, daß sie ,gegen die Politik des 4. August‘ sind, daß sie ,für den Frieden‘, ,gegen Annexionen‘ und … und … sind und werden somit der Bourgeoisie helfen, die revolutionäre Stimmung im Keime zu ersticken. Aus Ihrem Brief schließe ich, daß Sie auch so denken. Ergo muß unser Programm sein: 1. gehen, wenn man uns einlädt; 2. die ,Linken‘, d.h. die Anhänger revolutionärer Aktionen gegen die eigene Regierung rechtzeitig zusammenschließen; 3. den kautskyanischen Dreckkerlen unseren Resolutionsentwurf […] vorsetzen; 4. 2–3 Redner auf der Konferenz auftreten lassen (wenn Sie durchsetzen, daß Sie anwesend sind, so ist das möglich) […]. Schreiben Sie, was Sie von diesem Programm halten, Sein Hauptinhalt = gegen die stupide und verräterische Friedenslosung. Kommen Sie! Ihr Lenin“102

Am 11. Juli 1915 fand in Bern eine von Grimm veranstaltete Vorbesprechung statt, bei der Zinov’ev als Emissär Lenins vergeblich durchzusetzen versuchte, die Einladungsliste für eine geplante zweite Vorkonferenz auf die linksradikalen Splittergruppierungen in Europa auszuweiten, zu denen Lenin, teilweise unterstützt von Radek, bereits Verbindung aufgenommen hatte, um einen linken Flügel für die vorgesehene Tagung bilden zu können. Dazu zählten u.a. die „Tribunisten“ (Wijnkoop, van Ravesteyn) in den Niederlanden103, die lettische Sozialdemokratie (Berzin)104, die polnischen „Rosłamowcy“ des „Zarząd Krajowy [Landesvorstand]“ SDKPiL“ (Radek), die Gruppe Höglund aus Schweden105 und die „Lichtstrahlengruppe“ Ju101 Lenin an Radek, nach dem 19. Juli 1915, geschickt von Sörenberg nach Bern; Lenin, Werke, Band 36, S. 310. Mit dem Hinweis auf die zwei Konferenzen in Bern spielt Lenin auf die beiden internationalen Konferenzen der Frauen und der Jugend im Frühjahr 1915 an, die Grimm doch seine Bedeutung als bolschewistischer Führer deutlich gemacht haben müssten. 102 Ebenda, S. 311f. 103 Die „Tribunisten“ waren der Kreis um das linkssozialistische Blatt „De Tribune“ und dessen Gründer David Wijnkoop (1876–1941) und Willem van Ravesteyn, die sich als Sociaal Democratische Partij/SDP 1909 von der Sociaal- Democratische Arbeiders Partij/ SDAP abgespalten hatten. Nach 1918 wurde die SAP zur Communistische Partij Holland/CPH. 104 Berzin, Jan Antonovič (Pseudonym von Winter, Pavlov), 1881–1941; nach der Oktoberrevolution Leiter der Sowjetmission in der Schweiz und in Österreich; nicht identisch mit dem gleichnamigen Schöpfer des geheimen sowjetischen Nachrichtendienstes. 105 Höglund, Carl Zeth Konstantin (1884–1956); linksoppositioneller Sozialdemokrat und später Vorsitzender der Kommunistischen Partei Schwedens; seit 1926 wieder Sozialdemokrat. Zu Höglunds Gruppe gehörte auch der Schriftsteller Ture Nerman (1886–1969), der eine ähnliche politische Entwicklung durchlief. Beide nahmen an der Zimmerwalder Konferenz als Vorstandsmitglieder des sozialdemokratischen Jugendverbandes Schwedens und Norwegens teil.

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lian Borchardts.106 Als Radek, wegen seiner Nichtteilnahme an der ersten Vorkonferenz von Lenin getadelt107, bei Grimm nachfragte, warum er dazu und auch zur zweiten Vorbesprechung keine Einladung erhalten habe, erhielt er die Antwort, dass die „Rosłamowcy“ bewusst nicht eingeladen worden seien. Die bürokratisch formulierte Begründung lautete, sie wären „1) […] nicht im Internationalen Sozialistischen Bureau [der II. Internationale] vertreten gewesen, 2) es müßten dann noch andere Organisationen herangezogen werden, was den Umfang der Vorkonferenz vergrössern würde.“108 Ein daraufhin von Radek veranlasstes Protestschreiben Kamiénskis, „i[m] Auftrage des auswärtigen Sekretariats des Landesvorstandes der Sozialdemokratie Russ[isch] Polens und Litauens“ aus Zürich an Grimm, in dem von Radek „als unserem Vertreter“ die Rede war und „die Nichteinladung unserer Organisation als ihre unstatthafte Hintansetzung“ gegeißelt wurde109, konnte sich nicht mehr unmittelbar auswirken. Eine zweite Vorkonferenz fand nicht statt – es kam gleich zur Hauptkonferenz. Von Zinov’ev wegen der Teilnehmerliste erneut gemahnt110, lud Grimm nun je einen Vertreter der linksradikalen Splittergruppen und damit auch Radek als Vertreter des polnischen „Landesvorstandes“ zu dem Treffen ein111. Dem Organisator der Konferenz wurde allerdings von Karl Liebknecht brieflich geraten, darauf zu achten, dass der Pole auf dem Treffen nicht den Störenfried spiele; er gab den Rat, „Radek soll sich zurückhalten.“112 „Auf die Zimmerwalder Konferenz“, schreibt Radek, „bereiteten wir uns sehr sorgfältig vor. Ich verfasste einige Thesen, die von Lenin rigoroser Kritik unterworfen wurden – er bestand darauf, dass sie agitatorischen Charakter tragen und von höchster Prägnanz sein müssten.“113 In der Tat hatte Lenin einen von Radek geschriebenen Resolutionsentwurf für die Konferenz an den Verfasser zurückgeschickt und beanstandet, dass „[…] kein Wort von dem Sozialchauvinismus und (=) Opportunismus und Kampf dagegen!!“ enthalten sei sowie moniert, „[…](Ihr Entwurf ist zu ,akademisch‘, kein Kampfruf, Kampfesmanifest)“.114 106 Auf die Bedeutung, die Borchardt und seine Gruppe Lenins Auffassung nach hatten, wies er in einem Brief an Radek ausdrücklich hin: „Die ,Lichtstrahlen‘ als Gruppe anzuerkennen und sie für wichtiger anzusehen als die Zetkinsche ist nicht komisch. In dieser Gruppe sind Borchardt + Radek + Mitarbeiter der „Lichtstrahlen“. Das genügt schon. Diese Gruppe hat eine kleine Zeitschrift. (Zetkin und Co. dagegen nicht.) Borchardt hat als erster öffentlich erklärt: Die Sozialdemokratie hat abgedankt. Das ist keine Propagandamacherei, sondern ein wichtiger politischer Akt. Das ist eine Tat und kein leeres Gerede“. Lenin an Radek, geschrieben vor dem 4. August 1915; Lenin, Werke, Band 36, S. 316 f. 107 „Es ist mir unverständlich, wie Sie die Vorkonferenz in Bern ,verpassen‘ konnten!?! Und mich haben Sie noch ermahnt!?“. Lenin an Radek, um den 15. Juli 1915; Lenin, Werke, Band  36, S. 314. 108 Kamiénski an Grimm, 3. August 1915; Lademacher, Band 1, S. 87. 109 Ebenda, S. 87f. 110 Zinov’ev an Grimm, 22. August 1915; ebenda, S. 94ff. 111 Lademacher, Band 1, S. LX. 112 Liebknecht an Grimm, 2. September 1915; Lademacher, Band 1, S. 100. 113 Radek, Avtobiografija, Sp. 159. 114 Lenin an Radek, geschrieben Ende August 1915, Lenin Werke, Band 35, S. 179.

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Um für Zimmerwald einen Block seiner politischen Richtung endgültig zusammen zu bringen, traf sich Lenin am 4. September 1915, dem Vorabend der Konferenz, in „Zinov’evs Zürcher Emigrantenstube“ mit Trockij115, Zinov’ev, Radek und fünf weiteren linksradikalen Internationalisten – den Schweden Höglund und Nerman, dem Deutschen Borchardt, dem Schweizer Platten116 und dem Letten Berzin (Winter). Sowohl Lenin als auch Radek stellten während der Zusammenkunft ihre Resolutionsentwürfe für die Konferenz zur Diskussion. Mit Trockij wurde keine Übereinstimmung erreicht. Die übrigen Teilnehmer verwarfen das von Radek ins Deutsche übersetzte Papier Lenins. Sie entschieden sich für den von Radek eingebrachten „Vorschlag der Resolution über: Weltkrieg und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ sowie auf seinen „Vorschlag des Manifestes.“117 Lenins Änderungswünschen Rechnung tragend, heißt es darin kämpferisch: „Der rücksichtslose Kampf gegen den Sozialimperialismus bildet die erste Vorbedingung zur revolutionären Mobilisation des Proletariats und zur Wiederaufrichtung der Internationale. Es ist die Aufgabe der sozialistischen Parteien wie der sozialistischen Oppositionen in den nunmehr sozialimperialistischen Parteien, die Arbeitermassen zum revolutionären Kampfe gegen die kapitalistischen Regierungen um die Eroberung der politischen Macht, zwecks sozialistischer Organisation der Gesellschaft, zu rufen und zu führen.“118 „Die Niederwerfung der kapitalistischen Regierung, das muß das Ziel sein, das sich die Arbeiterklasse in allen kriegführenden Ländern stecken muss […].“119

Am Sonntag, dem 5. September 1915, morgens um 10.00 Uhr, begrüßte Grimm die Teilnehmer der ersten Internationalen Sozialistischen Konferenz im Volkshaus in Bern. Anschließend fuhr man in Pferdefuhrwerken zu dem geheim gehaltenen Tagungsort. Über die Fahrt berichtet Trockij : „Wir drängten uns in vier Wagen zusammen und fuhren ins Gebirge. Die Vorübergehenden blickten neugierig auf diese seltsame Karawane. Die Delegierten scherzten selbst darüber, daß es ein halbes Jahrhundert nach der Begründung der ersten Internationale möglich war, alle Internationalisten in vier Wagen unterzubringen.“120

115 Trockij war als Repräsentant seiner eigenen Gruppe, der Zeitschrift „Naše slovo [Unser Wort]“, aus Paris angereist. 116 Platten, Fritz (1883–1942); ursprünglich Schlosser, Sekretär der SPS, ab 1917 Nationalrat, später Mitbegründer der Kommunistischen Partei der Schweiz. Ab 1924 dauernd in der Sowjetunion; starb als Anhänger Trockijs in einem Arbeitslager in Archangel’sk. 117 Text beider Entwürfe in: Lademacher, Band 1, S. 117ff. 118 „Vorschlag der Resolution über: Weltkrieg und die Aufgaben der Sozialdemokratie“, Lademacher, Band 1, S. 122. 119 „Vorschlag des Manifestes“, ebenda, S. 125. 120 Trotzki [Trockij], Mein Leben, S. 233.

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Nach zwei Stunden erreichte man das idyllisch gelegene Dörfchen Zimmerwald, wo Grimm in der Pension „Beau-Séjour“ Quartier gemacht hatte. Am Nachmittag um 16.00 Uhr wurde die Konferenz unter seinem Vorsitz eröffnet. Er wies zum Missvergnügen Lenins und seiner Anhänger darauf hin, dass das Treffen „keineswegs der Bildung einer neuen Internationale zu dienen habe“. Man setze auf Erneuerung, wolle der bisherigen Internationale durch Schaffung eines Aktionszentrums neue Impulse geben und durch die Wiederbelebung des Klassenkampfes eine umfassende Friedensaktion initiieren.121 Obwohl alle Delegierten der sozialistischen Opposition zuzurechnen waren, bildeten die 38 Konferenzteilnehmer aus elf kriegführenden und neutralen Ländern keineswegs eine homogene Gruppe. Unter den Delegierten waren drei Richtungen erkennbar: Ein rechter Flügel mit mehr als zwanzig Pazifisten, die keinen Bruch mit den Sozialpatrioten ihrer Parteien wünschten und keine neue Internationale anstrebten. Zu dieser Mehrheit zählten neben den Franzosen die meisten der von Ledebour122 geführten Deutschen und der Großteil der russischen Men’ševiki mit Aksel’rod an der Spitze. Den linken Flügel bildete Lenin mit seiner bolschewistischen Minderheit von sieben Anhängern, unter denen sich auch Radek befand. Sie vertraten die Auffassung, der Kampf gegen den Krieg müsse von einer neuen Internationale ausgehen, welche gewillt sei, den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg zu überführen, um die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu zerschlagen und die proletarische Weltrevolution Wirklichkeit werden zu lassen. Dazwischen stand das Zentrum der zwar zur Radikalität tendierenden, aber vor den praktischen politischen Konsequenzen zurückschreckenden Teilnehmer, die emotional und auch verstandesmäßig eher der Mehrheit zuneigten. Dazu gehörten zu diesem Zeitpunkt neben Grimm auch Trockij und weitere Delegierte, die später in Radeks Leben noch eine Rolle spielten, wie sein alter Bekannter Karl Moor123, der Deutsche Ernst Meyer124, der Rumäne Christian Rakovskij125, Anželika Balabanova und die Holländerin Henriette Roland Holst126. 121 Lademacher, Band 1, S. 49ff. 122 Ledebour, Georg (1850–1947); Journalist; seit den 1890er Jahren SPD-Mitglied, stand er auf dem linken Flügel der Partei; seit 1900 Reichstagsabgeordneter. 123 Moor, Karl Vital (1852–1932), 1895–1907 Redakteur der „Berner Tagwacht“, SPS-Lokalpolitiker in Bern; spielte in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs unter dem Decknamen „Baier“ eine Doppelrolle als Agent des deutschen und österreichischen Nachrichtendienstes; lebte nach der Oktoberrevolution als Ehrenbürger der Sowjetunion bis 1927 zumeist in Russland und zuletzt in Berlin. 124 Meyer, Ernst (1888–1930); SPD-Linker; Redakteur des „Vorwärts“; 1916 aus der Redaktion entfernt; Mitglied der Gruppe Internationale und langjähriger Angehöriger des ZK der KPD. 125 Rakovskij, Christian Georgievič (1873–1941); rumänischer Sozialist; nach der Oktoberrevolution Präsident des Obersten Sowjet der Ukraine; ab 1924 Sowjetbotschafter in Paris und London. Im Prozess gegen Bucharin 1938 zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. 126 Roland Holst-van der Schalk, Henriette (1869–1952); Schriftstellerin und niederländische Sozialistin, die mit dem Kreis um „De Tribune“ (Wijnkoop, van Ravesteyn) sympathisierte.

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Radek trat formal als Angehöriger der polnischen Delegation auf, der außer ihm noch Warszawski-Warski und Łapiński127 als „die Vertreter der leitenden Kreise der drei in Russisch-Polen tätigen polnischen sozialdemokratischen Parteiorganisationen“128 angehörten. Mit dem Mandat der „Rosłamowcy“ ausgestattet, unterstützte er zwar eine von Łapiński vorgetragene „Erklärung über die Polenfrage“, in der die Befreiung des polnischen Volkes von jeglicher Fremdherrschaft gefordert wurde, engagierte sich sonst aber ausschließlich auf der Seite Lenins. Dieser war während der Konferenz keineswegs eine dominierende Erscheinung. Er ließ Radek und seinen „Laufburschen“129 Zinov’ev auftreten und lenkte seine Minderheit, wie schon in Bern, aus dem Hintergrund. Der Resolutionsentwurf der Linken, der im Wesentlichen Radeks Feder entstammte, wurde im Plenum am dritten Verhandlungstag, dem 7. September 1915, durch Lenin und Radek eingebracht sowie von Radek als Verfasser wortreich vorgetragen und begründet. Das Protokoll vermerkt zu seinen Ausführungen: „[…] Ohne dass die Konferenz ihren Standpunkt zum Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Internationale klärt, wird es schwierig, wenn nicht unmöglich sein, einen Aufruf zu erlassen. Man muß sich im klaren sein über die Vorbedingungen und Ziele der Friedensaktion. […] [Der] Kampf für den Frieden […] muss seinen Mitteln und dem Inhalte nach ein revolutionärer sein. Solange die Regierungen von der Weiterführung des Krieges noch Erfolge erhoffen, kann nur ein entschlossener Druck der Arbeitermassen nützen. Nur wenn sie durch Strassendemonstrationen, politische Streiks, ja durch Aufstände, sich dem Moloch entgegenwerfen, können sie ihn an die Kandarre [sic!] nehmen. Dies wäre Revolution. Revolutionen kann man nicht machen, ihr Eintreten ist abhängig von der Zuspitzung der Verhältnisse, was bei weiterem Kriegsverlauf keinesfalls ausgeschlossen ist. Die Aufgabe der Sozialdemokratie diesen Möglichkeiten gegenüber besteht in dem Vorbereiten der Massen auf sie, in dem Aussprechen, dass ohne Revolutionen eine siegreiche Friedensaktion unmöglich ist, in der Bildung illegaler Organisationen zwecks unverhüllter Agitation […].“130 „[…] der Kampf gegen den Weltkrieg […] erfordert die Ablehnung der Kriegskredite, den Austritt aus den Ministerien, die Denunzierung des kapitalistisch-antisozialistischen Charakters des Krieges von den Tribünen der Parlamente, in den Spalten der legalen und, wo nötig, der illegalen Presse, die schroffste Bekämpfung des Sozialpatriotismus und die Ausnützung jeder durch die Kriegsfolgen (Not, grosse Verluste usw.) entstehende Bewe127 Łapiński, Stanisław; Pseudonym von Lewinson, Pavel (1879–1938); 1906–1918 Führer der von der PPS abgespaltenen PPS Lewica [Linken]; nach dem Ersten Weltkrieg führender polnischer KP-Funktionär; 1938 in Moskau verhaftet und vermutlich hingerichtet. 128 „Zarząd Krajowy [Landesvorstand] SDKPiL“ = „SDKPiL-Oposycja [Opposition]“ = „Rosłamowcy [Spalter]“ = „Warschauer Komitee“, Delegierter: Karl Radek; „Zarząd Główny [Hauptvorstand] SDKPiL“, Delegierter: Adolf Warszawski-Warski; „PPS Lewica [Linke]“, Delegierter: Stanisław Łapiński. 129 Lerner, S. 41. 130 Protokoll der Zimmerwalder Konferenz; Lademacher, Band 1, S. 116f.

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gungen des Volkes zur Organisation von Strassendemonstrationen gegen die Regierungen, die Propaganda der internationalen Solidarität in den Schützengräben, die Förderung der ökonomischen Streiks, das Bestreben, sie bei günstigen Bedingungen in politische zu verwandeln. „Burgkrieg, nicht Burgfriede ist die Losung!“131

Gegen diesen Entwurf wandte sich unter lebhafter Zustimmung der Mehrheit vor allem Georg Ledebour, der die Resolution als „unannehmbar“ bezeichnete: „.die detaillierte Aufforderung zu revolutionären Aktionen soll man nicht in die Welt hinausposaunen“. Er vertrat die Meinung, es sei unverantwortlich aus der Sicherheit der neutralen Schweiz heraus „[…] einen solchen Aufruf an andere Leute zu richten“, denn: „Wer ein solches Manifest unterzeichnet, hat selbst die Pflicht voranzugehen.“132 Im gleichen Sinne hatte zuvor schon die Stuttgarter Delegierte Berta Thalheimer Kritik geübt: „Die Aufzählung der Kampfesmittel in der Radekschen Resolution ist nicht nötig: Man handelt, ohne die einzelnen Mittel aufzuzählen, auf die Tat kommt es an, nicht auf das Wort.“133 Lenin sprang Radek bei und protestierte gegen Ledebours Angriff: „Es ist unerhört zu behaupten, unser Manifest sei bloss unterschrieben von Leuten, die sich in Sicherheit befinden. Auch der lettische Delegierte [Berzin-Winter] und Borchardt haben es unterschrieben. Auch ist es ein altes schäbiges Argument, zu behaupten, es gehe nicht an, die Massen aufzurufen zu revolutionären Aktionen, wenn man sich selbst daran nicht unmittelbar beteiligen kann. Des weiteren bestreite ich, dass man die Kampfmittel nicht erwähnen soll. […] Man kann nicht Revolution machen wollen, ohne die revolutionäre Taktik zu erläutern.“134

Dennoch konnte die bolschewistische Minderheit Radeks Text nicht durchsetzen und schloss sich notgedrungen einer von der Mehrheit getragenen Proklamation an die „Proletarier Europas“ an, die sie zähneknirschend als „Aufruf zum Kampfe“ interpretierten. Dieses am 8. September verabschiedete „Manifest von Zimmerwald“135 verurteilte die Burgfriedenspolitik, forderte die internationale Arbeiterschaft zum unversöhnlichen proletarischen Klassenkampf auf und plädierte für einen Frieden auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts der Völker ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen. Zugleich wurde beschlossen, ein von Grimm geleitetes Sekretariat, die „Internationale Sozialistische Kommission (ISK)“, ins 131 Ebenda, S. 123. Die Parole „Burgkrieg, nicht Burgfrieden“ hatte Karl Liebknecht in seinem offenen Brief an die Konferenz vom 2. September 1915 formuliert. Nachdem sie bei den Delegierten, vor allem aber bei Lenin, „große Begeisterung“ hervorgerufen hatte, griff Radek sie in seinen Ausführungen erneut auf. Vgl. ebenda, S. 54f. 132 Ebenda, S. 128. 133 Ebenda, S. 80. 134 Ebenda, S. 129. 135 Manifest von Zimmerwald; Lademacher, Band 1, S. 166f.

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Leben zu rufen. Es sollte ausdrücklich keine Konkurrenz zum „Internationalen Sozialistischen Büro (ISB)“ der II. Internationale darstellen, sondern lediglich den Charakter einer internationalen Informations- und Verbindungsstelle tragen. Als Konzession für ihre Zustimmung zum Konferenzergebnis konnten Lenin und seine Genossen jedoch die Aufnahme einer Zusatzerklärung ins Protokoll durchsetzen, in der sie feststellten, dass sie das Manifest „nicht vollständig“ befriedige, weil es den faktischen Zusammenbruch der bisherigen Internationale nicht anerkenne und „keine klare Charakteristik der Hauptkampfmittel gegen den Krieg“ enthalte. Zugleich kündigten sie an, es politisch zu bekämpfen: „Wir werden wie bisher in der Presse der Internationale wie in ihren Tagungen für eine entschiedene marxistische Stellungnahme zu den durch die Epoche des Imperialismus dem Proletariat gestellten Aufgaben eintreten.“136 Zu einem letzten Disput kam es in Zimmerwald über die Frage der Unterzeichnung des Manifests. Durch die Literatur zieht sich die Version, Ledebour habe mit der Verweigerung seiner Unterschrift für die deutsche Delegation gedroht, falls der in der deutschen Sozialdemokratie übel beleumundete Radek das Manifest mitunterzeichnen dürfe. Daraufhin habe entweder Radek mit dem Namenszug Haneckis oder aber Hanecki selbst, das Dokument unterschrieben.137 Aus dem Konferenzprotokoll geht zwar hervor, dass Radek den Namen des überhaupt nicht anwesenden Hanecki eigenhändig unter das Manifest setzte, es enthält jedoch keinen Hinweis auf die Verweigerungshaltung Ledebours. Als der den Vorsitz führende Grimm „zu der Frage der Unterschriften“ kam und einen Länderschlüssel vorschlug, der im fairen Proporz den Polen zwei Unterschriften zuerkannte, sprach sich Lenin sofort dafür aus, dass „je ein Delegierter der d r e i polnischen Parteien“ unterzeichnen sollte138. Radek schloss sich selbstredend Lenins Intervention an139, worauf die Frage noch gesondert besprochen und im Konsens gelöst werden sollte. Möglicherweise kam es dann hinter den Kulissen zu dem Ultimatum Ledebours, vielleicht wurden aber auch formale Gründe in Bezug auf den Umfang von Radeks Vertretungsvollmacht für die „Rosłamowcy“ geltend gemacht, denn Radek, der Delegierte des SDKPiL-Landesvorstandes, gegen den bei der Mandatsprüfung zu Konferenzbeginn im Plenum keinerlei Einspruch laut geworden war, gab dann im weiteren Verlauf der Sitzung folgende gesichtswahrende „Erklärung zum internen Protokoll“ ab: 136 Lademacher, Band 1, S. 153. 137 „[…] unter dem Manifest, welches in Zimmerwald herausgegeben wird, fehlt sein Name: Ledebour will nicht mittun, wenn Radek öffentlich zeichnet“. Blum, S. 87. Vgl. auch Lerner, S. 42 und Tuck S. 37. 138 Lademacher, a.a.O., S. 158. 139 „Radek: Die polnische Delegation umfasst drei verschiedene Parteien, die in der Vergangenheit durch prinzipielle wie persönliche Fragen scharf getrennt waren. Er versteht die Schwierigkeit für das Bureau, jedoch muss er, wenn es ihm auch leid tut, darauf bestehen, dass jede der drei polnischen Organisationen das Recht der Unterschrift erhalte“. Ebenda.

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„Da im Namen des Landesvorstandes der Organisation, die ich vertrete, nach unsern internen Beschlüssen nur Mitglieder des Landesvorstandes selbst zeichnen können, zeichne ich unter dem Manifest, für die von mir vertretenen Organisationen, den Namen des Genossen Cz[.] Hanecki, Mitglied des Landesvorstandes unserer Partei. Karl Radek“140

Radek hat dann das Manifest tatsächlich mit dem Namen „Czeslaw Hanecki“ unterzeichnet. Ein Vergleich des Namenszuges mit Briefen Radeks lässt seine Handschrift leicht erkennen. Nach der Konferenz bezeichneten sich die Parteigänger Lenins als Zimmerwalder Linke141, was man in der Folge durchaus als Synonym für die Bol’ševiki verwenden darf. Man schuf ein eigenes Sekretariat – „ein „Bureau aus drei Genossen […]: Radek [als Sekretär], Lenin und Sinowjew [Zinov’ev].“142 Es wurde beschlossen, als ersten Schritt das Manifest und die Resolution der Linken zu publizieren. Für die Druckkosten spendeten Lenin und Borchardt je zwanzig und Radek zehn Schweizer Franken, die er von Hanecki borgte. Radek äußerte später amüsiert, mit diesen Geldern hätte „die zukünftige kommunistische Internationale […] für die Eroberung der Welt“ über die Summe von 50 Franken verfügt. Nachdem der Druck jedoch 96 Franken kostete, habe man zusätzlich noch 46 Franken von Lenins Genossen Šklovskij143 leihen müssen.144 Lenin beschwerte sich bei Radek wegen der unpräzisen Berichterstattung über Zimmerwald in der „Berner Tagwacht“, in der Grimm die Linke ignorierte. Die von Lenin und Zinov’ev verfasste Broschüre „Sozialismus und Krieg“, die man in ihrer deutschsprachigen Version an die Delegierten verteilt hatte, wurde von Grimm nicht erwähnt. „Über unsere Broschüre verliert Grimm kein Wort! So ein Gauner!!“145, schrieb Lenin enttäuscht und erbost an Radek. In der Septemberausgabe von Grimms „Neuem Leben“ bewertete Radek in dem Aufsatz „Die internationale sozialistische Konferenz“146 Zimmerwald als den ersten Schritt in Richtung einer neuen Internationale. Er wolle die geleistete Arbeit nicht überschätzen, aber sie sei der Anfang „einer dauernden Verbindung aller jener Elemente, die die internationale Solidarität des Proletariats und den Klassenkampf für den einzigen zum Sozialismus führenden Weg

140 Ebenda, S. 164. 141 Lenin prägte diesen Namen, als er beim Abstieg von Zimmerwald in einem Wirtshaus seine Gruppe so nannte. Gautschi, S. 154. 142 Lenin an Roland Holst, vor dem 21. Januar 1916; Lenin, Werke, Band 36, S. 350. 143 Šklovskij, Georgij L. (1875–1937); Dr. chem.; Bol’ševik; betrieb als Emigrant in Bern ein kleines chemisches Laboratorium; 1918 stellvertretender Leiter der Sowjetmission in Bern; beging während der Säuberungen Stalins vermutlich Selbstmord. 144 Radek, Avtobiografija, Sp. 160. 145 Lenin an Radek, 19. September 1915; Lenin, Werke, Band 36, S. 333. 146 Struthahn, Arnold [Radek]: „Die Internationale Sozialistische Konferenz“; „Neues Leben“, Heft 9, September 1915, S. 257ff.

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halten.“147 Als Radek diese Beurteilung in den „Lichtstrahlen“148 wiederholte, fand sie keineswegs den ungeteilten Beifall der internationalistischen Linken; Wijnkoop hielt Radeks Artikel „ehrlich gesagt für phrasenhaft und läppisch.“149 Einen ersten Erfolg errang die Zimmerwalder Linke auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS) in Aarau vom 20. bis 21. November 1915, an dem Lenins Vertrauensmann in der Zürcher Sektion der Bol’ševiki, Moses Charitonov 150, teilnahm. Als die Delegierten sich mit Mehrheit zum Zimmerwalder Manifest bekannten, stellte Charitonov den Ergänzungsantrag, der politische Kampf um den „Frieden auf Grundlage der von der Zimmerwalder Konferenz ausgesprochenen Prinzipien sei durch die revolutionäre Aktion der Arbeiterklasse“ zu führen. Der Parteitag erhob den Antrag zum Beschluss. Zuvor hatte Radek Charitonov davon abgeraten, als erster das Wort zu ergreifen; das sei für einen Russen vor einem schweizerischen Auditorium taktlos; man solle besser den SPS-Linken Fritz Platten vorschieben. Bei Lenin hat diese Empfehlung Zweifel an Radeks taktischen Fähigkeiten hervorgerufen. Nach dem Sieg schrieb er an Charitonov, es habe sich herausgestellt, dass „Radek völlig im Unrecht“ gewesen sei. „Ich freue mich sehr über Ihr Auftreten in Aarau und gratuliere Ihnen von Herzen zu dem Erfolg. Meiner Ansicht nach ist es großartig ausgegangen.“151 Die Resolution und das Manifest der Zimmerwalder Linken erschienen im November 1915 in Zürich als „Internationale Flugblätter (I.F.)“ Nr. 1 unter dem Titel „Die Zimmerwalder Linke über die Aufgaben der Arbeiterklasse“. In einem vorangestellten Artikel „Zur Einführung“ bilanzierte Radek: „Die Konferenz von Zimmerwald leitete den Wiederaufbau der Internationalen, die Wiederaufnahme des Kampfes um die Interessen der Arbeiterklasse, um den Sozialismus ein.“ Allerdings hätten die Vertreter der größten sozialistischen Parteien, die deutschen und die französischen Sozialdemokraten, in Zimmerwald gefehlt. Diese „Sozialpatrioten“ verzichteten auch angesichts des Blutzolls, den die Arbeiterschaft im Kriege entrichten müsse, mit ihrer Politik des Burgfriedens weiter auf den Klassenkampf. „Wer so handele, „[…] der ist ein Verräter, der die Arbeiterklasse vor dem Feinde im Stich läßt, ja sie dem Feinde ausliefert […]“. Die Mehrheit der Zimmerwalder Konferenz habe es versäumt, „das Nötige mit der nötigen Klarheit“ zu sagen. Lediglich die Minderheit der Zimmerwalder Linken hätte „eine klare revolutionäre Politik gefordert“. Ohne entschieden mit den Sozialpatrioten zu brechen, könne man die Kampfreihen der dritten Internationale nicht aufrichten. Dabei wolle man als Zimmerwalder Linke „nicht die Illusion erwecken, als seien wir schon eine große geschlossene Macht. Wir sind Ver147 Ebenda, S. 262. 148 Parabellum [Radek]: „Der erste Schritt“, „Lichtstrahlen“, 3. Oktober 1915. 149 Wijnkoop an van Ravesteyn, 11. Oktober 1915; Lademacher, Band 2, S. 163. 150 Charitonov, Moses (1887–1948); seit 1914 Jurastudent in Zürich; nach der Oktoberrevolution angeblich Polizeipräsident in Petrograd. 151 Protokoll des Parteitages der SPS, Aarau 20.–21. November 1915 und Lenin an Charitonov, nach dem 21. November 1915, Lenin, Briefe, Band 4, S. 160f.; Gautschi, S. 194f.

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treter der erst allmählich erwachenden Teile der internationalen Arbeiterschaft […]. Heute als revolutionäre Illusionisten verschrien, werden unsere Losungen morgen in der wachsenden revolutionären Bewegung das Gemeingut des klassenbewussten Proletariats, seine dem Kampfe vorangetragene Fahne sein.“ 152 Weil kein Geld da war, blieb es bei dieser einzigen Ausgabe der „Internationalen Flugblätter“, als deren Herausgeber Fritz Platten zeichnete. Radeks optimistische Ankündigung, die Zeitung werde „dauernd erscheinen“, bewahrheitete sich nicht.153 Seines Publikationsorgans beraubt, ging das Sekretariat der Zimmerwalder Linken dazu über, Rundschreiben zu versenden, in denen die Zentristen politisch angegriffen wurden. Von Radek entworfen und durch Lenin und Zinov’ev kritisch geprüft, mussten diese Pamphlete dann von Radek handschriftlich kopiert und eigenhändig hektographiert werden, da man sich den Luxus einer Schreibmaschine nicht leisten konnte.154 Radek bemühte sich deshalb um ein neues Blatt, in dem er den kompromisslos-revolutionären Standpunkt der Zimmerwalder Linken propagieren konnte. Bereits 1914 hatte er gemeinsam mit seinem mittlerweile nach Holland zurückgekehrten Freund Pannekoek Pläne geschmiedet, eine Zeitschrift zu schaffen, die den revolutionären Internationalisten als Sprachrohr und Diskussionsplattform dienen sollte; das Projekt war aus Geldmangel nicht realisiert worden.155 Jetzt griff er diese Idee wieder auf und suchte nach einer Finanzierungsquelle. In Zimmerwald hatte er die vermögende Sozialistin Henriette Roland Holst aus Laren in den Niederlanden kennengelernt und war bei ihr auf Resonanz für seine Überlegungen gestoßen. Am 12. Oktober 1915 bohrte er in einem Brief bei der „Sehr geehrten Genossin Holst“ nach. Er empfahl ihr, „[…] eine int[ernationale] Revue [zu] gründen, in deutscher Sprache, als ein Diskussionsorgan der Linken, es könnte einen sehr grossen Dienst leisten. Denken Sie noch an diesen Gedanken, den Sie mir geäussert haben. Wir, d.h. ich, Lenin, J[ulian B[orchardt], (bin auch überzeugt Franz Mehring), Anton [Pannekoek] würden das Blatt regelmässig unterstützen. Ich sprach mit Lenin. Er ist einverstanden. […] Wir würden nur folgende Bedingungen stellen: 1) in die Redaktion nehmen Sie Anton [Pannekoek] hinein, den wir als unseren Vertreter ansehen. 2) Eine Anzahl ständiger Mitarbeiter, die als solche genannt werden: ausser Ihnen und Anton, Rav[esteyn], Gorter156, J[ulian]B[orchardt], F[ranz] M[ehring], Trotzky, Lenin, ich, haben das garantierte Recht auf Aufnahme von Artikeln in strittigen Fragen. […] In jeder Nr. ein Leitartikel über das Aktuelle, dann der Diskussionsteil. Die Fragen die in Betracht kommen, sind nach meiner Auffassung folgende: 1) Wurzeln des Imp[erialismus] (Konzeption Rosa [Luxemburg], Hilf[erding], 152 Lademacher a.a.O., S. 117ff. 153 Radek an Roland Holst, 23. November 1915; Lademacher, Band 2, S. 315. 154 Radek, Avtobiografija, Sp.160f. 155 Pannekoek an van Ravesteyn, 24. Oktober 1915; Lademacher a.a.O., S. 206. 156 Gorter, Herman (1864–1927); niederländischer Sozialist und Dichter, Tribunist und später Kommunist.

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K[arl] K[autsky]). 2) Zusammenbruch der Int[ernationale] und seine Gründe. 3) Perspektiven und Lösungen a) neue Ära der Arbeiterbewegung, b) Imp[erialismus] und nationale Frage, c) Imp[erialismus] und nationale Verteidigung, d) Sozialpatrioten, Sozialimp[erialismus] und Sozialpazifismus.“157

Radeks Vorstoß flankierend, schrieb Anton Pannekoek am 22. Oktober 1915 an den Tribunisten van Ravesteyn: „Wijnkoop hat Dich sicher schon über den Plan zur Gründung einer neuen Zeitschrift unterrichtet, der vor allem auf die Initiative Radeks zurückzuführen ist. Es soll sich um ein Organ der linken Seite des international gesinnten Restbestandes der sozialdemokratischen Parteien handeln, Frau Roland Holst muss das Geld beisteuern und wird gleichzeitig Mitherausgeberin. […] Ich habe mich auf Drängen Radeks und Lenins bereiterklärt, zusammen mit Frau Holst die Redaktion zu übernehmen – als Lenins und Radeks Vertrauensmann gleichsam.“158

Offensichtlich bereits entschlossen, „den Radekschen Plan zur Herausgabe einer internationalen Zeitschrift der Linken“ zu finanzieren, bat Roland Holst am 26. Oktober 1915 van Ravesteyn um redaktionelle Mitarbeit. Sie mahnte, „[…] die Verwirklichung dieses Plans [dürfte] Eile haben. Das Ende des Krieges wollen wir nicht abwarten“.159 Dennoch ging es Radek nicht schnell genug voran. Am 23. November 1915 schrieb er drängend an Roland Holst: „Ich bin der festen Überzeugung, dass, falls man die Arbeit beginnt, die Sache gehen wird. Darum etwas Dampf hinter die Zeitschrift, weniger Präliminarien.“160 Verwirklicht wurde das Vorhaben schließlich Anfang 1916 mit der in Bern in deutscher Sprache erscheinenden „Internationalen marxistischen Rundschau ,Vorbote‘“, die es allerdings nur auf zwei Ausgaben im Januar und im April brachte.161 Als Lenin erfuhr, dass Radek als redaktionellen Vertreter der Zimmerwalder Linken seinen Freund Pannekoek nominiert hatte, war er empört und fühlte sich „aus der Redaktion des ,Vorboten‘ hinausgedrängt“: „Zuerst war vereinbart worden, eine gemeinsame Redaktion zu bilden, aus beiden Gruppen: 1. die Holländer (vielleicht + Trotzki) und 2. wir (d.h. Radek, Grigori [Zinov’ev] und ich). Diese Bedingung sicherte uns Gleichheit in der Redaktion.

157 Radek an Roland Holst, 15. Oktober 1915; Lademacher a.a.O., S. 165f. 158 Pannekoek an van Ravesteyn, 22. Oktober 1915; ebenda, S. 188. 159 Roland Holst an van Ravesteyn, 26. Oktober 1915; ebenda, S. 215. 160 Radek an Roland Holst, 23. November 1915; ebenda, S. 315. 161 Die beiden Nummern enthalten Beiträge von Lenin, Radek, Zinov’ev, Roland Holst, Pannekoek, Wijnkoop und anderen, die sich mit der These, den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg überzuführen und dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen befassen.

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Radek hat monatelang intrigiert und bei der ,Eigentümerin‘ (Roland-Holst) durchgesetzt, dass dieser Plan rückgängig gemacht wurde. Wir sind jetzt nur Mitarbeiter. Tatsache!“162

Zusammen mit den ideologischen Gegensätzen zwischen Lenin und Radek, insbesondere in der Frage der nationalen Selbstbestimmung, bildete der „Vorboten“-Streit den eigentlichen Auslöser einer sich durch das ganze Jahr 1916 hinziehenden heftigen Kontroverse zwischen beiden. Unmittelbar nach der Zimmerwalder Konferenz war aber noch für kurze Zeit eitel Harmonie zu verzeichnen und die Anrede in Lenins Briefen aus Sörenberg hatte sich von „Werter Genosse“ in „Lieber Radek“ geändert.163 Als Radek jedoch nicht auf die in den Schreiben geäußerten Wünsche Lenins reagierte, zeigte sich jener deutlich verärgert und schaltete Šklovskij in Bern ein: „Ich verstehe absolut nicht, was mit Radek los ist. Mehr als einmal erbat ich von ihm: [Materialien der Zimmerwalder Linken] […]. Gehen Sie um Gottes willen einmal hin und klären Sie die Sache.“164 Noch handelte es sich aber nur um eine unbedeutende Eintrübung des gegenseitigen Verhältnisses. In der „Berner Tagwacht“ griff Radek als „Parabellum“ in den Fraktionskampf der russischen Sozialdemokraten ein. Er nahm Partei für Lenin und nannte die Bol’ševiki „die Avantgarde der Revolution“; sie hätten „die vereinzelten bei ihnen vorhandenen sozialpatriotischen Elemente einfach über Bord“ geworfen, während die Men’ševiki dies nicht zu tun wagten und in Russland mit den Sozialpatrioten zusammenarbeiteten165. Lenins menschewistischer Gegner Aksel’rod fühlte sich durch diese Zeilen persönlich herausgefordert und protestierte bei Grimm „gegen den unerhört skandalösen“ und „vom Standpunkt der internationalen Sozialdemokratie kriminellen“ Artikel, der nach seiner Meinung „eine besonders verbrecherische Il[l]ustration zu den wirklichen Tendenzen und [Spaltungs-]Zielen der Lenin-Radekschen Clique in der internationalen Parteipolitik“, das heißt der Zimmerwald-Bewegung, bildete.166 Die von Aksel’rod über die innerrussischen Parteistreitigkeiten hinaus als Bedrohung der Einheit der Zimmerwald-Bewegung wahrgenommene Allianz von Lenin und Radek bekam einen Riss als Radek in die bolschewistische Kontoverse über das Selbstbestimmungsrecht hineingezogen wurde. In der im September 1915 erschienenen ersten Doppelnummer des von Lenin inspirierten Blattes „Kommunist“167 162 Lenin an Šljapnikov, 23. Mai 1916; Lenin, Werke, Band 36, S. 383f. Bereits am 21. Januar 1916 hatte Lenin in einem Brief an Roland Holst dagegen protestiert, dass die „Vertreter der Zimmerwalder Linken in der Revue ,Vorbote‘ nicht wie vorgesehen als Redakteure der Zeitschrift, sondern bloß als Mitarbeiter gelten sollten“ (ebenda, S. 350). Sein Brief an Šljapnikov fasst den Sachverhalt jedoch prägnanter zusammen. 163 Lenin an Radek, 19., 20. und nach dem 21. September 1915; ebenda, S. 332, 337, 338. 164 Lenin an Šklovskij, zwischen 19. September und 11. Oktober 1915; ebenda, S. 340. 165 „Berner Tagwacht“, 15. Oktober 1915, Beilage; Lademacher, Band 2, S. 175. 166 Aksel’rod an Grimm, 18. Oktober 1915; ebenda, S. 174ff. 167 Der „Kommunist“ wurde von der Redaktion des „Social-Demokrat“ zusammen mit Pjatakov und Boš, die das Blatt auch finanzierten, herausgegeben. Es erschien nur eine Doppelnummer im September 1915.

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hatte der erste Teil von Radeks Artikel „Četvert’ veka razvitija imperializma [Ein Vierteljahrhundert der Entwicklung des Imperialismus]“ Aufnahme gefunden. Die darin enthaltene Ablehnung der Selbstbestimmung der Nationen ähnelte der Auffassung, die Nikolaj Bucharin168 gemeinsam mit den Herausgebern Pjatakov169 und Boš170 in dem Blatt gegen Lenin vertrat. Eine geplante Fortsetzung von Radeks Beitrag wurde aus diesem Grunde von Lenin hintertrieben.171 Da jedoch die Auseinandersetzungen unter den Bol’ševiki bereits nach der ersten Ausgabe wieder zur Einstellung des Blattes führten, kam Lenins Intervention nicht mehr zum Tragen. Dennoch erregte er sich noch nach Monaten darüber, dass Radek sich in den parteiinternen Streit eingemischt und „unverschämte Briefe“ an ihn und Zinov’ev geschickt habe.172 Er erhob den Vorwurf, Radek „zwängt sich in den Spalt unserer Meinungsverschiedenheiten“.173 Weiteren Auftrieb erhielten die Spannungen durch den Ende Oktober 1915 in zwei Teilen in der „Berner Tagwacht“ erscheinenden Aufsatz Radeks „Annexionen und Sozialdemokratie“174. Darin zog er gegen den im Zimmerwalder Manifest verankerten Grundsatz des Rechtes auf nationale Selbstbestimmung zu Felde. Er vertrat die These, eine geographische Neuordnung Europas nach dem Kriege, entsprechend den Bestrebungen der kleineren Völker nach Unabhängigkeit, würde zwar nationale Emotionen befriedigen, aber ernsthafte ökonomische Nachteile mit sich bringen. Das Kapital sei über den Rahmen der nationalen Staaten hinausgewachsen. So habe der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn seinen einzelnen Teilnationen einen wirtschaftlichen Entwicklungsschub verschafft, den sie als Einzelstaaten nicht erfahren hätten. Die Wiedererrichtung von Nationalstaaten in den bestehenden Wirtschaftsgroßräumen stelle einen historischen Rückschritt dar. Deshalb sei der „Kampf um das nicht existierende Selbstbestimmungsrecht“ der Nationen illusorisch. Indem er Trockijs Gedanken vom November 1914 aufgriff, betonte er, es müsse das Interesse des Proletariats sein, die Produktivkräfte so weit zu entwickeln, dass die ganze Welt zu einer sozialistischen Wirtschaftsorganisation werde. Der Weg 168 Bucharin, Nikolaj Ivanovič (1888–1938); Publizist; herausragender Theoretiker der Bol’ševiki, deren Führer er hätte werden können; nach der Oktoberrevolution Angehöriger der Sowjetführung; als Gegner Stalins 1938 erschossen. 169 Pjatakov, Georgij Leonidovič (1890–1937); Terroristenexistenz seit dem sechzehnten Lebensjahr; nach Sibirien verbannt, gelang es ihm gemeinsam mit Evgenija Boš über Japan in die Schweiz zu flüchten; nach der Oktoberrevolution erster Regierungschef der Sowjetukraine; seit 1923 hoher Wirtschaftsfunktionär; 1937 als Anhänger Trockijs zum Tode verurteilt und hingerichtet. 170 Boš, Evgenija Gottlibova (1879–1925); Freundin Pjatakovs; nach der Oktoberrevolution Spitzenfunktionen in der Sowjetukraine; des Trockismus beschuldigt, verübte sie Selbstmord. 171 „Hier der Plan für Nr. 3 [des „Kommunist“]: […] 10. Radek – Fortsetzung ( ?? wird kaum lohnen; meiner Meinung nach nicht)“. Lenin an Šljapnikov, zwischen 1.–13. Mai 1916. Lenin, Werke, a.a.O., S. 380. 172 Lenin an Ines Armand, 30. November 1916; Lenin, Werke, Band 35, S. 230. 173 U.a. Lenin an Ines Armand, 18. Dezember 1916; ebenda, S. 238. 174 Parabellum [Radek], „Annexionen und Sozialdemokratie“, „Berner Tagwacht“, 28. und 29. Oktober 1915, Beilage 1.

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dorthin führe aber nicht über die im Kapitalismus ohnehin nicht existente nationale Selbstbestimmung, sondern nur über die „soziale Revolution“. Lenin konnte das nicht unwidersprochen hinnehmen. Ende Oktober 1915 brachte er eine kritische Würdigung der Ausführungen Radeks zu Papier, die – seinerzeit nicht veröffentlicht – als Manuskript mit dem Titel „Das revolutionäre Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“175 zirkulierte. Er verwies darauf, dass sowohl das Zimmerwalder Manifest als auch die Mehrzahl der sozialdemokratischen Parteiprogramme richtigerweise das Selbstbestimmungsrecht der Nationen proklamieren. Leider versäume es der Genosse Parabellum [Radek] aber – trotz seines vortrefflichen allgemeinen Programms des revolutionären Massenkampfes gegen den Kapitalismus – „ein ebenso unversöhnliches, ebenso revolutionäres Programm in der nationalen Frage auszuarbeiten“. Wer jedoch als Sozialist nicht „die Separation der unterdrückten Nationen propagiert, der ist kein Sozialist und kein Internationalist, sondern ein Chauvinist“. Unbeeindruckt von Lenins Argumenten beharrte Radek in einem weiteren Artikel in den „Lichtstrahlen“ vom 5. Dezember 1915176 auf seinem Standpunkt. Rosa Luxemburg zitierend, bezeichnete er das Selbstbestimmungsrecht als ein kleinbürgerliches Rezept, das nichts mit dem Marxismus zu tun habe. Die Losung von der Selbstbestimmung sei historisch falsch und für die Arbeiterschaft irreführend. Sie bestärke das Proletariat in dem Glauben, es besitze dieses Recht und „als sei es Pflicht der Sozialdemokratie, jeden Unabhängigkeitskampf zu unterstützen“. Selbstverständlich lehnte Lenin diese Auffassung ab, und er kritzelte verärgert an den Rand des Artikels „nicht richtig“177. Später gab er dazu noch einen detaillierteren Kommentar ab: „Karl Radek, ein polnischer Sozialdemokrat, der sich durch seinen entschiedenen Kampf für den Internationalismus in der deutschen Sozialdemokratie nach Beginn des Krieges ein besonders großes Verdienst erworben hat, rennt in dem Artikel ,Das Selbstbestimmungsrecht der Völker‘ […] sehr heftig gegen das Selbstbestimmungsrecht an, wobei er übrigens n u r die Meinung holländischer und polnischer Autoritäten [Pannekoek und Luxemburg] zu seinen Gunsten zitiert und unter anderem folgendes Argument anführt: das Selbstbestimmungsrecht stärke den Glauben, ,als sei es Pflicht der Sozialdemokratie, jeden Unabhängigkeitskampf zu unterstützen‘. Vom Standpunkt der a l l g e m e i n e n Theorie ist dieses Argument geradezu empörend, denn es ist offensichtlich unlogisch […].“178

175 Lenin, Werke, Band 21, S. 412ff; geschrieben nicht vor dem 29. Oktober 1915. 176 Parabellum [Radek] „Das Selbstbestimmungsrecht der Völker“; in: „Lichtstrahlen“, 15. Dezember 1915. 177 Faksimile in: Leninskij Sbornik [Lenins gesammelte Werke], Moskva, 1924, Band 18. Lerner, S. 46. 178 Lenin, „Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung“, Juli 1916; Lenin, Werke, Band 22, S. 357.

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Die Kontroverse eskalierte, als das Organ des Landesvorstandes der SDKPiL, „Gazeta Robotnicza“, zu dessen Mitarbeitern Radek zählte, in seiner Februarausgabe 1916 eine Resolution der Redaktion zur polnischen Frage veröffentlichte. In dieser Erklärung wurde der Kampf um die polnische Unabhängigkeit verworfen, da er das polnische Proletariat zu einem Werkzeug der polnischen imperialistischen Bourgeoisie umfunktionieren würde.179 Lenin sah in diesem Beschluss und weiteren Ausführungen des Blattes, hinter denen er Radek als spiritus rector sah und die er als „ausgesprochen gehässige Ausfälle gegen uns“180 beurteilte, eine persönliche Brüskierung. Er teilte Radek mit, er sei zu der Auffassung gelangt, „daß vom Zeitpunkt des Erhalts der Gazeta Robotnicza (II. 1916) an, unser gemeinsamer Kampf in russischen und polnischen Angelegenheiten b e e n d e t ist“.181 Die Zusammenarbeit in der Zimmerwalder Linken blieb von diesem Verdikt bewusst ausgeklammert. In einem Brief an Aleksandr Šljapnikov182, den Vertrauensmann der Bol’ševiki in Nordeuropa, erläuterte Lenin seine durchaus von Ambivalenz geprägte Haltung gegenüber Radek: „Dann die Polen. Radek ist der Beste von ihnen; es war nützlich mit ihm zusammenzuarbeiten (übrigens auch für die Zimmerwalder Linke), und wir haben mit ihm gearbeitet. Aber Radek schwankt ebenfalls. Und unsere Taktik ist hier zweiseitig […]: einerseits Radek helfen nach links zu gehen, alle die man kann, für die Zimmerwalder Linke vereinigen. Andererseits im Grundsätzlichen auch nicht um ein Jota Schwankungen zulassen […]. [Radek,] der hat die alte polnische Krankheit […]. In der Frage der Annexionen und der Selbstbestimmung […] haben sich Radek und die Holländer offensichtlich verrannt.“183

Entsprechend dieser differenzierten Betrachtungsweise Lenins traten die Meinungsunterschiede in der Frage der Selbstbestimmung in den Hintergrund, als in Bern vom 5. bis 9. Februar 1916 die „Erweiterte Internationale Sozialistische Kommission“ tagte, um unter Grimms Vorsitz über die Vorbereitung einer zweiten Zimmerwald-Konferenz zu beraten.184 Lenin und Zinov’ev repräsentierten in dem Gremium das Zentralkomitee der RSDRP. Das „Ausländische Sekretariat des Landesvorstandes der SDKPiL“ hatte

179 „Gazeta Robotnicza“ , Nr. 2. Februar 1916. Legters, S. 29. 180 Lenin an Šljapnikov, 23. Mai 1916; Lenin, Werke, Band 36, S. 384. 181 Lenin an Radek, 1. Februar 1916; Lenin, Polnoe Sobranie Sočinenij [Sämtliche Gesammelte Werke], Moskva 1958–65, Tom 49, S. 181f. Lerner, S. 47; Tuck, S. 38. 182 Šljapnikov, Aleksandr G. (1885?–1937); ursprünglich Metallarbeiter; während des Ersten Weltkriegs als Schlüsselfigur der Bol’ševiki in Petrograd, Kristiania [Oslo] und Stockholm tätig; verheiratet mit Aleksandra Kollontaj; nach der Oktoberrevolution Volkskommissar für Arbeit; 1933 aus der Partei ausgeschlossen, wurde er zur Unperson. 183 Lenin an Šljapnikov, März 1916; Lenin, Werke, Band 35, 188ff. 184 Vgl. Sitzungsprotokoll der Erweiterten Kommission, Februar 1916; Lademacher, Band 1, S. 197– 262.

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Radek als seinen Vertreter benannt185; zusätzlich betraute ihn auch seine niederländische Gönnerin Henriette Roland Holst mit ihrer Vertretung. Nach eigenem Bekunden verfügte er auch über das Mandat für Borchardts ehemalige „Lichtstrahlengruppe“, die sich jetzt „Internationale Sozialisten Deutschlands (ISD)“ nannte. Im Hinblick auf die Vertretung der ISD versuchte er allem Anschein nach Lenin und Zinov’ev hinterrücks auszumanövrieren.186 Offensichtlich misslang der Versuch, denn in den Kommissionssitzungen erhob dann Lenin den Anspruch auf das Mandat für Borchardts Gruppe. Nach außen boten Lenin, Zinov’ev und Radek während der Tagung ein Bild politischer Geschlossenheit. Sie agierten als ein Abstimmungsblock und schlossen sich dem Vorschlag Grimms an, während der Ostertage 1916 ein weiteres internationales Treffen in der Schweiz abzuhalten, wobei sie vergebens dagegen protestierten, die deutschen Zentristen Kautsky, Haase und Bernstein dazu einzuladen. Auch als Lenin im Februar 1916 von Bern nach Zürich umgezogen war, blieben die Beziehungen gespannt. Im März 1916 äußerte er gegenüber Zinov’ev den Verdacht, Radek verzögere absichtlich das Erscheinen der zweiten Ausgabe des „Vorboten“, um zu verhindern, dass die Bol’ševiki in dem Blatt ihre Thesen zur Selbstbestimmung noch vor der für Ostern anberaumten neuen internationalen sozialistischen Konferenz zur Diskussion stellen konnten.187 Zinov’ev, der die Publikation forcieren sollte, berichtete aus Bern pikiert an Lenin, dass Radek sich unkooperativ verhalte und mit ihm „keinerlei kollegiale Arbeit“ mehr leisten würde.188 Als es dann Anfang April 1916 darum ging, das Nachfolgeorgan des eingestellten bolschewistischen „Kommunist“, den „Sbornik ,Social Demokrata‘ [Sammelheft des Sozial-Demokrat]“189 aus der Taufe zu heben, lehnte es Lenin ab, Radek zur Mitarbeit einzuladen. „Radek nicht auffordern“, schrieb er an Zinov’ev, und er fügte hinzu: „Seine Thesen müssen bekämpft werden“190. Diese „Thesen über Imperialismus und nationale Unterdrückung“ hatte Radek inzwischen im „Vorboten“ veröffentlicht.191 Er verneinte erneut die Realisierbarkeit des Prinzips der Selbstbestimmung in der kapitalistischen Gesellschaft; im sozialistischen Staat, der alle Klassengegensätze be185 Ausländisches Sekretariat des Landesvorstandes der SDKPiL (Kamiénski) an Grimm, 12. November 1915; Lademacher, Band 2, S. 290. 186 Borchardt an Grimm, 15. November 1915, ebenda, S. 297f. In diesem Schreiben heißt es: „Wir bevollmächtigen die in Bern ansässigen Genossen Lenin, Sinowjew [ Zinov’ev] und Radek […]“. In einer von Radek angeblich dechiffrierten Kopie von Borchardts Brief, die er an Grimm weiterleitete, lautet der Passus über die Mandatsübertragung nur noch: „Wir bevollmächtigen den in Bern ansässigen Genossen Radek […]“. Radek an Grimm, 16. November 1915; ebenda, S. 297. 187 Lenin an Zinov’ev, März 1916; Polnoe Sobranie Sočinenij, a.a.O., tom 49, S. 199. Tuck, S. 38. 188 Lenin an Zinov’ev, 21. Juni 1916; Lenin, Werke, Band 35, S. 196. 189 Wegen Geldmangel erschienen nur zwei Ausgaben im Oktober und im Dezember 1916. 190 Von Lenin an Zinov’ev gerichteter Zusatz , in: „Beschlußentwurf des ZK der SDAPR [RSDRP] über die Zeitschrift ,Kommunist‘“, nach dem 10. April 1916; Lenin, Werke, Band E 1, S. 375. 191 K. R. [Karl Radek], „Thesen über Imperialismus und nationale Unterdrückung“, „Vorbote“, Nr. 2, April 1915, S. 44f.

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seitigen würde, sei die Nation ohnehin nicht mehr relevant. Er trat der Auffassung Lenins entgegen, der Kampf um die Selbstbestimmung sei ein brauchbares Kampfmittel für die Herbeiführung der Revolution und verurteilte sie als ein Rezept, das mit dem Revisionismus im Einklang stehe, die Massen irreführe und über den wahren Charakter des Kapitalismus hinwegtäusche. Die Wiedergabe der Resolution der „Gazeta Robotnicza“ zur Polenfrage, über die sich Lenin so entrüstet hatte, schloss den Artikel ab. Die „zweite Zimmerwald-Konferenz“ fand vom 24. bis 30. April 1916 statt.192 Als Sekretär der Internationalen Sozialistischen Kommission hatte Grimm das Bergdorf Kiental im Berner Oberland als Tagungsort ausgewählt. Nach der Eröffnungsveranstaltung in Bern, versammelten sich die 45 Teilnehmer aus zehn Ländern als Touristengruppe getarnt am 25. April im Kientaler Hotel „Bären“. Radek vertrat wieder den Landesvorstand der SDKPiL, diesmal zusammen mit den Polen Broński193 und Dombrowski194; zusätzlich hatte ihn die „Revolutionäre Vereinigung Hollands“ von Henriette Roland Holst mit einem Mandat ausgestattet.195 Das Zentralkomitee der RSDRP wurde von Lenin, Zinov’ev und Ines Armand repräsentiert, wobei letztere unter dem Decknamen „Genossin Petroff [Petrov]“ auftrat. Bemerkenswert war die Zusammensetzung der deutschen Delegation, der neben vier SPD-Oppositionellen auch zwei Mitglieder der neugegründeten „Gruppe Internationale“196 und Radeks politischer Freund Paul Frölich von der „Oppositionellen Gruppe der Sozialdemokratischen Partei Bremens“ angehörten. Kautsky, Haase und Bernstein hatten abgesagt. Im Verlauf der Konferenz wurde abermals deutlich, dass es den sieben Zimmerwalder Linken darum ging, eine neue, die dritte Internationale zu schaffen, welche die Massen in den revolutionären Kampf führen sollte. Radek verlas eine von den Bol’ševiki, den „Rosłamowcy“ und Frölich eingebrachte Resolution mit dem Titel „Die Friedensfragen und die Sozialdemokratie“. Darin wurde in Lenins Sinn zum 192 Soweit nicht anders vermerkt, folgt die Darstellung dem Konferenzprotokoll (Lademacher, Band 1, S. 262–390) und Gautschi, S. 201–207. 193 Broński, Mieczysław (1882–1942); SDKPiL seit 1902; 1906 im Redaktionsstab der „Czerwony Sztandar“ in Warschau tätig; ab 1907 als Emigrant in der Schweiz; Anhänger Lenins und Mitglied der SPS in Zürich; nach der Oktoberrevolution hoher Sowjetfunktionär; zuletzt Professor für Politische Ökonomie. 194 W. Dombrowski, Pseudonym von Stein, Bronisław (Bruder von Stein, Henryk, S. oben, Anm. 61); in der internationalen Jugendbewegung aktiv; nach 1918 in der KP Polens; 1938 in der Sowjetunion verhaftet. 195 Lademacher, Band 1, S.310. 196 Die von Karl Lieknecht, Rosa Luxemburg und Franz Mehring am 1. Januar 1916 gegründete „Gruppe Internationale“ beschloss auf ihrer ersten Reichskonferenz die Herausgabe der ab 27. Januar 1916 erscheinenden „Spartacus“-Briefe; nach diesem Mitteilungsblatt wurden die Herausgeber auch „Spartakusgruppe“ genannt. Sie verbanden die Agitation gegen den Krieg mit der Forderung nach der Abschaffung der kapitalistischen Klassengesellschaft. Ihre Vertreter in Kiental waren Berta Thalheimer und Ernst Meyer. Meyer wurde wegen seiner Teilnahme als Redakteur des „Vorwärts“ entlassen.

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revolutionären Massenkampf des Proletariats für den Sozialismus aufgefordert. Der letzte Absatz lautete: „Aufruf des internationalen Proletariats zu diesen Kämpfen, seine Organisierung zum Sturm auf den Kapitalismus, das ist das einzige Friedensprogramm der Sozialdemokratie. Senkt die Waffen, richtet sie gegen den gemeinsamen Feind, die kapitalistischen Regierungen. Das ist die Friedensbotschaft der Internationale.“197

Im Vergleich zur ersten Internationalen Sozialistischen Konferenz traten in Kiental die Gegensätze in der Zimmerwald Bewegung deutlicher zutage. Gelegentlich kam es sogar zu tumultartigen Szenen. Als der Vorsitzende Grimm während einer ziellos wabernden Diskussion auf Lenins Anhang anspielend, erklärte, man müsse sich „die Frage stellen, ob es diesen Leuten wirklich um die Sache zu tun“ sei, rief Radek: „Nehmen Sie diese Insinuation zurück, sonst verlassen wir die Konferenz“. Nachdem Grimm sich nicht entschuldigte, verließen „die Russen und die Polen der Zimmerwalder Linken“ mit gespielter Entrüstung den Saal, in den sie allerdings nach wenigen Minuten zurückkehrten.198 Obwohl sich die Bol’ševiki und ihre Sympathisanten in Kiental mit ihren Auffassungen generell nicht voll durchsetzen konnten, gelang es ihnen Beschlüsse zu erzielen, die in ihrer Tendenz weiter links lagen als jene der ersten Konferenz. Das Abschlussmanifest „An die Völker, die man zu Grunde richtet und tötet“ war radikaler formuliert als jenes von Zimmerwald. Um Kriege in Zukunft zu verhindern, gebe es nur ein wirksames Mittel: „Die Eroberung der politischen Macht und die Abschaffung des kapitalistischen Eigentums durch die arbeitenden Klassen“199. Von den sozialistischen Parlamentariern wurde verlangt, „daß sie von nun an gegen alle Kriegskredite stimmen.“200 Der Aufruf zum bewaffneten Aufstand war hingegen nicht enthalten. Im Anschluss an die Konferenz tagte in Bern am 2. und 3. Mai 1916 die Erweiterte Internationale Sozialistische Kommission, um die Resolutionen und das Manifest von Kiental abschließend zu redigieren. Zinov’ev und Radek , die in dieses Gremium delegiert worden waren, protestierten vergeblich dagegen, dass auf der Konferenz beschlossene Texte nun mit Zusätzen ergänzt wurden: „Wir protestieren dagegen, das[s] die erweiterte Internationale Sozialistische Kommission jetzt Beschlüsse annimmt, die die Beschlüsse der Kientaler Konferenz revidieren. Wir halten diese Beschlüsse der Internationalen Sozialistischen Kommission als nicht geltend.“201 Dennoch bewertete Lenin das Manifest als „einen Schritt vorwärts“; im-

197 Lademacher, a.a.O. , S.323. 198 Ebenda, S. 372. 199 Ebenda, S. 404. 200 Ebenda, S. 406. 201 Ebenda, S. 401.

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merhin sei das Ergebnis von Kiental „trotz unzähliger Mängel ein Schritt zum Bruch mit den Sozialpatrioten“.202 Erneuten Anstoß nahm er an einer am 9. Mai 1916 in der „Berner Tagwacht“ von Radek verfassten Bewertung des gerade erst beendeten irischen Osteraufstandes. In dem zur britischen Krone gehörenden Irland hatte man zwar schrittweise eine Bodenreform umgesetzt, welche die Kleinpächter zu Bauern auf eigener Scholle machte, aber das vom Parlament angenommene Gesetz über die Selbstverwaltung (Home Rule) wegen des Kriegsausbruchs 1914 nicht in Kraft treten lassen. Die irische Nationalistenpartei „Sinn Fein“ hatte daher im April 1916 die Republik ausgerufen und einen Aufstand organisiert, der von den Briten schnell niedergeschlagen wurde. In seinem mit „K. R.“ gezeichneten Artikel „Ein ausgespieltes Lied“ beurteilte Radek den irischen Aufstand als „Putsch“. Er argumentierte, die irische Frage sei eine Agrarfrage gewesen und die Bauern seien durch Reformen beruhigt worden. Deshalb reduziere sich die nationalistische Bewegung jetzt auf eine „rein städtische kleinbürgerliche Bewegung, hinter der trotz des vielen Lärms den sie bereitete, sozial nicht viel steckte“203. Lenin bezeichnete dies als ein „in seinem Doktrinarismus und seiner Pedanterie ungeheuerliches Urteil“204. Er glaubte, der irische Aufstand habe die revolutionäre Krise in Europa verschärft und der englischen imperialistischen Bourgeoisie einen starken Schlag versetzt. Besonders erbitterte ihn jedoch, dass Radek eine Auffassung äußerte, die auch seine bürgerlichen russischen Gegner, die „Konstitutionellen Demokraten (,Kadetten‘)“, in ihrem Parteiblatt „Reč’ [Das Wort]“ vertreten hatten.205 Anklagend, schrieb er an Šljapnikov: „Jetzt sind in der Frage der Einschätzung des irischen Aufstands (eine äußerst wichtige Frage, nicht wahr? keine bloße ,Theorie‘!) sowohl Radek als auch Kulischer (ein Kadett aus der ,Retsch [Reč’]‘) einer Meinung, indem sie ihn borniert einen ,Putsch‘ nennen. Unglaublich, aber eine Tatsache.“206 Ärgerlich vermerkte Lenin auch wieder, dass „Radek und Co.“ in der exilpolnischen „Gazeta Robotnicza“ von der Auffassung der Bol’ševiki abweichende Standpunkte vertraten und somit „gegen uns“ intrigierten, wie er meinte207. In einem Brief an Zinov’ev nahm er im Juni nochmals auf die „Meinungsverschiedenheiten mit Radek“ Bezug: 202 Lenin an Šljapnikov, zwischen 1. und 13. Mai 1916; Lenin, Werke, Band 36, S. 379. 203 „Berner Tagwacht“, Nr. 108, 9. Mai 1916. 204 Lenin, „Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung“, Juni 1916. Lenin, Werke, Band 22, S. 363. Zum gleichen Urteil war er schon zuvor in einem Brief an Aleksandra Kollontaj gekommen, in dem er über Radeks Artikel urteilte: „Gerade hier ist doch der Beweis für die widerliche Pedanterie und den dummen Doktrinarismus von K. Radek in der ,Berner Tagwacht‘ […]“. Lenin an A. Kollontaj, geschrieben nach dem 28. Mai 1916. Lenin, Werke, Band 36, S. 387. 205 A. Kulišer, „Der Dubliner Putsch“, „Reč’“, Nr. 102, 28. 4. 1916. Lenin, Werke, Band 36, S. 384, Anm. 467. 206 Lenin an Šljapnikov, 23.5.1916. Lenin, Werke, Band 36, S. 384. 207 Lenin an Šljapnikov, 17. Juni 1916. Ebenda, S. 390ff.

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„Sie wissen, daß Radek erstens derart ,beleidigt‘ ist (weil wir darauf bestanden unsere Thesen [zur Selbstbestimmung] in der Zeitschrift Pannekoeks [,Vorbote‘] zu veröffentlichen) […]. Die Meinungsverschiedenheiten mit ihm sind aber nicht beseitigt; im Gegenteil. Sie selbst pflichten mir bei, daß seine Einschätzung des irischen Aufstands eine Gemeinheit ist. […] Drittens wissen Sie, daß Radek uns in Kiental majorisieren [überstimmen] wollte, indem er Frölich, die Robmann208 u. a. ausnutzte und daß es eines Ultimatums bedurfte, um ihn zu zwingen, die Selbständigkeit unseres ZK [d.h. der Fraktion der Bol’ševiki in der RSDRP] anzuerkennen.“209

Obwohl der Stachel, den die politischen Divergenzen bei den Kontrahenten hinterlassen hatten, offensichtlich tief saß, kooperierten sie weiterhin auf dem Aktionsfeld des linken „Zimmerwald-Büros“. Radek war nach der Kientaler Konferenz von Bern nach Davos gegangen, wo seine Frau inzwischen als Ärztin arbeitete. Von dort aus beteiligte er sich an dem Versuch Lenins und der Zimmerwalder Linken, die schweizerische Sozialdemokratie zu spalten. Den Ansatzpunkt dafür bildete die sogenannte Militärfrage, das heißt die Diskussion in der SPS über ihre Haltung zur Vaterlandsverteidigung. Am 21. Juni 1916 hatten die Parteilinken im Bundesrat die Demobilisierung der Armee gefordert, im Juli hatte die Zürcher SPS-Organisation das Thema aufgegriffen und für Anfang August war deshalb eine Sondersitzung des Parteivorstands anberaumt worden. Am 30. Juli 1916 schaltete sich Radek mit einem Brief an die führenden Zürcher Linken Ernst Nobs und Fritz Platten in den Diskurs ein: „Erlaubt mir, einem Chaibe [cheibe = vermaledeiten] Ausländer, kurz seine Meinung über die Situation zu äussern. […] Unsere Grundauffassung ist die Ablehnung der Vaterlandsverteidigung, Bruch des Burgfriedens“. Er gab den taktischen Rat, in privaten Rücksprachen die bestehenden Differenzen unter den Linken beizulegen und sich mit Grimm, dem Sekretär der Zimmerwald-Bewegung, auf eine gemeinsame Linie gegen die Parteimehrheit zu verständigen. Er verwies auf das gemeinsame Ziel: „Jetzt ist das Notwendigste die Durchbringung der Ablehnung der Vaterlandsverteidigung.“210 Seine Initiative wirkte sich jedoch nicht unmittelbar aus, da der Vorstand der SPS die Militärfrage für den bevorstehenden Parteitag des Jahres 1916 ausklammerte und beschlossen hatte, sie erst auf einem Sonderparteitag im Februar 1917 zu behandeln. Der reguläre Parteitag der schweizerischen Sozialdemokratie fand vom 4. bis 5. November 1916 in Zürich statt211. Lenin und Radek nahmen daran teil. Lenin gehörte wie Zinov’ev, Broński, Charitonov und andere Exilrussen der SPS der Stadt Zürich an. Mutmaßlich hatte er den Beitritt zum dortigen Arbeiterverein „Eintracht“ erklärt und war dadurch automatisch Mitglied sowohl der Stadtpartei als auch der 208 Robmann, Agnes (1876–1951); Mitglied der SPS, Grundschullehrerin. 209 Lenin an Zinov’ev, 21. Juni 1916; Lenin, Werke, Band 35, S. 196. 210 Radek an Nobs und Platten, 30. Juni 1916; Lademacher, Band 2, S. 594–597. 211 Die Darstellung des Parteitagsgeschehens folgt Gautschi, S. 219ff., der sich auf die Briefe Lenins an Ines Armand (4. und 9. November 1916) und das Protokoll des Parteitags stützt.

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Schweizer Gesamtpartei geworden.212 Ähnlich dürfte es sich mit Radek verhalten haben. Am Abend zuvor trafen sich die beiden mit den Spitzenpersönlichkeiten der Linken in der SPS, darunter Platten, Nobs, Münzenberg. Unter ihrer Wortführung einigte man sich auf eine gemeinsame Resolution, die die schweizerische Sozialdemokratie auf die Verwirklichung des Kientaler Manifests verpflichten sollte. Nach der Eröffnung des Parteitages am 4. November richtete zuerst Radek im Namen der „Sozialdemokratie Russisch-Polens“ ein Grußwort an die Versammlung. Danach hielt Lenin eine farblos wirkende Ansprache. Beide blieben dann aber im Hintergrund und überließen es Platten und Nobs als Sprecher der Zürcher Linken aufzutreten. Nobs brachte auch die am Vorabend von Lenin und Radek inspirierte Resolution ein, die zum „vollständigen organisatorischen Bruch mit den Sozialpatrioten“, zum „revolutionären Massenkampf“ und zur Unterstützung der „revolutionären Bewegungen in den kriegführenden Ländern“ aufrief. Als man sich unter dem Vorsitz Münzenbergs am Rande des Parteitags nochmals zu einer Sonderberatung mit Lenin und Radek traf, war Lenin vom Verlauf der Veranstaltung begeistert und meinte, er fühle sich „wie ein altes Schlachtroß im Kampfgetümmel“. Dennoch war er zuletzt ernüchtert. Der Parteitag hatte ihm die tatsächlichen Machtverhältnisse in der Schweizer Sozialdemokratie vor Augen geführt. Grimm als überragende Figur des linken Flügels der SPS hatte sich den Vorstellungen der Zimmerwalder Linken nicht nur verweigert, sondern es auch taktisch geschickt verhindert, dass diese ihre radikalen Positionen durchsetzen konnten. In der Retrospektive wird deutlich, dass die Gegner der Radikalen in der SPS die politische Inszenierung Lenins und seine Absichten durchschaut hatten. Ein Agentenbericht hielt fest, „die äußerste Linke des Zürcher Parteitages bestand bekanntlich aus – eigentlich fiktiven – russischen Delegierten, darunter Lenin, Rjazanov213, Zinowjew [Zinov’ev]; auch Radek hatte sich ein Mandat ,besorgt‘, die ihre Taktik der Schweizer Partei aufzwingen wollten“214. „Grimm ist ein unverschämter Lump“, schimpfte Lenin nach dem Parteitag. Auch Radek kritisierte unverhüllt die Haltung Grimms und behauptete, der Parteitag habe „ein Bild vollkommener Zerfahrenheit“ geboten: „Statt eines Schrittes über Zimmerwald – Aarau215 nach Kiental, das heißt von der radikalen Demonstration zur radikalen Politik, trippelte man ängstlich auf derselben Stelle herum oder machte sogar einen Schritt rückwärts.“216 Lenins Gegnerschaft zu Grimm, ei212 Gautschi. S. 199. 213 Rjazanov, Pseudonym von Goldenbach, David Borisovič (1870–1938); Historiker und Herausgeber von Schriften aus den Nachlässen von Marx und Engels; nach der Oktoberrevolution Gründer und Direktor des Marx-Engels-Instituts in Moskau; 1931 aus der Partei ausgeschlossen, starb er in der Verbannung. 214 Agentenbericht: „Eine ,Internationale‘ Konferenz“ vom 6. Februar 1917. Lademacher, Band 2, S. 682. 215 Anspielung auf den Parteitag der SPS vom 20. bis 21. November 1915 in Aarau, auf dem Charitonov die Resolution der Zimmerwalder Linken durchgesetzt hatte. 216 Arnold Struthahn [Karl Radek], „Nach dem Parteitage der Schweizer Sozialdemokratie“, „Arbeiterpolitik“ Nr. 24, 2. Dezember 1916.

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nem der führenden Schweizer Sozialisten und dem Organisator der ZimmerwaldBewegung, hatte sich nach dem Parteitag vertieft. Ein von ihm aus dem Schatten geführter Kampf gegen Grimm und dessen Positionen setzte ein.217 Radek sekundierte Lenin in dieser Auseinandersetzung nach Kräften. Grimm hatte in Kiental begonnen, sich allmählich den Positionen der Zentristen in der SPS anzunähern und kongruent dazu verschlechterte sich sein Verhältnis zu Radek und den Zimmerwalder Linken. Lerner registriert, dass der letzte mit „K.R.“ gezeichnete Artikel Radeks – nämlich der über den irischen Osteraufstand – am 9. Mai 1916 in der „Berner Tagwacht“ erschienen ist218 und schließt daraus, er sei seither von dieser Zeitung „abgeschnitten“ gewesen. Offenbar hat Radek aber doch weiter für Grimm gearbeitet, denn noch im November 1916 reklamierte er bei ihm „18 Fr[anken] Honorar für das Neue Leben und für die Tagwacht“.219 Für die noch anhaltende journalistische Mitarbeit spricht auch der oben erwähnte, im Februar 1917 nach dem öffentlichen Bruch mit Grimm verfasste Agentenbericht, in dem es süffisant heißt: „Die liebe Tagwacht wird wohl auf die Mitarbeit des Herrn Radek künftighin verzichten müssen […].“220 Von einer endgültigen Trennung war auch keineswegs die Rede, als Radek am 19. November 1916 in einem Schreiben an Grimm auf die Ereignisse des Zürcher Parteitags einging: „Was die Sch[weizer] Dinge anbetrifft, so ist es unmöglich darüber zu korrespondieren. Es erfordert eine ganze Abhandlung. Sie haben Unrecht in der Darstellung der Tatsachen wie in ihrer Beleuchtung. Vielleicht würden Sie es ja für zweckmässig halten, mir in dem Neuen Leben 10 Seiten zur Disposition zu stellen, dann würde ich versuchen, vom Standpunkt der Linken das Wesen der Sache darzustellen, so zur Klärung beizutragen. Sie würden doch antworten können. Der Artikel würde den Titel haben: Die Krise der Schw[eizer] S[ozial]d[emokratie]221. Würde Struthahn zeichnen, da ich wie gesagt, nur höchst ungerne öffentlich in den Streit eingreife. Würde ich in ihn als Radek hineingezerrt, so müsste ich mich mit voller Kraft einer Sache widmen, der ich nur vorübergehend dienen kann. Ich bleib doch nicht in der Schweiz.“222

Gab Radek gegenüber Grimm noch vor, sich allenfalls als Außenstehender und durch sein Pseudonym getarnt mit den Parteiinterna der SPS auseinandersetzen zu wollen, so äußerte er sich in einem wahrscheinlich ebenfalls in der zweiten Novemberhälfte verfassten Schreiben an Fritz Platten und andere „Werte Genossen“ wesentlich ein217 Vgl. Gautschi, S. 227ff. 218 Lerner, S. 51, Anm. 88. Wahrscheinlich ging es dabei auch um das Geld für Radeks Artikel „Zusammenbruch und Auferstehung der Internationalen. Polemische Randglossen“, der im Heft 7/8 (Juli /August) von „Neues Leben“ erschienen war. 219 Radek an Grimm, 19. November 1916; Lademacher, Band 2, S. 639. 220 Agentenbericht: „Eine ,Internationale‘ Konferenz“ vom 6. Februar 1917; Lademacher, Band 2, S. 682. 221 Der Artikel erschien nicht. 222 Radek an Grimm, 19. November 1916; Lademacher, Band 2, S. 638f.

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deutiger. Diesem Brief hatte er die Thesen Lenins über „Die Aufgaben der Zimmerwalder Linken in der Schweizerischen Sozialdemokratischen Partei“223 beigefügt, die jener nach dem Zürcher Parteitag geschrieben hatte und die er nun zur Begutachtung unter den Linksradikalen der SPS verteilen ließ. Darin wird festgestellt, dass der Novemberparteitag es versäumt habe, den Anschluss an Zimmerwald zu finden und die 1915 in Aarau verabschiedete Resolution über „die Anerkennung des revolutionären Massenkampfes“ als politische Richtschnur zu akzeptieren. In der Partei habe sich „definitiv“ ein opportunistisches „Zentrum“ gebildet, „das der Richtung Kautsky-Haase […] in Deutschland“ entspricht und „an dessen Spitze Genosse Robert Grimm steht“. Dieser Lagebeurteilung folgten dreißig Thesen Lenins. Sie stellen ein ausführliches Exposé dar, das eine klare Anweisung zum Handeln bildet, wie die Schweiz in einen sozialistischen Staat umgeformt werden kann, und sie fixieren auch die Position zur Militärfrage: „Die ,Vaterlandsverteidigung‘ seitens der Schweiz […] ist nichts anderes als bürgerlicher Betrug… Im Falle der Hineinziehung der Schweiz in den gegebenen Krieg ist es daher die bedingungslose Pflicht der schweizerischen Sozialdemokratie, die ,Vaterlandsverteidigung‘ grundsätzlich abzulehnen… Das Proletariat soll auf den Krieg antworten mit der Propaganda, Vorbereitung und Verwirklichung der revolutionären Massenaktionen zum Zwecke der Niederwerfung der Herrschaft der Bourgeoisie, der Eroberung der politischen Macht und der Verwirklichung der sozialistischen Ordnung […]. Zu diesen revolutionären Massenaktionen sollen auch Demonstrationen und Massenstreiks gehören, nicht aber militärische Dienstverweigerung. Im Gegenteil, nicht Dienstverweigerung, sondern nur die Umkehrung der Waffen gegen seine eigene Bourgeoisie kann den Aufgaben des Proletariats entsprechen […].“224

In dem Brief an Platten erklärte Radek sein prinzipielles Einverständnis mit dem Papier. Er, der in der Vergangenheit immer wieder seinen Förderer Grimm in Schutz genommen hatte, übte jetzt Selbstkritik und machte deutlich, dass er sich Lenins feindliche Einstellung gegenüber Grimm zu Eigen gemacht hatte: „Nach den Erfahrungen von zwei Jahren, in denen ich die schwankende Haltung des Gen[ossen] Grimm mir selbst immer wieder als vorübergehend erklärte, weswegen ich den Kampf gegen ihn, den autoritativen Führer der jungen radikalen Richtung in der Schw[eizer] Partei für einen Fehler hielt, schliesse ich mich der Auffassung an, dass es sich hier um die Ausbildung des schw[eizerischen] Zentrums handelt, dessen Führer Grimm

223 Veröffentlicht unter dem Titel „Die Aufgaben der Linksradikalen (oder der linken Zimmerwaldisten) in der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz“; Lenin, Werke Band 23, S.135–147. 224 „Die Aufgaben der Zimmerwalder Linken in der Schweizerischen Sozialdemokratischen Partei“; Lademacher, Band 2, S. 653f.

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und Lang225 sind. Ich halte den systematischen Kampf gegen sie für notwendig [...]. Dieser Kampf soll im allgemeinen in Richtung der vorliegenden Thesen geführt werden.“226

Im Hinblick auf die Vorbereitungen der Linken für den angekündigten Sonderparteitag der SPS zur Militärfrage machte Radek detaillierte organisatorische Vorschläge. Er empfahl die Bildung von zwei Kommissionen zur Vorbereitung der Resolutionen für den Parteitag, darunter auch über die „sch[weizerischer] Vaterlandsverteidigung“. Sie sollten zugleich als „Redaktionskomitee der Linken“ Artikel für die Parteipresse und zwei Flugblätter herausgeben. Die Flugblätter, als deren Verfasser er sich selbst in Vorschlag brachte, sollten die Titel tragen: „Die Vaterlandsverteidigung und das schweizerische Proletariat“ sowie „Die Krise der Schw[eizer] Sozialdemokratie“. Sie dürften nicht mehr als 400 Zeilen haben; sie müssten „absolut verständlich geschrieben sein, aufs praktische zugespitzt“. Sie sollten „von namhaften Genossen des linken Flügels: Platten, Nobs, Münzenberg, Bronski […] gezeichnet, der ganzen Parteipresse mit Bitte um Abdruck zugehen“. Verweigerte die Zürcher Parteiorganisation den Druck, müsste man selbst eine „kleine Flugblattzentrale“ gründen, die als „Zimmerwalder Linke, Schweizer Abteilung“ firmieren könnte. „Nachdem die Thesen und die Flugblätter heraus sind“, empfahl er weiter, „müssen wir eine Liste von Referenten zusammenstellen, die in dieser Richtung arbeiten“ und Grimm Paroli bieten sollten. „Überall wo wir Anhänger haben, soll eine Tournee veranstaltet werden. Gleichzeitig muß in Zürich die propagandistische Arbeit geleistet werden, die uns einen Stamm von Arbeitern heranbildet“.227 Abschließend machte Radek den Versuch, im Zusammenhang mit der angestrebten Kampagne, den im Frühjahr eingegangenen „Vorboten“ wiederzubeleben: „Zwecks theor[etischer] Besprechung der Dinge wäre die Herausgabe der 3. N[ummer] des Vorboten notwendig, in der die Fragen Vaterlandsverteidigung der kleinen Länder, Entwaffnungsfrage besprochen wären. Wenn die Schw[eizer] Linke 200 Fr[anken] zuschiesst, ist die Herausgabe dieser Nummer in den ersten Tagen Januar [1917] möglich.“228

Die Anregungen Radeks materialisierten sich nicht. Nobs lehnte den Abdruck der Thesen im „Zürcher Volksrecht“ ab und auch der „Vorbote“ erschien nicht wieder. Lenin charakterisierte die enttäuschende agitatorische Situation treffend, als er Ines Armand im Dezember 1916 aus Zürich schrieb:

225 Lang, Otto (1863–1936), Verfasser des Programms der SPS von 1904; Jurist (Oberrichter) und Publizist; einer der Kriegsgegner in der Partei. 226 Radek an Platten u.a., wahrscheinlich in der zweiten Novemberhälfte 1916 geschrieben; Lademacher, Band 2, S. 649. 227 Ebenda, S. 650f. 228 Ebenda, S. 652.

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„Hier hat sich so eine Art Zirkel der Linken gebildet229. […] Es nehmen Nobs, Platten, Münzenberg und noch einige von den Jungen teil. Wir unterhalten uns über die Militärresolution im Zusammenhang mit den Aufgaben der Linken. Die Gespräche haben mir besonders anschaulich vor Augen geführt: 1. wie verteufelt schwach (in jeder Beziehung) die Schweizer Linken sind; 2. wie schlecht Bronskis und Radeks [System] der Einwirkung ist, die Artikel über die Linken in anderen Ländern schrieben und schreiben! Das ist es ja gerade, daß in bezug auf das Ausland alle liebend gern Linke sind: das ist billig!! Aber in bezug auf die Schweiz – schwach!“230

Auch angesichts der Zusammenarbeit in der Militärfrage und dem gemeinsamen Vorgehen gegen Grimm waren die persönlichen und ideologischen Differenzen zwischen Radek und Lenin zu dieser Zeit mitnichten ausgeräumt. Worum es bei dem „,Zank‘ (???!!!) mit Radek“ ging, erklärte Lenin nochmals in seinem vielzitierten Brief vom 30. November 1916 an Ines Armand231, in dem er mit Invektiven nicht sparte. Radek, so schrieb er äußerst nachtragend, habe ihn und Zinov’ev „höchst niederträchtig aus der Redaktion des Vorboten hinausgedrängt“. Auf einen der politischen Ziehväter Radeks, seinen polnischen Erzfeind Leo Jogiches (Deckname Tyszka), anspielend, erhob er den Vorwurf: „Radek benimmt sich in der Politik wie ein Tyszkascher Krämer, unverschämt, frech und dumm“. Die Resolution zur polnischen Frage in der „Gazeta Robotnicza“ vom Februar 1916 sei „ein Musterbeispiel für ein solch niederträchtig-lakaienhaftes ,Spiel‘ à la Tyszka“ und Radek trete in dessen Fußstapfen. „Wer solche Dinge in der Politik verzeiht,“ fuhr Lenin fort, „den halte ich für einen Narren oder für einen Schuft. Ich werde sie nie verzeihen. Dafür haut man eins in die Fresse oder man wendet sich ab“. Zugleich verübelte er Radek, dass dieser in der Frage der Selbstbestimmung gemeinsame Sache mit Bucharin, Pjatakov und Boš machte. Noch immer schreibe er in dieser Angelegenheit „äußerst unverschämte Briefe“ an ihn und Zinov’ev. Er zwänge sich in den Spalt der Meinungsverschiedenheiten unter den Bol’ševiki: „Hat Radek nicht verstanden was er tut, dann ist er ein Narr. Hat er es verstanden, dann ist er ein Schuft.“ Auf alle Fälle sei er ein Intrigant, der aus dem Hinterhalt andere aufhetze und sich selbst hinter der Zimmerwalder Linken verstecke: „[…] das ist der Gipfel der Gemeinheit. Der dreckigste… aus dem Tyszkaschen Sumpf hätte nicht niederträchtiger hinter dem Rücken feilschen, liebedienern und intrigieren können.“ Dennoch gebe es „mit Radek keinen Bruch im allgemeinen sondern nur in einer bestimmten Sphäre“, und zwar in den „russischen und polnischen Angelegenheiten“ sowie im Streit um die politische Linie der Parteizeitung „Kommunist“. Es wäre „unsinnig die Verbindung mit Radek so aufzufassen, daß man uns in dem notwendigen theoretischen und praktischen Kampf die Hände bin229 Bei diesem Kreis handelte es sich um den hauptsächlich im Zürcher Restaurant „Stüsslihof“ tagenden sogenannten „Kegelklub“, eine linksextreme Debattierrunde aus Schweizern und Emigranten, vor allem aus Deutschland und Russland. Vgl. Gautschi, S. 193ff. 230 Lenin an Ines Armand, 17. Dezember 1916. Lenin, Briefe, Band 4, S. 335. 231 Lenin an Ines Armand, 30. November 1916. Lenin, Werke, Band 35, S. 227–233.

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det. […]. Als es notwendig wurde, in der Praxis mit Radek zusammenzugehen, gingen wir zusammen. [...] Und er kann jetzt nichts tun, was der Arbeit schaden könnte. Er war gezwungen auf dem Parteitag in Zürich ebenso wie jetzt mit mir zusammenzugehen gegen Grimm.“232 Der Groll Lenins entlud sich erneut, als er von Zinov’ev erfuhr, dass Radek in der Bremer Arbeiterpolitik“ ein Loblied auf Bucharin als „vielversprechende Kraft der russischen Linksradikalen“ verfasst hatte und in der gleichen Notiz auch erwähnte, dieser stehe nicht nur in Bezug auf den Imperialismus, sondern auch in der Frage des Selbstbestimmungsrechts im Gegensatz zu Lenin233. Abermals schimpfte er auf Radek in einem Brief an Ines Armand: „Er zwängt sich in den Spalt unserer Meinungsverschiedenheiten: die übliche Politik des Lumpengesindels und Packs, das nicht soviel Kraft hat, sich offen mit uns auseinanderzusetzen und zu Intrigen, hinterhältigen Angriffen und Gemeinheiten seine Zuflucht nimmt. Da haben Sie ein anschauliches Bild davon, was Radek ist und was er tut (einen Menschen beurteilt man nicht danach, was er von sich sagt oder denkt, sondern danach, was er tut – denken Sie an diese marxistische Wahrheit?). Voilà.“234

Um den von den Linksradikalen geförderten Spaltungstendenzen der Schweizer Sozialisten wegen der Militärfrage entgegenzuwirken, setzte Grimm am 6. Januar 1917 im SPS-Vorstand eine Verschiebung des zu diesem Thema geplanten Sonderparteitags durch. Er gab sich jetzt entschieden weniger internationalistisch, als auf den Zimmerwald-Konferenzen und trug – wie Gautschi schreibt – den schweizerischen Gegebenheiten Rechnung, indem er bei der Erläuterung seines Verschiebungsantrages ausführte: „Wie steht es denn mit der Entwaffnungsparole, mit der Dienstverweigerung? Die Partei kann die Konsequenzen nicht ziehen [...]. Wie sollen wir uns verhalten? Unter allen Umständen den Dienst verweigern? Nein! Will die Partei, wenn morgen der Krieg ausbrechen sollte, den Aufstand, die Revolution proklamieren? Dann würde sie niedergeschlagen, wie einst die Kommune“235. Lenin schrieb daraufhin wütend an Ines Armand: „Der Schuft Grimm hat an der Spitze aller Rechten [...] den Beschluß durchgebracht, den für den 11. Februar 1917 speziell zur Militärfrage anberaumten Parteitag auf unbestimmte Zeit zu verschieben“236. „Grimm – die überragende Figur – mußte er abzuschießen versuchen, um die eigene Politik einen Schritt weiter zu bringen“237. Am 15. Januar 232 Ebenda, S. 229–232. 233 Die „Arbeiterpolitik“ Nr. 25 vom 9. Dezember 1916 enthielt einen Text Bucharins mit dem Titel „Der imperialistische Staat“. In einer ungezeichneten Fußnote mit dem von Lenin inkriminierten „Loblied“ hatte Radek den Verfasser Bucharin vorgestellt. 234 Lenin an Ines Armand, 18. Dezember 1916. Ebenda, S. 238. 235 Gautschi, S. 227. 236 Lenin an Ines Armand, 8. Januar 1917; Lenin, Briefe, Band 4, S. 354. 237 Gautschi, S. 228.

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1917 initiierte er, assistiert von Radek, der eigens aus Davos gekommen war, die offene Kampfansage der Linken an Grimm. Münzenberg beschrieb diese entscheidende Zusammenkunft in Zürich, die Fritz Platten als einen „politischen Mord“238 bezeichnete, wie folgt: „Eines Tages kamen zu mir Lenin, seine Frau, Sinowjew [Zinov’ev], Radek und Paul Levi239 und forderten mich auf, Fritz Platten telephonisch herbeizuholen. Platten kam und Lenin eröffnete, daß ihre Gruppe beschlossen habe, den endgültigen Bruch mit Grimm zu vollziehen und den Kampf gegen ihn zu führen. Platten wurde vor die Alternative gestellt, mit der Gruppe zu gehen oder Grimm zu decken. Er zögerte eine Weile, endlich entschloß er sich, mit uns zu gehen, worauf Paul Levi, der unter dem Namen Hartstein in der Schweiz lebte, Mimiola240 den ersten großen Angriffsartikel in die Maschine diktierte. Radek erhielt den Auftrag, eine Broschüre gegen Grimm zu schreiben.“241

In seinen Memoiren berichtet Münzenberg etwas ausführlicher darüber: „Der öffentliche Bruch mit Robert Grimm wurde in einer Konferenz an einem der ersten Februartage 1917242 in meiner Wohnung beschlossen. […] Lenin entwickelte einleitend seine Auffassung über die aktuelle Lage in der internationalen schweizerischen Arbeiterbewegung und begründete die Notwendigkeit sofort und scharf mit Grimms Gruppe zu brechen. Fritz Platten versuchte, für Grimm eine Art Bewährungsfrist herauszuholen und schlug vor, den Bruch noch aufzuschieben. Aber Lenin war unerbittlich. […] Radek erhielt den Auftrag, eine Broschüre gegen Grimm zu schreiben. Gegen 8 oder 9 Uhr war die Konferenz zu Ende, wir gingen zum Abendessen und ungefähr gegen 11 Uhr nachts nach Hause. Am anderen Morgen, es war noch nicht 7 Uhr, klopfte jemand an meine Tür. Ich öffnete, Karl Radek mit seiner ewig rauchenden Tabakpfeife stand vor mir; er schmunzelte übers ganze Gesicht, zog aus der Rocktasche ein Manuskript und sagte: ,Hier ist die Broschüre gegen Grimm.‘“243

Der Bruch mit Grimm markierte den Wendepunkt in den seit nahezu einem Jahr gespannten Beziehungen zwischen Radek und Lenin. Zwar nannte Lenin nochmals 238 Lenin an Ines Armand, 15. Januar 1917; a.a.O., S. 363. 239 Paul Levi, der Lebensgefährte Rosa Luxemburgs und Angehörige der „Gruppe Internationale“, hielt sich nach seiner Entlassung aus der deutschen Armee seit Sommer 1916 zu einem längeren Erholungsaufenthalt in der Schweiz auf. Seine Schwester lebte im Kanton Graubünden in der Nähe von Davos, wo auch Karl Radek zu dieser Zeit wohnte. Radek hat ihn vermutlich zu dem Treffen mitgebracht. Levis Teilnahme macht deutlich, dass er sich nicht nur zu reinen Erholungszwecken in der Schweiz befand. 240 Mimiola, Giuglio, Zentralpräsident der schweizerischen sozialistischen Jugendorganisation. 241 Münzenberg an Fritz Brupbacher, 19. Januar 1928. Gautschi, S. 229f. 242 Münzenberg irrt sich in der Zeitangabe; das Treffen fand am 15. Januar 1917 statt. Vgl. Gautschi, S. 229. 243 Münzenberg, S. 222f.

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am 19. Januar 1917 Radek wegen Differenzen über die marxistische Lehre vom Staat244 einen „Dummkopf“ und urteilte harsch: „Das ist mehr als dumm! Das ist Halbanarchismus, Halbidiotie!“245, aber bereits drei Tage später verzichtete er in einem Brief aus Zürich an Ines Armand erstmals wieder auf alle Beschimpfungen Radeks: „Als ich am Donnerstag Ihren Eilbrief [mit der Bitte um Material für ein Referat] erhielt, bin ich ans andere Ende der Stadt zu Radek gelaufen und habe von ihm die Ausschnitte besorgt [...]. Radek hat auf mein Drängen hin eine kleine Broschüre gegen das hiesige ,Zentrum‘ und Grimm geschrieben [...].“246 Eine Woche darauf, Radek hielt sich noch immer in Zürich auf, beschrieb Lenin der Armand, wie sich sein Verhältnis zu Radek seit dem Treffen am 15. Januar 1917 gewandelt hatte: „[…] Ich habe Radek nach Kräften aufgehetzt (er ist noch hier, und wir sind – das haben Sie wohl nicht erwartet? – dicke Freunde, wie immer, wenn es gegen das ,Zentrum‘ geht, wenn kein Boden da ist für Radeksche Winkelzüge, für das Spiel bezüglich der ,[Selbstbestimmungs-]Rechte‘ usw., eine Broschüre zu schreiben: Wir sind stundenlang durch Zürich gelaufen, und ich habe ihn mir ,vorgeknöpft‘. Da hat er sich darangemacht und sie geschrieben.“247

Radeks Broschüre erschien nicht, da selbst Linksradikale in der SPS, wie Münzenberg, sich nicht bereitfanden, den Angriff gegen Grimm zu publizieren. Die Plattform für eine weitere Attacke auf Grimm bot jedoch zwei Wochen später eine Rumpfkonferenz der Erweiterten Internationalen Sozialistischen Kommission am 1. Februar 1917 in Olten bei Basel. Lenin merkte zu dieser Veranstaltung lediglich lakonisch an, Radek, Zinov’ev, Münzenberg und Levi hätten dort Grimm öffentlich gegeißelt und ihn wegen seines Bündnisses mit den Sozialpatrioten zum „politisch toten Mann“ erklärt248. Es existiert kein Protokoll von diesem Treffen, doch der bereits erwähnte Agentenbericht, der Radek unter den Teilnehmern als „den unausbleiblichen Herrn Sobelssohn“ anführt, hält fest: Eigentlich sei die Tagesordnung bereits abgehandelt gewesen,

244 Radek hatte behauptet, der „Staatenbau“ sei nicht das Kampfziel der Sozialdemokratie. Lenin, der zu dieser Zeit an seinem Werk „Staat und Revolution“ arbeitete, bestand zwar ebenfalls auf der restlosen Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparats, verteidigte aber die Notwendigkeit eines proletarischen Übergangsstaats als ein Zwischenstadium nach der Revolution. Den unmittelbaren Übergang zur staatenlosen kommunistischen Endgesellschaft, wie ihn auch die Anarchisten forderten, lehnte er ab. 245 Lenin an Ines Armand, 19. Januar 1917. Lenin, Werke, Band 35, S. 250. 246 Lenin an Ines Armand, 22. Januar 1917. Ebenda, S. 252. 247 Lenin an Ines Armand, 30. Januar 1917. Ebenda, S. 257. 248 Lenin, „Geschichte einer kleinen Periode einer sozialistischen Partei“, geschrieben Ende Februar 1917, Lenin, Werke, Band 23, S. 298f.

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„[…] da geschah aber ein Wunder: Der Schweizer ,Delegation‘, die […] ausser Grimm aus drei Genossen bestand, gesellten sich zwei neue ,Vertreter‘, und zwar der Russe Zinowjew [Zinov’ev] und der ,Pole‘ Sobelssohn zu, und diese beiden nahmen nun das Wort als Schweizer Genossen und erklärten feierlichst was folgt: ,Das Verhalten Grimms in der Schweizer Partei sei eine Schmach, sei ein Verbrechen, sei eine Scheidemanniade usw. Gewiss sei unsere Schweizer Partei ebenso faul und korrumpiert wie alle anderen offiziellen Parteien und darüber hätte man eigentlich hier auch kein einziges Wort zu verlieren. Da nun Grimm aber der Führer der Zimmerwalder Vereinigung ist, falle durch sein ,verräterliches‘ Wirken in der Schweizer Partei ein hässlicher Schatten auf Zimmerwald und es sei daher an der Zeit, Grimm aus der Internationalen Sozialistischen Kommission hinauszuschmeissen. Klipp und klar muss ihm gesagt werden: Handelst du wie ein Scheidemann, so gehörst du nicht zu uns; bleibst du bei uns, so handle, wie es uns passt.‘ Grimm quittierte diesen frechen Überfall in gebührender Weise […]. Das Ende der Sitzung war also wenig erbaulich.“249

Im Gegensatz dazu, fand Lenin den mit Radeks Hilfe herbeigeführten Eklat von Olten höchst erbaulich. Kurz danach forderte er in einem herzlich gehaltenen Brief Radek auf, weiter gemeinsam gegen Grimm zu kämpfen und die schweizerische Sozialdemokratie dazu zu bringen, die Vaterlandsverteidigung abzulehnen.250 In Radeks Avtobiografija ist über den Bruch mit Grimm lediglich festgehalten, in der Zeit nach Kiental sei man „auf einer Sitzung des Zimmerwald-Büros zum unmittelbaren Angriff gegen Robert Grimm“ übergegangen, „der die opportunistische Politik in der Schweiz anführte“251. Die vorangegangenen Differenzen mit Lenin sind allenfalls zwischen den Zeilen ablesbar, die Aussöhnung bleibt unerwähnt. Es heißt lapidar: „Als Il’ič von Bern nach Zürich umgezogen war, trafen wir häufig zusammen. In Zürich veranlaßte er mich und Bronski direkte Beziehungen zu Schweizer Arbeitern aufzunehmen […] und ging mit uns in kleine Schweizer Arbeiterversammlungen:“252 Brupbacher berichtet über eine solche Versammlung, die Anfang 1917 stattfand und auf der „Radek als Vertreter der Bolschewiki“ das Wort zur Militärfrage ergriff. Lenin hingegen, der neben Radek saß, äußerte sich, seiner Gewohnheit entsprechend, nicht.253 Während der monatelangen Streitigkeiten des Jahres 1916 agierte Radek weiter als Lenins Kontaktperson zu den deutschen Linksradikalen. Als Lenin in dem Brief vom 30. November 1916 den Stand der Auseinandersetzungen bilanzierte, hob er gegenüber Ines Armand ausdrücklich hervor, es sei ihm gelungen, die Fragen voneinander zu trennen: „Man mußte von Radek […] nehmen, was nötig war, ohne sich 249 Agentenbericht: „Eine Internationale Konferenz“ vom 6. Februar 1917. Lademacher, Band 2, S. 683f. 250 Lenin, Polnoe Sobranie Sočinenij, Band 49, S. 392. Lerner, S. 52. 251 Radek, Avtobiografija, Sp. 162. 252 Ebenda. 253 Brupbacher, S. 197.

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die Hände binden zu lassen“254. Er betonte: „Die Verbindungen mit den deutschen Linken haben wir nicht im geringsten verloren.“255 Zu den linksradikalen Gruppen im Deutschen Reich, mit denen Radek in Kontakt stand, zählten zunächst Julian Borchardts „Internationale Sozialisten Deutschlands (ISD)“, die sich um seine Zeitschrift „Lichtstrahlen“ scharten. Von Lenin in ihrer Bedeutung anfangs überbewertet, urteilte die Württemberger Spartakistin Berta Thalheimer abschätzig, aber zutreffend, über die ISD, es handele sich um eine winzige Gruppe, „[…] die sich in sektiererischer Weise von vornherein abgesplittert hat und die Arbeit in den Massen anderen überlässt, ein kleiner literarischer Zirkel. Wir wollen ihr aufklärendes Verdienst durch die Lichtstrahlen nicht im mindesten schmälern, aber die Abonnements sind nicht identisch mit der Gruppe. Man liest sie, weil man ausser der N[euen] Z[eit] nichts anderes hat.“256

Radek schrieb seit 1914 für Borchardts Blatt. Zuletzt hatte man sich gemeinsam mit Lenin in Zimmerwald getroffen, und spätestens seit diesem Treffen bestimmte Radek als Parteigänger Lenins von der Schweiz aus, was die „Lichtstrahlen-Gruppe“ zu sagen hatte. Er schreibt, dass nach Zimmerwald die „Lichtstrahlen“ wöchentlich zu erscheinen begannen und stellt fest, „wir hatten mit ihnen ein in Deutschland weitverbreitetes legales Organ“257. Thalheimers Äußerung unterstreicht, dass er mit seinen Artikeln einen Leserkreis in der deutschen Linken, weit über Borchardts Anhängerschaft hinaus, erreicht haben muss. Radek publizierte auch im „Leuchtturm“, mit dem die „Lichtstrahlen“ nach ihrem Verbot 1916 noch mit einer Ausgabe fortgesetzt wurden. Unter den Bremer Linksradikalen hatte Radek seinen Einfluss ebenfalls behalten. Er schrieb weiterhin für die „Bremer Bürger-Zeitung“, in der mittlerweile seine aus der Armee entlassenen Freunde Knief und Frölich wieder als Redakteure arbeiteten. Auch zu Henke bestand noch Verbindung. Im April 1916 hatte Frölich die Bremer in Kiental vertreten, und bei dieser Gelegenheit muss auch das Projekt der Gründung einer neuen linksradikalen Zeitschrift erörtert worden sein. Radek schreibt, seine bremischen Freunde hätten unter den Arbeitern Gelder im Gegenwert von „200 Rubel“ gesammelt, „mit denen wir an die Herausgabe der Zeitschrift „Arbeiterpolitik“ gehen konnten. „Die Hälfte der Beiträge schrieb ich von der Schweiz aus, die übrigen stammten von russischen bolschewistischen Mitarbeitern, darunter Zinov’ev, Kollontaj258, 254 Lenin an Ines Armand, 30. November 1916, Lenin Werke, Band 35, S. 232. 255 Ebenda, S. 229. 256 Berta Thalheimer an Robert Grimm, 30. November 1915. Lademacher, Band 2, S. 325 257 Radek, Avtobiografija, Sp. 161. 258 Kollontaj, Aleksandra Michajlovna (1872–1952); Tochter eines zaristischen Generals; führend in der sozialistischen Frauenbewegung; ursprünglich Anhängerin der Men’ševiki, wendete sie sich 1915 Lenin zu. Verheiratet mit Aleksandr Šljapnikov. Nach der Oktoberrevolution Volkskommissarin für Soziales („Volkswohlfahrt“), danach Sowjetbotschafterin in Norwegen, Mexiko und Schweden.

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Bucharin, Evgenija Boš“259. Die „Arbeiterpolitik“ erschien als „Wochenschrift für wissenschaftlichen Sozialismus“ von Juni 1916 bis März 1919 in Bremen mit Knief und Frölich als Redakteuren. Radek war der Mann im Hintergrund. Seine enge Verbindung zu den Bol’ševiki schlug sich von Anfang an in der Zeitschrift nieder. Schon die erste Nummer vom 24. Juni 1916 brachte einen Aufsatz „Von G. Zinowjeff [Zinov’ev]“ über „Die russische Arbeiterpartei vor dem Kriege“. Darin wurden die Bol’ševiki als die wahren revolutionären Marxisten der russischen Sozialdemokratie geschildert. Im Ausland herrsche der Eindruck, die russische Sozialdemokratie sei stark zersplittert: „Nichts ist irriger als dieses. In Wirklichkeit bestehen in Russland zwei Hauptrichtungen: die revolutionäre marxistische (die Bolschewiki, das Zentralkomitee) und die opportunistische (die Menschewiki, Organisationskomitee). Alles andere ist nichts. Lauter Eintagsfliegen.“260 Lenin hatte bereits 1912 die russische Sozialdemokratische Partei gespalten, jetzt – im Sommer 1916 – griff Radek das Thema auf und stellte in der „Arbeiterpolitik“ im Hinblick auf die SPD die Frage, „Einheit oder Spaltung der Partei?“261 Vorangegangen war der Ausschluss der Kriegsgegner in der SPD aus der Reichstagsfraktion.262 Sie hatten sich daraufhin als „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ konstituiert, aber die Partei nicht verlassen. Als Gegner der Kriegskredite hatte auch Henke als Reichstagsabgeordneter für Bremen den völligen Bruch mit der SPD vermieden und sich der oppositionellen „Arbeitsgemeinschaft“ angeschlossen. Er wurde deshalb von Knief und dessen Anhängern angegriffen. Sie beanspruchten in der Hansestadt die intellektuelle Nachfolge Radeks und Pannekoeks und plädierten für den Bruch mit der SPD: „Die Spaltung wird und muß kommen […]“, polemisierte Knief.263 Als Henke im Sommer 1916 wegen der Attacken den Beistand Radeks suchte, stellte sich dieser auf die Seite Kniefs. Er schrieb, jetzt sei Henke zwar in der „Arbeitsgemeinschaft“, aber mit dieser könne man „keine Umwälzungen machen“. Er, Radek, rechne fest mit einer Parteispaltung von der rechten Seite aus. Er prophezeite: „Kommt es zur Spaltung, dann bleibt das Zentrum mit [bei] den Sozialpatrioten und läßt die Linke abmarschieren.“264 Lenins politischem Konzept folgend, forderte er zugleich die Spaltung von links und die Bildung einer revolutionären Kaderpartei: 259 Radek, Avtobiografija, Sp. 161. 260 Merz, S. 37. 261 [Radek], „Einheit oder Spaltung der Partei“, „Arbeiterpolitik“ Nr. 4 vom 15. Juli 1916 bis einschließlich Nr. 10 vom 26. August 1916. Radek, In den Reihen der deutschen Revolution, S. 306–336. 262 Am 24. März 1916 lehnte eine Minderheit von 18 SPD-Abgeordneten unter Haase im Reichstag die 6. Kreditvorlage und den Notetat ab. Sie wurden aus der Fraktion ausgeschlossen und gründeten die „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ als Vorläufer der späteren USPD. 263 Knief: „Bürgerliches Recht und Parteirecht, in: „Bremer Bürger-Zeitung“, 25. Mai 1916. Lucas, S. 62. 264 Radek an Henke, 16. Juli 1916. Lucas, S. 65.

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„Wie man die Sache auch drehen mag: Die Spaltung ist nicht zu umgehen. Bilden wir die Mehrheit in der Partei, so spalten sie die Sozialimperialisten, bilden wir die Minderheit, so müssen wir sie spalten; es sei denn, dass wir uns löblich unterwerfen, die Verantwortung für die Politik des 4. August übernehmen […]. Die Spaltung ist nicht nur historisch notwendig, sie ist auch der Arbeitersache direkt nützlich. […] Nur nach der Trennung von den Sozialimperialisten wird ein Wiederaufbau der Internationale möglich sein.“265

Gleichzeitig riet er dazu, taktisch klug vorzugehen, die SPD zunächst zu unterwandern und nicht übereilt zu handeln: „Die Propaganda der Spaltung bedeutet keinesfalls, daß wir jetzt aus der Partei austreten sollen. Umgekehrt: unsere Bemühungen müssen darauf gerichtet sein, alle möglichen Organisationen und Organe der Partei in die Hände zubekommen. Sie wurden in einem halben Jahrhundert des historischen Kampfes für den Kampf geschaffen und gehören uns auf Grund des historischen Rechts […]. Unsere Pflicht ist es, solange wie möglich auf den Posten auszuharren, denn je länger das geschieht, desto größer wird der Teil der Arbeiter sein, der mit uns geht, falls die Sozialimperialisten uns ausschließen.“266

Dennoch dürfe der revolutionäre Kampf durch diese Taktik keineswegs beeinträchtigt werden und komme es zu Parteiausschlüssen, so gelte es, sich sofort lokal selbständig zu organisieren und eine überörtliche zentrale Leitung zu installieren: „Aber wie berechtigt es auch ist, alle Machtmittel der Partei für ihre historischen Ziele aus den Händen der Sozialimperialisten zu retten, so darf dieser Wille doch nicht Selbstzweck sein. Wir dürfen auf keine politische Aktion verzichten, die notwendig ist, auch wenn es deswegen schon früher zur Spaltung kommen sollte. Und wo die Sozialimperialisten zu lokalen Ausschlüssen greifen, da müssen sofort lokale selbständige Organisationen entstehen […] und eine provisorische Leitung der entschiedenen Opposition einsetzen.“267

Die „Aufrichtung eines eigenen Hauses für den proletarischen Sozialismus“ und die „Schaffung einer sozialistischen Partei, die die Politik des Linksradikalismus führen wird“ sei nicht nur eine künftige Möglichkeit, sondern auch eine Notwendigkeit.268 Mit zahlreichen Artikeln griff er in den sich in der deutschen Sozialdemokratie immer deutlicher abzeichnenden Spaltungsprozess ein. Er rief zum Kampf gegen die Führer der Mehrheitssozialdemokratie auf, die „nicht einmal die Harfe sein können,

265 [Radek], „Einheit oder Spaltung der Partei“ a.a.O., S. 325. 266 Ebenda, S. 327. 267 Ebenda. 268 Ebenda, S. 338.

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auf der der neue Wind der Geschichte sein Sturmlied singt. Geschweige denn, daß sie selbst das Lied der Zeit verstünden.“269 Die „Arbeiterpolitik“ wurde zu Radeks wichtigstem Medium, mit dem er versuchte, den linken Flügel der SPD im Geiste der Bol’ševiki zu beeinflussen. Als 1916 in Zürich die Broschüre „Die Krise der Sozialdemokratie“ erschien, als deren Verfasser „Junius“ zeichnete, polemisierte er gegen die illusionären Hoffnungen, die der Autor nach zwei Jahren Krieg noch immer in die revolutionäre Spontaneität der Massen setzte und warf ihm vor, die Arbeiterklasse sich selbst steuerlos zu überlassen. Er zieh Junius des Jakobinismus und argumentierte, dieser habe übersehen, dass die Politik der Arbeiterbewegung nicht auf historischen Reminiszenzen, sondern nur auf dem Boden harter Tatsachen aufgebaut werden könne.270 Mit seiner Kritik an Junius verabschiedete sich Radek von der bisher auch durch ihn vertretenen These Rosa Luxemburgs von der revolutionären Spontaneität der Massen und machte sich zum Anwalt des Leninschen Konzepts der Kaderpartei. Notwendig sei eine straff geführte und ideologische reine Organisation, nicht aber die illusionäre Hoffnung auf spontane Massenaktionen. Allem Anschein nach war ihm bekannt, dass sich hinter dem Pseudonym Junius seine einstige Lehrerin Rosa Luxemburg verbarg.271 Die Angegriffene hingegen, die ihn inzwischen „wie den Tod haßt[e]“272, muss sich in ihrer Feindschaft gegen ihn bestätigt gefühlt haben. Gemeinsam mit Karl Liebknecht, Clara Zetkin und Franz Mehring gehörte sie Anfang 1916 zu den Gründern der „Gruppe Internationale“. Diese auch als „Spartakusgruppe“ bezeichneten Radikalen schlossen sich in ihrer Gesamtheit der durch Radek und die Bol’ševiki repräsentierten Zimmerwalder Linken niemals an. Lenins Gedanken einer neuen spalterischen Internationale lehnten sie ab.273 Ungeachtet der ideologischen Gegensätze und der Feindseligkeit die Rosa Luxemburg ihm entgegenbrachte, war Radek „von Anfang an der Ansicht, dass in Deutschland die Gruppe der ,Internationale‘ Herz und Hirn der Opposition sein wird“274; eine zutreffende Beurteilung, wie sich herausstellen sollte, als die Spartakisten knapp drei Jahre später den Kern der Kommunistischen Partei Deutschlands bildeten. Er vermochte sie zwar nicht für Lenin zu gewinnen, ließ jedoch den Kon-

269 Radek, „Die deutsche Reformation“, Arbeiterpolitik Nr. 17, 1917: Radek, In den Reihen der deutschen Revolution, S. 463. 270 [Radek], „Im Fangnetz der Widersprüche“, „Arbeiterpolitik“ Nr. 6 vom 29. Juli 1916; in: Radek, In den Reihen der deutschen Revolution, S. 347–354. 271 Darauf deutet bei geflissentlicher Wahrung des Pseudonyms der einleitende Satz seines Artikels hin: „Einer der hervorragendsten Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie veröffentlichte vor kurzem unter dem Pseudonym ,Junius‘ eine Broschüre über die Krise der Sozialdemokratie.“ Ebenda, S. 347. 272 Mehring an Henke, 15. Juni 1916, Lucas, S. 64 273 Nettl, Rosa Luxemburg, S. 600. 274 Protokoll der Nachmittagssitzung der Erweiterten Internationalen Sozialistischen Kommission am 6. Februar 1916; Lademacher , Band 1, S. 214.

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takt zu führenden Gruppenmitgliedern, wie Karl Liebknecht und Franz Mehring275, nicht abreißen. Rosa Luxemburgs Freund Paul Levi, der in der Schweiz den Kontakt zu ihm suchte, wurde sogleich im Kampf gegen Grimm eingespannt. Um die Kriegszensur im Deutschen Reich zu umgehen und zu täuschen, organisierte Radek seine Verbindungen aus der Schweiz in das linksradikale Lager der deutschen Sozialdemokratie vielschichtig und einfallsreich. Er bediente sich anfänglich nicht nur des brieflichen Weges über seine Frau in Berlin, sondern nahm anscheinend auch die Kurierdienste von „Nobs’ Gemüsehändler“ in Anspruch, der die Post der eidgenössischen Sozialisten illegal über die Grenze nach Deutschland beförderte276. Zu seinem Bremer Freund Johann Knief, der jetzt in Hannover lebte, lief der Kontakt über dessen siebenundzwanzgjährige Lebensgefährtin Charlotte Kornfeld, die ab 1915 als Kurierin zwischen beiden arbeitete.277 Eine am 8. Oktober 1916 aus Davos an Gustav Mayer in Berlin gerichtete Postkarte mit der Bitte um die Übersendung einer politischen Studie, hat Radek zum Erstaunen des Empfängers mit der chauvinistischen Schlussformel versehen: „Mit besten Grüßen. Gott strafe England. Ihr ergebener K. Sobelson“. Später von Mayer nach dem Grund dafür befragt, antwortete er: „Damit die Karte Sie um so sicherer erreichte“.278 Ausgesprochen anekdotisches berichtet Radek über „die illegale Verbindung“ aus der Schweiz mit der Bremer „Arbeiterpolitik“: „Der gesamte Schriftverkehr wurde mit der regulären Post abgewickelt, aber um die Zensur jenseits der Grenze zu vermeiden, brachte ich auf dem Umschlag den Vermerk an: ,Wurde der Zeitungszensur vor Ort unterzogen. Eiliges Manuskript. Nicht aufhalten‘. Es geschah kein einziges mal, daß die Artikel oder Schreiben nicht ankamen oder der Zensur in München [dem Sitz der Zensurstelle für Post aus der Schweiz] unterzogen wurden. In Bremen aber, wurden sie ohne weitere redaktionelle Prüfung verwendet, da sie [angeblich] der Zensur vorgelegen hatten und zum Druck freigegeben waren.“279

In Deutschland verbotene Druckschriften schickte Radek ebenfalls auf dem normalen Postweg nach Bremen, wobei er sie absichtlich unterfrankierte. Mit dieser List erreichte er, dass die Schweizer Post die Sendungen in die Strafportoliste eintrug, und sie wurden deshalb von der Reichspost ungeöffnet und zügig an die Redaktion der „Arbeiterpolitik“ zugestellt, um die Nachgebühr einzutreiben.280 „Noch besser“, so Radek, „lief der Versand der Zeitschrift ,Vorbote‘“ nach Deutschland. Das Blatt 275 Das Verhältnis zwischen Radek und Mehring war jedoch nicht frei von Spannungen. An Henke schrieb Mehring, dass er „gerade in der Frage der Vaterlandsverteidigung [...]bei Radek & Co. auf der schwarzen Liste“ stehe. Mehring an Henke, 15. Juni 1916. Lucas, S. 64. 276 Grimm an Nobs, 3. Oktober 1915. Lademacher, Band 2, S. 150. 277 „Der Bremer Antifaschist“, hrsg. vom Landesverband der VVN/Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten Bremen e.V., 03 [März]/2004, S. 1. 278 Mayer, Gustav, S. 249. 279 Radek, Avtobiografija, Sp. 161. 280 Ebenda.

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der Zimmerwalder Linken wurde über den Berliner Herausgeber der „Internationalen Korrespondenz“ Baumeister281 ausgeliefert, der das Wohlwollen der deutschen Behörden genoss und den Linken als „Sozialpatriot und Agent der Regierung“ galt. Man hatte ihn mit einer Gewinnspanne von 50 Prozent geködert und dafür „riß er sich darum, die bolschewistischen Schriften zu verbreiten“.282 Ein Licht auf die Bandbreite der Beziehungen nach Deutschland wirft ein Schreiben Radeks vom November 1916 an die Internationale Sozialistische Kommission, in dem er versichert, jederzeit Briefe dieses Gremiums „nach Berlin, Bremen, Hamburg, Frankfurt und Chemnitz auf konspirativem Wege zuzustellen“ zu können283 – mutmaßlich unter Hilfestellung durch seiner dortigen Gesinnungsfreunde Frölich und Knief, Mehring und Borchardt, Laufenberg und Wolffheim, Levi und Brandler. In dem gleichen Schreiben bietet er an, „ein halbes Dutzend von Briefen“ aus Deutschland vorzulegen, „aus denen klar wird, dass nach den großen Arresten284 „alle Teile der entschiedenen Linken in Deutschland fast Übermenschliches leisten müssen, um zu den wichtigsten Ereignissen Stellung zu nehmen, von der Unterstützung der Inhaftierten“ – zu denen zu dieser Zeit auch Karl Liebknecht gehörte – „gar nicht gesprochen“. Er setzte sich für die Verfolgten ein und beschwor die ISK, einen Appell an die „Zimmerwaldisten der neutralen Länder“ zu richten, der die dortigen „Internationalisten“ zu „Massengeldsammlungen“ für die kämpfenden Genossen, insbesondere in Deutschland, aufrufen sollte. Wenn man die Woche vor Weihnachten mit ihrer „Stimmung Friede auf Erden“ ausnutze, könne die Kampagne „viel leisten“, meinte er enthusiastisch, jedoch ohne bei der von Grimm geleiteten Kommission Resonanz für den Vorschlag zu finden. Sein Appell an die Führung der Zimmerwald-Bewegung, man müsse mit einer solchen Aktion endlich „beweisen, dass wir eine Bewegung sind, keine einmal im Jahre zusammentretende Teegesellschaft“, verhallte ungehört.285 Es war schwierig, in der Schweiz politisch zu kämpfen. Die revolutionären Perspektiven erschienen düster und Ende 1916 prognostizierte Radek, zwar werde „der Kampf der Volksmassen sich zum Kampf um den Sozialismus auswachsen“, schränkte aber gleichzeitig ein: „Wir befinden uns erst in den allerersten Anfängen dieses Kampfes“286. Zu Beginn des Kriegsjahres 1917 diagnostizierte auch Lenin am 22. Januar in einer Rede vor Arbeitern in Zürich „momentane Grabesstille in Europa“287. Der Kontinent 281 Baumeister, Albert (geboren 1882); Gewerkschaftsfunktionär. Nach der Revolution Mitbegründer der „Republikanischen Soldatenwehr“ und des „Regiments ,Reichstag‘“. 282 Radek, Avtobiografija, Sp. 161. 283 Radek an Internationale Sozialistische Kommission, 19. November 1916. Lademacher, Band 2, S. 640. 284 Angesprochen sind die Verhaftungen von Sozialdemokraten aufgrund des Schutzhaftgesetzes vom 4. November 1916. 285 Radek an die Internationale Sozialistische Kommission, 19.November 1916. Lademacher, Band 2, S. 639ff. 286 Radek, „Gegen den politischen Terror“ in: Arbeiterpolitik“ [1917], Nr. 7, 8, 9. Radek, In den Reihen der deutschen Revolution, S. 405. 287 Shub, S. 180

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sei zwar revolutionär aufgeladen, aber die alte Generation würde die entscheidenden Kämpfe der kommenden Revolution in Russland nicht mehr erleben, meinte er skeptisch. Sechs Wochen später wurde die Welt von der Februarrevolution288 in Petrograd und dem Zusammenbruch des Zarenregimes überrascht. Paul Levi, der zu dieser Zeit in Davos in unmittelbarer Nachbarschaft Radeks lebte, beschreibt, wie beide vom Ausbruch der Revolution und vom Sturz des Zaren erfuhren: „Es war an einem Februartag des Jahres 1917. Ich wohnte in einem kleinen Häuschen außerhalb von Davos-Dorf, in einem Häuschen daneben Karl Radek. […] Wir pflegten, wenn ich in Davos war, morgens nach Davos-Platz durch den Schnee zu stapfen und die Depeschen zu lesen, die die Schweizer Telegraphenagentur dort anschlagen ließ; das waren da oben die unmittelbarsten Verbindungen mit der sogenannten Welt. An jenem besagten Morgen also, gingen Radek und ich wieder nach Davos-Platz und fanden dort zwei Telegramme […]. Das zweite Telegramm: In Petersburg sind Bewegungen entstanden; es heißt, der Zar sei abgedankt. Wir wußten genug. Wir gingen fast ohne ein Wort zu sagen zurück […] in Frau Radeks Zimmer: ich erinnere mich […] denn es war die Zeit meiner frühesten russischen Sprachstudien – nur der paar Worte, als Radek ins Zimmer trat: Revoluzzia w Rossii – In Rußland ist Revolution. – Sie ganz erstaunt: Tscho – Was? Antwort: Revoluzzia w Rossii.“289

Eine etwas veränderte Version der Ereignisse, die jedoch ebenfalls deutlich macht, wie sehr man überrascht wurde, bietet Radek in seiner „Avtobiografija“ an: „Eines Tages beim Mittagessen im Basler Sanatorium in Davos, zwischen Fleischgericht und Dessert, wendete ein Schweizer Arzt den Kopf und teilte mir mit seiner näselnden Stimme mit, daß sich an der Telegraphenagentur im Ort Anschläge über die Revolution in Petersburg befänden. Dies wurde mit solcher Seelenruhe und Gelassenheit geäußert, daß weder ich noch Paul Levi, der sich bei mir zu Besuch befand, weiter nachfragten. Dennoch erfaßte uns Unruhe und wir warteten den Kaffee nicht mehr ab, sondern rannten los in den Ort, wo wir die ersten Telegramme der Agentur lasen. Als wir nach Hause zurückkehrten, hatte Bronski [aus Zürich] angerufen und mich im Namen Vladimir Il’ičs gebeten, sofort zu kommen. Der Zug ging erst am nächsten Tag.“290 288 In Russland galt noch bis zum 14. Februar 1918 der Julianische Kalender, der gegenüber dem außerhalb des Zarenreiches gebräuchlichen Gregorianischen Kalender im 20. Jahrhundert um 13 Tage nachging. Die Daten der Februarrevolution, die mit der Abdankung des Zaren endete, sind nach altem Stil 23. Februar bis 1. März und nach neuem Stil 8. bis 14. März 1917. 289 Beradt, S.19f. Anzumerken ist, dass die von Levi geschilderte Szene im März und nicht im Februar stattfand. Nach der Zeitrechnung des Gregorianischen Kalenders unterzeichnete Zar Nikolaj II. am 14. März 1917 die Abdankungsurkunde. Auch wird der Dialog des Ehepaars Radek wohl in polnischer Sprache geführt worden sein. Dem polnischen „revolucja w Rosji – Čo [tscho] „ entspricht Levis phonetische Wiedergabe eher als das russische „revoljucija v Rossii – Čto [tschto]“. 290 Radek, Avtobiografija, Sp. 162. Eindeutig auf Übersetzungsfehlern beruht die unter gleicher Quellenangabe von Lerner wiedergegebene falsche Version, wonach Radek und Levi bei einem

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Radek und Levi reisten am folgenden Tag, mutmaßlich dem 16. März 1917, zu Lenin nach Zürich. Die Nachricht von der Revolution hatte nicht nur sie in die Spiegelgasse 14 getrieben. Zinov’ev und Broński waren bereits da und Levi erinnert sich, „es saßen auf Betten, Koffern, Stühlen und standen in den Ecken Menschen über Menschen. […] Auf dem Tisch lag ein Buch […], und vor dem Buch saß Lenin und entwickelte die seltsamsten Ideen.“291 Er verkündete seinen Anhängern, man müsse mit Zimmerwald brechen und nach Russland zurückkehren. Jetzt, wo die Revolution da war, wollte er jeglichen Anschein vermeiden mit den gemäßigten Sozialisten, den Men’ševiki Martov und Aksel’rod, in der Zimmerwaldbewegung gemeinsame Sache zu machen und schnellstmöglich in Russland vor Ort in den Kampf um die Macht eingreifen. Allein die Zimmerwald-Linke, die Bol’ševiki, sei „der Hüter der proletarischen Revolution“, formulierte er vier Wochen später nochmals seine Überzeugung. „Der Rest sind dieselben alten Opportunisten, die schöne Worte reden, aber in Wirklichkeit die Sache des Sozialismus und der werktätigen Massen verraten.“292 Dennoch ließ er sich in Zürich von Radek und Zinov’ev dazu überreden, die Frage vorläufig weiter dilatorisch zu behandeln: „Keine gemeinsamen Aufrufe mit Martov unterschreiben, aber Zimmerwald nicht verlassen.“293 Im Hinblick auf die für eine Rückkehr nach Russland benötigte Unterstützung durch sozialdemokratische Sympathisanten in Europa erschien es taktisch geboten, den radikalen Bruch mit Zimmerwald noch hinauszuzögern. *** Bei Kriegsausbruch 1914 war die politische Wirkung von Radeks Antikriegspropaganda auf das Verhalten der deutschen Sozialdemokratie gleich Null geblieben. Sie stieß weder in der SPD noch in der Arbeiterschaft auf die erhoffte Resonanz, wie auch sein Freund Paul Frölich unterstreicht: „Diese theoretische Arbeit Radeks und ihre Ausmünzung in der täglichen Aufklärung durch die Presse hatte das Ziel der revolutionären Massenaktion gegen Imperialismus und Krieg. Er erreichte diese Wirkung nicht.“294 Frölich erklärt dies mit der „Unbeweglichkeit der proletarischen Massen“ und dem revolutionären Unvermögen ihrer Führer: „Sie [die Arbeitermassen] waren gefesselt durch die Organisationen deren Leiter in der Zeit groß geworden waren, als eine Kunktatorpolitik allein möglich war, die kleinbürgerlich ver-

Abendessen in Basel von einem Kellner erstmals Mitteilung über Unruhen in Petrograd erhielten. Lerner, S. 52. 291 Beradt, a.a.O. 292 Lenin, Rede auf dem Finnländischen Bahnhof in Petrograd, 16. April 1917. Shub, S. 219. 293 Radek, Avtobiografija, Sp. 163. 294 Frölich, Vorwort zu: Radek, In den Reihen der deutschen Revolution, S. 11.

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simpelt waren und vor der ,unbestimmten Ungeheuerlichkeit‘ der revolutionären Zwecke immer wieder zurückschreckte [n].“295

Als Radek nach dem Kriegsausbruch in die Schweiz ging, hatte er die deutsche Gesellschaft, die sich auf ihre nationalen Tugenden so viel zugute hielt, intensiv studiert und sich sein Urteil gebildet. „Später liebte er es, mit dieser Gesellschaft seine Possen zu treiben, sie zu verhöhnen, sie aber auch zu benutzen und ernst zu nehmen.“296 Auch die Verbürgerlichungstendenzen in der Sozialdemokratie waren ihm nicht entgangen. Er erkannte, „was bis auf den heutigen Tag stimmt, Bürger wollten die Proletarier sein, nicht Proleten“.297 Diese SPD konnte seit dem 4. August 1914 nicht mehr seine Partei sein. In seiner konsequent revolutionären und internationalistischen Haltung wollte er sich nicht mit der Politik des Burgfriedens der von ihm als Sozialpatrioten und Sozialimperialisten geschmähten Mehrheitssozialisten identifizieren. Er half Karl Liebknecht das revolutionäre Banner zu erheben, unter dem sich die Kriegsgegner sammeln sollten. Nicht von ungefähr erklärte Konrad Haenisch nach dem Krieg, die Herausbildung der linksradikalen, kriegsfeindlichen Fraktion „als Ergebnis der Arbeit von russischen und polnischen Sozialisten innerhalb der SPD“ mit direkter Bezugnahme auch auf seinen einstigen Freund Karl Radek. Er stufte ihn nun als „bewußt staatsfeindlich, insbesondere ohne jedes innere Verhältnis zum deutschen Staat und zum deutschen Wesen“ ein.298 Radeks Rolle als die eines in Deutschland einflusslos gewordenen Linksradikalen, der es liebte, „mit dem Gegner selbständig die Klinge zu kreuzen“299, sollte sich erst wieder ändern, als er während des Ersten Weltkriegs das revolutionäre Programm Lenins übernahm. Bereits nach Zimmerwald forderte er den „entschiedenen Bruch mit den Sozialpatrioten“ und rief zur Spaltung der deutschen Sozialdemokratie auf. Unermüdlich plädierte er für die Schaffung einer linksradikalen sozialistischen Partei, die allein in der Lage wäre, die Führungsrolle im revolutionären Kampf der Massen zu übernehmen300. Die Flügelkämpfe in der SPD und ihr politisches Auseinanderdriften, worin das von ihm als „Friedensduseler“ und „Sozialpazifisten“ verhöhnte Zentrum um Kautsky nur das „Tohuwabohu“ sah, bewertete er schon 1916 als die 295 Ebenda, S. 9. 296 Möller, S. 23. 297 Ebenda. 298 Haenisch, Konrad: Die deutsche Sozialdemokratie in und nach dem Weltkriege, Berlin 1919, S. 102 und S. 145; zitiert nach: Legters, S. 21. 299 Radek, „Gegen die Demokratie“ (1914); in: „In den Reihen der deutschen Revolution“, S. 275. 300 Vgl. Radek, „Einheit oder Spaltung der Partei“, Arbeiterpolitik Nr. 4–10, 1916. Radek, In den Reihen der deutschen Revolution, S. 306–336. Nicht zutreffend ist Möllers Feststellung, Radek habe erst im Jahre 1918, also verhältnismäßig spät, mit dem Artikel „Unterm eigenen Banner“ zur organisatorischen Spaltung der deutschen Sozialdemokratie aufgerufen. Möller, S. 100. Er datiert diesen 1917 erschienenen Aufsatz fälschlich auf 1918 und lässt den Artikel „Einheit oder Spaltung der Partei“ von 1916 unberücksichtigt.

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„Geburtswehen einer neuen Partei“ des Proletariats301. Zur Trennung von den „Sozialimperialisten und Sozialpazifisten“ propagierte er Lenins Rezept der Parteispaltung von links und forderte Anfang 1917 die Gründung einer „Internationalen Sozialistischen Partei Deutschlands“: „Jawohl, die ehemals einige Sozialdemokratie Deutschlands ist in drei […] Teile gespalten: 1. das Lager des 4. August (Sozialpatrioten und Sozialimperialisten), 2. das Zentrum [Sozialpazifisten], dessen parlamentarische Vertretung die [Sozialdemokratische] Arbeitsgemeinschaft bildet, 3. die Linksradikalen, welche Richtung alle revolutionären internationalen Sozialdemokraten umfaßt, die sich teils in den Gruppen der „Internationale“ (Spartacus), der Internationalen Sozialisten Deutsch-lands (I.S.D.), der „Arbeiterpolitik“ zusammengefunden haben.302 […] Die Linksradikalen müssen […] an die Bildung einer eigenen Partei gehen, wenn sie ihre historische Aufgabe erfüllen wollen […].303

Mit seinen Artikeln half er, den Boden für die 1919 erfolgende Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands vorzubereiten. Eine mit dem Titel „In den Reihen der deutschen Revolution“ herausgegebene Auswahlsammlung seiner von 1909 bis 1917 verfassten Aufsätze nannte er in diesem Sinne „eine der geistigen Urkunden der Entstehung der deutschen kommunistischen Partei“.304 Lerner sieht Radek nach dem Hinauswurf aus der SPD 1913 als heimatlosen Linken, der unter seinem Los als „Mann ohne Partei“ litt. Noch in Zimmerwald habe er mit dem Gedanken an eine Rehabilitierung in der deutschen Sozialdemokratie gespielt. Aber „alle unterschwelligen Hoffnungen auf eine Zukunft in der SPD waren zerschmettert“, nachdem die deutsche Delegation dort auf der Gültigkeit seines Parteiausschlusses beharrte und sich weigerte, das Manifest zu unterzeichnen, falls man Radek ebenfalls gestatte, zu unterschreiben. Dies habe ihm vor Augen geführt, dass er die Bol’ševiki nötiger brauche, als er ursprünglich angenommen hatte305. Für Radek mit seinem unsicheren Organisationsstatus als Sozialdemokrat sei deshalb Lenin zunehmend wichtig geworden.306 Diese auf die Frage der Parteimitgliedschaft fixierte Interpretation lässt unberücksichtigt, dass die Bol’ševiki seinerzeit nur eine obskure militante Splittergruppe waren und Lenin als ein von der Internationale als Störenfried betrachteter Sonderling galt.307 Er wurde seit 1910 außerhalb des Kreises seiner treuesten Anhänger als ein hoffnungslos verrannter Sektierer eingeschätzt.308 „In den 301 Ebenda, S. 325. 302 Radek, „Unterm eigenen Banner“, „Arbeiterpolitik“, Nr. 7, 8 und 9 vom Februar/ März 1917; in: Radek, In den Reihen der deutschen Revolution, S. 407. 303 Ebenda, S. 411. 304 Ebenda, S. 15. 305 Lerner, S. 42. 306 Lerner, S. 37f. 307 Balabanow [Balabanova], Lenin, S. 7. 308 von Rauch, Lenin, S. 40.

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Augen der Sozialisten Westeuropas war er immer noch der Kaffehaus-Verschwörer, der Russe mit den großen Theorien und dem kleinen Anhang“.309 Übersehen wird auch, dass sich in Zimmerwald beileibe keine offiziellen Parteidelegationen versammelten, sondern – wie Radek es formulierte – „die versprengten Teile der kämpfenden Überreste der alten Internationale“310, im Klartext: sozialdemokratische Dissidenten ohne das Mandat ihrer Mutterparteien und osteuropäische Emigranten. Davon abgesehen macht auch Radeks eifriges Engagement auf der Seite der Bol’ševiki sowohl während der Vorbereitungsphase des Treffens als auch während der Konferenz deutlich, dass er in Zimmerwald gewiss nicht mehr erwartete, wieder organisatorisch in der deutschen Sozialdemokratie Fuß zu fassen. Im Hinblick auf die ihm vordringlich erscheinenden politischen Kampfaufgaben ging er mit Lenin konform: der Aufbau einer neuen revolutionären Internationale und die Überführung des Krieges in den Bürgerkrieg und in die Revolution – „Burgkrieg, nicht Burgfriede“. Die Frage der Parteizugehörigkeit war für ihn als Internationalist von nachrangiger Bedeutung. Die SPD war in der Schweizer Emigration ohnehin nicht vertreten. Es ging ihm darum, den taktisch erfolgversprechendsten Weg in die Revolution zu finden, und so schloss er sich als Pole und Angehöriger der Sozialdemokratie Russisch-Polens der Fraktion der linksradikalen russischen Emigranten in der Schweiz an, deren Führer Lenin in seinen Augen das revolutionäre Erfolgsrezept gefunden hatte und den er als kompromisslosen Revolutionär respektierte. „In Zimmerwald spielte er schon eine bedeutende Rolle, als Einpeitscher der Wankenden, ja, sogar als Lenins Einbläser im Fraktionsspiel […] hinter den Kulissen […].“311 Zimmerwald und Kiental waren jedoch mitnichten ermutigende Stationen auf dem Weg eines ruhmreichen Durchbruchs der Leninisten312. Sie hatten dort Niederlagen erlitten und vermochten weder die Bürgerkriegslosung noch die Idee einer neuen Internationale durchzusetzen. Der niederländische Tribunist Wijnkoop, den Lenin und Radek vergeblich für die Zimmerwalder Linke zu gewinnen suchten, sprach von „der historischen Farce“ der Konferenz, da das Schlussmanifest die Differenzen unter den linksradikalen Internationalisten verschleiere. Dennoch hatten die Bol’ševiki durch ihr unnachgiebiges Auftreten vor dem Zimmerwald-Forum bei den revolutionären Minderheiten in Europa an Ansehen und Statur gewonnen, und so musste selbst Wijnkoop widerstrebend zugestehen: „Aber Radeks Wunsch ist erfüllt. Er steht als Sekretär gegenüber Kamiel – als kleiner Gegenpapst gleichsam.“313 Als Sekretär der Zimmerwalder Linken – der Keimzelle der künftigen kommunistischen Internationale – war Radek in der Tat zu einem Antipoden des Sekretärs

309 Shub, S. 180f. 310 Radek: Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, S. 74. 311 Blum, S. 87. 312 Möller, S. 25. 313 Wijnkoop an van Ravesteyn, 21. September 1915. Lademacher, Band 2, S. 117.

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der nicht mehr funktionsfähigen II. Internationale, Camille (Kamiel) Huysmans314, geworden, wobei er sich jedoch keine Illusionen über die tatsächlichen Kräfteverhältnisse machte. „Heute noch als revolutionäre Illusionisten verschrien“, schrieb er unmittelbar nach der ersten internationalen sozialistischen Konferenz, wolle man als Zimmerwalder Linke nicht vortäuschen, „schon eine große geschlossene Macht“ zu sein. Dennoch sei dies ein erster Schritt in Richtung einer neuen Internationale315, urteilte er zutreffend und mit Lenin übereinstimmend. Lenin erkannte Radeks politische Gewandtheit und zog ihn zu sich heran: „Er konnte sehr gut dieses Gehirn brauchen, das sich in europäischen Tagesfragen besser auskannte als irgend jemand in seiner Umgebung. Er sah voraus, daß Radeks Personalkenntnisse auf dem Gebiet des deutschen Parteiwesens mit der Zeit unentbehrlich werden könnten.“316 Das Insider-Wissen Radeks über die SPD und seine Kontakte wurden auch von den Schweizer Genossen geschätzt, wie Robert Grimm gegenüber Berta Thalheimer äußerte: „Dass R[adek] unbequem ist, ist keine Frage. Aber er bringt doch etwas zustande. Ohne ihn hätten wir überhaupt keinen Nachrichtendienst und wären völlig abgeschnitten.“317 Neben seiner Expertise in den Fragen der deutschen Sozialdemokratie und seinen Verbindungen zu deren linkem Flügel, waren es aber auch sein journalistisches Talent und seine Gewandtheit in der deutschen Sprache, die ihn für Lenin wertvoll machten. Deutsch war die offiziöse Sprache der Sozialistischen Internationale. Radek beherrschte sie besser als die übrigen Leninisten, was ihm die Schriftleitung bei allen Publikationen der von Russen dominierten Zimmerwalder Linken sicherte. 318 Eine zeitgenössische Würdigung der publizistischen Tätigkeit Radeks in der Schweiz hält bemerkenswertes fest: „Seine Artikel […] stellten sich gedanklich in eine Reihe mit den Schriften Lenins, Trotzkis [Trockijs] und Sinowjews [Zinov’evs], fanden aber wegen ihrer geschickten Form weit größere Beachtung.“319 In der eigenartigen Atmosphäre des Exillebens eines offenbar verlorenen Haufens von Revolutionären in der Schweiz wurden Resolutionen und Artikel verfasst und politische Intrigen gesponnen. In gereizter Stimmung sagte man sich Bösartiges – mehr oder weniger begründet320. So gesehen werden die Differenzen des Jahres 1916 zwischen Lenin und Radek generell überbewertet. Sie finden sich in der Li314 Huysmans, Camille/Kamiel (1871–1968); belgischer Sozialist; 1905–1922 Sekretär des Internationalen Sozialistischen Büros der II. Internationale mit Sitz in Brüssel; nach dem Zweiten Weltkrieg belgischer Premierminister. 315 Radek, „Die Zimmerwalder Linke über die Aufgaben der Arbeiterklasse“, Lademacher, Band 2, S. 117ff. 316 Blum, S. 87. 317 Grimm an Berta Thalheimer, 25. Oktober 1915. Lademacher Band 2, S. 211. 318 Vgl. Lerner, S. 43. 319 Wininger, Band 5. Saur Jüdisches Biographisches Archiv, Mikrofiche Nr. 536 (254). 320 Möller, S. 25.

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teratur fast durchweg als „Bruch“ dargestellt.321 Es gab jedoch, wie Lenin an Ines Armand schrieb, „mit Radek keinen ,Bruch‘ im allgemeinen“, sondern man habe sich nur „in der russisch-polnischen Arena getrennt“. Unstimmigkeiten bestanden auch, weil Lenin, der zusammen mit Zinov’ev bei der personellen Besetzung der „Vorboten“-Redaktion unberücksichtigt geblieben war, darin eine politische Kabale Radeks witterte. Radek fühlte sich zu Unrecht verdächtigt und reagierte beleidigt, wie Lenin vermerkte: „Radek hat sich zurückgezogen – das ist eine Tatsache. Er hat sich wegen des ,Vorboten‘ sowohl von mir als auch von Grigori[j] [Zinov’ev] zurückgezogen.“322 Die im Zusammenhang stehenden Schimpftiraden des Führers der Bol’ševiki, die Radek Ignoranz, Frechheit und Intrigantentum bescheinigen und bis heute sein Bild negativ mitprägen, entsprangen der politischen Auseinandersetzung. Sie müssen – wie Möller richtig erkennt – nicht zwangsläufig auf die charakterliche Verfassung Radeks hinweisen: Zwar sei es Praxis marxistischer Geschichtsschreiber gewesen, Beleidigungen und Schmähreden Lenins aus dem sachlichen Zusammenhang zu reißen und für die jeweilige Linie der Parteiführung zu nutzen, aber bürgerliche Historiker hätten die Invektiven und Verbalinjurien nie auf die Goldwaage zu legen versucht, sondern sie dem Temperament des Revolutionärs bei dessen Auseinandersetzungen in bestimmten Situationen gutgeschrieben. Der tägliche politische Kampf bestimmte alle seine Bekundungen323 und mit seinen Anhängern ging er oftmals schärfer ins Gericht als mit seinen Gegnern. Spätestens seit Anfang 1917 begann er den Sachverstand des von ihm verunglimpften Radek erneut zu schätzen und er betraute ihn seither mit Aufgaben, die ihn zu einem wichtigen Akteur auf der Bühne der Weltrevolution und der internationalen Beziehungen werden ließen. Ein wohl am Vorabend des Ersten Weltkrieges entstandenes Porträtfoto sowie eine weitere in der Emigration in Bern aufgenommene Photographie, die ihn gemeinsam mit Zinov’ev darstellt324, zeigen den ungefähr dreißigjährigen Radek: „Die unvermeidliche Pfeife zwischen den Zähnen, brutaler lüsterner Mund, spöttischer Blick“325. Die dunklen Locken sind lichter und die Stirn ist höher geworden; das bebrillte Gesicht hat eine schärfere Prägung bekommen und wird zusätzlich zum struppigen Schnauzer von einem Backenbart umrahmt. Mager und verbittert strahlt er die unbeholfenen Gereiztheit eines Verfolgten aus, beobachtete der Men’ševik Oscar Blum und attestierte Radek, die „Hände eines Taschenspielers“326. Als politischer Gegner Radeks ließ er seinen Aversionen gegen ihn freien Lauf, als er dessen Auftauchen 1915 in der Schweiz schilderte:

321 So u.a. Lerner, S. 47 und Tuck, S. 38. 322 Lenin an Armand, 30. November 1916; Lenin, Werke, Band 35, S. 229. 323 Möller, S.12f. 324 Lucas, Bildtafel nach S. 24 und Gautschi, Bildtafel X IV nach S. 112. 325 Blum, S. 88. 326 Ebenda.

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„Unbestimmte Gerüchte gingen ihm [Radek] voraus. Unbestimmten Eindruck machte er. Keine einzige Sprache beherrschte er vollkommen. Sein Russisch klang wie ein galizisches Kauderwelsch; sein Deutsch hatte die gutturalen Laute und die unbeholfene Satzbildung des Polnischen. Schreiben konnte er nicht. Dieser armselige Jargon, der mit Schlagworten arbeitete und wie ein Betrunkener dahin torkelte, nahm sich selbst in der „Berner Tagwacht“ schlecht aus, die von einem Unwissenden [Grimm] geleitet und von Unfähigen zusammengestellt wurde.“327

Diese Charakteristik galt einem der fähigsten Akteure der Bol’ševiki in der Schweiz und ist im Bereich des Rufmordes anzusiedeln. Die von Lademacher edierten Dokumente und die Untersuchung Gautschis belegen, dass Radek innerhalb der eidgenössischen Sozialdemokratie höchst aktiv, eine eifrige Agitations- und Sammlungstätigkeit entfaltete. Seine von manchen als „Emigrantengetue“328 abgetane politische Umtriebigkeit brachte ihm zwar mancherorts den zweifelhaften Ruf des „unvermeidbaren Herrn Sobelsohn“ ein, aber die linken Parteiführer Grimm, Nobs, und Platten standen ihm nahe und sein Einfluss auf die SPS-Linke sowie auf die von Münzenberg geleitete Jugendbewegung blieb nicht gering.329 Für Radeks Aktivität symptomatisch ist die Hilfestellung bei Lenins Versuch, im Winter 1916/17 die schweizerische Sozialdemokratie zum Experimentierfeld seiner Taktik zu machen, sie zu spalten und zu einer Kampforganisation bolschewistischen Typs umzuformen. Der Bruch mit Grimm, dem eigentlichen Gegenspieler Lenins, bildete dabei nur die Spitze des Eisbergs. Er ist nach der Trennung von Haecker, Jogiches, Luxemburg und Henke ein weiteres Beispiel dafür, wie skrupellos Radek persönliche Loyalitäten seinen politischen Überzeugungen zu opfern bereit war. Mit einer gehörigen Portion Zynismus trennte er auch später persönliche Beziehungen von dem, was er für politisch notwendig hielt. Als der ihn sehr schätzende deutsche Diplomat Gustav Hilger einmal zum unschuldigen Opfer eines gezielten, sowjetischen Affronts wurde, kommentierte Radek als mutmaßlicher Initiator dies süffisant grinsend mit den Worten: „Was ist denn dabei? Bei politischen Schweinereien, die wir begehen, handelt es sich für uns immer nur um die Sache und nie um die Person!“330 In der Schweiz jedenfalls, wo er die Verbindung nach draußen aufrecht hielt, ging es Radek vor allem um die Sache Lenins. Seine Beziehungen zu dem Führer der Bol’ševiki waren zunächst nicht gerade herzlich; „als aber Lenin in dem intelligenten Radek einen nützlichen Bundesgenossen zu sehen glaubte, fanden die beiden Männer zueinander“331. „Ein großer Organisator und Agitator“ und einer der bedeutendsten Köpfe der oppositionellen Bewegung im Ersten Weltkrieg, beschritt

327 Ebenda, S. 87. 328 Wijnkoop an van Ravesteyn, 21.9.1915. Lademacher, Band 2, S. 117. 329 Lademacher, Band 1, S. XXX IX. 330 Hilger, S. 145. 331 Angress, S. 83.

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Radek zwar auch noch eigene politische Wege, aber schon in diesen Jahren der Emigration war er insgesamt den Bol’ševiki zuzurechnen.332 Mit dem Ausbruch der Revolution in Petrograd eröffneten sich neue Perspektiven. An der Seite von Lenin und Zinov’ev gab es für ihn jetzt wichtigeres zu tun, „als sich mit den Widerwärtigkeiten der engen Verhältnisse im kleinen spießigen Gastland herumzuschlagen“333, und so schickte er sich an – nach Polen, Deutschland und der Schweiz – Russland zu seinem Betätigungsfeld zu machen.

332 Lademacher, Band 1, S. XXX IX. 333 Gautschi, S. 239.

6.  Zwischenstation Stockholm (1917) Es war Radek, der Lenins Blick auf die revolutionäre Perspektive lenkte, welche das Fehlen einer kleinbürgerlichen Oberschicht in der russischen Arbeiterschaft zu bieten schien. Der von Karl Marx für diese bestbezahlten Werktätigen geprägte Begriff der „Arbeiteraristokratie“, war von Radeks Freund Pannekoek in den gemeinsamen Bremer Tagen theoretisch vertieft worden. Demnach errichteten die mit Profiten aus kolonialer Ausbeutung bestochene Arbeiteraristokratie und deren korrumpierte Führer die Arbeiterbürokratie mit von reformistischen Verrätern beherrschten Parteien und Gewerkschaften. Als bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Welle patriotischer Begeisterung die Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien Europas mit sich riss, machte Radek die sozialchauvinistische Arbeiteraristokratie für diesen Verrat der Klasseninteressen verantwortlich. Lediglich in Ländern, in denen eine verbürgerlichte Oberschicht der Arbeiterschaft fehle, seien sozialistische Parteien dem Internationalismus treu geblieben. Zu diesen Ländern ohne Arbeiteraristokratie zählte er auch Russland. Damit hatte er den Weg für einen grundlegenden Wandel in Lenins Denken bereitet. Bis 1914 war dieser davon ausgegangen, dass der Sozialismus zuerst die fortgeschrittenen Länder erreichen würde. Angeregt durch Radek, bildete sich dann im Verlauf des Ersten Weltkrieges bei ihm der Gedanke heraus, dass gerade Russland als ein rückständiges Land ohne verräterische Arbeiteraristokratie den Weg in die große europäische Revolution bahnen könnte.1 In seiner Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ stellte er 1915 die These von der erfolgreichen Durchführung der Revolution auch in einem industriell unterentwickelten Land auf. Von einem schwachen Glied in der „Kette des Weltkapitalismus“, wie beispielsweise Russland, werde die Revolution dann auf die Industriestaaten übergreifen. Unabhängig von diesem Denkanstoß für Lenin, wurde aber erst mit dem Sturz der Zaren-Herrschaft in Petrograd die revolutionäre Entwicklung in Russland zu Radeks Thema. Jetzt ging es um die Überführung der „bürgerlichen“ Februarrevolution in die „proletarische“ Revolution. Beginnend Ende März 1917, analysierte er noch von der Schweiz aus für die „Arbeiterpolitik“ die revolutionären „Triebkräfte“ und die politischen Erfolgsaussichten der Bol’ševiki. Er zog Vergleiche zu den Ereignissen des Jahres 1905, besonders aber zur Französischen Revolution, die 1793 ihrer äußeren und inneren Bedrohung mit Fanatismus und Härte, totalem Volkskrieg und Terrorherrschaft begegnet war, und er setzte die Sache der Bol’ševiki mit den Interessen der Linken in den Ländern des Westens gleich. „Die treibende Kraft dieser Revolution, wie der des Jahres 1905 bildet die Arbeiterklasse […]. Ohne Unterstützung des Kleinbürgertums in Stadt und Land wird das Proletariat die Revolution nicht siegreich durchführen können, und sollte es über die Bourgeoisie 1 Schurer, Part I, S. 64.

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siegen, so wir es sich in einem agrarischen Lande wie Rußland ohne Hilfe der Bauern längere Zeit nicht behaupten können. Wir unterstreichen diese Momente einstweilen nicht zwecks Aufstellung der Perspektive einer Entwicklung […] sondern um zu zeigen, daß unsere Auffassung von der Rolle des Proletariats nicht der Überschätzung seiner Kraft entspringt. Wir sehen ihre Grenzen […].2 Im Zentrum aller Fragen der Revolution steht die Kriegs- und Friedensfrage […].3 Die russischen revolutionären Sozialdemokraten, die Bolschewiks […], die von Kriegsausbruch an in schärfster Form seinen imperialistischen Charakter demonstrierten und dementsprechend in Zimmerwald und Kiental eine allgemeine Kampffront gegen alle imperialistischen Regierungen herbeizuführen suchten, verharren auf ihrem Standpunkt […]. Duckt sich die russische Arbeiterklasse unter das Regime ihrer Kapitalisten, beschränkt sie ihre proletarischen Ziele, um die Revolution nach außen zu schützen, so liefert sie sich ihren inneren Gegnern aus. Entfaltet sie ihre Kraft, so wirft sie die inneren Gegner. Die Aufrollung der Perspektive eines proletarischen 1793 bedeutet die Antwort auf die Frage der Sozialpatrioten und Zentrumsleute, wollt ihr die russische Revolution dem äußeren Feinde ausliefern? Die Bolschewiks antworten darauf: Weder dem äußeren noch dem inneren Feinde! Aber wie wir den inneren Feind der Revolution, das russische Kapital nicht besiegen können im Bunde mit dem äußeren Feind, dem Weltkapital oder seinen einzelnen Teilen, so können wir auch den äußeren Feind nicht besiegen im Bunde mit dem inneren. Wenn wir zusammen mit den Gutschkows und Miljukows4 für die deutsche Niederlage eintreten würden, so würden wir nicht nur dem angelsächsischen Kapital – dem stärksten Teil des Weltkapitals – zur Ausbeutung der Welt, sondern auch zur Plünderung Rußlands helfen. Das russische Proletariat kann direkt nur die eigene Bourgeoisie bekämpfen.“5

Deutlicher als zuvor, betonte er in einem Anfang April 1917 in der „Arbeiterpolitik“ publizierten Aufsatz den internationalistischen Aspekt der russischen Revolution als ein auslösendes Moment für revolutionäre Erhebungen im Westen zum Sturz des kapitalistischen Systems, wobei er hervorhob, dass ohne die tatkräftige Hilfe des internationalen Proletariats, die Revolution in Russland nicht überlebensfähig sei: „Die Internationale der Arbeiterklasse, befindet sich in dem ersten entscheidenden Wendepunkt seit dem Kriegsausbruch. Ein heroisches Proletariat hat den Zarismus zu Boden geworfen. Aber allein auf die eigenen Kräfte angewiesen, kann es den Frieden nicht brin2 Radek, „Die Triebkräfte der russischen Revolution“, “Arbeiterpolitik“ Nr. 14–18, 31. März – 5. Mai 1917; in: Ders., In den Reihen der deutschen Revolution, S. 442f. 3 Ebenda, S. 448. 4 Anhänger von Kriegsminister Gučkov und Außenminister Miljukov in der Provisorischen Regierung, die die imperialistischen russischen Kriegsziele verfochten und eine Fortsetzung des Krieges forderten. 5 Radek, a.a.O., S. 453ff.

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gen. Dieser kann nur das Resultat internationaler Bemühungen sein. Mag der entschiedenste Teil des russischen Proletariats sein Herzblut hergeben, mag es wie Winkelried alle Spieße in seiner Brust auffangen, um dem internationalen Sozialismus, dem Frieden den Weg zu bahnen, es wird verbluten, wenn sein heroischer Kampf nicht die internationalen Kräfte auslöst, wenn den russischen Arbeitern, dem russischen Volke nicht gezeigt wird, daß der russischen Revolution keine Gefahren drohen. Und das kann das internationale Proletariat nur, wenn es seine eigenen Interessen, die solidarisch sind mit denen der russischen Arbeiterklasse mit allen Kräften vertritt. Wer seine eigenen Interessen nicht verteidigt, kann niemanden [sic!] Bürgschaft leisten. Die internationale Arbeiterklasse befindet sich in einer S c h i c k s a l s s t u n d e . Zum ersten Mal seit Kriegsausbruch steht eine Wendung in greifbarer Nähe bevor. Die Arbeiterklasse wird mit ihrer ganzen Zukunft dafür büßen, wenn sie ihr Interesse nicht versteht und es nicht mit allen Kräften verteidigt.“6

Die von Radek als revolutionäre Hoffnungsträger in Russland apostrophierten Bol’ševiki befanden sich seit dem Ausbruch der Februarrevolution in einem Zustand der Verwirrung. Die Leitung in Petrograd übte ein vorläufiges Büro des Zentralkomitees mit Molotov7, Šljapnikov und Zaluckij8 aus, die nur über unzureichende politische Erfahrung verfügten und nicht in der Lage waren, zu den Ereignissen klar Stellung zu nehmen. Zudem war die Partei in einen rechten und einen linken Flügel gespalten und es gab vor Ort niemanden, der die ganze Partei zu einheitlichem Handeln mitreißen konnte. Lenin als die dafür infrage kommende Führerpersönlichkeit befand sich in Zürich. Seine „Fäden nach Rußland waren abgerissen“, schreibt die Krupskaja, und vergleicht ihn mit einem im Käfig eingesperrten, nicht zähmbaren, weißen sibirischen Polarwolf.9 Als er nach dem Ausbruch der Februarrevolution am 17. März 1917 von der Amnestie der Provisorischen Regierung in Petrograd für alle politisch und religiös Verfolgten erfuhr, gab es für ihn kein Halten mehr. Er drängte fieberhaft auf die Heimreise, um die Führung der Bol’ševiki vor Ort zu übernehmen und sich in den Kampf um die Macht zu werfen: „Wir müssen fahren, und wenn es durch die Hölle geht.“10 Jetzt stellte Radek seine Nützlichkeit unter Beweis. Ein von

6 Radek, „Bürgschaften“, „Arbeiterpolitik“ Nr. 14, 7. April 1917; in: Ders., In den Reihen der deutschen Revolution, S. 458f. 7 Molotov, Vjačeslav Michajlovič; Pseudonym von V. M. Skrjabin (1890–1986); Bol´ševik seit 1906 und „Pravda“-Redakteur; nach der Oktoberrevolution Inhaber hoher Partei- und Staatsämter; 1939–1949 und 1953–1956 Außenminister; 1957 als Stalinist seiner Ämter enthoben. 8 Zaluckij, Pëtr Antonovič (1879–1937); einer der führenden Bol´ševiki in Petrograd; nach der Oktoberrevolution hoher Partei- und Staatsfunktionär; 1935 als „Trotzkist“ verurteilt, Tod im Arbeitslager. 9 Krupskaja: Aus der Emigration nach Petersburg; in: Platten, S. 76. 10 Münzenberg, S. 236.

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ihm angeregter Kontakt zum deutschen Gesandten von Romberg11 in Bern eröffnete Lenin die ersehnte Möglichkeit zur Rückkehr nach Russland: „Im Auftrag Wladimir Iljitschs wandte ich mich im Verein mit Paul Levi, der damals Mitglied des Spartakusbundes war und sich vorübergehend in der Schweiz aufhielt, an den uns bekannten Vertreter der ,Frankfurter Zeitung‘ […] Dr. Deinhard12. Durch ihn fragten wir bei dem deutschen Gesandten Romberg an, ob Deutschland nach Rußland zurückkehrende Emigranten passieren lassen werde. Romberg fragte seinerseits beim Auswärtigen Amt in Berlin an und erhielt eine prinzipiell zustimmende Antwort.“13

Die durch Radek angestoßene informelle Sondierung ging der offiziellen Kontaktaufnahme mit der deutschen Gesandtschaft in Bern voraus14, zu der sich die drei russischen Emigrantenfraktionen – Men’ševiki, Bol’ševiki und Sozialrevolutionäre – am 19. März 1917 entschlossen hatten, um die Heimkehr nach Russland in die Wege zu leiten. Sie gewannen für die Gespräche mit den Deutschen den Sekretär der Zimmerwald-Bewegung, Robert Grimm, als Unterhändler. Als er am 30. März die grundsätzliche Zustimmung Berlins zur Fahrt der Russen durch Deutschland erlangt hatte, zeigten sich aber nur noch die Bol’ševiki bereit, ohne die Einwilligung der Provisorischen Regierung mitten im Krieg durch Feindesland in die Heimat zurückzukehren. Daraufhin weigerte sich Grimm, weiter als Vermittler tätig zu sein. Er wollte sich nicht für die alleinigen Zwecke der Leninisten einspannen lassen, hatten sie ihn doch noch kurz zuvor „in der schmutzigsten Weise behandelt“.15 „Lenin geriet über diese Sabotage in Zorn“. Er lehnte es aber strikt ab, selbst in unmittelbaren Kontakt mit deutschen Stellen zu treten, um in der Folge nicht als „Agent der Deutschen“ kompromittiert werden zu können, und „er entschloss sich, die Angelegenheit durch einen eigenen Vertrauensmann verfolgen zu lassen“, wie Platten berichtet. Radek habe ihn am Mittag des 3. April 1917 angerufen und zu einer dringenden Besprechung ins Gewerkschaftshaus „Eintracht“ am Zürcher Neumarkt gebeten: „Ich fand daselbst eine kleine Gesellschaft von Genossen beim Mittagstisch vor. Lenin, Radek, Münzenberg und ich begaben uns zur vertraulichen Besprechung in das Vorstandszimmer der ,Eintracht‘, woselbst Genosse Lenin an mich die Frage richtete, ob ich bereit wäre, in den Reiseangelegenheiten als ihr Vertrauensmann zu wirken und als ihr 11 von Romberg, Konrad Gisbert Wilhelm (1866–1939); Freiherr aus westfälischem Adel, seit 1912 Gesandter des Deutschen Reiches in Bern. 12 Dr. Deinhard, 1917 Korrespondent der „Frankfurter Zeitung“ in Bern und offensichtlich mit dem in Frankfurt ansässigen Paul Levi gut bekannt. 13 Radek: Im plombierten Wagen durch Deutschland; in: Platten, S. 81. Vgl. auch: Radek, Avtobiografija, Sp. 163. 14 Platten, S.36. 15 Gautschi, S. 256ff.

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Reisebegleiter durch Deutschland zu amtieren. Nach kurzer Bedenkzeit bejahte ich die Frage.“16

Platten hat später erklärt, es sei zuerst Radek gewesen, der ihn im Namen von Lenin und Zinov’ev ersucht habe, die Angelegenheit zu übernehmen17, offenbar nachdem Münzenberg die ihm anfangs zugedachte Rolle als Unterhändler abgelehnt hatte. Münzenberg, der ebenfalls telefonisch zu dem Treffen herbeigerufen wurde, erzählt: „Jetzt saßen wir zu viert in der ,Eintrach‘ und versuchten einen legalen Weg für die Durchreise durch Deutschland zu finden. Weil das bisherige Verhalten Robert Grimms zu Mißtrauen berechtigte, wurde die Frage aufgeworfen, wer an seiner Stelle die Verhandlungen führen könne. Eine diesbezügliche Anfrage an mich mußte ich ablehnen, da ich als deutscher Staatsangehöriger kein zweckmäßiger Unterhändler war. Wir einigten uns auf Fritz Platten, der zuerst Bedenken äußerte, weil er befürchtete, daß diese Mission mit seiner Tätigkeit als Generalsekretär der Schweizer Partei kollidieren könne. Er erbat sich eine kurze Bedenkzeit, während Radek schon Pläne über die in Rußland zu leistende Presse- und Agitationsarbeit entwarf.“18

Am Nachmittag des gleichen Tages fuhr Platten begleitet von Lenin, der Krupskaja, Radek und dem Ehepaar Zinov’ev mit dem 15.00 Uhr-Zug nach Bern, wo man Grimm im Volkshaus traf, ihn im Stehen „kurz und entschieden“ abfertigte und mitteilte, Platten werde fortan für die Bol’ševiki die Verhandlungen mit der deutschen Gesandtschaft führen. Man übernachtete im Volkshaus und in Lenins Zimmer diskutierte man die halbe Nacht über die Reisebedingungen, die Platten den Deutschen vorlegen sollte. „Lenin drückte […] sehr ernsthaft auf die Mitnahme Radeks, der Pole war und einen Paß besaß“, schreibt Platten und er betont: „Der Fall Radek war besonders heikel, weil die Deutschen schlecht auf ihn zu sprechen waren; denn er hatte den deutschen Imperialisten wie den Ententisten mehr wie einmal Mist in die Suppe geworfen.“19 Radek war kein russischer Emigrant, sondern österreichischer Untertan. Um seine Mitreise zu sichern, vermied man es deshalb im Textentwurf der Reisebedingungen20 die Rückkehrer als „russische politische Emigranten“ zu bezeichnen und einigte sich auf eine Formulierung, die von „Emigranten und L e g a l e n , die nach Rußland reisen wollen“ sprach. Ferner verlangte man Exterritorialität für den Eisenbahnwagen, in dem der Transport erfolgen sollte und den Verzicht auf 16 Platten, S. 37 und S. 55. 17 Protokoll der Vernehmung Plattens am 27. September 1917 durch das „Zentralkomitee zur Heimreise der in der Schweiz weilenden politischen Flüchtlinge aus Rußland“; in: Platten, S. 58. 18 Münzenberg, S. 237. 19 Platten, S. 39f. 20 Abdruck der acht Punkte umfassenden Reisebedingungen bei Münzenberg, S. 238f. und Platten, S. 38f.

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jegliche Pass- und Personenkontrolle bei der Einreise nach Deutschland und beim Verlassen des Landes. Am darauffolgenden Tag, dem 4. April 1917, überbrachte Lenins neuer Unterhändler dem Gesandten Romberg die Konditionen der Bol’ševiki für die Rückreise. Romberg erhob keine Einwände, „aber er stutzte am Wort ,Legale‘ und bat um eine Erklärung.“ Ohne Radeks Namen zu nennen, erläuterte Platten ihm, „daß nicht alle ohne ordentliche Paßpapiere seien“ und dass man auf dem Recht bestehe, „auch solche mitnehmen zu können, die, streng genommen, nicht Emigranten seien.“21 Noch am gleichen Abend leitete die Berner Gesandtschaft die Bitte um sofortige Durchreiseerlaubnis telegraphisch nach Berlin weiter. Bereits einen Tag später, am 5. April, gab die Oberste Heeresleitung ihre Zustimmung zu den Reiseplänen, und am 7. April erklärte auch das Auswärtige Amt sein pauschales Einverständnis mit „Plattens Reisebedingungen“. Bereits zuvor hatte Berlin am 6. April telegraphiert, die Abfahrt der russischen Emigranten vom deutschen Grenzbahnhof Gottmadingen sei definitiv auf den Abend des Ostermontags, den 9. April 1917 festgesetzt worden.22 Um seine Reise politisch abzusichern, bemühte sich Lenin um die Rückendeckung durch Vertreter des internationalen Sozialismus. Er formulierte eine Resolution, in der es hieß, die russischen Genossen hätten „nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht“, die Möglichkeit der Rückkehr durch Deutschland nach Russland zu nutzen, denn der „Kampf gegen die imperialistische Politik der russischen Bourgeoisie“ bilde „einen Teil des allgemeinen Kampfes des Proletariats für die soziale Revolution.“ In der Nacht vom 6. auf 7. April 1917 kam im Volkshaus in Bern eine kleine Gruppe von Internationalisten zur Unterzeichnung dieses Ausreiseprotokolls zusammen. Neben Radek waren anwesend, Lenin, Zinov’ev, Ines Armand, Loriot23, Guilbeaux24 und Paul Levi. Nach dem gemeinsamen Abendessen zog man sich zur Unterschriftsleistung in Radeks Zimmer zurück. Die Erklärung bezweckte, vor der Öffentlichkeit festzuhalten, dass die Reise die Billigung internationaler Sozialisten kriegführender und neutraler Staaten gefunden habe und politisch als nicht diskriminierend angesehen werde.25 Das rasche Eingehen der deutschen Reichsregierung auf Lenins Wünsche erklärt sich aus der Absicht der deutschen Führung, einen Ausweg aus dem Zweifrontenkrieg zu finden. Nachdem die Februarrevolution nicht zum erhofften Ausscheiden Russlands als Kriegsgegner im Osten geführt hatte und die neue Provisorische Re21 Platten, S. 40. 22 Telegrammwechsel zwischen dem Auswärtigen Amt und der deutschen Gesandtschaft in Bern; in: Hahlweg, Lenins, S. 81 und S. 85. 23 Loriot, Fernand (1870–1933); französischer Linkssozialist; 1919 Sekretär der Komintern; später Führer der Kommunistischen Partei Frankreichs, der 1927 mit dem Kommunismus brach. 24 Guilbeaux, Henri (1885–1938); französischer Internationalist und Kriegsgegner, der in die Schweiz emigriert war. 25 Gautschi, S. 268f. Die Erklärung wurde dann in Stockholm noch von weiteren Linkssozialisten unterzeichnet.

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gierung in Petrograd nicht zum Frieden mit Deutschland bereit war, setzte man nun auf eine Machtübernahme durch die friedensbereiten Kräfte der russischen Sozialdemokratie. Der Plan durch den revolutionären Sturz der Provisorischen Regierung einen Sonderfrieden zu erreichen, stammte von Dr. Alexander Lazarevič Helphand. Er verfocht den Gedanken, dem Revolutionär Lenin und seinen Anhängern die Rückreise aus dem Exil in der Schweiz nach Russland zu ermöglichen, um durch sie die revolutionäre Entwicklung zu fördern und den Zusammenbruch des Landes zu beschleunigen. Als russischer revolutionärer Sozialist jüdischer Herkunft, war Helphand ein unter dem Pseudonym Parvus26 als Wirtschaftsfachmann und marxistischer Publizist bekannt gewordener brillanter Einzelgänger und Außenseiter. Er lebte im Exil in Deutschland und seine Münchner Wohnung wurde zum Treffpunkt russischer Revolutionäre. Seit 1905 mit Lenin bekannt, gründete er mit ihm zusammen die Zeitschrift „Iskra [Der Funke]“. Als der Mentor Trockijs formulierte er erstmals die These von der permanenten Revolution, die Trockij dann als Theorie übernahm. Seine Sternstunde kam 1914 mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Er setzte sich für den Sieg Deutschlands mit der Begründung ein, dieser werde die Revolution in Russland zur Folge haben und dann auch zur Weltrevolution führen. Er wandelte sich zum „Sozialpatrioten“, der behauptete, der Sieg Deutschlands über Russland läge im Interesse des europäischen Sozialismus und deshalb sollte die SPD ein Bündnis mit der deutschen Regierung schließen, um das Zarenregime zu stürzen. Im Krieg als Armeelieferant mit der deutschen Regierung in Verbindung gekommen, bediente man sich seiner zunächst für zwielichtige Aktionen auf dem Balkan. Am 9. März 1915 unterbreitete er dem deutschen Auswärtigen Amt Vorschläge zur Revolutionierung Russlands. In einer 23-seitigen Denkschrift entwarf er einen Plan zum Sturz der Zaren-Herrschaft und der Aufteilung Russlands in mehrere Staaten. Als dazu unerlässliche finanziell-technische Maßnahmen nannte er die von Deutschland zu finanzierende Bereitstellung von Materialen für Sabotageakte und Kontakte zu den Bol’ševiki im Schweizer Exil. Noch im selben Monat wurde er zum Hauptberater der deutschen Regierung in Fragen der russischen Revolution.27 Mitte Mai 1915 begab er sich versehen mit deutschen Geldern nach Zürich, um mit Lenin zu sprechen. Es gelang ihm allerdings nicht, den Führer der Bol’ševiki zu treffen und für sich zu gewinnen. Ab August 1915 gab Parvus mit Konrad Haenisch als Redakteur in Berlin die „sozialpatriotische“ Zeitschrift „Die Glocke“ heraus. Damit wurde er zum Initiator eines mit prominenten Politikern und Publizisten besetzten Flügels der deutschen Sozialdemokratie, darunter Paul Lensch, Eduard David,

26 „Parvus“, das heißt „der Kleine“, in selbstironischer Anspielung auf Helphands ungewöhnliche Körperfülle. Er machte den Eindruck eines „ungewöhnlich fetten und dickbäuchigen Mannes“, den ein Zeitgenosse mit einem „unbeweglichen, vollgestopften Sack mit schwabbeligem Bauch“ verglich. Gautschi, S. 173. 27 Chavkin, Alexander Parvus – Financier der Weltrevolution, S. 37–41.

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Ernst Heilmann – alles ehemalige Linke und zum Teil politische Freunde Radeks.28 Hingegen hatten Parvus’ ehemalige linksradikale Mitstreiter Rosa Luxemburg, Julian Marchlewski und Lev Trockij seine neuen Thesen scharf kritisiert und politisch mit ihm gebrochen. Auch Parvus’ Versuche mit russischen Bol’ševiki, wie Bucharin, Pjatnickij und Rakovskij oder Sozialdemokraten wie Urickij ins Geschäft zu kommen, um eine eigene russische Parteigruppe zu formieren, scheiterten. Obwohl Lenin es im Mai abgelehnt hatte, Parvus zu treffen, hatte er die indirekte Verbindung zu ihm offengehalten und im September 1915 einer direkten Kontaktaufnahme in Zürich zugestimmt. Das Treffen fand in Lenins Wohnung statt und verlief angeblich kontrovers. Aber unmittelbar nach dieser Begegnung baute Parvus im Oktober 1915 unter dem Deckmantel eines in Kopenhagen gegründeten „Instituts zur Erforschung der sozialen Kriegsfolgen“ und einer „Handels- und Exportkompagnie (Handels- og Eksportkompagnie A/S)“ in Stockholm eine Organisation auf, die bis in die Schweiz reichte und neben propagandistischen und nachrichtendienstlichen Zwecken der deutschen Reichsregierung gleichzeitig eigene kommerzielle Interessen verfolgte: Import-Export-Geschäfte unter Umgehung der alliierten Blockade Deutschlands.29 Hauptzweck dieser Unternehmungen war es jedoch, die konspirativen Verbindungen zwischen der russischen Emigration und Russland sowie die Deutschlands mit dem Westen und mit Russland zu unterhalten, um die Ereignisse in Russland zu beeinflussen.30 Direktor von Parvus’ Firma in Stockholm wurde der Kaufmann und Agent des Berliner Generalstabs Georg Sklarz.31 Kaufmännischer Direktor und Geschäftsführer war der vorübergehend in der Schweiz, dann in Stockholm und schließlich in Kopenhagen lebende Jakob Hanecki-Fürstenberg, der Majordomus und Vertraute Lenins in Zürich32 und einer der führenden Rosłamowcy, der mit Radek seit den Warschauer Revolutionstagen von 1906 bekannt war. In Verbindung mit Šljapnikov in Petrograd und Lenin in der Schweiz stehend, kommt Hanecki zusammen mit Radek in erster Linie als Mittelsmann zwischen Parvus und Lenin in Betracht. In dieses Bild passen im Moskauer Staatlichen Sonderarchiv nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vorgefundene Hinweise, wonach „1916 in Berlin eine sogenannte ,Spezialabteilung Stockholm‘ unter Leitung von Legationsrat Trautmann33 gegründet wurde, mit dem Fürstenberg [Hanecki] und Radek über Parvus in Verbindung standen.“34 Über Hanecki unternahm Parvus den Versuch, Lenin die 28 Koenen, S. 83f. 29 Vgl. Scharlau/Zeman, passim; Deutscher, Trotzki I, S. 104–110; Gautschi, S. 172–175; Schulz, S. 59f.; Shub, S. 161f. 30 Chavkin, a.a.O., S. 46. 31 Sklarz, Georg (1875–1968); Mitarbeiter von Parvus-Helphand und Agent des deutschen Generalstabs, der für diese Aufgabe von seinem Dienst beim Reserve-Infanterieregiment 93 freigestellt wurde. 32 Koenen, S. 96f. 33 Trautmann, Oskar (1877- ca. 1958); Diplomat; seit 1914 Legationsrat in der Politischen Abteilung für skandinavische und russische Angelegenheiten des Auswärtigen Amtes. 34 Wolkogonow [Volkogonov], Lenin, S. 114.

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Rückreise durch Deutschland zu offerieren. Der Parvus-Mitarbeiter Georg Sklarz verhandelte deshalb Ende März 1917 drei Tage lang in Zürich mit Broński und Zinov’ev und bot an, die Rückfahrt zu finanzieren. Als offenbar wurde, dass Sklarz ein Agent des deutschen Generalstabs war, ließ Lenin den Kontakt jedoch sofort abbrechen.35 Vordergründig ist es wohl zutreffend, wenn Radek im nachhinein betonte, dass es allein Fritz Platten war, der die Gespräche mit den Deutschen erfolgreich zu Ende führte und schreibt, die Versuche von Parvus, „sich in die Verhandlungen hineinzudrängen, wurden von Lenin zurückgewiesen, was jedoch die Möglichkeit nicht ausschließt, daß die deutsche Regierung ihn nach seiner Meinung zu diesen Dingen fragte“36. Was Radek damit stillschweigend andeutet, sprach der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann, dessen vertrauter Berater Parvus während des Ersten Weltkrieges war, später offen aus: „Die Reise Lenins und seiner Freunde durch Deutschland nach Rußland sei von Dr. Helphand-Parvus organisiert worden, der nur wenige Personen darüber informiert habe.“ Letztlich war es aber nicht entscheidend, in welchem Ausmaß Parvus an der Organisation der Reise Lenins unmittelbar beteiligt war, denn „die deutschen Behörden, die von der Weltrevolution und dem Bolschewismus keine Ahnung hatten, öffneten [allein] […] durch die Versorgung Parvus’ mit Geld die Büchse der Pandora.“37 Die Biographen Helphands behaupten, Radek sei schon vor dem Kriege mit ihm bekannt und befreundet gewesen38. Dafür gibt es jedoch keinen Beleg. Selbstverständlich war Radek als Leser der „Neuen Zeit“ und des „Vorwärts“ mit Parvus’ Ideen durch dessen Arbeiten als sozialdemokratischer Publizist vertraut. Vermutlich kannte er auch Parvus’ Zeitschrift „Aus der Weltpolitik“, möglicherweise Anregung und Vorbild für eine von ihm selbst unter dem Titel „Weltpolitik“ herausgegebene Zeitungskorrespondenz. Unter Berufung auf Litwak meint der amerikanische Historiker Shub, Radek sei in der Schweiz in dauernder Verbindung sowohl mit Parvus, wie mit Hanecki gestanden39. Im Hinblick auf Parvus ist das zu bezweifeln. Ungewiss bleibt auch, ob er ihm 1915 bei dessen Besuch in der Schweiz begegnet ist. Vermutlich haben sich beide erst im Frühjahr 1917 in Stockholm persönlich kennengelernt. Davon unabhängig zeigte sich Radek von der markanten Persönlichkeit dieses politischen Glücksritters, Revolutionärs und Millionärs fasziniert. Litwak berichtet, Radek habe in Bern, jedem der ihm zuhören wollte, vermutlich frei erfundene Anekdoten über hochwichtige militärische und politische Angelegenheiten erzählt, in deren Mittelpunkt immer die Person Parvus-Helphands stand. Er sprach von ihm mit viel Wärme und Nachsicht. Er habe einen glänzenden Verstand, aber er könne 35 Gautschi, S. 173 und S. 251f. 36 Radek, Avtobiografija, Sp. 163. 37 Chavkin, a.a.O., S. 46. 38 Scharlau/Zeman, S. 260. Auch Payne (S. 89) meint, Parvus habe Radek „von früher her“ gut gekannt. 39 Shub, S. 162, der sich auf Litwak, S.252–256, bezieht.

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nicht stetig sein. Selbst wenn er ihn wegen seiner Korruptheit, seinen amourösen Affären und seiner Unzuverlässigkeit in Geldsachen kritisierte, schwang in dieser Kritik doch stets das Gefühl heimlicher Bewunderung mit – so als ob sich im Leben dieses „Freibeuters der Revolution“ seine geheimsten Wünsche und Träume verwirklichten. Die Zuhörer empfanden jedenfalls, dass er an Parvus gerade das schätzte, was einen Teil seiner eigenen Persönlichkeit ausmachte, und dass in Radek – so Litwak – ein „hipsch schtik“ Parvus lebendig war.40 Bei beiden gab es tatsächlich vergleichbare Persönlichkeitsmerkmale. Radek entstammte wie Parvus einer jüdischen Mittelstandfamilie, hatte in der Schweiz studiert und war nach Deutschland gegangen. Auch er war der „Typus des zynischen Revolutionärs“41; ein kühner Denker, ausgestattet mit scharfem Verstand und militantem Temperament; ein intellektuell und kulturell vollkommen westlich orientierter Osteuropäer, der in der deutschen Sozialdemokratie seine politische Heimat gesucht hatte; ein im „Kampf mit der Feder“ geübter Publizist, der selbst im Wirtshaus rasch einen gelungenen Artikel verfassen konnte. Mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung hat Radek die Schweizer Emigrantenkreise über Parvus auf dem Laufenden gehalten und vieles von dem aus Wahrheit und Erfundenem gewobenen Gerüchtenetz über Parvus stammte aus seinem Munde.42 Radeks Affinität zu Parvus hat sich allerdings später ins Gegenteil verkehrt. Als dieser 1924 starb, würdigte Radek ihn zwar in einem Nachruf als einen hervorragenden revolutionären Schriftsteller der Epoche der II. Internationale, schmähte ihn aber zugleich als „Verräter der Arbeiterklasse“.43 Im Auswärtigen Amt schätzte man den vielseitigen, wenn auch abenteuerlich schillernden, Dr. Helphand44 als sachkundigen Berater in Fragen der russischen Revolution. Er hatte einflussreiche Fürsprecher, wie den Zentrumsabgeordneten Matthias Erzberger45 und den Legationsrat Ago [Adolf Georg Otto] von Maltzan46 im Auswärtigen Amt. Vor allem aber erfreute er sich der besonderen Protektion des 40 Litwak, S. 254. Wiedergabe nach Scharlau/Zeman S. 176 und Shub S. 161. 41 Deutscher, Trotzki I, S.107. 42 Heresch, S. 145. 43 Radek, „Parvus“, „Pravda“, 14. Dezember 1924. Radek, Portrety i pamflety, S.127. 44 So wurde Parvus von Konrad Haenisch für einen „edlen Mann“ gehalten, während der Reichstagsabgeordnete Eduard David am 28. Februar 1915 in seinem Kriegstagebuch über ihn festhielt: „Auch ein Prachtexemplar: ultraradikaler Revolutionär; russischer Spitzel, Lump und Betrüger (Fall mit Gorki); jetzt türkischer Agent und Spekulant.“ Matthias/Miller, S. 107f. Der „Fall mit Gorki“ bezieht sich auf den wahrscheinlich zutreffenden Vorwurf Gor´kijs, dass Parvus, der seine Autorenrechte in Westeuropa vertrat, die Tantiemen für das erfolgreiche Drama „Nachtasyl“ unterschlagen habe. 45 Erzberger, Matthias (1875–1921); Führer des linken Flügels des Zentrums; 1921 ermordet. 46 Maltzan, Adolf Georg Otto (“Ago“), von; Freiherr zu Wartenberg und Penzlin (1877–1927); Diplomat; Leiter der Russlandreferats in der 1919 neugegründeten Ostabteilung des AA; Verfechter einer Annäherung Deutschlands an Sowjetrussland; 1921 Leiter der Ostabteilung im AA; 1922 Staatssekretär des AA; 1925 deutscher Botschafter in Washington; kam 1925 bei einem Flugzeugabsturz bei Schleiz ums Leben.

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deutschen Gesandten in Kopenhagen, Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau47, einem eifrigen Befürworter des Plans, die Revolution nach Russland hineinzutragen, dort „ein größtmögliches Chaos zu schaffen“, um so die Entente zu sprengen und einen Sonderfrieden im Osten zu erreichen. Parvus-Helphands Auffassung, die Interessen der Reichsregierung seien identisch mit denen der russischen Revolution, hatte Anklang gefunden. Seine Idee, Lenin durch Deutschland nach Petrograd reisen zu lassen, war über Graf Brockdorff-Rantzau als Vorschlag an Reichskanzler von Bethmann Hollweg48 gelangt, der im Bestreben, die bolschewistische Revolution um eines vermeintlichen strategischen Vorteils willen nach Russland zu importieren, im Zusammenspiel mit dem Auswärtigen Amt und der Obersten Heeresleitung den Plan zur Ausführung kommen ließ.49 Am 9. April 1917, dem durch die deutschen Behörden festgesetzten Abreisetag, versammelte sich Lenins Reisegruppe im Zürcher Restaurant „Zähringerhof“50 zu „einem, gemeinsamen, einfachen Mittagsmahl“, erzählt Platten, und er fährt fort: „Durch ewiges Kommen und Gehen und eine immerwährende Auskunftserteilung durch Lenin und Sinowjew, erweckte die Versammlung das Bild eines aufgescheuchten Ameisenhaufens“51.Platten ließ sich von den Teilnehmern durch Unterschrift bestätigen, dass sie die Reise in Kenntnis der mit den Deutschen ausgehandelten Bedingungen und unter Inkaufnahme aller mit der Fahrt verbundenen Risiken antreten und sich seinen Anordnungen als Transportführer unterwerfen würden. Auf dieser Liste mit 32 Unterschriften52 fehlt der Name Karl Radeks. Er war jedoch im „Zähringerhof“ anwesend, hat aber nicht mit seinem Namen, sondern mit einem neuen Pseudonym als „M. Aisenhud“ unterzeichnet53. Aus Furcht vor möglichen Repressalien durch die deutschen Behörden, tarnte er sich dann für die Reise zusätzlich mit dem geliehenen Pass des russischen Revolutionärs Pëtr Vojkov54. 47 Brockdorff-Rantzau, Ulrich Graf von (1869–1928); 1912–1918 deutscher Gesandter in Kopenhagen; 1919 Reichsaußenminister; 1922–1928 Botschafter in Moskau. 48 Bethmann-Hollweg, Theobald (1856–1921); 1909–1917 deutscher Reichskanzler. 49 Hahlweg, Lenins, S. 30. 50 Der „Zähringerhof“ in Zürich ist identisch mit dem heutigen „Hotel Scheuble“ am Zähringerplatz, Ecke Mühlegasse/Zähringerstraße. 51 Platten, S. 45. 52 Faksimile der Liste in: Platten, S. 43. 53 Gautschi hat den Decknamen „Aisenhud“ erstmals identifiziert und durch Handschriftvergleich verifiziert; der Name passt zu Radeks Pseudonymen mit kämpferischem Anklang, wie „Parabellum“ und „Struthahn [Streithahn]“. Gautschi, S. 277f. 54 Radek, Avtobiografija, Sp. 163. Vojkov, Pëtr Lazarevič (1888–1927); wegen Beteiligung an einem Attentatsversuch 1907 in die Schweiz geflohen, kehrte er 1917 mit einem der späteren Emigrantentransporte nach Russland zurück. Er brüstete sich damit, 1918 an der Liquidierung der Zarenfamilie in Ekaterinburg beteiligt gewesen zu sein. 1927 wurde er als Sowjetgesandter in Warschau ermordet. Nicht zutreffend ist die Vermutung von Payne (S. 214), dass Radek für die Reise den Namen „Pripevskij“ angenommen hat. Lenin habe ihm diesen Namen in einer sarkastischen Anwandlung gegeben, da Radek gut sang und außerordentlich redselig war. Das russische Wort „pri-

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Gegen 14.30 Uhr begab sich die Reisegesellschaft „in echt russischer Reiseaufmachung – mit Kissen, Decken und wenigen Habseligkeiten beladen –“55 vom „Zähringerhof“ zum Bahnhof Zürich, um einer ungewissen Zukunft entgegenzureisen; hatte doch eine französische Zeitung gemeldet, die Provisorische Regierung werde durch Deutschland heimkehrende Landsleute als Hochverräter behandeln56. Beim Abschied von den zurückbleibenden Genossen sagte Radek zu Münzenberg: „Entweder sind wir in sechs Monaten Minister, oder wir hängen.“57 Von Zürich fuhr man um 15.10 Uhr nach Gottmadingen ab, von wo aus die Deutschen für den Weitertransport verantwortlich waren. Radek schreibt: „Deutsche Offiziere erwarteten uns und wiesen uns in den Zollraum, wo die Zahl der lebenden ,Munition‘, die sie nach Rußland transportierten, festgestellt werden sollte.“58 Die Emigranten verharrten dort schweigend und in sehr banger Stimmung. Radek ulkte erst im Nachhinein über diese kritischen Minuten: Männer und Frauen hätten sich getrennt aufstellen müssen, „[…] damit sich auf dem Wege nicht jemand von uns verflüchtigen oder einem deutschen Mädchen einen russischen Bolschewiken unterschieben könnte, um so den Keim zur Revolution zu legen. (Ich hatte große Lust das zu tun, weil ich als Österreicher die volle moralische Berechtigung dazu besaß, aber Iljitsch war dagegen.)“59

Die Spannung löste sich, als die Gruppe ohne jegliche Kontrolle zum Einsteigen in einen bereitgestellten D-Zugwagen aufgefordert wurde. Die Fahrt durch Deutschland erfolgte nicht in einem Extrazug, sondern in diesem Wagen, der an den fahrplanmäßigen Schnellzug in Richtung Stuttgart angehängt wurde. Zwei deutsche Offiziere begleiteten den Transport60. Plattens und Zinov’evs in die offizielle sowjetische Parteigeschichte eingegangene Behauptungen, der Wagen Lenins sei plombiert worden, treffen nicht zu61. Er wurde in keinster Weise plombiert oder anderweitig versiegelt, wie auch Radek bestätigt hat: „Die Legende vom ,plombierten Wagen‘ ist […] unwahr. Es gab keinerlei Plomben am Wagen. Wir verpflichteten uns damals nur, den Wagen nicht zu verlassen. Die Verbindung zu den Deutschen hielt Platten.“62 Wenn er seine Reiseschilderung dennoch betitelt „Im plombierten Wagen durch Deutschland“, so ist das im übertragenen Sinne zu verstehen und bezieht sich darauf, dass die pev“ bedeutet Refrain eines Liedes bzw. Kehrreim. Auf Plattens Liste findet sich eine Unterschrift, die als Pripevskij gedeutet werden könnte; sie stammt aber erkennbar nicht von Radek. 55 Platten, S. 47. 56 Ebenda, S. 43. 57 Münzenberg, S. 241. 58 Radek, Im plombierten Wagen durch Deutschland; in: Platten, S. 83. 59 Ebenda. 60 Einer dieser Offiziere war Rittmeister der Reserve Arved von der Planitz (1875–1943). 61 Vgl. Gautschi, S. 285f. Er urteilt, man habe den Eindruck, dass sich die Revolutionäre „erst nachträglich entschlossen, Wert auf die `Plombierung´ zu legen, weil sie vor der Geschichte ein Interesse daran hatten, die intakte Exterritorialität zu betonen.“ 62 Radek, Avtobiografija, Sp. 163.

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Reisenden den Wagen nicht verlassen durften. Die Fahrt führte über Singen am Hohentwiel, Stuttgart, Bretten, Karlsruhe, Mannheim, Frankfurt am Main, Halle, Berlin, Neubrandenburg und Stralsund zum Ostseehafen Saßnitz auf der Insel Rügen. Radek, der im Coupé neben Lenins Abteil mit Olga Ravič63, Georgij Safarov64 und dessen Frau Valentina (“Valja“) sowie Ines Armand zusammensaß, unterhielt seine Mitreisenden mit amüsanten Anekdoten und Späßen, die diese mit lautem Gelächter quittierten. Lenin, der öfter hereinschaute, wurde von Radek immer wieder geneckt, er müsse, „ob er wolle oder nicht, die Führung der revolutionären Regierung übernehmen. Wladimir Iljitsch zog die Stirn kraus, bedeutete ihm aber, daß er es nicht ablehnen werde.“65 Schließlich wurde Lenin der Lärm und besonders Olga Ravičs schrilles Lachen zu bunt. Er stürzte sichtlich genervt ins Nachbarabteil, packte die Genossin Olga an der Hand und expedierte sie an einen entfernteren Platz. Radek als der „Hauptlärmmacher“ scherzt in seinem Reisebericht über den Vorfall:„Um die Wahrheit vor der Geschichte und der Kontrollkommission festzustellen, muß ich hier bezeugen, daß die Genossin Olga stets eine ernste Parteigenossin gewesen ist und daß nur ich es gewesen bin, der die Anekdoten erzählte, und ich also der Schuldige an dem Lärm war.“66 Von den anekdotischen Begebenheiten der Fahrt ist durch Radek auch überliefert, dass Lenin als Nichtraucher keinen Tabakrauch im D-Zugwagen duldete und die Raucher deshalb die Toilette als „Rauchsalon“ entfremden mussten: „Vor diesem Raum herrschte daher eine ununterbrochene Volksansammlung und Zänkerei. Iljitsch schnitt daraufhin ein Blatt Papier entzwei und verteilte Passierscheine. Auf je drei Billets der Kategorie A zur gesetzlichen Benützung der Räumlichkeiten trat ein Raucherbillet. Das rief natürlich neue Diskussionen über den Wert der menschlichen Bedürfnisse hervor und wir bedauerten lebhaft, daß Genosse Bucharin nicht bei uns war, als Spezialist in der Theorie Böhm-Bawerks67 über die Grenzen des Nützlichen.“68

Beim Aufenthalt des Zuges in Stuttgart stieg der deutsche Gewerkschaftsführer Wilhelm Jansson69 zu, um auf den ausdrücklichen Wunsch Berlins mit Lenin zusammen63 Ravič, Sara Naumovna, genannt „Olga“ (1879–1957); als Revolutionärin 1907 in München beim Umtausch von in Tiflis geraubten Banknoten verhaftet. Nach der Oktoberrevolution auf dem Gebiet der Volksbildung tätig; 1939 verhaftet, überlebte sie den Gulag. 64 Safarov, Georgij Ivanovič , genannt „Egorov“ (1891–1942); nach der Oktoberrevolution Chefredakteur der Leningrader „Pravda“; Als Anhänger Trockijs 1927 aus der Partei ausgeschlossen, 1935 verhaftet und im Gefängnis gestorben. 65 Ravič, Olga: „Die Reise durch Deutschland“, Pravda Nr. 88, 20. April 1924. Pearson, S. 68. 66 Radek, Im plombierten Wagen durch Deutschland. Platten, S. 84. 67 Böhm-Bawerk, Eugen Ritter von (1851–1914); österreichischer Nationalökonom; Verfasser des dokumentarischen Werkes „Kapital und Kapitalzins“; Mitbegründer der Grenznutzenschule. 68 Radek, a.a.O., S. 84. 69 Jansson, Wilhelm (1877–1923); schwedischer und deutscher Doppelstaatsbürger; patriotischer Sozialdemokrat und Gewerkschafter, Mitglied der Generalkommission der deutschen Gewerkschaften.

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zutreffen und dessen politische Absichten zu erkunden. Lenin trug Platten auf, „,ihn zu des Teufels Großmutter‘ zu jagen und weigerte sich, ihn zu empfangen“70. Um Radeks Inkognito vor Jansson zu wahren, verbarg man ihn sicherheitshalber bis Frankfurt am Main im Gepäckabteil, denn er galt ja als österreichischer Fahnenflüchtiger: „Da Jansson mich kannte und ich in meiner Eigenschaft als Österreicher als blinder Passagier mitfuhr, fürchteten die Genossen, meine Reise möchte bekannt werden […]. Man versteckte mich also in dem Coupé, in dem sich das Gepäck befand und überließ mir als Proviant ungefähr fünfzig Zeitungen, damit ich mich still verhielte und keinen Skandal machte.“71

Die Reise verlief sehr langsam mit vielem Rangieren und häufigen Aufenthalten. Beim Halt in Mannheim stimmte ein Teil der Reisenden die Nationalhymne des deutschen Kriegsgegners Frankreich, die Marseillaise, und die Carmagnole an, sodass Platten sich gezwungen sah, „kategorisch das Einstellen des Gesanges französischer Lieder zu fordern“.72 „In Frankfurt ereignete sich der Zwischenfall mit der ,Radekschen Soldatenverbrüderung‘“ schreibt Platten und beichtet: „Ich gestehe ein, daß durch mein Verschulden es vorgekommen ist, dass deutsche Soldaten den Wagen betraten.“ Er hatte den Zug verlassen, am Bahnhofsbuffet Bier und Zeitungen für die Revolutionäre gekauft und deren Identität ausgeplaudert. Dann bat er einige Soldaten, gegen ein Trinkgeld, das Getränk zum Wagen zu bringen und brachte den Beamten an der Perronsperre dazu, die Soldaten durchzulassen.73 Radek, mittlerweile aus der Isolierung im Gepäckabteil wieder befreit, verleiht der darauffolgenden Szene einen eigenen dramatischen Akzent: „[…] der Perron war militärisch abgesperrt. Plötzlich wurde die Postenkette durchbrochen: deutsche Soldaten kamen herangestürmt. Sie hatten von der Durchreise russischer Revolutionäre gehört, die für den Frieden eintraten. Jeder von ihnen hielt in beiden Händen einen Krug Bier. Erregt fragten sie uns aus, ob und wann der Frieden käme. Diese Stimmung sagte uns über die Lage mehr, als für die deutsche Regierung nützlich war. Der Vorfall war um so charakteristischer, als die Soldaten sämtlich Scheidemänner [Sozialpatrioten] waren.“74

Radek, der keine Berührungsängste kannte, redete auf die Soldaten ein, bis besorgte Offiziere sie vom Zug wegscheuchten.75 „Sonst sahen wir auf der ganzen Reise niemanden mehr“, schreibt er. „So fuhren wir bis Saßnitz durch, wo wir den schwe70 71 72 73 74 75

Radek, a.a.O., S. 84. Radek, ebenda, S. 84f. Platten, S. 47. Ebenda, S. 47f. Radek, a. a. O., S. 85. Payne, S. 80.

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dischen Dampfer bestiegen.“76 Das Salonschiff „Trelleborg“77 beförderte die Reisegruppe nach Schweden und Platten erinnert sich: „Wir hatten bewegte See und unter den 32 Mitreisenden erwiesen sich nur fünf als seefest, darunter Lenin, Sinowjew und Radek, die, am Hauptmast stehend, in eifrigem Disput waren.“78 Am Abend des 12. April 1917 lief das Fährschiff im Hafen von Trelleborg ein, wo Parvus’ Stockholmer Geschäftsführer Hanecki-Fürstenberg die Revolutionäre am Kai erwartete und auch der örtliche Bürgermeister und schwedische Sozialisten zur Begrüßung erschienen waren. Nach den Strapazen der dreitägigen Fahrt machten die Reiseteilnehmer auf Hanecki einen „erschütternden“ Eindruck, und so lud er sie in einem Hotel in Malmö zum Abendessen ein, „dem nach schwedischer Sitte der ,Smörgas‘ voranging“, wie Radek schildert: „Wir armen Leute, die wir in der Schweiz daran gewöhnt waren, einen Hering als Abendessen anzusehen, erblickten diesen riesigen Tisch mit der unendlichen Zahl von Vorspeisen, stürzten wie Heuschreckenschwärme darüber her und leerten ihn restlos zum unerhörten Erstaunen der Kellner, die am Smörgastisch nur zivilisierte Leute zu sehen gewohnt waren.“79

Anschließend nahm man den Nachtzug nach Stockholm. Lenin saß mit Radek, Zinov’ev und Hanecki im Abteil und entwickelte den Plan, in der schwedischen Hauptstadt ein bolschewistisches Auslandsbüro einzurichten, das – so Radeks spätere Schutzbehauptung – als Verbindungsstelle zwischen der bevorstehenden proletarischen Revolution in Russland und ihrem nach Lenins Meinung „treuesten und zuverlässigsten Verbündeten“, dem deutschen Proletariat, fungieren sollte. Es sollte sich aber bald herausstellen, dass es der eigentliche Zweck dieses Büros war, die deutschen Gelder für Lenin in die bolschewistische Kasse nach Russland zu befördern. Leiten sollten es Hanecki und Radek, wobei letzterer als österreichischer Staatsbürger und damit Angehöriger einer Feindnation der Entente ohnehin nicht nach Russland einreisen durfte. Bei ihrer Ankunft in Stockholm am Morgen des Karfreitag wurden die Revolutionäre von Bürgermeister Lindhagen80 und prominenten einheimischen Linkssozialisten, wie Fredrik Ström81 und Ture Nerman, den Radek bereits 1915 in der Schweiz getroffen hatte, mit einem Frühstück im „Hotel Regina“ willkommen geheißen. Radek spottete im Nachhinein: 76 Radek, a.a.O. 77 Platten, S. 50. Payne (S. 86) gibt wohl unzutreffend den Namen des schwedischen Fährschiffes mit „Königin Viktoria“ an. 78 Ebenda, S. 50f. 79 Radek a.a.O., S. 85f. 80 Lindhagen, Carl (1860–1946); Sozialdemokrat humanitär-pazifistischer Orientierung. 81 Ström, Fredrik (1880–1948); Sekretär der Schwedischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei/ SAP; gemeinsam mit Höglund der Führer der Linkssozialisten, Reichstagsmitglied.

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„Schweden zeichnet sich vor allen Ländern dadurch aus, daß man dort bei jedem Anlaß ein Frühstück veranstaltet, und wenn in Schweden die soziale Revolution kommt, so wird man zuerst ein Frühstück zu Ehren der abziehenden Bourgeoisie veranstalten und dann ein Frühstück zu Ehren der neuen revolutionären Regierung.“82

Ein unmittelbar nach der Ankunft in Stockholm entstandenes Foto83 zeigt Radek inmitten von Lenins Gruppe: Schmale Gestalt, blasses, bartloses, bebrilltes Gesicht, weicher Hut, heller Mantel, geht er an der Seite von Ines Armand und unterscheidet sich in keiner Weise vom bürgerlichen Habitus seiner Mitreisenden. Demgegenüber war Lenins Erscheinungsbild bei der Ankunft in Schweden eher unkonventionell, wie Radek schreibt: „Wahrscheinlich rief der Anblick unserer soliden schwedischen Genossen in uns den heftigen Wunsch wach, Iljitsch möge menschenähnlich aussehen. Wir redeten ihm zu, wenigstens neue Stiefel zu kaufen. Er reiste in Bergstiefeln mit ungeheuren Nägeln. Wenn er schon die Fußsteige der ekligen Schweizer Bourgeoisiestädte mit diesen Stiefeln verderben wollte, erklärten wir ihm, müsse es ihm doch sein Gewissen verbieten, mit diesen Zerstörungswerkzeugen nach Petrograd abzureisen. Zusammen mit einem Kenner der örtlichen Sitten und Verhältnisse, dem jüdischen Arbeiter Chapin, begab ich mich mit Iljitsch in ein Stockholmer Warenhaus. Dort kauften wir Iljitsch Schuhe und setzten ihm zu, sich auch mit anderen Garderobestücken zu versehen. Er wehrte sich dagegen so gut er konnte […]. Aber schließlich setzten wir unseren Willen durch und versorgten ihn auch mit einem Paar Hosen, die ich, als ich im Oktober nach Petrograd kam, an ihm auch wieder entdeckte, freilich in deformiertem Zustand, den sie unter dem Einfluß der russischen Revolution angenommen hatten.“84

Weniger ausführlich als über den Schuh- und Hosenkauf berichtet Radek über eine wichtige Begegnung mit Parvus am gleichen Tage, dem 13. April 1917. Parvus hatte auf Lenins Eintreffen in der schwedischen Hauptstadt gewartet und sich um eine neuerliche persönliche Begegnung mit ihm bemüht, „[…] aber Iljitsch weigerte sich, nicht nur ihn zu empfangen, sondern trug mir, Worowski [Vorovskij]85 und Hanezki [Hanecki] auf, zusammen mit schwedischen Genossen diesen Versuch zu protokollieren. Der ganze Tag verging in Besprechungen, 82 Radek, a.a.O., S. 86. 83 Foto aus Privatbesitz von Vicke Malmström, in: Futrell, Bild 11 gegenüber S. 160. 84 Radek, a.a.O., S. 86f. 85 Vorovskij (polnisch: Worowski), Vaclav Vaclavovič (1871–1923); Pseudonym: Orlovskij (Orlowski); aus Polen stammender Ingenieur, Parteijournalist und Literat; Altbol´ševik; seit 1916 Repräsentant der Firma Siemens-Schuckert in Stockholm; als Sowjetdiplomat u.a. 1922 am Zustandekommen des Rapallovertrags beteiligt; 1923 in Genf ermordet, würdigte Radek ihn mit dem Nekrolog: „Wazlaw Worowskis letzte Fahrt“, Berlin, 1923.

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wir kehrten hin und her, aber vor der Abreise Lenins fand noch einmal eine wirkliche Beratung statt.“86

Die „wirkliche Beratung“, war ein vertrauliches Gespräch mit Parvus, zu dem Radek von Lenin ermächtigt worden war und dessen Thema nur die deutsche Hilfe für die Bol’ševiki gewesen sein kann. Was im Einzelnen besprochen wurde, blieb unbekannt. Offenbar bot Parvus jedoch den Bol’ševiki ohne Umschweife seine Unterstützung im Kampf um die Macht in Petrograd an und sie nahmen in der Person Radeks das Angebot an.87 Dafür spricht, dass Parvus im Anschluss daran sofort nach Kopenhagen fuhr, um dem deutschen Gesandten von Brockdorff-Rantzau zu berichten und am 18. April nach Berlin weiterreiste, um im Auswärtigen Amt konkrete Vorschläge für die Unterstützung der Bol’ševiki zu unterbreiten. Im Bestreben Russland zu neutralisieren und in der Annahme, dass die Men’ševiki Entente-Gelder erhielten, begann die Reichsregierung in der Folge, Lenin über Parvus, der wieder nach Stockholm zurückgereist war, erhebliche Finanzmittel zur Verfügung zu stellen.88 Als die Reisegruppe Lenins nach knapp zehnstündigem Aufenthalt am frühen Abend des 13. April 1917 Stockholm wieder verließ, um mit der Bahn nach Russland weiterzufahren, blieb Radek zurück, um „in der Eigenschaft eines Vertreters des [bolschewistischen] ZK für die Verbindungen mit dem Ausland“89 gemeinsam mit Hanecki und Vorovskij das Auslandsbüro des Zentralkomitees zu etablieren, in dem Parvus dann häufig verkehrte und sich fast wie ein viertes Mitglied der Gruppe aufführte. Das über die Verbindung zum deutschen Proletariat hinausreichende Aufgabenprofil dieses westlichen Vorpostens der Bol’ševiki macht ein ungeduldiger Brief Lenins aus Petrograd vom 25. April 1917 in Umrissen deutlich: „An die Genossen Hanecki und Radek […]. Liebe Freunde! Bis jetzt haben wir nichts, absolut nichts: wir haben weder Briefe noch Pakete, noch das Geld von ihnen erhalten […]. Schreiben Sie für die ,Prawda‘ Artikel über die Außenpolitik – ganz kurze und im Geiste der ,Prawda‘ […]. Ebenfalls ganz kurz über die deutsche revolutionäre Bewegung und die Presse der Linken. Schreiben Sie uns, wie es bei den schwedischen Linken aus-

86 Radek, a.a.O., S. 87. 87 Chavkin, a.a.O., S. 51. 88 Vgl. Scharlau/Zeman, S. 257–260 und Shub S. 459f. Unter Berufung auf Eduard Bernstein beziffert Shub die Lenin zu Verfügung gestellte Summe auf über 50 Millionen Goldmark. Chavkin (a.a.O., S. 43) nennt 50–60 Millionen Goldmark; Schätzungen aus anderen Quellen schwanken zwischen 20 und 100 Millionen Goldmark, sodass Bernsteins Angabe wohl nicht unrealistisch ist. Die Gelder leitete Hanecki über seine Verwandte Evgenija Sumenson, Petrograder Repräsentantin der Schweizer Firma Nestlé, an den für die Bol´ševiki tätigen polnischen Rechtsanwalt Mieczysław Kosłowski [Kozlovskij], (1876–1927) in Petrograd. Wolkogonov, Lenin, S. 114f. 89 Radek, Avtobiografija, Sp. 163.

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sieht. Wir hörten, daß der Chauvinist Branting90 gegen Radek hetzt […]. Schreiben Sie öfter, seien Sie äußerst sorgfältig und vorsichtig, wo es um Kontakte geht.“91

Neun Tage später flossen die ersten Gelder aus Stockholm nach Petrograd. Nach späterer verharmlosender offizieller sowjetischer Version handelte es sich dabei um „Beträge des ZK der SDAPR [RSDRP], die im Ausland geblieben und offensichtlich von Lenin für Parteizwecke angefordert worden waren“92. Danach folgten weitere Summen, und es besteht kein Zweifel daran, dass es sich dabei um den illegalen Transfer der deutschen Hilfsgelder nach Russland gehandelt hat. Die Bol’ševiki haben die deutsche Unterstützung selbstverständlich immer bestritten und Radek versuchte „sämtliche Spekulationen, Lenin sei ,vom Kaiser bestochen‘ worden“ mit einer Anekdote ad absurdum zu führen: „Während der Eisenbahnfahrt, die ihn heim nach Rußland brachte, wurde Lenin ziemlich schlecht, und er meinte, jetzt würde ihm ein kräftiger Schluck Alkohol ziemlich gut tun. ,Ein Jammer, daß des Kaisers Millionen uns nicht wenigstens zu einem Schnaps verhelfen können‘, sagte er […].“93 Nach dem gescheiterten bolschewistischen Juli-Putsch in Petrograd ließ die russische provisorische Regierung von ihr abgefangene Telegramme veröffentlichen, die massive Hinweise auf die über Parvus-Helphand und das bolschewistische Auslandsbüro in Stockholm an Lenin fließenden Gelder der deutschen Regierung enthielten. Lenin und Zinov’ev tauchten unter, um sich Strafverfahren wegen Hochverrat und Organisation eines bewaffneten Aufstands zu entziehen. Um Schadensbegrenzung bemüht, nahm das Stockholmer Auslandsbüro in der „Russischen Korrespondenz Pravda“ gegen ein angeblich von der Provisorischen Regierung gegen die Bol’ševiki inszeniertes geheimdienstliches Komplott Stellung.94 In einem Radek zugeschriebenen äußerst doppeldeutigen Artikel wurde behauptet, die bolschewistische Partei habe niemals einen Groschen von Parvus bekommen und dieser habe auch niemals Geld angeboten.95 Auch Parvus, von der bürgerlichen Petrograder Zeitung „Reč’“ bezichtigt, die Schlüsselfigur der deutschen finanziellen Unterstützung und ein „Agent Kaiser Wilhelms II.“ zu sein, stritt das ab und ging gerichtlich gegen diese angeblichen Verleumdungen vor.96 Im Interesse einer weiteren Verschleierung der deutschen Finanzhilfe, reiste Radek aus Stockholm nach Kopenhagen, um die Angelegenheit 90 Branting, Karl Hjalmar (1869–1925); Mitbegründer der Schwedischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der als Parteiführer einen reformistischen Kurs und im Februar 1917 den Ausschluss der Parteilinken durchsetzte; seit 1920 wiederholt Ministerpräsident; 1922 Friedensnobelpreis. 91 Lenin an Hanecki und Radek, 25. April 1917. Lenin, Werke, Band 36, S. 433f. 92 Ebenda, Anm. 522. 93 Meyer-Leviné, S. 361. Radeks Geschichte diente zwar der Desinformation, war aber nicht einmal falsch, denn in der Tat wurden die deutschen Gelder erst Wochen n a c h der Fahrt im „plombierten Wagen“ bereitgestellt. 94 „Russische Korrespondenz Pravda“, Nr. 11 vom 22. Juli 1917; Nr. 14 vom 31. Juli 1917. Lerner, S. 191f, Anm. 17 und Scharlau/Zeman, S. 270ff. 95 Koenen, S. 121f. 96 Chavkin, a.a. O., S. 51–54; Heresch, S. 284–332.

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mit Parvus zu besprechen. Er erreichte ihn jedoch nicht und hinterließ einen Brief an den Gesuchten: „Sehr werther Herr Parvus! Ich telephoniere und telephoniere und kann mich nicht mit ihnen verbinden. Nun bleibt nichts übrig als schriftlich zu rekapitulieren […]“.97 Zwei Tage später antwortete Parvus dem „Werten Genossen“ Radek in einem Brief nach Stockholm, dass er Klage gegen den russischen Korrespondenten der „Reč’“ in der dänischen Hauptstadt erhoben habe und damit befasst sei, eine Verteidigungsschrift mit dem Titel „Die russischen Justizmörder und ihre Helfershelfer in Kopenhagen“ zu publizieren.98 In Stockholm hatte Radek alle Hände voll zu tun und wurde bald zur dominierenden Persönlichkeit des Auslandsbüros. Neben der Tarnung und diskreten Abwicklung des deutschen Förderprogramms war man damit befasst, nützliche politische Verbindungen anzuknüpfen, Informationen zu sammeln und bolschewistische Propaganda in Westeuropa zu verbreiten. Ein Ziel der Propagandatätigkeit bildete die Zerstörung der II. Internationale und die Sammlung der Zimmerwalder Linken als Kern einer neuen revolutionären Internationale. Damit begann in Stockholm für Radek „eine Periode der Arbeit, die nicht nur etliche Monate dauerte, sondern auch voller interessanter Ereignisse war.“99 Offiziell war er als der Korrespondent der Petrograder und der Moskauer „Pravda“ in Stockholm tätig100, und er versuchte zunächst über seine Verbindungen in die Schweiz und nach Holland den Standpunkt der Bol’ševiki publizistisch zu verbreiten. Anfang Mai 1917 schrieb er an Ernst Nobs in Zürich: „Lieber Genosse Nobs! Anbei eine geschlossene Artikelreihe: Friede und russ[ische] Rev[olution]. Es sind drei Artikel, aber die Sache ist wohl von einer Wichtigkeit, die den Raum wohl beanspruchen kann. Sie sind für die Petersb[urger] Prawda geschrieben […]. Falls Sie gegen mein Erwarten die Artikel nicht bringen wollten, bitte […] die Artikel sofort Tribune, Amsterdam […] senden.101

In dieser Artikelserie mit dem Titel „Die russische Revolution und der Friede“, fasst Radek zunächst noch einmal die zuvor in der „Arbeiterpolitik“ veröffentlichte Untersuchung „Die Triebkräfte der Russischen Revolution“ sowie den Aufsatz „Bürgschaften“ zusammen, um dann noch einen Schritt weiterzugehen und festzustellen, die Analyse der internationalen Situation ergebe, die weltrevolutionäre Situation sei jetzt eingetreten: 97 Brief Radeks an Parvus vom 17. August 1917. Heresch, S. 324. 98 Brief Parvus an Radek vom 19. August 1917. Heresch, S. 325. 99 Radek, Avtobiografija, Sp. 163. 100 Mayer, Gustav, Bericht aus Stockholm, 6. Juni 1917. Lademacher, Band 2, S. 518. 101 Radek an Nobs, 3. Mai 1917; in: Lademacher, Band 2, S. 688f. Der Artikel erschien weder im „Volksrecht“ noch in „De Tribune“. Er wurde jedoch im Amsterdamer „Der Kampf. Revolutionär- Sozialistisches Wochenblatt“ veröffentlicht. „De Tribune“ brachte am 22. Mai 1917 lediglich Radeks Zuschrift aus Stockholm „De russische Revolutie vooraan!“

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„Der Weltkrieg hat in allen Ländern eine Zuspitzung der Klassengegensätze gebracht, die die Lage überall objektiv revolutionär gestaltet. Die russische Revolution ist die erste Frucht dieser Lage […]. Je mehr sich die Kämpfe in Russland verschärfen, je klarer sie proletarischen Charakter annehmen […] desto schneller wird die Entwicklung der russischen Revolution auf alle kriegführenden Länder sein […]. Der einzige Verbündete der russischen Revolution ist die europäische, diese kann aber nur dadurch gefördert werden, daß die russische Arbeiterklasse als Vorkämpferin des Friedens gegen ihre eigene Bourgeoisie in schärfster Weise vorgeht […]. Wir sichern nicht nur vorübergehend die Revolution in Rußland, sondern weiten ihre Basis aus, machen sie zum Glied einer Kette.“102

Allerdings könne die Geschwindigkeit der revolutionären Entwicklung nicht genau prognostiziert werden. Sollte die proletarische Revolution in Russland aber noch vor der in Deutschland siegen, so würden die Bol’ševiki im Hinblick auf den sozialistischen Umbau der russischen Gesellschaft vollendete Tatsachen schaffen und die errungene Macht gemäß dem französischen Beispiel von 1793 nach innen und außen verteidigen: „Das Tempo der Entwicklung der Ereignisse lässt sich nicht im vornherein exakt bestimmen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Ereignisse in Deutschland nicht schnell genug vor sich gehen werden, um die deutsche Regierung schon jetzt lahmzulegen. Sollten wir aber in Russland über das Kapital siegen, so müssten wir die Gewalt ausnützen, um die Banken, Fabriken, den Grund und Boden der Feudalen in die Hand zu nehmen. Die Arbeiterklasse Russlands würde dann, falls das ausländische Proletariat weiter Knecht des Imperialismus bleiben würde, die eigene Herrschaft zu verteidigen haben, die Situation von 1793 wäre da […].“103

Im Kern war das der Inhalt von Lenins Thesen vom 17. April 1917, in denen er nach seiner Rückkehr nach Russland sein Aktionsprogramm mit der Forderung nach der sozialistischen Revolution – „Alle Macht den Sowjets“ –, der Errichtung einer Sowjetrepublik sowie der Verstaatlichung der Banken und des Grundbesitzes formuliert hatte. Auch gegenüber dem parteiloyalen Sozialdemokraten und Internationalisten Gustav Mayer, der sich aus eigenem Antrieb als Informant der deutschen Reichsregierung in Stockholm aufhielt und dies als „Mission im vaterländischen Interesse“104 verstand, machte Radek aus den Absichten der Bol’ševiki keinen Hehl. Am 8. Juli 1917105 lud er ihn zum Tee zu sich ein und versprühte revolutionären Optimismus. Er sagte ihm, „daß er sich vorläufig nicht entschließen könne, auch für den kommenden Winter in Stockholm eine Wohnung zu mieten, weil er hoffe, 102 Lademacher, a. a. O., S. 689. 103 A.a.O., S. 692. 104 Mayer, Gustav, S. 409. 105 Ebenda, S. 276. Lerner, S. 62, datiert die Unterredung fälschlich auf Anfang August 1917.

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dann bereits in Petrograd eine leitende Stellung zu bekleiden. Er eröffnete ihm, was die Bol’ševiki nach einer Machtübernahme in Russland planten sowie seine Deutschland-Perzeption: „Sie würden als erstes die Zahlung der Zinsen an das kapitalistische Ausland einstellen, die Hand auf alle Banken legen und die Fabriken selber übernehmen. Sie würden die großen Grundbesitzer enteignen und durch die Verteilung des Landes an die Bauern die Massen so fest an ihre Partei ketten, daß die Soldaten Gewehr bei Fuß in guter Manneszucht die Grenzen während der wenigen Monate bewachen würden, bis die deutsche Revolution den Frieden herbeiführen werde‘. Dabei betrachtete Radek sich nicht im mindesten als einen Feind Deutschlands oder gar deutschen Kultur, aber er war überzeugt, daß das Schicksal der Weltrevolution, auf die er hoffte, sich zuerst in Deutschland entscheiden müßte.“106

Er ging völlig zutreffend davon aus, dass Mayer über das Gespräch postwendend nach Berlin berichten würde. Mayer interpretierte die Äußerungen Radeks zur Wohnungsfrage dann auch dahingehend, dass ein bolschewistischer Staatsstreich in Petrograd unmittelbar bevorstehe und im Hinblick auf die von seinem Gesprächspartner prognostizierte Revolution in Deutschland, vermerkte er später: „Man wird im Auswärtigen Amt schwerlich erbaut gewesen sein über die Prophezeiung des galizischen Juden, daß bis zum neuen Jahr [auch] ganz Deutschland in revolutionären Flammen stehen würde.“107 Radek benutzte ihn bei wiederholten Zusammenkünften absichtsvoll dazu, seine revolutionäre Zuversicht und die politischen Positionen der Bol’ševiki an die deutsche Reichsregierung zu übermitteln. Vor Mayer als deutschem Informanten gewarnt, meinte er gewollt blauäugig: „Mayer wird sicherlich dem Auswärtigen Amt nur das schreiben, wovon er selbst wünscht, daß man dort davon Kenntnis nimmt“108. Neben diesen Versuchen Radeks, deutsche außenpolitische Positionen indirekt zu beeinflussen, kam es im August 1917 in Kopenhagen zu einer unmittelbaren Begegnung Radeks mit dem deutschen Gesandten von Brockdorff-Rantzau, der unterstützt von Parvus-Helphand auf die Revolutionierung Russlands setzte. Mayer berichtet, dass er bei seiner Rückreise aus Schweden nach Deutschland in Malmö zufällig auf Radek traf, der ihm mitteilte, „daß er nach Dänemark fahre zu einer Unterredung mit dem deutschen Gesandten“ und er kommentiert: „Es waren also schon damals die ersten Fäden gesponnen, die den holsteinischen Grafen später zur persona grata im Kreml machten.“109 Die Begegnung mit Radek, erinnert sich Mayer, „machte mir besonderen Spaß“:

106 Ebenda, S. 277. 107 Ebenda, S. 277. 108 Ebenda, S. 265. 109 Ebenda, S. 279.

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„Nach der nächtlichen Reise war ich in Malmö noch mit der Verzollung meiner Koffer befaßt, als ich dort meinen Radek geschäftig hin und her laufen sah, ohne daß er die geringste Notiz von mir zu nehmen schien. Dabei war ich trotzdem überzeugt, daß er meine Anwesenheit wahrgenommen hatte. Radek hatte auch keinen Blick für mich, als er, einem Zollbeamten folgend, dicht an mir vorübergehen mußte. Doch plötzlich, ohne daß er sein Gesicht wandte, drangen in mein Ohr die geflüsterten Worte: ,Mein Name ist Abrahamsohn‘. Ich saß schon einige Zeit behaglich in der Kajüte der Fähre, die nach Kopenhagen ging […] als Radek auftauchte, mit vergnügtem Gesicht direkt auf mich zukam und mich fragte, ob er bei mir Platz nehmen dürfe. Ich hatte natürlich nichts dagegen.“110

In Stockholm wohnte Radek unter dem Namen Sobelson anfangs bei Hanecki in der Birgerjarlsgatan 8 im Stadtzentrum.111 Als dann die deutschen Gelder zur Verfügung standen, mietete Hanecki ab Mai 1917 im Vorort Neglinge, ganz in der Nähe des mondänen Badeorts Saltsjöbaden, die „Villa Johanson“ an. Radek hatte seine Frau, die in Deutschland vorübergehend inhaftiert gewesen war112, nach Schweden nachkommen lassen und beide lebten nun zusammen mit dem Ehepaar Hanecki in der Villa, die auch zum Sitz des bolschewistischen Auslandsbüros wurde.113 In der Nachbarschaft hatte der Bankier Dr. Fritz Warburg114, Handelsattaché bei der deutschen Gesandtschaft in Stockholm, ebenfalls eine Villa für den Sommer gemietet und eines Nachmittags wurde die Aufnahme eines wohl unerwünschten persönlichen Kontaktes nur knapp vermieden, wie Gustav Mayer berichtet. Im Anschluss an eine Einladung in die Villa Johanson begleiteten Radek und seine Frau das Ehepaar Mayer bis an das nahe Parktor der Villa der Warburgs: „An dem warmen Augusttag stand das Ehepaar Warburg mit seinen Kindern, die Gäste schon erwartend, in der Nähe der Eingangspforte und so fehlte nicht viel dazu, daß die ,kommunistische‘ Internationale uns der ,kapitalistischen‘ direkt übergeben hätte. So wenigstens beurteilten die spaßhafte Situation, die sie herzlich belachten, Herr und Frau Radek.“115

Nicht unwahrscheinlich, dass diese drei Jahrzehnte später von Mayer niedergeschriebene launige Anekdote einen versteckten Hinweis auf die Verbindungslinien zwischen den deutschen Behörden und Lenins Bol’ševiki enthält. Fritz Warburg gehörte zu der bekannten Hamburger Bankiersfamilie und war während des Krieges als Mitarbeiter der deutschen Gesandtschaft augenscheinlich für die „geschäftlichen“ Ope110 Ebenda, S. 279f. 111 Futrell, S. 156 und Lenin, a.a.O., S. 433. 112 Radek, Avtobiografija, Sp. 163. 113 Mayer Gustav, S. 262f. und Radek an Nobs, 3. Mai 1917; in: Lademacher, Band 2, S. 689. 114 Warburg, Fritz Moritz (1879–1964), Dr. jur.; Bankier; 1915–1918 Sonderbevollmächtigter im Range eines Handelsattachés bei der deutschen Gesandtschaft in Stockholm. 115 Mayer Gustav, S. 278.

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rationen in Skandinavien zuständig. Auf der anderen Seite war die benachbarte Villa der Familien Hanecki und Radek nicht nur die Adresse der bolschewistischen Auslandsvertretung, sondern gleichzeitig der Sitz von Parvus’ Export-Import-Kontor, wo Hanecki und seine Frau Gisi als Chefbuchhalterin Geschäfte betrieben, welche die die alliierte Blockade umgingen und Telegramme und Überweisungen nach Petrograd schickten.116 Radeks Stockholmer politische Freunde waren Höglund und Nerman, die er seit Zimmerwald kannte und der linke Parlamentsabgeordneten Ström, die alle als radikale Internationalisten im Februar 1917 aus der Schwedischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Sveriges socialdemokratiska arbetarparti)/SAP“ ausgeschlossen worden waren. Gemeinsam mit Hanecki unternahm Radek den Versuch, sie auf Lenins Kurs zu bringen. Als die Linken sich im Mai 1917 als „Schwedische Sozialdemokratische Linkspartei (Svenska socialdemokratiska vänsterparti)“ konstituierten, nahmen beide am Gründungsparteitag teil, Radek als Vertreter der Bol’ševiki und Hanecki im Namen der seit kurzem wiedervereinigten polnischen Sozialdemokraten.117 Unter umständlichen Zeremonien erhielten sie das Wort. „Neben dem Präsidium lärmte eine Musikkapelle, die jeden Redner mit einem Tusch begrüßte. Der Vorsitzende schilderte, welche fabelhaften Leistungen der Betreffende vollbracht hätte, und dann folgte wieder ein Tusch. Endlich konnte der gemarterte Begrüßungsredner das Wort ergreifen und ein dritter Tusch setzte ein.“118 Radek rief zur Unterstützung des revolutionären Kampfes der Bol’ševiki in Russland auf, aber die neue Partei stand dem Leninismus damals noch völlig fremd gegenüber und es gelang ihm nicht, die schwedischen Genossen dafür zu begeistern. Auf einem während der Veranstaltung aufgenommenen Gruppenfoto ist Radek in einer für ihn ungewöhnlichen Aufmachung zu sehen: Mit gestutztem Bart, die Hakenpfeife im rechten Mundwinkel, steht er im Bewusstsein seiner neuen Würde als Vertreter des bolschewistischen CK im großen Abendanzug – Frack mit Seidenaufschlägen – neben, Hanecki im Kreise von in Straßenkleidung anwesenden bulgarischen Gästen und schwedischen Linkssozialisten.119 Als verdächtige Ausländer gerieten Radek und Hanecki bald in die Optik der schwedischen Polizei. Eines Tages bat Radek in einem dringenden Telefonat den sozialistischen Abgeordneten Ström um Hilfe, da die Polizei überraschend bei ihm und Hanecki eingefallen wäre. Als Ström deshalb im Polizeipräsidium intervenierte, wurde ihm mitgeteilt, es handele sich lediglich um eine Überprüfung der Pässe der beiden. Der von dem Parlamentarier über einen Freund informell unterrichtete schwedische Außenminister musste einräumen, dass die Polizei wichtigere Dinge zu tun habe, als unnötige Passkontrollen bei ausländischen Journalisten durchzuführen, 116 Koenen, S. 124. 117 Futrell, S. 157. Der Hauptvorstand und der Landesvorstand der SDKPiL hatten während einer Konferenz in Warschau im November 1916 ihre Streitigkeiten beigelegt und sich wiedervereinigt. 118 Münzenberg, S. 211. 119 Futrell, Bild 12 gegenüber S. 161.

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wobei er anmerkte, er könne sich nicht vorstellen, dass Radek sich über den Vorfall besonders aufgeregt habe. Dieser hat dann die Sache auch mit einer ironischen Bemerkung abgetan und blieb künftig von den Ordnungshütern unbelästigt.120 Entsprechend dem Auftrag Lenins schrieb Radek für die Petrograder „Pravda“ über die politische Lage in Deutschland, dem Land, das Lenin für den Schlüssel zur Weltrevolution hielt. Eine der Quellen für Radeks Berichterstattung war sein alter Freund Johann Knief, der in Deutschland Nachrichten über revolutionäre Strömungen sammelte und nach Stockholm übermittelte. Von dort sandte sie das Auslandsbüro „zur großen Freude Vladimir Il’jičs“ telegraphisch an die „Pravda“121. Lenins politische Gegner betrachteten diese Meldungen mit Argwohn und nahmen sie zum Anlass, die Bol’ševiki als fünfte Kolonne der Deutschen zu verdächtigen. Unter der Überschrift „Eine sonderbare Informiertheit“ stellte „Reč’“, die Zeitung der Konstitutionellen Demokraten (“Kadetten“) die hämische Frage, woher die bolschewistische „Pravda“ wohl ihre exklusiven Nachrichten aus Deutschland habe? Ende Mai 1917 antwortete Lenin mit dem Beitrag „Verachtenswerte Methoden“ auf die Unterstellungen, und bezeichnete Radek als seine Hauptquelle. Man habe die Nachrichten vor allem „[…] aus den Telegrammen und Briefen unseres Korrespondenten, des Genossen Radek, eines polnischen Sozialdemokraten, der eine Reihe von Jahren in zaristischen Gefängnissen zugebracht hat, über 10 Jahre in den Reihen der deutschen Sozialdemokratie tätig, wegen revolutionärer Agitation gegen Wilhelm und den Krieg aus Deutschland ausgewiesen wurde und eigens nach Stockholm übergesiedelt ist, um uns von dort aus zu informieren.“122

Für die bolschewistische Propaganda im Westen verbreitete Radek als Herausgeber ab Anfang Juni 1917 zuerst nur in hektographierten Exemplaren und danach im Druck die „Russische Korrespondenz Prawda“, ein halbwöchentliches Blatt, von dem bis November 1917 insgesamt 33 Nummern erschienen. Es handelte sich um ein deutschsprachiges Informationsbulletin für die westeuropäische sozialdemokratische Presse, das gleichzeitig in Genf in französischer Sprache herausgegeben und laut Radek „in der Arbeiterpresse breit verwertet“ wurde.123 Enthalten waren Übersetzungen aus der Petrograder und Moskauer „Pravda“, die Haneckis Frau besorgte und gelegentlich auch von Radek und Vorovskij verfasste Beiträge. Produziert wurde 120 Futrell, S. 156. 121 Radek, Avtobiografija, Sp. 165. Lerner (S. 59) erwähnt unter Bezug auf die gleiche Quelle, Knief habe sich 1917 zu einem Geheimtreffen mit Radek in Schweden eingefunden, was unzutreffend ist und ganz offensichtlich auf einem Übersetzungsfehler basiert. 122 „Pravda“ Nr. 58, 29. Mai 1917; Lenin, Werke, Band 24, S. 421. Lenins biographische Angaben zu Radek sind übertrieben. Zusammengerechnet war er nur etwas über ein Jahr in Warschau inhaftiert und lediglich knapp sieben Jahre in der deutschen Sozialdemokratie tätig; er wurde auch nicht aus Deutschland ausgewiesen. 123 Radek, Avtobiografija, Sp. 165.

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die Korrespondenz in der Villa in Neglinge unter einfachsten Bedingungen: „Das gesamte technische Personal bestand aus Frau Hanecki und mir“124, schreibt Radek. Da die Verbindungen nach Russland unterbrochen waren, bereitete es große Schwierigkeiten an Nachrichten und Zeitungen aus Petrograd zu gelangen, zumal die Provisorische Regierung bolschewistische Presseerzeugnisse an der Grenze beschlagnahmen ließ. Als Hanecki herausfand, dass das aus Zensurgründen verhängte russische Exportverbot nicht Zeitungen betraf, die in Finnland erschienen, verfiel man auf den Ausweg, das Blatt der finnischen Linkssozialisten „Suomen työmies [Der finnische Arbeiter]“ und das Organ der Bol’ševiki in Helsingfors [Helsinki] „Volna [Die Welle]“ auf dem Postweg zu beziehen“. Insbesondere „Volna“ enthielt nicht nur in großem Umfang Nachdrucke aus der „Pravda“, sondern die Redaktion in Helsingfors veröffentliche auch Interna aus der dort stationierten russischen Baltischen Flotte und weitere aktuelle Informationen, die sie über ihre direkte Telefonverbindung mit der russischen Hauptstadt erhielt. „Solchermaßen wurden wir mit allen wesentlichen Nachrichten versorgt“125, berichtet Radek. Der aus der finnischen Presse gewonnene Informationsvorsprung des bolschewistischen Auslandsbüros führte zuweilen zu skurrilen Konsequenzen. Als während des bolschewistischen Juliputsches 1917 Petrograd von bewaffneten Matrosen aus Kronstadt bedroht wurde, befahl die Provisorische Regierung dem Befehlshaber der Baltischen Flotte in Helsingfors, Vizeadmiral Verderevskij126, vier Zerstörer gegen die Aufständischen zu entsenden. In einem Folgebefehl von Kriegsminister Kerenskij127 wurde der Admiral angewiesen, diese Schiffe durch Unterseeboote versenken zu lassen, falls die Besatzungen sich den Aufständischen anschließen sollten. Verderevskij verweigerte den Befehl, wurde abgesetzt und wegen Hochverrat verhaftet. Der in der „Volna“ in Helsingfors veröffentlichte Geheimbefehl Kerenskijs wurde von Radek in der „Russischen Korrespondenz Pravda“ unter der Schlagzeile „Hochverräter Kerenskij“ nachgedruckt, woraufhin die Stockholmer Vertreter des von Sozialrevolutionären und Men’ševiki beherrschten Petrograder Sowjets prompt ankündigten, das Auslandsbüro und das bolschewistische Zentralkomitee ihrerseits wegen Hochverrat zur strafrechtlichen Verantwortung ziehen zu lassen. Es sei verboten, geheime Kriegsdokumente abzudrucken und es unterliege keinem Zweifel, dass das Auslandsbüro Nachrichten auf konspirativem Wege aus Helsingfors erhalte. Man verdächtigte die Vertretung der Bol’ševiki über eine geheime Funkverbindung zur Baltischen Flotte in Helsingfors zu verfügen. Nicht geneigt, „Volna“ als die tatsächliche Informationsquelle preiszugeben, lachte man im Auslandsbüro lauthals, als dort 124 Ebenda. 125 Ebenda und Futrell, S. 158. 126 Dmitrij Nikolaevič Verderevskij (1873–1946); Juni bis Juli 1917 Befehlshaber der Baltischen Flotte und Vizemarineminister der Provisorischen Regierung. 127 Kerenskij, Aleksandr Fedorovič (1881–1971); Rechtsanwalt; zunächst Kriegsminister und dann vom 20. Juli 1917 bis zur Oktoberrevolution Premierminister der russischen Provisorischen Regierung.

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in der Folge Spitzel auftauchten, die auskundschaften wollten, wo sich der vermutete Funkapparat befand.128 Die „Russische Korrespondenz Pravda“ diente jedoch nicht nur als Lenins Propagandaplattform nach Westen, sondern gelegentlich auch als Vehikel der Desinformation, etwa wenn es darum ging, wider besseres Wissen, den Vorwurf der Finanzierung durch das Deutsche Reich abzustreiten.129 Lenin war, selbst als er nach dem gescheiterten Petrograder Juliputsch der Bol’ševiki in Finnland untertauchen musste, noch um den guten Ruf seines Mannes in Stockholm besorgt, wenngleich auch nicht vorrangig aus Gründen der Fürsorge, sondern aus der Befürchtung heraus, durch wieder publik gewordene Einzelheiten aus dem Vorleben seines Mitarbeiters diskreditiert zu werden. Lenins politische Gegner in Petrograd führten eine Kampagne, die die bolschewistischen Führer als deutsche Agenten verdächtigte und hatten im Zusammenhang damit auch Radeks alte Jugendsünden zum Gegenstand ihrer Angriffe gewählt. Lenin forderte das Auslandsbüro auf, dem mit einem Dementi entgegenzutreten und sich darauf zu berufen, dass Radek bereits im Februar 1914 von der interfraktionellen Untersuchungskommission der russischen Sozialdemokratie voll rehabilitiert worden sei. Am 30. August 1917 schrieb er nach Stockholm: „[…] Erstens muß Radek nach Paris schreiben und die Protokolle des letzten Pariser Verfahrens (der verschiedenen Fraktionen der SDAPR [RSDRP]) gegen ihn beschaffen. Über dieses Verfahren hat Lunatscharskij [Lunačarskij] schon vor längerer Zeit in der ,Novaja Shisn‘130 berichtet und die Verleumder gebrandmarkt. Aber das genügt nicht. Man muß sich bemühen, die Protokolle zu beschaffen oder wenigstens das vollständige Urteil des Gerichts.“131

Radek, den in absentia seine Vergangenheit am Schauplatz Petrograd eingeholt hatte, wurde aufgefordert, über den Pariser Freispruch eine kleine Broschüre in russischer Sprache herauszugeben, „um die abscheulichen Verleumdungen dokumentarisch zu widerlegen.“132 Die von Lenin antizipierte Rechtfertigungsschrift erschien allerdings nicht, da sie zwei Monate später mit dem Sieg der bolschewistischen Oktoberrevolution politisch überflüssig geworden war. Mit der russischen Februarrevolution hatten Bern und Zürich ihre bisherige Bedeutung als Dreh- und Angelpunkt der internationalen sozialdemokratischen Opposition gegen den Krieg rasch eingebüßt. Stockholm war zum neuen Zentrum internationaler sozialistischer Aktivitäten geworden. In der schwedischen Hauptstadt, die gleichsam zu einer Auffangstation für neueste Nachrichten in Russland geworden 128 Radek, a.a.O., Sp. 166. 129 Karl Radek, Jakob Hanecki, V. V. Worowski: „Das Komplott gegen die russischen revolutionären Sozialdemokraten“; in: „Russische Korrespondenz Pravda“ Nr. 11, 22. Juli 1917. Lerner , S. 57. 130 Novaja Žizn’ [ Neues Leben], von Maksim Gor’kij herausgegebene Zeitschrift. 131 Lenin an das Auslandsbüro des ZK, 30. August 1917. Lenin, Werke, Band 35, S. 295f. 132 A.a.O., S. 296.

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war, glaubte man den Ereignissen im Osten näher zu sein133. Dort „wimmelte es förmlich von Spionen, Agenten der verschiedenen Regierungen, enttäuschten Journalisten, Indiskreten aller Länder“.134 Das von Camille Huysmans geleitete Sekretariat des Internationalen Büros der II.  Internationale, wie auch dessen linksgerichtete Konkurrenz, die Internationale Sozialistische Kommission (ISK) der Zimmerwald-Bewegung, hatten ihren Sitz nach Stockholm verlegt. In letzterer hatte es einen Führungswechsel gegeben. Ihr Sekretär, Robert Grimm, der im Frühjahr 1917 in Petrograd auf eigene Faust wegen eines Sonderfriedens mit Deutschland sondieren wollte, war von der Provisorischen Regierung als deutscher Agent bezichtigt und aus Russland ausgewiesen worden. Er wurde nach diesem politisch-diplomatischen Eklat von einer Untersuchungskommission der Zimmerwalder, der auch Radek angehörte, im Juni 1917 verurteilt, sein Amt als Vorsitzender der Internationalen Sozialistischen Kommission niederzulegen. Die Führer der Schwedischen Sozialdemokratischen Linkspartei, darunter Höglund, Nerman und Ström, bildeten daraufhin ein Komitee, das die Arbeit der ISK provisorisch weiterführte und Anželika Balabanova, die sich mittlerweile den Bol’ševiki angeschlossen hatte, zur Nachfolgerin Grimms bestimmte. Da Grimm durch seinen Lapsus die Zimmerwald-Bewegung in große Bedrängnis gebracht hatte, bestätigte die 3. Zimmerwaldkonferenz im Herbst 1917 den Beschluss über den Führungswechsel. Noch im Mai hatten Radek und Grimm in der ISK kooperiert, den zweiten Transport russischer Emigranten aus der Schweiz, darunter Manuilskij135, Martov, Lunačarskij, Rjazanov, Sokol’nikov136, auf dem Stockholmer Bahnhof begrüßt und auch gemeinsam am Gründungsparteitag der schwedischen Linkssozialisten teilgenommen.137 Jetzt war jedoch für Radek das Kapitel Grimm endgültig abgeschlossen und er zitierte rückblickend Lenin, der angeblich bereits in der Schweiz vor Grimms falschem Ehrgeiz gewarnt habe: „Er ist fähig, aus persönlichem Ehrgeiz irgendwelche Verhandlungen über den Frieden mit Deutschland zu beginnen und uns in eine peinliche Geschichte zu verwickeln. [...] Die Ahnung Iljitschs hat sich bekanntlich voll bewahrheitet. Grimm [...] hat [...] später dann von Petrograd aus ,seiner‘ Regierung Mitteilungen über die Friedensaussichten zukommen lassen, welche die schweizer Regierung dann wahrscheinlich an die Deutschen weitergegeben hat“.138 133 Lademacher, Band 1, S. XV. 134 Balabanoff [Balabanova], Erinnerungen und Erlebnisse, S. 166. 135 Manuilskij, Dmitrij Sacharovič (1883–1959); ukrainischer Bol’ševik; ab 1924 Komintern-Funktionär. 136 Sokol’nikov, Grigorij Jakovlevič; Pseudonym von G. J. Brilliant (1888–1939); Bol’ševik seit 1905; Emigrant in Genf; Nach der Oktoberrevolution „Pravda“-Redakteur, Volkskommissar für Finanzwesen und Unterhändler in Brest-Litovsk; später im Auswärtigen Dienst; 1937 im Prozess gegen Radek zu zehn Jahren Haft verurteilt und im Gefängnis ermordet. 137 Münzenberg, S. 211 und S. 213. 138 Radek, Im plombierten Wagen durch Deutschland; in: Platten, S. 82f.

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Aber, so fährt er fort: „Die Versuche, ihn als deutschen Spion oder Agenten hinzustellen, sind albern. Er wollte [nur] eine große Rolle spielen […].“139 Im Mittelpunkt der Politik der II. Internationale stand seit dem Frühjahr 1917 das Projekt einer großen internationalen sozialistischen Friedenskonferenz. Huysmans und die holländischen Mitglieder des Internationalen Sozialistischen Büros sowie skandinavische Sozialisten hatten am 15. April zu einem Treffen der sozialistischen Kriegsgegner im August in Stockholm aufgerufen, mit dem der internationale Sozialismus politisch wiederbelebt werden sollte. Das von den Men’ševiki beherrschte Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets forderte einen Monat später ebenfalls eine solche Konferenz und entschied sich am 11. Juni zur Zusammenarbeit mit den Initiatoren des Stockholmer Treffens. Als Ableger des Internationalen Sozialistischen Büros etablierte sich ein „Stockholmer Komitee“, das allerdings über Vorverhandlungen nicht hinauskam, weil die Regierungen der Entente-Staaten den teilnahmewilligen Sozialisten aus ihren Ländern die Pässe für die Reise nach Schweden verweigerten. Noch bevor es aber so weit gekommen war, beschloss auf einer Tagung in Stockholm vom 5.–9. Juli 1917 die Führung der Zimmerwald-Bewegung eine dritte Zimmerwald-Konferenz abzuhalten, um damit die Handlungsfähigkeit der linken Internationalisten zu demonstrieren, während Huysmans seine Friedenskonferenz nicht zustande bringen konnte. Lenin war den von Zimmerwald ausgehenden Friedensbemühungen, die über Kiental nun nach Stockholm führten, nur widerstrebend gefolgt. Jetzt, wo der Zar gestürzt war und die russische Revolution begonnen hatte, schien es ihm an der Zeit zu sein, „das verfaulte Zimmerwald zu begraben“. Auf der Maikonferenz der Bol’ševiki lehnte er jede weitere Zusammenarbeit mit Zimmerwald ab und forderte die unverzügliche Gründung einer neuen revolutionären III. Internationale, ohne sich aber gegen Zinov’ev und die Mehrheit der Partei durchsetzen zu können. Die Petrograder Bol’ševiki entschieden sich dafür, weiter in der Zimmerwald-Bewegung zu verbleiben, um zunächst die Stellung der von ihnen dominierten Zimmerwalder Linken weiter auszubauen. Lenin versuchte daraufhin Radek in Stockholm gegen Zimmerwald zu mobilisieren und schrieb ihm: „Ich stimme mit ihnen völlig überein, daß Zimmerwald ein entscheidendes Hindernis geworden ist – daß es notwendig ist, mit ihm zu brechen (sie wissen, daß ich mit der [bolschewistischen Mai-] Konferenz in diesem Punkt nicht übereinstimme). Es ist notwendig eine Konferenz der linken Internationalisten beschleunigt herbeizuführen, aber nur der linken. Schreiben Sie und teilen Sie mir mit, was Sie dafür tun können.“140

Obwohl Radek Lenins strategische Zielvorstellung einer neuen, der Weltrevolution verpflichteten Internationale grundsätzlich teilte, hielt er, wie schon zuvor im März 139 Ebenda, S. 83. 140 Lenin an Radek, 29. Mai 1917. Lerner, S. 62.

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in Zürich, den endgültigen Bruch der Linken mit Zimmerwald aber weiterhin für übereilt und taktisch falsch, wie er in seiner Autobiographie erwähnt: „Es ist notwendig anzumerken, daß Vladimir Il’ič in seinen Briefen aus Piter [russische umgangssprachliche Bezeichnung für St. Petersburg bzw. Petrograd] darauf beharrte, den Bruch mit den Zimmerwaldisten vorzunehmen, da er annahm, daß die Zeit zur Vorbereitung der Organisation der Dritten Internationale gekommen sei. Wir konnten uns nicht zu diesem Schritt entschließen und hielten ihn für verfrüht.“141

Radek vermied zwar den endgültigen Bruch mit Zimmerwald, aber er bemühte sich, die Position der Bol’ševiki innerhalb der Bewegung weiter auszubauen. Er tat alles um die Stockholmer Konferenz zu sabotieren und eine Teilnahme der Zimmerwalder an ihr zu hintertreiben. Am 20. Juli 1917 veröffentlichte die Zimmerwalder Linke einen von Radek initiierten Aufruf gegen die sozialdemokratische Friedenskonferenz und auf einer von der Balabanova zur Frage der Beteiligung anberaumten Sitzung der ISK am 1. August 1917, auf der er mit Hanecki und Vorovskij die Bol’ševiki vertrat, lehnte er jegliche Zusammenarbeit mit der II. Internationale ab. Er drohte mit dem Rückzug der Bol’ševiki aus Zimmerwald, für den Fall einer Beteiligung an der Konferenz.142 Gleichzeitig unternahm er den Versuch, aus den bereits für das Treffen angereisten Delegationen aus Deutschland, Österreich, Belgien und Ungarn Konvertiten für die Zimmerwalder Linke zu werben: „Wir versuchten Verbindung mit den linken Elementen aus all diesen Delegationen aufzunehmen, um dadurch Informationen über die Lage zu erhalten und Beziehungen zu denjenigen Elementen herzustellen, die fähig waren, sich zu Linken zu entwickeln.“143 Enttäuscht musste er feststellen, dass der Ungar Kunfi144 der einzige Sozialdemokrat war, der wie er selbst, an eine in Mitteleuropa unmittelbar bevorstehende Revolution glaubte. Den „jämmerlichsten Eindruck“145 machten in dieser Hinsicht auf ihn jedoch die Vertreter der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), die Anfang April 1917 aus der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft der Dissidenten in der SPD-Fraktion hervorgegangen war. Die neue Partei war sich zwar in der Ablehnung der Politik des SPD-Parteivorstands einig, aber in ihr herrschte Dissens über konkrete Schritte zur Beendigung des Krieges sowie über die gesellschaftliche Umwandlung des kaiserlichen Deutschlands. Radek, der bereits 1916 die Reichstagsabgeordneten der Arbeitsgemeinschaft als Sozialpazifisten, mit denen man keine Revolution machen könne, beschimpft hatte, warf den nach Stockholm gekom141 Radek, Avtobiografija, Sp. 166. 142 Balabanoff [Balabanova], My Life, S. 163. 143 Radek, a.a.O., Sp. 164. 144 Kunfi, Zsigmond (1879–1929), Dr. phil.; Publizist; Sozialist; 1918 einer der Führer der ungarischen Revolution; Unterrichtsminister und 1919 Volkskommissar der Räterepublik; danach im Exil in Wien. 145 Radek, a.a.O.

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menen USPD-Führern Hugo Haase und Wilhelm Dittmann erneut vor, lediglich verbalrevolutionär zu agieren und in Wahrheit die Revolution zu scheuen. Gustav Mayer, Beobachter vor Ort, meldete über Radeks Aktivität nach Berlin: „Der tätigste Agent dieser völlig extremen, die Landesverteidigung grundsätzlich ablehnenden [Zimmerwald-Kientaler] Richtung scheint hier in Stockholm gegenwärtig der bekannte Radek-Sobelsohn zu sein […]. Mit Lenin steht er in direkten Beziehungen […]. Radek, der mit der deutschen [SPD-] Mehrheit tödlich verfeindet ist, in dessen Augen aber auch Haase und Kautsky ziemliche Reaktionäre sind, scheint alles tun zu wollen, um die von der alten Internationalen vorbereitete Konferenz zu hintertreiben. Er schwört ganz auf die neue in Zimmerwald geborene Internationale […].“146

Während die Bemühungen um eine internationale sozialistische Friedenskonferenz fruchtlos blieben, fand die dritte Zimmerwald-Konferenz vom 5. bis 8. September mit Teilnehmern vor allem aus den sozialistischen Splitterparteien einiger kriegführender und neutraler Staaten in Stockholm statt. Sie stand völlig im Zeichen der Ereignisse in Russland. „Was tun, um Rußland zu helfen, die Revolution zu retten, war das Hauptleitmotiv, mit dem verglichen alles andere äußerst nebensächlich erschien.“147 Radek und Hanecki waren nominell als Delegierte der wiedervereinigten SDKPiL vertreten. De facto repräsentierten sie aber zusammen mit Vorovskij und Semaško148 die bolschewistische Gruppe. Von den Men’ševiki waren Aksel’rod und Ėrmanskij149 erschienen und unter den deutschen Delegierten befanden sich Haase und Ledebour als Vertreter der USPD. Anželika Balabanova, die den Vorsitz führte, beklagt die von Vorovskij, insbesondere aber von Radek inspirierte Radikalisierung des Treffens: „Äußerst peinlich und langwierig wurden die Debatten dadurch, daß die Meinungsverschiedenheiten der russischen Sozialdemokraten in heftiger Form gerade auf dieser Konferenz zwischen Bolschewiken, deren Sprachrohr Radek war, dem Menschewiki-Internationalisten Ermanski und dem Menschewik Axelrod […] ausgetragen wurden.“150

Radek begründet sein scharfmacherisches Auftreten damit, man habe „den Men’ševiki eine Schlacht liefern“ und die übrigen Zimmerwald-Parteien dazu zwingen wollen, „ihre Position gegenüber dem proletarischen Kampf [der Bol’ševiki] und den klein146 Mayer, Gustav, Bericht aus Stockholm über die Vorbereitungen zur internationalen Sozialistenkonferenz, 6. Juni 1917; Lademacher, Band 2, S. 518ff. 147 Balabanoff [Balabanova], Erinnerungen und Erlebnisse, S. 167. 148 Semaško, Nikolaj Aleksandrovič, Dr. med. (1874–1949); seit 1907 Emigrant in der Schweiz, in Frankreich und Bulgarien.; Nach der Oktoberrevolution Inhaber hoher Staatsämter im Gesundheitswesen. 149 Ėrmanskij, Osip Arkad’evič; Pseudonym von O. A. Kogan (1866–1941); menschewistischer Internationalist und Mitglied der Führung der Men’ševiki. 150 Balabanoff [Balabanova], a.a.O.

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bürgerlichen Strömungen in der russischen Revolution genau zu bestimmen.“151 In seinen Ausführungen während der Konferenz betonte er, die weltrevolutionäre Situation sei nun eingetreten. Er verlangte Solidarität mit den Bol’ševiki und die Radikalisierung der russischen Revolution, wobei er sich ausdrücklich zur Anwendung von Gewalt bekannte: „Mehr denn je liegt eine revolutionäre Situation vor. Damit sind unsere Streitfragen erledigt. Jede Partei, die nun die Massen nicht aufruft zum Strassenkampf, streicht sich selbst aus der Führung der gegenwärtigen revolutionären Parteien. Einen anderen Weg gibt es nicht. Wer mit den Kapitalisten zusammenarbeitet gehört nicht zu uns […]. In Russland verhandeln die Revolutionäre und die Sozialpatrioten mit Gewehren, ihre Argumente sind Kanonen […]. Der Sozialismus kann in Russland noch nicht verwirklicht werden, jedoch muß die Volkswalze in Bewegung kommen, in dem die Arbeiter die Produktionsmittel in die Hände bekommen.“152

Als Haase in der Debatte vorwurfsvoll erklärte, Radek habe einmal in seinem Beisein gesagt, im Falle eines Umsturzes, „werden entweder die anderen unsere Henker und wir die Opfer oder wir die Henker und die anderen unsere Opfer werden“ und das Auditorium unangenehm berührt mit „hört, hört!“ reagierte, quittierte der Angesprochene das ungerührt mit der Bemerkung: „Haases Erklärung schwächt unsere Meinung keinesfalls ab.“153 Im weiteren Verlauf der Tagung kam Haase auf die Frage der Gewaltanwendung zurück und fragte, ob die Bol’ševiki gegebenenfalls bereit seien, auch gegen oppositionelle sozialdemokratische Parteien gewaltsam vorzugehen. „Wir antworteten mit völliger Klarheit“, hält Radek fest, „daß wir, wenn wir die Macht erlangt hätten, gegen sogenannte sozialistische Parteien, die die Revolution verraten haben, Gewalt sowohl zulassen als auch anwenden würden.“154 Die Konferenz schloss mit der Verabschiedung eines Manifests, das durch eine aus siebzehn Mitgliedern bestehende Kommission, darunter Radek, die Balabanova, Haase, Ledebour und Ėrmanskij, entworfen wurde. Darin wurden die sozialdemokratischen Mehrheitsparteien bezichtigt, zu Handlangern ihrer Regierungen geworden zu sein. Nur die dem Sozialismus treugebliebenen Massen seien imstande, dem Krieg ein Ende zu bereiten. Weiter hieß es: „Auch die Lage in Rußland mahnt das internationale Proletariat zum Kampf […]. Nicht durch isolierte Streiks in einzelnen Ländern kann der Friede erzwungen werden. Die Stunde hat geschlagen zum Aufmarsch des Weltproletariats. Arbeiter und Arbeiterinnen 151 Radek, Avtobiografija, Sp. 166. 152 Protokoll der Stockholmer Zimmerwaldkonferenz, Diskussionsbeitrag Radek: „Zimmerwald und der Friede“, 8. September 1917. Lademacher, Band 1, S. 471. 153 Ebenda, Diskussion am 7. September 1917. Lademacher, Band 1, S. 470. 154 Radek, Avtobiografija, Sp. 166.

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kämpft für die Massenaktionen des internationalen Proletariats in jeder Werkstatt, wo es pocht, in jeder Hütte, wo man darbt.“155

Die Konferenzteilnehmer kamen überein, das Manifest, das zum Generalstreik für Frieden und Sozialismus aufforderte, erst dann zu veröffentlichen, wenn die Zustimmung der in Stockholm abwesenden Zimmerwalder aus den Ententeländern eingeholt worden sei. Radek allerdings, bestrebt seinen Genossen in Petrograd schnelle Unterstützung durch Streiks im Westen zu verschaffen, forderte die sofortige Publikation des Aufrufs „zu massenhaftem revolutionären Handeln zur Verteidigung der russischen Revolution.“156 Er drängte die ISK in „heftiger Form“ das Manifest nicht länger unter Verschluss zu halten, damit es seiner Wirkung nicht verlustig gehe, berichtet die Balabanova: „Nachdem er verschiedentlich persönlich und telephonisch auf der sofortigen Veröffentlichung des Manifestes bestanden hatte, schrieb Radek uns auch noch offiziell, er würde den Text des Aufrufes auf eigene Faust veröffentlichen, wenn wir es nicht sofort täten.“157 Die ISK gab Radeks Drängen nicht nach, bestärkt durch die USPD, die im Falle eines Bekanntwerdens des von ihr mitunterzeichneten Aufrufs zum Massenstreik Repressalien durch die deutschen Behörden befürchtete. Also machte Radek seine Drohung wahr, veröffentlichte das Manifest aber nicht in einer von ihm verantworteten Publikation oder einem der bekannteren linksradikalen Blätter, sondern lancierte es an eine der probolschewistischen finnischen Zeitungen, die es allerdings erst im November 1917 druckte, als die Oktoberrevolution diesen Schritt völlig überschattete.158 Es ist anzunehmen, dass Radek den Umweg der Veröffentlichung über ein kaum bekanntes Blatt in Helsingfors gewählt hat, um sich nicht als die Quelle der Indiskretion zu enttarnen, vor allem aber in der Absicht, dann den Zimmerwald-Aufruf in bewährter Weise aus der finnischen Presse „nachzudrucken“. Dazu kam es allerdings nicht mehr. Mit dem Sieg der Bol’ševiki in Petrograd sah auch die ISK alle Hindernisse für eine Veröffentlichung ausgeräumt, und auch die Balabanova wollte nun mit dem Manifest „den Helden und Siegern“ der Oktoberrevolution deutlich machen, „daß sie nicht allein stünden im Kampfe.“159 Damit blieb der durch Radeks Alleingang vorprogrammierte Eklat in der Zimmerwald-Bewegung ebenso aus, wie ein neuerlicher Skandal um seine Person. Unmittelbar nach dem Ende der dritten Zimmerwaldkonferenz begann Radek in Stockholm eine neue Zeitschrift mit dem Titel „Bote der Russischen Revolution – Organ der ausländischen Vertretung des Zentralkomitees der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (Bolschewiki)“ herauszugeben. Sie erschien wöchentlich in der Zeit vom 15. September bis zum 28. November 1917 in deutscher Sprache, 155 Balabanoff [Balabanova], a.a.O., S. 169f. 156 Radek, a.a.O. 157 Balabanoff [Balabanova], a.a.O., S. 172. 158 Legters, S. 33. 159 Balabanoff [Balabanova], a.a.O., S. 174.

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„wurde ganz legal […] nach Deutschland versandt und fand hier ihre Verbreitung.“160 Nominell fungierte der schwedische Linkssozialist Otto Grimlund161 als verantwortlicher Redakteur des Blattes, das in seiner Aufmachung nicht mehr den improvisierten Charakter der „Russischen Korrespondenz Pravda“ trug. Autoren waren vor allem Radek und Hanecki, zuweilen auch Vorovskij; die übrigen Artikel stammten aus der Feder Lenins, Trockijs und Zinov’evs. Radek prahlte damit, dass in einem Falle ein Beitrag Lenins durch ein „revolutionäres Unterseeboot“ angeliefert worden wäre.162 Inhaltlich handelte es sich nahezu ausschließlich um polemische Angriffe gegen die Provisorische Regierung unter Kerenskij und den Sozialpatriotismus, sowie die Propagierung des sozialistischen Internationalismus in Aufrufen zur Solidarität der Arbeiterklasse gegen den Krieg und zur Unterstützung der Bol’ševiki. Die beiden letzten Nummern enthielten dann nach Stockholm durchgesickerte Nachrichten über die Oktoberrevolution. Das von Radek publizierte Credo lautete zusammengefasst, die historisch zwangsläufige Folge der Februarrevolution sei die Errichtung der Herrschaft der Arbeiterklasse in Russland, wobei die Bol’ševiki als die einzige politische Kraft imstande seien, die bürgerliche in die proletarische Revolution überzuführen. Ihre bevorstehende Machtergreifung würde gleichzeitig den Beginn der internationalen proletarischen Revolution, der Weltrevolution, darstellen.163 Er folgte in seinen Ausführungen den Gedanken Lenins, der in seinem Exil in Finnland zu der Überzeugung gelangt war, die Zeit für den Sturz der Provisorischen Regierung sei gekommen. Die Machtergreifung des Proletariats bedeutete für Lenin selbstverständlich die Übernahme der Macht durch die Bol’ševiki. Im September 1917 schrieb er, dieser Schritt werde die Wünsche der Massen nach Frieden, der Bauern nach Land und der Arbeiter nach Sozialisierung der Fabriken erfüllen. Die Revolution in Russland werde von Revolutionen in anderen Ländern, in erster Linie in Deutschland begleitet sein. Verpasse man die Gelegenheit, so werde die Gegenrevolution die Macht an sich reißen.164 Zwei Beispiele verdeutlichen die drastischen Formulierungen, die Radek in seinen Artikeln für die Propagierung von Lenins Überlegungen benutzte: „Eine Welt liegt im Sterben. Wie lang ihre Zuckungen noch dauern werden, wie sehr ihr Kadaver die Luft verpesten kann, ein Kadaver ist sie doch und die Arbeiterklasse muß mit ihm aufräumen, wenn sie nicht selbst untergehen will.“165 und „[Die Geschichte] ist eine 160 Drahn, E. und Leonhard, S., Unterirdische Literatur im revolutionären Deutschland während des Weltkrieges, Berlin 1920. Legters, S. 34. 161 Grimlund, Otto Bernhard (1893–1942); sozialistischer freier Journalist und Politiker, später Kommunist. 162 Mayer, Gustav, S. 263. 163 Radek: „Die Revolution und der Bruch mit der Bourgeoisie in Russland“, „Bote der Russischen Revolution“, Nr. 4, 6. Oktober 1917, S. 1–5.; ders.: „Die Weltlage und die russische Revolution“, Nr. 7, 27. Oktober 1917, S. 4–7. Lerner, S. 63. 164 Vgl. von Rauch, Geschichte der Sowjetunion, S. 85. 165 Radek. a.a.O., Nr. 1, 15. September 1917, S. 6. Legters, S. 34.

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höchst undelikate Person: will man sie schneiden, so zieht sie sich nicht beleidigt zurück. Herr Kerenski kennt die Geschichte nur aus den Schulbüchern von Ilowajski166, er wird sie schmerzlich näher kennen lernen. Seine heroische Tat der Abschaffung der Monarchie ist nur ein Vorspiel zur Abschaffung des Herrn Kerenski und seines Regimes.“167

Anželika Balabanova bescheinigt Radek, er habe mit dem „Boten der Russischen Revolution“ der „heranreifenden proletarischen Revolution große Dienste erwiesen.“ Sie fährt fort: „Zu der Zeit, wo Rußland von der ganzen Welt abgeschnitten und von der gesamten bürgerlichen und sozialdemokratischen Presse nicht nur im Stich gelassen, sondern schamlos verleumdet wurde, in einem Moment, wo über Rußland Nachrichten verbreitet wurden, die angetan waren, auch den ausgebeuteten Klassen ein ganz entstelltes Bild von den Ereignissen zu geben, in solcher Zeit hatte auch eine kleine polemische Zeitschrift, die sich auf direkte Beziehungen mit Rußland berufen konnte, große Bedeutung.“168

In Petrograd hatten die Bol’ševiki die anarchischen Zustände des Sommers 1917 für Aufstandsvorbereitungen genutzt. Als Termin für die Erhebung hatte man den Beginn des II. Allrussischen Sowjetkongresses am 7. November (25. Oktober alter Zeitrechnung) 1917 vorgesehen. Eine Meuterei der Truppen in der Hauptstadt gegen die Provisorische Regierung bot am Abend des 6. November (24. Oktober) vorzeitig die Gelegenheit zum Losschlagen. Rotgardisten besetzten die strategisch wichtigen Punkte der Stadt. Am 7. November (25. Oktober) fielen im Winterpalais die Mitglieder der Provisorischen Regierung fast kampflos in die Hände der Aufständischen. Ministerpräsident Kerenskij gelang die Flucht. Am späten Abend des Revolutionstags trat im Smol’nyj169 der II. Allrussische Sowjetkongress zusammen. Als die rechten Sozialrevolutionäre und die Men’ševiki, als die im Kongress vertretenen beiden anderen sozialistischen Parteien, den Saal aus Protest gegen den bolschewistischen Aufstand verließen, rief Trockij ihnen höhnisch triumphierend nach: „Eure Rolle ist ausgespielt, schert euch hin, wo ihr von nun an hingehört – auf den Kehrichthaufen der Geschichte!“ Der Aufstand war geglückt; die Bol’ševiki waren an der Macht. Lenin, der sich nun zum ersten Mal seit dem Frühjahr wieder in der Öffentlichkeit zeigte, wurde von dem Rumpfkongress mit stürmischen Ovationen begrüßt. Am 8. November (26. Oktober) 1917 konstituierte sich die erste Sowjetregierung, der Sovnarkom [Sovet Narodnych Komissarov] genannte Rat der Volkskommissare 166 Ilovajskij, Dmitrij Ivanovič (1832–1920); umstrittener russischer Historiker und Publizist; Autor der mehrbändigen „Istorija Rossii [Geschichte Russlands]“ und schulischer Geschichtsbücher im Zarenreich. 167 Radek, a.a.O., Nr. 2, 22. September 1917, S. 4. 168 Balabanoff [Balabanova], a.a.O., S. 178. 169 Institut Smol’nyj: Vor der Revolution Erziehungsinstitut für Töchter des Adels, nun Hauptquartier der Bol’ševiki und Sitz der ersten Sowjetregierung.

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mit Lenin als Vorsitzendem und erließ die ersten Dekrete, in denen zur sofortigen Beendigung des Krieges aufgefordert und die Enteignung der Großgrundbesitzer verfügt wurde.170 In fieberhafter Erregung verfolgte Radek in Stockholm den bolschewistischen Putsch: „Der Kampf in Petrograd verschärfte sich mit jedem Tag, und wir warteten in schlaflosen Nächten auf die entscheidenden Nachrichten.“171 Am Abend des Revolutionstages saß er mit der Balabanova im Kreise schwedischer und russischer Genossen in einem Stockholmer Café und eilte alle paar Minuten ans Telefon, um die neuesten Informationen einzuholen. Die Balabanova war längst nach Hause gegangen172, als tief in der Nacht die Nachricht vom Sieg der Revolution durchkam und gegen Morgen brachte ein Journalist „die Meldung der Telegraphenagenturen mit der Rede Vladimir Il’ičs zur Eröffnung des II. [Allrussischen] Sowjetkongresses.“173 Im Auslandsbüro herrschte gehobene Stimmung und man verfasste sogleich ein Telegramm, das die Bol’ševiki in Petrograd zur Machtergreifung beglückwünschte. Als Radek den Text der Balabanova auf einer eigens aus Anlass der Oktoberrevolution einberufenen Sitzung der Erweiterten Internationalen Sozialistischen Kommission zeigte, fügte sie die Unterschrift der ISK hinzu, „um die Solidarität […] mit den revolutionären Siegern Rußlands kundzutun.“174 Die Stellung des bolschewistischen Auslandsbüros hatte mit dem Sieg der Bol’ševiki in Petrograd eine beachtliche Aufwertung erfahren. Es bildete jetzt die offiziöse Auslandsvertretung des neuen Regimes. Radek, Hanecki und Vorovskij vertraten nicht mehr eine kleine Gruppe von russischen Extremisten, sondern sie waren gewissermaßen zu inoffiziellen Botschaftern der neuen Regierung avanciert. Sie traten dementsprechend selbstbewusst auf.175 Der deutsche Diplomat Riezler176 machte Reichskanzler von Bethmann Hollweg in einem Bericht auf Radek aufmerksam. Er charakterisierte ihn als den energischsten und talentiertesten Vertreter der Bol’ševiki in Stockholm. Obwohl er als Student angeblich Bücher gestohlen habe und als ziemlich skrupellos gelte, sei er sehr klug und ein außergewöhnlich begabter Autor. Trotz aller ideologischen Prinzipien verschließe er sich opportunistischen Erwägungen nicht. Seine Betriebsamkeit und die Kenntnis deutscher Politik – selbst über geheime Angelegenheiten zeige er sich gut unterrichtet – würden ihm in Petrograd sicherlich Aufmerksamkeit für seine Ideen und Vorschläge verschaffen.177 170 Vgl. von Rauch, a.a.O., S. 84ff. 171 Radek, Avtobiografija, Sp. 166f. 172 Balabanoff [Balabanova], My Life, S. 171f. 173 Radek, a.a.O. 174 Balabanoff [Balabanova], Erinnerungen und Erlebnisse, S. 175. 175 Schurer, Part I., S. 65. 176 Riezler, Kurt (1882–1955); seit 1906 Diplomat im Auswärtigen Dienst; vertrauter Mitarbeiter Bethmann Hollwegs; September 1917 Leiter der russischen Sektion an der Gesandtschaft Stockholm; Legationsrat in Moskau April bis August 1918; Oktober 1918 bis Mai 1920 Leiter des Büros des Reichspräsidenten; seit 1927 Honorarprofessor in Frankfurt am Main. 177 Bericht Riezler, 12. November 1917. Zeman, S. 81.

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Durch die revolutionären Wirren war die Verbindung von Radek und Hanecki nach Petrograd unterbrochen. Sie beschlossen in die russische Hauptstadt zu reisen, um neue Instruktionen einzuholen. Zuvor verkündete Radek der Leserschaft im Westen in einem letzten Artikel im „Boten der Russischen Revolution“, der Sieg der Bol’ševiki habe zwar eine notwendige Vorbedingung für den Frieden geschaffen, aber man stehe noch am Anfang der Weltrevolution: Das Erwachen des Proletariats habe gerade erst begonnen.178 Der Balabanova schlug er vor, ihr Informations„Bulletin“ der Zimmerwald-Bewegung mit dem „Boten der Russischen Revolution“ zu verschmelzen und diesen zum offiziellen Organ der Internationalen Sozialistischen Kommission zu machen. Obwohl selbst Bolschewistin, lehnte die Balabanova als Sekretärin der ISK das Angebot ab179. Radeks Versuch, das „Bulletin“ als ein zentrales Steuerungsinstrument der politischen Meinungsbildung innerhalb der Zimmerwald-Bewegung unter seine Kontrolle zu bringen war damit fehlgeschlagen. Der „Bote“ wurde eingestellt und blieb Episode. Radeks Abreise nach Petrograd verzögerte sich, da ein Telegramm dem bolschewistischen Auslandsbüro den Besuch eines Abgesandten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands für den 17. November 1917 ankündigte. „Es stellte sich heraus“, schreibt Radek, „daß dieser Vertreter niemand anderer als Parvus war, der uns im Namen der deutschen Sozialdemokraten zur Begrüßung versicherte, daß sie beabsichtigten, mit uns unverzüglich in den Kampf für den Frieden einzutreten.“180 Parvus-Helphand überbrachte die Glückwünsche des SPD-Vorstandes und bat um Zustimmung zu einem Resolutionsentwurf der deutschen Partei, der die bolschewistische Revolution begrüßte und die Solidarität mit ihr betonte. Die Erklärung sollte auf zwei bereits für den 18. November angesetzten Massenversammlungen der SPD in Dresden und Barmen verabschiedet werden. Im Auslandsbüro hatte man keine Einwände, ergänzte das Papier aber noch um einen Passus, der den russischen Klassengenossen nicht nur Solidarität, sondern auch „energische Unterstützung“ versprach, womit Demonstrationen in Deutschland zugunsten des sowjetischen Friedensangebots gemeint waren.181 „Privatim“ versicherte Parvus, „daß Scheidemann und Ebert bereit seien, einen Generalstreik auszurufen, falls die Reichsregierung unter dem Druck des Militärs einem ehrenvollen Frieden nicht zustimmen würde.“182 Nachdem Parvus seine offizielle Mission erledigt hatte, führte er noch ein vertrauliches Gespräch mit Radek: „In einer persönlichen Unterredung bat er um 178 Radek, „Bote der Russischen Revolution“, Nr. 9/10, 17. November 1917, S. 15. 179 Balabanoff [Balabanova], a.a.O., S. 178f. Die Balabanova begründete ihre Ablehnung wie folgt: „Darauf konnten wir nicht eingehen, denn wenn wir auch bedingungslos die russische proletarische Revolution unterstützten, konnten wir uns nicht in den Dienst einer Fraktion, einer Richtung stellen, da wir doch nur ein ausführendes Organ einer ziemlich heterogen zusammengesetzten Organisation waren. Unsere persönliche politische Einstellung konnte dabei nicht maßgebend sein.“ Ebenda, S. 179. 180 Radek, Avtobiografija, Sp. 167. 181 Scharlau/Zeman, S. 285f. 182 Radek, Avtobiografija, Sp. 165. Ders., „Parvus“; in: Portrety i pamflety, S. 131.

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die Erlaubnis, nach einem Friedensschluß nach Petrograd zurückkehren zu dürfen“, um für die russische Revolution, für die Sowjetregierung, zu arbeiten. Er sei willens, sich einem Tribunal von russischen Arbeitern zu stellen und Rechenschaft über seine Politik abzulegen, sei aber davon überzeugt, niemals gegen die Interessen der Arbeiterklasse gehandelt zu haben.183 Er äußerte die Bitte, Radek solle Lenin seinen Wunsch persönlich vortragen und ihm die Entscheidung mitteilen. Die Botschaft der SPD und der private Auftrag Parvus-Helphands boten Radek Anlass genug, am 18. November 1917, dem bereits am Vortag aufgebrochenen Hanecki nachzureisen. Mit der Eisenbahn fuhr er durch die Fichtenwälder in Richtung Norden bis zur schwedischen Grenzstadt Haparanda, wo die breite Mündung des Flusses Tornionjoki die Grenze zum russischen Finnland bildet. Dort traf er auf Hanecki. Die Grenze war gesperrt und man wusste nicht, ob Tornio auf der finnischen Seite bereits in den Händen der Bol’ševiki war. Nach einer abenteuerlichen nächtlichen Überquerung der Grenzbrücke, trafen sie zu ihrer Erleichterung auf rote Matrosen, die die Grenze kontrollierten. Mit einer von Vorovskij in Stockholm verfassten Bescheinigung als Angehörige des bolschewistischen Auslandsbüros ausgewiesen, stellte man ihnen einen Sonderzug für die Weiterfahrt bereit184, und sie telegraphierten an Lenin: „KOMMEN MIT SONDERZUG NACH PETROGRAD. HABEN ÄUSSERST WICHTIGE MITTEILUNG. WÜNSCHEN SOFORTIGES ZUSAMMENTREFFEN.“185 Am 20. November 1917 erreichten sie die russische Hauptstadt. Sie waren seit Tagen ohne zuverlässige Informationen über die aktuelle Situation dort und Radek berichtet: „Es war gegen zehn Uhr früh, als der Zug in Petrograd einlief. Die Sonne zerstreute den Nebel. Ich klebte am Fenster. Das Steinmeer der Stadt mit grauem Licht getüncht. Wir näherten uns dem finnischen Bahnhof. Ein Platz weitet sich. Es blitzt und glitzert auf ihm. Ich schaue, schaue und schaue, und Freude steigt in mir auf: Reihe an Reihe übten die Arbeiter auf den Plätzen! Sie waren bewaffnet. Ich sah die erste Arbeiter-Armee, die nicht für den Kapitalismus, sondern für sich selber die Waffen erhob.“186

Die sehr bange Stimmung bei der Einfahrt in Petrograd habe sich beim Anblick der Roten Garden sogar in „wilde Freude“ verwandelt, schreibt Radek in seinen Memoiren, und weiter: „Wie im Traum kamen wir im Smol’nyj an und nach einer Minute waren wir in Lenins Arbeitszimmer.“187 Radek hatte das Ziel seiner Wünsche erreicht – er befand sich endlich im Zentrum der Revolution. *** 183 Ders., „Parvus“, a.a.O. 184 Ders., Avtobiografija, Sp. 167 und Lerner, S. 65. 185 Scharlau/Zeman, S. 287. 186 Radek, Brief aus dem Gefängnis Moabit an Max Barthel, 1919; in: Barthel, S. 58f. 187 Radek, Avtobiografija, Sp. 167.

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„Sicher ist, daß selten eine Reisegesellschaft so entscheidenden Einfluß auf die geschichtliche Entwicklung genommen hat wie jene, die unter Lenins Führung am 9. April 1917 Zürich verließ, um über Deutschland nach Leningrad [Petrograd] zu reisen.“188 An jenem Tag lachte und höhnte man über „das Trüpplein Fanatiker, über diese Weltbeglücker, bar jedes Wirklichkeitssinns“, unter denen Radek als einziger Nichtrusse mit zum Zürcher Bahnhof marschierte. „Wer in Westeuropa hätte 1917 zu prophezeien gewagt, daß diese armen Schlucker […] Führer und Lenker eines Hundertdreißig-Millionenvolkes werden könnten.“189 Entscheidend für Lenin war es, im richtigen Augenblick der russischen Revolution nach Petrograd zu gelangen. Für ihn spielte es keine Rolle, dass der „Klassenfeind“ ihm diese Möglichkeit bot und ihn auch noch finanzierte. Er durchschaute die Beweggründe des deutschen Entgegenkommens „über die man in den Kreisen der Emigranten lachte“190. Radek schrieb später voller Sarkasmus: „Die Deutschen hofften, daß wir Bolschewiki in Rußland die Rolle von Kriegsgegnern spielen würden und erklärten sich mit unseren Bedingungen einverstanden. Den Herrschaften, die deshalb noch immer über die Bolschewiki zetern, empfehle ich, die Erinnerungen Ludendorffs191 zu lesen, der sich heute noch die Haare darüber rauft, daß er die Bolschewiki durchließ; endlich hat er begriffen, daß er damit nicht dem deutschen Imperialismus, sondern der Weltrevolution einen Dienst leistete.“192

Mutmaßlich hat Radek mitgeholfen, die deutschen Wunschvorstellungen über die bolschewistischen Revolutionäre zu nähren. Er hatte im Schweizer Exil nachweislich Kontakte zu Verbindungsleuten des deutschen militärischen Nachrichtendienstes, an denen auch der spätere Außenminister der Münchner Räterepublik, Dr. Lipp193, beteiligt war.194 Obwohl im Einzelnen ungeklärt, scheinen sie aber bei der durch Radek angeregten Fühlungnahme zur deutschen Gesandtschaft in Bern keine Rolle 188 Münzenberg, S. 234. 189 Platten, S. 46f. 190 Ebenda, S. 58. 191 Ludendorff, Erich (1865–1937); General der Infanterie. Als Erster Generalquartiermeister der Obersten Heeresleitung gemeinsam mit Generalfeldmarschall von Hindenburg hauptverantwortlich für die deutsche militärische Kriegführung, hatte er dem Ersuchen des Auswärtigen Amtes zugestimmt, Lenins Reisegruppe die Durchfahrt durch Deutschland zu gestatten. 192 Radek, Im plombierten Wagen durch Deutschland; in: Platten, S.  83. Ludendorff schreibt in seinen Memoiren: „Indem unsere Regierung Lenin nach Rußland schickte, übernahm sie eine furchtbare Verantwortung. Vom militärischen Standpunkt aus war die Reise berechtigt, denn es lag die gebieterische Notwendigkeit einer Niederlage Rußlands vor.“ Ludendorff, Erich: Meine Kriegserinnerungen 1914–1918, Berlin 1919, S. 407. 193 Lipp, Franz (1855-?), Privatgelehrter; als USPD-Mitglied 1919 Volksbeauftragter für Äußeres der Münchner Räterepublik; kam nach deren Niederschlagung als geistesgestört in eine Nervenklinik. 194 Gerstl, M.: Die Münchener Räterepublik, München 1919, S. 34. Schüddekopf: Karl Radek in Berlin, S. 94.

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gespielt zu haben. Erst mit der Einschaltung von Rombergs gab Radek den eigentlichen Anstoß dazu, „den in der Zürcher Spiegelgasse sitzenden Weltrevolutionär [Lenin] wie den Geist aus der Flasche zu befreien.“195 Er setzte unbedingtes Vertrauen in die organisatorische Begabung und den politischen Instinkt Lenins196 und stand ihm zu dieser Zeit näher als Bol’ševiki wie Kamenev197, Stalin198 und Molotov, die ihn in Petrograd begrüßten.199 Obwohl Radek im Urteil Lenins keine scharfen Konturen gewinnt und dessen Aussagen über Radek nie von besonders herzlicher Zuneigung bestimmt waren200, hat er ihn jedoch keineswegs als unbeständig und charakterlos verachtet, wie die Balabanova behauptet.201 Auch die Lenin 1917 zugeschriebene Äußerung, „er verspüre nach jedem Gespräch mit ihm das Gefühl, sich von oben bis unten waschen zu müssen […]“202 ist – falls überhaupt zutreffend – wohl eher als Ausdruck momentaner Verärgerung, denn als ernstgemeinte Charakterisierung zu werten. Alfons Paquet hat diese drastische Schmähung notiert. Er hielt Radek, den er wenig später schätzten lernte und bewunderte, damals in Stockholm für eine entwurzelte Existenz, der der Kampf gegen alle überlieferten und bestehenden Ordnungen Lebensaufgabe war und sah in ihm ein „unverschämtes und unverantwortliches Großmaul“, dem er eine beinahe „welthistorische Herostratenrolle“ zuschrieb – eine Figur wie aus Schillers Räubern: Moor, Schweitzer, Schufterle, Kosinsky – in einem.203 Radek, auf dessen Mitfahrt im „plombierten Wagen“ Lenin so vehement bestanden hatte, verfügte über dämonischen revolutionären Schwung. Er war nicht der Typ des subalternen Adjutanten, wie Zinov’ev, sondern eine eigenwillige, Lenin kongeniale Persönlichkeit von ungewöhnlichem intellektuellen Format204 und ihm 195 Hahlweg, Lenins Rückkehr nach Rußland 1917, S. 30. 196 Mayer, Gustav, S. 276. 197 Kamenev, Lev Borisovič; Pseudonym von L. B. Rozenfel’d (1883–1936); führte 1917 die Bol’ševiki in Petrograd bis zum Eintreffen Lenins; seit der Oktoberrevolution Stellvertretender Vorsitzender des Rats der Volkskommissare (Sovnarkom); bildete nach Lenins Tod mit Stalin und Zinov’ev die sogenannte Führungstroika; als „Trotzkist“ 1926/27 aller Ämter enthoben und 1936 im 1. Moskauer Schauprozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. 198 Stalin, Iosif Vissarionovič; Pseudonym von I. V. Džugašvili (1879–1953); aktiver Revolutionär seit 1901; seit 1917 in hohen Staats- und Parteiämtern; 1922 Generalsekretär der RKP(b); nach Lenins Tod entmachtete er die Links- und Rechtsopposition in der Partei, machte sich zur unumschränkten Autorität des Bolschewismus und zum Diktator. Für den Aufbau des Terrorsystems in der Sowjetunion mit Millionen Opfern trägt er nach Lenin die Hauptverantwortung. 199 Legters, S. 32. 200 Möller. S. 13. 201 „I know that he [Lenin] despised Radek for his lack of character and inconsistency […]. [Ich weiß, daß er Radek wegen seinem Mangel an Charakter und seiner Unbeständigkeit verachtete […].“ Balabanoff [Balabanova], My Life, S. 283. 202 Paquet-Tagebuch, S. 20. 203 Ebenda. 204 Stadtler, S. 59.

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trotz gelegentlicher Differenzen loyal ergeben. Mit dem kritischen Blick des Gegners diagnostiziert der Men’ševik Oskar Blum: „[…] von allen, die in diesen Zeitläuften um Lenin kamen und gingen, stand ihm Radek am nächsten. Seiner elementaren Natur war die ulysseshafte Art Radeks am wohltuendsten. Sie ergänzten sich vortrefflich. In Lenins maschineller Struktur steckt – bei aller Nüchternheit – ein gutes Stück Lebensfremdheit. Radek ist wie jeder groß angelegte Abenteurer mit allen Wassern gewaschen. Er hat den Blick für die kleinen Bestandteile des Lebens, die mit in Rechnung genommen werden müssen. In Lenins algebraische Formeln setzt er arithmetische Formeln ein.“205

Lenin nahm es überraschend gutmütig hin, dass er gelegentlich zur Zielscheibe freundlicher Frotzeleien Radeks wurde. Nach der späteren Ikonisierung Lenins war es ein Sakrileg die von ihm vorgenommene Kontingentierung der Toilettenbenutzung im „plombierten Wagen“ zu erwähnen oder auch nur, dass der Sowjetführer sich in Stockholm vor der Weiterreise nach Petrograd neue Schuhe und Hosen gekauft hatte. Zu Lenins Lebzeiten herrschte hingegen unter den Revolutionären noch ein ziemlich ungezwungener Umgangston. Als Lenin Karl Radek einmal bei der Lektüre einer Sammlung seiner Artikel aus dem Jahr 1903 antraf, lachte er herzlich: „Ist es nicht sehr interessant zu lesen, was für Dummköpfe wir damals waren?“206 Ebenso amüsiert zeigte sich „der kühle Stürmer“207 aber auch über Radeks schnelle Begeisterungsfähigkeit, wie dieser berichtet: „Mich hat er oft verspottet, weil ich mich an den Menschen und an den Dingen zu rasch begeisterte […].“208 Anlässlich des Mordanschlags der rechten Sozialrevolutionärin Fanni Kaplan209 auf Lenin, eilte Radek in den Kreml’, scherzte mit dem Schwerverletzten und fragte mit Bezug auf die Attentäterin: „War sie wenigstens hübsch?“210 Als Sowjetfunktionär soll Radek für Tagungs- und Konferenzpausen kleine, burleske Einakter verfasst haben, die sich mit den Schwächen prominenter Genossen befassten. Darin nahm er auch mehrfach Lenin aufs Korn. Über einen witzigen und beziehungsreichen Sketch, in dem Radek Lenins Glatze durch den Apostel Paulus segnen ließ, hat der Betroffene angeblich selbst am meisten gelacht.211 Eine charakteristische Begebenheit kolportiert Rosa Meyer-Leviné: 205 Blum, S. 91. 206 Radek, „Lenin. K 25-letiju partii [Lenin. 25 Jahre Partei]; in: Portrety i pamflety, S. 21. 207 Radek über Lenin in dem Brief aus dem Gefängnis Moabit an Max Barthel, 1919; in: Barthel, S. 59. 208 Ebenda, S. 68. 209 Kaplan, Dora Fanni (“Fanja“) Efimovna (1890–1918); ursprünglich Anarchistin, dann rechte Sozialrevolutionärin; am 30. August 1918 verübte sie ein Revolverattentat auf Lenin und wurde deshalb am 3. September 1918 erschossen. 210 Paquet-Tagebuch, S. 138. 211 Belzner, S. 68f. und S. 167f.

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„Während der großen Auseinandersetzung um Brest Litowsk tauchte Radek bei einer Versammlung auf, ein dickes Bündel Bücher unter dem Arm, die er gerade von einem Freund zurückerhalten hatte. „Genau die richtige Zeit zum Romanelesen“, spottete Lenin. „Nun, da ich Sie bekämpfen werde und da Sie nicht davor zurückschrecken werden, mich einzusperren, habe ich mir gedacht, ich versorge mich besser gleich mit Lesestoff.“ Lenin klopfte ihm freundlich auf die Schulter. „Ich könnte schon, mein Schatz, ich könnte“, und beide lachten herzlich bei der Vorstellung; man betrachtete sie als einen guten Witz.“212

Wohl im Scherz hat auch Radek 1918 Lenin einmal mit der Verhaftung gedroht.213 Bei aller ironischen Vertraulichkeit im Umgang sprach Radek jedoch gegenüber Dritten immer durchaus „liebevoll“214 von Lenin als „unserem einzigen Genie“215 und nannte ihn voller Respekt „den Alten“.216 Deutet man Radeks Motivation psychologisch aus der Suche nach dem früh verlorenen Vater, so spricht einiges dafür, dass er ihn in Lenin unbewusst wiedergefunden hat. Ruth von Mayenburg217 beobachtete auf dem III. Weltkongress der Komintern im russischen Hungerjahr 1921 eine lesebuchreife Szene, in der Radek „bei der Ausspeisung am Kremlbuffet dem zerstreuten Lenin den leergegessenen Teller vorsichtig wegzieht und einen zweiten vollen Teller hinschiebt, damit Wladimir Iljitsch nicht gleich den anderen Genossen hungrig den Tisch verlasse.“ Wenn politische Streitfragen vergessen sind, schreibt sie, „dann möge unter dem Wust von Papier, in dem alles Sachliche aufgezeichnet ist, der fühlende Mensch jedoch darunter begraben liegt, eine winzige Geste herausragen, die Geste des Genossen Radek.“218 Ohne Zweifel hat die Mitfahrt in Lenins „plombiertem Wagen“ zur Mystifizierung Radeks und zur Legendenbildung um seine Person beigetragen. In der Öffentlichkeit blieb seine Stockholmer Mission weitgehend unbeachtet. Bereits sechs Jahre danach sah Oscar Blum ihn schon vor der Revolution mit Lenin bis nach Petrograd fahren: „Radek kommt unbekannt und unerkannt über die Grenze. Falscher Paß, ein wenig verändertes Aussehen haben schon manchem über die Grenzformalitäten geholfen. Übrigens war er ja im Gefolge Lenins. Nun hört man nichts mehr von Radek. Was tat er in der Voroktoberzeit? Wie lebt er in Petersburg? Keine Antwort. Man weiß nur von ein paar Reisen 212 Meyer-Leviné, S. 360. 213 Hard, S. 94. 214 Barthel, S. 68. 215 Matthias, Leo, S. 145. 216 Ebenda. 217 Mayenburg, Ruth von; Mädchenname und Pseudonym von Ruth Dichtl (1907–1993); österreichische Schriftstellerin; verheiratet mit dem KPÖ-Politiker Ernst Fischer; 1934 als KPÖ-Mitglied Emigration in die Sowjetunion; als Oberst der Sowjetarmee im 2.Weltkrieg im Propagandaeinsatz; nach Österreich zurückgekehrt, bis 1950 Generalsekretärin der Österreichisch-Sowjetischen Gesellschaft; 1965 Austritt aus der KPÖ. 218 Mayenburg, Hotel Lux, S. 102.

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nach Stockholm und Kopenhagen. Aber zu welchem Zweck? Darüber gibt das Dunkel, das ihn umgibt, keine Auskunft. Vor den Augen der profanen Welt erscheinter zum erstenmal nach dem vollzogenen Umsturz. Am 28. Oktober [alter Zeitrechnung] kann man ihn in den Wandelgängen des Smolny beobachten.“219

Die Aura des Geheimnisvollen um seine Person förderten seine journalistischen Pseudonyme sowie die Unternehmungen unter falscher Identität, aber auch seine überraschend gute Informiertheit, „selbst über geheime Angelegenheiten“, wie Riezler berichtet. Radek verfügte zu dieser Zeit sicherlich über keinen Zugang zu Staatsgeheimnissen welcher Art auch immer, aber er hatte die Angewohnheit, seine Gesprächspartner durch Mitteilsamkeit und scheinbare Offenheit zu verblüffen, um dann von ihnen leichter etwas Wertvolles zu erfahren.220 Sieht man von solchen Abschöpfungsergebnissen und von Johann Knief als Quelle gelegentlicher Exklusivinformationen ab, so basierten seine überraschenden Hintergrundkenntnisse hauptsächlich auf der systematischen und intelligenten Auswertung frei zugänglicher, wenngleich zuweilen rarer Presseerzeugnisse. Er ordnete sich die Welt jedoch mit dem Instrumentarium des „wissenschaftlichen Marxismus“ und erzielte erstaunliche analytische Ergebnisse, die seinen Nimbus als „ein unheimlicher Durchschauer der Welt“221 begründeten. So hatte er seit 1908 die Wahrscheinlichkeit eines Weltkrieges prognostiziert und bei der Abfahrt Lenins nach Russland den Zeitpunkt der bolschewistischen Machtergreifung ziemlich genau vorausgesagt. Mit der Lagebeurteilung, die Oktoberrevolution sei der Beginn der Weltrevolution, der Umsturz in Deutschland stehe unmittelbar bevor und das Überleben der russischen Revolution sei ohne die Unterstützung des europäischen Proletariats nicht gewährleistet, standen dem allerdings kapitale Fehlprognosen gegenüber, auch wenn er immer einschränkend hinzufügte, das Tempo der Entwicklung der Ereignisse lasse sich nicht exakt festlegen. In Stockholm agierte Radek als das „Sprachrohr“ und der „Horchposten“ Lenins: „Für die wichtige Mission, Europa auf das vorzubereiten, was die Bolschewisten planten […] und für die noch wichtigere ihn selbst auf dem laufenden zu halten für alles Bedeutsame, das sich im Westen und namentlich in Deutschland anbahnte, bedurfte Lenin in dem ihm noch am ehesten erreichbaren europäischen Lande eines Agenten von ungewöhnlicher Intelligenz. Dafür hätte er schwerlich eine geeignetere Person finden können als Karl Radek […]. Aus […] [seinen] Blättern [,Russische Korrespondenz Pravda‘ und ,Bote der Russischen Revolution‘] erfuhr die Welt vielleicht zuerst authentisch, was sich jetzt in dem revolutionären Krater im Osten zusammenbraute: was tatsächlich vor sich ging sowohl als was sich vorbereitete. Hier wurde kein Hehl mehr aus der Erwartung ge-

219 Blum, S. 88. 220 Mayer, Gustav, S. 195. 221 Belzner, S. 69.

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macht, daß auch im übrigen Europa und zuerst in Deutschland der Krieg in Revolution übergehen werde.“222

Gustav Mayer betont: „[…] am brennendsten interessierte alle [in Berlin] die Frage nach der Weiterentwicklung der russischen Revolution“223. Als Einflussagent Lenins war Radek erfolgreich bemüht, dem deutschen Informationsbedürfnis im Sinne der Bol’ševiki Rechnung zu tragen. Er verbreitete über verschiedene Kanäle die Botschaft, der Sieg der Bol’ševiki über die Provisorische Regierung sei lediglich eine Frage der Zeit. Durch Parvus, Gustav Mayer, Erzbergers Informanten Winz224 und Goldberg225, sowie über den Schweizer Sozialisten Karl Moor, der in Kopenhagen als Vertrauensmann für die Schweiz, für Österreich und für Deutschland arbeitete226, durch Kontakte zu Journalisten, wie Max Behrmann227 und Alfons Paquet228, aber auch durch Graf Brockdorff-Rantzau ließ er die deutschen Behörden dahingehend beeinflussen, dass die Tage Kerenskijs gezählt seien und Russland in Kürze eine „homogene sozialdemokratische Regierung“ erhalten werde.229 Mayer, der sich durch Radek über Russland „bis in die Einzelheiten hinein […] genau unterrichtet“230 fühlte, präzisiert, er habe über diese Informationen nicht nur ein Exposé für das Auswärtige Amt verfasst, sondern auch „verschiedenen amtlichen Persönlichkeiten mündlichen Bericht“ erstattet, „darunter einem Hauptmann von Hülsen231 von der politischen Abteilung des Generalstabes und im Auswärtigen Amt dem Minister v. Bergen232.“ Als ein Exponent der Zimmerwalder Linken in Stockholm wirkte Radek in der Zimmerwald-Bewegung als das trojanische Pferd der Bol’ševiki, auch wenn er sich weigerte, den von Lenin geforderten Bruch zu vollziehen. Er vermochte zwar Sym222 Mayer, Gustav, S. 262. 223 Ebenda, S. 286f. 224 Winz [Vinc], Leo; russisch-jüdischer Journalist; Vertrauter Erzbergers; „Leiter des Kopenhagener Büros des Nachrichtendienstes Erzbergers“. Paquet-Tagebuch, S. 253. 225 Goldberg: nicht identifiziert. 226 Vgl. Schüddekopf: Deutschland zwischen Ost und West. Karl Moor und die deutsch-russischen Beziehungen in der ersten Hälfte des Jahres 1919; in: Archiv für Sozialgeschichte, III, 1963, S. 223–240. 227 Behrmann, Max Theodor (1862–1924); Journalist; Mai 1915 – November 1918 Korrespondent der „Vossischen Zeitung“ in Stockholm. Paquet-Tagebuch, a.a.O. 228 Paquet war von 1916 bis Mitte 1918 Korrespondent der „Frankfurter Zeitung“ in Stockholm und stand dort im regen Gedankenaustausch mit Radek, Vorovskij, Parvus, Helphand und Diplomaten wie Riezler und Lucius von Stoedten (Hellmuth Ferdinand Eduard Freiherr L.v.S.; 1869–1934; deutscher Gesandter in Stockholm). Paquet-Tagebuch, S. 20. 229 Scharlau/Zeman, S. 261 und Mayer, Gustav, Bericht aus Stockholm über die Vorbereitungen zur internationalen Sozialistenkonferenz, 6. Juni 1917; Lademacher Band 2, S. 519. 230 Mayer, Gustav, S. 280. 231 Hülsen, Dietrich von (1878–1940); Hauptmann; seit Mitte 1916 Chef der Sektion Politik/Berlin, die der Politischen Abteilung des Generalstabes des Feldheeres unterstand. 232 Bergen, (Carl Ludwig) Diego von (1872–1944); Dr. jur.; Diplomat; 1917–1919 Leiter der Politischen Abteilung im Auswärtigen Amt und auch für die politische Subversion in Russland zuständig.

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pathisanten für die Sache der russischen Revolution zu gewinnen, aber es gelang ihm nicht, weitere Genossen in nennenswerter Zahl um sich zu sammeln und für Lenin zu mobilisieren. Sein Versuch, die Bewegung insgesamt für die Ziele der Bol’ševiki umzufunktionieren, misslang. Anželika Balabanova, nominell selbst eine Bol’ševiki, konterkarierte in ihrer politischen Naivität die Bestrebungen Radeks in dieser Richtung. Als Sekretärin der Internationalen Sozialistischen Kommission bildete sie den größten Gegensatz zu ihm. „Sie war eigentlich nichts weniger als eine Politikerin und ganz ungeschult in Bezug auf praktische Fragen. Trotz des orthodoxen Marxismus zu dem sie sich bekannte, war sie im Grunde eine ethische Idealistin“233. Selbst wenn sie Radek grundsätzlich unterstütze, stieß sie seine politische Skrupellosigkeit ab: „Obwohl wir Radek persönlich verabscheuten und ihn für einen vulgären Politiker hielten, wußten wir, daß die russische Revolution auf dem Spiel stand und in diesem Augenblick war die Revolution der einzige Hoffnungsschimmer am schwarzen Horizont.“234 Damit verkörperte sie die ambivalente Haltung vieler Zimmerwalder, die Radek als Person ablehnten, ihn jedoch um der Sache der Revolution willen, notgedrungen tolerierten. Keineswegs so negativ urteilt der im Auftrag des Auswärtigen Amtes in Stockholm sondierende Gustav Mayer; für ihn war Radek „die stärkste geistige Persönlichkeit“235, der er in der schwedischen Hauptstadt begegnete und „bei allem Fanatismus und bei aller doktrinären Verbohrtheit ein ungewöhnlich gescheiter, scharf, freilich übersichtig blickender und die Zusammenhänge unter grossen Gesichtspunkten ordnender politischer Denker“236. Selbst Jude und in der deutschen Kultur verwurzelt, rechnet er Radek zu den traditions- und bindungslosen „Ostjuden und Russen“, für die als „die Neuen, die Jungen“ das alte Europa, an dem sie keinen Anteil haben, dem Untergang geweiht ist. Nach einem Gespräch mit Radek hielt er fest: „Aus Krieg und Revolution sehen sie die Umrisse einer anderen Welt auftauchen; und daß sie all ihr Wirken, muß es sein auch ihr Leben, dieser neuen Welt ins Fundament mauern versteht sich ihnen von selbst. Unsere Generation – das ist Radeks Ansicht – wird nicht mehr zur Ruhe kommen, auch ihm selbst werde, bis er eines Tages hingerichtet würde, schwerlich, falls nicht etwa im Gefängnis, die Muße vergönnt sein, jene Bücher zu schreiben, die er im Kopf trage.“237

Schon die Bemerkung zu Münzenberg bei der Abfahrt in Zürich, man werde entweder in sechs Monaten Minister sein oder hängen, lässt erkennen, dass Radek irgendwie damit rechnete, im Verlauf der russischen Revolution sein Leben zu verlieren, 233 Mayer, Gustav, S. 275. 234 Balabanoff [Balabanova], My Life, S. 167. 235 Mayer, Gustav: Brief an seine Frau vom 9. Juli 1917, in dem er über ein Gespräch mit Radek am Vortag berichtet. Mayer, G., S. 268. 236 Mayer, Gustav, Bericht aus Stockholm über die Vorbereitungen zur internationalen Sozialistenkonferenz, 6. Juni 1917; Lademacher, Band 2, S. 519. 237 Ebenda.

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wobei er, wie Haase hörte, lieber Henker als Opfer sein wollte. Er bejahte die Anwendung von Gewalt, nicht nur im revolutionären Bürgerkrieg „zur Entthronung einer Klasse“, sondern auch gegen die sozialdemokratischen Parteien, die nach seiner Auffassung die Revolution verrieten. Gleich Lenin befürwortete er „die Anwendung von Gewalt sowohl im [revolutionären] Massenkampfe“, dem bewaffneten Aufstand, wie auch im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die sozialdemokratischen „Opportunisten“ als Gegner, die auf Gewalt als Mittel des politischen Kampfes verzichteten.238 Noch handelte es sich um rein theoretische Positionen. Er hatte den Ersten Weltkrieg in neutralen Staaten verbracht, bislang lediglich an verbalen ideologisch-politischen Auseinandersetzungen teilgenommen und noch nie hautnah einen echten Kampf mit realen Opfern erlebt. Seine Vorstellungen vom Tod und von den Schrecken des Krieges waren abstrakt239 und seine Überlegungen über die revolutionäre Gewalt von den historischen Erfahrungen der Französischen Revolution bestimmt, in der es 1793/94 eine Phase extremer Gewaltanwendung gab. Radek, der sich 1917 in Stockholm als „ausländischer Wachtposten der Partei“ verstand und „die Revolution mit allen Qualen des Zuschauers aus der Ferne erlebt[e]“240, hatte sich von Anfang an für den gewaltsamen und diktatorischen Weg zur Befreiung des Proletariats und der Menschheit entschieden. Den demokratisch-evolutionären Weg zum Sozialismus verlachte er und bewertete ihn als kontraproduktiv, ja als Verrat an der Revolution. Er propagierte begeistert Lenins berühmte Aprilthesen, die auf die Zerstörung der ersten parlamentarischen Republik und des demokratischen Prozesses in Russland gerichtet waren. Als im Juli 1917 Reichskanzler von Bethmann Hollweg entlassen wurde und die Mehrheitsparteien des Deutschen Reichstages mit ihrer Friedensresolution und dem Streben nach einer Verfassungsreform scheiterten, äußerte Radek seine Zufriedenheit darüber, dass es in Deutschland zu keiner großzügigen Parlamentarisierung und Demokratisierung gekommen war241 und der revolutionäre Druck nun weiter steigen musste. Wie für John Reed242, war für ihn die Revolution „ein Abenteuer“ und „eines der herrlichsten, das die Menschheit aufzuweisen hat.“243 Als er nach der Oktoberrevolution nach Petrograd eilte, verließ er den Boden der theoretischen Gewalterörterung. Er überschritt den Rubikon und reihte sich endgültig an der Seite der „Henker der anderen“ ein, welche die Anwendung von Gewalt zur politischen Praxis machten. Er wurde zum Befürworter des roten Terrors und betätigte sich als Apologet des rücksichtslosen und gewalttätigen Vorgehens der Bol’ševiki. Einen englischen Journalisten, der ihm gegenüber die Frage 238 Lenin vertrat diese Position u.a. in seiner Rede auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz am 4. November 1916, auf dem Radek ebenfalls präsent war. Grottian, S. 65f. 239 Vgl. Courtois, Stephane: „Warum“?; in: Das Schwarzbuch des Kommunismus, S. 802. 240 Radek, Brief aus dem Gefängnis Moabit an Max Barthel, 1919; in: Barthel, S. 60. 241 Mayer, Gustav, S. 273. 242 Reed, John (1887–1920); US-Journalist und Kommunist, der 1917 nach Russland ging um über die Revolution zu berichten. 243 Reed, S. 14.

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der Gewalt in der Revolution ansprach, beschied er: „Gewalt? Natürlich wird eine Revolution nicht mit Gänseblümchen oder Schokolade gemacht, in jeder Revolution ist die Gewalt die Lokomotive […]. Gewalt? Ja, man kann sagen: ein Zehntel der Gewalt, neun Zehntel Geist müssen dabei sein. Auch Gefühl und Glauben!“244 In Deutschland begann man ihn als einen der kommenden Männer Sowjetrusslands zu betrachten. Der deutsche Gesandte in Bern, von Romberg, berichtete ähnlich wie Riezler aus Stockholm an den Reichskanzler: „Radek ist ein wissenschaftlich gebildeter Mann von hoher geistiger Begabung, ein scharfer logischer Denker, von umfassenden Kenntnissen, ein hervorragender Publizist und Politiker. Man braucht den politischen Standpunkt Radeks nicht zu teilen, um ihm doch objektiv Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Natürlich ist seine Stimme von großer Bedeutung […].“245

Dieses positive Urteil wird im Grunde von zahlreichen späteren Beobachtern bestätigt. Hingegen kritisierte der Führer der Men’ševiki, Jurij Martov, Radek damals scharf. Er schrieb im August 1918: „Von den ersten Tagen ihrer Machtergreifung und obwohl sie die Todesstrafe für abgeschafft erklärten, begannen die Bolschewiken zu töten“. Sie nehmen „die Liquidierung ihrer Feinde selbst in die Hand […]. Mehr und mehr vergessen sie die großartigen Prinzipien der wahren Menschlichkeit, die der Sozialismus immer gelehrt hat.“ Dann wendet er sich namentlich an Radek: Er ist „zu uns gekommen, um unsere uralte von den Zaren genährte Barbarei zu kultivieren, um auf dem alten russischen Altar des Mordens zu weihräuchern, um die Mißachtung des Lebens des anderen bis zu einem selbst in unserem wilden Land bisher nicht gekannten Grad zu treiben, um schließlich das panrussische Werk der Henkersherrschaft zu organisieren.“246 Radek machte in seiner theoretischen Klassenanalyse den Kapitalismus für die Hekatomben von Toten auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs verantwortlich. Beseitigte man durch die Revolution den Kapitalismus, so würde man auch den Massakern des Krieges ein Ende setzen, selbst wenn das „einer Handvoll“ verantwortlicher Kapitalisten das Leben kosten sollte. Rechtfertigend sprach er von „den Jahren der großen Geburtswehen“ und „dem neuen Menschen, den wir jetzt im Blute gebären.“247 Als Protagonist der Gewalt und im Bemühen, den politischen Terror zu rechtfertigen und zu verharmlosen, hatte er sich zum Schreibtischtäter entwickelt, der half, die Massenverbrechen der Bol’ševiki geistig vorzubereiten und ideologisch zu legitimieren. 244 Barthel, S. 60, über eine Unterredung Radeks im Gefängnis Berlin-Moabit, deren Zeuge er 1919 wurde. Bei dem englischen Journalisten handelte es sich um Philips Price. 245 Bericht Nr. 3792 des Gesandten von Romberg aus Bern vom 13. Dezember 1917. Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 94. 246 Zitiert in: Vaksberg, Arkadi: Le Mystère Gorki, Paris 1997, S. 111. Courtois, Das Schwarzbuch des Kommunismus, S. 804. 247 Radek, Brief aus dem Gefängnis Moabit an Max Barthel, 1919; in: Barthel, S. 57.

7.  Russischer Oktober – Petrograd (1917/18) Der Sieg der Oktoberrevolution erfüllte Radek mit großen Hoffnungen. Nach Kriegsbeginn hatte er als der diskreditierte Außenseiter der deutschen Sozialdemokratie sein Schicksal mit Lenin und dessen Anhängern verbunden. Nun war die kleine Gruppe der Leninisten Herr von Russland und er gehörte dazu. Unmittelbar nach der Ankunft im Petrograder Smol’nyj am 20. November 1917 informierte er Lenin über den Inhalt seiner telegraphisch avisierten „äußerst wichtigen Mitteilung“: Der Wunsch von Parvus, nach Russland zurückzukehren und für die Bol’ševiki zu arbeiten. Lenin befürchtete, sich durch die offizielle Zusammenarbeit mit dem Agenten der deutschen Reichsregierung politisch zu kompromittieren und sah in ihm wohl auch einen politischen Konkurrenten. Er schlug die Bitte ab, „indem er erklärte: Man darf die Sache der Revolution nicht mit schmutzigen Händen anfassen.“1 Bei der Begegnung im Smol’nyj sprachen Lenin und Radek auch über die revolutionäre Situation in Europa, insbesondere in Deutschland, zu der Radek aus seiner Sicht ermutigende Nachrichten über den Stand der revolutionären Entwicklung mitbrachte.2 Bereits in der Schweiz hatte er erste Vorstellungen über die in Russland zu leistende Presse- und Agitationsarbeit entwickelt3. Jetzt beauftragte ihn Lenin, sich der revolutionären Auslandspropaganda des Sowjetregimes anzunehmen und sich deshalb mit Sverdlov in Verbindung zu setzen.4 Jakov Michajlovič Sverdlov5, Berufsrevolutionär, wie Radek zweiunddreißig Jahre alt, war der Sekretär des CK der Bol’ševiki und kontrollierte damit de facto als Generalsekretär die Partei. Er war gleichzeitig der Vorsitzende des „Allrussischen Zentralexekutivkomitees der Sowjets (Vserossijskij Central’nyj Ispolnitel’nyj Komitet Sovetov/VCIK)6“, stand damit an der Spitze des Staates und hatte den großen Apparat der Sowjets zu seiner Verfügung. Er war ein begabter Organisator und Menschenführer mit weitgespanntem geistigen Horizont und einem aufs Praktische

1 Radek, „Parvus“, in: Portrety i pamflety, S. 131. 2 Ebenda. 3 Münzenberg, S. 237. 4 Radek, „Ja. M. Sverdlov“, in: Portrety i pamflety, S. 35. 5 Sverdlov, Jakov Michajlovič (1885–1919); sowjetischer Staatsmann und Parteifunktionär; als Nachfolger Kamenevs am 8. November 1917 zum Vorsitzenden des „Allrussischen Zentralexekutivkomitees der Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten (Vserossijskij Central’nyj Ispolnitel’nyj Komitet Sovetov/VCIK)“ gewählt, war er formell auch das Staatsoberhaupt Sowjetrusslands; 1919 angeblich an Grippe verstorben. Es hielten sich Gerüchte, er sei auf einer politischen Versammlung in Moskau von einem jungen Arbeiter getötet worden. 1987 veröffentlichte Filmaufnahmen von seiner Aufbahrung zeigen ihn, für einen Grippetoten ungewöhnlich, mit deutlich sichtbar bandagiertem Kopf. 6 Das VCIK agierte als das gesetzgebende Organ Sowjetrusslands, das den gesamten Staatsapparat leitete und die Arbeit der Volkskommissare kontrollierte.

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gerichteten Verstand.7 Als Radek ihn aufsuchte, stellte ihm Sverdlov „eine Reihe präziser und klarer Fragen“ zu den Einzelheiten der vom Stockholmer Auslandsbüro unterhaltenen Kontakte nach Deutschland, Frankreich und England sowie über seine Beobachtungen an der finnisch-schwedischen Grenze. „Aber wesentlich“ für die Revolution, meinte Sverdlov, „ist gegenwärtig die Verbindung über die deutsche Front hinweg.“ Er schlug Radek vor, eine „Abteilung für Auswärtige Beziehungen“ beim VCIK einzurichten und als Mitarbeiter Emigranten und Kriegsgefangene zu rekrutieren: „Man muß diese Leute selbst aussuchen – aus den Emigranten, die das Ausland kennen, und aus den Leuten, die die Front gut kennengelernt haben; Geld und anderes mehr erhaltet ihr je nach Bedarf. Ein Rat: Vergrabt euch nicht in den Amtsstuben, baut den Apparat abhängig vom Anwachsen der Arbeit auf.“8

Radek verstand sich mit Sverdlov auf Anhieb. Nach dem frühen Tod von Jakov Michajlovič würdigte er ihn in einem Nekrolog: „Auf mich machte Genosse Sverdlov einen sehr menschlichen Eindruck, er orientierte sehr klar auf die Voraussetzungen der Arbeit und entbehrte aller Verbohrtheit. Ein zentraler Organisator, ein herausragender Führer […].“9 Zunächst wurde Radek dem unter Leitung Trockijs stehenden Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten [Narodnyj Komissariat Inostrannych Del/ NKID oder Narkomindel] zugeteilt, das 1917 eher den Charakter einer Propagandazentrale als den eines Auswärtigen Amtes trug. Dies entsprach der Grundeinstellung der Revolutionsregierung, die zunächst nicht diplomatische Beziehungen und Anerkennung suchte, sondern den Sturz der westlichen Regierungen anstrebte. „Die Oktoberrevolution wollte die Sturmglocke der proletarischen Erhebung auch für den Westen sein.“10 Der diplomatische Dienst schien nutzlos und überflüssig. Trockij erklärte: „Ich werde einige revolutionäre Proklamationen an die Völker erlassen und dann die Bude schließen.“11 Radek, der jetzt nominelles Mitglied der Bol’ševiki geworden war, wurde wegen seiner journalistischen Qualifikation und seiner Auslandserfahrung Chef des Pressebüros des NKID, eine Funktion in der ihm auch die Petrograder Telegraphenagentur unterstellt war. Zugleich leitete er im NKID als bester Deutschlandkenner der Sowjets die Abteilung für Internationale Propaganda. Den Schwerpunkt der Arbeit bildete die bolschewistische Agitation an der russischen Nordwestfront und in den Kriegsgefangenenlagern. In dieser Propagandazentrale arbeiteten vor allem deutsche und österreichische Kriegsgefangene, aber auch einige andere Ausländer 7 8 9 10 11

Deutscher, Trotzki I, S. 326. Radek, a.a.O., S. 35. Ebenda. Pächter, S. 44. Deutscher, Trotzki I, S. 311.

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wie der Amerikaner John Reed. Etwa vierzehn Tage nach dem Waffenstillstand zwischen Russland und den Mittelmächten begann man ab Mitte Dezember 1917 das deutschsprachige Propagandablatt „Die Fackel“ mit einer täglichen Auflage von einer halben Million Exemplaren herauszugeben. Radek verfasste viele Artikel des Blattes selbst. Die „Fackel“ sollte die Moral der deutschen und österreichischen Soldaten zersetzen und sie im Sinne der Bol’ševiki indoktrinieren.12 Daneben schrieb Radek für seine russischen Genossen in der Petrograder Parteizeitung „Pravda“ und in der regierungsamtlichen „Izvestija“. Der „sozialen Revolution“ der Bol’ševiki wollte der amerikanische Präsident Wilson13 eine „Demokratische Weltrevolution“ entgegensetzen, deren Programm er in seinen berühmten „vierzehn Punkten“ formulierte. Zur Propagierung seiner Friedenspolitik entsandte er Ende November 1917 Edgar Sisson14 als Sonderbevollmächtigten nach Petrograd. Sisson begegnete Radek erstmals Anfang Dezember in der ehemaligen Petrograder Telegraphenagentur „Vestnik [Der Bote]“, als dieser eine Bestandsaufnahme der für die „Pravda“ noch nutzbaren Nachrichtenverbindungen machen wollte. Der bolschewistische „Chefpropagandist gegen Deutschland“15 hatte die braune englische Reisemütze – sein späteres Markenzeichen – und den grauen Ulster, den er bei der Ankunft in Russland getragen hatte, abgelegt. Die proletarische Revolution und der Winter an der Neva prägten jetzt sein Erscheinungsbild: „Er betrat den Raum laut einhertrampelnd. Aus gutem Grund. Er trug Schaftstiefel. Die für seine dünnen Waden einige Nummern zu groß waren […]. In besseren Tagen schwarze spiegelnde Wunderwerke, waren sie jetzt glanzlos und schmutzfleckig. Aus den Stiefeln erhob sich eine vogelscheuchenartige Gestalt mit einem faltigen, seit einigen Tagen unrasierten, von einem Borstenbart umrahmten, koboldhaften Gesicht. Die Hosen waren über die Schäfte gekrempelt und in die Stiefel gestopft, wie die späteren Knickerbocker. Den Oberkörper bedeckte eine zweireihige Cordjacke, aus welcher der geknöpfte Kragen einer Russenbluse hervorlugte, größtenteils von einem farbigen Tuch verdeckt, das er um den Hals geschlungen hatte. Der Mann trug eine Kosakenmütze, die das spitze Gesicht noch verlängerte. Er sah wie ein Landstreicher aus. Sein Alter war schwer zu schätzen – irgendwo in den Dreißigern, wenn man aus seiner lebhaften Art und seinen lebendigen Augen auf eine gewisse Jugendlichkeit schloß. Bis wir einander vorgestellt wurden, wußte ich nicht, ob er ein Laufbursche oder ein Funktionär war.“ 16 12 Mit gleicher Zielrichtung wurden „Der Stern“ in Minsk zur Verteilung an der Zentralfront und „Die Kriegswoche“ für die rumänische Front publiziert. Legters, S. 36. Vergleichbare Publikationen erschienen in ungarischer, rumänischer, serbischer, tschechischer und türkischer Sprache. 13 Wilson, Thomas Woodrow (1856–1924); 1913–1921 Präsident der USA. 14 Sisson, Edgar Grant (1875–1948); US-amerikanischer Journalist; im Ersten Weltkrieg stellvertretender Vorsitzender des für die Regierungspropaganda der USA zuständigen „Committee on Public Information“; 1917/18 als Sonderbeauftragter Präsident Wilsons nach Petrograd entsandt. 15 Sisson, S. 101. 16 Sisson, S. 99.

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Radek kannte im Umgang mit dem „Klassenfeind“ Sisson keine Scheu. Bereits bei dem ersten Treffen kam man überein, die telegraphischen Meldungen der amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press der „Pravda“ und der „Izvestija“ zugänglich zu machen.17 Zu dieser Zeit „war Radeks Russisch äußerst mangelhaft und er stützte sich hauptsächlich auf Polnisch und Deutsch ab“, wie Sisson berichtet: „Ich amüsierte mich darüber, daß wir beide Ausländer waren. Als ich ihm das sagte, lachte er und äffte die Manier nach, in der er eine Ansprache auf Russisch hielt. Ich begriff, wie er den Sinn seiner Ausführungen verständlich machte – er beherrschte die Kunst eines Pantomimen […]. [Allerdings] erinnere ich mich nicht, daß er während des Winters eine öffentliche Ansprache auf Russisch hielt.“18

Radek schnappte von Sisson etwas Englisch auf und dieser von ihm einige deutsche Vokabeln und so diskutierten beide polyglott. Am Rande einer eintönigen Politversammlung, die sie gemeinsam besuchten, erkundigte er sich bei Sisson nach den Aussichten einer proletarischen Revolution in den Vereinigten Staaten. Sisson, der die Frage für abstrus hielt und annahm, sein Gesprächspartner wolle ihn zum Besten halten, entgegnete, die Amerikaner würden sich über die Bol’ševiki totlachen. Sie hassten es, gelangweilt zu werden und „weil ihr Langweiler seid, würden sie ihren Spaß mit euch treiben und euch dann links liegenlassen.“ Radek, der die Frage wohl im Ernst gestellt hatte, ließ sich nichts anmerken, ging rasch auf den scherzhaften Ton ein und bezeichnete sich schnell selbst als einen „ziemlichen Spaßvogel“.19 Bald benutzten sie dieselbe Druckerei, Sisson zum Druck der Vierzehn-Punkte-Rede Wilsons20, Radek für seine Flugschriften. Beide Publikationen wurden zusammen an die Front expediert und verteilt.21 Nachdem die Alliierten die Sowjetregierung nicht anerkannten und die westlichen Botschafter in Petrograd deshalb keine offizielle Verbindung zum Smol’nyj aufnehmen konnten, versuchten sie über nachgeordnetes diplomatisches Personal und Journalisten die Situation zu sondieren und die Absichten der Bol’ševiki zu erkunden. Im Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten war Radek ein besonders von den Angloamerikanern gesuchter Kontaktmann. Er beeindruckte Journalisten, wie Philips Price22 und Arthur Ransome23 mit seiner Sprachgewandtheit, seinem raschen Witz und seiner umfassenden Beherrschung weltpolitischer Themen. 17 Ebenda, S. 102. 18 Ebenda, S. 100. 19 Ebenda. 20 Wilsons Friedensprogramm der Vierzehn Punkte vom 8. Januar 1918. 21 Sisson, S. 101f. 22 Price, Morgan Philips (1885–1973); britischer Landwirt und Schriftsteller; 1916–1918 Korrespondent des „Manchester Guardian“ in Russland. 23 Ransome, Arthur Mitchell (1884–1967); britischer Journalist; später Professor für neuere Geschichte und englische Literatur sowie Kinderbuchautor.

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Präsident Wilsons Sondergesandter Sisson hingegen, der Radek ebenfalls als amüsanten Gesprächspartner schätzte, hielt ihn für einen Scharlatan: „Eines weiß ich mit Sicherheit, Russland ohne Radek wäre mir langweilig vorgekommen […] aber hier war ein echt spaßiger Nichtsnutz, der weder sich noch seine Genossen mit seinem Geschwätz ernst nahm. Mit einer Feder in der Hand konnte er feierlichen Schwulst über die Besten unter ihnen schreiben und zugkräftige Parolen in die Massen schleudern. Warf er die Feder beiseite, schwadronierte er fröhlich daher, Angeber, der er war.24 […] Er liebte es, im Gespräch die Positionen zu wechseln. Er hörte keinen Augenblick auf, ein Schauspieler zu sein.“25

Demgegenüber charakterisierte der Vertreter des amerikanischen Roten Kreuzes in Russland, Oberst Raymond R. Robins26, Radek als einen durchaus ernstzunehmenden Propagandisten und Gesprächspartner: „Ohne Kompromiß schrieb Radek gegen alle ,kapitalistischen‘ Regierungen in Europa. Auch schrieb er ohne Pause, mit fortwährender Eloquenz und bissig- brillant. Er verfügte über einen schmächtigen Körper, der aus Draht, elektrisch geladenem Draht, zu bestehen schien. Sein Hirn war vollgestopft mit historischen und wirtschaftlichen Fakten und sozialistischem Sprengstoff. Er verbreitete das überall. Tag für Tag in der Pravda und der Izvestia, in Pamphleten und Flugblättern sowie in Zeitschriften der Armee und der Marine beeinflußte er die russische öffentliche Meinung mit einer Wirksamkeit, die hoch über der jedes anderen Journalisten oder Propagandisten in der bolschewistischen Welt lag.“27

Robins hielt Radek über die Angelegenheiten der USA auf dem Laufenden und erläuterte ihm die Besonderheiten der amerikanischen geographischen und politischen Situation. Er hatte nicht nur den Eindruck, dass Radek dafür Verständnis aufbrachte, sondern dass dieser auch seiner Idee der Herstellung spezieller Wirtschaftsbeziehungen zwischen den USA und Russland aufgeschlossen gegenüberstand.28 In einem seiner Leitartikel schrieb Radek: „Wegen ihrer Lage sind die Vereinigten Staaten unmittelbar daran interessiert, daß Russland wirtschaftlich stark und politisch unabhängig sein soll. Die Vereinigten Staaten müssen [schon] aus eigenem Interesse der Sowjetregierung oder jeder beliebigen anderen russischen Regierung Hilfe leisten bei der Auferstehung der wirtschaftlichen und militärischen Macht Russlands. Zwischen dem sozialistischen Russland und dem demokra24 Sisson, S. 99. 25 Ebenda, S. 100. 26 Robins, Raymond R. (1873–1954); mit dem zeitweiligen Rang eines Colonel von Juni 1917 – August 1918 Leiter der amerikanischen Rot-Kreuz-Mission in Russland. 27 Hard, S. 126. 28 Ebenda, S. 126ff.

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tischen Amerika gibt es darüberhinaus nicht – und kann es nicht geben – den unversöhnlichen Gegensatz und Konflikt, der zwischen dem sozialistischen Russland und dem autokratischen Deutschland besteht.“29

Die Vereinigten Staaten bildeten einen Schauplatz nie erlahmenden Interesses für Radek.30 Er sah in ihnen eine aufsteigende Macht.31 Sein Chef, Leon Trockij und auch Nikolaj Bucharin hatten sich dort im Exil aufgehalten. Sie waren fasziniert von New York. So auch der politische Kommissar der Propagandaabteilung, Boris Rejnštejn32. Zwei seiner Mitarbeiter, John Reed und Albert Rhys Williams33 waren Amerikaner. Bei Sisson erkundigte sich Radek gezielt danach, ob dieser es wagen würde, ihn für sich schreiben zu lassen, wenn er in New York wäre und über ein Presseorgan verfügte.34 Als Associated Press am 20. Dezember 1917 Radek das Angebot machte, als russischer Chefkorrespondent für die Nachrichtenagentur zu arbeiten, lehnte er aber ab, da er befürchtete, die Arbeit für ein amerikanisches kapitalistisches Unternehmen würde seiner Reputation als Revolutionär schaden.35 Viele Jahre später, 1933, machte er ernsthafte Anstalten für einen Besuch in den USA und beantragte ein Visum. Die Reise kam allerdings nicht zustande, wobei ungeklärt ist, ob Stalin sein Veto eingelegt oder das US-State Department die Erteilung des Einreisevisums verweigert hat.36 Übereinstimmend heben alle Beobachter Radeks überschäumende Revolutionsbegeisterung hervor. Mit der Realität der Verhältnisse in Petrograd konfrontiert, überkamen ihn aber dort anfangs auch Momente der Niedergeschlagenheit, wie er an Max Barthel schrieb: „Sie können sich vorstellen, daß es in der ersten Zeit wüst aussah. Sabotage der Intellektuellen, dann die Notwendigkeit die ganze Maschinerie des Staates zu zerschlagen. Mangel an Schulung […]. Auch ich stand trotz aller theoretischen Einsicht unter sehr schwerem Eindruck. „37 Er behauptet, Lenin habe ihm neuen Mut eingeflößt: „Lenin lachte gutmütig, als ich ihm meine Bedenken aussprach. ,Ja, es kracht alles zusammen, aber wir müssen durch‘, sagte er. ,Gehen sie aus dem Smolny – das war der Sitz der Regierung – zu den Arbeitern. Dort werden sie neue Kräfte schöpfen.‘ Und ich ging zu den Sitzungen der Betriebsräte, in die Bezirksarbeiterräte und in das Volksgericht, das 29 Ebenda, S. 127f. 30 Sisson, S. 100. 31 Paquet-Tagebuch, S. 114f. 32 Rejnštejn, Boris Isaevič (1886–1947); Russe, der zu Propagandazwecken auch als „Vertreter des amerikanischen Proletariats“ auftrat. 33 Rhys Williams, Albert (1883–1962); linksorientierter amerikanischer Journalist, der 1917/18 in Radeks Abteilung für internationale Propaganda gegen Deutschland gerichtetes Material verfasste. 34 Sisson, S. 101. 35 Possony, Stefan T.: Lenin: The Compulsive Revolutionary, Chicago 1964, S. 257. Tuck, S. 44. 36 Lerner, S. 157. 37 Radek, Brief aus dem Gefängnis Moabit an Max Barthel, 1919; in: Barthel, S. 61.

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zu tagen begann, und in dem jeder Zuschauer die Angeklagten – Diebe, Rohlinge, kleine arme Wanzen des kapitalistischen Schmutzes – verteidigen und anklagen konnte. Und ich hörte auf der Straße zu, es wuchs meine Zuversicht.“38

Erneut voller Optimismus, drahtete er am 6. Dezember 1917 an Vorovskij in Stockholm: „Wir sind nicht mehr zu stürzen, höchstens durch in zwei, drei Monaten zu erwartenden wirtschaftlichen Zusammenbruch, den wir wohl nicht vermeiden können. Bis dahin wird indessen internationale Revolution uns aller Schwierigkeiten entheben. Nach Abschluß Waffenstillstandes werden wir wahrscheinlich große Delegation in neutrales Ausland senden.“39

Mitte Dezember 1917 kehrte Radek aus Petrograd noch einmal für kurze Zeit nach Stockholm zurück: „Ich hatte mit der Arbeit noch nicht richtig begonnen und mich kaum ein bißchen orientiert, als ich auf Befehl von Vladimir Il’ič nach Stockholm zu Vorverhandlungen mit dem bevollmächtigten Vertreter der deutschen Regierung, einem wichtigen Berater Bethmann Hollwegs, nach Stockholm zurückgesandt wurde.“40

Sein deutscher Gesprächspartner in der schwedischen Hauptstadt war Legationsrat Riezler, der sich zuvor an einem nebligen Dezemberabend auf Vermittlung des Journalisten Alfons Paquet in tiefster Heimlichkeit in dessen Zimmer in der Sibyllegatan 22 mit dem in Stockholm zurückgeblieben nunmehrigen sowjetrussischen Gesandten Vaclav Vorovskij – ehemals drittes Mitglied des bolschewistischen Auslandsbüros – getroffen hatte. Erstmals sondierten bei dieser Zusammenkunft die Vertreter zweier kriegführender Mächte die Modalitäten eines Friedensschlusses zwi38 Ebenda. 39 Telegramm Radek an Vorovskij in Stockholm, 6. Dezember 1917. In Unkenntnis der damaligen sowjetischen Absichten und Hoffnungen bewertete der deutsche Gesandte in Stockholm die Ausführungen Radeks allerdings skeptisch: „Annehme, daß Radek, der besonders fanatischer Anhänger internationaler Revolution und selbst Rolle spielen will, sich die Absichten seiner Regierung nach seinen Wünschen zurechtlegt.“ Gesandter Freiherr Lucius von Stoedten u. Legationsrat Riezler (Stockholm) an das Auswärtige Amt (Telegramm), 13.12.1917; in: Hahlweg, Der Frieden von Brest Litowsk, S .103f. Als sich die Blütenträume vom baldigen Ausbruch der Weltrevolution nicht erfüllt hatten, äußerte sich Radek allerdings moderater. In einer Rückschau auf die sowjetische Außenpolitik der ersten Monate bezeichnete er es 1922 als deren vorrangiges Ziel, die Volksmassen in den Staaten der Alliierten [Entente] für den von Lenin angebotenen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen zu mobilisieren, um dadurch Druck auf die Regierungen auszuüben und sie zu Verhandlungen über einen für Sowjetrussland vorteilhaften Frieden zu zwingen. Radek; in: „Za Pjat’ Let [Zum fünften Jahrestag (der Revolution)]“, Moskva 1922, S. 60. Carr, a.a.O., S.12. 40 Radek, „Ja. M. Sverdlov“, a.a.O., S. 35f.

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schen Deutschland und Russland. Als Emissär Lenins war Radek jetzt beauftragt, Riezler von der Ernsthaftigkeit der russischen Friedensabsichten zu überzeugen und die deutschen Bedenken zu zerstreuen, die Sowjetrussen wollten offizielle Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten lediglich zu Agitationszwecken missbrauchen. Diese Geheimkontakte bildeten den Auftakt für die Verhandlungen, die zum Frieden von Brest-Litovsk führten. In seinem Tagebuch notierte Paquet über die Begegnung Radeks mit Riezler am 20. Dezember 1917, deren Zeuge er wurde und an der auch Vorovskij teilnahm, mit unverhohlener Skepsis: „,Die Leute [gemeint sind die Bol’ševiki] leben in einem förmlichen Machtrausch.‘ Radek habe ganz offen ein „Schreckensregiment mit Guillotine“ angekündigt und neben einer halben Million bewaffneter Arbeiter, auf die die Räteregierung sich stützen könne, mit einer halben Million revolutionierter deutscher, österreichischer, ungarischer und anderer Kriegsgefangener geprahlt, die in ganz Russland dabei seien, Komitees zu bilden und auf die Seite der Bolschewiki überzugehen. Auch die industrielle Produktion, hatte Radek behauptet, beginne sich auf einfache Weise wieder zu regulieren […]. Im übrigen habe sich erwiesen, dass die revolutionären Impulse in Finnland und in der Ukraine die nationalen Bestrebungen weit überwögen. Das wichtigste sei jetzt ein rascher ,Separatfrieden‘. Die Räteregierung werde die Verhandlungen in Brest ,klar, scharf und sachlich führen‘.“41 Radek musste sich in Stockholm noch eines weiteren Auftrags entledigen. Parvus hatte dort auf Lenins Antwort gewartet und nach eigenem Bekunden, Radek bei der Rückkehr am 17. Dezember bereits am Stockholmer Bahnhof in Empfang genommen. Radek habe ihn mit den Worten begrüßt „Du könntest jetzt in Russland Finanzminister sein“, ein Satz der sinngemäß zu ergänzen wäre, „- wenn Du nicht so laut und öffentlich auf die Karte des deutschen Imperialismus gesetzt hättest.“42 Radek erwähnt diese von Parvus geschilderte anekdotische Szene nicht. In einer vertraulichen Aussprache verzichtete er auf jegliche diplomatische Höflichkeit und teilte Parvus mit, Lenin habe sein Gesuch auf Rückkehr nach Russland abgelehnt. Er wiederholte Lenins Worte, die bolschewistische Partei könne nicht zulassen, dass die „Sache der Revolution mit schmutzigen Händen angefasst“ werde. Parvus schob Radek die Hauptverantwortung für den negativen Bescheid zu. Er setzte sein Leben als Finanzspekulant und Sybarit fort, ohne künftig in der Politik noch eine große Rolle zu spielen. Radek traf „seine besondere Verachtung“, da er sich in seinen Augen zum „gefügigen Werkzeug Lenins“ hatte machen lassen und kein versöhnendes Wort mehr für ihn fand. Er strich ihn aus seiner Erinnerung und schmähte ihn künftig nur noch als „politischen Harlekin“.43 Damit war auch für Radek das „Kapitel Par-

41 Paquet, Alfons: Der Geist der russischen Revolution, München 1920, S. 63ff.; zitiert nach Koenen, S. 108. 42 Paquet, Alfons, Politisches Tagebuch Stockholm II, Eintrag vom 18. Januar 1918 (im Nachlass Alfons Paquet in der Staats- und Universitätsbibliothek Frankfurt); zitiert nach: Koenen, S. 107. 43 Scharlau/Zeman, S. 299; Tuck, S. 44.

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vus“ abgeschlossen. Als der Financier Lenins 1924 verstarb, widmete er ihm in der „Pravda“ einen Nachruf: „Im Alter von 55 Jahren ist in Berlin Helphand-Parvus an einem Schlaganfall gestorben. Die junge Generation kennt diesen Namen als den eines Verräters der Arbeiterklasse, als den Namen nicht nur eines Sozialpatrioten, sondern auch als den eines Menschen, welcher Inspirator der deutschen Sozialdemokratie und Schieber in einer Person war. Aber die alte Generation der Revolutionäre, die alte Generation der russischen Sozialdemokraten und Teilnehmer der Arbeiterbewegung Deutschlands kannte Parvus anders, kannte ihn als einen der besten Schriftsteller der II. Internatonale. Parvus ist ein in den Schmutz getretener Teil der revolutionären Vergangenheit der Arbeiterklasse.“ 44

Der nostalgischen Erwähnung einstiger Verdienste Parvus’ folgte eine verunglimpfende, pietätlose Tirade gegen ihn und Ebert, von der noch die Rede sein wird.45 Nachdem Radek nach Petrograd zurückgekehrt war, erkundigte sich Sverdlov bei ihm über den Stand der Propagandaarbeit im NKID, für die die Sowjetregierung zwei Millionen Goldrubel46 bereitgestellt hatte. Sverdlov meinte kritisch: „Die Flugschriften übertragen das Schema der Revolution, aber nicht ihren Atem. Eine große Rolle in der Verbreitung der Ideen Sowjetrusslands spielen zunächst die Kriegsgefangenen, wenn sie nach Hause zurückkehren. Selbst diejenigen, die gegen uns eingestellt sind, werden Brutstätten für unsere Ideen darstellen, wenn sie sich wieder mit der bourgeoisen Realität konfrontiert sehen. Es ist notwendig, in jeder nationalen Gruppe der Kriegsgefangenen Stoßtrupps für die Agitation unter den Kriegsgefangenen zu bilden. Falls dies gelingt, gelingt alles. Hier lohnt es, sich ins Zeug zu legen […].“47

Zur „materiellen und geistigen Betreuung der Kriegsgefangenen“, das heißt für die bolschewistische Propagandaarbeit unter ihnen, wurde dann im Januar 1918 ein so genanntes „Kriegsgefangenenbüro“ gegründet. Sein Leiter Ul’janov, anscheinend kein Verwandter Lenins, stützte sich auf ein aus Kriegsgefangenen zusammengesetztes „Internationales Komitee“, dessen Angehörige identisch mit den Mitarbeitern Radeks in der Abteilung für Internationale Propaganda des NKID waren.48 Neben anderen zählten dazu Ernst Reuter-Friesland49 – später Regierender Bürgermeister 44 „Pravda“ vom 14. Dezember 1924 . Übersetzung von Nina Letneva, in: Chavkin, Alexander Parvus – Financier der Weltrevolution, S. 57. 45 Siehe unten, Kapitel 16. 46 Carr, a.a.O., S. 18 und Wolkogonov [Volkogonov], Trotzki, S. 142. 47 Radek, a.a.O., S. 36. 48 Brandt/Lowenthal, S. 87. 49 Reuter; Ernst (1889–1953); deutscher Internationalist; 1916 Kriegsgefangener in Russland; 1918 Politischer Kommissar der Volgadeutschen Republik in Saratov; Ende 1918 unter dem Pseudonym Ernst Friesland mit Radek inkognito nach Deutschland; 1922 KPD-Ausschluss; als Sozialdemokrat 1948–1953 Regierender Bürgermeister von Berlin.

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von Berlin, der kroatische Feldwebel Josip Broz-Tito50 – nachmaliger Staatspräsident von Jugoslawien – und der ungarische Leutnant Béla Kun51 – dann Spitzenfunktionär der Komintern. Unter Radeks Regie begann eine systematische Schulungs- und Rekrutierungsarbeit in den Kriegsgefangenenlagern. Es wurden 10 000 Gefangene organisiert und für die revolutionäre Arbeit unter ihren Kameraden ausgebildet.52 Radek veranlasste die Bildung von Soldatenräten und ließ in den sibirischen Lagern aus deutschen Kriegsgefangenen die sogenannte „Liebknechtbrigade“ aufstellen. In Moskau organisierte er später riesige Massenversammlungen, auf denen sich zum Kommunismus bekehrte Soldaten der Mittelmächte zur Oktoberrevolution bekannten.53 Die von Sverdlov inspirierte Aktivität Radeks ist vor dem Hintergrund der am 22. Dezember 1917 in Brest-Litovsk begonnenen Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten zu sehen. Noch befand man sich im Krieg. Man wollte die Kriegsgefangenen gewinnen, mit ihrer Hilfe die feindliche Front zersetzen sowie durch die Revolutionierung der gegnerischen Armeen die Annahme der bitteren Friedensbedingungen verhindern. Ziel war es, das Überleben des Sowjetregimes zu sichern und die Revolution auch mit Hilfe der zurückgeführten Kriegsgefangenen in die Länder der Gegner zu tragen. Solche Überlegungen werden deutlich, wenn Radek schreibt, dass Sverdlov sich handverlesene Kriegsgefangene zuführen ließ, um sie im Hinblick auf ihre revolutionären Qualitäten zu prüfen und „über unsere ausländischen Genossen […] in seinem Gehirn bereits eine neue internationale Kartothek für den Fall des Sieges der Revolution in dem einen oder anderen Lande aufbaute.“54 Petrograd war in diesen Tagen weniger die Hauptstadt eines Nationalstaates, als vielmehr das Hauptquartier des revolutionären Proletariats und Radek verlieh diesem neuen Selbstverständnis mit dem Satz Ausdruck: „Wir sind nicht länger Moskowiter oder Sowjetbürger, sondern die Vorhut der Weltrevolution.“55 In Brest-Litovsk hatte die sowjetische Delegation unter der Leitung von Adolf Ioffe56 in einer ersten bis 28. Dezember 1917 dauernden Gesprächsrunde auf einem Frieden ohne Gebietsabtretungen und Entschädigungen bestanden, während die deutschen Teilnehmer unter Staatssekretär von Kühlmann57, assistiert von Generalmajor 50 Broz-Tito, Josip (1892–1980); 1945 Ministerpräsident Jugoslawiens; ab 1953 Staatspräsident. 51 Kun, Béla (1886–1939); ungarischer Journalist; Kommunist; 1919 Führer der ungarischen Räterepublik; später hoher Kominternfunktionär; fiel den Säuberungen Stalins zum Opfer. 52 Carr, a.a.O., S. 18. 53 Brandt/Lowenthal, S. 85 und Fischer, R., Stalin, S. 249. 54 Radek, a.a.O., S. 36. 55 Drahn, E./Leonhard, S: Unterirdische Literatur im Revolutionären Deutschland, o.O. 1919, S. 50. Carr, a.a.O., S. 16. Das Wort „Moskowiter“ nimmt den sich damals in der deutschen Presse einbürgernden Sprachgebrauch auf, Russland als „Moskowien“ und die Russen als „Moskowiter“ zu bezeichnen. 56 Ioffe, Adolf Abramovič (1883–1927); bolschewistischer Parteipolitiker und Diplomat. 57 Kühlman, Richard von (1873–1948); Diplomat; seit 1917 Staatssekretär im Auswärtigen Amt, schloss die Friedensverträge mit Sowjetrussland und Rumänien 1917/18.

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Hoffmann58, und unterstützt von den Österreichern, schließlich die Loslösung der baltischen Staaten Estland, Livland, Kurland und Finnland, die Abtretung polnischer Gebiete sowie die Anerkennung einer selbständigen Ukraine forderten. Ergänzend zu dem Geschehen in Brest-Litovsk hatten die Mittelmächte eine von Graf Keyserling59 geführte Kommission zu Wirtschaftsverhandlungen nach Petrograd entsandt, in der Graf Mirbach60 für die Kriegsgefangenenfrage zuständig war. Von russischer Seite war Radek wegen seiner deutschen Sprachkenntnisse zum Gesprächspartner bestimmt worden. Als man erstmals am 31. Dezember 1917 zusammenkam, waren in Petrograd gerade die Friedensbedingungen aus Brest bekanntgeworden. Radek zeigte sich über die deutschen Gebietsforderungen ungemein aufgebracht. In völlig aggressiver Stimmung gab er zu Beginn der Verhandlungen über den Austausch von Kriegsgefangenen eine offizielle Erklärung ab.61 Er präsentierte die Forderung nach der bedingungslosen Rückkehr aller russischen Kriegsgefangenen und drohte, eine deutsche Weigerung werde das VCIK zum Abbruch der Gespräche veranlassen. Davon unbeeindruckt, lehnte Graf Mirbach das russische Ansinnen ab. Radek reagierte, wie er Sisson unmittelbar nach der Sitzung erzählte, mit Absicht „völlig beleidigend“. Der einstige Gegner der polnischen Unabhängigkeit setzte sich jetzt für das Selbstbestimmungsrecht der Polen ein: „Er sagte, er hätte ihnen [den Deutschen] ihre Verbrechen in Polen ins Gesicht geschleudert – die Verschickung polnischer Arbeiter zur Zwangsarbeit nach Deutschland, Aushungern der Bevölkerung, Requirierung von Geld und Waren und er habe [drohend] erklärt, sie sollten ruhig schon mal das Prinzip der [polnischen] Selbstbestimmung mit ins Kalkül ziehen.“62

Er schloss seine Ausführungen, indem er der deutschen Delegation verkündete, er würde sie nach dem Ende der Besprechung „zu ihrem Schutz“ durch eine Militäreskorte zur Grenze zurückbringen lassen, was dann auch tatsächlich erfolgte und vorübergehend auf deutscher Seite Überlegungen auslöste, im Gegenzug die russischen Konferenzteilnehmer in Brest-Litovsk unter militärische Bewachung zu stellen. So endete die erste Konferenz über den Kriegsgefangenenaustausch in einem Skandal, und nachdem Graf Mirbach telegraphisch gemeldet hatte, „der Pole Radek“ habe die 58 Hoffmann, Max (1869–1927); Generalmajor; Russlandexperte im Großen Generalstab; seit 1916 Chef des Generalstabs beim Oberbefehlshaber Ost, Prinz Leopold von Bayern. 59 Keyserling, Hermann Graf von (1880–1946). 60 Mirbach-Harff, Wilhelm Graf von (1871–1918); Legationsrat; nach den Gesprächen in Petrograd, im April 1918 deutscher Botschafter in Moskau, wo er am 6. Juli 1918 einem Attentat russischer Sozialrevolutionäre zum Opfer fiel. 61 Statement by Radek at opening of negotiations with Germany and Austria on exchange of prisoners-of-war, 31. Dezember 1917, Daily Review of the Foreign Press, London (General Staff, War Office), 3.1.1918, S. 487. Degras, Calendar, S. 16. 62 Sisson, S.189.

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deutsche Regierung unangemessen und schwerwiegend angegriffen, legte man im Smol’nyj einen geharnischten Protest gegen das brüskierende Verhalten Radeks ein.63 Radek und Sisson verbrachten den Silvesterabend 1917 gemeinsam. Radek, animiert von seinem gerade beendeten Auftritt auf der Kriegsgefangenkonferenz, war noch „völlig aufgekratzt“, erinnert sich Sisson, und „redete vom Krieg [gegen die Deutschen] mit Waffen und Propaganda. Die Bol’ševiki würden kämpfen, weil sie sonst untergehen würden.“64 Er sprach begeistert davon, daß sich nun Kanäle für die Verteilung seines revolutionären Blattes in Deutschland öffnen würden und die „Fackel“ dort einen Brand entfachen werde.65 Gemeinsam begrüßten der amerikanische und der russische Propagandaexperte das neue Jahr, „fern der Heimat in einem dunklen und zerrissenen Land.“66 Um den Vorwurf der Mittelmächte zu entkräften, das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten würde mit seiner Agitation die Verhandlungen von Brest-Litovsk konterkarieren, wurde am 1. Januar 1918 Radeks Abteilung für Internationale Propaganda der Verfügungsgewalt Trockijs formell entzogen und dem Allrussischen Zentralexekutiv-komitee der Sowjets (VCIK) und damit Sverdlov unterstellt. Entsprechend seiner Idee setzte man unter der neuen Bezeichnung „Internationale Abteilung des Zentral-Komitees der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndelegiertenräte“ die Propagandatätigkeit fort. „Die Fackel“, nun Organ des VCIK, wurde in „Der Völkerfriede“ umgetauft und erschien, von Radek redigiert, täglich. Breiten Raum nahm der Abdruck von Stenogramm-Auszügen aus den Plenarsitzungen in Brest-Litovsk mit den Ausführungen Trockijs und von Kühlmanns ein. Daneben wurden Aufrufe und Dekrete der Sowjetregierung, Meldungen über revolutionäre Entwicklungen in Mitteleuropa und die Aktivitäten der deutschen Kriegsgefangenenkomitees in Sowjetrussland publiziert. Es wurden bis zum 16. Februar 1918 insgesamt 34 Nummern des „zur kostenlosen Verteilung unter deutschen Brüdern“ bestimmten vierseitigen Blatts gedruckt, bis es wegen des im Zuge der Friedensverhandlungen auferlegten Propagandaverbots eingestellt werden musste.67 Radek hatte bereits am Silvesterabend gegenüber Sisson verlauten lassen, dass er mit Trockij zur Wiederaufnahme der Friedensgespräche nach Brest-Litovsk gehen werde und zwar nicht als Delegierter sondern als „Berater“. Vor Ort fungierte er dann als eine Art Sekretär des Volkskommissars. Trockij hatte Radek gebeten mitzufahren, weil er „Vertrauen in seine äußerst lebhafte Intelligenz, und politische Loyalität besaß und weil er überzeugt war, dass die Intransigenz und der Elan dieses leidenschaftlichen Mannes die Joffes, Kamenjews und die übrigen weicheren russischen 63 Ebenda und S. 190. 64 Ebenda, S. 189. 65 Ebenda, S. 190. 66 Ebenda. 67 „Mir’ narodov – Der Völkerfriede. Organ der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputiertenräte“, Nr. 8 (13. Januar 1918) bis Nr. 34 (16. Februar 1918) und Carr, a.a.O., S.18.

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Delegierten stärken würde.“68 Die sowjetische Friedensdelegation reiste am Abend des 5. Januar 1918 von Petrograd ab. Die Abfahrt vollzog sich unter chaotischen Umständen, erinnert sich Radek: „[…] der Bahnhof [wurde] von einer Masse Bauern, Kleinbürger und Soldaten fast gestürmt, sie alle wollen fort, es war kurz vor Weihnachten 69 und es gab sehr wenig Züge. Die Rote Garde mußte die Masse mit Kolbenschlägen zurückdrängen. Ich stand am Fenster unseres Sonderzuges – es war ein Zarenzug mit allem Luxus, und die Menge betrachtete ihn halb mit Neid und halb mit Ehrfurcht – und nun wollten sie nicht mehr stürmen, weil sie hörten, daß es der Zug der Friedensdelegation sei.“70

Trockij sollte von seinem Berater nicht enttäuscht werden. Bereits unterwegs verteilte Radek, der einen Koffer voller revolutionärer Flugschriften mitführte, Flugblätter an die deutschen Soldaten, die die Eisenbahnlinie bewachten. Bei der Ankunft auf dem Bahnhof von Brest-Litovsk am 8. Januar 1918 sorgte er dann für einen Eklat, als er im Angesicht der zur Begrüßung der russischen Delegierten auf dem Bahnsteig versammelten Diplomaten und Militärs noch aus dem Zug heraus begann, Propagandamaterial an die Umstehenden auszuhändigen.71 Während der ersten Plenarsitzung der Konferenz in der Brester Festung am darauffolgenden Tage griff von Kühlmann dann auch prompt die bolschewistische Propaganda gegen den deutschen Imperialismus an, die es zweifelhaft mache, dass die Sowjets ehrlich zum Frieden bereit seien. Generalmajor Hoffmann, vor dem ein Stapel sowjetischer Propagandapamphlete aufgebaut war, wiederholte den Protest im Namen der Obersten Heeresleitung.72 Trockij, der ironisch lächelnd zugehört hatte, antwortete nicht auf die Vorwürfe und bat um Unterbrechung. Am nächsten Tag lehnte er es ab, sich für die Propaganda unter den deutschen Truppen zu entschuldigen. Er sei gekommen, um über Friedensbedingungen zu sprechen, nicht aber um die Meinungsfreiheit einzuschränken. Auf Radeks Auftritt vom Vortag bezugnehmend, äußerte er: „Wir, die Vertreter der Russischen Republik, sprechen uns und unseren Mitbürgern das Recht zur vollen Freiheit bei der Propagierung republikanischer und revolutionärsozialistischer Überzeugungen zu.“73 Man habe auch nichts gegen die konterrevolutionäre Propaganda der Deutschen einzuwenden. Die Revolution sei ihrer Sache und der Zugkraft ihrer Ideen so sicher, dass sie eine offene Diskussion begrüße.74

68 Trockij zu Sadoul. Sadoul, S. 176. 69 Russisch-orthodoxes Weihnachtsfest am 6. Januar. 70 Radek, Brief aus dem Gefängnis Moabit an Max Barthel, 1919; in: Barthel, S. 61. 71 Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918, S.16; Nowak, Band 2, S.  218 und Deutscher, Trotzki I, S. 243. 72 Novak, S. 218. 73 Wolkogonow [Vol’kogonov], Trotzki, S. 142. 74 Deutscher, Trotzki I, S. 343ff.

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Während der Gespräche der Delegationen schwieg Radek zumeist. Für alle sichtbar, hatte er ein damals bekanntes militärtheoretisches Buch vor sich liegen, in dem die These vertreten wurde, entscheidend für den Ausgang eines Krieges sei das Kräfteverhältnis zwischen den Kontrahenten. „Letztenendes“, sagte er zu den deutschen Delegierten, „werden die Alliierten Ihnen einen Brest-Litovsker Vertrag aufzwingen.“75 Auch entwickelte er die Gewohnheit, sich über den Konferenztisch vorzubeugen und seinem Gegenüber mit koboldhaftem Grinsen Tabakrauch ins Gesicht zu blasen, worauf insbesondere Generalmajor Hoffmann als Nichtraucher allergisch reagierte.76 Er fühlte sich allein durch Radeks Anwesenheit provoziert, der ihm als österreichischer Deserteur galt. An Generalfeldmarschall von Hindenburg77 meldete er: „Allein die Tatsache, daß der genügend bekannte Radek in russischer Friedensabordnung sitzt, beweist deren Übelwollen.“78 Von Kühlmann, wie auch sein Ministerialdirektor Kriege79, sahen in Radek den ideologischen Einpeitscher der russischen Delegation: „Direktor Krieges Eindrücke bestätigen die meinen, wonach den insbesondere von Radek stark beeinflußten Bolschewisten die Propaganda für die Revolution höher steht als selbst das Interesse an der Herrschaft der eigenen Partei.“80 Der Berliner Gesandte Rosenberg81 berichtete entrüstet an das Auswärtige Amt, dass ein deutscher Maler, der Ioffe und die sowjetische Delegierte Bizenko82 in Brest-Litovsk gemalt habe, den Porträtierten sein Namensbuch zur Einschreibung eines Sinnspruchs überlassen habe. Der zufällig anwesende Radek hätte sogleich die Gelegenheit benutzt, um folgendes einzutragen: „Die deutsche Revolution läßt auf sich warten. Wird darum gründlicher sein.“83 Was Rosenberg für eine freche Provokation hielt, spiegelte jedoch die Grundüberlegung der bolschewistischen Führung wider, die sich ihre Rettung durch die deutsche Revolution erhoffte und die Verhandlungen deshalb so lange wie möglich hinziehen wollte. Die russische Delegation mit Radek verblieb in Brest-Litovsk, als Trockij am 18. Januar 1918 zu Konsultationen über die deutschen Friedensbedingungen vorübergehend nach Petrograd zurückkehrte. Er erstattete dem bolschewistischen Zent75 Hard, S. 124f. 76 Baumgart, a.a.O., S. 16 und Lockhart, S. 255. 77 Hindenburg, Paul von Beneckendorff und von (1847–1934); Generalfeldmarschall; hatte zusammen mit Ludendorff die deutsche Oberste Heeresleitung inne; 1925–1934 Reichspräsident. 78 Telegramm vom 25. Januar 1918. Hahlweg, Der Friede von Brest-Litowsk, S. 429f. 79 Kriege, Johannes, Dr. jur. (1859- ?); Ministerialdirektor im Auswärtigen Amt; Mitglied der deutschen Delegation in Brest-Litovsk. 80 Telegramm Staatssekretär von Kühlmann an Reichskanzler Graf von Hertling vom 17. Januar 1918. Hahlweg, Der Friede von Brest-Litowsk, S. 369. 81 Rosenberg, Frederic (1874–1937); Diplomat; 1918 Referatsleiter für Balkanfragen im Auswärtigen Amt; 1922/23 Außenminister. 82 „Madame“ Bizenko, linke Sozialrevolutionärin und Terroristin, die wegen der Ermordung eines zaristischen Kriegsministers zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt worden war. 83 Telegramm Rosenbergs vom 29. Januar 1918. Hahlweg, Der Diktatfrieden von Brest-Litowsk, S. 27f.

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ralkomitee Bericht über seine Mission und empfahl die Kampfhandlungen einzustellen, aber den Frieden nicht zu unterschreiben, also einen Zustand herzustellen, der weder Krieg noch Frieden wäre. Nikolaj Bucharin, CK-Mitglied und Chefredakteur der „Pravda“, trat leidenschaftlich für einen „revolutionären Krieg“ gegen die Mittelmächte ein. Lenin drängte hingegen darauf, die deutschen Bedingungen anzunehmen und den „Raubfrieden“ zu akzeptieren. Er hielt nichts von Bucharins heroischer Pose. Das Volk wollte keinen Krieg mehr. Ein levée en masse war nicht denkbar.84 Trockij setzte sich mit seinem Vorschlag im CK durch. Bevor er nach Brest zurückfuhr, erstattete er am Abend des 27. Januar dem III. Allrussischen Sowjetkongress im Taurischen Palais Bericht und fachte mit seiner Gegnerschaft gegen den Frieden unbeabsichtigt die Kriegsbegeisterung des Auditoriums an. Trockij war noch nicht wieder am Verhandlungsort eingetroffen, als Radek sich am 28. Januar 1918 auf der direkten Leitung, die Brest mit der russischen Hauptstadt verband, über die neueste Entwicklung in Petrograd informierte. Gesprächspartner war sein polnischer Genosse Mieczysław Broński.85 Er hielt im Smol’nyj zusammen mit Stalin die Verbindung zur russischen Friedensdelegation. Aus Sorge vor heimlichen Mitlesern des telegraphischen Gesprächs verschleierte Radek seine Ausführungen, wobei er sich wahrscheinlich insbesondere vor der deutschen Fernmeldeaufklärung schützen wollte. Tatsächlich wurde der Dialog vom britischen Nachrichtendienst in Petrograd abgehört. Broński eröffnete das Gespräch, indem er mitteilte, „unsere Leute“, das heißt die Befürworter des revolutionären Krieges, „sind sehr beunruhigt. [Die Kriegsgegner] Trockij und Gregoriev [Grigorij = Zinov’ev] haben auf der [CK-]Sitzung gesiegt.“ Im weiteren Verlauf erkundigt sich Radek nach Lenins Absichten, wobei er ihn den „schlauen Mužik [= Bauer]“ nennt und für den Friedensvertrag einen Pferdehandel als Metapher wählt: Radek: „Wie möchte der schlaue Mužik die Sache regeln? Wie will der Mužik das Pferd verkaufen? Wird es bald sein oder müssen wir warten?“ Bronski: „Wir müssen noch ein wenig warten.“ Radek: „Ich frage nicht nach Deiner Meinung, weil ich nicht selbst mit Pferden handele. Aber was denkt der schlaue Mužik?“ Bronski: „Er gedenkt bald zu verkaufen. Er ist ein schlauer Bursche.“ Radek: „Hast Du dem Bauern gesagt, daß man den Vertrag weder beim Notar unterschreiben, noch irgendetwas daran ändern muß?“ Bronski: „Ich habe ihm weder etwas gesagt, noch hat er irgendetwas gefragt.“

84 von Rauch, S. 108. 85 Broński (siehe oben, Kapitel 5, Anm. 193) hatte seinen Namen russifiziert in Mečislav Genrikovič Bronskij. Er war nun „Pravda-Redakteur“, Mitglied des Rates der Staatsbank und Stellvertretender Volkskommissar für Handel und Industrie.

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Dann wendet sich Radek einem anderen Thema zu. Broński soll Kriegskommissar Krylenko86, „dem Mann der schönen Ellen“, den dringenden Rat übermitteln, die gesamte militärische Ausrüstung von der desorganisierten russischen Front abzuziehen und ins Hinterland schaffen zu lassen: Radek: „Sage dem Mann der schönen Ellen, daß man alle Sachen, die am Zaun liegen, wegschaffen muß, sonst könnten sie verkauft werden oder in die Hände eines Passanten fallen, der sie mitnimmt […]. Man muß sie weiter hinten im Schuppen verbergen und energischste Schritte in dieser Angelegenheit unternehmen. Wenn Du nicht selbständig handelst, sondern Dich auf Deine Vorgesetzten verläßt, wird man Dir die Haut abziehen.“

Radeks Empfehlung, das Potential der Armee zu sichern, unterstreicht, dass er ernsthaft an militärische Maßnahmen dachte. Auf die Friedensfrage bezogen, kündigte er abschließend die Übersendung eines Artikels „von versöhnlicher Art“ für die „Pravda“ an, wobei er offensichtlich das Gegenteil meinte, indem er hinzufügte: „Ich bin gegen nachgiebige Maßnahmen in dieser Frage.“87 Die seit dem Bekanntwerden der deutschen Friedenskonditionen von ihm vertretene kämpferische Linie setzt sich in diesen Äußerungen fort. Er lehnte von Anbeginn die auf die Annahme der Friedensvorschläge gerichtete Politik Lenins ab und befürwortete wie Bucharin den Revolutionskrieg. Trockij nahm ab 30. Januar 1918 die Verhandlungen in Brest-Litovsk wieder auf, wobei es vor allem um die polnische und die ukrainische Frage ging. Auch in dieser Phase tat Radek manches, um die Aversion der deutschen Verhandlungspartner gegen sich zu vertiefen. Er trat jetzt als „polnisches Mitglied der Allrussischen Delegation und Repräsentant der Sozialdemokratie Polens und Litauens“, also der SDKPiL, auf. Als Experte für die polnische Frage verlas er eine Erklärung über das Selbstbestimmungsrecht Polens. Im Beisein Trockijs wiederholte er die Vorwürfe, die zuvor auf der Konferenz über die Kriegsgefangenenfrage zum Eklat geführt hatten. Er nannte die deutsche militärische Besetzung Polens eine verschleierte Annexion, verurteilte die politische Unterdrückung im Lande, klagte die Zwangsverschickung polnischer Arbeiter an88 und bezeichnete von Kühlmann als einen „Jesuiten89. Nachdem die Deutschen die Ukraine ins Spiel gebracht hatten und mit den Vertretern der dortigen Zentralrada (Volksvertretung) über einen Separatfrieden zu verhandeln begannen, war Radek bemüht, sich Gewissheit über die Machtverhältnisse 86 Krylenko, Nikolaj Vasilevič (1885–1938); Jurist; als ehemaliger Fähnrich der zaristischen Armee von November 1917 bis März 1918 Oberster Befehlshaber und Volkskommissar für das Militärwesen; dann Spitzenfunktionär im Justizwesen und zuletzt Volkskommissar für Justiz; fiel der großen Säuberung zum Opfer. 87 Sisson, S. 277ff. 88 Deutscher, Trotzki I, S. 358. 89 Sisson, S. 323.

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in Kiev zu verschaffen. Er verlangte von der Festung Brest aus über das deutsche militärische Fernsprechnetz eine Verbindung in die ukrainische Hauptstadt. Als der Telefonist einer deutschen Relaisstation, der nicht wusste, wer der Gesprächsteilnehmer war, ihm sagte, die Leitung sei „tot“, war ihm das Bestätigung dafür, dass die Bol’ševiki Kiev in ihrer Hand hatten.90 Höhnisch fragte er daraufhin General Hoffmann: „Sie bekommen Telegramme aus Kiev? Von dem Vertreter der Rada im Raum nebenan?“91 Zusätzlich war er bestrebt, durch gezielte Falschinformationen den Eindruck einer russisch-amerikanischen Annäherung zu erwecken: „Ihm seien aus Petrograd amerikanische Zigarren geschickt worden“, erzählte er, und „er hätte sie unter den Deutschen geraucht, die geflüstert hätten, ,Aus Amerika – Amerika hat die Russen gekauft‘.“ Gleichzeitig verbreitete er das unzutreffende Gerücht, die USA hätten Russland um ein Handelsmonopol für Lebensmittel und Waren ersucht und er habe Petrograd vorgeschlagen, „Scheingeschäfte mit den Amerikanern“ vorzuspiegeln. Im Smol’nyj fanden die Anregungen für ein solches Täuschungsmanöver jedoch kein Echo und so versickerte die ganze Angelegenheit im Sande.92 Als Generalmajor Hoffmann am 10. Februar 1918 den Sowjets die weiter verschärften deutschen Gebietsforderungen bekanntgegeben hatte, durch die Russland auf das vorpetrinische Kerngebiet um Moskau zurückgeworfen werden sollte, ließ Trockij mit seiner berühmten „Weder-Krieg-noch-Frieden“-Erklärung alles in der Schwebe und brach die Verhandlungen ab. Aus Brest-Litovsk zurück, zog Radek in Petrograd am 13. Februar 1918 gegenüber westlichen Journalisten93 ein von Sisson notiertes Fazit des letzten Konferenztages: „Ein Karneval der Täuschungen. Das Finale: Czernin94, am Morgen flüsternd, ,Was würde Ihnen helfen? Ein Ultimatum?‘ Trockijs herausfordernde Antwort ,Ich weiß es nicht. Sie könnten es versuchen.‘ Sie versuchen es. Lauschen lächelnd, als Trockij beginnt. Lächeln immer noch als er schließt. Absolutes Verstummen als sie die von Trockij separat verlesene Erklärung vernehmen. Kein Krieg, kein Frieden., Demobilisierung u.s.w. Nur der Ausruf eines Österreichers: ,Wunderbar!‘ Sie können es nicht fassen. Sie versuchen die Russen mit der Erklärung aufzuhalten, sie müßten sich mit Berlin in Verbindung setzen, um sie davon abzubringen den Zug zu nehmen. Kein Zug. Anforderung. Abfahrt. Zuvor die Fragen: ,Können wir einen Botschafter schicken? Können wir Handel treiben? Ist Ihnen bewußt, daß es in der Geschichte keinen Präzedenzfall gibt? Wir kennen nur einen Fall, zwischen den Skythen und den Persern.‘ Trockij: ,Wir sind genauso wild wie 90 Trotzki [Trockij], Mein Leben, S. 347. 91 Sisson, S. 323. 92 Ebenda. 93 Es handelte sich um den Briten Arthur Ransome vom „Manchester Guardian“ und den Amerikaner Arno Dosch-Fleurot von der „New York World“. Zugegen war auch Alexander Gumberg, ein mit Trockij bekannter New Yorker Jude, der in Petrograd für Colonel Robins vom Amerikanischen Roten Kreuz als Sekretär und Dolmetscher arbeitete. 94 Czernin, Ottokar Graf von (1872–1932); 1916–14.4.1918 k.u.k. Außenminister; Leiter der österreichischen Delegation in Brest-Litovsk.

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die Skythen. Wir haben unserer Erklärung nichts hinzuzufügen. Finden Sie selbst heraus, was sie bedeutet.“95

Bei dieser Gelegenheit erläuterte Radek auch, wie sich nach seiner Einschätzung die Lage entwickeln werde. Die Deutschen hätten jetzt folgende Optionen: „Petrograd [zu] nehmen, um das Hornissennest zu zertreten – in die Ukraine für Nahrungsmittel – oder zu entscheiden nicht zu kämpfen, da sie es nicht müßten.“ In Bezug auf die Lebensmittelversorgung sei Deutschland „nicht so schlecht dran“ – die Delegation in Brest habe „gutes Essen“ erhalten.96 Obwohl von Ende Januar bis Anfang Februar in Deutschland und Österreich stattfindende Streiks und Demonstrationen neue Hoffnungen der Bol’ševiki auf einen Umsturz in Mitteleuropa genährt hatten97, machte sich Radek jetzt kaum noch Illusionen über eine Rettung des Sowjetregimes durch ein schnelles Umschlagen der Arbeiterunruhen in eine Revolution in Deutschland. Er urteilte: „Die Streikbewegung wird in den russischen Zeitungen übertrieben. Der Streik ist beendet“, um sogleich optimistisch hinzuzufügen, die Aussichten auf die Revolution seien es aber nicht. In Deutschland würden heimlich Flugblätter gedruckt, von denen bereits 10.000 verteilt worden seien. Sollten die Deutschen wieder militärisch gegen Russland vorgehen, werde man einen „Guerillakrieg“ führen, „Maschinengewehrnester in Petrograd“ installieren und die „Regierung, falls nötig, nach Moskau“ verlegen.98 In der Nacht vom 14. zum 15. Februar meldete Trockij dem Petrograder Sowjet das Scheitern der Gespräche. Es folgten dramatische Tage sich verstärkenden deutschen Drucks auf Sowjetrussland und harte Auseinandersetzungen im bolschewistischen Zentralkomitee und im Rat der Volkskommissare über die einzuschlagende Taktik. Der linken Opposition, zu der anfangs auch Dzeržinskij gehörte, erschienen die Friedensbedingungen so schändlich, dass sie deren Unterzeichnung als Verrat an der Sache des internationalen Proletariats ansah. Demgegenüber war Lenin entschlossen Zugeständnisse zu machen. Wie Radek plastisch formulierte, vertrat Lenin den Standpunkt, „daß alles unterzeichnet werden soll, was den Deutschen nur Papierwerte gibt, da doch entweder in dieser Ehe wir oder sie zusammenbrechen und in keinem Falle Wechsel gezahlt werden.“99 Rückblickend schreibt er: 95 Sisson, S. 322. 96 Ebenda, S. 323. 97 Angesichts der Streikbewegung und der Arbeiterunruhen äußerte sich von Kühlmann am 30. Januar 1918 resignierend gegenüber dem nach Brest entsandten bayerischen Staatsminister Graf Podewils: Man müsse wegen dieser Entwicklung die Taktik der Bol’ševiki, die Verhandlungen hinzuziehen, „vorerst“ hinnehmen. Den Russen sei die Sachlage „natürlich“ bekannt. „Der Kamm“ sei „ihnen geschwollen“ und sie würden „ihren Vorteil tunlichst auszunutzen versuchen“. Die Streiks dauerten vom 28.1.–3.2.1918. Steglich, S. 382. 98 Sisson, S. 323f. 99 Radek an Paul Levi, 25. Oktober 1918. Quack, S.137.

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„Wir Jungen – Bucharin, Obolenski [Obolenskij]100“, Lomow [Lomov]101 und Smirnow [Smirnov]102 und von den Älteren Uritzki [Urickij]103 und Professor Pokrovski [Pokrovskij]104 – wir konnten uns in die Kapitulation vor dem äußeren Feind im Augenblick des Sieges über den inneren Feind nicht fügen, wir konnten uns mitten aus dem großen Angriffe nicht zurückziehen […]. Die gefühlsmäßige Unfähigkeit zur Kapitulation maskierten wir vor uns […] mit großen strategischen Plänen: Rückzug der Regierung hinter die Wolga, der deutsche Imperialismus soll sich verbluten im Kampfe mit den Massen Zentral-Rußlands, dann Rückeroberung des Landes vom Ural aus. Das waren unsere Ideen, aber wir predigten tauben Ohren.“105

In dieser Phase der Auseinandersetzungen um Lenins Vertragspolitik fiel auch Radeks berüchtigte Drohung gegenüber Lenin, wenn es mit ihm zusammen fünfhundert beherzte Männer in Petrograd gäbe, würden sie ihn verhaften, um einen revolutionären Krieg zu ermöglichen, worauf Lenin erwiderte, dass das Gegenteil wahrscheinlicher sei.106 Man hoffte, Trockij als Führer der sogenannten „linken Kommunisten“ zu gewinnen Er lehnte das Ansinnen der Opposition ab: „Die offiziellen Vertreter dieser Gruppe, Uritzki, Radek und, ich glaube, Ossinski, kamen zu mir mit dem Vorschlag der ,Einheitsfront‘. Ich ließ ihnen keinen Zweifel darüber, daß unsere Positionen nichts gemeinsames hätten.“107 Er war sich mit Lenin darin einig, dass es unmöglich

100 Obolenski, Valerian Valerianovič; Pseudonym: V. V. Osinskij (1887–1938); aus dem russischen Landadel stammender Bol’ševik; Wirtschaftsexperte; nach der Oktoberrevolution Erster Vorsitzender des Obersten Wirtschaftsrates und Direktor der Staatsbank. 101 Lomov, Georgij Ippolitovič; Pseudonym von G. I. Oppokov (1888–1938); Volkskommissar für Justiz. 102 Smirnov, Ivan Nikitovič (1881–1936); sibirischer Revolutionär und später Politkommissar in der Armee. 103 Urickij, Michail (auch Moisej) Solomonovič (1873–1918); leitete 1917 als Vorsitzender des Petrograder Revolutionären Militärkomitees die bolschewistische Machtergreifung; schied als Linkskommunist Anfang 1918 aus CK und Regierung aus; wurde nach Wiedereinschwenken auf die Linie Lenins Chef der Petrograder ČK; fiel am 30. August 1918 einem Schusswaffenattentat zum Opfer. 104 Pokrovskij, Michail Nikolaevič (1868–1932); damals der führende sowjetische Historiker; Vorsitzender des Moskauer Sowjets und Mitglied der Brest-Litovsker Friedensdelegation. 105 Radek, Brief aus dem Gefängnis Moabit an Max Barthel, 1919; in: Barthel, S. 62. 106 Oberst Robins, der Leiter des amerikanischen Roten Kreuzes in Petrograd, überliefert diese Begebenheit wie folgt: „Auf einer Sitzung des Sowjets erhob sich Carl Radek […] von seinem Platz, starrte Lenin an und sagte: „Wenn es fünfhundert mutige Männer in Petrograd gäbe, würden wir Sie verhaften.“ Lenin antwortete ihm in einem [ruhigen] Ton, als ob er These Siebzehn [seiner zwanzig Thesen zu Brest Litovsk] vortragen würde: „Einige Leute könnten tatsächlich ins Gefängnis kommen, aber wenn Sie die Wahrscheinlichkeit ausrechnen, dann werden Sie merken, daß es viel wahrscheinlicher ist, daß ich Sie dorthin schicke, als Sie mich.“ Hard, S. 94. 107 Trotzki [Trockij], Mein Leben, S. 357.

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sei, den Krieg weiterzuführen und beide schauten mit „Kopfschütteln [...] auf Bucharin, Radek und die anderen ,Apostel des revolutionären Krieges‘“.108 Da die Sowjetregierung nach dem Abbruch der Verhandlungen in Brest-Litovsk keine Anstalten machte, auf die gestellten Friedensbedingungen einzugehen, erklärte Deutschland den Waffenstillstand für beendet und nahm am 18. Februar 1918 die Angriffshandlungen wieder auf. Die Offensive mit großen Geländegewinnen ließ einen Vormarsch auf Petrograd in den Bereich des Möglichen rücken. Radek, der mit dem militärischen Vorgehen der Deutschen gerechnet hatte, zeigte sich nur zum Schein überrascht als die Nachricht von der deutschen Offensive Petrograd erreichte109 und alle Fabriksirenen in der Stadt zu heulen begannen. Es wurde ein Revolutionäres Verteidigungskomitee mit Trockij an der Spitze gebildet, dem auch Radek angehörte.110 Im Nachhinein schwärmte er über „unvergängliche Tage und Nächte“, die er im „Verteidigungsauschuß“ zusammen mit Sverdlov und Urickij verbrachte, nachdem man sich entschlossen hatte, „mit allen Mitteln, bis zum letzten Blutstropfen, Petrograd zu verteidigen“ – „bis zum letzten Hauch“ auszuharren: „[…] die Deutschen hätten Petrograds Straßen Haus für Haus erobern müssen. Die demobilisierte, demoralisierte Bauernarmee flüchtete, die provisorisch gebildeten Arbeiterverbände konnten keinen Widerstand leisten, aber wir bereiteten [mit den Arbeitern der Putilov-Werke] einen Kampf vor, wie ihn die deutschen Truppen noch nie erlebt hatten. Die Brücken und Arsenale waren unterminiert, die Stadt in Bezirke eingeteilt, die nacheinander hätten gestürmt werden müssen.“111

Mit der ultimativen Forderung der deutschen Regierung, den Friedensvertrag innerhalb von 48 Stunden anzunehmen, spitzte sich die Situation am 23. Februar 1918 weiter zu. Im Anschluss an neuerliche stürmische Auseinandersetzungen im CK und im Rat der Volkskommissare trat gegen Mitternacht das Zentralexekutivkomitee der Sowjets (VCIK) zusammen, um die deutschen Friedensbedingungen zu erörtern. Oberbefehlshaber Krylenko verlas Telegramme vom Kriegsschauplatz, wonach die Reste der russischen Nordwestfront sich weigerten zu kämpfen und sich vor den deutschen Kräften zurückzogen. Radek, „der unruhige Geist“, ging währenddessen mit bleichem Gesicht und blutunterlaufenen Augen hinter der Rednertribüne nervös auf und ab, berichtet ein Augenzeuge. Es sah fast so aus, als wolle er das seiner Einbildungskraft entsprungene Phantom General Hoffmanns in Stücke hauen.112 Dann bat er ums Wort und hielt angesichts der das Auditorium bestürzenden Entwicklung „eine kraftvolle Ansprache“. Er protestierte dagegen, einen „entehrenden Frieden“ zu unterschreiben und warnte davor, dass ein solcher Schritt den „moralischen Bankrott für die 108 Ebenda, S. 350. 109 Sisson, S. 333. 110 Radek, Avtobiografija, Sp. 168. 111 Radek, Brief aus dem Gefängnis Moabit an Max Barthel, 1919; in: Barthel, S. 63. 112 Price, My Reminiscences, S. 247.

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russische Revolution in Europas bedeuten und Osteuropa der preußischen Reaktion überantworten würde.“113 Wie könne man den polnischen, litauischen, lettischen und weißrussischen Sozialisten noch ins Gesicht sehen, nachdem man sie dem deutschen Generalstab ausgeliefert habe?114 Dennoch stimmte die Mehrheit der Mitglieder des Gremiums Lenin zu, der dafür geworben hatte, den Friedensvertrag zu unterzeichnen, um eine Atempause für die russische Revolution zu gewinnen. Als dann im CK am 24. Februar 1918 „die Frage der Entsendung einer Delegation nach Brest zur Unterzeichnung des Friedensvertrags“ behandelt wurde, weigerten sich Ioffe und andere Angehörige dieses Gremiums kategorisch, zu reisen. Erstaunlicherweise war Radek grundsätzlich gewillt, nach Brest zu gehen, wie aus dem Sitzungsprotokoll hervorgeht: „Lenin teilt mit, daß Radek, obwohl er Gegner des Friedensschlusses sei, sich doch bereit erklärt habe zu fahren, daß aber die Polen ihm verboten hätten zu fahren.“115 Bei aller Loyalität gegenüber Lenin wollte Radek offensichtlich den Bruch mit den zur Kriegsfraktion gehörenden polnischen Genossen vermeiden. Er unterwarf sich dem Reiseverbot Dzeržinskijs, Unšlichts und Bronskijs vermutlich nicht ungern, blieb es ihm nun doch erspart, mit seiner Unterschrift unter den Vertrag in den Augen der Opposition zum Verräter an der Revolution zu werden. Lenin gelang es schließlich Sokol’nikov zu überreden, die Abordnung zu führen und dieser unterzeichnete „unter dem Diktat der Kanonen“116 am 3. März 1918 den Friedensvertrag in Brest-Litovsk. Mit diesem Vertrag verlor Russland 26 % seines Territoriums, 27 % der landwirtschaftlichen Anbaufläche, 26 % des Eisenbahnnetzes, 33 % der Textilindustrie, 73% der Eisenindustrie und 75 % der Kohlebergwerke. Radek fasste das Ausmaß der Verluste so zusammen: „Das bedeutet den Verlust von 40 Prozent unseres Industrieproletariats und eine ähnliche Abnahme unserer Industrieproduktivität. Das bedeutet den Verlust von wichtigen Rohstoffquellen, wie dem Donecbecken, das uns bisher mit Eisen und Kohle versorgt hat […]. Russlands Gebietsverluste sind sehr groß und die Verluste von Produktionskapazitäten gewaltig. […] Bezogen auf Rohmaterialien, insbesondere Roheisen und Stahl, betragen die Verluste bis zu 70 Prozent. Das bedeutet eine Verknappung von Industriegütern, auf denen […] der Wirtschaftsorganismus jeder Nation beruht und ohne die eine sozialistische Wirtschaftsform unmöglich verwirklicht werden kann.“117

Radek erschienen diese Einbußen nicht hinnehmbar, bedrohten sie doch nach marxistischer Interpretation die russische Revolution durch die Dezimierung der russi113 Price: „Russia and the Peace Terms: Strong Opposition to Acceptance“, Petrograd – 24. Februar 1918; in: Manchester Guardian, 26. Februar 1918. Price, Dispatches, S. 120. 114 Price, My Reminiscences, S. 247. 115 Lenin, Werke, Band 27, S. 38. 116 Radek, Brief aus dem Gefängnis Moabit an Max Barthel, 1919; in: Barthel, S. 62. 117 Bunyan, J. (ed.): Intervention, Civil War and Communism in Russia, April-December 1918; Documents and Materials, Baltimore 1936. Legters, S. 40.

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schen Arbeiterschaft als „der einzigen konsequent revolutionären Klasse“ ebenso, wie durch die drastische Reduzierung der „materiell-technischen Basis für den Aufbau des Sozialismus“. Auf dem Höhepunkt der innerparteilichen Auseinandersetzung um den Frieden wurde er noch deutlicher: „Den Sozialismus in einem Lande, und zwar in einem rückständigen Lande einzuführen, ist unmöglich.“118 Um über die Ratifizierung des Friedensvertrages zu entscheiden, standen im März 1918 noch zwei wichtige Termine an: Der VII. Außerordentliche Parteitag der Russischen Sozial-Demokratischen Arbeiter Partei (Bol’ševiki) vom 6.–8. März 1918 und der IV. Allrussische Sowjetkongreß vom 14.–16. März 1918. Im Kontext zu diesen Veranstaltungen verschaffte sich die linke Opposition Gehör durch die Herausgabe der Zeitung „Kommunist“119. Redakteure dieses Blattes waren Radek und Bucharin, die gegen den Friedensvertrag agitierten und in nahezu romantischer Hingabe an die Revolution im gemeinsam verfassten Leitartikel der ersten Ausgabe schrieben: „Kein bewußter Revolutionär wird sich mit einer solchen Schmach einverstanden erklären“ und: „Wir sollten in einer guten Haltung sterben, das Schwert in der Hand und rufend, Frieden bedeutet Schmach, Krieg bedeutet Ehre.“120 Radek behauptete, der russische Arbeiter als der wahre Revolutionär verstehe die Notwendigkeit der Weltrevolution und sei gewillt dafür zu kämpfen; nicht so der russische Bauer. Er hielt Lenin vor, den Friedenswünschen der Bauern als einer nichtrevolutionären Klasse auf Kosten der revolutionären Arbeiterklasse nachzugeben: „Wir befinden uns am Vorabend der Kapitulation, und das hauptsächlich deshalb, weil die proletarische Partei, einmal an die Macht gelangt, nicht in erster Linie auf die Interessen der Arbeiterklasse, sondern auf die Stimmung und die Sorgen der müden Masse der Bauernschaft Rücksicht nimmt und infolgedessen hat die Revolution vor den Bedürfnissen und dem Druck der Bauernmassen kapituliert.“121

Lenin griff den Fehdehandschuh auf und verhöhnte in einer Replik in der Pravda die Opposition als die „jammervollen Linken“. Er warf Radek vor, noch im Dezember 1917 für einem „Kompromißfrieden“ gewesen zu sein. Noch „in der näheren Vergangenheit“ habe er in der „Pravda“ von seiner Illusion, „der allerschlimmsten“, gesprochen und behauptet, „es werde möglich sein, einen Frieden mit den deutschen Imperialisten unter der Bedingung der Rückgabe Polens abzuschließen.“ Durch die Verbreitung solcher Illusionen hätte die Linksopposition praktisch den deutschen 118 „Kommunist“ Nr. 2, 6. Februar 1918. Fischer, Louis, Das Leben Lenins, S. 240. 119 „Kommunist“ erschien in Petrograd vom 5.–9. März täglich und dann in Abständen bis zum 20. März 1918. Von April bis Juni 1918 wurde das Blatt in Moskau als Wochenzeitung herausgegeben. 120 Wheeler-Bennett: Brest-Litovsk; the Forgotten Peace, London 1938, S. 278. Legters, S. 41. 121 Radek: „Pobeda imperializma nad russkoj revoljuciej [Der Sieg des Imperialismus über die russische Revolution]“, „Kommunist“ Nr. 1, 5. Februar 1918. Fischer, Louis, Das Leben Lenins, S. 239 und Lerner, S. 70.

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Imperialisten geholfen und die Entwicklung der Revolution in Deutschland behindert.122 Auf dem Parteitag hielt Lenin am 7. März 1918 eine eindrucksvolle „Rede über Krieg und Frieden“, in der er konstatierte, es sei „absolut wahr, daß wir ohne die deutsche Revolution zugrunde gehen“. Aber: „Die deutsche Revolution hat das Unglück nicht so rasch zu schreiten.“ Deshalb müsse man es angesichts der akuten Bedrohung des dramatisch zerrütteten Landes „verstehen, sich zurückzuziehen.“ Das Leben selbst, habe „die Theorie von der Atempause aufgestellt, die in einer Unmenge von Artikeln im ,Kommunist‘ abgelehnt wird.“ Und weiter: „[…] nur Kinder könnten nicht verstehen, daß hier ein langwieriger, umsichtiger Kampf geführt werden muß. Der schändliche Friedensvertrag reizt zum Aufstand, aber wenn ein Genosse vom ,Kommunist‘ über den Krieg urteilt, dann appelliert er an das Gefühl und vergißt, daß sich den Menschen die Hände zu Fäusten geballt und sie blutüberströmte Kinder vor sich gesehen haben. Was sagen sie eigentlich? ,Niemals wird ein bewußter Revolutionär so etwas überleben, niemals wird er eine solche Schmach auf sich nehmen.‘ Ihre Zeitung trägt den Namen ,Kommunist‘, sollte aber ,Schlachtschitz‘123 heißen, denn sie betrachtet die Dinge vom Standpunkt des Schlachtschitzen, der mit dem Degen in der Hand in schöner Pose sterbend, ausrief: ,Der Friede ist eine Schmach, der Krieg eine Ehre!‘ Sie betrachten die Dinge vom Standpunkt des Schlachtschitzen, ich aber vom Standpunkt des Bauern. Wenn ich den Frieden in einem Augenblick annehme, wo die Armee flieht […] so tue ich das, um Schlimmeres zu verhüten. Ist etwa der Vertrag eine Schande? Jeder ernste Bauer und Arbeiter wird mich rechtfertigen, denn er versteht, daß der Friede ein Mittel zur Sammlung der Kräfte ist.“124

Er geißelte Trockijs „großen Fehler“ und sein Wunschdenken, das ihn im Glauben, die Deutschen würden nicht angreifen, zu der Parole „weder Krieg noch Frieden“ verleitet hatte.125 Radek beeilte sich, Trockij in Schutz zu nehmen: „Selbst die chauvinistische deutsche Presse mußte zugeben, daß das Proletariat Deutschlands gegen Hindenburg und für Trockij war. Unsere Politik in Brest-Litovsk war kein Mißerfolg, war keine Illusion, sondern eine Politik des revolutionären Realismus.“126 Es sei viel besser gewesen, dass man erst nach der deutschen Offensive Frieden geschlossen habe, da zu diesem Zeitpunkt niemand mehr Zweifel haben konnte, 122 Lenin: „Eine ernste Lehre und eine ernste Verantwortung“; geschrieben 5. März 1918; veröffentlicht 6. März 1918, „Pravda“ Nr. 42. Lenin, Werke, Band 27, S. 37–40. 123 „Schlachtschitz“: Angehöriger der „Schlachta“, d.h. des polnischen Adels. 124 Lenin: „Ausgewählte Werke in zwei Bänden“, Band 2, Moskva 1947, S.  339–351. Grottian, S. 218ff. 125 Sed’moj S’ezd RKP (B) [VII. Parteitag der RKP(b)], Moskva 1923, S. 22. Deutscher, Trotzki I, S. 373. 126 Ebenda.

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dass Sowjetrussland unter äußerem Zwang handelte. Dann brachte er aber die Enttäuschung der Kriegsfraktion über Trockij zum Ausdruck: „Man kann Trockij nur vorwerfen, daß er, nachdem er in Brest soviel erreicht hatte, auf die andere Seite überging […]. Dafür müssen wir ihm mit Recht Vorwürfe machen, was hiermit auch geschieht.“127 Radek setzte sich in seinen weiteren Ausführungen von der Position Trockijs und der Linksopposition ab, die den Frieden als „Verrat“ an der Revolution und „Demonstration der Ohnmacht“ bezeichnet hatten. Als einer der Führer der linken Opposition signalisierte er nun die Bereitschaft, einzulenken und sich der Realität des Vertrages zu stellen. In seinem Schlusswort erwähnte ihn Lenin deshalb lobend als Beispiel dafür, „[…] wie sehr die Genossen auf unserem Parteitag der Phrase den Rücken gekehrt haben, an der Urizki [Urickij] praktisch festhält […]. Er [Radek] hat gesagt: ,Keine Spur von Verrat, von Schmach, denn es ist klar, daß ihr von einer erdrückenden militärischen Übermacht zurückgewichen seid‘. Das ist eine Einschätzung, die die ganze Auffassung Trotzkis [Trockijs] zerschlägt. Wenn Radek sagte: ,Wir müssen die Zähne zusammenbeißen und unsere Kräfte vorbereiten‘, so ist das richtig – das unterschreibe ich voll und ganz […].“128

Die von Lenin angesprochene „Vorbereitung der Kräfte“ bezog sich auf die Ausführungen Radeks über den Aufbau einer neuen proletarischen Armee, einer „Roten Armee, aus den Bevölkerungsschichten, die für die Sowjetmacht und eine internationale proletarische Revolution waren.“129 Ausgangspunkte dafür waren Lenins Aufruf „Das sozialistische Vaterland ist in Gefahr“ und das Dekret vom 23. Februar über die Bildung der „Roten Arbeiter- und Bauernarmee“. Radek hatte dem Parteitag sein unmittelbar zuvor von ihm im „Kommunist“ formuliertes Militärprogramm vorgetragen: Im Gegensatz zu der alten zaristischen Armee aus apathischen Bauern müsse sich die neue revolutionäre Armee aus klassenbewussten Arbeitern rekrutieren, die die Notwendigkeit der Weltrevolution verstünden. Eine solche Revolutionsarmee könnte das deutsche Proletariat und die Arbeiterschaft anderer Länder in die Lage versetzen, das selbst zu tun, was die russischen Arbeiter bereits vollbracht hätten. Er zog die Schlussfolgerung:

127 Ebenda. 128 7. Parteitag der RKP(b) 6.- 8.3.1918, 2. Schlusswort Lenins zum Referat über Krieg und Frieden, 8. März 1918; in: Lenin, Werke, Band 27, S. 102f. Dem Lob folgte allerdings sogleich ein Protest Lenins „gegen die Polemik des Gen[ossen]. Radek“ in dessen Abänderungsantrag zur Resolution über Krieg und Frieden. „Lenins (kurze) Rede gegen den Abänderungsantrag Radeks zur Resolution über Krieg und Frieden“; ebenda, S. 109. 129 Radek: „Oborona revoljucii [Die Verteidigung der Revolution]“, „Kommunist“ Nr. 2, 6. Februar 1918. Lerner, S. 69.

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„Es ist notwendig, eine revolutionäre Armee zu schaffen; es ist notwendig, die Massen über die Methoden der Kriegführung zu instruieren; es ist notwendig, eine leidenschaftliche Streitmacht zu schaffen, die es dem deutschen Imperialismus nicht erlauben wird, seine Ziele zu erreichen, […] die Vernichtung der gesamten Sowjetmacht, die Vernichtung aller Zielsetzungen der Revolution. Das ist unsere prinzipielle Losung: ,Der Frieden wurde [zwar] unterzeichnet, [aber] lang lebe der revolutionäre Kampf‘. Nachdem der Bürgerkrieg mit der russischen Bourgeoisie siegreich beendet worden ist, ist die nächste Stufe ein Bürgerkrieg mit dem deutschen Imperialismus. In diesem Krieg […] können wir mit der Hilfe der deutschen Arbeiterklasse rechnen.“130

Mit großer Mehrheit setzte Lenin auf dem VII. Außerordentlichen Parteitag seine Forderung nach Ratifizierung des Friedens gegen die Linksopposition und Trockij durch. Auf seinen Antrag hin, beschloss der Kongress zudem die Umbenennung der RSDRP(B) in Russische Kommunistische Partei (Bol’ševiki)/RKP(b)131 und dokumentierte damit auch nach außen den Bruch mit der Sozialdemokratie. Die Ereignisse überschlugen sich. Trockij trat als Außenkommissar zurück und übernahm am 9. März als Volkskommissar für Krieg und Marine das Kommando über die Armee. Am 10. und 11. März verlegte die Sowjetregierung ihren Sitz nach Moskau, Lenin nahm Wohnung im Kreml’ und am darauf folgenden Tage, dem 12. März, wurde Moskau zur Hauptstadt des Sowjetstaates erklärt. Am 15. März 1918 setzte in Moskau der IV. Allrussische Sowjetkongress den Vertrag von Brest-Litovsk völkerrechtlich in Kraft. Als der Frieden ratifiziert war, rief Radek fast unter Tränen aus: „Mein Gott, wenn wir in diesem Kampf eine andere Rasse als die Russen hinter uns gehabt hätten, hätten wir die Welt umstürzen können.“132 Er stand, eigenem Bekunden zufolge, „grollend nach dem Brester Frieden beiseite“, aber schließlich schwenkte er „nach heftiger klarer Aussprache mit Lenin“ auf dessen Linie ein. Am 6. April 1918 erfolgte sein Wiedereintritt in das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, wo er die Mitarbeit als Ausdruck seiner Protesthaltung vorübergehend eingestellt hatte. Ab Anfang April begann er auch wieder für die „Izvestija“ zu schreiben.133 In zwei Briefen erläuterte er später nochmals seine Haltung. Ursprünglich sei er emotional nicht darauf vorbereitet gewesen, vor dem deutschen Imperialismus zu kapitulieren und „so spielte natürlich in die prinzipielle Linie auch vieles Persönliche mit, eben weil die Linie [Lenins] eine Linie des Rückzuges war […]. Da ich Gegner dieser Politik war […], hielt ich eine aktive Verteidigung für möglich, während er [Lenin] befürchtete, dass ich ,konterkarieren‘ werde; Inzwischen sei aber „die Politik Lenins von der Geschichte vollkommen gerechtfertigt worden.“134 Und geradezu 130 Ders.: „Pobeda imperializma…“, a.a.O., S. 2. Lerner, S. 71. 131 Originalbezeichnung: Rossijskaja Kommunističeskaja Partija (bol’ŝevikov)/RKP(b). 132 Lockhart, S. 255. 133 Paquet-Tagebuch, S. 114. 134 Radek an Paul Levi, 25. Oktober 1918. Quack, S. 137.

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hymnisch lobpries er Lenins politisch-strategische Befähigung: „Es ist die größte Kunst die des Rückzuges. Es wird vor der Geschichte der größte Ruhm Lenins sein, daß er sie als erster von uns verstanden hat.“135 *** Die heroischen Bilder vom „Roten Oktober“, die wir alle im Kopf haben – insbesondere die dem Sturm auf die Bastille nachgebildete Erstürmung des Winterpalais – sind wahrscheinlich samt und sonders Sequenzen aus Sergej Ejzenštejns136 Film „Oktober“. Sie sehen auf frappante Art zeitgenössischen Filmaufnahmen täuschend ähnlich.137 In Wahrheit verliefen die Tage der „Oktoberrevolution“ in Petrograd im Großen und Ganzen ziemlich unblutig, wie auch Radek freimütig zugab, als er rückblickend schrieb: „Mit Ausnahme der Kämpfe in Moskau, vollzog sich die Oktoberrevolution fast friedlich.“138 Es war die bolschewistische Partei, die im Namen der Arbeiterklasse, faktisch aber über ihren Kopf hinweg, die Macht an sich riss.139 Radek, dem die Revolution fast Selbstzweck war, hatte keine Gelegenheit, sich an diesem Geschehen unmittelbar zu beteiligen. Er kam erst nach Russland als der bolschewistische Umsturz bereits vorbei war und die Grundlagen für den noch unfertigen Sowjetstaat geschaffen waren. Er arbeitete nun als Deutschlandspezialist und Propagandaexperte des Allrussischen Zentralexekutivkomitee der Sowjets, und gleichzeitig für Trockijs Außenamt. Seither gehörte er zur Gruppe Trockij, was seine weitere Laufbahn bestimmte und ihm die Gegnerschaft Stalins zuziehen sollte.140 Im Ersten Weltkrieg wurde erstmals als psychologisches Kampfmittel die Massenpropaganda eingesetzt. Radek war auf sowjetischer Seite der Matador der psychologischen Kriegführung gegen Deutschland. Er redigierte „Die Fackel“ und den „Völkerfrieden“ – Propagandazeitungen, die beim Leser Grundlagenkenntnisse der marxistischen Theorie voraussetzten. Für die weniger Gebildeten ließ er einfache Bildreportagen über die russische Revolution zusammenstellen. Zusammen mit Flugblättern und Broschüren wurden sie vom Flugzeug aus an der Front über den deutschen Schützengräben abgeworfen. Lenin sprach dieser Propaganda große Bedeutung zu und verfasste selbst Flugblätter und Zeitungsartikel.141 Die Wirksamkeit der sowjetischen Propaganda blieb jedoch umstritten. Während John Reed meinte, sie habe zum Sieg über das imperialistische Deutschland beigetragen142, schätzte 135 Radek, Brief aus dem Gefängnis Moabit an Max Barthel, 1919; in: Barthel, S. 62. 136 Ejzenštejn, Sergej Michajlovič (1898–1948); sowjetischer Filmregisseur, der größten Einfluss auf die Filmkunst ausübte. 137 Brahm: „Schreibtischtäter Lenin“, S. 1118. 138 Radek, Proletarische Diktatur und Terrorismus (1920), S. 31. 139 von Rauch, Geschichte der Sowjetunion, S. 91. 140 Schüddekopf, Linke Leute von rechts, S. 415. 141 Vgl. Goldbach, S. 52 f. 142 Legters, S. 37.

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Anželika Balabanova die Erfolge als unbedeutend ein.143 Antonov-Ovseenko144 hat beschrieben, wie deutsche Kriegsgefangene auf die bolschewistische revolutionäre Indoktrination reagierten: „Einmal hatten die Bolschewiken eine durch Propaganda präparierte deutsche Kompanie zur Besichtigung einberufen. Mit der üblichen Präzision unterzog sich die Kompanie den militärischen Übungen. Der [sowjetische] Kommandeur drückte ihnen auf deutsch sein Lob aus, worauf die ganze Kompanie wie ein Mann mit ,Hoch lebe Kaiser Wilhelm!‘ antwortete.“

„Im allgemeinen“, schließt Antonov-Ovseenko, „zeigten sich die deutschen Kriegsgefangenen für unsere Agitation höchst unzugänglich.“145 Obgleich die Mittelmächte die destabilisierende Wirkung der sowjetischen Propaganda fürchteten und Russland im Vertrag von Brest-Litovsk ein allgemeines Agitations- und Propagandaverbot auferlegten146, bedeuteten Radeks Bemühungen auf diesem Feld für die Deutschen jedoch „höchstens eine unangenehme Belästigung.“147 Es gelang der bolschewistischen Propaganda weder die deutschen Truppen nennenswert zu beeinflussen, noch zum auslösenden Moment der deutschen Revolution zu werden. Radeks Frau Rosa ist ihm vermutlich im Januar 1918 aus Stockholm nach Petrograd gefolgt.148 Der amerikanische Sondergesandte Sisson beschreibt sie als „eine mollige, hübsche Frau“, die ebenfalls für die „Pravda“ und „Die Fackel“ schrieb.149 Er traf mit ihr erstmals am 18. Januar 1918 im Gebäude des Petrograder Außenministeriums zusammen: 143 Balabanoff [Balabanova], My Life, S. 412. 144 Antonov-Ovseenko, Vladimir Aleksandrovič (1884–1938); Anhänger Trockijs; führte 1917 den Sturm auf das Winterpalais; eines der drei Mitglieder für Kriegs- und Marineangelegenheiten des Sovnarkom. 145 Antonow-Owsejenko, Erinnerungen an den Bürgerkrieg, Moskau 1924, Band I, S. 227. Shub, S. 342. 146 Artikel II des Brester Vertrages bestimmt: „Die vertragsschließenden Teile werden jede Agitation oder Propaganda gegen die Regierungen oder die Staats- und Heereseinrichtungen des anderen Teils unterlassen. Die Verpflichtung gilt, soweit sie Rußland obliegt, auch für die von den Mächten des Vierbundes besetzten Gebiete.“ 147 Legters, S. 37. 148 Ende Januar 1918 war Radek offenbar bestrebt, seinen Schwiegereltern in Polen Nachricht über den Verbleib ihrer Tochter zukommen lassen und bemühte sich von Brest aus, deren Anschrift in Łódź zu ermitteln. In dem verschleiernd formulierten telegraphischen Gespräch mit Broński am 28. Januar 1918 (siehe oben) gibt er den Auftrag, mit einem „dringenden Staatstelegramm“ an „meinen Bruder Abramovič [in] Moskva, Ljalin Pereulok 20 oder 22“, die Adresse „meiner Eltern in Lodz“ zu erfragen. (Sisson, S. 279). Da Radek keinen Bruder hatte und seine verwitwete Mutter in Tarnów lebte, waren damit offensichtlich sein Schwager Abramowicz und die Schwiegereltern gemeint. 149 Sisson, S. 239.

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„Im ganzen Außenministerium fand ich nur zwei Personen, Rosa Radek […] und Šolopina150 […] und beide nicht im Bürotrakt, sondern in den prächtigen Wohnräumen, die früher als Privatgemächer des Ministers dienten. Sie waren in Pelze eingemummt und verzehrten ein aus Brot und Tee bestehendes Frühstück, das auf einem Tisch in einem Vorzimmer aufgebaut war, während im anschließenden Salon Birkenholz zum Heizen auf dem Kaminrost aufgestapelt lag. Ransome, mein Begleiter, und ich lachten über sie, weil sie froren, wo sie es doch leicht warm haben konnten, doch sie zuckten mit den Schultern. Sie hätten kein Feueranmachholz gefunden, sagten sie und es wäre zuviel Aufwand, danach zu suchen.“151

Während seine Frau frierend in Petrograd saß, weilte Radek als Mitglied der russischen Delegation in Brest-Litovsk. Als „einer der fanatischsten Vertreter der proletarischen Weltrevolution“152 erzürnte er dort mehr als vier Wochen lang mit seinem unverfrorenen Auftreten die deutschen und österreichischen Diplomaten auf das höchste. Mit zynischer Offenheit sagte er zu General Hoffmann: „Bedenken Sie […], daß wir nichts zu verlieren haben, während hinter Ihnen die Krone der Monarchie steht. Sie wagen einen höheren Einsatz in diesem Spiel.“153 Als Graf Czernin ihn einmal als „Russen“ apostrophierte, entgegnete Radek: „Meine Staatsangehörigkeit, Graf, ist nicht russisch. Sie ist die gleiche, wie die Ihre – österreichisch. Es ist nicht die Staatsangehörigkeit, die uns an die Ihnen entgegengesetzte Seite des Tisches gebracht hat.“154 Er sollte und wollte als Pole und österreichischer Fahnenflüchtiger demonstrativ dartun, dass die Revolution die Sache einer Klasse und nicht einer Nation vertrat.155 Den einfachen deutschen Soldaten, die als Ordonnanzen bei den Verhandlungen bedienten, pflegte er in der Gegenwart ihrer Offiziere die Hände zu schütteln und sie in herzlichem Ton als „Genossen“ anzusprechen.156 Sein Verhalten entsprach der Intention Trockijs, der als Außenminister der Hauptagitator der Revolution geblieben war und in Brest „die donnernde Anklage gegen die Diplomatie aller Imperialisten“ vorbringen wollte.157 Nach seinem Politikverständnis hatten es „historische Umstände“ so gefügt, dass bei den Friedensverhandlungen „die Delegierten des revolutionärsten Regimes, das die Menschheit je gekannt hat, an einem Tisch sitzen mußten mit den diplomatischen Vertretern der reaktionärsten Kaste unter allen regierenden Klassen.“158 Gleich ihm verachtete auch Radek „das 150 Šolopina, Evgenija Petrovna; Trockijs junge Sekretärin, die im Sommer 1918 den britischen Journalisten Arthur Ransome heiratete. 151 Sisson, S. 239. 152 Hahlweg, Der Diktatfrieden von Brest-Litowsk, S. 27. 153 Blum, S. 88. 154 Hard, S. 124. 155 Deutscher, Trotzki I, S. 342. 156 Hard, S. 125. 157 Trockij in einem Bericht an den Petrograder Sowjet. Deutscher, a.a.O., S. 334. 158 Trotzki [Trockij], Mein Leben, S. 338

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diplomatische Gegacker“159. „Die Diplomaten arbeiten für uns“, pflegte er zu sagen. „Sie sind so dumm, daß wir gar nicht klug zu sein brauchen.“160 Er legte keinen Wert auf ein gutes persönliches Verhältnis zu den Vertretern der Mittelmächte, hätte er doch dann „weder als Cato noch als Götz von Berlichingen sprechen“ können,161 wie er meinte. Überwiegend sieht man Radek in Brest-Litovsk als einen Skandalmacher, der „nur eine unbedeutende Rolle“ spielte162. Das verkennt nicht nur die ideologischen Motive seines absichtlich brüskierenden Verhaltens, das die Vertreter der Mittelmächte psychologisch verunsichern sollte, sondern ist möglicherweise auch zu vordergründig geurteilt. In der deutschen Politik war sein aufsehenerregendes Auftreten in Brest jedenfalls ein Thema. Für die Reichsbehörden war er „ein höchst gefährlicher und gewissenloser Radikaler, dem jedes Mittel recht sein wird, um Deutschland zu schädigen“ und man sprach von „seinem großen Einflusse auf die russischen Staatsmänner.“163 Am 22. März 1918 berichtete der Fraktionsführer der SPD, Philipp Scheidemann, über eine Unterredung mit Moskaus Abgesandtem Petrov164: „Über den Radek sagte Petrov aus, das [sic!] dessen Rolle in Brest nicht von der Bedeutung sei, die man ihm in Deutschland zuschreibt; daß er diese Bedeutung und Beachtung in Rußland überhaupt nicht gefunden habe.“165 Das mag auf mangelndes Hintergrundwissen Petrovs zurückzuführen oder nur abwiegelnd gemeint gewesen sein, denn Staatssekretär von Kühlmann, als der deutsche Verhandlungsführer, bescheinigte Radek eine keineswegs unwichtige Rolle. Er habe die russische Delegation ideologisch stark beeinflusst und auch erkennbar großen Einfluss auf Trockij ausgeübt.166 Dieser aus Beobachtungen vor Ort entstandene Eindruck des erfahrenen Diplomaten und Menschenkenners trifft wohl zu, auch wenn er Radek in seinen späteren Memoiren nicht erwähnt und die Verhandlungsprotokolle dessen Agieren hinter den Kulissen nicht erfassen. 159 Radek an Paul Levi, 25. Oktober 1918. Quack, S. 138. 160 Blum, S. 89. 161 Ebenda. Die der Haltung Trockijs entsprechende Auffassung Radeks ist ableitbar aus den Vorwürfen, die er 1918 gegen Ioffe wegen dessen guten Verhältnisses zum Berliner Auswärtigen Amt erhob. 162 Wheeler-Bennettt: Brest-Litowsk. The Forgotten Peace, London 1938, S. 218. So auch Legters (S. 39) und Lerner (S. 69): „Letztlich spielte Radek in Brest-Litovsk eine unwichtige Rolle.“ 163 Schreiben des Staatssekretärs des Reichs-Marine-Amtes an den Unterstaatssekretär der Reichskanzlei vom 31. Januar 1918; Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, 131 adh 3 Nr. 2. Möller, S. 30. 164 Der Vorsitzende des Komitees für Auswärtige Angelegenheiten des VCIK, Petrov, überbrachte im März 1918 in Berlin die Nachricht von der Ratifizierung des Friedensvertrags durch den IV. Allrussischen Sowjetkongress. Scheidemann führte bei dieser Gelegenheit ein Gespräch mit ihm, über das er der SPD-Fraktion berichtete. Mathias, Erich: Die Reichstagsfraktion, S. 473. 165 Ebenda. 166 Von Kühlmann auf einer Besprechung am 18. März 1918 mit den Fraktionsführern des Reichstages im Reichskanzlerpalais. Matthias, Erich: Der Interfraktionelle Aussschuss, S. 250.

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Radek betrachtete die Entwicklung in Russland öfter nach der Schablone der französischen Revolution. Bereits seit dem Frühjahr 1917 hatte er von der Notwendigkeit gesprochen, die russische Revolution im Falle ihrer Bedrohung nach dem Vorbild von 1793 durch Terror und Krieg zu verteidigen. Aus Brest-Litovsk nach Petrograd zurückgekehrt, wurde er einer der Hauptgegner des Friedensvertrages, der seiner Meinung nach die Existenz Sowjetrusslands in Frage stellte. Ebenfalls davon überzeugt, dass die russische Revolution ohne die deutsche Revolution vernichtet werden würde, trat er als „einer der bedeutendsten Führer“167 der linken Kommunisten an die Seite Bucharins. In der Zeitschrift „Kommunist“ entwickelte er das Programm des revolutionären Krieges gegen den deutschen Imperialismus. Er forderte, man solle wie einst das französische Revolutionsheer vormarschieren, Deutschland angreifen und vereint mit den deutschen Arbeitern die Revolution erzwingen.168 Demgegenüber wollten Lenin und seine Anhänger dem faktischen Sieger Raum abtreten, um Zeit zu gewinnen. Die so gewonnene Atempause sollte zur Konsolidierung des Sowjetregimes und zum Aufbau einer neuen Armee genutzt werden. Die Kriegsfraktion wandte dagegen ein, die Mittelmächte würden eine Atempause nicht gestatten, sondern in der Durchsetzung der harten Friedensbedingungen alles tun, um die Revolution zu erdrosseln. Um zu überleben, müssten die Sowjets einen revolutionären Krieg entfachen und ihre Streitkräfte im Kampfe selbst schaffen. Seither hat sich die Auffassung verfestigt, dass Lenins Politik alle Verdienste einer realistischen Einschätzung besaß und die Kriegsfraktion, der Lenin das Recht auf Opposition ausdrücklich zugebilligt hatte, den Eindruck einer bolschewistischen Donquichotterie machte.169 So schreibt von Rauch beispielsweise, die Gruppe um Bucharin und Radek habe sich „in erster Linie vom Gesichtspunkt einer ideologischen Linientreue leiten“ lassen und „für Konzessionen an die Wirklichkeit keinen Sinn“ gehabt.170 Noch wesentlich schärfer urteilen marxistische Geschichtsschreiber über Radek und „die Fraktion der sogenannten ,linken Kommunisten‘: „Sich in radikal revolutionären Phrasen ergehend, waren die ,linken Kommunisten‘ hingegen weit entfernt von einer wahrhaft revolutionären Politik, da die Verwirklichung ihrer Bestrebungen der Revolution den Untergang gebracht hätte.“171 Diese Auffassungen werden jedoch den Führern der Kriegsfraktion nicht ganz gerecht, wie Isaac Deutscher herausgearbeitet hat:

167 Price, My Reminiscences, S. 273. 168 Vgl. Baumgart, Ostpolitik, S. 31; Deutscher, Trotzki [Trockij] I, S. 368–371; Fischer, R., Stalin, S. 249; Schüddekopf, Linke Leute, S. 58. 169 Deutscher, Trotzki I, S. 367. In der kurzen Zeitspanne intensiver und ganz freier Diskussionen innerhalb der Partei um den Frieden versicherte Lenin in der Sitzung des CK am 23. 2. 1918 den Gegnern des Brester Vertrages, dass sie jedes Recht hätten, eine Agitation gegen den Frieden zu betreiben. Ebenda, S. 528, Anm. 85. 170 von Rauch, Geschichte der Sowjetunion, S. 111. 171 Rosenfeld, S. 41.

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„Es stimmt […], daß die Kriegsgruppe oft unter konfusen Gefühlsantrieben handelte und keine konsequente Politik vertrat. Aber auf ihren Höhepunkten verteidigten ihre Anhänger ihre Sache sehr eindrucksvoll und realistisch; auch wurden viele ihrer Einwände durch die Ereignisse bestätigt. Die ,Atempause‘, die Lenin erhielt, erwies sich in Wirklichkeit als halbe Illusion. Nach Unterzeichnung des Friedens tat die kaiserliche Regierung alles, was sie konnte, um die Sowjets an der Kehle zu würgen […]. Als Bucharin und Radek gegen Rußlands Kapitulation sprachen, betonten sie, daß dieser Umstand die Handlungsfähigkeit Deutschlands ernsthaft einschränkte. In dieser Hinsicht bewies die innere Geschichte des Krieges, als sie bekanntgeworden war, daß ihr Urteil richtiger als das Lenins war. Allein die Besetzung der Ukraine und südrussischer Gebiete banden mehr als eine Million deutsche und österreichische Truppen. Wenn sich die Russen geweigert hätten, den Frieden zu unterzeichnen, hätten die Deutschen im besten Fall versuchen können, Petrograd einzunehmen. Sie hätten kaum einen Marsch auf Moskau riskieren können.“172

Radek hatte solche Überlegungen im Übrigen noch nicht aufgegeben, als sich die Sowjetregierung im August 1918 zusätzlich zur Intervention der Alliierten durch erneute deutsche Truppenzusammenziehungen bedroht sah. Gegenüber Alfons Paquet äußerte er: „Es sei besser, alles aufzugeben, sich hinter die Volga zum sibirischen Getreide zurückzuziehen, die Deutschen in ihrer Habsucht anrennen zu lassen, ihnen Petersburg, Moskau und die Versorgung der Städte zu überlassen, sie würden dadurch den Krieg im Westen verlieren […].“173 Deutscher schreibt weiter, auch das Argument Bucharins und Radeks, die neue Armee auf dem Schlachtfeld und nicht in einer Ruhepause in den Kasernen aufzubauen, sei „paradoxerweise realistisch“ gewesen: Auf diese Weise wurde schließlich die Rote Armee tatsächlich aufgebaut; und Bucharins und Radeks Reden auf dem siebenten Parteikongress nahmen hier die Militärpolitik vorweg, die sich Trotzki und Lenin in den kommenden Jahren zu eigen machen und verfolgen sollten.“174 Die eigentliche Schwäche der Kriegsfraktion, urteilt Deutscher, lag nicht so sehr in der von ihr vertretenen Sache, als vielmehr in ihrem Mangel an Führung. Einige Angehörige der Linksopposition, wie Bucharin und Radek, verfügten über große geistigen Gaben und waren brillante Redner und Pamphletisten; andere waren mutige Männer der Tat. „Doch keiner von ihnen besaß den unbezähmbaren Willen, die moralische Autorität, die politischen und strategischen Talente, die taktische Biegsamkeit und die administrative Fähigkeit, die von einem Führer in einem revolutionären Krieg gefordert wird.“ Nachdem sich Trockij der Opposition verweigert hatte, blieb die Führung der Kriegsfraktion vakant und damit „repräsentierte sie lediglich einen Geisteszustand, ein moralisches Ferment, einen literarischen Schrei

172 Deutscher, a.a.O., S. 367. 173 Paquet-Tagebuch, S. 114. 174 Deutscher, a.a.O. S. 368.

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der Verzweiflung.“175 Dennoch müssen in der Linksopposition Überlegungen darüber angestellt worden sein, was zu tun sei, wenn man im Zentralkomitee die Mehrheit erlangen sollte. Man hätte dann eine Regierung ohne Lenin bilden und ihn als Gegner des Revolutionskrieges möglicherweise verhaften müssen. 1923 behauptete Zinov’ev, dass Bucharin und Radek einen solchen Schritt ernsthaft mit den linken Sozialrevolutionären erörtert hätten. Radek bestritt diese Behauptung und meinte, sie hätten über die Verhaftung Lenins nur gescherzt. Vor diesem Hintergrund gewinnt die von Oberst Robins überlieferte übermütige Drohung Radeks, Lenin zu verhaften, einen ernsthaften Unterton. Aber sie war wohl tatsächlich nur ein Scherz. Wäre wirklich eine Verschwörung gegen Lenin im Gange gewesen, hätte sich Radek kaum beeilt, Lenin vorher zu warnen.176 Oder vielleicht doch?

175 Ebenda. 176 Ebenda, S. 528, Anm. 78 .

8.  Russischer Oktober – Moskau (1918) Am 25. März 1918 wurde Georgij Čičerin1, der als Stellvertreter Trockijs das russische Außenkommissariat bereits seit Wochen de facto geleitet hatte, zum neuen Außenkommissar ernannt. Damit trat ein von Lenin wegen seines scharfen politischen Verstandes und seiner hohen diplomatischen Qualitäten geschätzter Intellektueller an die Spitze des NKID. Zu seinem Stellvertreter ernannte man den für den Bereich Asien verantwortlichen Armenier Lev Karachan2. Radek erhielt bei der Neubesetzung des NKID die Leitung der Mitteleuropäischen Abteilung übertragen. Nun sah auch er sich veranlasst, von Petrograd nach Moskau überzusiedeln: „Als der Friede geschlossen war und ich, obwohl ich sein Gegner, genötigt wurde die ,Mitteleuropäische Abteilung‘ im Volkskommissariat für Ausländische Angelegenheiten zu übernehmen, mußte ich Petrograd verlassen.“3 Radek arbeitet wieder mit, verkündete Lenin4, und das traf voll zu. Neben der Funktion als Abteilungsleiter im Außenkommissariat, mit der er im Wesentlichen für Deutschland zuständig wurde, hatte Radek in Moskau noch immer die Leitung der Abteilung für Auswärtige Beziehungen (Internationale Angelegenheiten) beim VCIK inne. Im August 1918 übernahm er als zusätzliche Aufgabe die Leitung des Propagandakomitees des VCIK (Propagandaausschuss des Zentralexekutivkomitees der Räte). Er publizierte gewissermaßen als Einmann-Propagandazentrale zunächst die Broschüren seiner britischen Freunde Philips Price und Arthur Ransome gegen die alliierte Militärintervention in Russland und dann auch eigene Redetexte und Pamphlete.5 Für die „Izvestija“ und die „Pravda“ schrieb er „immer frisch zur Situation“, und häufig seine Taktik ändernd6, zu tagesaktuellen außenpolitischen Themen, von Wilsons vierzehn Punkten über die alliierte Intervention in Russland bis hin zu den anglo-amerikanischen Siegesaussichten, über die Situation in der Türkei und die Entwicklung in Fernost und fortwährend über die Lage in Deutschland und 1 Čičerin, Georgij Vasil’evič (1872–1936); seit 1890 Beamter im zaristischen Außenministerium; lebte von 1905–1917 als sozialdemokratischer Emigrant in Westeuropa (Berlin, Paris, London); März 1918–1930 Volkskommissar des Äußeren. 2 Karachan, Lev Michajlovič (1889–1937); Berufsrevolutionär, Jurist, Journalist und Diplomat; gehörte wie auch Radek der Friedensdelegation in Brest-Litovsk an; mit Unterbrechungen bis 1934 Stellvertretender Außenkommissar und Verwendungen als Botschafter in Warschau und Peking. 1934–1937 Sowjetbotschafter in der Türkei; 1937 als „Trotzkist“ zum Tode verurteilt und erschossen. 3 Radek, Brief aus dem Gefängnis Moabit an Max Barthel, 1919; in: Barthel, S. 63f. 4 Lenin, Werke, Ergänzungsband Oktober 1917 – März 1923, S. 78f.; Interview für den Korrespondenten der Zeitung ,Folkets Dagblad-Politiken‘ vom 1. Juli 1918: „Die Opposition innerhalb der Partei der Bolschewiki gegen den Brester Frieden, erklärte Lenin, hat sich gelegt. Bucharin. Radek und andere arbeiten wieder mit.“ 5 Paquet-Tagebuch, S. 124. 6 Ebenda, S. 127.

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die Aussichten der Weltrevolution.7 Ein britischer Diplomat charakterisierte sein Wirken im revolutionären Moskau des Jahres 1918 wie folgt: „Er war der Virtuose des bolschewistischen Journalismus und seine Konversation war genauso geistsprühend wie seine Leitartikel. Botschafter waren sein Jagdwild und Gesandte seine Zielscheiben. Als Stellvertretender Außenkommissar empfing er die Botschafter und Gesandten am Nachmittag und am nächsten Morgen griff er sie unter dem kaum tarnenden Pseudonym Viator [der Wanderer] in der Izvestia an. Er war ein Kobold voller Boshaftigkeit und mit einem köstlichen Sinn für Humor. Er war der bolschewistische Lord Beaverbrook.“8

Als unter Lenins Vorsitz der Rat der Volkskommissare eine Kommission für den Vollzug der Bestimmungen des Brester Vertrages ins Leben rief, wurde Radek zu deren Leiter berufen. Nachdem die Sowjetregierung nicht gewillt war, die vertraglichen Auflagen vollständig zu erfüllen, war der gewitzte Vertraute Lenins der geeignete Kommissionsvorsitzende. Lenin hatte die politische Richtung vorgegeben, als er auf dem VII. Parteitag den Vertrag „schamlos“ nannte. Er verglich ihn vielsagend mit dem Frieden von Tilsit, den Napoleon einst Preußen aufgezwungen hatte, ohne es dadurch an seinem Wiederaufstieg und späteren ruhmreichen Waffentaten hindern zu können, und er weigerte sich energisch, die Einzelheiten des Vertragstextes zur Kenntnis zu nehmen: „Was, ich soll nicht nur diesen frechen Friedensvertrag unterschreiben, sondern ihn auch noch lesen? Nein, niemals! Ich werde ihn weder lesen noch seine Klauseln erfüllen wann immer sich eine Gelegenheit dazu bietet.“9 Für Radek bedeutete die zusätzliche Aufgabe einen Ausflug in die Gefilde der entstehenden Sowjetbürokratie, die sich in ihrer Schwerfälligkeit kaum von der zaristischen Verwaltung unterschied. Anlässlich einer ersten behördenübergreifenden Besprechung konfrontierten ihn die Vertreter der Volkskommissariate mit der Forderung, zusätzliche Verwaltungsstrukturen für die Durchführung der vertraglichen Verpflichtungen zu schaffen, und veranschlagten dafür monatliche Kosten in Höhe von fünf bis sechs Millionen Rubel. Radek lehnte das Ansinnen ab und erwies sich als geschickter Administrator: „Ich, als ein Mensch, der früher nie mehr als 100 Rubel im Monat ausgeben konnte, war entsetzt […] [und] schlug vor, in jeder Behörde nur einen Mitarbeiter einzuteilen, mit dem ich mich in Verbindung setzen würde […].“ Als er Lenin und Sverdlov davon berichtete, meinte letzterer belustigt: „Wenn wir ihre Anträge nicht ablehnen würden, dann würden wir wahrscheinlich größere Zahlungen an die Kommissariate leisten, als für die Erfüllung des Friedensvertrages benötigt werden.“ Befragt, welches Budget für den „zentralen Apparat“ der Kommis7 Degras, Calendar, S. 3, 4, 16, 17, 21, 23, 28, 48. 8 Lockhart, S. 255. Lord Beaverbrook, William (1879–1964); britischer Politiker; baute ein Presseimperium auf; 1918 britischer Informationsminister. 9 Von Lenins Sekretärin Stasova überlieferte Äußerung des Sowjetführers, als der Stellvertretende Außenkommissar Karachan ihm den Vertragstext vorlegen wollte. Shub, S. 351.

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sion angemessen sei, nannte Radek die Summe von 100 000 Rubel – ein Betrag, der wegen seines vergleichsweise bescheidenen Umfangs die Sowjetführer zu einem Heiterkeitsausbruch veranlasste. „Wahr ist, daß wir nicht allzuviele Punkte des Brester Vertrages erfüllt hatten“, erzählte Radek im Nachhinein, aber „ich war ganz stolz, als ich am Tage der Ungültigkeitserklärung [13. November 1918] […] an die Kasse des VCIK 93 000 Rubel von den 100 000 zugeteilten Rubeln zurückgeben konnte.“10 Das Außenkommissariat war damals in einem Flügel des dem Bol’šoj-Theater benachbarten Hotel „Metropol’“11 untergebracht, das, von den Sowjets beschlagnahmt, in „Erstes Haus der Sowjets“ umbenannt worden war und in dem auch das VCIK seine Sitzungen abhielt. Radeks Amts- und Wohnräume, in denen Sowjetgrößen, Diplomaten, Journalisten und Kriegsgefangene verkehrten und in denen es oft zuging wie in einem Taubenschlag, befanden sich in einer der durch den Lift erreichbaren oberen Etagen, wahrscheinlich im fünften Stock. Durch das mit seiner Sekretärin Mira Gec besetzte Vorzimmer gelangte man in sein Büro. Dort war eine direkte Leitung zu Lenins Wohnung im Kreml’ installiert, über die er den Sowjetführer häufig anrief. In einem kleinen Nebenraum, dem sogenannten „Esszimmer“, nahm er an einem weißgedeckten Tisch gemeinsam mit seiner Frau, dem häufig anwesenden Schwager Abramovič und auch Besuchern die Mahlzeiten ein, die zumeist aus der Küche des „Metropol’“ kamen. Ein einfaches Schlafzimmer mit zwei Betten vervollständigte die Suite.12 Alfons Paquet, seinerzeit Chef der Presseabteilung des deutschen Generalkonsulats, vermittelt einen Eindruck von Radeks unkonventionellen Lebensumständen im hungernden Moskau: „[…] gehe ins Metropol’ […]. Radek ist […] ungefähr 8 Uhr [abends] zurück […] ißt in Eile sein Abendessen, einen Teller Kartoffelsuppe, einen Teller mit Rest des Mittagessens, Rest eines Huhnes und kalte Bratkartoffeln. Schlingt es herunter, sagt: ich werde das nächste Mal, wenn ich nicht fertig aufesse, den Rest des Mittagessens zum Fenster hinauswerfen, damit es mir nicht wieder vorgesetzt werden kann… Welches Leben lebt dieser Mensch! Vorige Nacht von 2 bis 6 im Kreml, Wache bei Lenin. Dann sogar in einem Café. [Die Sekretärin] Mira kein Auge zugetan.“13 „[…] treffe Radek mit Mira und Vorst14 im ,Eßzimmer‘, Samovar, Schwarzbrot, Butter und eine Dose Krabben aus Vladivostok […]. Später noch Bucharin […]. Langes Ge10 Radek, „Ja. M. Sverdlov“, a.a.O., S. 37. Alfons Paquet hält in seinem Tagebuch eine etwas andere Version Radeks fest. Danach beabsichtigte die Sowjetregierung 1 Million Rubel bereitzustellen, er habe aber nur 50.000 Rubel gefordert und davon – mit obiger Angabe übereinstimmend – lediglich 7.000 Rubel verbraucht; 43.000 Rubel seien übriggeblieben. Paquet-Tagebuch (18.11.1918), S. 252. 11 Hotel Metropol’ (Gostinica Metropol’), 1899–1903 erbaut, gehörte es vor dem Ersten Weltkrieg zu den wenigen erstklassigen Hotels in Moskau. 12 Paquet-Tagebuch, S. 58, S. 75, S. 94, S. 100. 13 Ebenda (6. August 1918), S. 94. 14 Vorst, Hans. Pseudonym von Karl Johann von Voss (1884–1938); Korrespondent des „Berliner Tageblatts“ in Russland.

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spräch […]. In der Erregung des Gesprächs, sitze auf dem Tisch und stehe mit einem Fuß auf dem Stuhl, Radek wirft die Asche seiner Zigarre in eine eben erst geöffnete Konservenbüchse.“15

Radek verkehrte im Café „Tramble [Tramblet]“, wo er gelegentlich ein „armseliges bitok16 für 20 Rubel“ frühstückte17 und nachmittags lange Gespräche über „sozialistisch-historische und philosophisch-soziale Literatur“ führte.18 Wenn sich die Gelegenheit bot, besuchte er mit Frau und Sekretärin im Kreise der Sowjetprominenz Theateraufführungen: „Abends von ½ 11 bis fast 1 Uhr im Kusneckij most, Nr. 5, ehemals Café Pittoresk, jetzt ,Roter Hahn‘ Vorstellung von Schnitzlers ,Grünem Kakadu‘ in futuristischer Art […]. Im Zwischenakt nebenan im ,Schwanen‘. Wie Münchner Fasching. Alles stößt sich, es giebt [sic!] Geflügel und Gurke, Thee, varenec [im Ofen gedämpfte Sauermilch] zu 4½ Rubel das Glas, am Tisch Kamenev, Pjatakov, Radek, Frau und Mira etc. Ganecki [HaneckiFürstenberg].“19

Der britische Diplomat Bruce Lockhart20 schilderte Radek als eine „groteske Gestalt“: „Ein kleiner Mann mit einem großen Kopf, abstehenden Ohren, glattrasiertem Gesicht (seinerzeit trug er noch nicht diese schreckliche Franse, die jetzt als Bart gilt), mit Brille und einem großen Mund mit gelben tabakverfärbten Zähnen, in dem eine große Pfeife oder Zigarre niemals fehlte, war er immer in einen altmodischen graubraunen NorfolkAnzug mit Kniehosen und Gamaschen gekleidet. Er war ein großer Freund von Ransome […]. Beinahe täglich tauchte er in meinen Räumen auf, eine englische Reisemütze saß flott auf seinem Kopf, seine Pfeife dampfte fürchterlich, einen Packen Bücher unter seinem Arm und einen riesigen Revolver umgeschnallt. Er sah aus, wie eine Mischung aus einem Professor und einem Banditen.“21 15 Paquet-Tagebuch (11. August 1918), S. 99f. 16 Russisch für „Klops“, „Fleischkloß“. 17 Paquet-Tagebuch, S. 97. 18 Ebenda, S. 130f. 19 Ebenda, S. 214f. 20 Lockhart, Sir Robert Hamilton Bruce (1887–1970); britischer Generalkonsul in Moskau; Publizist. 21 Lockhart, S. 255. Ruth Fischer folgt dieser Schilderung, wenn sie Radek beschreibt: „Mit Sinn für Ironie kleidete und trug er sich in einer Art, die seine körperlichen Besonderheiten hervorhob; er war der groteske Apostel des Bolschewismus, den jeder Reporter sofort von weitem erkannte an seiner kleinen Figur, mit dem gewaltigen Kopf, dem [seinerzeit fehlenden] Bart, der das glattrasierte Gesicht wie das eines Affen umrahmte, den abstehenden Ohren und der Pfeife zwischen den tabakgelben Zähnen. Wenn er über die Straße ging, die Ballonmütze auf dem Kopf, hatte er stets ein großes Bündel Zeitungen unter dem Arm, obenauf die London Times.“ Fischer, Ruth, Stalin, S. 249.

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Auf den deutschen Major von Bothmer22 machte Radek hingegen einen weniger skurrilen Eindruck; er notierte am 20. April 1918 in seinem Tagebuch: „Gestern nachmittag im Kommissariat für Auswärtige Angelegenheiten […] wir gingen gleich zu Radek. Es war nicht uninteressant, diese berühmte, originelle Persönlichkeit kennenzulernen […]. Sein richtiger Familienname ist Sobelsohn; er ist tschechischer Jude; bartlos, hageres Gesicht, kluge aber stets unruhige Augen mit flackernden und unsteten Pupillen […] bekanntlich ein geschickter und leidenschaftlicher Agitator.“23

Ein vermutlich um den 1. Mai 1918 auf der Straße nach Moskau“ entstandenes Foto zeigt Radek, wie von Lockhart beschrieben, glattrasiert, mit Brille, Reisemütze und Pfeife, zusammen mit seiner Frau Rosa und Kamenevs Frau (Trockijs Schwester) im offenen Fond des Wagens von Oberst Robins. Es ist das einzige auffindbare Bild von Rosa Radek: Eine nicht unebene Mittdreißigerin im „Schwarzseidenen“ mit weißem Kragen; die dunklen Haare über dem vollen Gesicht zu einer Art Bubikopf frisiert.24 Wie Radek, der nach russischer Sitte mit seinem Vaternamen „Bernhard“ als Karl Berngardovič angesprochen wurde, führte auch sie jetzt ihr Patronymion und wurde als Roza Mavrikievna apostrophiert. Sie arbeitete in Moskau im „Zentralen Kollegium für die Angelegenheiten der Kriegsgefangenen und Flüchtlinge“, dem sogenannten „Centroplen“25, geleitet von Radeks SDKPiL-Genossen Iosif Unšlicht, dessen Räume im „Metropol’“ denen Radeks benachbart waren.26 Anscheinend im sechsten Monat schwanger, tauchte sie Anfang August 1918 als Mitglied einer Delegation, die Gespräche über Kriegsgefangenenfragen führen sollte, unvermutet in Berlin auf. Aus Sorge Radek könnte ihr bald folgen, ließen die deutschen Behörden sie unverzüglich wieder zur deutsch-russischen Grenze zurückeskortieren und nach Russland abschieben.27 Als Alfons Paquet der „blaß und elend“ aussehenden Frau daraufhin sein Bedauern über „die unangenehmen Zwischenfälle in Berlin und 22 Bothmer, Karl Freiherr von (1880–1947); Major im Generalstab; 1918 Vertreter der Obersten Heeresleitung für Verkehrsfragen und den Kriegsgefangenenaustausch im deutschen Generalkonsulat in Moskau. 23 von Bothmer, S. 17. Die Herkunftsangabe „tschechischer Jude“ ist selbstverständlich falsch. 24 Hard, Abbildung gegenüber S. 104. Der Bildtext verwechselt jedoch Rosa Radek mit der neben ihr sitzenden Schwester Trockijs. 25 „Central’naja kollegija po delam plennych i bežencev/Centroplenbez“, auch „Central’nyj komitet“ bzw. „Central’naja komissija po delam plennych i bežencev“ genannt – Kurzbezeichnung: „Centroplen“. Es handelte sich um das anfangs dem VCIK zugeordnete und im Februar 1918 von Petrograd nach Moskau verlegte „Kriegsgefangenenbüro“ T. T. Ul’janovs, das auch als „Kriegsgefangenen-Abteilung des VCIK“ bezeichnet wurde. Es wurde am 23. April 1918 unter dem neuen Namen „Centroplen“ dem Kriegskommissariat eingegliedert, von April 1918 bis Mai 1919 von I. S. Unšlicht geleitet und schließlich dem Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten unterstellt. 26 von Bothmer, S. 57. 27 Auswärtiges Amt: „Akten betreffend den russischen Bolschewiken Karl Radek 1917–1919“, 2. August 1918. Lerner, S. 77, Anm. 4.

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an der Grenze“ aussprach, meinte sie lakonisch, „in Zeiten der Revolution ist das garnichts.“28 Die Frontpropaganda hatte nach der Unterzeichnung des Brester Vertrages ein Ende gefunden, umso stärker wurde nun durch „Narkomindel“ und „Centroplen“ die Arbeit unter den Kriegsgefangenen weiter betrieben. Lagerkomitees wurden gegründet und in Moskau entstand die „Deutsche Gruppe der Kommunistischen Partei Russlands (Bol’ševiki)“ mit dem von Werner Rakow29 redigierten Organ „Die Weltrevolution“.30 Anželika Balabanova schreibt, nachdem ihr zu Ohren gekommen sei, Radek organisiere Auslandsabteilungen der Kommunistischen Partei mit Sitz im Außenkommissariat, habe sie herausgefunden, „[…] daß diese weithin verkündete Errungenschaft ein Betrugsmanöver war. Die Mitglieder dieser Abteilungen waren praktisch alle Kriegsgefangene in Russland: Die meisten von ihnen waren erst vor kurzem wegen der Vergünstigungen und Privilegien, welche die Mitgliedschaft beinhaltete, in die Partei eingetreten. Es hatte faktisch keiner von ihnen Kontakt zur Revolutions- oder Arbeiterbewegung seines Heimatlandes und sie wußten nichts über die Grundsätze des Sozialismus. Radek bereitete sie darauf vor, in ihre Heimatländer zurückzukehren, wo sie ,für die Sowjetunion arbeiten‘ sollten.“31

Die von Radek initiierten Auslandsabteilungen waren keineswegs nur ein bloßes Täuschungsmanöver zu Propagandazwecken. Auch wenn sie im Grunde personell auf den Anhang der unter den Kriegsgefangenen rekrutierten Mitarbeiter Radeks auf dem Propagandasektor, wie Ernst Reuter, Werner Rakow, Rudolf Rothkegel32, Béla Kun und Josip Broz-Tito sowie deren Gefolgsleute beschränkt blieben, war es im Kern der Versuch, gewissermaßen in der Retorte, die Keimzelle für eine neue kommunistische Internationale künstlich zu erschaffen; ein Unternehmen, dem der Erfolg allerdings versagt blieb. Gleichzeitig handelte es sich dabei aber auch um die ersten sporadischen Ansätze zur Subversion fremder Staaten, die im Außenkommissariat koordiniert und von Radek geleitet wurden. Angeworbene Kriegsgefangene wurden versehen mit reichlichen Geldmitteln nach Deutschland und Österreich, aber auch unter dem Schutz diplomatischer Immunität in die neutralen Länder Schweiz, Schweden, Holland geschickt, um Kontakte zu knüpfen und Propaganda zu treiben. Nach John Reed beschäftigte das Narkomindel im September 1918 achtundsechzig Agenten in 28 Paquet-Tagebuch (31. August 1918), S. 136. 29 Rakow, Werner Waldemar Richard (1883–1936); Bruder von Nikolai Rakow (siehe unten, Kapitel 10, Anm. 9); 1914 als deutscher „feindlicher Ausländer“ in Russland interniert, schloss er sich den Bol’ševiki an und kämpfte an der Seite der Roten Armee; Ende 1918 ging er mit Radek nach Deutschland und war als dessen langjähriger Adlatus in KPD und Komintern unter dem Namen „Felix Wolf“ tätig; 1937 als „Konterrevolutionär“ zum Tode verurteilt und erschossen. 30 Goldbach, S. 17. 31 Balabanoff [Balabanova], My Life, S. 210. 32 Rothkegel, Rudolf (geboren 1889); aus Hamburg stammend; 1918 im deutschen Konsulat in Moskau Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrats; später KPD-Mitglied.

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Österreich, eine noch größere Anzahl in Deutschland sowie weitere in Frankreich, der Schweiz und Italien. Auch Rotkreuz-Mitarbeiter, die die Rückführung von russischen Kriegsgefangenen organisieren sollten, wurden zu Propaganda und Subversion eingesetzt.33 Der Erfolg dieser Maßnahmen blieb jedoch zweifelhaft. Die Balabanova berichtet von zwei nach Italien entsandten Agenten, die statt revolutionäre Umtriebe zu finanzieren, das Geld in Cafés und im Bordell verjubelten.34 Der Frieden von Brest-Litovsk hatte Lenin nicht die erhoffte „Atempause“ gebracht, er löste vielmehr im Frühjahr 1918 eine Sturmflut aus, die das Sowjetregime hinwegzufegen drohte. Die bislang probolschewistische Volksstimmung schlug um. Die linken Sozialrevolutionäre schieden aus Lenins Koalitionsregierung aus und wurden zusammen mit den Anarchisten erbitterte Gegner der Bol’ševiki. Gleichzeitig landeten alliierte Truppenkontingente in russischen Häfen und das Land versank im Bürgerkrieg, verschärft durch die Unabhängigkeitskämpfe der nichtrussischen Völker gegen das Zentrum. Jetzt ging es für die Bol’ševiki um das bloße Überleben. Bereits im Dezember 1917 hatten sie sich ein Instrument geschaffen, um ihre Gegner im Innern einzuschüchtern und auszuschalten – die „Allrussische Kommission zur Bekämpfung der Gegenrevolution und Sabotage (Vserossijskaja Črezvyčajnaja komissija po bor’be s kontrrevoljuciej i sabotažem (VČK)“, kurz Čeka genannt, unter der Leitung von Radeks einstigem Mentor Dzeržinskij. Sie hatte sich in der neuen Hauptstadt in der Nähe des Kreml’ im Gebäudekomplex einer Versicherung in der Bol’šaja Lubjanka-Straße niedergelassen, wo sie unter wechselnden Kurzbezeichnungen – GPU, NKVD, MVD, KGB – bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion agierte. Ihr Schreckensregiment nahm seinen eigentlichen Anfang mit einer Großoperation gegen die Moskauer Anarchisten. Die Anarchisten hatten an der Oktoberrevolution teilgenommen und in den Sowjets teilweise beträchtlichen Einfluss gewonnen. 1918 wandten sich viele von ihnen enttäuscht von den Bol’ševiki und vom Sowjetstaat ab. In der Nacht vom 11. auf 12. April 1918 überfielen unter dem Einsatz von Panzerautos mehr als 1000 Čekisten die 26 „Anarchistenklubs“ in Moskau – großbürgerliche Häuser, die von intellektuellen Anarchisten, aber auch von einfachen Plünderern besetzt worden waren. Nach teilweise stundenlangen Kämpfen mit mehr als 100 Todesopfern wurden 520 Anarchisten verhaftet, entwaffnet und 25 von ihnen als „Banditen“ standrechtlich hingerichtet.35 Radek rechtfertigte das Geschehen in einem Artikel in der „Izvestija“, der unter dem Titel „Anarchismus und Sowjetregierung“ auch als Broschüre erschien. Noch ein Jahr zuvor hatte er zur Erbitterung Lenins die Notwendigkeit eines Staatsaufbaus nach dem Sieg der Revolution angezweifelt. Jetzt schrieb er, die Revolution bedürfe „einer zentralen revolutionären Regierungsgewalt, die über die gesamten Kräfte der kämpfenden Volksmassen zur Unterdrückung der Bourgeoisie und ihrer Handlanger“ verfügen müsse. Er nahm die Entwaffnung der Anarchisten zum Anlass, um mit 33 Pipes, S. 285. Im März 1919 wurde die Komintern für die Subversion im Ausland zuständig. 34 Balabanoff [Balabanova], My Life, S. 210. 35 Courtois, S. 78; Lockhart, S. 258f., Paquet-Tagebuch, S. 59.

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dem Anarchismus abzurechnen und Lenins Schrift „Staat und Revolution“ folgend, für eine wehrhafte proletarische Staatsgewalt einzutreten. Er führt aus, die Kerninhalte des Anarchismus seien „die Ablehnung der Staatsgewalt und der wirtschaftlichen Zentralisation“. Diese Auffassung entspringe „völliger Verständnislosigkeit für die Entwicklungstendenzen der Gesellschaft“, denn „ohne eine revolutionäre Zentralgewalt ist eine Verteidigung der Revolution unmöglich“. Die „Lehre der Anarchisten, man müsse in der Revolution alles auf der Selbständigkeit der Massen aufbauen, eine Arbeiterregierung sei unnötig […] ist gegen die Interessen des werktätigen Volkes, gegen die Revolution gerichtet – d.h. es ist eine gegenrevolutionäre Lehre.“ Dennoch habe die Sowjetregierung den Anarchisten volle Propagandafreiheit eingeräumt. „Sie tat es in vollster Überzeugung, dass nicht die Gewalt, sondern die Propaganda der Revolutionslehren – das beste Mittel zur Überwindung des Anarchismus als Geistesströmung ist. Etwas anderes ist es aber, wenn die Rede von Versuchen eines direkten Widerstandes ist“ – oder im Hinblick auf die bewaffneten Überfälle, Plünderungen und Hausbesetzungen durch Anarchistenbanden – „von Handlungen, die indirekt zur Steigerung der wirtschaftlichen Zerfahrenheit, zur Zersetzung der Revolution beitragen […] hier erfordern die Interessen des Proletariats die sofortige Bekämpfung der Gefahr. […] Wenn die Arbeiterregierung sich gezwungen sieht, die Anarchisten zu entwaffnen, tut sie es mit ruhigem Gewissen, denn sie schützt die Volksinteressen vor Personen, die das Volksgut brandschatzen, die dem Prozesse der Enteignung der Kapitalisten hinderlich sind. […] Die Sowjetregierung […] wird sich auch durch das Geheul der Anarchisten nicht einschüchtern lassen, wenn sie mit bewaffneter Hand die Anarchisten zwingt, Ordre zu parieren“, denn sie vertritt die Interessen der Arbeiterschaft , die es nicht dulden kann, daß „die Macht zum Spielball in den Händen von Plünderern wird, welche die Kapitalisten ausplündern, um sich selbst in kleine Kapitalisten zu verwandeln.“36 Gleichzeitig verhöhnte er mit zynischer Offenheit die Bürger, die nicht verstanden hatten, dass es den Bol’ševiki in erster Linie darum gegangen war, einen p o l i t i s c h e n Gegner zu eliminieren und die meinten, es habe sich lediglich um eine ordnungspolizeiliche Maßnahme gehandelt, mit der Moskau vom Terror anarchistischer Banden befreit werden sollte: „Der Spießbürger ist froh, dass er nicht mehr zu fürchten braucht, in einem finsteren Gässchen ausgeplündert zu werden. Wir können ihm diese Freude gönnen, denn wir werden ihm bei hellem Tageslicht auf gesetzlichem Wege das abnehmen, was er, als Kapitalist, beim Volke geplündert hat.“37

Im Hinblick auf die desolate Versorgungslage und die bittere Not im Lande, hatte er bereits in Petrograd erklärt, „das Proletariat beabsichtige, sich alles von der Bourgeoisie zu nehmen.“38 In Moskau rief er dazu auf, Arbeiterabteilungen zu formieren, die 36 Radek, Anarchismus und Sowjet-Regierung (geschrieben 1918), S. 1–8. 37 Ebenda, S. 8. 38 Petrograder „Pravda“ vom 17. Februar 1918. Sisson, S. 330.

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in ihren Rayons die Häuser durchsuchen und den Bürgern ihren Besitz abnehmen sollten: Geld, Kleider, Winterpelze, Lebensmittel und Brennholz. Sie – die Bürger – sollen frieren, sagte er, nachdem die russischen Soldaten vier Jahre lang für sie gefroren und geblutet haben.39 Das Vorgehen gegen die Anarchisten war nicht nur das Vorspiel zur Ausschaltung der Sozialrevolutionäre als Koalitionspartner im Sommer 1918. Es bildete auch den Auftakt zur verschärften Diktatur der Bol’ševiki, die zur endgültigen Einstellung der nichtbolschewistischen Zeitungen, zur Auflösung aller nichtbolschewistischen Sowjets, zur Verhaftung von Oppositionellen und zur brutalen Unterdrückung zahlreicher Arbeiterdemonstrationen und Streikbewegungen führte. Mit der Parole, „die Bourgeoisie muß an die Kandarre [sic!] genommen werden“, forderte Radek: „[…] keine Freiheit der konterrevolutionären Organisation und Agitation für Aufstände gegen die Arbeiterregierung; keine Freiheit der Verdummung des Volkes durch die Zuhälter der Bourgeoisie – durch die bürgerliche Presse […]. Mit dem Feind der Arbeiterklasse schwätzt man nicht, – man wirft ihn nieder… Fort aus den Räten mit den Vertretern der konterrevolutionären Bourgeoisie, mit denen, die gegen die Arbeiterklasse die Waren [Druckfehler – soll „Waffen“ heißen] erheben […]. Mit ihnen diskutieren wir nicht, mit ihnen kämpfen wir auf Leben und Tod mit den Waffen in der Hand.“40

Die hasserfüllte Agitation Radeks gegen die Bourgeoisie wurde fast noch übertroffen von seiner feindseligen Haltung gegenüber den Sozialdemokraten in den Ländern der Mittelmächte. Er behauptete, bereits im Exil in der Schweiz, hätte sich beim Lesen der sozialistischen Presse, die nicht zum Kampf gegen den Krieg aufrief, „eine Welle von Haß“ in sein Herz ergossen.41 In Stockholm hatte er 1917 aus seiner Gewaltbereitschaft gegen „sogenannte sozialistische Parteien, die die Revolution verraten haben“, keinen Hehl gemacht. Jetzt brach er endgültig den Stab über sie. Die „Sozialpatrioten“ Westeuropas, die „Scheidemänner“ und „Viktor Adlers“, sind „Verräter des Sozialismus“ und „Lakaien der kapitalistischen Regierungen“, schrieb er. Sie „heulen“ in der Presse „gegen die Gewaltherrschaft der Arbeiter in Rußland“. Und er fuhr fort: „Ja, wir verfolgen sie, weil es Wölfe sind, in Lammeshaut eingehüllt […]. Wir sind überzeugt, daß die Arbeiter Europas nicht mehr so dumm sein werden, wie wir es waren, daß sie nicht mehr mit den früheren Verdiensten dieser Leute rechnen werden, sondern daß sie sagen werden: ,Ihr hängt so sehr an den kapitalistischen Regierungen, ihr sollt zusammen mit ihnen hängen.‘“42 39 Paquet-Tagebuch (5. und 6. September 1918), S. 143. 40 Struthahn [Radek], Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Räte-Republik (geschrieben im August 1918), S. 10–15. 41 Radek, Brief aus dem Gefängnis Moabit an Max Barthel, 1919, in: Barthel, S. 57f. 42 Struthahn [Radek], Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Räte-Republik (geschrieben im August 1918), S. 15–17.

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Am 28. April 1918 veröffentlichten „Pravda“ und „Izvestija“ Lenins Arbeit „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“. In dazu formulierten Thesen stellte er fest, die internationale Lage der Sowjetmacht sei „in höchstem Grade schwer und kritisch.“ Um zu überleben, müsse „die Taktik der Sowjetrepublik unbedingt darin bestehen, einerseits alle ökonomischen Kräfte aufs äußerste anzuspannen, um einen möglichst raschen ökonomischen Aufschwung des Landes herbeizuführen, seine Wehrkraft zu steigern und eine mächtige sozialistische Armee zu schaffen; andererseits muß in der internationalen Politik die Taktik im Lavieren, Zurückweichen und Abwarten bestehen, bis zu dem Zeitpunkt, wo die internationale proletarische Revolution endgültig ausreift, die jetzt in einer ganzen Reihe fortgeschrittener Länder schneller als früher heranreift.“43 Diese Vorgaben Lenins wurden zur generellen Richtschnur für Radeks politisches Handeln in den folgenden Monaten. Ergänzt durch den Kerngedanken Lenins von der Diktatur des Proletariats44 bildeten sie gleichzeitig die hauptsächlichen Inhalte seiner auf das Überleben und die Festigung des Sowjetregimes gerichteten Aktivität. Parallel zu den diktatorischen Zwangsmaßnahmen zur Beschränkung des Privateigentums, der Verstaatlichung der Banken und des Transportwesens sowie der Enteignung von kapitalistischen Unternehmen45 thematisierte er einerseits die wirtschaftliche und politische Kooperation mit kapitalistischen Staaten, insbesondere mit Deutschland, um dadurch die ökonomische Misere und die Isolierung Russlands zu überwinden. Andererseits wollte er dieses Ziel jedoch vorrangig auf revolutionsstrategischem Wege erreichen: „Die russische Revolution war ein Aufstand der Arbeitermassen gegen den Weltimperialismus. Von Russland ausgehend, blieb sie im imperialistischen Europa fürs erste isoliert. Hält diese Isoliertheit lange an, so wird die russische Revolution von den Kräften der Konterrevolution erdrückt. Die Hauptaufgabe der Politik der russischen Revolution muß das Bestreben sein, das Erwachen der Volksmassen der übrigen Länder zu fördern.

43 Lenin: „Sechs Thesen über die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“. Lenin, Werke, Band 27, S. 306. 44 Lenin hatte im Herbst 1917 in seiner Schrift „Staat und Revolution“ die Diktatur des Proletariats zum Kerngedanken des Marxismus gemacht: „Ein Marxist ist nur, wer die Anerkennung des Klassenkampfes auf die Anerkennung der Diktatur des Proletariats erstreckt.“ Lenin, Werke, Band 25, S.  424. Dementsprechend erklärte die erste Sowjetverfassung vom Juli 1918 (Teil II, Kapitel  5, Ziffer 9) die Diktatur des Proletariats zum Verfassungsziel: „Die Hauptaufgabe der jetzigen Übergangsperiode der Konstitution der R.S.F.S.R besteht in der Errichtung der Diktatur des städtischen und ländlichen Proletariats, wie des ärmeren Bauerntums in Form einer kräftigen allrussischen Räteregierung zwecks völliger Niederwerfung der Bourgeoisie […]“. Struthahn [Radek], Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Räte-Republik, S. 29. 45 Als Redner auf dem I. Allrussischen Kongress der Volkswirtschaftsräte (Moskau, 26. Mai – 4. Juni 1918) forderten Radek und Bucharin als erste die komplette Verstaatlichung und die Arbeiterkontrolle der russischen Großindustrie, ohne sich damit durchsetzen zu können. „Lenin dachte [zu diesem Zeitpunkt] an ein gemischtes System.“ Serge, Beruf: Revolutionär, S. 156.

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Dieses Bestreben ist das höchste Gesetz der russischen Revolution, ihm muß sich alles unterordnen.“46

In Brest hatten das kaiserliche Deutschland und Sowjetrussland die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vereinbart. Am 20. April 1918 traf Adolf Ioffe, der erste Delegationsleiter bei den Brester Friedensverhandlungen, in Berlin als „Bevollmächtigter Vertreter“ Moskaus ein, nahm alsbald Kontakt zur oppositionellen USPD auf und begann rege Kontakte zu ihren Abgeordneten Cohn47 und Haase zu pflegen.48 Gleichzeitig trat Graf von Mirbach-Harff, der Kontrahent Radeks bei den Kriegsgefangenengesprächen, den Dienst als deutscher Gesandter in Moskau an. Als Radek sich Ende April um ein Einreisevisum für einen Besuch in Berlin bemühte, wies das Auswärtige Amt Graf Mirbach an, ein Auftauchen des als gefährlich eingestuften Revolutionärs in Deutschland nach Möglichkeit zu verhindern, was sich mit den Intentionen des deutschen Gesandten deckte.49 Radek, verärgert über die deutsche Ablehnung, revanchierte sich mit einem gehässigen Artikel in der „Pravda“, den er Graf Mirbachs Ankunft in Moskau widmete: „Der Botschafter der deutschen Regierung ist in Moskau eingetroffen. Er ist in der Hauptstadt der Revolution angekommen. Aber er kommt nicht als der Vertreter der arbeitenden Klasse eines befreundeten Volkes. Er erscheint als der Repräsentant einer Militärclique, die tötet, raubt und schändet, wo immer ihre blutigen imperialistischen Bajonette hinreichen […]. Die Vertreter des deutschen Imperialismus haben Einzug in Moskau gehalten; aber um Zugang nach Moskau zu bekommen, müssen sie die Rote Botschaft des revolutionären Russland in Berlin zulassen. Unsere Genossen gehen dorthin als die Vertreter eines Landes das, militärisch gesehen, das schwächste aller Länder ist; aber sie gehen dorthin als die Vertreter eines Landes, das moralisch siegreich ist. Kein einziger Arbeiter in Berlin wird den Botschafter der Russischen Sozialistischen Republik mit dem Haß begrüßen, mit dem heute jeder Arbeiter in Moskau den Repräsentanten des deutschen Kapitals begrüßt. Die Rote Fahne wurde über der Roten Botschaft in Berlin gehißt. Sie weht dort nicht als die Flagge Russlands, sondern als das Banner unter dem sich die Arbeiterschaft der Welt erhebt.“50

Natürlich wollte Radek mit diesem Artikel nicht nur seinem Ärger Luft machen, sondern vor allem gegenüber der breiten Masse der Parteiangehörigen die Aufnahme 46 Radek, Die auswärtige Politik Sowjet-Russlands (September 1918), S. 14. 47 Cohn, Oskar Paul (1869–1934), Rechtsanwalt; MdR (SPD/USPD) 1912–1918; Rechtsbeistand der sowjetrussischen Botschaft in Berlin; 1918 kurzzeitig Unterstaatssekretär im Justizministerium. 48 „Bolschewistische Propaganda der Russischen Botschaft in Deutschland im Jahre 1918“, Geheimbericht des ,Oberkommando in den Marken‘ an das Königliche Kriegsministerium in Berlin vom 28. Mai 1918. Volkmann, S. 309 f. 49 Auswärtiges Amt – „Akten betreffend: den russischen Bolschewiken Karl Radek 1917–1919“, 27. April 1918. Lerner S. 77 und S. 195, Anm. 3; Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 94. 50 „Pravda“, 28. April 1918. Hard, S. 179f.

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von diplomatischen Beziehungen zum „imperialistischen Hauptfeind“ erläutern und legitimieren. Er half mit seinen Ausfällen gegen den deutschen Gesandten ein Klima ideologiegespeisten Hasses zu erzeugen, in dem es zwei Monate später zur Ermordung des Geschmähten kommen sollte. Im Juni 1918 hatte Mirbach die Überzeugung gewonnen, die Tage der Bol’šéviki seien gezählt und Staatssekretär von Kühlmann vorgeschlagen, für den Fall eines Sturzes der Sowjetregierung, in Moskau prophylaktisch ein prodeutsches, antisowjetisches Schattenkabinett zu bilden und bereitzuhalten. Berlin hatte dem zugestimmt und der Sowjetregierung war die Vorbereitung eines Kurswechsels der deutschen Ostpolitik nicht verborgen geblieben; ein Sachverhalt, der möglicherweise die Ermordung Mirbachs unmittelbar auslöste.51 Moskau stöhnte unter einer hochsommerlichen Hitzewelle, als am 4. Juli 1918 im Bol’šoj Theater der V. Allrussische Sowjetkongress zusammentrat. Etwa ein Drittel der 1132 Delegierten gehörte zu den linken Sozialrevolutionären, die eine Aufkündigung des Brester Friedens und den Bruch mit Deutschland wünschten. Während der Kongress tagte, drangen am 6. Juli die linken Sozialrevolutionäre Bljumkin und Andreev, die gleichzeitig der Čeka angehörten, in die deutsche Gesandtschaft in der Denežnyj pereulok 5 am Arbat ein und erschossen Graf Mirbach.52 Ziel des Attentats war es, die Beziehungen Moskaus zum Deutschen Reich zu torpedieren, insbesondere den Friedensvertrag von Brest-Litovsk zu unterminieren und das Signal zu einer von dem linken Sozialrevolutionär Boris Savinkov53 inszenierten allgemeinen Erhebung gegen die Bol’ševiki zu geben. Gleichzeitig mit dem Putsch in Moskau flammten in dreiundzwanzig mittelrussischen Städten Aufstände auf. In Moskau noch am gleichen Tage unter Artillerieeinsatz niedergeschlagen, dauerte der Widerstand der Sozialrevolutionäre am längsten in Jaroslavl’ wo er erst am 23. Juli 1918 zusammenbrach. Der russische Historiker Boris Chavkin vertritt die These, Bljumkin habe das Attentat auf den deutschen Gesandten nicht nur mit stillschweigendem Einverständnis von Čeka-Chef Dzeržinskij, sondern vermutlich auch mit Wissen Lenins verübt. Sofort nach dem Mord soll Lenin im Beisein von Volkskommissar Lunačarskij telefonisch die Verhaftung der Täter mit den Worten angeordnet haben: „Suchen, sehr 51 Chavkin, Die Ermordung des Grafen Mirbach, S. 94f. 52 Die beiden Attentäter Jakov Grigorevič Bljumkin und Nikolaj Andreev hatten sich beim Betreten der Gesandtschaft mit von Dzeržinskij unterzeichneten Passierscheinen ausgewiesen. Der ČekaChef, der nach der Tat persönlich die Verfolgung der Mörder aufnahm, wurde von den linken Sozialrevolutionären festgenommen und erst am folgenden Tage durch die Čeka befreit. Zusammen mit Andreev, tauchte Bljumkin (1898–1929) nach dem Attentat in der Ukraine unter. Bljumkin, wurde in Abwesenheit zu drei Jahren Haftstrafe verurteilt, im Mai 1919 vom CK amnestiert und in den Iran abkommandiert; 1922 war er Mitarbeiter in Trockijs Sekretariat und wurde 1923 in die Auslandsaufklärung der OGPU versetzt; nachdem er einen Brief Trockijs aus dessen Exil in der Türkei nach Moskau geschmuggelt hatte, wurde er 1929 verhaftet und hingerichtet. 53 Savinkov, Boris Viktorovič (1879–1925), russischer Schriftsteller und an Terrorakten beteiligter Revolutionär; 1918 Emigration; 1924 Festnahme bei illegaler Rückkehr, Urteil: 10 Jahre Haft; 1925 Suizid (?).

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sorgfältig suchen, aber – nicht finden.“ In der Sorge, Deutschland werde den Anschlag auf Mirbach zum Anlass nehmen erneut militärisch gegen Sowjetrussland vorzugehen, fuhren Lenin, Sverdlov, Čičerin und Radek kurz nach der Tat in die deutsche Gesandtschaft, um Legationsrat Riezler, der die Amtsgeschäfte übernommen hatte, offiziell zu kondolieren. Lenin war in ausgezeichneter Stimmung und scherzte: „Ich habe schon mit Radek vereinbart, dass ich ,Mitleid‘ sage, aber es gehört sich ,Beileid‘“ und er lachte über den eigenen Witz54. Wegen der unsicheren Lage in der Stadt führte man eine Kiste Handgranaten im Auto mit. Radek, beim Eintreffen in der Gesandtschaft den Presseattaché Alfons Paquet erblickend, eilte ihm auf der Treppe nach, um ihm zu sagen, dass man einen der Täter bereits ermittelt habe: „Wir wissen schon wer es ist. Werden ihn bestimmt noch heute abend haben und erschießen lassen.“ Zu diesem Zeitpunkt war noch offen, ob der Putsch der Sozialrevolutionäre glücken würde oder ob die Bol’ševiki sich behaupten könnten. Paquet, der Radek am frühen Abend des 6. Juli in dessen Dienstsitz aufsuchte, bevor jener, begleitet von seiner Frau, zu einer Lagebesprechung in den Kreml’ fuhr, schildert in seinem Tagebuch die erregte Stimmung, im Metropol’: „Hinüber ins Metropol’, den Lift hinauf. [Die Sekretärin] Mi[r]a Gec sehr verstört. Radek drinnen, auf seinem Stuhl Frau Radek, ferner [Botschafter] Vorovskij. [Radek:] ,Das Schicksal galoppiert wie ein wildgewordenes Pferd.‘ ,Wir wissen wer die Mörder sind und werden sie heute nacht haben. 6 Stunden später sind sie erschossen‘ […]. Es sind 2 linke S[ozial-]. R[evolutionäre] […]. Wir werden die SR auffordern, die Leute auszuliefern, sonst kommt es uns auf ein paar hundert Mann nicht an. Wir umzingeln das Haus [des Moskauer Großindustriellen Morozov in der Trechsvjatitel’skij pereulok, in dem sich das Hauptquartier der linken Sozialrevolutionäre befand], es wird zugehen, wie damals bei den Anarchisten. Lassen Artillerie auffahren. Schrecken vor Massenverhaftungen nicht zurück. Der sezd [V. Allrussische Sowjetkongreß] tagt, wird gezwungen den Mord schroff zu verurteilen. – Wird es Krieg geben? Wird die Militärpartei in Deutschland den Krieg durchsetzen? Frau Radek vergleicht den Augenblick mit dem Moment vor 4 Jahren [Attentat in Sarajewo am 28. Juni 1914 auf den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand].[…] Radek: Blödsinn über Blödsinn! Eine kleine Gruppe von Menschen [d.h. die linken Sozialrevolutionäre] […] will Rußland gegen den Volkswillen mit der Pistole regieren. (Worte wie aus einem Leitartikel: ,Wir werden alles tun; sofort jemand nach Berlin schicken. Haben durch Radio [Funktelegramm Lenins an Ioffe] unsere Entschuldigung und [unser] Beileid an die Familie des Grafen geschickt und werden volle Genugtuung geben‘.) ,Das Mindeste, was jetzt Deutschland verlangen kann, ist daß mit den Organisationen und Agenten der Entente auf russischem Boden Schluß gemacht wird‘ [gemeint ist die Ausweisung der alliierten Militärmissionen].“55 54 Chavkin, a.a.O., S. 103f. und S. 109. 55 Paquet, Im kommunistischen Rußland, S. 29ff.; Paquet-Tagebuch, S. 57ff. (6. Juli 1918). Nachdem Radek und Vorovskij am 18. Juli 1918 mit Lenin die Frage der Ausweisung der Militärmissionen der Entente in Moskau besprochen hatten, wurden diese kurz darauf aufgelöst. Am 5. August

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Um die Frage der alliierten diplomatischen Präsenz in Russland ging es ebenfalls, als Außenkommissar Čičerin am 10. Juli 1918 den Gesandtschaften der Ententemächte, die von Petrograd ins 400 km nordöstlich Moskau gelegene Vologda, ausgewichen waren, telegraphisch mitteilte, vor dem Hintergrund des Attentats auf Mirbach könne die Sowjetregierung deren Sicherheit dort nicht mehr garantieren. Er kündigte den Besuch Radeks an, der den Umzug nach Moskau in die Wege leiten sollte. Gegenüber Alfons Paquet äußerte Radek unbefangen, dass die Begründung Čičerins nur ein Vorwand war, um „das Halbdunkel zu lichten“, in dem die Legationen existierten. Er wolle sie „auffordern, entweder nach Moskau zu kommen, dort regelrecht ihre Mission aufzumachen, anzugeben wer zur Gesandtschaft gehört – hier kann man überwachen, was sie tun“ – oder sie im Weigerungsfalle „auffordern, Rußland zu verlassen.“56 Wegen des Aufstandes in Jaroslavl’ müsse er in seinem aus einer Lokomotive und einem Schlafwagen bestehenden Sonderzug den Umweg über Petrograd nehmen: „Angeblich 18 Stunden bis hin.“ Begleitet von dem britischen Journalisten Arthur Ransome, der „von seinem Freund Radek hypnotisiert war“57 und ihm bei den Alliierten Dolmetscherdienste leistete, reiste Radek am 10. Juli von Moskau ab und kam am 12. Juli in Vologda an, einer Stadt mit 28.000 Einwohnern, in der sich nun über 100.000 Menschen aufhielten. Einen großen Revolver umgeschnallt, begab er sich vom Bahnhof, auf dem er erst einmal „einen alten dreckigen Lokus“ abreißen ließ, zusammen mit Ransome unmittelbar zum amerikanischen Botschafter, dem „alten Francis“58, als Doyen des dortigen diplomatischen Korps. In einer ersten halbstündigen Besprechung und in weiteren Unterredungen bis zum 17. Juli drängte er vergebens auf den Umzug der Missionen nach Moskau. Vermutlich um psychologischen Druck auszuüben ließ Ransome verlauten, Radek habe den Auftrag, die alliierten Diplomaten notfalls mit Gewalt nach Moskau schaffen zu lassen; aber selbst wenn dem so war, unternahm Radek keinen derartigen Versuch. Botschafter Francis hatte sich über Radeks Revolver erstaunt gezeigt und gemeint, eine solche Bewaffnung sei in Vologda unnötig. Radek, überrascht von der friedlichen Situation in der Stadt, meinte zu Ransome, man müsse das ändern. Er richtete in Vologda eine Abteilung der Čeka ein und ließ sogleich „10 Chanteusen der Franzosen“ ausweisen, „um Spionage zu verhindern.“ Als der Korrespondent der französischen Nachrichtenagentur „Havas“ aus Vologda nach Paris berichten wollte, „Radek sei mit umgeschnalltem Revolver beim amerikanischen Gesandten erschienen, habe die ganze Zeit der Unterredung die Hand nicht von der [Pistolen-] Tasche genommen, sei schmutzig gewesen etc.“, fing man das Telegramm ab, und Radek „ließ sich den Mann kommen“, um ihn zusammenzu1918 internierten die Sowjetbehörden in Moskau 200 Engländer und Franzosen. Ebenda, S. 77 und S. 82. 56 Ebenda (8. Juli 1918), S. 65. 57 Bourne (ed.), Doc. 24, S.136. 58 Francis, David Rowland (1850–1927), amerikanischer Geschäftsmann und Politiker; Bürgermeister von St. Louis, 1889–1893 US-Innenminister; 1916–1918 US-Botschafter in Russland.

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stauchen. Vor Arbeitern einer Fabrik hielt er eine Rede und schimpfte: „Jawo[h]l, die Kommissare stehlen, aber Ihr seid nicht besser, seid Tagediebe, [nur] 8 Stunden habt ihr gearbeitet.“59 Das waren jedoch lediglich Aktivitäten am Rande. Im Hinblick auf seinen eigentlichen Auftrag musste er unverrichteter Dinge abreisen. Vologda blieb noch bis 24. Juli 1918 Sitz der Entente-Gesandtschaften, die dann nach Murmansk verlegten. Der Rückweg führte Radek erneut über Petrograd, wo er einen Zwischenstopp einlegte, um sich ein Bild über die dortige Lage zu verschaffen: „Cholera hatte […] die entkräftete Stadt überfallen. Da haben sie die Straßen gefegt, wie niemals zuvor gefegt wurde, da haben Tausend und Abertausende freiwillig Rettungsdienst getan. Ich wanderte durch die Straßen voller Bewunderung. Mittags saß ich mit den Kommissaren im Smolny zusammen, mehr als ein Stück Zucker zum Tee bekamen die Gewaltigen nicht. Als ich sie über die Aussichten befragte, waren sie voller Hoffnung, die Männer in den ledernen Anzügen und den eisernen Herzen erklärten: ,Solange uns keine großen Einheiten regulärer deutscher Truppen oder die der Entente umzingeln und einkreisen, halten wir durch.‘“60

Am 18. Juli wieder in Moskau zurück, erzählte er dem deutschen Geschäftsträger Riezler und Alphons Paquet von seinen Reiseabenteuern, auch dass er in Vologda eine Regionalsektion der Čeka gegründet habe. Auf den Mord an Mirbach durch Čeka-Angehörige anspielend, fügte er roh scherzend hinzu: „Nun wird auch das Attentat auf den alten Francis bald da sein.“61 Ähnlich abgebrüht äußerte er sich zur gerade durchgesickerten Nachricht von der Erschießung des Zaren in der Nacht vom 16. auf 17. Juli in Ekaterinburg, wobei die Bol’ševiki aber noch geheim hielten, dass auch dessen Familie bereits ermordet worden war. Auf Riezlers „Rat, die deutschen Prinzessinnen, die Zarin62, herauszugeben“, meinte Radek, wenn die Deutschen „besonderes Interesse an den Damen des Kaiserhauses hätten, so ließe sich vielleicht freie Ausreise zugestehen.“63 Entschuldigend sagte er am darauffolgenden Tage zu Paquet: „Was wollen Sie: ,Es ist Revolution.‘“ Und er fügte hinzu: „Sie finden es schrecklich, daß wir den Zaren erschossen haben. Was wollen Sie, heute wird mir aus Ekaterinburg gemeldet, die Tschecho-Slowaken64 haben die dort befindlichen Großfürsten rauben wollen. Wir werden es sehr einfach machen: die Großfürsten erschießen, die Damen (Stuten) in ein Sanatorium schicken.“65 Als Radek das äußerte, war die von ihm angekündigte Erschießung allerdings längst vollzogen worden. In 59 Bourne (ed.) a.a.O., S.136ff. und Paquet-Tagebuch (8. und 18. Juli 1918), S. 65, S. 76 und S. 78. 60 Radek, Brief aus dem Gefängnis Moabit an Max Barthel, 1919; in: Barthel, S. 64f. 61 Paquet-Tagebuch (18. Juli 1918), S. 76. 62 Aleksandra Feodorovna, Prinzesssin Alix von Hessen (1872–1918). 63 Paquet-Tagebuch (18. Juli 1918), S. 77. 64 Gemeint sind damit Truppen der vorwiegend aus Kriegsgefangenen der Donaumonarchie gebildeten ca. 40.000 Mann starken Tschechoslowakischen Legion, die auf Seiten der antibolschewistischen Kräfte in den Bürgerkrieg eingegriffen hatte. 65 Paquet-Tagebuch, S. 80.

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der Nacht vom 17. auf 18. Juli 1918 hatten die Bol’ševiki in Alapaevsk, nördlich Ekaterinburg, die von ihm erwähnten sechs weiteren Angehörigen des Hauses Romanov ebenfalls ermordet und dann zur Desinformation verbreitet, sie seien von Unbekannten entführt worden.66 In diesen Tagen, in denen das Schicksal des Sowjetregimes am seidenen Faden hing, ließ Sverdlov Radek zu sich rufen, um ihm mitzuteilen, für den Fall eines deutschen Vormarsches auf Moskau sei geplant, die Sowjetführung nach Osten zu evakuieren, wobei Radek und Béla Kun von dieser Verlegung ausgenommen seien. Sie sollten sich bereithalten, nach Smolensk zu gehen, um dort eine konspirative Wohnung zu beziehen, eine illegale Druckerei einzurichten und unter den deutschen Truppen bolschewistische Agitation zu betreiben.67 Nachdem der deutsche Angriff ausblieb, gelangte der Plan nicht zur Ausführung. Hingegen führte eine neuerliche Mission Radek nach Jaroslavl’. Der Verkehrsknotenpunkt am Volgaknie, 250 km nordostwärts Moskau, war von Einheiten Savinkovs, des Führers der Sozialrevolutionären Partei, am 6. Juli unter ihre Kontrolle gebracht und die bolschewistische Lokalmacht gestürzt worden. Die Sowjetführung setzte daraufhin das 1. Sowjetregiment aus der Hauptstadt, eine Kompanie polnischer Freiwilliger, einen Panzerzug sowie schwere Artillerie in Marsch. Nach zwölf Tagen Artilleriebeschuss eroberten die Bol’ševiki Jaroslavl’ am 23. Juli zurück. Während der Belagerung war die in der Stadt befindliche „deutsche Militärkommission Nr. 4“ zwischen die Fronten der Roten und Weißen geraten. Ihre Aufgabe war es, für den Weitertransport der nach dem Frieden von Brest-Litovsk aus dem Inneren Russlands in Jaroslavl’ eintreffenden deutschen Kriegsgefangenen zu sorgen. Während der Kämpfe um die Stadt befanden sich ca. 2.000 Personen in ihrer Obhut. Die Kommission hatte sich während der Auseinandersetzungen zwar neutral verhalten, jedoch in dem Interregnum zwischen dem Abzug der weißen und dem Einmarsch der roten Truppen für kurze Zeit die „vollziehende Gewalt“ im Ort übernommen und 150 Angehörigen des Stabes der Weißen Zuflucht gewährt. Während Čeka-Chef Dzeržinskij eine „spezielle Untersuchungskommission“ entsandte, die in den fünf Tagen nach dem Fall der Stadt 428 Menschen hinrichten ließ68, fuhr Radek als Mitglied des Rates der Volkskommissare „zur Regelung des mit den Deutschen entstandenen Zwischenfalls“ am 22. Juli „eiligst“ von Moskau nach Jaroslavl’.69 Es gelang ihm, „einigen Unschuldigen [aus dem Stab der Weißen], die sich den Deutschen […] ergeben hatten, das Leben zu retten: einem angesehenen Bürger, der sich zwar als Mitglied der Kadettenpartei bekannte, aber nachwies, daß er sich während der Belagerung nur aus Pflichtgefühl des städtischen Verpflegungswesens angenommen hatte und einem wegen 66 Ebenda, S. 80, Anm. 177. Erst am 25. Juli 1918 gab die Sowjetregierung die Erschießung der Zarenfamilie offiziell bekannt. 67 Radek, „Ja. M. Sverdlov“; in: Portrety i pamflety, S. 37. 68 Courtois, S. 86. 69 Paquet, Im kommunistischen Rußland, S. 37f.

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Ermordung seiner Braut zum Insassen des Stadtgefängnisses gewordenen Akzisebeamten, den eine in das Gefängnis einschlagende Granate aus seiner Haft befreite, der sich daraufhin dem Stab […] gestellt hatte […], davongejagt worden war, aber schließlich die Erlaubnis bekommen hatte, sich als Koch nützlich zu machen.“70

Radek rettete zwei der 150 Todeskandidaten aus dem Stab der Weißen und überließ die übrigen den Hinrichtungskommandos der Čeka. Das heißt, er muss in Jaroslavl’ zumindest in enger Fühlungnahme mit Dzeržinskijs Untersuchungskommission agiert haben, wenn er ihr nicht sogar zeitweilig angehört hat. Sein Auftrag, die Angelegenheit mit der deutschen Kriegsgefangenenkommission zu regeln, der seinem Moskauer Aufgabenbereich entsprach, widerspricht dem nicht. Der österreichische Generalkonsul in Moskau berichtete über Radek nach Wien: „Zu heiklen Missionen wird nur er ausersehen, denn wiederholt schon hat er persönliche Unerschrockenheit gezeigt. So wurde Radek zur ,Liquidierung‘ der Aufstände in Jaroslavl’ und Orša71 delegiert.“72 Aus Jaroslavl’ wieder nach Moskau zurückgekehrt, überspielte Radek die Zerstörungen durch die rote Artillerie und das blutige Strafgericht der Čeka in der Stadt, indem er verharmlosend erzählte, er habe dort „seltsame Eindrücke von der Kraft des Lebens“ gewonnen und sich als Kinderfreund gezeigt: „Ich fuhr in einem Auto durch die zerstörten Straßen. Die Beschießung hatte kaum eine Stunde aufgehört, aber schon spielten die Kinder wieder auf der Straße. Familien krochen, so wie sie des Nachts vor den Kugeln Schutz gesucht hatten, mit nichts als dem Hemd auf dem Leib, verschmutzt und noch ganz verstört aus den Kellern. Ich nahm einige von diesen Leuten in mein Auto, um sie nach einem Verpflegungspunkt zu führen. Die Kinder, die zum erstenmal in einem Auto fuhren, brachen in Jubel aus und erzählten voller Freude, daß sie die ganze Zeit im Keller nichts anderes gegessen hätten als Aprikosenmarmelade.“73

Als sich Ende Juli die Gefahr eines britisch-französischen Vorstoßes von Murmansk auf Petrograd abzeichnete, schrieb Radek in der Nacht vom 31. Juli auf 1. August „einen Aufruf an die Völker der Entente, sich dem Murman-Unternehmen, das rein 70 Ebenda, S. 38. 71 De Pottere bezieht sich auf die Reise Radeks nach dem 500 km südwestlich von Moskau am Dnepr gelegenen Orša, bei der er im August 1918 den deutschen Gesandten Helfferich auf dessen Rückfahrt nach Deutschland bis an die deutschen Linien begleitete. Dabei geriet man wegen einer Revolte in Orša kurzfristig in eine kritische Situation, die von Radek jedoch mit Umsicht gemeistert wurde. 72 Bericht des k.u.k. Generalkonsuls in Moskau, George de Pottere, an den [österreichischen] Minister des Äußeren Stefan Graf Burian von Rajecz, 6. Oktober 1918. Baumgart, Vor fünfzig Jahren , in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B43/68, 26.10.1968, S. 19. Im Folgenden zitiert als „de Pottere“. 73 Paquet, a.a. O., S. 38.

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imperialistisch sei, zu widersetzen.“ Die Sowjetregierung führe nicht gegen die Völker Krieg, sondern verteidige sich lediglich gegen militärische Interventionen. Von Lenin,

Čičerin und Trockij unterzeichnet, wurde der Appell „An die werktätigen Massen Frankreichs, Englands, Amerikas, Italiens und Japans“ am 1. August in der „Izvestija“ und der „Pravda“ veröffentlicht.74 Angesichts der Bedrohung durch die Entente gewann auch der Gedanke einer deutsch-russischen Interessengemeinschaft zunehmend an Attraktivität. Den ganzen Sommer 1918 hindurch warb Radek für ein Zusammengehen mit dem kaiserlichen Deutschland. Einer seiner Leitartikel in der „Izvestija“, der sich mit der deutschen Ostpolitik befasst, legte bereits im Juni 1918 den Kern der politischen Überlegungen bloß:

„Wir sind und bleiben Feinde der imperialistischen Politik, die jetzt sowohl in Deutschland und Österreich wie in Frankreich, England und Amerika vorherrscht. Indem wir unserer internationalen Lage Rechnung tragen sind wir einverstanden, mit diesem oder jenem imperialistischen Lager wirtschaftliche Beziehungen anzuknüpfen, falls es unsere Unabhängigkeit nicht gefährdet und uns die Möglichkeit bieten wird, unser durch den Krieg zerstörtes Land wieder aufzurichten.“75

Im Gespräch mit Paquet versprach er „dem deutschen Kapital riesige Beteiligung in Turkestan, bei Bewässerungsarbeiten dort“ und meinte, „daß das imperialistische Deutschland und das sozialistische Rußland gut nebeneinander existieren können.“76 Auch wenn Deutschland den Schwerpunkt seines Interesses bildete, blieben seine politischen Überlegungen keineswegs auf das Kaiserreich fixiert. Den Vorgaben Lenins entsprechend, versuchte er, zwischen dem „deutschen Imperialismus“ und dem „anglo-französischen-amerikanischen Kapital“ zu lavieren, um „ganz gleich von wem, ökonomische Unterstützung zu erhalten“.77 Ein von ihm eingefädelter Versuch, mit Hilfe von Oberst Robins den USA Wirtschaftskonzessionen anzubieten, fand jedoch in Washington kein Echo, und auch die von ihm initiierten vertraulichen Wirtschaftssondierungen durch Bruce Lockhart in London blieben ohne Ergebnis.78 Im Gegensatz dazu erwiesen sich die Deutschen als gesprächsbereit. Die Verhandlungen einer bei der Moskauer Gesandtschaft etablierten „deutschen Wirtschaftskommission“ mit Čičerin, Radek und dem Volkskommissar für Handel und Industrie Bronskij führten im Juli 1918 zur Wiederaufnahme des Handels zwischen Russland und Deutschland, wenngleich auch nur in geringem Umfang und auf den Austausch von Rohstoffen gegen Industriewaren beschränkt.79 Obwohl nun selbst sowjetischer Spitzendiplomat, dachte Radek gar nicht daran, sich den Gepflogenheiten des auswärtigen Dienstes anzupassen. In privaten Äuße74 75 76 77 78 79

Paquet-Tagebuch (31. Juli 1918), S. 90. „Izestija“ vom 4. Juni 1918.Baumgart, Deutsche Ostpolitik, S. 277. Paquet-Tagebuch (19. Juli 1918), S. 80. Radek, Die Auswärtige Politik Sowjet-Russlands (September 1918), S. 23. Ebenda, S. 24 und ders., Die Auswärtige Politik Sowjet-Russlands (Dezember 1919), S. 39. Rosenfeld, S. 106f.

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rungen gegenüber ausländischen Vertretern in Moskau hielt er sich mit spöttischen und illoyalen Bemerkungen über Čičerin und die diplomatischen Kollegen nicht zurück. Er sprach von Čičerin als einem „alten Weib“ und nannte dessen gutaussehenden Vertreter Karachan einen „Esel von klassischer Schönheit“.80 Er scheute sich nicht, mit dem ihm formal vorgesetzten Außenkommissar seine Possen zu treiben. Rosa Meyer-Leviné berichtet von einem Streich, den Radek ihm gespielt hat: „Tschitscherin war der einzige Junggeselle unter den Spitzenfunktionären; Radek überredete die Drucker, in einige wenige Exemplare der ,Iswestija‘ die Meldung einzurücken: ,Auf Befehl des Zentralkomitees wird Tschitscherin angewiesen, sich unverzüglich eine Frau zu suchen.‘ Die Exemplare wurden unter den Mitarbeitern in Tschitscherins Abteilung verteilt, und sie beobachteten ihn, wie er von Tisch zu Tisch lief, um die übrigen Exemplare zu prüfen, wie er immer aufgeregter wurde […] bis Radek schließlich Erbarmen mit ihm hatte.“81

Damit wurde Radek wieder einmal seinem Ruf als galizischer Schalk gerecht; seine Vorbehalte waren jedoch politisch motiviert. An Paul Levi schrieb Radek, er halte Čičerin zwar für einen „ausgezeichneten Menschen, aber sehr behutsam“; er agiere in der durch Brest-Litovsk vorgegebenen Situation „direkt ängstlich“. Über Ioffe, den Sowjetgesandten in Deutschland, lästerte er, dieser sei „ein nicht dummer Mensch, aber einer, den das diplomatische Gegackere vollkommen im Kopf verdreht hat.“82 Nach einer Sitzung des Kollegiums für auswärtige Politik schimpfte Radek, „Ioffe und Čičerin treiben keine Politik.“83 Bei den Verhandlungen in Berlin über den Ergänzungsvertrag zum Frieden von Brest-Litovsk hatte Ioffe sich geweigert, den Deutschen weitergehende Zugeständnisse zu machen und Moskau mit seinem Rücktritt gedroht. Dort war man allerdings der Meinung, es sei völlig gleichgültig, welcher Vertrag unterschrieben werde, denn noch bevor er in Kraft trete, würde in Deutschland die Revolution ausbrechen. Im Hinblick auf die Machtverhältnisse im Reich betrachtete Radek die deutschen Militärs, vor deren Fähigkeiten er „eine ungeheure Hochachtung“84 an den Tag legte, als die gegebenen Ansprechpartner. Durch einen Vorfall Mitte August sah er sich in dieser Auffassung bestärkt. Ein mit einer Vollmacht des deutschen Oberbefehlshabers Ost (Oberost) ausgestatteter Offizier hatte ihn aufgesucht, um „mit der russischen Sowjetrepublik selbständige Wirtschaftsbeziehungen anzubahnen.“ Der Abgesandte äußerte: „Mit Berlin kommen Sie nicht weiter. Wir wollen Geschäfte machen. Das Zivil in Berlin kriegt nichts fertig.“85 Unmittelbar darauf wiederholte 80 81 82 83 84 85

Lockhart, S. 256. Meyer-Leviné, S. 360. Radek an Levi, 25. Oktober 1918. Quack, S. 136f. Paquet-Tagebuch (ca. 11.August 1918), S. 103. Ebenda (18. August 1918), S. 114. Ebenda (17. August 1918), S. 112.

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Radek im Hinblick auf die offizielle Deutschlandpolitik Moskaus, er würde „eine andere Politik treiben, als der ,meschuggene Jud‘ Ioffe; auch was Čičerin, der Büromensch treibt, ist keine Politik. […] man müsse den deutschen Stier bei den Hörnern packen, er würde mit der deutschen Kriegspartei [den Generalen Ludendorff und Hoffmann] […] arbeiten (so wie jetzt mit Ob[er]ost im kleinen), ihnen Kriegsbedarf liefern, klare Reden führen.“86 Am 28. Juli 1918 hatte als Mirbachs Nachfolger der neue deutsche Gesandte Helfferich87 in Moskau seinen Posten angetreten, ein Finanzexperte, dessen Ernennung in den Augen Radeks im Hinblick auf eine künftige wirtschaftliche Kooperation „ein Programm“ bedeutete.88 Aus Furcht vor einem neuerlichen Attentat umgab die Sowjetführung sein Eintreffen mit dem Schleier der Geheimhaltung. Auf ihre Bitte hin musste er den Zug 40 Kilometer vor Moskau verlassen und von Karl Radek abgeholt und begleitet, den Weg in die Hauptstadt mit dem Auto zurücklegen. Aus dem gleichen Grund hielt man ihn in Moskau praktisch unter Hausarrest in der deutschen Vertretung.89 Als er bereits zehn Tage später zur Berichterstattung zurückgerufen und die deutsche Gesandtschaft aus Sicherheitsgründen aus Moskau abgezogen wurde, befürchtete Russland den Abbruch der diplomatischen Beziehungen und die Wiederaufnahme des Krieges durch Deutschland. Man wollte eine solche Entwicklung um jeden Preis verhindern und den Draht zu den Deutschen auf keinen Fall abreißen lassen. So sollte Radek der deutschen Vertretung nach Petrograd als „Verbindungsmann“ folgen. Wegen der Abreise Helfferichs wurde jedoch kurzfristig umdisponiert. Alfred Paquet notierte am 7. August: „Radek, statt mit nach Petersburg, reist hinter Helfferich her.“90 Versehen mit einer Vollmacht Lenins vom gleichen Tage, machte sich Radek mit der Eisenbahn auf den Weg nach dem Grenzort Orša91: „Der Überbringer dieses [Schreibens], Genosse Radek, fährt als Bevollmächtigter des Kommissariats für auswärtige Angelegenheiten und des Rates der Volkskommissare mit einem sehr wichtigen internationalen Auftrag nach Orscha. Allen Sowjetorganisationen sowie allen Kriegs- und Eisenbahnbehörden wird befohlen, Genossen Radek jede Unterstützung zu gewähren und seine Anordnungen auszuführen. Der Vorsitzende des Sovnarkom V. Ul’janow (Lenin).“92

86 Ebenda (18. August 1918), S. 114. 87 Helfferich, Karl (18772–1924), rechtsgerichteter deutscher Politiker und Finanzfachmann; 3. Juli (Eintreffen am 28. Juli) – 6. August 1918 deutscher Geschäftsträger in Moskau. 88 Paquet-Tagebuch (24. Juli 1918), S. 82. 89 Williamson, S. 273f. 90 Paquet-Tagebuch (7. August 1918), S. 95. 91 Bei Unterzeichnung des Brester Friedensvertrages hatten die deutschen Truppen den Güterbahnhof Orŝa eingenommen. Der Personenbahnhof blieb russisch, da der Vormarsch mit der Unterzeichnung sofort abzubrechen war. Die Demarkationslinie zwischen Deutsch-Orša und Russisch-Orša verlief zwischen beiden Bahnhöfen. 92 Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918, S. 290, Anm. 136.

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Radek holte den deutschen Gesandten unterwegs ein und führte im Zuge ein vierstündiges Gespräch mit ihm, wobei er von ihm „einen ausgezeichneten Eindruck“ gewann.93 Ein Urteil, das nicht gerade für sein diplomatisches Gespür und seine Menschenkenntnis spricht, denn es war Helfferich, der in Berlin nachdrücklich für einen Bruch mit den Bol’ševiki plädierte und empfahl zugunsten der Weißen in Russland militärisch zu intervenieren. Während der Fahrt kam es zu einem unfreiwilligen Aufenthalt, als man die Nachricht von einem Aufstand der Sozialrevolutionäre in Orša erhielt. Eine telegraphische Anfrage Radeks von der Station Jacevo aus ergab, dass es in Orša in einem russischen Truppenverband von etwa 1.500 Mann, der „sich an den lukrativen Grenzbertrieb gewöhnt hatte“, zur Meuterei gekommen war, weil er an die innerrussische Bürgerkriegsfront verlegt werden sollte. Als die Soldaten schließlich doch abrückten, übernahmen die Sozialrevolutionäre für kurze Zeit die Herrschaft in der Stadt, bis aus Vitebsk beorderte polnische Regimenter einrückten und der Aufstand zusammenbrach.94 In Orša angekommen, brachte Radek den Gesandten „bis hinüber“ auf die deutsche Seite und kehrte dann nach Moskau zurück. In welchem Umfang er an der Beendigung der Revolte in Orša beteiligt war und ob er – ausgestattet mit Lenins Vollmacht – die Truppen aus Vitebsk herbeirief – bleibt unklar. In Moskau erzählte man jedenfalls, es sei Radek gewesen, der den dortigen Aufstand „liquidiert“ habe.95 Kaum wieder in der russischen Hauptstadt eingetroffen, erfuhr Radek am 10. August von der klammheimlichen Weiterverlegung der nach Petrograd evakuierten deutschen Gesandtschaft in das hinter den deutschen Linien liegende Pleskau (Pskov). Er geriet „außer sich“, da er sich vom amtierenden deutschen Geschäftsträger Riezler deshalb noch nachträglich hintergangen fühlte und schäumte: „Ich wollte, wenn es hier nicht passierte, daß mal neben ihm in Polock [offenbar Verwechslung mit Pskov] eine Bombe platzt.“96 Er rief Lenin in dessen Privatwohnung an, diskutierte mit ihm die Frage, ob die Evakuierung der deutschen Diplomaten als Indikation für einen bevorstehenden deutschen Angriff zu bewerten sei und überlegte, „offen oder incognito nach Berlin“ zu fahren97, nachdem sich dort durch Ioffes hartnäckigen Widerstand gegen den Ergänzungsvertrag die Beziehungen ebenfalls zugespitzt hatten. Ausgestattet mit einem Mandat der Sowjetregierung, packte er am 12. August Bücher, Konserven und Tee ein, um mit umgeschnalltem Revolver in besonderer Mission nach Deutschland aufzubrechen.98 Dort sollte er sich als neuer Sowjetbotschafter vorstellen und „alle Hebel ansetzen, um die deutsche Stütze noch zu

93 Paquet-Tagebuch (10. August 1918), S. 97. 94 Ebenda. 95 Siehe oben, Anm. 72 96 Paquet-Tagebuch (12. August 1918), S. 104. 97 Ebenda (10. August 1918), S. 100. 98 Ebenda (12. August 1918), S. 104.

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retten.“99 Herbert Hauschild100, der in Moskau verbliebene deutsche Vertreter, sah sich nach Radeks Abreise zu einer Alarmmeldung an das Auswärtige Amt veranlasst: „Ich kann nicht eindringlich genug vor Radek warnen, den ich nunmehr durch zahlreiche tägliche Verhandlungen genau zu kennen glaube. Er ist einer der fähigsten und dabei geriebensten Vertreter der Regierung, der sehr genau weiß, worauf es ankommt, und wenn es nötig ist, den Stier bei den Hörnern packt. Ich bin überzeugt, daß er alle Minen springen lassen wird, um zu beweisen, daß ein Bündnis durch Dick und Dünn mit den Bolschewiki für beide Teile das einzig Richtige ist, und vor allem mit seinem LieblingsArgument operieren wird, Deutschland hätte größtes Interesse daran, daß keine neue Ostfront entstehe […].“101

Der zweite Versuch Radeks im Jahre 1918 nach Deutschland zu gelangen102, endete jedoch bereits in Orša. In der russischen Grenzstadt traf er auf Ioffe, der sich mit den paraphierten Ergänzungsverträgen im Gepäck ebenfalls am 12. August auf den Weg nach Moskau begeben hatte, um Lenin zu berichten. Ioffe forderte Radek auf, mit ihm in die Sowjethauptstadt zurückzukehren. Die Nachrichten, die der Gesandte aus Berlin mitbrachte, müssen Radek so überraschend und beruhigend erschienen sein, dass er Ioffe nach Moskau zurückbegleitete. Vermutlich hatte Ioffe ihm mitgeteilt, dass der neue Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Hintze103, ein Russlandexperte, den Plan blockierte, die Bol’ševiki durch eine militärische Intervention zu stürzen. Auch hat er ihn wohl über eine geheime Absprache mit Hintze unterrichtet, von der er sich deutsche Waffenhilfe gegen die in Murmansk gelandeten Entente-Truppen erhoffte. Gemeinsam mit Ioffe traf Radek in „bester Laune“ am 13. August wieder in Moskau ein.104 Noch am gleichen Tage schrieb er in der „Izvestija“ gestützt auf Ioffes Informationen einen Leitartikel zur internationalen Lage mit der in Fettdruck wiedergegebenen Kernaussage: „Deutschland ausgeht nicht auf Bruch mit Rußland, diese Tatsache ist sowohl aus unmißverständlichen Äußerungen autorativster deutscher Vertreter wie aus Interesse beider Länder an Frieden zu folgern.“105 Es war Ioffe gelungen, Lenin ein so überzeugendes Bild seiner revolutionären Tätigkeit in Berlin entwerfen, dass dieser ihn ersuchte, auf seinen Posten zurückzukehren.106 Radeks 99 Baumgart, a.a.O., S. 290. 100 Hauschild, Herbert (1880–1928), Legationssekretär; leitete Mai bis November 1918 die Geschäfte des deutschen Generalkonsulats in Moskau. 101 Telegramm Hauschild an Auswärtiges Amt, 14. August 1914. Paquet-Tagebuch, S. 104. 102 Zum ersten Versuch Ende April 1918 siehe oben, Anm. 51. 103 Hintze, Paul von (1864–1941), Admiral; Nachfolger von Kühlmanns und letzter Staatssekretär des deutschen Auswärtigen Amtes. 104 Paquet-Tagebuch (13. August 1918), S. 107. 105 Radek: „Meždunarodnoe položenie [Die internationale Lage]“, „Izvestija“ Nr. 172 vom 13. August 1918; in: Kurzbericht Hauschild an Auswärtiges Amt, 13. August 1918. Paquet-Tagebuch (14. August 1918), S. 104. 106 Baumgart, a.a.O., S. 289f.

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vorgesehene Verwendung als Botschafter in Berlin hatte sich damit erledigt. Zu Paquet sagte er, man werde ihn nun nicht mehr nach Berlin senden.107 Auch weiterhin legte er es auf ein russisch-deutsches Zusammengehen an. Gegenüber Paquet gab er der Erwartung Ausdruck, „er sehe schon, wie einst die deutschen und russischen Arbeiter zusammen eine Front gegen den Angloamerikanischen Imperialismus bilden werden.“108 Er lockte mit Sirenentönen, indem er versicherte, er glaube an Deutschland als aufsteigende Macht und er „würde, wenn er nicht auf der Seite des internationalen Proletariats stünde, für die deutsche Sache kämpfen.“109 Als der Krieg für Deutschland im Westen verlorenzugehen drohte, wurde er in seinen Äußerungen noch direkter und meinte: „Ihr werdet zu fühlen bekommen, was ein Brester Friede ist. […] Wenn ihr vernünftig wäret, würdet ihr auf Annexionen verzichten und euch mit Rußland verbünden.“110 Für den Rest des Sommers 1918 blieb Radek in Moskau und widmete sich im Wesentlichen propagandistisch-publizistischen Tätigkeiten. Unter seinem Pseudonym Arnold Struthahn verfasste er einen polemischen Kommentar zur Sowjetverfassung vom 10. Juli 1918, der in deutscher Sprache erschien und in Zürich in 50.000 Exemplaren ausgeliefert wurde.111 Während die Verfassungen der imperialistischen Staaten, so behauptete er, die Volksmassen versklaven, habe das russische Proletariat als erstes die Freiheit gewählt, „den Zaren mit seiner Bande zum Teufel gejagt“, die Kapitalisten niedergeworfen und sich eine fortschrittliche Verfassung gegeben, eine Verfassung, die eine scharfe Waffe im Klassenkampf sei. Sie möge für die „Proletarier Europas und Amerikas“ zum Vorbild werden: „Heute vereinsamt vom Feinde umschlossen, wird Rußland morgen die Spitze, das Haupt der aufstrebenden revolutionären Völker bilden; und wie das russische Proletariat der Vorkämpfer des Weltproletariats ist, so wird auch die Verfassung der russischen Räterepublik zum Banner des europäischen Proletariats werden.“112

Er schrieb den Aufsatz „Die Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat“, den er ausdrücklich als eine Weiterführung von Engels „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ verstanden haben wollte und brachte in dessen Fortsetzung „Die Lehren der russischen Revolution“ zu Papier, eine Arbeit, in der er dem internationalen Proletariat die Strategie und Taktik der bolschewistischen Machtergreifung zur Nachahmung empfahl.113 107 Paquet-Tagebuch (18. August 1918), S. 114. 108 Ebenda (29.September 1918), S. 164. 109 Ebenda (18. August 1918), S. 114. 110 Ebenda (1.Oktober 1918), S. 169. 111 Arnold Struthahn [Radek], Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Räte-Republik, [Moskau 1918] Zürich 1918. Die Broschüre umfasst 45 Seiten, wobei dem Verfassungstext ein 23-seitiger Kommentar Radeks vorangestellt ist. 112 Ebenda, S. 4 u. S. 20. 113 Zu diesen wichtigen theoretischen Aufsätzen im Einzelnen, siehe unten, Kapitel 9.

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Als der Chef der Petrograder Čeka Urickij einem Attentat zum Opfer fiel, ließ er sich die Cottasche Ausgabe von Goethes „Achilleis“ kommen. Er erwog, dieses epische Fragment, das den Tod des Achilles bei seiner Hochzeit mit Polyxena behandelt, übersetzt in russische Hexameter, herausgeben zu lassen. Besonders hatten es ihm die Anfangssätze des Werks angetan, die er unmittelbar auf den ermordeten Urickij, seinen Freund aus Petrograder Tagen, bezog: „Sei es! Gedenken wir nur des Nötigen, was noch zu tun ist.“114 Am 30. August, dem gleichen Tag an dem Urickij von einem jungen Sozialrevolutionär erschossen wurde, verübte die rechte Sozialrevolutionärin Fanni Kaplan ein Revolverattentat auf Lenin und verwundete ihn schwer. Auch Radek fühlte sich bedroht. Auf den Fahrten im Dienstwagen durch Moskau sicherte ihn ein auf dem Beifahrersitz platzierter lettischer Scharfschütze.115 Spaziergänge mit seiner Frau in der Umgebung des Metropol’ unternahm er mit umgeschnalltem Revolver116, und als Redner in den freitäglichen Massenversammlungen117 überkam ihn zuweilen ein unbehagliches Gefühl, wie er Paquet anvertraute: „Er stand auf der Tribüne, sah immer vor sich in der Menge das schöne fanatische Gesicht eines jungen Mädchens, das ihn immerfort ansah. Frage, ob sie ,zu uns‘ gehört oder zu den anderen […]. Jeden Augenblick kann sie den Revolver heben.“118 Marx und Engels hatten die Anwendung von Gewalt und Terror für legitim erklärt, wenn die Errungenschaften der Revolution angegriffen würden, vor allem aber deshalb, weil die untergehende Klasse nicht kampflos abtreten werde. Auch Radek sah im Terror ein moralisch gerechtfertigtes Kampfmittel. Im Zusammenhang mit der Internierung von 15.000 zaristischen Offizieren im August 1918 als „Vorbeugungsmaßnahme gegen die Konterrevolution“, äußerte er zwar, „es sei menschlich, die Leute […] festzunehmen, statt sie später erschießen zu müssen.“119 Gleichzeitig hatte er aber keine Bedenken gegen die Erschießung von Getreidespekulanten und erwog sogar öffentliche Hinrichtungen: „Es werde immer unausweichlicher“, sagte er zu Paquet, „nächstens öffentlich Leute auf den Plätzen zu köpfen.“120 Von Feliks Dzeržinskij, dem Chef der Čeka, sprach er voller Bewunderung: „[…] Fanatiker, wundervoll geeignet für sein jetziges Amt, mit 500 Mann ganz Moskau in Schach zu halten. Hat ganz Moskau nach einem strategischen Plan mit Bombenwerfern [Granatwerfern] versehen, die in den geräumten oberen Stockwerken und Eckhäusern außer den M.G.s angebracht werden. Wer von seinen Leuten unzuverlässig ist, wird innerhalb 3 Stunden erschossen. Seine Angestellten entweder Fanatiker oder Schurken, 114 Paquet-Tagebuch (31. August 1918), S. 136. 115 Paquet-Tagebuch, S. 138. 116 Ebenda, S. 198. 117 1918/19 war in Moskau der Freitag generell der „Tag der Partei“, an dem führende Funktionäre auf eigens anberaumten Massenversammlungen sprachen. 118 Paquet-Tagebuch, S. 138. 119 Paquet-Tagebuch (10. August 1918), S. 101. 120 Ebenda und Telegramm Legationsrat Hauschild aus Moskau an das Auswärtige Amt, 12. August 1918, ebenda, S. 103.

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wie er selber sagt. […] Läßt jetzt täglich Menschen erschießen. […] Den Einwand gegen seine Härte: da doch nach der von den Sozialisten anerkannten Theorie der Mensch, auch der Verbrecher, auch der Konterrevolutionär das Produkt seines Milieus sei, weist er ab: s p ä t e r wollen wir sie heilen, j e t z t kämpfen wir um die Macht.“121

Die Angelegenheiten der in Russland von der Čeka verhafteten Deutschen liefen über Radeks Tisch im Außenkommissariat. Am 20. August 1918 hatte er „5 Deutsche wegen Spekulation etc. sitzen“. Paquet notiert, dass er und Radek auf der ČekaQuittung für einen der Verhafteten – „unterstempelte Wische Papier, ausgeführt von der Lubjanka-Kommission“ – mangels eines Aschenbechers, ungerührt die Asche ihrer Zigaretten abstreiften.122 Drohungen mit der Čeka gehörten zu Radeks Repertoire, wenn er einen seiner gefürchteten Wutausbrüche hatte. Als der in Moskau amtierende deutsche Generalkonsul Hauschild vom deutschen Soldatenrat in Moskau unglücklicherweise das schriftliche Eingeständnis verlangte, die Sowjetregierung habe die Besetzung der deutschen Vertretung durch revolutionäre Kriegsgefangene initiiert, geriet Radek außer sich, wie Paquet festhält: „Mira [Gec, die Sekretärin] draußen hat geheult, offenbar stark angepfiffen. […] Radek schäumt vor Wut, ganz bleich und außer sich – auf Hauschild. Dieser Bursche, ist der Kamm geschwollen, wagt es die Leute [vom deutschen Soldatenrat] zu bedrohen, verlangt von ihnen Unterschrift, daß die Sache von der russischen Regierung angestiftet sei: werde ihm zeigen, wie man mit solchen Burschen umspringt. Werde ihm, ehe wir ihn ausliefern, diesen Konsul, 5 Jahre Zwangsarbeit in Sibirien wegen der Durchstecherei, ich werde ihn anpfeifen, daß er umfällt, der Bursche.“123

Er verfuhr „infam“ gegen Hauschild, schreibt Paquet, der Zeuge wurde, wie Radek am Telefon Skrypnik124, den Leiter der Moskauer Čeka, auf den deutschen Diplomaten hetzte. Von Paquet wieder etwas besänftigt, meinte Radek schließlich, der Konsul könne abreisen, werde aber bis dahin in der Lubjanka sitzen und fügte hinzu: „ich werde ihm Bescheid mitgeben, der sich gewaschen hat […].“125 Nach den Anschlägen auf Lenin und Urickij, die man den Sozialrevolutionären zur Last legte, schrieb die „Pravda“ am 31. August 1918: „Das Proletariat wird mit dem organisierten Massenterror […] antworten. Die Klasse der Mörder, die Bourgeoisie muß zermalmt werden.“126 Am 2. September nahm das VCIK eine Re121 Paquet-Tagebuch (20. August 1918), S. 117. 122 Ebenda (20. August 1918), S. 116f. 123 Paquet-Tagebuch (15. November 1918), S. 244f. Radek machte seine Drohungen übrigens nicht wahr. 124 Skrypnik, Nikolaj Alekseevič (1872–1933), bolschewistischer Revolutionär und ukrainischer KPFührer; 1918 vorübergehend Leiter der Moskauer Čeka. 125 Paquet-Tagebuch, S. 247. 126 Ebenda, S.136, Anm. 475.

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solution an, in der es abschließend hieß: „Auf den weißen Terror […] antworten die Arbeiter und Bauern mit rotem Massenterror gegen die Bourgeoisie und ihre Agenten.“127 Mit dem Dekret „Über den Roten Terror“ vom 5. September 1918 legalisierte die Sowjetregierung den Terror: „In der augenblicklichen Situation ist es absolut lebensnotwendig die Čeka zu verstärken, […] die Klassenfeinde der sowjetischen Republik in Konzentrationslagern [sic!] zu isolieren und so die Republik gegen sie zu schützen, jeden, der in weißgardistische Organisationen, in Verschwörungen, Aufstände und Erhebungen verwickelt ist, auf der Stelle zu erschießen […].“128

In der Propaganda des Massenterrors wurde Radek tonangebend. Am „Tag der Partei“, Freitag, dem 6. September 1918, veröffentlichte die „Izvestija“ seinen Leitartikel „Krasnyj Terror [Der Rote Terror]“.129 Darin forderte er die Bildung von Arbeiterabteilungen, die den Besitz der Bürger requirieren sollten und erneut öffentliche Hinrichtungen. „Fünf Geiseln, in Anwesenheit von tausend Arbeitern erschossen, die die Maßnahme gutheißen, bedeuten mehr als 500 [geheime] Hinrichtungen durch die Außerordentliche Kommission [Čeka].“130 Er begründete den Roten Terror mit dem mangelnden Wohlverhalten und den verschwörerischen Plänen der Bourgeoisie gegenüber den Bol’ševiki und rechtfertigte ihn als notwendig gewordene Abwehrreaktion des Regimes: „Die Arbeitermassen haben lange gezögert, bis sie sich entschlossen, Zwangsmaßnahmen gegen das Bürgertum zu ergreifen. Im Anfang wollte die Arbeiterrevolution Großmut üben. Aber ihre Feinde erhoben zum Dank dafür, daß sie sie laufen ließ, gegen die Arbeiter ihre Waffen. Als Antwort auf den weißen Terror steht jetzt der rote Terror auf der Tagesordnung. Die Seele aller Verschwörungen auf russischem Boden ist die Bourgeoisie. Sie verfügt über ein Netz von Verbindungen im ganzen Lande. In ihren Händen befinden sich noch Milliarden. Noch hofft sie auf den Sieg mit Hilfe des fremden Kapitals und des Großbauerntums. Daher müssen ihr nicht nur die Waffen abgenommen, sondern auch alle Reichtümer müssen ihr entrissen, ihre Verbindungen zerstört werden. Wir müssen nicht nur die Produktionsmittel in unsere Hände bekommen, sondern auch alles persönliche Eigentum der Bourgeoisie, denn dieses dient nur als Kampfmittel gegen das Proletariat.“131 127 Ebenda, S.138, Anm. 493. 128 „Izvestija“, 10. September 1918. Courtois, S. 90. 129 „Izvestija“, Nr. 192, 6. September 1918, S. 1. 130 Paquet-Tagebuch (6. September 1918), S. 43. Der „Izvestija“-Originaltext lautet: „Die öffentliche Hinrichtung von fünf Bourgeois in der Anwesenheit von tausenden von Arbeitern, die das kraft eines Urteils des Sowjets gutheißen, würde eine weitaus wirksamere terroristische Handlung sein, als das geheime Erschießen von fünfhundert Personen aufgrund einer ohne die Mitwirkung der werktätigen Massen getroffenen Entscheidung der Čeka.“ Popoff [Popov], George, S. 233. 131 „Izvestija“, a.a.O. Paquet, Im kommunistischen Rußland, S. 115.

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Am Abend des gleichen Tages stand dieser Artikel im Mittelpunkt der bolschewistischen Propagandaveranstaltungen. Alfons Paqet, der Radek zu „Meetings“ in das Moskauer Arbeiterviertel Lefortovskij Rayon und in die nicht weit davon entfernte Kaserne des 1.Sowjetregiments begleitete, berichtet, Radek habe etwa vierzig Minuten lang, „sehr gut“ gesprochen – „einen konzentrierten Hetzartikel, für den er in Deutschland 8 Jahre Zuchthaus bekäme.“132 „Den Schluß bildete die Forderung des Terrors gegen die Bourgeoisie […], die während des Krieges zu Hause saß […] vom ,Krieg bis zum Ende‘ redete und unterdessen Hunderttausende russischer Arbeiter an den Fronten hungern, frieren und sich verbluten ließ.“133 Die Ankündigung des Massenterrors löste in den Bürgerfamilien Moskaus bange Sorge und Panik aus. Als dann die Welle des Roten Terrors rollte, registrierte Alfons Paquet, man erschieße „schlecht, grausam und nachlässig.“134 Am 9. September 1918 schrieb er in sein Tagebuch: „Der Aufenthalt in Moskau ist wie in einem Leichenhause […]. Ganz Moskau zittert. Windet sich in Todesängsten. Man verhaftet alle Leute der 4. Klasse der Lebensmittelkarte, d.h. der Wohlhabenden; alle Direktoren. […] Die Erschießungen meist in der Nähe des Butyrka-Gefängnisses, auf dem Chodynka-Felde durch f i n n i s c h e Rotgardisten. Man verhaftet und erschießt meist sofort. Alte Herren von über 70 Jahren […] verhaftet, weil sie Hausbesitzer sind. […] Unter ca. 700, die man dieser Tage erschoß, nur 20 mit konterrevolutionären Dokumenten.“135

Angeekelt verfasste er einen Artikel, der sich mit der Überschrift „Terror“ gegen die schreiende Missetat, das Unrecht, die Gewalt richtete und den er am 10. September an die „Frankfurter Zeitung“ telegraphieren ließ. Darin schreibt er: „Es ist eine Bartolomäusnacht im großen, die in diesen Septembertagen ihren Todesschatten über Rußland niedersenkt. Die Städte Moskau und Petersburg zittern. Nicht ein Mensch mehr in diesen Städten, der noch seines Lebens sicher wäre. Schuldige und Unschuldige, ein jeder kann, so geschieht es täglich, auf Grund eines bloßen Verdachtes, auf Grund von Listen, die beliebig zusammengestellt werden, von der Außerordentlichen Kommission [Čeka] gegriffen, in die überfüllten von Schmutz und Ungeziefer wimmelnden Gefängnisse geworfen und ein paar Stunden später erschossen werden. Die Erschießungen finden meistens frühmorgens statt, beim grellen Licht der Scheinwerfer an den mit Opfern beladenen Lastautomobilen, in den Wäldchen an der Semenowskaja Sastawa oder auf dem Chodynkafelde. Rücksichtslos requiriert man Häuser, Wohnungen und Wohnungseinrichtungen in allen Stadtvierteln. Die Räumungsbefehle prasseln in die von

132 Paquet-Tagebuch (6. September 1918), S. 145. 133 Paquet, Im kommunistischen Rußland, S. 116. 134 Paquet-Tagebuch (5. und 6. September 1918), S. 143. 135 Ebenda (9. September 1918), S. 150.

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Kleinbürgerfamilien bewohnten Mietshäuser ebenso wie in die Häuser der Reichen an den Boulevards. […] Der Terror schüttelt Moskau wie ein Fieber.“136

Offensichtlich durch die sowjetische Telegrammzensur bereits in Kenntnis des noch unveröffentlichten „Terror“-Artikels gesetzt, quittierte Radek noch am gleichen Abend gegenüber Paquet den Aufsatz mit den Worten: „Danken Sie Gott, daß sie kein Russe sind. Ich würde Sie sonst wegen Ihrer Artikel erschießen lassen. Todsicher.“137 Paquet lässt offen, ob dieses Drohung ein burschikoser Scherz oder eine ernstzunehmende Warnung war, wobei es durchaus dem Stil Radeks entsprochen hätte, mit dem Entsetzen Scherz zu treiben138. Nachdem das in Petrograd verbliebene diplomatische Korps der neutralen Staaten unter Einschluss des deutschen und des österreichischen Generalkonsulats in einer Protestnote den von der Sowjetregierung inszenierten Roten Terror verurteilt hatte, drohte Radek in Moskau gegenüber dem k.u.k. Generalkonsul de Pottere139 sarkastisch: „In Berlin wisse man ganz gut, daß es ein leichtes sei, mit dem über die deutschen Greuel in Belgien, in Polen und in Serbien gesammelten Material die deutsche Politik zu kompromittieren, ,wenn dieselbe einen Humanitätsdusel bekäme‘ und gegen den ,Roten Terror‘ protestieren wolle. Jeder kehre vor seiner eigenen Tür.“140

Čičerin beantwortete am 12. September den Protest mit einer scharfen Note, in der es am Schluss heißt: „Wir lehnen auf das energischste jede Einmischung neutraler kapitalistischer Mächte zugunsten der russischen Bourgeoisie ab und erklären, daß wir jeden Versuch der Vertreter dieser Mächte, die Grenzen des gesetzmäßigen Schutzes der Interessen ihrer Landsleute zu überschreiten, als einen Versuch zur Unterstützung der russischen Gegenrevolution betrachten werden.“141

136 Paquet, Im kommunistischen Rußland, S. 113. 137 Paquet-Tagebuch (10. September 1918), S. 152. 138 Koenen, S. 163. 139 Pottere, George de (1875-?); k.u.k. Diplomat; Juli – November 1918 österreichischer Generalkonsul in Moskau. 140 De Pottere aus Moskau 1918 an den österreichischen Minister des Äußern Graf Burian von Rajecz. Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918, S. 313. 141 Paquet-Tagebuch, S.154, Anm. 582 und 583. Gleichzeitig übermittelte Čičerin den diplomatischen Vertretern die Normen über die Behandlung nichtrussischer Bürger. Sie sollten im Falle der Beteiligung an der Konterrevolution genauso zur Verantwortung gezogen werden, wie russische Bürger.

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Voller Stolz erklärte Radek, der Protest Čičerins gegen die Einmischung der Neutralen wegen des Roten Terrors stamme aus seiner Feder.142 Wie der Text gemeint war, hatte er zuvor zu verstehen gegeben, als er im Zusammenhang mit der Intervention der Alliierten ausländischen Diplomaten drohte, man werde als Vergeltungsmaßnahme französische Offiziere füsilieren sowie „alliierte Agenten“ in Moskau verhaften und Mann für Mann erschießen lassen.143 Später erzählte er, als er im Auftrag Lenins den Entwurf der Antwort Moskaus auf die internationalen Proteste gegen den Roten Terror verfassen sollte, habe ihm Sverdlov, der Vorsitzende des VCIK, geraten: „Lassen sie den Formelkram sein, schreiben sie so, daß sie [die fremden Regierungen] es kapieren.“ Er habe den Entwurf daraufhin „in völlig undiplomatischem Ton gehalten“ und die ausländischen Mächte mit „Schakalen“ verglichen. Als Außenkommissar Čičerin darüber „ein wenig erschrocken“, die Streichung dieser Formulierung verlangte, rief Radek Sverdlov an, „der laut ins Telefon lachte“ und als Kompromiss vorschlug, das Wort „Schakale“ durch „Hyänen“ zu ersetzen, „was auch befolgt wurde.“144 Eine nicht besonders anspruchsvolle Anekdote, jedoch äußerst aufschlussreich im Hinblick auf Radeks Gewicht im Außenkommissariat und sein Verhältnis zu Čičerin sowie seine damalige starke Position in der Sowjethierarchie. Er war nicht nur ein Vertrauter Lenins, sondern auch der Mann Trockijs und Sverdlovs.145 Parallel zu seinem propagandistischen und diplomatischen Einsatz in der Terrorkampagne des Kremls, blieb Radeks politisches Engagement weiter auf Deutschland konzentriert. Am 2. September 1918 wurden die Zusatzverträge zum Brester Frieden vom Zentralexekutivkomitee (VCIK) einstimmig ratifiziert. Staatssekretär von Hintze hatte in Berlin durchgesetzt, dass Deutschland davon absah, die Weißen zu unterstützen. Als Preis dafür verzichtete Russland endgültig auf das Baltikum und erklärte sich zu größeren Öllieferungen und Entschädigungszahlungen in Höhe von sechs Milliarden Goldmark bereit. Die Abkommen bildeten zwar eine neuerliche Demütigung Russlands, aber Čičerin meinte, sie bedeuteten für Sowjetrussland eine „erhebliche Verbesserung“ der Lage und die Moskauer Presse schrieb von einem „ungeheuren Sieg der Rätediplomatie“. Nicht völlig zu Unrecht, denn die Ergänzungsabkommen brachten Rettung aus höchster Not. „Was aus dem Sowjetregime in der tödlichen Krise des Sommers 1918 geworden wäre, hätte das Kaiserreich sich, wie 142 Ebenda (14. September 1918), S. 156. 143 Äußerungen Radeks gegenüber dem amerikanischen und dem schwedischen Generalkonsul in Moskau. Ebenda (24. Juli.1918), S. 82. 144 Radek, „Ja. M. Sverdlov, in: Portrety i pamflety, S. 38. 145 Ein Indiz für diese personelle Konstellation bildet ein deutscherseits aufgefangenes Fernschreiben der im Sommer 1918 zu Verhandlungen über den Brest-Litovsker-Ergänzungsvertrag in Berlin weilenden Russen. Als es zwischen dem Sowjetgesandten Ioffe und den Delegationsmitgliedern Sokol´nikov und Larin zum grundsätzlichen Konflikt über die Verhandlungsführung und die Paraphierung kam, schwärzten die beiden den Gesandten in einem unmittelbar an „Trockij/ Sverdlov/ Radek“ – nicht aber an Čičerin – gerichteten Fernschreiben an. Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918, S. 289.

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Helfferich und Ludendorff gefordert hatten, mit der Gegenrevolution verbündet, ist kaum zweifelhaft.“146 Am folgenden Tage hielt Radek in der vereinigten Sitzung des Moskauer Sowjets eine große Rede über die internationale Lage und die Außenpolitik Sowjetrusslands147, in der er mit Blick auf die Abkommen eine positive außenpolitische Bilanz zog. Der deutsche Imperialismus sei durch die Zusatzverträge erst einmal ruhiggestellt worden und die Zeit arbeite zugunsten der Bol’ševiki. Noch vor einem halben Jahr sei die Lage auf dramatische Weise bedrohlicher gewesen: „Als wir den Brester Frieden geschlossen haben, war es uns klar, daß er uns keine Garantie biete, daß man uns später nicht erwürgen werde, wir wußten, daß es nur von der objektiven Entwicklung der Ereignisse abhängt, ob das Räterußland erwürgt sein werde oder nicht, ob es im Kampfe von den Kugeln des deutschen Imperialismus oder von den Bajonetten unserer Verbündeten fallen werde.“148

Nunmehr befinde man sich in einer wesentlich günstigeren Situation als zur Zeit des Friedensschlusses von Brest. Deutschland habe es nicht vermocht, den „Ring um Sowjetrußland“ zu schließen, es von allen Seiten einzukreisen. Für die Okkupation ganz Russlands würde das Reich 20 Armeekorps mit mindestens einer Million Soldaten benötigen – das Doppelte der in der Ukraine gebundenen Truppen. Dies sei kräftemäßig nicht realisierbar und bedeute sogar vom Standpunkt des deutschen Imperialismus aus ein unkalkulierbares Abenteuer, nachdem durch das Eingreifen der amerikanischen Truppen an der Westfront auch dort ein deutscher Sieg nicht in Sicht sei.149 „Wir sehen also, daß mit der objektiven Lage gerechnet, uns von Seiten Deutschlands einstweilen keine direkte Gefahr droht.“150 Auf das Grundsätzliche im Verhältnis Russlands zu Deutschland eingehend, äußerte er: „Es wird für die zwei in ihrer sozialen Struktur so unterschiedlichen Länder genügen, wenn ihre Regierungen begreifen, daß es nicht in ihrem Interesse liege, miteinander Krieg zu führen, und daß die Interessen Deutschlands, um von ihnen zu sprechen, der Bildung einer neuen Ostfront widersprechen. Wenn beide Länder dabei Handelsbeziehungen, die den gegenwärtigen Interessen entsprechen würden, anbahnen, so wären damit die aktuellen deutsch-russischen Interessen erschöpft.“151

146 Krummacher/Lange, S. 50. 147 Radek: „Die internationale Lage und die äußere Politik der Räteregierung. Eine Rede gehalten am 3. September 1918 in der vereinigten Sitzung des Moskauer Rates der Arbeiter- und RotarmeeDeputierten, der Fabrikkomitees- und der Gewerkschaften-Vertreter.“ 148 Ebenda, S. 3. 149 Ebenda, S. 5. 150 Ebenda, S. 11. 151 Ebenda, S. 9.

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Was die zukünftige Entwicklung der russisch-deutschen Beziehungen angehe, so sei eine Prognose allerdings schwierig: „Wir leben in einer Epoche von Erschütterungen, wo man nicht voraussagen kann, was der nächste Tag bringt.“ Dennoch sei eines gewiss, „der Umschwung in Deutschland“ wird kommen. Was die Zukunft anbetreffe, so könne man mit Bismarck sagen, „man solle dem lieben Gott nicht ins Handwerk pfuschen.“152 Angesichts der gegenwärtig zurückgedrängten deutschen Gefahr, stelle der „Überfall der Alliierten“ – die militärische Intervention der Ententemächte – die aktuelle Bedrohung dar. „Wir bilden die rote Armee, um uns zu verteidigen, und sind heilig überzeugt, daß sie mit dem Feind fertig werden wird. Aber „trotz des Angriffes der Verbündeten“, könne man „mit fester Überzeugung sagen, daß unsere Lage ungeachtet dieses neuen Krieges jetzt eine günstigere ist, als vor sechs Monaten.“ Und er appellierte an die bolschewistischen Genossen bis zum Ausbruch der Weltrevolution durchzuhalten: „Wir sind jetzt dem Siege näher. Wir haben an Kraft im Laufe dieser 6 Monate gewonnen und niemand ist imstande, dem Herzen des Proletariats die Rätegewalt zu entreißen. Wir können jetzt den Arbeitern mit Sicherheit sagen, daß es blos [sic!] von ihnen abhängt, daß wir uns so lange halten, bis die Reihen des Proletariats aller Länder uns rechtzeitig zu Hilfe kommen.“153

Unter dem Titel „Die auswärtige Politik Sowjet-Russlands“154 vertiefte er seine Ausführungen noch im gleichen Monat in einem im Hinblick auf den ersten Jahrestag des Sowjetregimes begonnenen und im Oktober noch ergänzten Aufsatz. Darin befasst er sich in drei im September geschriebenen Abschnitten mit dem außenpolitisch relevanten Agieren der Bol’ševiki „auf dem Wege zur Oktoberrevolution“, in ,BrestLitowsk‘ und „zwischen dem englischen, französischen, amerikanischen und deutschen Imperialismus“. Sein revolutionärer Optimismus erscheint zunächst gedämpft und er stellt nüchtern fest: „Die Bemühungen der Sowjetregierung eine [revolutionäre] Bewegung in allen Ländern hervorzurufen, konnten natürlich nicht schon in kurzer Zeit bedeutende Erfolge erzielen.“ Als Folge blieb die russische Revolution „im imperialistischen Europa fürs erste isoliert. Hält diese Isoliertheit lange an, so wird die russische Revolution von den Kräften der Konterrevolution erdrückt.“ Er betont, die sowjetrussische Außenpolitik sei bislang genötigt gewesen, sich an diesen Rahmenbedingungen zu orientieren: „Sowjet-Rußland hielt der deutschen Politik gegenüber von Anfang an einen ganz bestimmten Kurs ein. Es gab dem deutschen Drucke da nach, wo zu erwarten war, daß die ganze deutsche Macht dahinter stehe.“ Völlig zutreffend stellt er fest, mit den Zugeständnissen bei den Verhandlungen über 152 Ebenda. 153 Ebenda, S. 14. 154 Radek, Die auswärtige Politik Sowjet-Russlands (geschrieben im September 1918 und offensichtlich im Oktober 1918 noch im Text ergänzt), Hamburg 1921.

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die Durchführung des Brester Friedens habe man den Deutschen gewissermaßen ihren Anteil an den nationalisierten russischen Industrieunternehmen abgekauft und damit erreicht, dass Deutschland „auf eine weitere Einmischung in die inneren russischen Angelegenheiten“ verzichtet habe. „Das war der eigentliche Sinn der Ergänzungsverträge, darin bestand ihre positive Bedeutung für die Sowjetrepublik […].“ Gegenüber den Ententemächten habe man die gleiche außenpolitische Linie verfolgt. „Um nicht unter vier Augen mit dem deutschen Imperialismus zu bleiben“, durfte die Sowjetregierung ihre Beziehungen zu London und Washington nicht abbrechen, denn „sie mußte die Möglichkeit behalten, zwischen den beiden Lagern zu lavieren.“155 Dann aber ändert sich der Ton des Aufsatzes. Er reflektiert die Lageveränderung, die Ende September durch den Kriegsaustritt Bulgariens, die sich zuspitzende Situation an der Westfront, die Ablösung von Reichskanzler Hertling156 durch Prinz Max von Baden157 und das deutsche Waffenstillstandsangebots an Präsident Wilson am 3. Oktober158 eingetreten war – Ereignisse, die offenbar machten, daß Deutschland vor der militärischen Niederlage und dem politischen Zusammenbruch stand. Radek geht wie folgt darauf ein: „Der Oktober brachte riesige Veränderungen in der äußeren Lage der russischen Revolution mit sich. […] Aber in dem Moment in dem wir dies schreiben, bedeutet der Zusammenbruch des deutschen Imperialismus nicht den Sieg der deutschen Revolution, sondern den Sieg des verbündeten Imperialismus. Die deutsche Revolution muß erst geboren werden.“159

Dennoch stelle die neue Lage Sowjetrussland vor neue Aufgaben: 155 Ebenda, S. 11, S. 14 und S. 23. 156 Hertling, Dr. Georg Graf von (1843–1919); 1917 – 30. September 1918 deutscher Reichskanzler. 157 Maximilian von Baden, Prinz (1867–1929); 3. Oktober – 9. November 1918 deutscher Reichskanzler. 158 Radek schildert in seinen Erinnerungen, wie er den Eingang der Nachricht über das deutsche Waffentillstandsangebot erlebt hat, der auf die Sowjetführung wie ein „Zeichen der Befreiung“ wirkte: „Genosse Joffe [Ioffe], unser Botschafter in Berlin, ließ mich an den Hughes-Telegraphenapparat [im Meropol’] rufen. ,Eben habe ich die Nachricht erhalten‘, berichtete er, ,daß die Deutsche Regierung beschlossen hat, sich an die Alliierten zu wenden und ihnen einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen vorzuschlagen.‘ Schon die Tatsache, daß Joffe nicht durch Chiffre übermittelte, sondern direkt über den Telegraphen, ließ keinen Zweifel daran, daß die Quelle ernst zu nehmen war und er sich keine Umstände zu machen brauchte. Dennoch fragte ich zur Vorsicht: ,Sind Sie sich der Bedeutung dieser Nachricht und ihrer Folgen bewußt?‘ Joffe antwortete: ,Ich übernehme die volle Verantwortung für die Mitteilung.‘ Ich gab diese Nachricht, die auf uns wie das Zeichen der Befreiung wirkte, natürlich sofort an die Regierung weiter. Radek, Nojabr’, Iz vozpominanii [November, Aus meinen Erinnerungen]; Deutsche Übersetzung in: Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 119. 159 Radek, Die auswärtige Politik Sowjet-Russlands (geschrieben im September 1918 und offensichtlich im Oktober 1918 noch im Text ergänzt), Hamburg 1921, S. 25.

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„Es ist selbstverständlich, daß, sobald die deutsche Revolution siegt, die russische Revolution mit ihr vereint, unüberwindlich ist. Die Verbindung des Menschen und Güterreichtums des russischen Proletariats mit den Organisationstalenten und Kenntnissen des deutschen Proletariats wird so riesenhafte Kräfte zum Schutze der Arbeiterrevolution Deutschlands und Oesterreichs entwickeln, daß die Verbündeten [d.h. Die Ententemächte], von Rußland weit entfernt und gezwungen, ihre Truppen auf dem Seewege oder durch Sibirien zu transportieren, diese [russische] Revolution nie ersticken können. […] Das russische Proletariat, das die Angriffe der Verbündeten zurückschlägt, kann sich gezwungen sehen, der deutschen und österreichischen Revolution aktive Hilfe leisten zu müssen, wenn der deutsche Imperialismus versuchen sollte, sie zu erdrücken. Die russische Revolution wird im Augenblick des Sieges der deutschen Revolution mit Menschen und Getreide beispringen müssen, um die Zerstörung möglichst schnell zu überwinden.“160

Es unterliege aber keinem Zweifel, daß der eigentliche Prozeß des Heranreifens der deutschen Revolution, der sich in recht schnellem Tempo vollziehe, die Gefahr des deutschen Imperialismus immer noch als einen ständigen Faktor erkennen lasse. Der deutsche Imperialismus könne sich aus Verzweiflung auf die russische Revolution stürzen, um die „Kraftquelle der deutschen Revolution“ zu vernichten. Auch aus diesem Grunde werde die Sowjetregierung „am Vorabend der beginnenden europäischen Revolution“ versuchen, „die Verteidigungskraft des Landes zu heben und die Armee zu vergrößern.“ Im kommenden Winter werde Sowjetrussland „seine Kräfte organisieren, um seinen Pflichten gegenüber dem Weltproletariat gerecht zu werden. Innerhalb dieser Zeit wird die Weltrevolution Riesenschritte machen“, sich aber nicht in allen Ländern mit gleicher Schnelligkeit entwickeln. Die USA, Großbritannien und Japan bilden noch die „Granitfelsen“ des Kapitalismus. Aber, der „alte Maulwurf der Geschichte“ hat gut gewühlt: „Der deutsche Imperialismus zerfällt, schon lassen sich die Schritte der Massen hören, die auf seinen Trümmern den Sozialismus in Deutschland aufbauen werden.“161 Mit dieser nachträglichen Ergänzung seines Artikels umriss Radek die Wende in der politischen Strategie, die in Moskau durch die Anfang Oktober eintreffenden Nachrichten über die Veränderungen in Deutschland einsetzte. Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches rief in der Parteiführung fieberhafte Erregung hervor. Insbesondere Radek verfolgte die politischen Veränderungen in Berlin mit größter Spannung162 und rechnete mit einem baldigen Ausbruch der deutschen Revolution unter der Führung von Karl Liebknecht. So zog er in der „Izvestija“ vom 1. Oktober, Parallelen zwischen den Ereignissen in Deutschland und Russland am Vorabend der Februarrevolution. In dem Regierungsblatt, das mit riesigen Überschriften den Zusammenbruch des Weltimperialismus und das Nahen der Weltrevolution ankün160 Ebenda, S. 25 f. 161 Ebenda, S. 26 ff. 162 Paquet-Tagebuch (3. Oktober 1918), S. 174.

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digte, hatte Radek geschrieben, Deutschland stehe am Rande der Revolution und angedeutet, Russland könnte sich im Falle einer Revision des Brester Vertrages verpflichten, eine Landung von Streitkräften der Entente in der Ukraine und im Baltikum zu verhindern, um damit das Entstehen einer neuen Ostfront gegen Deutschland zu unterbinden.163 Die Ausführungen Radeks waren bei Lenin auf lebhaftes Interesse gestoßen. Der Sowjetführer, der sich nach dem Kaplan-Attentat zur Genesung in Gor’kij aufhielt, informierte sich aus der sowjetischen Presse über das aktuelle Geschehen und es hat den Anschein, dass der Artikel Radeks den Anstoß für eine außenpolitische Kursänderung gab. Der Moskauer Historiker Aleksandr Vatlin schreibt, Lenin sei mit Außenkommissar Čičerins defensiver diplomatischer Linie unzufrieden gewesen und angeregt durch Radek, hätte er angesichts der aktuellen Entwicklung beschlossen, in der Außenpolitik auf die deutsche Revolution zu setzen und nicht mehr, wie bisher, zwischen den Kriegsparteien vorsichtig und abwartend zu manövrieren. Die „eigentliche Schlüsselentscheidung“ sei am 1. Oktober 1918 gefallen164. In einem von Lenin wahrscheinlich telefonisch geführten zweistündigen Gespräch mit Radek an diesem Tag, stimmten beide in der Beurteilung überein, dass eine entscheidende Wendung in der internationalen Lage eingetreten sei, die Stunde der deutschen Revolution gekommen wäre und die Bol’ševiki diese Entwicklung aktiv unterstützen müssten. Lenin fand in Radek einen Verbündeten, den er als seinen Ratgeber aufwertete und ihm die Aufgabe übertrug, in Moskau als „propagandistisches Sprachrohr“ für die neue aussenpolitische Linie zu wirken. Die sich aus der gemeinsamen Einschätzung der Situation ergebenden Konsequenzen hielt Lenin schriftlich in einer Notiz fest, die er ohne Čičerin und das Außenkomissariat zu informieren, in einem Brief an Sverdlov und Trockij in Moskau übermittelte.165 Die zentralen Aussagen in diesem Schreiben lauten: „In Deutschland ist die politische Krise ausgebrochen. […] Diese Krise bedeutet entweder den Beginn der Revolution oder in jedem Falle, daß ihre Unausweichlichkeit und Nähe den Massen jetzt augenscheinlich wurden. Die Regierung ist moralisch zurückgetreten […]. Die Krise in Deutschland hat gerade begonnen. Sie wird unausweichlich durch den Übergang der politischen Macht in die Hände des deutschen Proletariats beendet werden. Das russische Proletariat verfolgt die Ereignisse mit größter Aufmerksamkeit und Begeisterung […]. Das russische Proletariat wird verstehen, daß man jetzt bald von ihm die größten Opfer zugunsten der Internationale fordern wird. Es nähert sich die Zeit, da die Umstände 163 Viator [Radek] „Političeskij krizis v Germanii. Ten´ Rossii [Die politische Krise in Deutschland. Der Schatten Russlands]“ mit dem Postscriptum „Sčitajut dni i časy [Sie zählen die Tage und die Stunden]“, in: „Izvestija“ Nr. 212 vom 1. Oktober 1918. Paquet-Tagebuch, S. 169, Anm. 693 und Vatlin, Die Komintern (2009), S. 51. 164 Vatlin, Die Komintern (2009), S. 51. 165 A.a.O., S. 49–53.

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von uns Hilfe fordern können für das sich von seinem Imperialismus befreiende deutsche Volk gegen den englisch-französischen Imperialismus. Beginnen wir sofort uns darauf vorzubereiten, Wir werden beweisen, daß der russische Arbeiter es versteht, weit energischer zu arbeiten, weit selbstloser zu kämpfen und zu sterben, wenn es sich nicht nur um russische allein, sondern um die internationale Arbeiterrevolution handelt. Vor allem werden wir unsere Anstrengungen für die Bereitstellung von Getreidevorräten verzehnfachen. Wir werden festlegen, daß in jedem großen Getreideelevator ein Getreidevorrat zur Hilfe für die deutschen Arbeiter geschaffen wird […]. Möge sich auf dem gleichen Wege unsere Arbeit zur Schaffung einer proletarischen Roten Armee verzehnfachen […] jetzt brauchen wir eine Armee von 3 Millionen Mann […]. Die Weltgeschichte hat in den letzten Tagen ihren Lauf hinsichtlich der Weltrevolution ungewöhnlich beschleunigt. Die schnellsten Änderungen sind möglich, Versuche eines Bündnisses zwischen den deutschen und englisch-französischen Imperialisten gegen die Sowjetmacht sind möglich.“166

Radek war in seiner Revolutionsbegeisterung nicht zu bremsen. Als Ioffe ihn in einem Ferngespräch aus Berlin warnte, den Ton gegenüber der deutschen Regierung zu ändern da in Deutschland bestenfalls der „Februar“, nicht aber der „Oktober“ angebrochen wäre und warnte, die Genossen würden mit ihren Worten „mehr Hartnäckigkeit und nicht nachgeben“ noch alles „versauen“, entgegnete Radek, ihm gehe die Neubildung der deutschen Regierung zu langsam vor sich, und er forderte Ioffe auf, den Deutschen zu erklären, „wie nach unserer Erfahrung so was gemacht wird.“167 Ausländische Journalisten schockierte er mit der Ankündigung eines militärischen Angriffs der Roten Armee auf Deutschland nach dessen völliger militärischer Niederlage. Auch bekundete er die Absicht, als Verhandlungsführer der Sowjetregierung nach Berlin zu reisen.168 Als „der propagandistische Waffenträger Lenins“169 er-

166 Lenin, Schreiben an die gemeinsame Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees und des Moskauer Sowjets, der Betriebskomitees und Gewerkschaften 3. Oktober 1818. Lenin, Werke, Band 28, S. 90–93. 167 Ferngespräch zwischen Ioffe und Radek am 2. Oktober 1918. Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918, S. 329. Wie auch Lenin, fürchtete Radek, daß die neue parlamentarische Regierung Prinz Max von Badens schnell durch eine Militärdiktatur abgelöst werden würde. Zu Ioffe sagte er: „Nach meiner Meinung werden die Scheidemänner versuchen, einen anti-russischen Kurs einzuschlagen, da eine Verständigung mit den Alliierten auf Kosten Rußlands diesen Ochsen auch bei größter Absurdität als einzig möglicher Rückzug erscheinen wird. Was den März und den Oktober anlangt, so kann man die Scheidemänner nicht mit dem Kerenskij-Putsch vergleichen. Wenn es der Militär-Partei gelingt, die katastrophale Entwicklung zu hemmen, dann wird Ludendorff den Scheidemann herauswerfen. Jedoch wird damit die Lage nicht gerettet.“ Ebenda. 168 Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918, S.172. 169 Vatlin, Die Komintern (2009), S, 64.

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läuterte er in der „Izvestija“ seine Weltsicht mit den Worten: „Wir stehen am Rande einer Epoche, in der man alles riskieren muss, um alles zu gewinnen.“170 Lenins Brief aus Gor’kij stand am Nachmittag des 3. Oktober 1918 im Mittelpunkt einer eiligst anberaumten Sitzung des VCIK und der Moskauer Räte und Gewerkschaften im Bol’šoj Theater. Es ging darum, „ob jetzt die Sowjet-Republik den revolutionären deutschen Arbeitermassen zu Hilfe eile, mit ihnen gemeinsam gegen die Anglofranzosen kämpfe – oder, wenn die Arbeiter jetzt in Deutschland nicht zur Regierung gelangen […], dann den bulgarischen und österreichisch-ungarischen Massen zu Hilfe eile.“171 Zu Beginn der Sitzung verlas Radek das Schreiben Lenins und hielt, gestützt auf dessen Inhalt, das Hauptreferat über die allgemeine Lage. Es folgte eine Rede Trockijs über die künftigen militärischen Aufgaben. Die Nachricht vom Zusammenbruch der imperialistischen Mittelmächte wurde vom Auditorium „mit großem Enthusiasmus aufgenommen.“172 In der Schlußresolution173 wurde der historische Charakter der Lageveränderung noch einmal hervorgehoben. Es hieß darin, die Sowjetmacht baue, wie schon in Brest-Litovsk, ihre ganze Politik auf die kommende Revolution in beiden Lagern des Imperialismus auf. Da der Kampf zwischen den englisch-amerikanischen und den deutsch-österreichischen Räubern über Nacht in einen Kampf des Entente-Imperialismus gegen das deutsche Proletariat umschlagen könne, müsse Sowjetrussland mit all seinen Kräften die deutsche Revolutionsmacht unterstützen. Der Oberste Kriegsrat wurde angewiesen, die Rote Armee auf drei Millionen Mann zu verstärken und das Verpflegungskommissariat beauftragt, einen Lebensmittelfonds für die Arbeiter Deutschlands und Österreichs zu schaffen, um so die Unterstützung des revolutionären Proletariats in diesen Ländern durch Militärhilfe und Lebensmittellieferungen vorzubereiten. Radek fühlte sich in jenen Tagen in seinem Element und versprühte seinen Geist auch in den mit dem Pseudonym „Viator [der Wanderer]“ gezeichneten Artikeln in der „Izvestija“.174 Den „Zusammenbruch des deutschen Imperialismus“ feierte er als den „großen historischen Augenblick, den wir jetzt durchleben“ und schrieb euphorisch: „Die Proletarierrevolution in Österreich und Deutschland wird unausbleiblich die Revolution in dem erschöpften Frankreich und Italien hervorrufen.“175 In Anspielung auf den Ausspruch des deutschen Staatssekretärs von Hintze vom 170 Radek: Krušenie germanskogo imperializma [Die Katastrophe des deutschen Imperialismus]. „Izvestija“ vom 4. Oktober 1918. Ebenda. 171 Äußerung des Narkomindel-Abteilungsleiters für den Orient Voznesenskij, der den Tag als „historisch erster Ordnung“ charakterisierte, zu Alfons Paquet. Paquet-Tagebuch (3. Oktober 1918), S. 174. 172 Paquet-Tagebuch (3. Oktober 1918), S. 140 f. 173 Resolution, angenommen in der gemeinsamen Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees des Moskauer Sowjets der Betriebskomitees und der Gewerkschaften. 22. Oktober 1918. Lenin, Werke, Band 28, S. 119–121. 174 Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918, S. 330f. 175 Radek, „Die Katastrophe des deutschen Imperialismus“, „Izvestija“ vom 4. Oktober 1918. Baumgart, Vor fünfzig Jahren, S. 21.

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brodelnden Kessel der Revolution, leitete er einen „Die Revolution in ÖsterreichUngarn“ überschriebenen Artikel mit einem Zitat aus Macbeth ein: „Koche, Kessel, schäume, zische, Feuer, brenne, koche, zische.“176 In dem Leitartikel „Neue Zeiten, neue Lieder“ polemisierte er, als Schüler von Karl Marx sähen die Bol’ševiki „alles als vorübergehend“ an und so hielten sie auch die „jetzige Regierung Deutschlands als eine Regierung von sehr kurzer Dauer.“ Das Kabinett von Baden, aus einem von ihm selbst angefachten vierjährigen Krieg hervorgegangen, sei bereits „gerichtet von der Weltgeschichte“ und in der deutschen Arbeiterklasse „werden sich sicherlich Kräfte finden, um den Urteilsspruch der Weltgeschichte zur Ausführung zu bringen.“ Im selben Artikel versuchte er mit der Perspektive der Bildung einer gemeinsamen deutsch-sowjetischen militärischen Front am Rhein und am Ural gegen die westlichen Alliierten, einer revolutionären Mobilisierung Deutschlands Momentum zu verschaffen177 und das Gespenst eines alliierten Kreuzzuges gegen den Bolschewismus zu bannen: „Die Arbeiter Deutschlands sollen dessen sicher sein, daß ihnen im Osten ein zuverlässiger Wächter erstehen wird, wenn sie das schwere Erbe des imperialistischen Krieges in ihre eigenen Hände nehmen werden. Mit unserem Leib werden wir dem EntenteImperialismus den Weg nach dem roten Berlin versperren, und nicht nur an der Volga, nicht nur am Dnepr, nein auch am Rhein werden die jungen Regimenter unserer Roten Armee, wenn die Weltgeschichte dies von uns verlangen sollte, für die deutsche Revolution und gegen das Kapital kämpfen […]. Die aus der russischen Arbeiterrevolution hervorgegangene Kraft wird nicht dazu verbraucht werden, um künstlich die Geburt der europäischen Revolution zu beschleunigen. Sie soll aber verbraucht werden, wenn es gelten wird, das Kind der europäischen Revolution vor Schlägen zu beschirmen und mit ihm vereint, mit aufgestülpten Hemdsärmeln an die große Arbeit zu gehen, auf den Ruinen des Kapitalismus.“178

Am 5. Oktober, als Radek das schrieb, sprach er auf einem Meeting im Moskauer Samoskvoreckij Rayon vor den Arbeitern der ehemaligen Michelsonschen Fabrik und bejubelte „das Ende der räuberischen Diplomatie des [deutschen] Imperialismus“: „Wilhelm [II.] kapituliert. Aber das neue Koalitionsministerium wird noch kurzlebiger sein, als es das russische war. Auch Philipp Scheidemann [zu dieser Zeit SPD-Staatssekretär ohne Portefeuille im Kabinett von Baden] […] wird es nicht für lange gelingen, den Orkan der deutschen Revolution aufzuhalten: sie wird hervorbrechen. […] Es ist eine sich vollziehende Tatsache – der Imperialismus stöhnt, tödlich getroffen. Bald wird ihn 176 Radek, „Die Revolution in Österreich-Ungarn“, „Izvestija“ vom 18. Oktober 1918. Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918, S. 331. 177 Koenen, S. 173. 178 Radek, „Neue Zeiten, neue Lieder“, Izvestija“ vom 5. Oktober 1818. Baumgart a.a.O., S. 331 und ders., Vor fünfzig Jahren, S. 22.

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das sich erhebende Proletariat völlig erschlagen. Und es kommt eine neue Welt. Diese Welt wird im Blute geboren, wie alles in dieser Welt. Aber sie wird geboren werden; sie wird kommen.“179

Zwei Tage später fasste er in einer „Der Zusammenbruch des Imperialismus und die Aufgaben der internationalen Arbeiterklasse“180 betitelten Rede die sich aus dem deutschen Zusammenbruch für Sowjetrussland ergebenden Konsequenzen noch einmal zusammen. Die Situation in Deutschland, einer „Nation mit der höchsten technischen und geistigen Kultur“, deren Massen „morgen an der Spitze der Revolutionsbewegung sein werden“, charakterisierte er als die Ruhe vor einem Sturm, „wie ihn die Geschichte noch nicht gesehen hat.“181 Die neue Regierung von Reichskanzler Prinz Max von Baden werde nicht imstande sein, auch nur eine Aufgabe zu lösen und versuche die Arbeiterklasse „durch kleinbürgerliche Demagogen, wie Erzberger und Scheidemann zu beschwindeln.“ Jedoch: „Die Scheidemänner werden bald bankrott sein.“182 Deshalb sei man „tief überzeugt, daß in kurzem die heutige Regierung durch die Erwählten der Arbeiterklasse, mit Karl Liebknecht an der Spitze, abgelöst wird.“183 Den Eintritt der deutschen Revolution thematisierte er als Überlebensfrage für die Bol’ševiki. Er stellte ein Junktim zwischen ihr und der russischen Revolution her und wiederholte die Entschlossenheit der Sowjetregierung militärisch zu intervenieren, um der Revolution in Europa zum Sieg zu verhelfen: „Jeder der an den fünf Fingern abzuzählen versteht, weiß, daß wir, wenn die Revolution in Europa wachsen wird und wenn sie in Gefahr sein wird, die Hände nicht in den Schoß legen können und nicht werden, daß es unsere Pflicht sein wird, den Arbeitern der anderen Länder zu Hilfe zu kommen, daß wir diese Pflicht erfüllen werden, indem wir das ganze Risiko auf uns nehmen, sogar das Risiko der vorübergehenden Unterdrückung der russischen Revolution, und daß wir nicht nur an unser eigenes Haus denken werden, wenn die Frage des Triumphes der Arbeiterklasse in Europa zu entscheiden sein wird […].“184 „[Die Sowjetregierung werde] die Karte der russischen Revolution auf die Karte der europäischen Revolution setzen […], denn die eine ist mit der anderen für immer verbunden. Wir können nicht den Endsieg erlangen, Genossen, können unser Leben nicht organisieren ohne den Sieg der Arbeiter in Europa […], ohne sie werden wir nicht siegen, wir können nur durch sie siegen; und deshalb wird es unsere Pflicht sein, ihnen siegen zu helfen.

179 Radek, Rede vor den Arbeitern der Michelsonschen Fabrik am 5. Oktober 1918. Baumgart, Vor fünfzig Jahren (de Pottere), S. 20f. 180 Radek, Der Zusammenbruch des Imperialismus und die Aufgaben der internationalen Arbeiterklasse. Rede gehalten am 7. Oktober 1918 im Moskauer Sowjet-Theater, München 1919. 181 Ebenda, S. 26. 182 Ebenda, S. 31f. 183 Ebenda, S. 35. 184 Ebenda, S. 43.

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Und deshalb Genossen, treten wir in die größte, aber gefährlichste Phase der russischen Revolution ein. Vor der Arbeiterklasse Rußlands steht jetzt die Aufgabe, sich zu bewaffnen und bereit zu sein […], wir müssen diejenigen organisieren, die bereit sein sollen, die mit der Waffe in der Hand auf der Wacht der europäischen Revolution stehen sollen, bereit sein, um in dem Moment zu Hilfe zu eilen, wenn sich auf eine[n] der großen Truppenteile dieser Revolution der Imperialismus stürzen wird.“185

In der „Izvestija“ sah Radek die Regierungen in Europa einen Tanz auf dem Vulkan aufführen. „Wir wissen nicht, was der morgige Tag uns bringt“, aber jeder kommende Tag bedeute einen weiteren Schritt vorwärts der „neuen Welt“ entgegen: „Sieht man jetzt auf den Gang der Ereignisse, horcht man jetzt auf den Donner, welcher die alten kapitalistischen Festen Europas erschüttert, dann drängen sich einem von selbst die Worte Ulrich von Huttens auf die Lippen: ,Es ist doch eine Lust zu leben in dieser Zeit‘.“186 Am 21. Oktober 1918 wandte er sich in der „Pravda“ als Mitglied des Zentralexekutivkomitees in einem offenen Brief an Philipp Scheidemann, Führer der deutschen Sozialdemokraten und nunmehr Angehöriger der Reichsregierung. Mit ausgesuchter Impertinenz wählte er den Titel: „Ein offener Brief an Seine Exzellenz, den kaiserlichen Minister ohne Portefeuille, Herrn Philipp Scheidemann, den Führer der gewesenen deutschen Sozialdemokratie, der Partei ohne Prinzipien“. Er stellte zwar ausdrücklich fest, er äußere sich nicht im Namen der Sowjetregierung, aber selbstverständlich konnte bei der Lektüre nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Verfasser ein Mitglied des Rates der Volkskommissare war. Er schrieb, man habe „der Arbeiterklasse Deutschlands für den Fall, dass sie die Selbstbestimmerin ihrer Geschicke sein sollte, ein Bündnis zum Kampf gegen den Weltimperialismus vorgeschlagen“ – was heißen sollte, man sei im Falle der Revolution zur Unterstützung im Kampf gegen Reichsregierung und Entente bereit. Dem Vorwurf, dabei handele es sich um die Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden Staates, begegnete er voller Sarkasmus: „Wir Kommunisten stehen nicht auf dem Standpunkt der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Dieses Prinzip der Nichteinmischung ist das Prinzip des legitimistischen Europas vor dem Wiener Kongreß, wir die internationalen Kommunisten aber waren stets für eine überaus energische Einmischung in die Angelegenheiten der ganzen Welt – im Namen der Befreiung.“

Im Kontext seiner seit Anfang Oktober wiederholten Äußerungen, man setze auf die Revolution in Europa und sei willens, die deutsche Revolution mit Waffengewalt zu unterstützen, waren das kaum verhüllte Drohungen. Radek drängte vor allem auch 185 Ebenda, S. 44. 186 Radek, „Auf dem Vulkan“, „Izvestija“ vom 20. Oktober 1918. Baumgart, Vor fünfzig Jahren, S. 22.

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auf den Rückzug der deutschen Truppen aus der Ukraine, die ohnehin nicht gewillt seien, in Sowjetrussland zu intervenieren: „Sie verstehen. Herr Minister, wenn Sie auch das böse Beispiel der russischen Revolution für die Arbeiter aller Länder fürchten und dieser daher nicht hold sind, daß es Ihnen äußerst schwerfallen würde, die Arbeiter Deutschlands von der Gerechtigkeit eines Krieges gegen das ArbeiterRußland zu überzeugen.“187 An den Schalthebeln der bolschewistischen Propaganda in Moskau richtete Karl Radek seine Agitation – unter Verletzung des Brester Vertrages – auch wieder an die auf russischem Gebiet stationierten deutschen Besatzungstruppen. Seinem Freund Paul Levi, Mitglied des Spartakusbundes, schrieb er nach Deutschland: „Ich lasse jede Sache, die ihr herausgebt hier noch einmal drucken und in den okkupierten Gebieten verbreiten, aber dazu ist es notwendig, daß ihr eine Frontzeitung herausgebt; der Spartakus ist für die Front zu wenig. […] Ich gebe jetzt ein Flugblatt aus unter dem Titel: Was hat der Kaiser, was hat Scheidemann und was hat Liebknecht gesagt und wie es dann gekommen ist. Es wird alles sehr schön a Abraham a Sankta Clara geschrieben sein.“188

Im selben Brief versuchte er, Levi und den Spartakusbund zum Kampf für die außenpolitischen Ziele Sowjetrusslands zu mobilisieren. Er sei der Meinung, so schrieb er, die deutsche Regierung halte „die Truppen im Osten nicht nur aus Angst vor den Bolschewikis“, sondern auch „weil sie glaubt, daß die Alliierten das wünschen“, und spiele „sozusagen den Treuhänder“ für die Entente. Die von den Deutschen besetzte Ukraine bilde jedoch das bolschewistische „Einfallsgelände in das Gebiet der europäischen Revolution. Darum ist für uns die ukrainische Frage die Hauptfrage und ich mache Sie aufmerksam auf die absolute Notwendigkeit die [an der Regierungskoalition beteiligten SPD-Führer] Scheidemann und David immerfort anzugreifen“, um sie zu veranlassen, ihre Truppen aus der Ukraine abzuziehen.189 Radek hatte bereits in seiner großen außenpolitischen Rede am 3. September 1918 geäußert, nicht mehr der deutsche, sondern der englisch-französische Imperialismus sei nunmehr der gefährlichere Feind190. Lenin schloss sich am 22. Oktober 1918 vor dem VCIK dieser Lagebeurteilung an und skizzierte die Situation Sowjetrusslands folgendermaßen: 187 Radek, „Ein offener Brief an Seine Exzellenz, den kaiserlichen Minister ohne Portefeuille, Herrn Philipp Scheidemann, den Führer der gewesenen deutschen Sozialdemokratie, der Partei ohne Prinzipiepien“, in: „Pravda“ vom 21. Oktober 1918; abgedruckt auch in: „Arbeiterpolitik“, III, 47 vom 23. November 1918 und Sonderdruck, o.O., o.J. Zitiert nach: Merz, S. 48f. und Schüddekopf, Linke Leute von rechts, S. 11. 188 Struthahn [Radek] an Levi, 25. Oktober 1918. Quack, S. 139. 189 Ebenda, S. 138f. 190 Insbesondere in den drei Hafenstädten Vladivostok, Archangel’sk und Murmansk standen Truppen der Entente und der USA, um mit Hilfe des tschechoslowakischen Korps eine neue Ostfront gegen Deutschland zu errichten. Am Ende des Krieges kämpften sie gegen die Bol’ševiki.

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„Genossen! Mir scheint, daß unsere heutige Lage bei all ihrer Widersprüchlichkeit dadurch gekennzeichnet werden kann, daß wir erstens der proletarischen Weltrevolution niemals so nahe waren wie jetzt und daß wir uns zweitens niemals in einer gefährlicheren Situation befunden haben als jetzt.“191

Baumgart schreibt, dass sich diese kühle Rechenschaft Lenins wohltuend von dem schäumenden Überschwang Radeks abhebt.192 Berücksichtigt man allerdings dessen frühere Aussagen, so ergibt sich eine in ihrem Kern mit Lenins Äußerung identische Lageeinschätzung. Am folgenden Tage griff Radek in einem Leitartikel in der „Izvestija“ das Feindbild vom gefährlichen alliierten Imperialismus erneut auf: „Die internationale Lage spitzt sich mit jedem Tage mehr zu. […] Wir leben in einer Epoche, die mit den Worten des großen polnischen Dichters Krassinski charakterisiert werden kann, mit denen er in seinem ,Iridion‘ Rom zur Zeit des Niedergangs bezeichnet: ,Es naht das Ende der alten Welt, Götter und Menschen sind toll geworden‘ […]. Und mitten in diesen tobenden Elementen steht als alleinige, ruhige, wachsende Macht Sowjetrußland mit schußbereitem Gewehr. Es rüstet weiter, es bereitet seine Kräfte vor, um die Jahresfeier der russischen Revolution unter dem entrollten Banner der internationalen Revolution zu begehen. […] Es ist ja wenig Aussicht dafür, daß die Regierungen der toll gewordenen Welt einsehen werden, daß ihnen im Kampf mit Sowjetrußland kein Sieg winkt. Aller Wahrscheinlichkeit nach will es der Genius der Weltgeschichte, daß hier, auf russischem Boden, französische, englische und amerikanische Soldaten die Revolution studieren sollen, wie es auch schon die deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen getan haben. Wir fordern den Abzug der fremden Truppen vom russischen Territorium, denn wir möchten das Blut des russischen Volkes und das Blut dieser Truppen schonen. Wenn es aber unsere Feinde und der ganze Welt-Imperialismus durchaus haben wollen, daß der Herd der III. bewaffneten Internationale – der Internationale der sozialen Revolution – auf russischem Boden geschaffen werde, dann wird das in diesen Kämpfen vergossene Blut sicherlich seine Früchte bringen.“193

Anfang November 1918 versetzten die Nachrichten vom Zusammenbruch des österreichisch-ungarischen Heeres, der Auflösung der Donaumonarchie und dem Umsturz in Ungarn Radek in einen Zustand „großer begeisterter Erregung“. Gegenüber Alfons Paquet äußerte er: „Die Welt dröhnt. Lenin selber sagte: wir sind jetzt in hohen Wellen, die uns im Augenblick hoch emportragen, im nächsten Augenblick tief herabreißen können; aber wir kommen auch aus dem tiefsten Tale wieder hoch, wir sind nicht mehr 191 Lenin, Bericht in der gemeinsamen Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees, des Moskauer Sowjets, der Betriebskomitees und der Gewerkschaften 22. Oktober 1918. Lenin, Werke, Band 28, S. 104. 192 Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918, S. 333. 193 Radek, „Der Karren rollt weiter“, „Izvestija“ vom 23. Oktober 1918. Baumgart, Vor fünfzig Jahren, S. 22f.

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umzubringen.“194 In jenen Tagen liefen die Vorbereitungen für die Feiern zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution und die Bol’ševiki, die sich die Pariser Kommune zum Maßstab erkoren hatten, waren von Genugtuung erfüllt, dass ihr Regime die zeitliche Dauer der 74-tägigen Kommuneherrschaft195 bereits um das fünffache überschritten hatte. Radek erklärte: „Wir nähern uns dem Jahrestage unseres Oktober, den gelehrte Leute, die jeden Buchstaben in Marxens Büchern kennen, ein Abenteuer auf acht Tage genannt haben […].“ Befriedigt stellte er fest, dass „wir uns als Realisten erwiesen haben und nicht sie.“196 Beflügelt durch die Meldungen vom Ausbruch der Revolution in Österreich und neu eingekleidet für den Jahrestag der Revolution, wo er unter anderem ein Denkmal für Heinrich Heine einweihen sollte, begegnete er am 2. November Alfons Paquet, der in seinem Tagebuch notierte: „Treffe Radek in eleganterer Kleidung als je, […] wissen sie das Neueste: in Budapest die sozialistische Republik, in Wien Soldatenräte, in Budapest Tisza auf der Straße von Arbeitern füsiliert, der Kaiser aus Wien […] geflohen, Adler an der Spitze der Regierung […].“197 „Es zwackt ihn“, so schreibt Paquet, angesichts dieser Lageentwicklung „nach Österreich zu gehen“.198 Er setzte diesen Gedanken allerdings nicht in die Tat um, sondern verblieb in Moskau und veranstaltete dort vier Tage später eine „stille kleine Revolution nebenher“. Als er erfuhr, dass das Konsulat der Donaumonarchie in der Sowjethauptstadt sich unter den Schutz der dänischen Flagge gestellt hatte, geriet er in Wut und veranlasste die Besetzung der Vertretung durch revolutionäre k.u.k. Kriegsgefangene. Von Radek dazu angestiftet, begab sich eine Anzahl von ihnen um die Mittagszeit ins Konsulat, warf das diplomatische Personal hinaus und setzte sich an den gut gedeckten Tisch mit dem Ruf: „Wir werden euch auch daheim die Suppe noch versalzen“.199 In seinen Memoiren schreibt Radek: „Die frohe Nachricht vom Beginn der Revolution in Österreich traf ein. Es war Sonnabendnacht, als die Zeitungen schon gedruckt wurden. Il’ič und Sverdlov befahlen mir, einen Aufruf zu schreiben. ,Aber wo drucken wir ihn? Die Setzer sind nicht mehr da.‘ – ,Sie werden da sein‘, sagte Béla Kun. ,Gebt nur Brot und Wurst!‘ Und er zog sofort mit den Schülern der ungarischen Parteischule los, um unter den Kriegsgefangenen Setzer zu

194 Paquet-Tagebuch (2. November 1918), S. 204. 195 Pariser Kommune: 15. März – 28. Mai 1871. 196 Radek, Der Zusammenbruch des Imperialismus und die Aufgaben der internationalen Arbeiterklasse (Rede vom 7. Oktober 1918), S. 47. 197 Paquet-Tagebuch (2. November 1918), S. 203f. Der Umsturz in Budapest begann am 30.10.1918. Am 31.10. wurde der ungarische Ministerpräsident Stephan Graf Tisza von Borosjenö (1861– 1918) von Soldaten in seiner Wohnung erschossen. Kaiser Karl I. (1887–1922) hielt sich noch bis 11. November in seinem Schloss Schönbrunn bei Wien auf. Der Sozialdemokrat Viktor Adler hatte in dem am 31. Oktober gebildeten Staatsrat das Amt des Staatssekretärs des Äußeren inne. 198 Ebenda. 199 Paquet-Tagebuch (6. November 1918), S. 216.

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suchen. Als ich morgens auf die Straße trat, gingen schon die Flugblätter mit der Nachricht von der Revolution in Österreich von Hand zu Hand.“200

Sonntag, der 3. November, war angebrochen. An diesem Tag verfolgte Radek unermüdlich die eingehenden Nachrichten zur Situation in Mitteleuropa. Vom Balkon des Moskauer Sowjets richtete er insgesamt sieben Ansprachen an die „zu Ehren der österreichisch-ungarischen Revolution“ organisierten Demonstrationszüge von Arbeitern und Rotarmisten201, die sich dort zu einer Massenkundgebung versammelten. „Als Il’ič auf dem Balkon erschien“, so Radek, „begannen die Zehntausende von Arbeitern zu jubeln. Etwas Ähnliches habe ich niemals wieder gesehen.“202 In einer voller Begeisterung aufgenommenen Rede betonte Lenin, mit der Revolution in der Donaumonarchie sei klar geworden, „daß wir Millionen von Bundesgenossen haben. Das sind die Arbeiter Österreichs, Ungarns und Deutschlands.“ Voller revolutionärem Optimismus rief er aus: „Die Zeit ist nicht mehr fern, da der erste Tag der Weltrevolution allerorts gefeiert wird. Die internationale Weltrevolution wird siegen! Wir haben nicht umsonst gearbeitet und gelitten!“203 Bis zum späten Abend zogen die Reihen der Demonstranten vorbei und selbst noch im Rückblick auf die Ereignisse dieses Sonntags stellte Radek enthusiastisch fest: „Die Weltrevolution war gekommen, die Volksmassen vernahmen ihren eisernen Schritt. Unsere Einsamkeit war zu Ende.“204 Am Abend dieses turbulenten Sonntags traf Paquet Radek in dessen Wohnung im Metropol’ an. Telegramme lesend und einen Berg Zeitschriften auf dem Stuhl neben sich, lag er erschöpft im Bett, was ihn aber nicht hinderte, interessante neue Aspekte der Lageentwicklung in Deutschland telefonisch an Lenin durchzugeben. Von einer in Deutschland unmittelbar bevorstehenden Erhebung war nicht mehr die Rede. Zu Paquet sagte er über die Aussichten der Revolution, „wenn nicht Friede werde, kommen die Unruhen schon im Januar [1919]. Sonst im März.“ Im Übrigen stehe wohl ein Putsch der deutschen Generalität bevor. Auch ließ er durchblicken, man sei darüber orientiert, dass Berlin beabsichtige, Sowjetbotschafter Ioffe „hinauszusetzen“, was die Reichsregierung tatsächlich plante. Der von Radek inszenierte „ungeheure, unverhohlene, schadenfrohe bolschewistische Pressejubel“205 über die Wendung in Deutschland war Berlin von seinen Vertretern in Russland, verbunden mit neuerlichen Rufen nach einer deutschen militärischen Intervention, mitgeteilt worden, hatte aber zunächst keine Schwenkung der Ostpolitik veranlasst. Erst in den letzten Oktobertagen rang man sich im Auswär200 Radek, Nojabr’, Iz vospominanij [November, Aus meinen Erinnerungen]; Deutsche Übersetzung in: Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 120f. 201 Paquet-Tagebuch (3. November 1918), S. 205. 202 Radek, a.a.O., S. 121. 203 Lenin, Rede auf einer Demonstration zu Ehren der österreichisch-ungarischen Revolution 3. November 1918. Lenin, Werke, Band 28, S. 122. 204 Radek, a.a.O. 205 Der deutsche Generalkonsul in Petrograd Breitner an das Auswärtige Amt in Berlin, 8. Oktober 1918. Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918, S. 332.

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tigen Amt zu dem Entschluss durch, endgültig mit den Bol’ševiki zu brechen. Den unmittelbaren Anstoß dazu bildete die Weigerung Moskaus, die nach dem Ergänzungsvertrag fällige Goldrate zu bezahlen. Der entscheidende Grund jedoch, war die seit der deutschen Niederlage im Westen als ständig zunehmend empfundene Bedrohung durch die bolschewistische Propaganda in Deutschland. Das Zentrum dieser Agitation war die sowjetrussische Botschaft in Berlin Unter den Linden.206 Ioffe selbst berichtete über den Charakter seiner Mission, die russische Botschaft sei das „Hauptquartier“ für die deutsche Revolution gewesen und er habe unermüdlich auf den Sturz der kaiserlichen deutschen Regierung hingearbeitet: „Ich kaufte Waffen für Revolutionäre und gab dafür 100 000 Mark aus. Tonnen von antimonarchistischer […] Literatur wurden auf Kosten meiner Botschaft gedruckt und verbreitet. Wir wollten die Monarchie niederreißen und den Krieg beenden.“207 Die revolutionär gesinnten Abgeordneten der USPD waren ständige Besucher der Sowjetbotschaft und die in Berlin eintreffenden russischen Kuriere führten außergewöhnlich große und schwere Kisten mit sich, die den Verdacht nahelegten, es handele sich um Flugblätter und Flugschriften, die zur Revolution in Deutschland aufriefen. Um stichhaltiges Beweismaterial zu erlangen, sorgten die deutschen Behörden dafür, dass eine dieser Kurierkisten von den Gepäckträgern am Berliner Bahnhof Friedrichstraße auf einer der Steintreppen fallengelassen wurde. Die Kiste brach programmgemäß auseinander und eine Flut von blutrünstigen Aufrufen in deutscher Sprache an die Arbeiter und Soldaten, wie „Schlagt die Junker tot“, ergoss sich über die Treppenstufen. Am nächsten Tag, dem 5. November 1918, wurde Ioffe zur persona ingrata erklärt und am 6. November mitsamt dem Botschaftspersonal in einem Extrazug nach Russland abgeschoben.208 Das Deutsche Reich hatte die diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrussland abgebrochen. Formell begründet wurde dieser Schritt mit dem sowjetischen Verstoß gegen Artikel II des Brester Friedensvertrages, der die bolschewistische Agitation gegen deutsche staatliche Stellen untersagte und dem Vorwurf, der Mord an Graf Mirbach sei bislang ungesühnt geblieben. Der Abbruch der diplomatischen Beziehungen durch Deutschland wurde in Moskau am 6. November 1918 bekannt und die deutsche Gesandtschaft traf Vorbereitungen zu ihrer Abreise. Radek drohte: „Ihr werdet heute nicht reisen, auch morgen nicht […]. Keiner kommt lebendig raus, ehe nicht Ioffe mit seinen Leuten heil auf russischem Boden“ eingetroffen ist.209 Lenin kommentierte beim Erhalt der Nachricht laut lachend, „er habe bis jetzt noch nicht recht glauben wollen, daß die deutsche Diplomatie so idiotisch sei, wie man s[einer]. Z[eit]. behauptete, jetzt aber

206 Ebenda, S. 334. 207 Fischer, Louis: Das Leben Lenins, S. 314. 208 von Blücher, S. 34f. 209 Paquet-Tagebuch (6. November 1918), S. 211. Offensichtlich war Radek die Vereinbarung nicht bekannt, nach der die russischen und die deutschen Diplomaten so abreisen sollten, dass sie gleichzeitig in der neutralen Zone in Orša eintreffen würden.

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glaube er es.“210 – „Als hätte die deutsche Regierung nicht schon früher gewußt, daß unsere Botschaft den revolutionären Bazillus einschleppt.“211 Deutsche militärische Vergeltungsmaßnahmen befürchtete man wegen des Brester Friedens nicht mehr. Zu Paquet sagte Radek, Krieg werde es nicht geben, der Reichstag habe darüer zu entscheiden und der werde keinen neuen Krieg anfangen, wo der alte noch nicht beendet sei.212 Am 7. November 1918 von den Feierlichkeiten zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution voll in Anspruch genommen, ergriff Radek dann am darauffolgenden Tag das Wort auf dem im Bol’šoj Theater tagenden VI. Sowjetkongress.213 Er interpretierte Lenin, der vor den Delegierten wiederholt hatte, man sei der Weltrevolution so nahe wie nie zuvor, aber die Lage sei auch noch nie so gefährlich gewesen wie im Augenblick. In einem etwa einstündigen Bericht zur internationalen Lage ging er einleitend auf die Ausweisung Ioffes ein. Unter den zustimmenden Rufen des Auditoriums gab er als Vergeltungsmaßnahme die Ausweisung des deutschen Konsulats und der deutschen Kriegsgefangenenkommission bekannt. Um die sichere Heimkehr Ioffes zu gewährleisten, habe die Čeka bereits eine Reihe deutscher Agenten verhaftet, die in Spekulationsgeschäfte und konterrevolutionäre Propaganda verwickelt gewesen seien. In Österreich und der Ukraine spitze sich die revolutionäre Situation zu. Man öffne dort die Gefängnisse und Kriegsgefangenenlager. Hunderttausende russischer Gefangener würden heimwärts fliehen. In der Ukraine sei es zu Bauernrevolten gekommen. Dennoch bleibe die Situation gefährlich und die Sowjetrepublik müsse sich zur Wehr setzen können: „Wie die Soldaten der Großen französischen Revolution ohne Schuhe und Hosen, so muß Rußland das letzte Stück Eisen nehmen und Flinten daraus machen […].“214. Aber auch angesichts der Lageentwicklung in der Donaumonarchie und der Ukraine blieb Radek – genauso wie Lenin – davon überzeugt, dass sich das Schicksal der russischen. Revolution in Deutschland entscheiden würde. Er zweifelte nicht daran, dass Deutschland reif für die Revolution sei und erwartete aufgrund der „Nachrichten über die wachsende Panik in Berlin“215, die weiteren Ereignisse mit großer Spannung. *** 210 Ebenda. 211 Lenin, Rede in der Festsitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees und des Moskauer Rats der Gewerkschaften 6. November 1918. Lenin Werke, Band 28, S. 124. 212 Paquet-Tagebuch (6. November 1918), S. 211. Radek bezog sich in seiner Äußerung auf die Änderung der Reichsverfassung vom 28. Oktober 1918, wonach künftig zur Erklärung des Krieges im Namen des Reiches die Zustimmung des Bundesrates und des Reichstages erforderlich war. 213 VI. Gesamtrussischer Außerordentlicher Kongress der Sowjets der Arbeiter-, Bauern-, Kosakenund Rotarmistendeputierten 6.–9. November 1918. 214 Paquet-Tagebuch (8. November 1918), S. 222f. und Price, S. 348. 215 Radek, Nojabr’, Iz vospominanij [November, Aus meinen Erinnerungen]; Deutsche Übersetzung in: Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 119.

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Im Frühjahr 1918 hatte Radek die Opposition gegen den Frieden von Brest-Litovsk aufgegeben und war wieder auf Lenins Kurs eingeschwenkt. Seither erkannte er Lenins Überlegenheit uneingeschränkt an. Rosa Meyer-Leviné erzählte er, sein Einlenken sei „eine ganz natürliche Reaktion“ gewesen: „Eine ganze Zeit lang haben wir uns gestritten, uns aufgeregt, um uns geschlagen. Wenn die Ereignisse dann aber wieder und wieder dir unrecht und Lenin recht gegeben haben, dann überlegst du es dir eher, wie weit du mit deiner Meinung gehst. Du wirst vorsichtiger. Und Lenin macht uns das Nachgeben leicht – er verletzt nie unsere Gefühle. Er behandelt uns, was für Fehler wir auch begehen mögen, als Gleiche. Du lieber Gott, er versteht zu züchtigen! Aber er richtet dich genauso großzügig wieder auf, wie er dich heruntermacht. Wenn er mit uns fertig ist, wissen wir nur eins: wir können es besser. Und wir bemühen uns, es zu beweisen.“216

Als Abteilungsleiter für Mitteleuropa im Außenkommissariat einer der Stellvertreter Čičerins und damit Mitglied der Sowjetregierung sowie gleichzeitig als Abteilungsleiter für Internationale Angelegenheiten des Zentralexekutivkomitees217 war Radek eifrig bemüht, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Voller Anerkennung notierte Paqet: „Tatsächlich erledigt Radek alles. Seine russischen Kollegen, die mit etwas nicht fertig werden, schieben ihm den Fall zu und er erledigt ihn.“218 Angepasst an die tagespolitischen Erfordernisse und die Mentalität seiner Gesprächspartner ins Kalkül ziehend, liebte er es zu improvisieren: „Auch Radek hat keine klare bestimmte Linie, ist noch jung, Einfällen hingegeben, Opportunist“219, monierte Paquet und charakterisierte ihn als „launisch, opportunistisch, sprunghaft: heute so, morgen anders. Absolute Anpassung an die Situation des Augenblicks.“220 Dabei verbuchte Radek einen Erfolg, als die Millionenstadt Petrograd beim herannahenden Winter einer Katastrophe zuzutreiben schien und Sowjetrussland um deutsche Kohlelieferungen ersuchte. Mit dem ihm eigenen Sarkasmus erklärte er den deutschen diplomatischen Vertretern wiederholt, „der Winter wird fürchterlich, man wird mit Klavieren heizen müssen“221. Davon beeindruckt, lieferten die Deutschen daraufhin etwa 40.000 Tonnen Kohle, die die Russen dann prompt in Petrograder Rüstungsbetrieben verwendeten.222 216 Meyer-Leviné, S. 363. 217 Die Kompetenzen zwischen dem VCIK mit seinen „gesetzgebenden, verfügenden und kontrollausübenden“ Aufgaben, der Sowjetregierung (Sovnarkom) und dem Allrussischen Sowjetkongress waren in der Verfassung nicht klar voneinander geschieden und wurden in der Praxis zunehmend vom Sovnarkom in Anspruch genommen. 218 Paquet-Tagebuch (10. September 1918), S. 153. 219 Ebenda (14. August 1918), S. 106. 220 Ebenda (23. August 1918), S. 125. 221 Ebenda (18. August 1918), S. 115 und ebenda (10. September 1918), S. 153. 222 Baumgart, Deutsche Ostpolitik, S. 319.

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Angesichts der Radek unterstellten Beliebigkeit muss jedoch daran erinnert werden, dass der Gedanke der Rettung Sowjetrusslands als dem „Kraftzentrum der Revolution“ sein politisches Handeln bereits 1918 dominierte. Trotz seiner ideologischen Fixierung auf die internationale Revolution war seine praktische Politik von zwei Konstanten gekennzeichnet. Um das Überleben Sowjetrusslands zu sichern, sprach er sich wiederholt für die Aufnahme von Handelsbeziehungen mit kapitalistischen Staaten, vorzugsweise aber mit Deutschland aus und plädierte für ein Zusammengehen der Bol’ševiki mit dem Deutschen Reich. Im Kern formulierte und praktizierte er damit jenes Axiom, das später als das Leninsche Prinzip der friedlichen Koexistenz Bestandteil der Sowjetideologie werden sollte. Die pragmatische Haltung Radeks in einer Unterredung am Vorabend der Novemberrevolution hervorhebend, drahtete der kaiserliche Geschäftsträger Hauschild damals nach Berlin: „Halte es bei augenblicklicher Situation, soweit von hier aus zu beurteilen, für sehr bedeutsam, daß Radek, der zweifellos starken Einfluß besitzt, wenn auch vom bolschewistischen Standpunkt urteilend, entschieden Verständnis für deutschen Charakter besitzt und daß bei ihm der Gedanke deutsch-russischer Interessengemeinschaft starke Stütze findet.“223

Die Hauptaufgabe der beiden Behörden, denen Radek vorstand, war jedoch keineswegs diplomatischer Natur. Es war die Förderung der Revolutionierung Deutschlands, von dem Lenin gesagt hatte, im Hinblick auf die internationale Revolution sei es das wichtigste Glied in der Kette – von der deutschen Revolution hänge der Erfolg der Weltrevolution ab.224 Für die Bol’ševiki war das Überleben der russischen Revolution untrennbar verbunden mit einer rasch einsetzenden Revolution in Deutschland und den Industriestaaten Westeuropas, und Radek war der Manager dieser Revolution. Die Frage, warum er 1918 nominell ohne ein herausragendes Amt in Staat und Partei blieb, findet darin ihre eigentliche Erklärung. Sie ist oft dahingehend beantwortet worden, sein bohèmehaftes Wesen, seine nichtrussische Herkunft und Lenins Misstrauen hätten ihn von vornherein von einer führenden Funktion in Sowjetrussland ausgeschlossen. Die Feststellung seines Biographen Legters, er habe niemals eine entscheidende Funktion im Machtapparat eingenommen225, trifft zwar formell zu, aber auch wenn das Amt nicht existierte, war Radek von seinen Funktionen her gewissermaßen der Volkskommissar für die internationale Revolution, die Weltrevolution. Zeitgenössische Beobachter schätzten seine Stellung im Kreis um Lenin hoch ein. Selbst sein Gegner Oscar Blum zählte ihn zur engsten Führungs223 Telegramm Hauschild an Auswärtiges Amt, 2.10.1918. Paquet-Tagebuch (2. Oktober 1918), S. 171. 224 Lenin, Bericht in der gemeinsamen Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees, des Moskauer Sowjets, der Betriebskomitees und der Gewerkschaften 22. Oktober 1918. Lenin, Werke, Band 28, S. 114. 225 Legters, S. 45.

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spitze in Moskau: „Lenin, Trotzki, Radek: Das Dreigestirn der Oktober-Revolution. Alles andere ist Komparserie, mehr oder weniger brauchbares Menschenmaterial. Diese drei bilden die eigentliche Leitung. Jeder auf seine Art, aber doch alle sich gegenseitig ergänzend.“226 Auch Alfons Paquet sah in den drei Sowjetführern vorübergehend „absolut das Dreigestirn“.227 Dem Vorwurf Blums, Radek sei „weder Triebkraft noch Denkmaschine in diesem Bunde“ gewesen, habe „nur ausgenützt was andere taten, Stellungen ausgebaut, die andere eroberten“228, muss widersprochen werden. Radeks Reden, Schriften und Zeitungsartikel des Jahres 1918 spiegeln Lenins Gedanken zwar inhaltlich kongruent wieder, aber auf dem Felde der internationalen Politik und in Sachen der internationalen Revolution fungierte er als Vordenker und Stichwortgeber Lenins. Die oben beschriebene Schlüsselrolle, die er bei dem außenpolitischen Kurswechsel Lenins Anfang Oktober 1918 spielte, unterstreicht das. Manches von Lenin verwendete Postulat findet sich in identischer Formulierung zuerst bei Radek. Er galt als „der nächste Intimus des Stockrussen Lenin“229 und in der Tat gehörte er zum think-tank der Revolution, wie der damals im Umfeld der bolschewistischen Führer tätige Victor Serge230 richtig beobachtete: „Lenin, Trotzki, Karl Radek, Bucharin bildeten tatsächlich das Gehirn der Revolution. Dank ihrer gemeinsamen marxistischen Sprache und ihrer gemeinsamen Erfahrung des europäischen und amerikanischen Sozialismus verstanden sie sich vollkommen auf bloße Andeutungen hin, dergestalt, daß sie gemeinsam zu denken schienen.“231

Der sich vom Marxisten zu dessen Gegner wandelnde Soziologe Werner Sombart232 verglich das bolschewistische Triumvirat Lenin, Trockij und Radek mit dem Dreigespann der französischen Revolution Robespierre, Danton und Saint-Just.233 Der Schriftsteller und Pamphletist Saint-Just wurde 1792 mit fünfundzwanzig Jahren Angehöriger des Nationalkonvents und im Jahr darauf Mitglied des Wohlfahrtsausschusses. Er wirkte während des großen Terrors als Konventskommissar bei der 226 Blum, S. 91. 227 Paquet-Tagebuch (3.10.1918), S. 177. 228 Blum, S. 91. 229 De Pottere, a.a.O., S. 19. 230 Serge, Victor, Pseudonym von V. Kibal’čič (1890–1947); in der Emigration in Brüssel aufgewachsener Russe, der 1919 nach Sowjetrussland reiste, Mitarbeiter Zinov’evs wurde, sich 1922 enttäuscht vom Bolschewismus abwandte und das Leben eines trotzkistischen Dissidenten führte. 231 Serge, Beruf Revolutionär, S. 155. 232 Sombart, Werner (1863–1941); Volkswirtschaftler und Soziologe, Professor in Jena. 233 Sombart, S. 503ff. Robespierre, Maximilien de (1758–1794); der radikalste Führer der französischen Revolution und der jakobinischen Terrorherrschaft 1793/94. Danton, Georges (1759– 1794); einer der radikalsten Politiker der französischen Revolution, der die jakobinische Schreckensherrschaft eröffnete. Saint-Just, Antoine de (1767–1794); Schriftsteller und Pamphletist; einer der leidenschaftlichsten Anhänger Robespierres.

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Rhein- und Nordarmee und wurde als einer der leidenschaftlichsten Anhänger Robespierres zusammen mit ihm hingerichtet. Radek, der ebenfalls den Kampf mit der Feder in der Hand führte, blieb ein gewaltsamer Tod zu Lebzeiten Lenins zwar erspart, aber er „versicherte voller Inbrunst, daß er wie alle in Lenins Umgebung freudig sein Leben hingeben würde, um ihn zu retten.“234 Sombart erlebte Radek als den Hauptsprecher der russischen Revolution sowie als Propagandisten des bolschewistischen Terrors und so liegen die Parallelen zur Rolle von Saint-Just in der französischen Revolution auf der Hand. Für de Pottere galt Radek 1918 sogar als „der maßgebliche Faktor der auswärtigen Politik der Sowjet-Regierung“ und als das andere Ich Lenins: „Dieser eigentümliche, nie rastende Mann ist heute der Alter ego des allgewaltigen Lenin in der allgemeinen Politik der Sowjets. Er ist nicht nur derjenige, der Herrn Čičerin seine unhöflichen Protestnoten schreibt235, sondern auch der Leiter der ganzen kommunistischen Propaganda im Auslande.“236 Legters nennt Radek „eines der am besten informierten Mitglieder des engeren bolschewistischen Führungskreises, fähig aus dem Stegreif auf fast alle Seiten der sowjetischen Angelegenheiten einzugehen.“ Seine geistige Reife, was theoretische Fragen anbetraf, habe ihn in eine Gruppe mit Lenin, Trockij und Bucharin gestellt.237. Er vermochte es, die Aufgaben, die in den ersten Jahren nach der Revolution von großer Wichtigkeit waren, sehr geschickt durchzuführen und habe Sowjetrussland auf der diplomatischen Bühne gewinnend vertreten sowie die Sache der Revolution in anderen Ländern erfinderisch gefördert. „Diese Funktionen“, fährt Legters fort, „stehen nicht auf der gleichen Stufe mit der Führungsleistung Lenins oder mit der militärischen und ideologischen Rolle Trockijs; aber es wäre schwierig, in diesen ersten Jahren eine andere Persönlichkeit zu nennen, deren Bedeutung zu dieser Zeit – und zwar tatsächlich und nicht nur potentiell – an die Radeks heranreichte.“238 So ist es in der Tat. Radek fühlte sich auch als revolutionärer Politiker und Diplomat noch immer als Journalist. Er amüsierte sich über „das Ungeschick der deutschen Pressepropaganda“ und führte es darauf zurück, dass man im Auswärtigen Amte „keinen einzigen Journalisten“ habe.239 Bei den ausländischen Vertretern in Moskau fand naturgemäß seine Rolle als Propagandist und Publizist besondere Beachtung. Bruce Lockhart, der Radek als den bolschewistischen Lord Beaverbrook einstufte, lag damit gar nicht so falsch. Der 234 Meyer-Leviné, S. 363. 235 So stammte beispielsweise die Antwortnote Čičerins an Präsident Wilson vom 24. Oktober 1918 mit ihrer heftigen Polemik gegen den Entente-Imperialismus aus Radeks Feder. Radek schreibt, bei der Abfassung des Textes, den er Lenin und Sverdlov zur Genehmigung vorlesen musste, habe er vergnügt geschmunzelt. Radek, Ja. M. Sverdlov, a.a.O., S. 42; ders. an Levi, 25. Oktober 1918, a.a.O., S. 139; Paquet-Tagebuch (31. Oktober 1918), S. 199. 236 De Pottere, a.a.O., S.19. Radek bestätigt de Potteres Feststellung, indem er schreibt, dass er „die Auslandspropaganda der Bolschewiki bis zum Dezember 1918 leitete.“ Radek, Die Lehren eines Putschversuchs, S. 61. 237 Legters, S. 45. 238 Ebenda, S. 35. 239 Paquet-Tagebuch (17. August 1918), S. 112.

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britische Pressezar kommandierte nicht nur ein Zeitungsimperium, sondern hatte als Informationsminister seines Landes auch Propagandaaufgaben. Jahre später hätte man Radek möglicherweise mit Joseph Goebbels240 verglichen. Auch Hitlers Minister für Volksaufklärung und Propaganda, von Haus aus Journalist, hatte sich in den Dienst des Propheten einer totalitären Ideologie gestellt, war gleichfalls ein geschickter bedenkenloser Demagoge und wie Radek für seine Eskapaden berüchtigt. Wie die meisten, die mit ihm zu tun hatten, zeigten sich auch Lockhart241 und de Pottere – letzterer mit antisemitischen Untertönen – von der intellektuellen Brillanz Radeks und dessen suggestiver Überzeugungskraft beeindruckt: „Seine Noten, Reden und Zeitungsartikel, mit denen er uns in ganz staunenswerter Menge überschüttet, deuten auf einen klaren, haarscharfen Verstand, eine ungewöhnlich umfassende Bildung und die beneidenswerte Gabe, Essentielles von Nebensächlichem zu scheiden.[...] Die geschickte Dialektik seiner Enunziationen, ein Erbe seiner Rasse, ist von verblüffender suggestiver Überzeugungskraft. Offen und ohne Lücke in der Logik führt er den Leser und Hörer dorthin, wo er ihn haben will.“242

Aus Sicht des k.u.k. Diplomaten gaben Radeks Zeitungsartikel „ein packend klares Bild dessen, wie sich für diesen Moment die Welt in dem Gehirne der Bolschewiken malt.“243 Gegenüber der sowjetischen Presse besaß Radek zu dieser Zeit quasi Richtlinienkompetenz. Als sich der deutsche Presseattaché Paquet nach der Ermordung Mirbachs beschwerte, die unverständliche hetzerische Haltung“ von „Pravda“ und „Izvestija“ trüge „viel zur Verschlechterung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses bei, räumte Radek das ein und meinte: „Bucharin handele da auf eigene Faust […] das werde aufhören.“244 Und es hörte auf. Für Bruce Lockhart war Radek „der gefährlichste Propagandist, den die bolschewistische Bewegung bis jetzt hervorgebracht hat“245 und auch Alfons Paquet beschreibt ihn als demagogischen Agitator: „Die Bolschewiki sind geschulte Agitatoren, aber nur wenige verstehen es so wie dieser kleingewachsene Mann mit der Stirne und den Augen des Gelehrten und dem brutalen, beredten Mund des Demagogen die Massen zu packen. Radek spricht ein schlechtes Russisch mit polnischem Akzent und schlechten Satzgebilden. Aber er spricht einfach und für die Massen verständlich.“246 240 Goebbels, Joseph (1897–1945). 241 „An seiner [Radeks] intellektuellen Brillanz allerdings, gab es keinen Zweifel.“ Lockhart, S. 255. 242 Bericht de Potteres an den Minister des Äußeren Graf Burian von Rajecz, 6. Oktober 1918. Baumgart, Vor fünfzig Jahren, S. 19. 243 Bericht de Potteres an den Minister des Äußeren Graf Burian von Rajecz, 5. Oktober 1918. Baumgart, Deutsche Ostpolitik.1918, S. 405f. 244 Paquet-Tagebuch, (18. Juli 1918), S. 76. 245 Lockhart, S. 255. 246 Paquet, Im kommunistischen Rußland, S. 116.

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In Moskau suchte Radek den Kontakt mit den wenigen dort vertretenen westlichen Diplomaten, Militärs und Journalisten und war seinerseits ein begehrter Gesprächspartner, da man sich mit ihm in deutscher und englischer Sprache unterhalten konnte. De Pottere, in dessen Augen Radek „dieser kleine, häßliche, ungewaschene Jude“ war, registrierte dennoch erfreut, „Radeks Bildung und Intellekt sind durchaus deutsch-jüdisch. Von einem Russentume keine Rede.“ Und er berichtete nach Wien, dass er sich mit dem „Herrn Abteilungschef für mitteleuropäische Angelegenheiten […] – trotz seiner impossiblen Ideale und Bestrebungen – glänzend spreche“.247 Im britischen Konsulat war Radek ein geschätzter Besucher, der als „ein amüsanter und unterhaltsamer Komödiant“ galt: „Und wenn er zu uns kam und mit einer halbpfündigen Büchse Grobschnitt-Tabak belohnt wurde, pflegte er seinem Mißvergnügen [über die ihm im Außenkommissariat auferlegten Restriktionen] mit frappierender Freimütigkeit Ausdruck zu geben. Seine satirischen Pfeile waren auf alle zusammen gezielt. Er verschonte niemanden, nicht einmal Lenin und am allerwenigsten die Russen.“248

Die deutsche Vertretung schien ihn wie ein Magnet anzuziehen und mit den deutschen Journalisten in Moskau verkehrte er nahezu freundschaftlich. Gemeinsam mit Hans Vorst, besuchte er Alfons Paquet zu Hause. Beim Samovar politisierte man scharf, und um „Radeks Zahnschmerzen (miserables lückenvolles Zahngebiss)“249 zu betäuben, trank man Paquets „letzte Flasche guten alten Chateau Bâdette.“250 Möglicherweise aus Dankbarkeit gegenüber seinem Samariter, aber vielleicht auch um sich in dem seit Lenins Alkoholverbot trockenen Moskau eine Weinquelle zu erhalten, half er dann Paquet, sich in den Besitz des Weinkellers eines Moskauer Bekannten zu bringen und etwa 1.000 Flaschen Rebensaft „aus den Klauen bewaffneter Matrosen zu retten.“251 Dass Bild Radeks als das eines „jolly good fellow“ unter den Bol’ševiki, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der sich als geistreicher journalistischer Kollege gebende und fröhlich pokulierende Sowjetfunktionär ein unbarmherziger Ideologe war, der an führender Stelle mithalf, den Weg zum bolschewistischen Gewaltstaat zu bahnen. Noch im Jahre 1916 hatte Radek sich gegen den politischen 247 Bericht de Potteres an den Minister des Äußeren Graf Burian von Rajecz, 6. Oktober 1918. Baumgart, Vor fünfzig Jahren, S. 19f. 248 Lockhart, S. 255. 249 Paquet-Tagebuch (18. August 1918), S.  114. Oberst Robins kolportiert, Radeks Vorderzähne seien ihm „bei einer revolutionären Straßenschlacht von der deutsch-österreichischen Polizei ausgeschlagen worden“. Robins, S. 123f. Der eigentliche Grund für seinen schlechten Gebisszustand dürfte aber vermutlich in mangelnder Zahnpflege und exzessivem Nikotinmissbrauch zu suchen sein. 250 Paquet-Tagebuch (18. August 1918), S. 114. 251 Paquet-Tagebuch (13. und 15. September 1918), S. 154 und S. 157.

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Terror gewandt. Nach dem Attentat Friedrich Adlers252 auf den österreichischen Ministerpräsidenten Graf Stürgkh253 schrieb er in der „Arbeiterpolitik“: „Die revolutionären Internationalisten werden den politischen Terror im Hinblick auf die historischen Aufgaben des Proletariats als kontraproduktiv bekämpfen. Er ist ein Weg, „der nicht zum Ziele führt“.“254 Ein halbes Jahr später änderte er seine Meinung. Inspiriert durch das Vorbild der Französischen Revolution, rollte er vor dem Hintergrund der russischen Februarrevolution im Frühjahr 1917 erstmals „die Perspektive eines proletarischen 1793“ auf, also den Gedanken, die revolutionären Errungenschaften durch eine Schreckensherrschaft nach dem Muster des französischen „le terreur“ zu verteidigen255, und in der Tat wurde der Terror „ein integrales Element der bolschewistischen Staatspraxis von Anfang an.“256 Für Radek waren die Angeklagten der sowjetischen „Volksgerichte“ nichts anderes als „kleine arme Wanzen des kapitalistischen Schmutzes“257 – eine Wortwahl die fatal an die inhumane Vernichtungsterminologie der Nationalsozialisten erinnert. Als die regierungsamtliche „Izvestija“ am 6. September 1918 Radeks Leitartikel „Der Rote Terror“ brachte, war der Eindruck dieses Artikels auf die Bevölkerung „furchtbar“. Man wusste in Moskau genau, dass es sich bei solchen Worten nicht um leere Drohungen handelte.258 Sie bildeten das Signal, das Bürgertum als gesellschaftliche Schicht durch Massenexekutionen, Vermögenskonfiskationen und Lagerhaft zu liquidieren und markierten den Beginn der Verwirklichung des sozial determinierten Vernichtungspostulats der Bol’ševiki. „Selbst in den dunkelsten Zeiten des zaristischen Regimes war Rußland nicht so zur Hölle geworden, wie in den gegenwärtigen Wochen des großen Schreckens“259, lautete das Fazit, das Alfons Paquet im Herbst 1918 als Beobachter vor Ort zog. Radek verteidigte die Massenverbrechen des kommunistischen Regimes in seiner Replik auf Karl Kautskys Schrift „Terrorismus und Bolschewismus“, in der dieser die Terrorherrschaft der Bol’ševiki scharf verurteilte. Er diagnostizierte kühl, nachdem sich die Bourgeoisie „überhaupt nicht unterwerfen“ wolle, müsse sie eben mit allen Mitteln unterworfen werden. Dies sei auch eine der Lehren der Geschichte, denn: „Die Rolle des Terrorismus und der Gewalt in den Revolutionen bestand darin, daß die revolutionäre Klasse auch in den Stunden der größten Gefahr vor nichts zurückwich,

252 Adler, Friedrich (1879–1960), Sohn des Begründers und Führers der österreichischen Sozialdemokratie Victor Adler (1852–1918); Wortführer des linken Flügels der Partei und Journalist; erschoss am 21. Oktober 1916 Graf Stürgkh. 253 Stürgkh, Karl Graf (1859–1916), 1911–1916 österreichischer Ministerpräsident. 254 Radek: „Gegen den politischen Terror“, „Arbeiterpolitik“ Nr. 7, 8, 9/1916 ; in: Ders., In den Reihen der deutschen Revolution, S. 405. 255 Radek: „Die Triebkräfte der russischen Revolution“, „Arbeiterpolitik“, Nr. 14–18/1917; in: Ders., In den Reihen der deutschen Revolution, S. 442f. 256 von Rauch, Geschichte des bolschewistischen Russland, S. 97. 257 Radek, Brief aus dem Gefängnis Moabit an Max Barthel, 1919; in: Barthel, S. 61. 258 Paquet, Im kommunistischen Rußland, S. 115. 259 Ebenda, S. 113.

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um ihren Willen durchzudrücken, sich allen Gewalten zum Trotz zu erhalten.“ 260 Seine Einstellung zur Frage des Terrors erhellt nicht zuletzt ein Diskurs, den er als Emissär Lenins im Dezember 1918, im Hinterzimmer einer Berliner Arbeiterkneipe mit seiner ehemaligen Lehrerin Rosa Luxemburg führte. „Der Streit ging in erster Linie um den Terror“, schreibt Radek. „Rosa tat es weh, daß Dzierzynski das Haupt der Čeka war“, und sie meinte: „Man hat uns doch mit Terror nicht kleingekriegt. Wie kann man auf den Terror setzen?“ Er antwortete ihr: „Aber mit Hilfe des Terrors, […], mit Hilfe der Verfolgung haben sie [die Bourgeoisie] uns für Jahre zurückgeworfen. Wir setzen auf die Weltrevolution; müssen einige Jahre Zeit gewinnen. Wie kann man da die Bedeutung des Terrors leugnen? Außerdem, der Terror ist erfolglos gegenüber einer jungen Klasse, die die Zukunft der gesellschaftlichen Entwicklung vertritt und daher voller Begeisterung und Selbstverleugnung ist. Etwas anderes ist es mit der Klasse, die von der Geschichte zum Tode verurteilt wurde, die das Verbrechen des Weltkrieges hinter sich hat.“261

Bis zu diesem Zeitpunkt – so lassen die Hinrichtungsberichte der sowjetischen Presse vermuten – hatte der im Herbst 1918 wütende Rote Terror 10.000 bis 15.0000 Todesopfer gefordert.262 Für Radek rechtfertigte die Weltrevolution als politisches Ziel an sich, den Klassenmord an einem Bürgertum, das er von der Geschichte ohnehin zum Untergang verurteilt glaubte. In der Broschüre „Die Diktatur der Arbeiterklasse und der Kommunistischen Partei“ fasste er sein Credo nochmals zusammen: „Die kommunistische Partei erstrebt […] allein die Niederringung des Kapitalismus, die Befreiung der Arbeiterklasse, die sozialistische Organisation der Gesellschaft. Um dieses Ziel zu erreichen ist in der Zeit des Kampfes, solange der Widerstand der Bourgeoisie nicht gebrochen ist, die Errichtung der p r o l e t a r i s c h e n D i k t a t u r nötig. Das heißt, solange die Bourgeoisie der siegreichen Arbeiterklasse Widerstand leistet, um sie wieder zu knechten, muß dieser Widerstand mit allen Mitteln gebrochen werden. […] D i k a t u r o h n e B e r e i t s c h a f t z u m Te r r o r i s t e i n M e s s e r o h n e K l i n g e .“263

Radek gehörte 1918 zur Führungsmannschaft des Ideologiestaates Sowjetrussland und war von dessen weltgeschichtlicher Mission zutiefst überzeugt. Durchdrungen vom Glauben an kommunistische Utopien und in konsequenter Verneinung westlicher Demokratievorstellungen, begeisterte er sich für die Idee der Weltrevolution, 260 Radek: „Proletarische Diktatur und Terrorismus“ (1919), S. 39. 261 Radek: Nojabr’, Iz vospominanij [November, aus meinen Erinnerungen]; deutsche Übersetzung in: Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 133. 262 Courtois, S. 92. 263 Struthahn [Radek], „Die Diktatur der Arbeiterklasse und der Kommunistischen Partei (1919), S. 5f.

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die die Gesellschaft verändern und den Krieg und die sozialen Missstände des Industriezeitalters beseitigen sollte. Wie die anderen bolschewistischen Führer, die den Ersten Weltkrieg nur aus der Ferne des Exils oder der sibirischen Verbannung erlebt hatten, verfügte auch er über keinerlei militärische Erfahrung und besaß nur abstrakte Kenntnisse von den Schrecken des Krieges. Das hat möglicherweise die Brutalität seiner politischen Vorstellungen begünstigt. Er übersah den nationalistischen Aspekt der „Menschheitskatastrophe“ von 1914 und machte gemäß der theoretischen Klassenanalyse des Bolschewismus den Kapitalismus dafür verantwortlich. Indem die Revolution die Herrschaft des Kapitalismus beseitigen würde, setze sie den Massakern des Krieges ein Ende, koste es auch einer „Handvoll“ verantwortlicher Kapitalisten das Leben. Eine makabre Spekulation, die a priori die revolutionäre Gewaltanwendung rechtfertigte, in ihrer Verblendung Böses mit Bösem bekämpfen wollte264 und den Roten Terror legitimierte.

264 Courtois, Warum?; in: Dies., Schwarzbuch des Kommunismus, S. 802.

9.  Exkurs: „Die Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat“ (1918) Der frühreife Gymnasiast Karl Sobelsohn hatte in Tarnów mit fünfzehn Jahren das 1878 erschienene Buch „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“ gelesen, mit dem Friedrich Engels als Freund und engster Mitarbeiter von Karl Marx die eigenwilligen Sozialismustheorien des Berliner Privatdozenten Dühring widerlegen wollte. Aus einigen Kapiteln des „Anti-Dühring“ stellte Engels dann seine Schrift „ D i e E n t w i c k l u n g d e s S o z i a l i s m u s v o n d e r U t o p i e z u r W i s s e n s c h a f t “ 1 zusammen, die – wie auch das Buch – entscheidenden Einfluss auf das sozialistische Denken gewann. Engels bezeichnete Dührings Wissenschaftsverständnis als eklektisch und seinen Sozialismus als utopisch. Typisch für diese Auffassung sei es, die gesellschaftlichen Missstände zu beklagen und als Abhilfe „ein neues, vollkommeneres System der gesellschaftlichen Ordnung zu erfinden und dies der Gesellschaft von außen her, durch Propaganda, womöglich durch das Beispiel von Musterexperimenten aufzuoktroyieren.“2 Dagegen gehe es dem wissenschaftlichen Sozialismus darum, auf der Grundlage der materialistischen Geschichtsauffassung die wirklichen Ursachen der Missstände zu analysieren und zu erklären. Nur eine solche Methode führe zu einer radikalen theoretischen Kritik des Bestehenden, welche auf eine praktische Realisierung der sozialistischen Zukunft drängt, ohne diese in utopischen Bildern auszumalen.3 Siebzehn Jahre nach der ersten Lektüre des „Anti-Dühring“ ging Radek im Moskau des Jahres 1918 daran, die Summe seiner bisherigen politischen Erfahrungen, insbesondere aber die aus der Oktoberrevolution zu ziehenden Lehren, in zwei programmatischen Aufsätzen zusammenzufassen: „Die Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat“ und „ Die Lehren der russischen Revolution“. Er verstand diese theoretischen Arbeiten als Fortschreibung von Engels’ „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ und publizierte sie in einer 36 Seiten umfassenden Broschüre unter dem Titel: „Die Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat“. Auf die dramatischen Tage der Entstehung dieser Schrift unmittelbar nach dem Kaplan-Attentat auf Lenin verweist der bedeutungsschwere Nachsatz zur Datierung: „Geschrieben: ,Moskau, im September 1918. In der Woche wo L e n i n , das Herz und Gehirn der Weltrevolution, mit dem Tode rang und siegte.‘“4 In seiner Arbeit handelt Radek zunächst plakativ vereinfachend „Die Entwickelung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ ab. Friedrich Engels habe schon 1847 in einem Entwurf des Kommunistischen Manifestes den Kommunismus 1 2 3 4

Erstmals 1883 in deutscher Sprache erschienen. Marx Engels Werke, Band 19, S. 194. Schieder, Wolfgang: Engels; in: Kernig, Band 2, Sp. 136. Radek, Die Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat, S. 36.

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als „die Lehre von den Bedingungen des Sieges der Arbeiterklasse“ definiert. Mit dem Versuch, in ihrem Werk diese Bedingungen aufzufinden, hätten Marx und Engels den Entwicklungsschritt des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft vollzogen.5 Sie hätten gezeigt, dass der Sieg des Sozialismus „im direkten revolutionären Kampfe Klasse gegen Klasse“ errungen werden muss: „Dieser revolutionäre Endkampf, der in der eisernen Diktatur des Proletariats über alle anderen Klassen ausmünden wird, wird erst die Arbeiterklasse in das gelobte Land des Sozialismus führen.“6 Erst jetzt, 1918, „in der ersten sozialistischen Revolution, die die Welt erlebt“, könne man die Lehre des Kommunismus „voll erfassen“7. Und unter Verwendung einer seiner Lieblingsmetaphern stellt er fest: „Die Lehre von Marx und Engels von den Bedingungen des Sieges des Proletariats, die Lehre vom Kommunismus, steht heute da, unberührt vom Zahn der Zeit – ein Granitblock.“8 Dann wendet Radek sich den revolutionsfeindlichen evolutionären Entwicklungen im Sozialismus zu, die er als „die Verfälschung des Kommunismus“9 verurteilt: „Las[s]alle versuchte den Kommunismus als eine Bewegung darzustellen, die sich auf friedlichem Wege durchsetzen kann […].“10 Dieser Linie folgend, habe „der Reformismus“, das heißt der Revisionismus Eduard Bernsteins in Deutschland, und die revisionistische Rechte in Frankreich und Italien, „die Möglichkeit der sozialistischen Revolution“ geleugnet und durch „die soziale reformerische Evolution“ ersetzt.11 Die Verschärfung der Gegensätze im kapitalistischen System habe jedoch schließlich zum „Zusammenbruch der reformistischen Illusionen“ geführt. Die imperialistische Politik als Auslöser höherer Steuerlasten und zunehmender Militarisierung sei zur Ursache steigender Kriegsgefahr geworden, wobei „die wachsende politische Reaktion […] auf die Arbeitermassen als Sturmzeichen“ wirkte und die russische Revolution von 1905 den Beginn „des Kampfes um die Macht“ signalisierte. Nachdem damit Klarheit bestand, fährt Radek fort, „daß wir am Vorabend einer sozialistischen Revolution stehen“, stellte sich die Frage, „mit welchen Mitteln wird das Proletariat zum Angriff auf die Festungen des Kapitals übergehen?“12 – „Auf der Suche nach dem Weg zur Macht“13 wurde erkennbar, dass dem Massenstreik als erstem Schritt, die Umwandlung der kapitalistischen Demokratie und ihrer parlamentarischen Organe in Machtorgane des siegreichen Proletariats folgen müsse. Anton Pannekoek, „der klarste Kopf des westeuropäischen Sozialismus“, beantwortete diese Frage damit, „daß man den kapitalistischen Staat auch in seiner demokratischen Form zer5 6 7 8 9 10 11 12 13

Radek, a.a.O., S. 3. Ebenda, S. 4. Ebenda, S. 5. Ebenda, S. 4. Ebenda, S. 6. Ebenda, S. 7. Ebenda, S. 9. Ebenda, S. 10f. Ebenda, S. 12.

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trümmern und neue Machtorgane im Feuer der proletarischen Revolution schaffen müsse. Aber er erläuterte nicht, welche „Zwangsorgane“ das Proletariat installieren solle, um „seinen Sieg durchzuführen und zu befestigen.“14 Auf den noch andauernden Ersten Weltkrieg eingehend, schreibt Radek, das Kriegsgeschehen demonstriere, „der Kapitalismus treibe zur blutigsten Anarchie, zur Vernichtung der geringen Kulturansätze […] zum tiefen Elend der Massen, zu ihrer wörtlichen Versklavung […].“ Das russische Volk habe jedoch diese „Lehren des Weltkrieges“ als erstes verstanden und mit der Oktoberrevolution den ersten Schritt zur erfolgreichen Umsetzung der Revolutionstheorie in die politische Praxis getan: „Die russische Revolution ist die erste Antwort des Proletariats auf den Weltkrieg, der Vorkämpfer und Vorläufer der internationalen Revolution […]. Indem das russische Proletariat mit seiner Revolution den ersten Schritt auf dem Wege der Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat macht, bedeutet sie zugleich einen mächtigen Schritt zur Entwicklung der Wissenschaft von dem Kommunismus. Der Kommunismus ist die Lehre von den Bedingungen des Sieges der Arbeiterklasse. Diese Bedingungen werden am klarsten im Prozesse des Sieges, darum ist das Verständnis der russischen Revolution eine Vorbedingung der Entwicklung des Kommunismus von der Wissenschaft zur Verwirklichung, d.h. zur proletarischen Weltrevolution.“15

Damit leitet Radek auf den zweiten Hauptteil seiner Arbeit über, den er „Die Lehren der russischen Revolution“16 nennt. Darin versucht er den Geschehnissen der Oktoberrevolution Vorbildcharakter zu verleihen und aus ihnen Erkenntnisse allgemeingültiger gesetzmäßiger Zusammenhänge zu gewinnen, die er als Anleitung zum revolutionären Handeln formuliert: „Die russische Revolution zeigt dem internationalen Proletariat das rauhe Gesicht, das es morgen selbst vom Pulverdampf geschwärzt, stolz auf dem Nacken tragen wird. Wen dieses Gesicht erschreckt, wer sich von ihm abwendet, wie von einem Medusenhaupte, der wird sich von der proletarischen Revolution überhaupt, der wird sich von dem Sozialismus abwenden. Aber die russische Revolution zeigt dem europäischen Proletariat nicht nur die Kämpfe, die es durchzufechten haben wird, wenn es nicht im Schlamme der Schützengräben verderben will. Sondern auch die Formen, das Zeichen in dem es siegen wird.“17

Beginnend mit dem thematischen Komplex „Der Reifegrad des Kapitalismus und die Weltrevolution“, wendet er sich zuerst der Frage zu: „Wann kann die sozialis-

14 15 16 17

Ebenda, S. 14. Ebenda, S. 15ff. Ebenda, S. 17ff. Ebenda, S. 32.

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tische Revolution kommen?“ und behauptet, der Zeitpunkt einer Revolution sei keineswegs abhängig vom Grad der kapitalistischen Entwicklung eines Landes18: „Der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus beginnt dann, wenn die kapitalistische Gesellschaft solche Leiden über das Volk gebracht hat […], daß es sich gegen die Herrschaft aufbäumt, wenn die Massen die von der kapitalistischen Wirtschaft geschaffenen Verhältnisse nicht länger ertragen können.“19

Das sei in Russland – einem Land, das „durch den Krieg unerhört zerrüttet“ worden sei – der Fall gewesen20, untermauert er seine These und diagnostiziert: „In derselben Lage wie Rußland befindet sich Österreich und Italien und die Erfahrung der russischen Revolution sagt, daß die Revolution keineswegs dort anfangen wird, wo der Kapitalismus am höchsten entwickelt ist […]. Die sozialistische Revolution beginnt zuerst in den kapitalistischen Ländern in denen die kapitalistische Organisation schwächer ist. Die kapitalistischen Länder mit den am meisten zerrütteten Niederhaltungsorganen sind die Durchbruchspunkte des Sozialismus, dort beginnt die sozialistische Revolution.21

Zusammenfassend hebt er hervor: „Wann kann die sozialistische Revolution beginnen? Sie kann und wird beginnen in jedem Lande, in dem die vom Kapital geschaffene Lage für die Arbeiterklasse unerträglich wird.“ 22 Mit dieser Uminterpretation der Marxschen These, wonach die Revolution nur in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern eine reale Chance habe, vervollständigt Radek seine vor dem Ersten Weltkrieg geäußerte Überlegung, auch rückständige Länder wie Russland, würden durchaus eine revolutionäre Perspektive bieten; ein Gedanke den Lenin bereits 1905 formuliert und, angeregt durch Radek, 1917 in seiner Schrift „Staat und Revolution“ wieder aufgegriffen hatte.23 Lenin hatte ebenfalls die Idee einer Klassendiktatur des Proletariats stark in den Vordergrund gerückt, die von Marx als „notwendiger Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt“24 hingestellt worden war. Marx hatte, orientiert am Beispiel der Pariser Kommune von 1871, empfohlen, die „siegreiche Partei“ in der Revolution müsse, „wenn sie nicht umsonst gekämpft haben will, dieser Herrschaft Dauer verleihen durch den Schrecken, den ihre Waffen den Reaktionären einflößen.“25 Nach dem Sieg der Oktoberrevolution gewann für die Bol’ševiki die Notwendigkeit gewaltsamer Unterdrückungsmaßnahmen Vorrang, 18 19 20 21 22 23 24 25

Ebenda, S. 17. Ebenda, S. 19. Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 21f. Ebenda, S. 22. Vgl. oben, Kapitel 6, Anm. 1. Marx Engels Werke, Band 7, S. 89. Ebenda, Band 18, S. 308.

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um die Macht behaupten und weitere revolutionäre Veränderungen durchführen zu können. Lenin charakterisierte die Diktatur des Proletariats im Herbst 1918 in einem Aufsatz wie folgt: „Die revolutionäre Diktatur des Proletariats ist eine Macht, die erobert wurde und aufrechterhalten wird durch die Gewalt des Proletariats gegenüber der Bourgeoisie, eine Macht, die an keine Gesetze gebunden ist.“26 Die Unterdrückungsmaßnahmen seien jedoch notwendig, weil nur durch konzentrierte Machtausübung der Widerstand der Bourgeoisie gebrochen und die schwankenden Mittelschichten mitgerissen werden können. Auf diesem Hintergrund setzt sich Radek am Modellbeispiel der russischen Revolution mit dem revolutionären Übergang in „Die Diktatur des Proletariats“ auseinander: „Die sozialistische Arbeiterrevolution Rußlands zeigt dem europäischen Proletariat den Weg, der zur Macht führt. Die Presse des Weltkapitals schreit, daß dieser Weg blutig ist, sie zetert über den rohen gewaltsamen Charakter der Revolution.“27 Engels hatte davon gesprochen, dass es sich bei der Revolution nicht um einen einmaligen über Nacht erfolgenden Totalumsturz handele, sondern um einen mehrjährigen Entwicklungsprozess der Massen unter beschleunigenden Umständen.28 Radek konstatierte angesichts der im westlichen Ausland von Empörung und Abscheu getragenen Reaktionen auf den Terror und die Repression im revolutionären Russland kaltblütig, dass es sich dabei mitnichten um rasch vorrübergehende Maßnahmen handele, deren Härte überdies von der Intensität des Widerstandes der Bourgeoisie abhängig sei: „Die sozialistische Revolution ist ein langer Prozeß […]. [Er] wird in jedem Lande wenigstens eine Generation in Anspruch nehmen, und diese Zeitspanne ist eben die Periode der proletarischen Diktatur, in der das Proletariat mit einer Hand die kapitalistische Klasse niederwerfen muß, während es nur die andere zur sozialistischen Aufbauarbeit frei hat. […] Und je stärker der Kapitalismus in einem Lande entwickelt ist, desto rücksichtsloser, desto wilder wird sein Verteidigungskampf sein, desto blutiger die proletarische Revolution und desto rücksichtsloser die Maßregeln, vermittels derer die siegreiche Arbeiterklasse die besiegte Kapitalistenklasse unter ihre Füße nehmen wird.“29

Indem er auf die vom Reformflügel der sozialistischen Bewegung vollzogene Abkehr von der programmatischen These der Diktatur des Proletariats eingeht, die Eduard Bernstein als einen Atavismus und Rückfall in eine tiefere Kultur bezeichnet hatte, verteidigt Radek die proletarische Klassendiktatur. Er verknüpft dies mit scharfer Kritik an der demokratiefreundlichen Haltung der Reformisten und verficht Lenins radikalrevolutionäre Idee, dass der Sturz der bourgeoisen Klassenherrschaft von ei-

26 Lenin, „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“; in: Lenin, Werke, Band 28, S. 234. 27 Radek, a.a.O., S. 24. 28 Engels an Bernstein, 27.8.1833; in: Marx Engels Werke, Band 36, S. 55. 29 Radek, a.a.O., S. 25f.

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ner politischen Elite als Minderheit stellvertretend für das Proletariat durchgeführt werden müsse: „Aber uns antworten die Mol[l]usken aus dem ,Auch Marxistenlager‘ der Gegner der russischen Arbeiterrevolution: Es handelt sich gar nicht um die prinzipielle Ablehnung der proletarischen Diktatur, sondern um die Ablehnung der Diktatur in einem Lande, wo das Proletariat eine Minderheit ist, wo die Diktatur zur Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit ausartet, wie es in Rußland der Fall ist. Dieses Argument ist eine feige Ausflucht. Nirgends, in keinem Lande wird die Revolution als Tat der Mehrheit der Bevölkerung beginnen. Der Kapitalismus bedeutet niemals nur die physische Beherrschung der Produktionsmittel, überall bedeutet er gleichzeitig die geistige Herrschaft über die Volksmassen, auch in den kapitalistisch am meisten entwickelten Ländern. Unter dem Druck des Elends und der Not, unter der Erschütterung der Massen durch solche Produkte des Kapitalismus wie der Krieg, bäumen sich nicht alle Ausgebeuteten und Unterdrückten auf einmal auf. Es bäumt sich immer die Aktivste, eine Minderheit auf, sie vollzieht die Revolution, deren Sieg davon abhängig ist, ob diese Revolution der Linie der historischen Entwickelung, d.h. dem Interesse der Volksmassen entspricht, die die früher herrschende Klasse ablösen können. Es bedarf erst der schöpferischen und aufrüttelnden Kraft der Revolution, um alle Volksmassen aufzurütteln, von der geistigen Sklaverei beim Kapital zu befreien, um sie in das Lager zu führen, das ihre Interessen verteidigt. Man könnte sagen, jede Revolution wird von der Minderheit angefangen, die Mehrheit schlägt sich auf ihre Seite erst in ihrem Prozeß und beschließt so ihren Sieg.“30

Bis zu diesem Sieg, das bedeutet frühestens in einer Generation – so beendet Radek seine Ausführungen über die Diktatur des Proletariats – ist die „proletarische Diktatur“ unumgänglich und „in Rußland ebenso berechtigt wie in jedem anderen Lande.“31 Im folgenden Abschnitt, den er „Revolution und Konterrevolution“ betitelt, befasst sich Radek mit der zwangsweisen Integration der bürgerlichen Intelligenzschicht und der Bauernschaft in den Sowjetstaat. Ohne die Heranziehung dieser den Bol’ševiki von Haus aus feindlich gesonnenen Kräfte, seien die Industrieproduktion und die Ernährung im revolutionären Sowjetstaates nicht zu gewährleisten. Die „Sabotage der Bourgeoisie und der bürgerlichen Intelligenz“ erschwere „die sozialistische Organisation der Produktion“, denn erst „durch tausende von Fehlern“ werde die Arbeiterklasse imstande sein, „sich zur Leitung der Produktion heranzubilden“. Sie könne also „vorerst nirgends“ auf die Hilfe der „bürgerlichen Spezialisten“ verzichten. Diese Erfahrung aus der Russischen Revolution gelte für „die Arbeiterklasse jedes Landes: „Sie wird ebenso wie die russische Arbeiterklasse Maßregeln eiserner 30 Ebenda, S. 26f. 31 Ebenda, S. 27.

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Diktatur benötigen, um die bürgerlichen Elemente in den Dienst der Arbeiter zu stellen.“.32 Das Gleiche gelte für die Behandlung der Bauern: „Keinem Proletariat wird der Kampf erspart werden, der die russische Arbeiterklasse zu den schärfsten Maßregeln der Diktatur zwingt: Der Kampf ums Brot. Nirgends werden die Bauern ohne weiteres auf die Seite der Revolution treten, in den kapitalistischen Ländern noch weniger, als sie es in Rußland getan haben, wo ihnen die Revolution den Grund und Boden gab. Wie die Revolution militärisch in einen Kampf der Arbeiter- und Bauernregimenter ausmündet33, so wird sie auch sozial als Kampf zwischen Arbeitern und Bauern ausgefochten werden, bis die besiegte Bauernschaft nicht verstehen lernt, daß die sozialistische Gesellschaft ihr mehr an menschenwürdigem Leben bieten kann als die kapitalistische.“34

Vor die Alternative gestellt, eine Art Markt aufzubauen oder Zwang auszuüben, hatten sich die Bol’ševiki aus ideologischen Gründen für die letztere Strategie entschieden und beschlagnahmten die landwirtschaftlichen Produkte, um die Versorgung der Arbeiter in den Städten und der Armee sicherzustellen. 110 vom Sowjetregime als „Kulakenaufstände“ diskreditierte Bauernrevolten waren die Folge. Radek empfahl drei Jahre später noch einmal die Zwangspolitik gegenüber den Bauern als revolutionäres Erfolgsmodell: „Der Bauer war soeben von der Front zurückgekehrt, hatte Land bekommen und seine Waffen behalten. Seine Haltung gegenüber dem Staat war folgendermaßen zusammenzufassen: Wozu ist der Staat von Nutzen? Er wußte nichts mit ihm anzufangen. Wenn wir eine Naturalsteuer erhoben hätten, wären wir damit nicht durchgekommen. Denn wir verfügten über keinen Staatsapparat mehr, nachdem der alte zerschlagen worden war, und der Bauer hätte uns ohne Zwang nichts gegeben. Zu Beginn des Jahres 1918 war unsere Aufgabe einfach. Wir mußten den Bauern zwei grundlegende Dinge begreiflich machen: Daß der Staat für seine eigenen Bedürfnisse Anspruch hatte auf einen Teil der landwirtschaftlichen Produkte und daß er auch die Kraft besaß, seine Rechte durchzusetzen.“35

Für Marx und Engels hatte die Pariser Kommune das Verhältnis zur Demokratie geklärt; die Lehre von der Diktatur des Proletariats schied die bürgerliche Demokratie klar von der proletarischen. Lenin hielt die Demokratie im russischen Staat für nicht realisierbar und in seiner Partei für überflüssig. Demgemäß lehnt der Marxismus32 Ebenda, S. 29. 33 Radek bezieht sich auf seine damit im Zusammenhang geäußerte These, wonach im Bürgerkrieg die „Armee der Konterrevolution“ im wesentlichen aus Soldaten bestand, die „aus bäuerlich-kapitalistischen Gegenden“ stammten, während die „Arbeiterregimenter“ der Bol’ševiki sich vor allem aus dem urbanen proletarischen Milieu rekrutierten. Ebenda, S. 30. 34 Ebenda. 35 Radek, „Puti russkoj revoljucii [Die Wege der Russischen Revolution]“; in: Krasnaja Nov’, 4/1921, S. 188. Courtois, S. 80.

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Leninismus die bürgerliche Demokratie als Klassenherrschaft der Bourgeoisie ab. Radek setzt sich in diesem Sinne mit der Frage „Demokratie oder Herrschaft der Arbeiterklasse“ auseinander, wobei er zugleich Kautsky und den Reformflügel der Sozialdemokratie angreift: „Die moderne Demokratie ist eine Kulisse der Kapitalherrschaft. Da das schwache Proletariat ein Interesse daran hatte, frei zu reden, frei zu wählen, um seine Kräfte zu sammeln, haben wir die Demokratie als Weg zum Sozialismus anerkannt; das bedeutete, daß wir die freie Teilnahme an den Staatsangelegenheiten notwendig hatten, um die Massen für den Kampf für den Sozialismus mobil zu machen […].“36

Die parlamentarische Taktik habe jedoch nicht zum revolutionären Erfolg geführt, sondern lediglich bestätigt, dass es unmöglich ist, in der bürgerlichen Demokratie „den Willen der Mehrheit auf friedlichem Wege durchzusetzen“: „Nur in der Revolution können die Vorderreihen der Arbeiterschaft die Mehrheit der Volksmassen mit sich reißen. Eine Revolution bedeutet aber, daß eine Klasse der anderen ihren Willen diktiert. Die Bedingung, die Kautsky und Co. einer Revolution stellen, besteht darin, daß sie zwar das Recht habe, der Bourgeoisie ihren Willen zu diktieren, aber sie sei dabei verpflichtet, der Bourgeoisie die Möglichkeit zu geben, durch Preßfreiheit, von der konstituierenden Versammlung aus, ihre Klagen vorzubringen. Die geistreiche Forderung eines fachgerechten Querulanten […] könnte abstrakt genommen erfüllt werden, ohne der Revolution zu schaden; aber die Revolution besteht eben darin, daß sie ein Bürgerkrieg ist, und Klassen, die sich mit Kanonen und Maschinengewehren bekämpfen, verzichten auf das Homerische Rededuell. Die Revolution diskutiert nicht mit ihren Feinden[,] sie zerschmettert sie, die Konterrevolution tut dasselbe, und beide werden den Vorwurf zu tragen wissen, daß sie die Geschäftsordnung des deutschen Reichstages nicht beachtet haben.“37

Eingangs hatte Radek an seinen Freund Anton Pannekoek erinnert, der es offen gelassen habe, welche revolutionären Machtorgane nach der Zertrümmerung des kapitalistischen Staates durch das Proletariat aufgebaut werden müssten. Im letzten Teil seiner Arbeit geht er nun daran, diese Frage zu beantworten. Wie auch Lenin, sieht er im Rätesystem, mit den Sowjets (Räten) als den Organen der Diktatur des Proletariats, die organisatorische Lösung: „Wie wird die Form der diktatorischen Herrschaft des Proletariats in Europa aussehen? Es sind die Räte, d.h. die Vertretung der Arbeiterschaft in der Fabrik, in der Stadt, auf dem Lande und im Reich. Das ist die Form, in der auch die Arbeiter Europas ihre Herrschaft konstituieren werden [...]. Der Kongreß der Arbeiterräte, das Exekutiv-Komitee der Arbei36 Radek, Die Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat, S. 30. 37 Ebenda, S. 31f.

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terräte, das ist die proletarische Staatsgewalt: nicht das Mittel der kapitalistischen Unterdrückung, sondern umgekehrt das Kampforgan des Proletariats. Die Räteregierung ist keine demokratische Regierungsform, sie ist die Form der Arbeiterregierung, sie zeigt klar ihren Klassencharakter, verhüllt ihn nicht mit den demokratischen Phrasen […].“ 38

Mit der Propagierung des Rätegedankens verbindet Radek seine Kritik am bürgerlichen Staat mit seinem Parlamentarismus, den er in einem unüberbrückbaren Gegensatz zum Rätesystem sieht. Es sei „mehr als bezeichnend, dass alle die ,Marxisten‘, die an der russischen Revolution herummäkeln, bis heute immer versucht haben, den Gedanken der Räteregierung anzugreifen“. Sie verteidigen „die imperialistischen Dunkelkammern […], in denen die Bürokratie zusammen mit den Vertretern des Finanzkapitals die Geschäfte des Staates erledigt“. Das Parlament habe in diesem System nur dekorativen Charakter, sei „ein Diskutierklub, eine Schwatzbude“, denn es „leitet keine Fabriken“ und „baut keine Eisenbahnen“. Nachdem die „Staatsmaschine“ aus einer „Polizeimaschine“ immer mehr zum „Wirtschaftskontor“ werde, gebe es lediglich zwei Möglichkeiten: – die abzulehnende kapitalistische Variante, in der der Staatsapparat „von einem bürokratisch-kapitalistischen Konsortium fachlich geleitet“ wird, wobei das Parlament nur eine „vorgeschobene Kulisse“ bildet, oder – die sozialistische Alternative, mit ihrem bereits in Russland praktizierten Rätesystem, in der „Organe aus Arbeitern geschaffen werden, die zusammen mit Fachleuten den Wirtschaftsapparat in Bewegung bringen und leiten.“39 In Russland hatten sich nach der Oktoberrevolution die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten in staatliche Machtorgane verwandelt und auf lokaler Ebene schrittweise die staatlichen Verwaltungsfunktionen übernommen. Die Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Räte-Republik vom Juli 1918 schrieb das Rätesystem als Staatsform der Diktatur des Proletariats fest: Der aus den Wahlen zu den lokalen und regionalen Sowjets hervorgegangene Allrussische Sowjetkongress bildet „die höchste Behörde der RSFSR“; er wählt das Allrussische Zentralexekutivkomitee der Sowjets (VCIK) als „das höchste gesetzgebende Verwaltungs- und Kontrollorgan der Republik“, das den Rat der Volkskommissare als Exekutive bestimmt. In der politischen Realität waren allerdings beim Inkrafttreten dieser Verfassung die Räte durch die Diktatur der bolschewistischen Partei schon längst entmachtet, was Radek allerdings nicht davon abhielt, sie den westeuropäischen Arbeitern als Organisationsmodell zu empfehlen.40 38 Ebenda, S. 32f. 39 Ebenda, S. 34f. 40 Mit der Propagierung des Rätegedankens stieß Radek bei deutschen Intellektuellen auf Resonanz. So notierte Alfons Paquet: „Die Sowjets die Urzelle der sozialistischen Verwaltungsform, sind entstanden, nicht erfunden worden. Halte die Form der Räte für das Ei des Kolumbus. Was soll ein Parlament über Machtausübung entscheiden? Die Form des Parlaments ein Schein, eine Antiquität.

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*** „Die Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat“ ist nach seiner Arbeit über den deutschen Imperialismus41 die wichtigste theoretische Schrift Radeks. 1918 erstmals in der Schweiz gedruckt und dann teilweise zusammen mit Engels’ „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ ediert, fand sie in den linkssozialistischen und kommunistischen Parteien weite Verbreitung. Bis 1932 erschienenen mindestens achtzehn Auflagen in Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Polnisch und Russisch, u.a. an den Verlagsorten Amsterdam, Berlin, Budapest, Buenos Aires, Glasgow, Moskau und Wien.42 Radek folgt in seiner Arbeit in wesentlichen Inhalten Lenins Revolutionstheorie, insbesondere dessen wohl bedeutendster Schrift „Staat und Revolution“ (1917), in der die These vom revolutionären Übergang in die Diktatur des Proletariats ausführlich entwickelt wird. Lenin erteilt darin der parlamentarischen Demokratie eine Absage, weil sie die Klassenunterdrückung nur durch demokratische Formen maskiere. Das Hauptziel der revolutionären Bewegung des Proletariats – verkörpert durch die „Partei neuen Typs“, das heißt die aktive kommunistische Minderheit – müsse die Machtergreifung durch einen bewaffneten Aufstand sein, der den repressiven Apparat des bürgerlichen Staats zerschlägt. An seine Stelle soll ein Staat nach dem Vorbild der Pariser Kommune von 1871 treten, in dem Exekutive und Legislative in arbeitenden Körperschaften, den Räten, vereinigt sind.43 Aber Radek beabsichtigte wohl nicht nur die Theorie des Sowjetführers vom revolutionären Übergang in die Diktatur des Proletariats zu propagieren, sondern sich auch als ein im Geiste Lenins das Vermächtnis von Marx und Engels mehrender Ideologe zu legitimieren. So ist der zweite Teil der Arbeit, der „die Lehren der russischen Revolution“ behandelt, gewissermaßen als eine Fortschreibung von Lenins „Staat und Revolution“ gedacht. Lenin hatte im Nachwort zu seiner Schrift geschrieben, daß er geplant habe, ein weiteres Kapitel anzufügen, das den „Erfahrungen der russischen Revolutionen von 1905 und 1917“ gewidmet sein sollte, aber dass er diese Arbeit wegen des Ausbruchs der Oktoberrevolution „wohl auf lange Zeit“ zurückstellen müsse und süffisant hinzugefügt, „es ist angenehmer und nützlicher die ,Erfahrungen der Revolution‘ durchzumachen, als über sie zu schreiben.“44 Offensichtlich war Radek nun bemüht, Lenins Revolutionstheorie um die Erfahrungen der Oktoberrevolution anzureichern. Ein

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Über Verwaltungs- oder Fachfragen können nur Räte der Sachverständigen (und sachverständigen, interessierten Arbeiter) entscheiden.“ Mit Blick auf Russland fügt er allerdings kritisch hinzu: „Zunächst aber – in Rußland, entsprechend dem geringen Stand der Bildung, schlägt das Element der Unsachverständigen durch. Daher so viel zu Grunde ging.“ Paquet-Tagebuch (18. August 1918), S. 115. Radek, Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse, 1911. Vgl. Möller, S. 288f. Ein russischsprachiger Abdruck der Schrift erschien erstmals 1924 in Moskau: „Razvitie socializma ot nauki k dejstvu“, in: Pjat’ let Kominterna, tom I, S. 29ff. Dies unterstreicht Westeuropa als ihre ursprüngliche Zielrichtung. Vgl. Wildman, Lenin; in: Kernig, Band 4, Sp.193. Lenin, Staat und Revolution, in: Ders., Werke, Band 25, S. 507.

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wahrscheinlich aus Radeks Feder stammender Leitartikel im „Vökerfriede“ prognostizierte bereits im Januar 1918 die Geburt eines revolutionären Sowjet-Europa: „In Westeuropa werden, sobald die Welle der Revolution sich zu einiger Höhe erhoben hat, die alten Grundsätze des bürgerlichen Parlamentarismus, der den Arbeitern der sogenannten zivilisierten Länder genügend verhaßt geworden ist, viel leichter als in Rußland als überlebt erkannt werden. […] Halb absolutistische Monarchien, wie Preußen, käuflich prostituierte Republiken wie Frankreich, ,freie‘ Monarchien, wie England – alle werden sie unabwendbar weggefegt werden und an ihre Stelle wird die Macht der Sowjets der Arbeiter und Soldaten treten. […] Es ist klar, daß die künftige Form der Staatsordnung Europas schon vorherbestimmt ist. Es ist die große föderative europäische Sowjetrepublik.“45

In seiner Arbeit vom September 1918 ging Radek allerdings wieder davon aus, dass entgegen der ursprünglichen Marxschen Lehre die Revolution nicht unbedingt in einem der fortgeschrittenen Industrieländer ausbrechen müsse. Das russische Beispiel zeige, dass auch Staaten, die sich erst am Anfang der Industrialisierung befinden, reif für die Revolution seien. Überall, wo aus der Arbeiterschaft aufgrund ihrer desolaten Situation eine kritische Masse entsteht, die zur sozialen Explosion führt, ergäben sich „Durchbruchspunkte des Sozialismus“, vor allem in Ländern, in denen die industriellen Strukturen nur schwach ausgeprägt seien und der Repressionsapparat nur über unzureichende Schlagkraft verfüge. Dies habe für Russland gegolten und die gleichen Kriterien träfen auch auf Österreich und Italien zu – eine Diagnose, die den Zündstoff der dortigen gesellschaftlichen Konflikte durchaus zutreffend einschätzte. Im Hinblick auf Österreich hatte er besonders den transleithanischen Teil der Donaumonarchie ins Auge gefasst. Seine Erwartungen gründeten sich vor allem auf die revolutionären Aktivitäten seines ungarischen Eleven Béla Kun, mit dem er im Frühjahr 1918 als Agitator in Versammlungen der Kriegsgefangenen der Mittelmächte aufgetreten war.46 Im September 1918 renommierte Radek gegenüber Alfons Paquet mit einem zweimonatigen „Agitationskurs der Magyaren, meist Unteroffizieren, die sogar [die] Offiziersschule durchgemacht haben und in Ungarn mit den Großgrundbesitzern dasselbe vorhaben wie in Rußland“, sodass ihn seine wegen dieser Indiskretion besorgte Frau Rosa in polnischer Sprache ermahnte, doch „still zu sein.47“ In der 45 Ungezeichneter Leitartikel Radeks : „Die europäische Sowjetrepublik“; in: „Der Völkerfriede“, Nr. 17, 27. Januar 1918. 46 Aufruf im „Völkerfriede“ vom 16. Februar 1918: „Sonntag, den 17. Februar, um 1 Uhr mittags findet im Saale des Arbeiter- und Bauernhauses [in Petrograd] […] eine große KriegsgefangenenVersammlung statt, einberufen von der Kriegsgefangenen-Abteilung des Z.I.K. des Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten [VCIK]. Über das Thema Revolution und Friede werden Referate in verschiedenen Sprachen (Deutsch, Russisch, Ungarisch etc.) gehalten werden. Unter den Rednern befinden sich: T. T. Uljanow, Vertreter des Z.I.K. [VCIK], Karl Radek, B. Kun […]“. „Der Völkerfriede“, Nr. 34, 16. Februar 1918. 47 Paquet-Tagebuch (8. September 1918), S. 145.

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Tat kam es dann in Ungarn 1919 zum erwarteten Durchbruch des Kommunismus in Form der kurzlebigen Räterepublik Béla Kuns; in Italien siegte allerdings der Faschismus Mussolinis. Die Broschüre „Die Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat“ stellt in der Analogie zu Friedrich Engels gewissermaßen Radeks „Anti-Bernstein“ und „Anti-Kautsky“ dar. Mit großer Prägnanz beschreibt er die Methode der Machtergreifung und Machtbehauptung durch die Bol’ševiki. Er preist sie den kommunistischen Bewegungen außerhalb Russlands als revolutionäres Aktionsmodell an: „Das europäische Proletariat wird zweifelsohne in der nächsten Zeit so schnell marschieren, daß es nicht Zeit haben wird, aus den gelehrten Büchern die Praxis der russischen Revolution zu erlernen, es wird sie praktisch erfassen. […] Wir, die wir das unermeßliche Glück haben, nach diesen 4 Jahren des Grauens, der Greuel des Weltkrieges, inmitten einer neu entstehenden Gesellschaft zu leben, d.h. zu kämpfen, wir bilden uns nicht ein, Lehrmeister des europäischen Proletariats zu sein. […] Wenn der Sozialismus wirklich, wie wir überzeugt sind, das Sehnen und Trachten der besten Proletarier zweier Generationen erfüllt hat, so werden sie ihn in der russischen Revolution erkennen, weil sie der erste Schritt zur Entwicklung des Sozialismus von der Theorie zur Tat ist.“48

Zur selben Zeit, als Radek in Moskau diese Zeilen niederschrieb, verfasste Rosa Luxemburg im Gefängnis in Breslau ihre Schrift „Die russische Revolution“, in der sie sich eindeutig von den durch die spezifische Situation in Russland diktierten bolschewistischen Revolutionsrezepten distanzierte: „Das Gefährliche beginnt dort, wo sie [die Bol’ševiki] aus der Not die Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und dem internationalen Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik zur Nachahmung empfehlen.“49 Genau diesen Anspruch erhebt Karl Radeks Broschüre mit ihrem Charakter eines Vademekums für die Durchführung der Revolution in Westeuropa nach bolschewistischem Vorbild. Karl Radek hat das praktisch selbst bestätigt, als er noch vor seinem Auftauchen im revolutionären Berlin im Dezember 1918 in der Bremer Zeitung „Kommunist“ seine programmatischen Ausführungen abdrucken und parallel als Broschüren verbreiten ließ. Sie stellen in vieler Hinsicht eine Antithese zu dem dar, was Rosa Luxemburg zur gleichen Zeit in ihrer Programmerklärung „Was will der Spartakusbund?“ verkündet hatte.50

48 Radek, Die Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat, S. 35f.. 49 Luxemburg, Zur russischen Revolution, S. 140. 50 Koenen, S. 197f.

10.  Deutscher November (1918–1919) Die in Moskau sehnlichst erwartete deutsche Revolution begann am 29. Oktober 1918 mit der Meuterei der Matrosen der Hochseeflotte in Wilhelmshaven. Der Aufstand breitete sich in den folgenden Tagen auf das ganze Reich aus. Arbeiter- und Soldatenräte wurden gegründet. Am 9. November erreichte die Revolution Berlin. Kaiser Wilhelm II. dankte ab. Philipp Scheidemann rief vom Balkon des Reichstages die „Deutsche Republik“ aus. Karl Liebknecht versuchte ohne Erfolg in das Geschehen einzugreifen, indem er vom Balkon des Berliner Schlosses aus die „Freie Sozialistische Republik“ proklamierte und zur „Vollendung der Weltrevolution“ aufrief. In der Reichshauptstadt konstituierte sich am 10. November als provisorische Regierung der Rat der Volksbeauftragten mit Friedrich Ebert als Reichskanzler. Am Tag darauf unterzeichnete der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger den Waffenstillstand mit den Mächten der Entente. Der Krieg war für Deutschland verloren, das alte politische System zusammengebrochen. Die Sozialdemokraten – Mehrheitssozialisten und USPD – hatten die Regierung übernommen. Nachdem Berlin kurz vor der Revolution die diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrussland abgebrochen und Botschafter Ioffe ausgewiesen hatte, war Moskau praktisch von allen aktuellen Meldungen über die Lage in Deutschland abgeschnitten. „Als die deutsche Revolution ausbrach, besaßen wir nur sehr unklare Nachrichten über die Ereignisse“1, erinnert sich Karl Radek. Erste Informationen über die Vorgänge in Deutschland überbrachte ihm Alfons Paquet, der ihn am 9. November spätabends im Kreise der bolschewistischen Führer im Moskauer Chudožestvennyj Theater aufstöberte, wo man einen Roman Dostoevskijs2 in Bildern aufführte. Paquet, der als Presseattaché des deutschen Generalkonsulats die aktuellen Mitteilungen des Auswärtigen Amtes über die Ereignisse an der Front und in der Reichshauptstadt mitlas, meldete Radek in der Pause „die Neuigkeiten“ und löste damit „ungeheure Freude“ auch bei den ebenfalls anwesenden Zinov’ev, Kamenev, Sadoul3, Unšlicht, Ganecki [Hanecki-Fürstenberg], Steklov4 aus.5 Noch in der gleichen Nacht fing die Funkstation der Sowjetregierung im Moskauer Vorort Chodynka ein Telegramm auf, das von einem deutschen Kriegsschiff in Kiel kam. Es lautete: „Heute bestatten wir die ersten Opfer der Revolution. Über der deutschen Flotte weht die rote Fahne. Möge sie über ganz Deutschland gehißt werden, und mögen unsere 1 Radek, „Ja. M. Sverdlov“, in: Portrety i pamflety, S. 38. 2 „Das Dorf Stepančikovo und seine Bewohner. Aus den Aufzeichnungen eines Unbekannten“. 3 Sadoul, Jaques (1881–1956); französischer Offizier (Hauptmann), der als Angehöriger der französischen Militärmission in Russland 1917 der bolschewistischen Partei beitrat, Freiwilliger der Roten Armee wurde und 1919 Propaganda unter den französischen Interventionstruppen in Südrussland führte. 4 Steklov, Jurij Michajlovič; Pseudonym von J. M. Nachamkis (1871–1943); bolschewistischer Revolutionär, Historiker und Journalist; 1917–1925 Chefredakteur der „Izvestija“. 5 Paquet-Tagebuch (9. November 1918), S. 226.

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Opfer die letzten sein.“6 Die Moskauer Hauptpost hatte den Text telegraphisch an Radek weitergeleitet und er fuhr sofort nach Chodynka, um näheres in Erfahrung zu bringen: „Wir riefen ununterbrochen Kiel, aber die [deutsche] Funkstation Nauen sendete Gegenwellen, um uns zu stören. [Erst] Einige Stunden später hatten wir aufgefangene Funkmeldungen der Alliierten über die Revolution in Deutschland in Händen.“7 Noch bevor diese Bestätigungen vorlagen, eilte Radek ins Stadtzentrum zurück und verkündete dem zu seiner Schlusssitzung im Bol’šoj Theater versammelten VI.  Sowjetkongress in den frühen Morgenstunden des 10. November die Nachricht vom Aufstand in den deutschen Küstenstädten. Die kaiserliche Kriegsflotte habe die rote Flagge gesetzt und Grüße an die russische Rote Flotte in Kronstadt übermittelt. Die Mitteilung rief unter den Teilnehmern des Kongresses unbeschreibliche Begeisterung hervor, sie sprangen von ihren Sitzen auf, vereint in einem zehnminütigen Jubelsturm. Jetzt erwartete man den „unmittelbaren Ausbruch der sozialen Umwälzung auch in Frankreich und Italien.“8 Radek veranstaltete in Moskau sogleich seine eigene kleine Revolution. Nach dem Muster der von ihm am 6. November veranlassten Besetzung der österreichischen diplomatischen Vertretung inszenierte er den sogenannten „Konsulatsputsch“. Er veranlasste unverzüglich, dass in einer Nacht- und Nebelaktion auf dem Dach des deutschen Generalkonsulats eine rote Flagge gehisst wurde und ließ dann unter dem Schutz der Čeka das Gebäude durch kommunistische Kriegsgefangene in den Mittagsstunden des 10. November stürmen und besetzen. Er sorgte dafür, dass ein „revolutionärer deutscher Soldatenrat“ gewählt wurde, in dem ihm ergebene Propagandisten und Mitarbeiter die Schlüsselpositionen erhielten. Der Hamburger Rudolf Rothkegel und der Bremer Josef Böhm übernahmen den Vorsitz, Nikolai Rakow9 wurde Sekretär und Ernst Reuter fungierte als sogenannter „neuer deutscher Botschafter“, der von sich selbst sagte, er sei von Lenin eingesetzt worden. In einem Aufruf bezeichnete man sich als die „einstimmig gewählten Vertreter der deutschen Staatsbürger in Rußland“ und damit gewissermaßen als durch demokratische Wahl 6 Radek, Nojabr’, Iz vospominanij [November, Aus meinen Erinnerungen]; deutsche Übersetzung in Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 121. Im Folgenden zitiert als: „Radek, Nojabr’“. Paquet schreibt deckungsgleich mit Radek: „Sonntag 10. November: 12 Uhr teilt mir Radek durch Telefon mit: Radio 3 Uhr nachts in deutscher Sprache aus Kiel: Ganz Deutschland in Händen [der] Arbeiter, Soldaten und Matrosen. Morgen begraben wir unsere Opfer. Hoffentlich waren es die letzten in dieser opferschweren Zeit. Mit sozialistischem Gruß […]“. Paquet-Tagebuch (10. November 1918), S.  226. Die ersten Todesopfer gab es in Kiel am Sonntag, dem 3. November 1918. Die Schiffe der in Kiel liegenden Geschwader hissten die rote Flagge am 5. November 1918. 7 Radek, Nojabr’, S. 121. 8 Paquet, Telegramm an die Berliner Redaktion der „Frankfurter Zeitung“ vom 11. November 1918. Paquet-Tagebuch (11.11.1918), S.  232; Price, My Reminiscences of the Russian Revolution, S. 348. 9 Rakow, Nikolai (1890-?); 1914 gemeinsam mit seinem Bruder Werner in Russland interniert; 1918 Dolmetscher im deutschen Konsulat in Moskau; später für die Internationale Abteilung der Komintern (OMS) tätig; im Gulag verschollen.

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legitimierte „Treuhänder für das neue revolutionäre Deutschland“.10 Wie der Gründungsakt im großen Saal des Konsulatsgebäudes tatsächlich ablief, schildert der dabei anwesende Alfons Paquet: „In der ,Izvestija‘ steht, daß 1000 Teilnehmer an der Versammlung im Generalkonsulat teilgenommen hätten. Das ist ebenso unwahr, – es war nur grauer Nebel von Tabak, Leute in Hüten und Russenblusen, Geschrei und halbenglische Reden. […] Ein deutsches Komitee, das sich schon gebildet hatte, wurde von den Internationalisten gesprengt […] – wie die Behauptung in dem vom revolutionären Soldatenrat erlassenen Aufruf (in Schreibmaschinenschrift [das heißt: vorfabriziert]), daß das Komitee e i n s t i m m i g gewählt worden sei. Einstimmig mit dem Revolver […]. Das Ganze war Überrumpelung nach russisch-revolutionärem Rezept […].“11

Radek hat sich übrigens nie zu der Verantwortung für den Konsulatsputsch bekannt, der sich in ähnlicher Form auch in Petrograd ereignete. Die Vorgänge in den Generalkonsulaten kommentierend, sagte er lediglich ironisch: „Wenn die deutschen Kriegsgefangenen der Meinung waren, daß ihre Konsuln keine entsprechenden Vertreter des revolutionären Deutschland sind, so waren wir nicht in der Lage, sie eines besseren zu belehren.“12 Aus Freude über die deutsche Revolution wurden in Moskau Umzüge und Massenveranstaltungen organisiert und am Abend feierte man das Ereignis mit einem Bankett, das die Sowjetführung im Refektorium des Čudov-Klosters13 im Kreml’ gab.14 Lenin, der gesellige Veranstaltungen mied, fehlte dabei wie üblich, ebenso Trockij, der sich an die Bürgerkriegsfront begeben hatte. Ansonsten hatte sich die Sowjetprominenz nahezu vollzählig eingefunden. Das Mahl war sehr frugal und Kaffee das stärkste Getränk, mit dem man Toasts auf die Weltrevolution ausbrachte. Radek, aufgekratzt und geistsprühend wie immer, beschrieb seiner Umgebung mit dichterischer Freiheit die Revolutionsszenen, die sich im Moment in Berlin abspielen mussten. Gutgelaunt riss er angesichts der zahllosen Ansprachen, die den Abends 10 Brandt/Lowenthal, S. 109; Paquet-Tagebuch (10. November 1918), S. 227ff. und ebenda (11. November 1918), S. 239; Schlesinger, S. 32. 11 Paquet-Tagebuch (12. November 1918), S. 238. 12 Fernschreibgespräch Radek – Haase am 16. November 1918. Baumgart, Deutsche Ostpolitik, S. 363. 13 Das Čudov Kloster wurde 1932 abgerissen und an seiner Stelle das Gebäude des Präsidiums des Obersten Sowjets errichtet. 14 Auch Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918, S. 360f., schreibt, man habe am 10. November 1918 ohne Lenin den Sturz der kaiserlichen Regierung im Kreml’ feierlich begangen. Unzutreffend ist allerdings seine Feststellung, dass Lenin am nächsten Morgen zum ersten Mal seit dem KaplanAttentat wieder im Kreml’ erschienen sei und vom Balkon herab eine Rede an das Volk gehalten habe, über deren begeisterte Aufnahme Radek berichtet habe. Es liegt eine Verwechslung mit Lenins Rede aus Anlass der österreichisch-ungarischen Revolution vom Balkon des Moskauer Sowjets am 3. November 1918 vor.

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begleiteten, Witze über die Stoßarbeit, der sich die Redner befleißigten. Ihre Ausführungen wurden immer wieder von Heiterkeitsausbrüchen aus der Ecke des Saales, in der Radek saß, unterbrochen. Weit nach Mitternacht baute jemand ein Grammophon auf und man begann zu tanzen.15 Philips Price, dem wir diese Schilderung verdanken, tanzte in jener Nacht die Mazurka mit „Madame Litvinoff [Litvinov]“16 und nicht mit der Frau seines Freundes Radek. Rosa Radek, die sich bei den ausländischen Journalisten ein Renommee wegen der Kriegsgefangenenarbeit im Centroplen und ihren mit kleingehacktem Lauch belegten Sandwiches erworben hatte17, sah Mutterfreuden entgegen und war möglicherweise bereits Mutter. „Frau Radek, in schwarzseidenem Kleid, bleich, schon Mutter“18, notierte Alfond Paquet am 14. November nach einem Besuch im Metropol’ in sein Tagebuch. In den Tagen der deutschen Novemberrevolution war Radek Vater einer Tochter geworden, eines Kindes das er abgöttisch liebte. Die Eltern gaben ihm nach Radeks Mutter Sophie, den Vornamen Sofija und riefen sie Sonja. In Moskau war man bestrebt, Einfluss auf die Entwicklung im revolutionären Deutschland zu nehmen, wobei man sich aber über die dortigen Machtverhältnisse anfangs Illusionen machte. Im Verlauf des Krieges waren innerhalb der deutschen Sozialdemokratie zwei in Opposition zur patriotischen Kriegspolitik der SPD stehende Linksgruppen entstanden: Die pazifistisch orientierten Unabhängigen Sozialdemokraten um Haase, Bernstein und Kautsky, die 1917 eine eigene Partei, die USPD, gebildet hatten und die in verschiedene radikale Splittergruppen zerfallende revolutionäre Linke. Die wichtigste dieser linksradikalen Organisationen war die Spartakusgruppe, die sich als loser Zirkel innerhalb der USPD um Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Leo Jogiches zusammengefunden hatte. Sofort nach der Revolution traten sie an die Öffentlichkeit und schufen sich mit der Herausgabe der Zeitung „Die Rote Fahne“ ab 11. November ein eigenes Organ. Am gleichen Tage änderten sie den Namen in Spartakusbund und etablierten eine Zentrale im Hotel Excelsior am Anhalter Bahnhof in Berlin. Sie betrachteten sich jedoch nicht als Partei, sondern verblieben weiter in der USPD, um als kleine aktive Kaderorganisation die Radikalisierung der Partei voranzutreiben. Weitere Splittergruppen waren – die von Ernst Däumig19 geführten Revolutionären Obleute als eine Organisation radikaler Gewerkschaftsfunktionäre in Berlin. 15 Price, My Reminescences of the Russian Revolution, S. 349f. 16 Ehefrau von Maksim Maksimovič Litvinov; (1876–1951) Sowjetdiplomat; 1930–1939 Volkskommissar des Äußeren. 17 Ransome, Russia in 1919, S.  52. Ransome bezeichnet (ebenda) Rosa Radek als Vorsitzende des Centroplen. Der Leiter des Komitees war zu dieser Zeit jedoch I. S. Unšlicht, sodass Rosa Radek nur als seine Stellvertreterin in Frage kommt. Siehe auch oben, Kaüitel 8, Anm. 25. 18 Paquet-Tagebuch (14. November 1918), S. 242. 19 Däumig, Ernst (1866–1922); ehemaliger Fremdenlegionär; bis 1916 Redakteur des „Vorwärts“; 1917 Mitbegründer der USPD und auf ihrem linken Flügel; einer der Führer der Revolutionären Obleute; 1920 Mitvorsitzender der VKPD; 1921 Mitbegründer der Kommunistischen Arbeitsgemeinschaft.

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– die Bremer Linksradikalen unter Führung von Radeks alten Freunden Knief und Frölich, die in der „Arbeiterpolitik“ leninistische Prinzipien offen propagierten und sich in einem Aufruf am 9. November 1918 zum Sowjetmodell bekannten: „Zur Erzwingung und Übernahme der politischen Gewalt bilden die Arbeiterräte die Grundlage in Verbindung mit den Soldatenräten.“20 Vierzehn Tage danach beschlossen sie, sich in Internationale Kommunisten Deutschlands (IKD) umzubenennen. – eine aus etwa 200 Jugendlichen und Werftarbeitern bestehende linksradikale Gruppe in Hamburg unter Führung von Heinrich Laufenberg. Radek und Čičerin setzten auf Liebknecht als Führer der deutschen Revolution. Sie litten unter der allzu menschlichen Schwäche, das zu sehen, was sie zu sehen wünschten und glaubten, Liebknecht habe an der Spitze eines Berliner Sowjets gemeinsam mit den USPD-Linken die faktische Macht an sich gerissen.21 Radek versuchte ohne Erfolg bereits am 10. November morgens um sechs Uhr über den Hughes-Telegraphen zum Berliner Auswärtigen Amt den vermuteten Führer der Revolution Karl Liebknecht oder die USPD- Politiker Cohn und Hoffmann22 zu erreichen.23 Am 11. November richtete Moskau einen direkten Appell an die deutschen Proletarier: „Gebt die Waffen nicht aus der Hand. […] Es gilt mit den Waffen in der Hand wirklich die Macht überall zu übernehmen, eine Arbeiter-, Soldaten- und Matrosenregierung mit Liebknecht an der Spitze zu bilden.“24 In den folgenden Tagen benutzte man das von Kommunisten besetzte deutsche Generalkonsulat in der Denežnyj pereulok, das in Moskau über die einzige funktionierende direkte Fernmeldeverbindung nach Berlin verfügte, als Kommunikationsbrückenkopf und versuchte weiter Kontakt mit Liebknecht aufzunehmen. Paquet, der dort Čičerins vergebliche Bemühungen verfolgte, den vermuteten Führer der deutschen Revolution 20 Merz, S. 48. 21 Vgl. Price, My Reminescences of the Russian Revolution, S. 350. 22 Adolf Hoffmann (1858–1930); ursprünglich Reichstagsabgeordneter der SPD; wechselte 1917 zur USPD und später zur KPD. 1918/19 preußischer Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. 23 Paquet-Tagebuch (10. November 1918), S. 226f. Radek berichtet, er habe folgenden Dialog mit dem verdutzten Telegraphisten des Auswärtigen Amtes geführt: „,Wer ist am Telefon? – Der Telegraphist des Außenministeriums in Berlin […]. Es ist niemand im Ministerium. Alle sind weggegangen. – Dann schicken Sie jemand, um Haase und Liebknecht zu suchen! – Es ist niemand zum Schicken da. – Ich befehle es Ihnen im Namen des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees der Sowjets und Ihrer Verantwortung gegenüber dem Arbeiter- und Soldatenrat Berlins!‘ Schweigen. Aber die Verbindung ist nicht unterbrochen. Der Apparat tickt: Berlin, Berlin, Berlin. Schließlich die Antwort: ,Gut. Ich gehe suchen‘.“ Radek, Nojabr’, S.  122. In einer weiteren Version dieser Episode schreibt Radek, er habe den Befehl zur Suche auf Weisung Sverdlovs erteilt, der bei dem Gespräch anwesend war und verhindern wollte, das Schicksal der deutschen Revolution „einer lächerlichen Beamtenseele preiszugeben, die nicht gehorchen würde, wenn man ihr nicht hart befahl.“ Radek, „Ja. M. Sverdlov“, in: Portrety i pamflety, S. 38. 24 Krummacher/Lange, S. 58.

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zu sprechen, stimmte das nachdenklich und er empfand es als „eigentümlich“, dass es selbst nach drei Tagen dem russischen Kommissar des Auswärtigen nicht gelungen war mit Liebknecht persönlich in Verbindung zu treten.“25 Čičerin gelang es allerdings, mit dem USPD-Reichstagsabgeordneten Dr. Oscar Cohn Fernschreibkontakt herzustellen. Er schlug ihm ein „Schutz- und Trutzbündnis der Räterepubliken“ vor, das Cohn als „wichtige Anregung“ seiner Partei übermitteln wollte. Zugleich kündigte Čičerin die baldige Lieferung von Brotgetreide an. Die russische Regierung beabsichtige, Zinov’ev, Radek und Petrov „zwecks Organisierung der Getreidezufuhr aus Rußland“ nach Berlin zu entsenden.26 Schon im Oktober 1918 waren erste Vorbereitungen für diese Lebensmittelhilfe angelaufen27 und Radek hatte damals Paul Levi mitgeteilt: „Und wenn wir euch in der Erklärung vom 3. Oktober sagten, dass wir uns vorbereiten, um der deutschen Revolution mit Brot und Menschen zu dienen , so ist das keine Phrase.“28 Vor den Arbeitern der Prochorovo-Textilfabrik in Moskau feierte Radek nun die Ereignisse in Deutschland als „einen großen Sieg für Sowjetrußland“, der aber gleichzeitig bedeute, dass man die deutschen Arbeiter mit Brot unterstützen müsse: „Wir werden hungern, aber wir werden unseren deutschen Brüdern helfen.“29 Das VCIK hatte in freudiger Aufwallung über die Novemberrevolution die Entsendung von zwei mit 50.000 Pud Getreide und Mehl beladenen Eisenbahnzügen an die deutschen Arbeiter bewilligt. Diese Solidaritätsbekundung war allerdings nicht völlig uneigennützig, denn man hoffte auf die Gegenlieferung von dringend benötigten Gütern, wie Munition, Pharmazeutika und Kohle.30 Es war geplant die Hilfssendung am 13. November in Marsch zu setzen und Radek sagte zu Paquet, er wolle mit dem Transport nach Berlin mitfahren. Paquet, ohne Verständnis für den ideologischen Aspekt der internationalen proletarischen Solidarität, fand das ganze höchst verwunderlich: „Es ist zum Staunen. Das sind etwas über 1 Million kg Getreide, die in einer mittelgroßen Stadt für einen Tag reichen.“ In Anbetracht der in den russischen Städten herrschenden Hungersnot kam er zu dem Schluss, die Hilfsaktion diene vorrangig Propagandazwecken und er fragte sich misstrauisch: „Sind diese Getreidewagen das trojanische Pferd, durch das Radek nach Deutschland will?“31 Nachdem sich der deutsche Soldatenrat in Kovno jedoch weigerte, die Getreidezüge die Demarkationslinie bei Minsk passieren zu lassen32, fiel die von Radek beabsichtigte Fahrt nach Berlin aus. 25 Paquet-Tagebuch (12. November 1918), S. 231. 26 Aufzeichnung Legationsrat von Thermann vom 12. November 1918. Paquet-Tagebuch, Anm. 91, S. 234f. 27 Vgl. oben, Kapitel 8, Anm. 166 und 173. 28 Radek an Levi, 25. Oktober 1918. Quack, S. 138. 29 Radek, Nojabr’, S. 122. 30 Baumgart, Deutsche Ostpolitik, S. 361 und Rosenfeld, S. 150. 31 Paquet-Tagebuch (12. November 1918), S. 235. 32 Baumgart, a.a.O.

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Eine gewisse Ernüchterung war im Narkomindel bereits eingetreten, als Liebknecht unerreichbar blieb und die Zusammensetzung des ohne ihn von SPD und USPD gebildeten Rates der Volksbeauftragten bekanntgeworden war.33 Mit den SPD-Vorstandsmitgliedern Ebert und Scheidemann – beide erklärte Gegner der bolschewistischen Revolution – war Radek seit der Göppinger Affäre von 1912, beziehungsweise seit dem 4. August 1914 unwiderruflich verfeindet. Insbesondere Scheidemann bekämpfte er polemisch als einen Hauptgegner. Gespannt war das Verhältnis zu den USPD-Führern Haase und Dittmann, die dem rechten Flügel ihrer Partei angehörten. Radek hatte sie noch bei der dritten Zimmerwaldkonferenz 1917 in Stockholm Sozialpazifisten genannt und als Pseudorevolutionäre abqualifiziert. Lediglich Emil Barth34, Metallarbeiter und Spartakist, den er noch aus seiner Zeit in Berlin kannte35 und der jetzt Vorsitzender des Berliner Arbeiter- und Soldatenrates war, entsprach Radeks Erwartungen an ein Mitglied der deutschen Revolutionsregierung. Er war der Vertrauensmann der Revolutionären Obleute. Seine Wahl zum Volksbeauftragten für Gesundheits- und Sozialwesen hatte eine Konzession an die radikalen Linken bedeutet. Sie verfügten aber damit in der provisorischen Regierung genauso wenig über eine Mehrheit, wie im „Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte von Groß-Berlin“, der eigentlich als eine linke Gegenregierung fungieren sollte. Den linken Unabhängigen, den Spartakisten und den Revolutionären Obleuten, war es nicht gelungen Positionen an sich zu bringen, von denen aus sie den Kampf für ein Rätesystem nach bolschewistischem Vorbild hätten führen können. Dennoch hoffte man in Moskau, über die im Rat der Volksbeauftragten vertretenen USPD-Mitglieder Einfluss auf die deutsche Revolution gewinnen zu können. Eine Fehlkalkulation, wie sich schlagartig am 16. November herausstellte, als der Rat der Volksbeauftragten die angebotene Getreidehilfe zurückwies. In seinen Novembererinnerungen berichtet Radek mit bitteren Worten über dieses erste und entscheidende Fernschreibgespräch Moskaus mit einem Regierungsvertreter des revolutionären Berlin. Im Außenkommissariat habe man ihm aus dem besetzten deutschen Konsulat telefonisch mitgeteilt, dass Berlin anrufe. Er sei daraufhin mit Čičerin in die Denežnyj pereulok gefahren, wo man sich die Nutzung des deutschen Fernschreibgeräts gesichert hatte: „Als erstes kam der Abgeordnete Oscar Cohn an den Apparat. Er informierte mich kurz über die Lage. […] Dann teilte er mit, daß nun der zweite Vorsitzende des Rates der Volksbeauftragten an den Apparat kommen würde, der Volksbeauftragte für Auswärti33 Der Rat der Volksbeauftragten setzte sich aus je drei Politikern der SPD und der USPD paritätisch zusammen: Die SPD-Mitglieder waren Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann, Otto Landsberg. Die USPD war vertreten durch Hugo Haase, Wilhelm Dittmann, Emil Barth. Den Vorsitz führten gemeinsam Ebert und Haase. 34 Barth, Emil (1879–1941); Klempner; seit 1906 SPD-Mitglied; 1917/18 in der Spartakusgruppe tätig; November – Dezember 1918 für die USPD Mitglied im Rat der Volksbeauftragten. 35 Paquet-Tagebuch (14. November 1918), S. 241.

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ges, Hugo Haase. Er übermittelte uns mit Advokatenhöflichkeit den Gruß des Rates der Volksbeauftragten und seinen Dank für unser Anerbieten, Brot zu senden. Dann machte er eine Pause. Beklommenes Schweigen. Ich fühlte mein Herz schlagen. Genosse Čičerin und ich standen da, ohne einen Blick vom Telegraphenband zu lassen. Langsam begannen uns die Buchstaben zu erscheinen. ,Da wir aber wissen, daß in Rußland Hunger herrscht, bitten wir das Brot, daß sie der deutschen Revolution opfern wollen, den Hungernden in Rußland zukommen zu lassen. Der Präsident der amerikanischen Republik, Wilson, hat Deutschland die Einfuhr von Brot und Fett garantiert, die erforderlich sind, um die Bevölkerung durch den Winter zu bringen […].‘“36

Der präzise Wortlaut der Mitteilung Haases war: „[…] Glücklicherweise hat auf unsere Schritte bei dem Präsidenten Wilson hin sich die Möglichkeit eröffnet, dass uns von Übersee Lebensmittel geliefert werden. So sind wir in der Lage, einstweilen auf das hochherzige und überaus dankenswerte Anerbieten Ihrer Regierung zu Gunsten der russischen Bevölkerung verzichten zu können […].“37

Der von Haase übermittelte Text wirkte auf die Sowjetführer, zumal in dieser Form, wie eine Ohrfeige. Radek entrüstete sich: „Der Führer der deutschen Revolution, Haase, bekommt von dem Führer der amerikanischen Plutokratie Wilson, Brot und Speck. Er braucht die Hilfe der russischen Revolution nicht“, und in Anspielung auf die von den sozialdemokratischen Abgeordneten 1914 bewilligten Kriegskredite quittierte er die Entscheidung der Volksbeauftragten giftig: „Ein zweites Mal beging Judas Ischariot am [vom] 4. August einen Verrat.“38 „Als wir am Fernapparat standen“, berichtete Radek später, „und dieses Antwortschreiben erhielten, da fühlten wir, daß damit das Band, das trotz aller Kritik von Zimmerwald und Stockholm bestanden hatte, schneidend zerrissen wurde.“39 Den Bruch mit dem linken Flügel der Sozialdemokratie hatte er allerdings in erheblichem Maße mitverschuldet. Siegestrunken und ohne genaue Kenntnis darüber, wie in Deutschland die alten und neuen Machtfaktoren verteilt waren, forderte er am Fernschreibapparat zusammen mit Čičerin unter anderem ein gemeinsames Vorgehen deutscher und bolschewistischer Truppen gegen die Alliierten Streitkräfte am Schwarzen Meer, die sofortige Rückkehr von Botschafter Ioffe nach Berlin sowie Agitationsfreiheit für bolschewistische Propagandisten unter den französischen und britischen Kriegsgefangenen in Deutschland und an der Westfront. Ein Eingehen auf diese Wünsche hätte für Deutschland den unmittelbaren Konflikt mit den Siegermächten nach sich gezogen. 36 Radek, Nojabr’, S. 122f. Vollständiger Gesprächswortlaut in: Ritter/Miller, S. 343–351. 37 Von Haase übermittelter Telegrammentwurf des Auswärtigen Amtes an Čičerin vom 16. November 1918. Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918, S. 362. 38 Radek, Nojabr’, S. 123. 39 Radek vor der Komintern in einer Sitzung in Moskau am 29. Juli 1920. Ebenda.

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Als Haase aus diesem Grunde ziemlich einsilbig reagierte, wiederholte Radek die Forderungen in schrofferer und ultimativer Form.40 Er begehrte Antwort innerhalb von zwölf Stunden, ob die deutsche Regierung wenigstens bereit sei, bolschewistische Agitatoren ungestört in die besetzten russischen Gebiete einzulassen und verlangte zudem einen Bescheid innerhalb von drei Tagen über die Räumung Weißrusslands und des Baltikum durch die deutschen Truppen. Anderenfalls erhalte die Rote Armee Handlungsfreiheit. Er fügte hinzu: „Wir sind nicht gewöhnt zu warten, wo die Lage rasches und energisches Handeln erfordert. Und falls die deutsche Regierung nicht alles tut, um sich schleunigst mit uns über die Regelung der Fragen zu einigen, so werden wir genötigt sein, aus eigener Initiative und auf eigene Faust das zu tun, was die Lage erfordert.“41

Haase versprach, dem Kabinett die Fragen zur raschen Entscheidung vorzulegen und beendete das Gespräch mit „allerlei Liebenswürdigkeiten“ an die Adresse der Sowjets.42 Ins Metropol’ zurückgekehrt, ließ Radek seiner Unzufriedenheit über Haase freien Lauf. Er diktierte sofort einen Leitartikel für die „Izvestija“, in dem er „heftige Vorwürfe gegen die neue deutsche Regierung“ erhob. Die Bol’ševiki seien nicht geneigt zu warten, bis Ebert und Haase die Schule der Revolution durchgemacht hätten.43 Voller Enttäuschung und in grenzenloser Wut gegen den seiner Meinung nach vor Ebert kuschenden Haase tobte er, „er werde ihn mit Fußtritten regalieren, bis er wieder gerade stehe.“44 Lenin, dem Čičerin das Ergebnis des Gesprächs mit Haase vortrug, reagierte wesentlich gelassener und meinte, es sei wenig aussichtsvoll, weiter zu versuchen, mit der Berliner Revolutionsregierung Verbindung aufzunehmen: „Es kommt nichts dabei heraus, wir müssen die Sache aufgeben.“45 Radek berichtet, nach der Unterredung mit Haase, sei die Lage „völlig klar“ gewesen. In einem zweiten Versuch, Einfluss auf den Gang der Dinge in Deutschland zu gewinnen, habe man sich deshalb unmittelbar an die Berliner Arbeiterschaft gewandt: „Noch in der Nacht wurde ein langes Telegramm an den Berliner Arbeiter- und Soldatenrat gefunkt, das die Politik von Ebert und Haase als eine Politik der Zusammenarbeit der alliierten Bourgeoisie gegen die russische und die deutsche Revolution charakterisierte. Wir teilten dem Berliner Rat den Wunsch des Allrussischen Exekutivkomitees mit, eine 40 Baumgart, a.a.O., S. 363. 41 Radek, Nojabr’, S. 124. 42 Ebenda. 43 Radek: „Vnešnjaja i okkupacionnaja politika Germanskogo Revoljucionnogo pravitel’stva [Die Außen- und Besatzungspolitik der deutschen Revolutionsregierung]“, „Izvestija“ Nr. 250 vom 16. November 1918, S. 1. Paquet-Tagebuch (16. November 1918), S. 245. 44 Paquet-Tagebuch (16. November 1918), S. 245. 45 Baumgart, Deutsche Ostpolitik, S. 363, Anm. 125.

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Delegation zu dem geplanten deutschen Rätekongreß zu entsenden. In derselben Nacht schrieb ich die Broschüre, die zur Verbreitung unter den deutschen Soldaten bestimmt war und den Titel trug: ,Trau, schau, wem‘.“46

Die sechzehnseitige Broschüre „Die deutsche Revolution: oder trau, schau, wem?“ erschien unter Radeks Pseudonym Arnold Struthahn. Er polemisierte darin gegen die Führer der USPD, die seiner Meinung nach zu Verrätern an der deutschen Revolution geworden seien. Dennoch betrachtete er mit Rücksicht auf die Sicherheitsinteressen Sowjetrusslands die Beziehungen zu der von ihm geschmähten Berliner Revolutionsregierung keineswegs als beendet. Alfons Paquet, der sich am 18. November 1918 anschickte, nach Deutschland zurückzukehren, gab er als informelle Botschaft mit auf den Weg, die Sowjetregierung sehe im Rat der Volksbeauftragten „zwar keinen Gesinnungsgenossen, aber doch [die] Möglichkeit engeren Zusammenarbeitens als früher.“ Auch wenn die deutsche Regierung gegenüber der Entente in einer schwierigen Lage sei und zu Kreuze kriechen müsse, „k ö n n e und dürfe [sie] aber die russische Republik und die Sache des Proletariats nicht verraten.“ Er fügte hinzu, Moskau müsse jetzt wenigstens über drei essentielle Fragen Gewissheit erhalten: - Welche Verpflichtungen ist die deutsche Regierung gegenüber der Entente in Bezug auf Russland eingegangen? „Er könne sich nicht denken, dass sich Ebert oder Haase über die Tragweite aller militärischen Abmachungen im klaren sei[en].“ – Ist Deutschland zur Überlassung von Waffen an Sowjetrussland bereit? England wisse nicht, über welche Waffenbestände die deutschen Streitkräfte im Westen und in den von ihnen besetzten russischen Gebieten verfügten. Man könne deshalb ihre Auslieferung sabotieren, „besonders aber im Osten mit der Sowjetregierung eine diskrete Verständigung herbeiführen, so etwa, daß die deutschen Soldaten in Rußland ihre Waffen im Ramsch verkaufen.“ – Welche Maßnahmen ergreift Berlin, um zu verhindern, dass die deutschen Besatzungstruppen auf russischem Gebiet militärisch gegen die Bol’ševiki vorgehen? „Wenn [die] deutsche Regierung nicht schnell in den okkupierten Gebieten durch Entsendung von Kommissaren eingreife, die dafür sorgen, daß die dortigen Soldatenräte unter Führung der Offiziere keine konterrevolutionäre Politik machen, dann bürge auch [die] Sowjetregierung ihrerseits für nichts. [Sie] Habe schon Scharen von Agitatoren ins besetzte Gebiet gesandt, die den Soldaten Schonung verheißen, für jeden getöteten Arbeiter aber Offiziere abschießen. Prämien dafür ausgesetzt […].“ Besonderes Augenmerk richtete er auf die Lage im Baltikum. Großbritannien könne dort versuchen einen estnischen Staat unter seinem Protektorat auszurufen und die Insel Ösel zu einem englischen Gibraltar in der Ostsee zu machen. Das zu verhindern, läge im gemeinsamen deutsch-russischen Interesse. „Es müßten Sowjets in den besetzten Gebieten gegründet werden, diese würden dann als solche den Kampf gegen die Engländer aufnehmen.“ Gegenüber Finnland werde Sowjetrussland 46 Radek, Nojabr’, S. 124.

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stillhalten, wenn Deutschland die dort gefangengenommenen finnischen Rotgardisten freigebe. Abschließend fügte er hinzu: „So lasse sich eine Menge ,diskrete Arbeit‘ machen.“ Paquet, von Radeks plötzlichen arkanpolitischen Neigungen überrascht, stellte erstaunt fest: „Der Gegner der geheimen Diplomatie als ihr Restaurator!“47 Der Vorschlag eines Schutz- und Trutzbündnisses, die Fernschreiberaffäre sowie die drei Tage zuvor erfolgte einseitige Aufkündigung des Brester Friedensvertrages durch Sowjetrussland nötigten die provisorische deutsche Regierung das Verhältnis zu Moskau zu klären. Am 18. November, demselben Tag, an dem Radek seine Vorstellungen über eine „diskrete“ deutsch-sowjetische Kooperation formulierte, berieten die Volksbeauftragten in Berlin. Sie lehnten die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen ab und wiesen die sowjetischen Angebote zurück, indem sie das Reich für neutral erklärten.48 Eine Rolle bei dieser Entscheidung spielten zwar auch die „Funksprüche, in denen die Sowjetregierung die deutsche Regierung beschimpft und die Arbeiter auffordert[e] sie zu stürzen“, aber ausschlaggebend war dafür letzten Endes die berechtigte Sorge vor Repressalien der Siegermächte, die gegen die Rückkehr Ioffes und einen gegen die Entente gerichteten prosowjetischen Kurs „sofort mit allen Mitteln“ einschreiten würden.49 Die deutsche provisorische Regierung hatte Moskau eine eindeutige Abfuhr erteilt. Dennoch schien es zunächst, als sei dem doppelgleisigen Vorgehen Radeks doch noch Erfolg beschieden, als die vom Berliner Arbeiter- und Soldatenrat angeforderte Einladung zum Ersten Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands einging. „Wir erhielten eine von Brutus Molkenbuhr50 unterschriebene Einladung zum deutschen Rätekongreß“51, schreibt Radek, und auf seinen Vorschlag hin, stellte Sverdlov als Vorsitzender des VCIK eine Delegation zur Teilnahme an dem in Berlin für Mitte Dezember anberaumten Kongress zusammen.52 Neben Radek gehörten ihr Ioffe, Rakovskij und Bucharin als die besten Deutschlandkenner der Bol’ševiki 47 Paquet-Tagebuch (18. November 1918), S. 251f. 48 Die Neutralität blieb allerdings vielfach theoretisch und eher dem Westen zugeneigt. Im Baltikum kämpften deutsche Verbände gegen die Rote Armee und in der Ukraine agierten sie völlig im Sinne der Waffenstillstandsbedingungen als Platzhalter für die Entente-Truppen. Krummacher/Lange, S. 60. 49 Protokoll der Kabinettssitzung vom 18. November 1918 (Auszug). Krummacher/Lange, Dokument 6, S. 469. 50 Molkenbuhr, Hermann (1851–1927); SPD- Politiker; galt als „Vater der deutschen Sozialpolitik“ und gehörte dem Reichstag 1890–1924 an. Ende 1918 war er Schriftführer des Berliner Arbeiterund Soldatenrates. Radek schmäht ihn als „Brutus“, weil er zu denjenigen Mehrheitssozialdemokraten zählte, die die Radikalisierung der deutschen Revolution verhindert und sie damit, seiner Auffassung nach, gemeuchelt haben. 51 Radek, Nojabr’, S. 124. 52 Radek, „Ja. M. Sverdlov“, in: Portrety i pamflety, S. 38. Bucharin und auch Rakovskij (Enzyklopädie Granat, čast’ II, Sp. 186) behaupten, auch Julian Marchlewski habe zu der Delegation gehört. Radek bestreitet das: „Genosse Bucharin irrt sich in seinen Erinnerungen in Bezug auf den Genossen Marchlevskij: Genosse Marchlevskij war nicht in der Delegation, er wurde im Januar 1919 nach Deutschland geschickt.“ Radek, „Ja. M. Sverdlov“, a.a.O.

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an, sowie der Gewerkschaftsfunktionär Ignatov53 als waschechter Vertreter des russischen Proletariats. Ioffe, bis vor kurzem Gesandter in Berlin, mit engsten Beziehungen zur USPD-Linken, war der Organisator der bolschewistischen Wühlarbeit vor Ort gewesen. Christian Rakovskij, der spätere Präsident der Sowjetukraine und Radek seit Zimmerwald bekannt, kannte die Deutschen aus den von ihm im Auftrag der Bol’ševiki geführten Verhandlungen über die Unabhängigkeit der Ukraine und einen Separatfrieden. Der auslandserfahrene Bucharin hatte sich noch im Herbst 1918 zu Wirtschaftsverhandlungen in Berlin aufgehalten, eine wachsende Gärung unter den Arbeitern beobachtet und die „Bildung eines linken Flügels der Unabhängigen [Sozialdemokraten], der Kurs auf die Revolution nahm“, registriert“.54 Vor der Abreise besprachen Lenin und Sverdlov mit den Delegationsmitgliedern „die Linie des Verhaltens auf dem Kongreß.“55 Ob ein konkreter Auftrag erteilt wurde, bleibt jedoch unklar und ist aus dem verfügbaren Quellenmaterial nicht zu erschließen.56 Mit besorgtem Gesicht hielt Lenin anschließend Radek noch zurück, um unter vier Augen mit ihm zu sprechen: „Ein ernster Augenblick beginnt“, leitete er das Gespräch ein, „Deutschland ist zerschlagen. Der Weg der Entente nach Rußland ist frei. Selbst wenn Deutschland nicht an dem Feldzug gegen uns teilnimmt, haben die Alliierten jetzt die Hände frei.“ Er sah bereits die alliierten Armeen in die Ukraine einfallen. Radek meinte hingegen: „Die Truppen, die sich nach Frieden sehnen, werden kaum gegen uns kämpfen wollen.“ Auf Lenins Einwand, dann werde die Entente eben Kolonialtruppen einsetzen und auf die Frage, ,wie werden Sie unter ihnen agitieren ?‘, entgegnete er: „Wir werden mit Bildern agitieren. Aber die farbigen Truppen werden kaum unser Klima ertragen. Wenn die Revolution in den Ländern der Alliierten auf sich warten läßt und sie es schaffen die Truppen in das Land der Revolution zu schicken, dann werden diese Truppen hier zersetzt.“ Wir werden sehen“, war Lenins skeptische Antwort.57 Dann kam man auf Radeks bevorstehende 53 Ignatov, Efim Nikitovič (1890–1937); Arbeiter, bolschewistischer Revolutionär und Streikagitator; sowjetischer Gewerkschaftsfunktionär; führte 1921 die als „Ignatovcy“ bezeichneten Gewerkschaftler, die sich der sogenannten Arbeiteropposition anschlossen; 1937 hingerichtet; unter Gorbačev rehabilitiert. 54 Radek, Nojabr’, S. 120. 55 Ebenda, S. 125. 56 Vgl. Goldbach, S. 18. 57 Radek, Nojabr’, S. 125. Radek schreibt (ebenda), Lenin habe 1920 in einer Rede an dieses Gespräch erinnert. Tatsächlich hat Lenin, der später meinte den Sachverhalt in der „Izvestija“ gelesen zu haben, mehrfach auf Radeks Beurteilung des Kampfwertes der alliierten Streitkräfte Bezug genommen und ihm nachträglich rechtgegeben: –  Lenin im „Politischen Bericht des ZK auf der Gesamtrussischen Konferenz der KPR(B)“ am 2. Dezember 1919: „Ich entsinne mich, daß in einem Artikel, ich glaube von Radek, davon die Rede war, daß die Truppen der Entente, sobald sie den heißen Boden Rußlands berühren, das das Feuer der sozialistischen Revolution entfacht hat, selbst von den Flammen erfaßt würden. Die Wirklichkeit hat gezeigt, daß es in der Tat so gekommen ist […] die Entente war gezwungen ihre Truppen zurückzuziehen. Allein das war für uns der erste große Sieg.“ Lenin, Werke, Band 30, S. 160.

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Berlinmission zu sprechen. Lenin, erinnert sich Radek, „begann, mich für die Arbeit zu instruieren, wenn ich in Deutschland bleiben sollte“: „,Denken Sie daran, daß Sie im Rücken des Feindes arbeiten werden. Die Intervention [der Alliierten in Rußland] ist unausbleiblich, und vieles wird von der Lage in Deutschland abhängen.‘ ,Die deutsche Revolution ist ein zu großes Ereignis, als daß man sie als eine Diversion im Rücken des Feindes auffassen könnte‘, erwiderte ich empfindlich. ,Ja‘, sagte Lenin, ,ich schlage Ihnen auch nicht vor, daß Sie die Ereignisse forcieren sollen. Sie werden sich nach den inneren Gesetzen der deutschen Revolution entwickeln.‘“58

Am folgenden Tag besprach man mit Sverdlov die „letzten technischen Fragen“ der Reise, die über das noch in deutscher Hand befindliche lettische Dünaburg59 nach Deutschland führen sollte. Er gab telefonische Anweisungen für die materielle Ausstattung der Delegation und verteilte aus der Hosentasche seines schwarzen Lederanzuges 200.000 Reichsmark als Reisegeld an seine fünf Genossen.60 Dann begleitete er die Gruppe zum Bahnhof, wo ein Lastkraftwagen gerade den von der Verpflegungskammer des VCIK georderten Reiseproviant angeliefert hatte. Radek, der sah, dass man zwei Fässer in den Zug der Delegation verlud, wurde neugierig: „Ich fragte, was das sei. Es war ein Faß mit Grütze und eins mit Honig. Sie hatten in der Wirtschaftsabteilung des VCIK etwas durcheinandergebracht, und wir sollten uns auf dem Weg zur deutschen Revolution von Grütze als Manna ernähren wie die alten Juden, die aus Ägypten, dem Land der Unfreiheit, ins Gelobte Land zogen. Ich schimpfte. Aber Sverdlov wies mich zurecht: ,Nimm, vielleicht könnt ihr es brauchen.‘“61







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–  Lenin im „Bericht des gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees und des Rats der Volkskommissare“ am 5. Dezember 1919: „Was Gen[osse]. Radek […] einmal schrieb, nämlich der vom revolutionären Feuer erfaßte Boden Rußlands werde den Ententetruppen zu heiß werden, und was bloße Begeisterung eines Publizisten zu sein schien, hat sich als Tatsache erwiesen, die haargenau eingetroffen ist.“ Lenin, Werke, Band 30, S. 198. –  Lenin im „Referat auf dem I. Gesamtrussischen Kongreß der werktätigen Kosaken „ am 1. März 1920: „Einer unserer Publizisten . Gen[osse]. Radek, schrieb einmal, daß der russische Boden sich als ein Boden erweisen werde, auf dem kein Soldat eines anderen Landes, wenn er ihn einmal betreten hat, werde kämpfen können. Es schien, er habe den Mund zu voll genommen, zu viel versprochen. Aber es kam wirklich so.“ Lenin, Werke, Band 30, S. 377. Radek, Nojabr’, S. 125. Lettisch: Daugavpils; russisch: Dvinsk. Radek, „Ja. M. Sverdlov“, a.a.O., S. 38f. Radek, Nojabr’, S. 125f. In „Ja. M. Sverdlov“, a.a.O., S. 39, beschreibt Radek die Szene folgendermaßen: „Nach einer Stunde kam ein Lastkraftwagen mit Lebensmitteln an, die für uns, aber auch für die bessere Ernährung von Liebknecht, Mehring, Rosa Luxemburg und anderer im Gefängnis schmachtender Genossen bestimmt waren. Wie groß aber war mein Erstaunen, als ich auf dem Lastwagen ein Faß Honig und ein Faß Grütze erblickte. Etwas war im Vorratslager des VCIK durcheinandergeraten, und wir sollten uns wie die alten Juden auf ihrer Reise von Ägypten nach

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In Dünaburg wurde die sowjetische Abordnung vom deutschen Soldatenrat freundlich empfangen, aber mit der Begründung aufgehalten, man müsse erst in Berlin rückfragen, ob die Regierung eine Weiterreise genehmige. Nach zweitägigem Aufenthalt erklärte am 15. Dezember 191862 ein deutscher Offizier im Namen von General Falkenhayn63, die Delegation werde nicht nach Berlin durchgelassen, sondern von bewaffneter Feldgendarmerie eskortiert über das litauische Vilna zurück nach Russland geschickt. Unterwegs zum Umsteigen aufgefordert, richtete man Maschinengewehre auf sie, um dem Befehl Nachdruck zu verleihen. Beim Aufenthalt auf dem weißrussischen Bahnhof Molodečna kam es zu einer Neuauflage von Radeks Frankfurter Soldatenverbrüderung. Der Delegierte Ignatov, mit seiner Berufserfahrung als Koch, hatte aus der mitgeführten Verpflegung Grütze und Honig – ein Mittagessen bereitet. Die auf dem Bahnsteig befindlichen deutschen Soldaten wurden eingeladen mitzuessen und in heftige Diskussionen verwickelt. Schließlich erreichte man durch die Wirren des deutschen Rückzuges im Schneetreiben das bereits von roten Truppen besetzte Minsk. Unter der Überschrift „In Gefangenschaft bei General Falkenhayn“ hat Radek später in seinen Novembererinnerungen diesen vergeblichen Versuch nach Deutschland zu kommen, farbig geschildert.64 Trotz des Fehlschlages gab Radek nicht auf. In Minsk traf er auf Werner Rakow (Deckname: Felix Wolf ) und Ernst Reuter (Deckname: Friesland), zwei seiner ehemaligen Moskauer Mitarbeiter. Rakow hatte mittlerweile unter den Soldaten der gerade abgezogenen deutschen Garnison in Minsk für die Bol’ševiki agitiert und einen Soldatenrat gegründet. Nun waren er und Reuter beauftragt worden, nach Deutschland zu gehen und dort die revolutionäre Entwicklung zu fördern. Radek schloss sich ihnen an und Rakow übernahm es, den Grenzübertritt zu organisieren. Zuvor bat Radek noch in Moskau um Genehmigung, mit der zurückweichenden deutschen Armee illegal nach Deutschland zu gelangen: „Ich wandte mich über ,Hughes‘ [den Hughes-Telegraphen] an Sverdlov mit der Frage, ob ich nicht mein Glück versuchen und mit den zurückgehenden deutschen Truppen illegal nach Berlin gehen sollte. Sverdlov gab ohne eine Minute zu zögern zur Antwort: Fahren Sie, ich ordne aber an, auf den Eilkurier mit den in meinem Namen als Vorsitzender des VCIK ausgefertigten Vollmachten zu warten.“ – „Sverdlov beriet sich mit Il’ič, und ich erhielt das Einverständnis des ZK [VCIK].“65

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Palästina von Grütze als Manna ernähren […]. Um die Wahrheit zu sagen, war ich wegen dieser zwei Fässer wütend und befahl, sie wieder aus dem Wagen auszuladen.“ Sverdlov habe ihn jedoch angewiesen, sie mitzunehmen und gesagt: „Grütze, so eine Grütze kann von Nutzen sein […].“ Horkenbach, Cuno: Das Deutsche Reich von 1918 heute, Berlin 1930, S. 44. Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 88. Falkenhayn, Erich von (1861–1922); preußischer Kriegsminister; 1914–1916 Chef des Generalstabes; 1918 als Oberbefehlshaber der 10. Armee in Weißrussland vorwiegend mit Verwaltungsaufgaben befasst. Radek, Nojabr’, S. 125–128. Radek, „Ja. M. Sverdlov“, a.a.O., S. 39 und Radek, Nojabr’, S. 128.

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Lenin, der den missglückten Versuch der offiziellen Delegationsreise mit bärbeißigem Humor zur Kenntnis genommen hatte – „so reisen keine Revolutionäre“ – war sich „sicher, daß Radek und Reuter durchkommen“ würden.66 Er sollte rechtbehalten. Über den Verlauf der abenteuerlichen Fahrt von Minsk nach Berlin berichtet Radek: „Wir fuhren mit dem Zug bis zum letzten von unseren Truppen besetzten Ort und von da mit zwei gemieteten Schlitten weiter. Ich, Wolf [Rakow], Reuter […] und ein Genosse aus der deutschen kommunistischen Bewegung67. Mit den Papieren deutscher Kriegsgefangener fuhren wir Tag und Nacht unter den im Rückzug befindlichen deutschen Truppen. Sie ließen uns durch, ohne zu fragen, wer wir seien.“68

In Vilna angekommen, kaufte Rakow für zwanzig Mark Entlausungsscheine und mit diesen Identitätsnachweisen versehen, besorgte er von einem österreichischen Offizier ein Papier, das die vier Genossen in heimkehrende österreichische Kriegsgefangene mit dem Recht zur Durchreise durch Deutschland verwandelte. „Am [nächsten] Morgen“, schreibt Radek, „zogen wir unter dem Kommando unseres Felix zum Bahnhof, fast wie eine österreichische Einheit.“ In einem Zug, „so voll, daß man nicht atmen konnte“, überquerte man bei Eydtkuhnen die Reichsgrenze und fuhr über Königsberg weiter. Nach einigen Stunden im Halbschlaf stiegen die Vier am 19. Dezember 1918 „schmutzig und zerdrückt“ in Berlin aus.69 Noch auf dem Bahnhof kaufte Radek „Die „Rote Fahne“ und las sie, vom militant-revolutionären Tenor überrascht, im Taxi zum Hotel. Ihm kamen erste Bedenken, ob die Spartakisten nicht vielleicht einen zu scharfen, ihrer tatsächlichen Kraft nicht entsprechenden Ton angeschlagen hätten: „Mir wurde angst. Der Ton der ,Roten Fahne‘ war wie vor der letzten Schlacht. Sie konnten die Lautstärke kaum noch steigern. Wenn sie nur nicht überspannten!“70 Unter seinem eigentlichen Namen Sobelsohn trug er sich im Hotel ein71 und suchte dann sofort die Redaktion der „Roten Fahne“ in der Zimmerstraße 41 auf. Hier traf er die Führer des Spartakusbundes, alles alte Bekannte aus der polnischen Sozialdemokratie, der SPD oder seiner Zeit in der Schweiz: Rosa Luxemburg, August Thalheimer, Karl Liebknecht und Paul Levi. Die Beziehungen zu ersterer waren seit seinem Hinauswurf aus der SDKPiL äußerst gespannt. Unverändert verab66 Brandt/Lowenthal, S. 112. Gleichzeitig kommentierte Lenin die Zurückweisung der VCIK-Delegation aber auch im Glauben an die Weiterentwicklung der deutschen Revolution mit Bedauern: „Wenn wir vier Wochen gewartet hätten, wären sie glatt durchgekommen.“ Ebenda. 67 Der vierte Mitreisende blieb unbekannt. 68 Radek, Nojabr’, S. 128. Werner Rakow benutzte den Pass des deutschen Schriftstellers Karl Felix Wolf und führte seither den Decknamen Felix Wolf. 69 Ebenda, S. 130–132. 70 Ebenda, S. 132. Rosa Luxemburg reagierte noch am gleichen Tage auf Radeks Bedenken mit der kühlen Bemerkung: „Wenn ein gesundes Kind geboren wird, dann schreit es und piepst nicht.“ Ebenda, S.133. 71 Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 94.

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scheute sie Radek und verlieh ihrer Aversion drastisch Ausdruck: „Wir brauchen keinen Kommissar für Bolschewismus, die Bolschewisten mögen mit ihrer Taktik zu Hause bleiben“. Offenbar kannte sie bereits Radeks Aufsatz „Die Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat“, die „Der Kommunist“, die neue Tageszeitung der Bremer Linken, unmittelbar vor Radeks Auftauchen in Deutschland abgedruckt hatte.72 Ihr war bewusst, dass Radeks Positionen in entscheidenden Passagen im Gegensatz zu dem von ihr verfassten Grundsatzprogramm „Was will der Spartakusbund?“ standen.73 Paul Levi musste deshalb erst intervenieren, um Lenins Abgesandtem einen korrekten Empfang durch Rosa Luxemburg zu ermöglichen.74 Auch das Verhältnis zu Thalheimer war seit der Mantelaffäre frostig. Demgegenüber begegnete Liebknecht ihm mit unkomplizierter Herzlichkeit und drückte ihn voller Wiedersehensfreude immer wieder an sich. In einem ersten kurzen Gespräch informierte er Radek über die politische Situation und teilte ihm aufgeregt mit, der bereits seit 16. Dezember tagende Rätekongress habe mit großer Mehrheit beschlossen, Wahlen zur Nationalversammlung durchführen zu lassen, dem Rat der Volksbeauftragten die Regierungsgewalt zu übertragen und dem Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte lediglich das Recht der parlamentarischen Überwachung zugestanden. Die Sozialdemokraten betrachteten die Revolution offensichtlich als beendet. Die Linksradikalen – 20 von 499 Delegierten – seien ohne Einfluss geblieben und mit ihren Forderungen nach Sozialisierung der Wirtschaft und Übernahme der Macht durch Arbeiter- und Soldatenräte gescheitert. Aufgrund dieser Informationen beschloss Radek, sich nicht damit aufzuhalten, den zu Ende gehenden Rätekongress im Zirkus Busch aufzusuchen. Er meinte, es sei „nutzlos dorthin zu gehen!“ und zog ernüchtert Bilanz: „,Wieviel Leute hatten wir da?‘ Es war überhaupt keine Fraktion der Spartakisten auf dem Rätekongreß. Laufenberg nahm mit einer Hamburger Gruppe eine Zwischenstellung ein […]. Und wie stand es im Berliner Arbeiter- und Soldatenrat? Auch dort hatten wir keine organisierte Gruppe. In der Provinz war es hier und dort besser. In Bremen hatten wir unter der Leitung von Knief einen bedeutenden Teil des Arbeiter- und Soldatenrates in die Hand bekommen. In Chemnitz war Brandler am Werk. ,Und wieviel Organisierte haben wir in Berlin?‘ fragte ich. ,Wir sammeln gerade erst die Kräfte. Als die Revolution begann, hatten wir in Berlin nicht mehr als fünfzig Mann.‘“75

Er verließ die Redaktion und fuhr mit Paul Levi in die Zentrale des Spartakusbundes, um Leo Jogiches zu treffen: 72 „Der Kommunist“ Nr. 1, 17, 19, 20 vom 27. November und 16., 18., 19. Dezember 1918. Der Abdruck von Radeks Aufsatz „Die Lehren der russischen Revolution“ folgte in „Der Kommunist“ Nr. 21 und 23 vom 20. und 22. Dezember 1918. 73 Goldbach, S. 22. 74 Vgl. oben, Kapitel 3, Anm. 109–111. 75 Radek, Nojabr’, S. 132.

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„Er war sehr alt geworden, mein alter Lehrer […]. Wir begegneten uns mit einer gewissen Spannung. Seit der Spaltung der polnischen Sozialdemokratie im Jahr 1912 hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen. Wir erwähnten das Alte nicht. Er fragte nach Lenin, Trotzki, Zinov’ev, Dzierzynski. Nach einigen Minuten war es schon wie früher – herzlich und einfach. ,Was ist‘, fragte er, ,wollen Sie bei uns nur als Vertreter des russischen ZK sitzen oder wie früher an die Arbeit gehen?‘“76

Der verlorene Sohn war zurückgekehrt und akzeptierte bereitwillig die Aufforderung, im Spartakusbund mitzuwirken. „Klar, daß ich an die Arbeit gehen wollte“, kommentiert Radek seinen Entschluss. Ein Abendessen im Hinterzimmer einer Arbeiterkneipe wurde verabredet. Als er mit Levi dort ankam, waren Luxemburg und Liebknecht bereits da. Nachdem Jogiches eingetroffen war, diskutierte man kontrovers über die Rolle des Terrors in der Revolution, wobei Radek die Praxis der bolschewistischen Gewaltanwendung beredt verteidigte.77 Im Mittelpunkt des Gesprächs stand jedoch die Frage, ob sofort eine eigene linksradikale Partei gegründet oder innerhalb der USPD auf die Revolutionierung der Massen hingewirkt werden sollte. Radek vertrat den Standpunkt Lenins. Schon 1916 hatte er in der Bremer „Arbeiterpolitik“ eine Parteispaltung als die eigentliche Aufgabe der Linksradikalen bezeichnet.78 Der Konzeption Lenins folgend, war für ihn die Schaffung einer Kaderpartei die Voraussetzung für eine erfolgreiche Revolution, die er sich nur als die Machtergreifung einer aktiven Minderheit von Revolutionären vorstellen konnte. Nachdem in seinen Augen nun auch die USPD das Proletariat verraten hatte, sah er nur noch die Konsequenz, durch eine Spaltung der Unabhängigen die Geburt einer neuen revolutionären Partei einzuleiten.79 Innerhalb des Spartakusbundes herrschte zu dieser Frage bisher keine einheitliche Auffassung. Karl Liebknecht und Paul Levi gingen mit Radek konform. Rosa Luxemburg und Leo Jogiches beurteilten die Lage in Deutschland zwar auch dahingehend, dass man „ganz am Anfang“ stehe und „sich organisieren müßte“, aber als Radek „die Frage der Organisierung einer besonderen kommunistischen Partei aufwarf“, zögerten sie noch.80 Entschieden werden sollte darüber, wie auch über die Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung, erst auf einer Reichskonferenz des Spartakusbundes, die man für den 30. Dezember 1918 einberufen hatte. Den Eindruck, dass man in Sachen der Revolution ganz am Anfang stand, fand Radek auf einem Spaziergang mit Liebknecht und Levi durch die Friedrichstraße und dem Besuch einer Kutscherkneipe in der Nähe des Brandenburger Tores bestätigt. Die über Politik diskutierenden Menschen zeigten sich glücklich über das Ende des Krieges – von revolutionärer Aufbruchsstimmung keine Spur. Aber er verzeichnete auch 76 77 78 79 80

Ebenda, S. 133. Vgl. oben, Kapitel 8, Anm. 260 und 261. Vgl. oben, Kapitel 5. Vgl. die ausführliche Darstellung der Diskussion um die KPD-Gründung in: Goldbach, S. 24–28. Radek, Nojabr’, S. 133.

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Indizien für Unruhe unter den Massen. Im Tiergarten demonstrierten die Revolutionären Obleute gegen den Block der USPD mit Scheidemann und Ebert und junge Kommunisten erklärten, die vom Rätekongress avisierte Nationalversammlung mit Maschinengewehren auseinanderjagen zu wollen. Die mobilisierten Massen verliefen sich jedoch schnell wieder und waren für disziplinierte revolutionäre Aktionen nicht zu gebrauchen. Als Radek vor kommunistischen Metallarbeitern über die Leiden des russischen Proletariats, den Bürgerkrieg und den Hunger auf dem „Weg zum Sieg“ sprach, bezichtigte man ihn aufgebracht, Sowjetrussland zu verleumden. Die Realitätsferne und die Defizite im Bewusstsein seiner Zuhörer wurden ihm deutlich: „Sie stellten sich nicht vor, was eine Revolution in Wirklichkeit ist.“81 Noch vor der Reichskonferenz der Spartakisten nahm Radek Kontakt zur Hauptbasis seiner Gesinnungsfreunde im Reich, den Bremer Linksradikalen auf. Sie nannten sich jetzt Internationale Kommunisten Deutschlands (IKD) und hatten ihrerseits für den Heiligen Abend 1918 eine Reichskonferenz in Berlin einberufen, auf der ihre über ganz Deutschland verstreuten kleinen Ortsgruppen über eine Teilnahme an den Wahlen zur Nationalversammlung beschließen sollten. Er traf sich mit dem Führer der IKD, Johann Knief, um ihn zum Zusammenschluss mit dem Spartakusbund zu bewegen. Das Treffen verlief nicht ohne Dramatik, berichtet Radek: „Ich rief meinen Freund Johann Knief, den Führer der Bremer Organisation, telegraphisch aus Bremen herbei. Die Bremer standen den Bolschewiken am nächsten. Johann war gegen eine Vereinigung mit den Spartakisten. Er führte alle strittigen Fragen einschließlich der Akkumulationstheorie Rosa Luxemburgs an. Er zeigte folgende Perspektive: Nach dem Block Ebert und Haase kommt der Block Ledebour-Liebknecht-Luxemburg. Und erst nach ihnen kämen wir. Er forderte die Gründung einer bolschewistischen Partei unabhängig von Rosa Luxemburg, sprach von der Gefahr einer Diktatur Tyszkas [Jogiches], der unter konspirativen Bedingungen aufgewachsen sei und die Partei mit seinem Zentralismus ersticken werde. Die deutsche Revolution könne nur als eine sehr breite Massenbewegung siegen. Die Partei dürfe nicht so zentralisiert sein, wie Tyszka es wolle. Ich wies ihn darauf hin, daß seine Auffassungen nichts mit Bolschewismus gemein hätten. Die Gewerkschaften und die Räte, das wären die Organisationsformen der breiten Massen. Die Partei – die Organisation der Führenden – müßte streng zentralisiert sein. Er blieb mit hanseatischer Hartnäckigkeit bei seiner Meinung. Ich drohte ihm, daß ich mit aller Entschiedenheit gegen ihn auftreten werde. Das zwang ihn, sich zu fügen. Er werde der Vereinigung der Bremer, Hamburger, Hannoveraner, wo unser Einfluß am stärksten war, mit den Spartakisten nicht entgegenwirken. Aber ich hatte ihn nicht überzeugt. Er kam nicht zum Parteitag, wartete ab.“82

Obwohl Knief nicht mitspielte, schlossen sich die IKD Radeks Kurs an. Auf ihrer Konferenz am 24. Dezember 1918, an der er gemeinsam mit Jogiches teilnahm, 81 Ebenda, S. 134f. 82 Ebenda, S. 135.

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erklärten die Delegierten, die „prinzipiellen taktischen Gegensätze“ zwischen IKD und Spartakus seien obsolet und forderten „kategorisch“ die Vereinigung beider Organisationen.83 Als dann einen Tag später der Parteivorstand der USPD sich außerstande erklärte, einen von Spartakus geforderten Sonderparteitag einzuberufen, auf dem die Spartakisten eine „rücksichtslose proletarische Politik“ durchsetzen wollten, gab Rosa Luxemburg unter dem Eindruck dieser Entwicklungen ihren Widerstand gegen eine Parteigründung auf.84 Am Vorabend der Reichskonferenz stimmte der Spartakusbund in einer nichtöffentlichen Sitzung mehrheitlich für die Trennung von der USPD und die Bildung einer eigenen Partei. Die Reichskonferenz des Spartakusbundes, an der die Internationalen Kommunisten Deutschlands mit 29 Vertretern teilnahmen, begann am 30. Dezember 1918 im Preußischen Abgeordnetenhaus in der Prinz-Albrecht-Straße. Im Festsaal des Gebäudes versammelten sich 127 Delegierte, zumeist Vertrauensleute kleiner Gruppen aus 56 Orten. Radek und seine Mitreisenden Ernst Reuter-Friesland, Werner Rakow (Felix Wolf ) und ihr unbekannt gebliebener Begleiter wurden als Vertreter der russischen Regierung, nicht der Kommunistischen Partei Russlands, begrüßt. Bis zum 1. Januar 1919 diskutierte man über Ziele, Strategie und Taktik der neuen Partei, die sich nach einigen Diskussionen „Kommunistische Partei Deutschlands (Spartakusbund)“ nannte und im Nachhinein als Erster Parteitag der KPD konstituierte. Infolge der stürmischen Tagesereignisse, wie der Meuterei der Volksmarinedivision in Berlin mit Kämpfen um Schloss und Marstall sowie dem Austritt der USPD aus der Regierung, war dieser Gründungsparteitag so gut wie nicht vorbereitet worden. Auf Radek machte die ideologisch bunt zusammengewürfelte Versammlung einen ungünstigen Eindruck. „Der Parteitag“, schrieb er später, „demonstrierte grell die Jugend und Unerfahrenheit der Partei. Die Verbindung mit den Massen war äußerst schwach. Zu den Verhandlungen mit den Unabhängigen verhielt sich der Parteitag ironisch. Ich fühlte nicht, daß hier schon eine Partei vor mir war.“85 Unter den Delegierten waren ihm einige bereits aus der Vorkriegszeit bekannt, darunter Hermann Duncker86, damals Lehrer an der SPD-Parteischule, Paul Frölich, Ernst Meyer und Wilhelm Pieck. „Aber“, so erinnert er sich, „die Jugend, die ich vor dem Krieg nicht kannte, überwog“: Darunter zwei Russen: Leviné87, mit einem ernsten nachdenklichen Gesicht, ein ehemaliger Sozialrevolutionär, der 83 84 85 86

Weber, Hermann, Der Gründungsparteitag der KPD, S. 32. Leo Jogiches hingegen, lehnte die Loslösung von der USPD weiter ab. Radek, Nojabr’, S. 136. Duncker, Hermann (1874–1960); Volkswirt, Historiker, Funktionär der SPD, KPD und später der SED; leitete zusammen mit seiner Frau Käthe die Agitationsabteilung des Spartakusbundes. 87 Leviné, Eugen (1883–1919); Dr.rer.pol; russischer Revolutionär; 1916 USPD-Mitglied; seit 1918 für die russische Nachrichtenagentur ROSTA tätig; 1918/19 revolutionäre Aktivitäten im Rheinland, in Berlin, in Brandenburg und im Ruhrgebiet; seit März 1919 KPD-Führer in München und dort im April 1919 an der Spitze der kommunistischen Räteregierung; Anfang Juni 1919 verhaftet, durch ein Sondergericht zum Tode verurteilt und hingerichtet.

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in Deutschland erzogen worden war, und der junge, fixe Max Levin88, der Sohn des ehemaligen deutschen, Generalkonsuls in Moskau, der in Moskau ins Gymnasium ging und sich für einen Russen hielt, in Uniform. Die Parteijugend war bereit, den Himmel zu stürmen. Sie meinte, Karl und Rosa bremsten, der Sieg sei sehr nahe. Am meisten trat der ehemalige Abgeordnete Rühle89 in Erscheinung.“90

Noch am Vormittag des ersten Sitzungstages erhielt Radek als „Vertreter der russischen sozialistischen Sowjetrepublik“ das Wort zu einer Begrüßungsrede.91 Er übermittelte „dem Gründungstag der Kommunistischen Partei, die herzlichsten Grüße und die Erklärung der Solidarität der Arbeiter Rußlands“. Eingangs schilderte er die begeisterte Rezeption der deutschen Revolution in Russland. Ein „wahrer Freudentaumel“ habe die russische Arbeiterschaft ergriffen, nachdem der deutsche Imperialismus endgültig besiegt und Sowjetrussland dadurch aus der Umklammerung der imperialistischen Mächte befreit worden sei. Vor allem aber, „das Gefühl, daß der ältere Bruder, von dem wir gelernt haben, jetzt zusammen mit uns an das Werk der Befreiung herangetreten ist, daß dadurch die Welle der Arbeiterrevolution über die Grenzen Rußlands hinweg nach dem Westen getragen wird“, habe tiefe Freude ausgelöst. Auch wenn die „symbolische Brotsendung“ Sowjetrusslands von Ebert und Haase „mit Hohn zurückgewiesen“ worden sei, werde man weiter alle Kräfte anstrengen „zum gemeinsamen Kampf, zum Schutz und Trutzbündnis mit den Arbeitern Deutschlands.“92 In einer vergleichenden Bestandsaufnahme der revolutionären Entwicklung in Russland und im Deutschen Reich betonte er, dass in beiden Ländern die Zusammenarbeit der Sozialdemokratie mit dem Bürgertum die Revolution in die Sackgasse geführt habe. Dennoch lägen „in Deutschland die Sachen in manchem anders.“ Die Friedensfrage werde nicht die Rolle wie in Russland spielen. Dafür werde hier die Lebensmittel- und die Arbeitslosenfrage „die Arbeiter sehr bald vor die Frage des rücksichtslosesten Kampfes gegen die Bourgeoisie stel88 Levin = Levien, Max (1885–1937); Dr.phil; 1919 Mitbegründer der KPD in München und dort im Aktionsausschuss der 2. Räterepublik; seit 1921 im Komintern-Apparat tätig; ab 1925 RKP(b)/ VKP(b)-Mitglied und Professor für Geschichte an der Moskauer Universität; 1936 vom NKVD verhaftet, 1937 zum Tode verurteilt und erschossen. 89 Otto Ruehle führte die radikalrevolutionäre Mehrheit der Parteitagsdelegierten, die entgegen der Auffassung des Parteivorstandes eine Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung ablehnte und die Parteizentrale in dieser Frage überstimmte. Radeks Haltung in der Wahlfrage entsprach der Lenins. Die Mobilmachung der Massen über die Tribüne des Parlaments könne als taktische Variante eine wichtige Etappe des Weges zum Sozialismus sein, wobei die neue Gesellschaftsordnung letztlich aber nur durch Revolution und Bürgerkrieg durchsetzbar sei. 90 Radek, Nojabr’, S. 136. 91 Veröffentlicht als Broschüre unter dem Titel „Die russische und die deutsche Revolution und die Weltlage. Von Karl Radek. Begrüßungsrede auf dem Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands am 30. Dezember 1918 nebst einem Vorwort. Berlin 1919.“ Zitiert als „Weber, Gründungsparteitag“ nach dem leichter zugänglichen Text in: Weber, Hermann, Der Gründungsparteitag der KPD, S. 67–86. 92 Weber, Gründungsparteitag, S. 68f.

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len.“ Die künftige Nationalversammlung werde an den in ihr verkörperten Klassengegensätzen scheitern und die Arbeiterräte, heute zu einem „Feigenblatt der Diktatur Eberts“ degradiert, „werden genötigt sein, die Macht in ihre Hände zu nehmen.“93 Für den revolutionären Ernstfall verwies er auf die bolschewistischen Erfahrungen, wobei er sich nur scheinbar von einer Lehrmeisterrolle Sowjetrusslands distanzierte: „Da sind die Erfahrungen, die wir während des Jahres, wo sich die Macht in den Händen der Arbeiterklasse befindet, gemacht haben, von größter historischer und praktischer Bedeutung für das Proletariat Deutschlands, wie aller anderen Länder. Nicht als ob die russische Revolution sich kopieren ließe. Die Verhältnisse in den verschiedenen Ländern weichen voneinander ab. Die soziale und politische Struktur der einzelnen Länder ist verschieden. Der Weg der Arbeiterklasse wird in einzelnen Ländern voneinander abweichen. Trotzdem bedeutet die russische Revolution, das Jahr der Arbeiterdiktatur in Rußland, eine große Probe auf das grundsätzliche Exempel: Auf die Frage der Herrschaft der Arbeiterklasse überhaupt.“94

Scheidemann, Ebert, Kautsky und „die Presse der Verräter des Sozialismus“ würden davor warnen, den Weg der Revolution zu betreten, da das russische Beispiel demonstriere, dass dadurch ein Land nur zerstört, ins Unglück geworfen und in den Bürgerkrieg getrieben werde.95 Solche „Warnungsrufe“ machten eine „klare Antwort“ erforderlich: „Der Bürgerkrieg […] ist die bewaffnete Verteidigung der Geldsäcke der Bourgeoisie! Niemals in der Geschichte der Menschheit hat eine besitzende Klasse ihre Vorrechte abgegeben, ohne den Kampf bis zum äußersten […]. Wenn das Wort sozialistische Republik96 keine Phrase sein soll, die das Volk einlullt, so bedeutet es, daß die Arbeiterschaft auf diesem oder jenem Wege die Produktion in ihre Hände zu bekommen suchen wird, und wenn das der Fall ist, so stehen wir vor der größten Umwälzung, die die Geschichte je gesehen hat, und eine solche kann sich schließlich nicht friedlich abwickeln […]. Heute soll zum ersten Male in der Geschichte die besitzende Klasse gänzlich abgeschafft werden. Und das kann nicht geschehen durch parlamentarische Verhandlungen und Beschlüsse. Das hat die russische Erfahrung klar bewiesen.“97 93 Ebenda, S. 69ff. 94 Ebenda, S. 71. 95 Ebenda, S. 72. 96 Radek bezieht sich darauf, dass Liebknecht am 9. November 1918 die „freie sozialistische Republik“ ausgerufen und die USPD am gleichen Tage die Forderung, „Deutschland soll eine soziale Republik sein“, als Bedingung für die Zusammenarbeit mit der SPD formuliert hatte. Die Antwort der SPD lautete: „Diese Forderung ist das Ziel unserer eigenen Politik“, wobei aber hinzugefügt wurde, dass letztlich die Nationalversammlung darüber zu entscheiden hätte. 97 Weber, Gründungsparteitag, S. 73.

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In Russland habe die Bourgeoisie den Bürgerkrieg begonnen. Er werde „mit der größten Erbitterung geführt, mit einer Erbitterung, die weit die des imperialistischen Krieges übersteigt“, denn: „Zwischen den Ausgebeuteten und Ausbeutern kann es keinen Kompromiß geben; es gibt nur Sieg oder Vernichtung.“ Die Bourgeois, die die Bol’ševiki der verschiedensten Gräuel anklagten, agierten „mit dem Blutdurst wilder Tiere“ und hätten zehntausende Arbeiter füsiliert. Die „,wilden Bolschewiki‘“ hingegen, hätten in all ihren Kämpfen „keine paar tausend Bourgeois getötet“, und auch das nur „im gerechten Abwehrkampf gegen die Konterrevolution“.98 Wenn also „[…] die Herren Scheidemann, die Lakaien des deutschen Imperialismus, Zeter und Mordio schreien gegen den bolschewistischen Terror, so sagen wir Ihnen: ,Eure Hände, o Verächter des bolschewistischen Terrors, sie triefen noch vom Blute nicht nur der vielen Millionen der im Kriege Gefallenen, sondern von Zehntausenden lettischen, finnischen, ukrainischen und russischen Arbeitern, die die Generale ermorden ließen, denen ihr die Kriegskredite bewilligt habt […].‘“99

Als Interpret der russischen Verhältnisse, verzichtete er darauf, das neue Russland in rosigen Farben zu malen. Angesichts des Bürgerkrieges, sei „die Schaffung einer neuen kommunistischen Gesellschaftsordnung“ erst dann in vollem Umfang möglich, „nachdem die Arbeiterklasse die Feinde niedergeworfen haben wird“. Allerdings könne man auf das bisher unter schwierigsten Verhältnissen Erreichte stolz sein. Er hob die Leistungen der Arbeiter und der langsam aus ihrer „Provinzidiotie“ erwachenden Bauern hervor und betonte, in Russland herrsche die Arbeiterklasse.100 Zwar sei „die Zahl der eingeschriebenen Mitglieder der Bolschewiki […] nicht sehr groß“, doch hätten sie die „moralische Kraft“, die „ungeheuren Massen“ um sich geschart zu halten.101 Was die Bol’ševiki jetzt in Russland verwirklichten, „das ist nichts anderes als die große unverfälschte Lehre des deutschen Kommunismus, den Marx vor der Arbeiterklasse der ganzen Welt vertrat.“ Indem er alle ideologischen Differenzen ausklammerte, erwies er Rosa Luxemburg seine Reverenz: „Unsere Orientierung, der Gedanke des Rätesystems ist empirisch aufgewachsen, aber die großen Auseinandersetzungen über die zukünftigen Kampfformen der Arbeiterklasse, wie sie die deutsche Arbeiterwelt vor dem Krieg bewegte, sie haben unsere Gedanken genährt, und die russische kommunistische Partei ist stolz darauf, daß sie einst in naher Bundesgenossenschaft mit Rosa Luxemburg, Eurer geistigen Führerin gearbeitet hat.“102

98 Ebenda, S. 74f. 99 Ebenda, S. 75. 100 Ebenda, S. 76ff. 101 Ebenda, S. 79. 102 Ebenda, S. 84.

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Der Internationalismus, der Kampf für die Revolution und gegen die Sozialdemokratie – „für uns nicht bündnisfähig“ – vereine die russischen und die deutschen Kommunisten: „Wir stehen im Bündnis seit den ersten Tagen des Krieges, seit dem Tage, wo Liebknecht sein ,Ich klage an!‘ von der Tribüne des deutschen Reichstages in die Welt geschleudert hat. In dem Moment aber, wo ihr zur Macht kommt, wird sich der Ring schließen, in dem Moment werden die deutschen und russischen Arbeiter Arm in Arm kämpfen. Nichts ruft einen solchen Enthusiasmus bei den russischen Arbeitern hervor, als wenn wir ihnen sagen, es kann die Zeit kommen, wo Euch die deutschen Arbeiter zu Hilfe rufen und wo Ihr zusammen mit ihnen am Rhein kämpfen müßt, wie sie an unserer Seite im Ural kämpfen werden.“103

Er vermied es aber, zu konkreten Aktionen aufzurufen oder den Zeitpunkt einer kommunistischen Machtergreifung in Deutschland zu präzisieren. Immer wenn er dazu etwas sagen mußte, blieb er im Unverbindlichen und nahm zu Euphemismen Zuflucht: „Wir sind überzeugt, daß die Weltrevolution im Eilschritt gehen wird, […] daß der internationale Bürgerkrieg uns befreien wird vom Kampf der Völker. Aber niemand kann das Tempo der Entwicklung berechnen. Wir mußten auf die deutsche Revolution ein Jahr lang warten […]. Wir sind überzeugt, […] daß wir zusammen mit Euch den Tag erleben werden, wo hier in Berlin der internationale Arbeiterrat tagen wird104, wo keiner uns mehr hindern wird, mit allen Völkern der ganzen Welt die Erfahrungen der neuen Zeit auszutauschen.“105

Er gab sich voller Zuversicht, die KPD werde als Teil einer neuen Internationale siegen. Sie sei zwar „noch schwach“, aber sie sei „die Macht […], um die die Arbeiter Deutschlands sich sammeln werden“, denn die deutsche Sozialdemokratie habe ihre „Autorität in der ganzen Arbeiterwelt“ eingebüßt und sei faktisch „tot“.106 Mit pathetischen Worten setzte er einen Schlussakkord, der einen „Sturm der Begeisterung“107 entfesselte: „[…] es wird der Tag kommen, wo der Ruf mit dem ich schließe, zur Wirklichkeit wird, der Tag, wo die Weltrevolution die Arbeiterklasse befreien wird, der Sozialismus nicht mehr Objekt des Kampfes sein wird, sondern der Gegenstand unserer zielklaren Arbeit. 103 Ebenda, S. 85. 104 Radek war damals tatsächlich der Auffassung, eine noch zu gründende neue Internationale werde ihren Sitz in Berlin haben. Zu Paquet sagte er bereits im November 1918: „Passen Sie auf, in Berlin wird einmal der Zentralsowjet sein“ und dieser hielt in seinem Tagebuch fest: „Radek meint, daß sich künftig der Zentralsowjet (der Internationale) in Berlin befinden werde.“ Paquet-Tagebuch (18. November 1918), S. 251f. 105 Weber, Gründungsparteitag, S. 85. 106 Ebenda, S. 85f. 107 „Die Rote Fahne“ Nr. 45 vom 31. Dezember 1918. Goldbach, S. 29.

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Die russische Revolution ist von Euch abgeschnitten, aber ihr Geist lebt in Euch, Euer Geist beseelt die Massen der russischen Arbeiterklasse, dieser Geist der vorwärtsstürmenden Arbeiterklassen, die es satt haben, der Amboß der Geschichte zu sein, und jetzt einmal Hammer sein wollen. Es lebe die internationale Revolution, es lebe die internationale Räterepublik!“108

Als der stürmische Beifall verebbt war, richtete Liebknecht Dankesworte an Radek, Reuter und Rakow als die „Vertreter der russischen Regierung“ und betonte, „Rußland sei die Geburtsstätte der deutschen Revolution. Erst wenn wir uns mit dem russischen Proletariat verbinden, erst dann würde die Stunde der Weltrevolution, die den Kapitalismus endgültig beseitigt, angebrochen sein.“109 Einstimmig beschloss man, „der russischen Räte-Republik, den russischen Mitkämpfern gegen den gemeinsamen Feind“, ein Begrüßungstelegramm zu senden.110 Radek schrieb später: „Die Einheit mit der russischen Kommunistischen Partei und der russischen Revolution war die Grundtendenz der Stimmungen des Kongresses“.111 In der Tat fühlten sich viele deutsche Kommunisten mit der bolschewistischen Revolution solidarisch und betrachteten Russland als ihr Vorbild. Das Auftreten Radeks als Abgesandtem des russischen VCIK auf dem Gründungsparteitag – nach Presseberichten in russischer Soldatenuniform 112- galt den anwesenden Journalisten als „große Sensation“ und „sie stürzten zur Tür, um mit ihren Redaktionen zu telefonieren. Aber der erfahrene Pieck hatte schon Anweisung gegeben, die Türen zu schließen und niemand herauszulassen.“113 Dadurch wurde ein Bekanntwerden der Anwesenheit Radeks in Berlin noch vor der Beendigung seiner Rede verhindert. Seine Ausführungen fanden aber am darauffolgenden Tage in der Presse große Beachtung. Der „Vorwärts“ schrieb sogar von „Bolschewistischer Weltkriegshetze“.114 Der Zeitzeuge Gustav Mayer meint, Radek habe auf dem Kongress „zu sprechen gewagt, obgleich schon eifrigst nach ihm gefahndet wurde“.115 108 Weber, a.a.O., S. 86. 109 „Freiheit“ (Organ der USPD) Nr. 18 vom 31. Dezember 1918. Weber, Hermann, Der Gründungsparteitag der KPD, S. 86f. 110 Der Text des Telegramms lautete: „An die russische sozialistische Sowjetrepublik! Die Reichskonferenz des Spartakusbundes, die heute die Kommunistische Partei Deutschlands gegründet hat, sendet die aufrichtigsten Grüße der russischen Räte-Republik, den russischen Mitkämpfern gegen den gemeinsamen Feind der Unterdrückten aller Länder. Das Bewußtsein, daß bei Euch alle Herzen für uns schlagen, gibt uns in unserem Kampfe Kraft und Stärke. Es lebe der Sozialismus! Es lebe die Weltrevolution!“ Ebenda, S. 87. 111 Radek, Nojabr’, S. 136. 112 „Germania“ Nr. 606 vom 30.12.1918 und „Frankfurter Zeitung“, 1. Morgenblatt, Nr. 362 vom 31. Dezember 1918. Weber, Hermann, Der Gründungsparteitag der KPD, S. 44. 113 Radek, Nojabr’, S. 136. 114 „Vorwärts“, Nr. 359, 31. Dezember 1918. Weber, Hermann, Der Gründungsparteitag der KPD, S. 44. 115 Mayer, Gustav, S. 317.

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Wahrscheinlicher erscheint hingegen, dass die Behörden erst durch die Rede auf seine Präsenz in Deutschland aufmerksam wurden116. Eine der ersten Amtshandlungen des neuen Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Graf Brockdorff-Rantzau, war es, am 31. Dezember 1918 die sofortige Ausweisung Radeks beim Rat der Volksbeauftragten zu beantragen, mit der Begründung, er plane die Auslösung eines Bürgerkrieges.117 Zwei Tage später legte die deutsche Regierung mit einem an Moskau gerichteten Funkspruch Protest gegen die Anwesenheit Radeks in Deutschland ein. Sie war durch eine Pressemeldung aus Den Haag beunruhigt, wonach Radeks Wirken in Berlin der Entente als Vorwand dienen sollte, die Waffenstillstandsverhandlungen abzubrechen.118 Für Unmut im Auswärtigen Amt sorgte auch das eigenmächtige Vorgehen des Verhandlungsführers in Spa, Staatssekretär Erzberger. Legationsrat Haniel119 als Vertreter des Amtes bei der deutschen Waffenstillstandskommission, telegraphierte am 3. Januar 1919 nach Berlin, Erzberger habe den Bevollmächtigten der Obersten Heeresleitung bei der deutschen Delegation, General von Winterfeld120 ersucht bei der Entente festzustellen, ob die Auslieferung von Radek und Ioffe erwünscht sei, die dann in Spa erfolgen könne. Winterfeld war der Ansicht, diese Angelegenheit ginge allein das Auswärtige Amt an und informierte Graf BrockdorffRantzau durch Haniel. Der Staatssekretär des Auswärtigen reagierte sofort und wies Haniel am 4. Januar an, es solle von dieser Anfrage abgesehen werden.121 Nachdem den deutschen Vertretern in Spa bekannt gewesen sein müsste, dass Ioffe sich nicht mehr in Deutschland aufhielt und der in Berlin untergetauchte Radek sich noch auf freiem Fuß befand, lässt der Vorgang auf die große Nervosität der über den Waffenstillstand verhandelnden Politiker und Diplomaten schließen. Sie befürchteten, der Aufenthalt Radeks in Berlin könne als Indiz für heimliche deutsch-russische Verhandlungen missdeutet werden und alliierte Repressalien auslösen, wie dies die oben erwähnte Pressemeldung angekündigt hatte. Radek war der diplomatische Wirbel, den seine Anwesenheit in Berlin hervorgerufen hatte, verborgen geblieben. Er verbrachte den Jahreswechsel zusammen mit Liebknecht, der „trotz seiner Müdigkeit lustig wie ein Kind“ und voller revolutionärem Optimismus war.122 Dann tauchte er noch während des Gründungsparteitages in Berlin unter. Er fand als „Ökonomierat Dr. F[…]“ in einer der „Redaktionswohnungen“ der „Roten Fahne“ Unterschlupf – zwei möblierte Zimmer in einer Wohnung im Hochparterre des Hauses Paulsborner Straße 93 in Berlin-Wilmersdorf. 116 Linke, S. 36f.; Goldbach, S. 32. 117 Goldbach, ebenda; Mayer, Arno J., S. 249. 118 Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 94. 119 Haniel von Haimhausen, Edgar von (1870–1935); Diplomat; 1918/19 als Beauftragter des Auswärtigen Amtes Mitglied der deutschen Waffenstillstandskommission in Spa. 120 Nicht identifiziert. 121 Brockdorff-Nachlass, Akte 16, H 234 654; Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 102. Vgl. auch Schlesinger, S. 52f. 122 Radek, Nojabr’, S. 136.

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Gegenüber seiner Hauswirtin Frau Callmann, der Witwe eines Militärarztes123, verschleierte er seine Identität: „Papiere schickte mir Knief. Sie waren vom Baumwollkomitee [d.h. dem Arbeiter- und Soldatenrat] in Bremen unterzeichnet. Man mußte eine Erklärung dafür finden, warum ich am Tage die Wohnung nicht verließ, sehr viel diktierte und warum ich russische Bücher besaß. Ich gab mich für einen Deutschpolen aus Posen aus, der in Rußland Kriegsgefangener gewesen war und jetzt seine Erinnerungen schrieb. Die Wirtin war sehr gutgläubig […]. Der kommunistische Arzt der mich besuchte, ordnete in ihrer Gegenwart an, ich solle sehr wenig aus dem Haus gehen, und fragte sie, ob sie mir Mittagessen kochen könne. Er verschrieb mir eine Diät. Ich konnte unbehelligt den ganzen Tag arbeiten […].“124

Ungeachtet seiner dramatischen Revolutionsrhetorik auf dem Gründungsparteitag der KPD, war Radek in den wenigen Tagen seines Aufenthalts in Berlin bewusst geworden, dass sich die deutsche Revolution noch in ihrer Anfangsphase befand, in ihrer „Märzphase“, wie er es nach dem russischen Revolutionskalender definierte. In den „Berliner Briefen“, die er zwischen dem 2. und 5. Januar 1919 für die „Izvestija“ schrieb, versuchte er diese Erkenntnis seinen bolschewistischen Genossen zu vermitteln. Er ging darin auf die Perspektiven und Gefahren der revolutionären Entwicklung in Deutschland ein. Wie die Bol’ševiki im Juliputsch von 1917 müsste die erst im Entstehen begriffene KPD „einerseits ein Maximum der Aufklärung und des politischen Bewusstseins in die Massen“ tragen und sie andererseits von „Zusammenstößen mit der Regierungsgewalt“ abhalten. Dies sei die nächste Aufgabe, denn sonst bestehe die Gefahr, dass die Partei auf das „Geleis kleiner Putsche“ gerate, da die Stimmung der Massen radikaler sei, als es die Führer wünschen könnten. Der Weg zur Macht führe ausschließlich über die Eroberung der Arbeiter- und Soldatenräte, eine Aufgabe, die die KPD noch nicht einmal in Angriff genommen habe. Die Räte seien bisher nur „Puppen in der Hand der Regierung.“125 Die Richtigkeit seiner Lagebeurteilung sollte sich umgehend bestätigen, als es zu den fälschlich als „Spartakusaufstand“ bezeichneten Januarkämpfen in Berlin kam. Anfang 1919 waren die Minister der USPD aus der preußischen Regierung ausgeschieden. Daraufhin setzte am 4. Januar der preußische Innenminister den zum linken Flügel der USPD gehörenden Berliner Polizeipräsidenten Eichhorn126 ab. Eichhorn, der über eine eigene „Sicherheitswehr“ gebot, weigerte sich, sein Amt aufzugeben, Er wurde darin unterstützt von den radikalen Kräften in der USPD, den 123 Polizeibericht über die Verhaftung Radeks vom 19. Februar 1919; in: Schüdddekopf, Karl Radek in Berlin, Anlage 1, S. 109 . 124 Radek, Nojabr’, S. 138. 125 Radek, Berliner Briefe I-III, in: „Der Kommunist“ Nr.6–8, 8.–10. Januar 1919, Goldbach, S. 30. 126 Eichhorn, Emil Robert (1863–1925); gelernter Mechaniker; Redakteur von SPD-Zeitungen; MdR; Leiter des SPD-Pressebüros bis zu seinem Wechsel zur USPD 1917; 1918/19 Polizeipräsident in Berlin; 1920 als MdR Übertritt zur KPD-Fraktion.

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Revolutionären Obleuten und der KPD, die aus Protest gegen die Entlassung Eichhorns das Polizeipräsidium okkupierten und zum Generalstreik aufriefen. Demonstranten blockierten zwei Tage lang die Berliner Innenstadt und bewaffnete Arbeiter besetzten die großen Verlage im Zeitungsviertel. Angesichts der anhaltenden Unruhen, beschloss ein von linken Unabhängigen und Revolutionären Obleuten eilig improvisierter Revolutionsausschuss, dem Liebknecht und Pieck für die KPD angehörten, am 6. Januar eine Resolution zum Sturz der Regierung Ebert-Scheidemann. Der Ausschuss erklärte, er habe die Regierungsgeschäfte vorläufig übernommen, unternahm aber keine konkreten Schritte zur Eroberung der Macht. Obwohl die KPD-Führer den im Wesentlichen von den USPD-Radikalen und den Revolutionären Obleuten getragenen Aufstand für verfrüht und darum für aussichtslos hielten, schlossen sie sich der Umsturzbewegung an. Insbesondere Luxemburg glaubte, die kämpfenden Massen nicht im Stich lassen zu dürfen: „Handeln! Handeln! Mutig, entschlossen, konsequent – das ist die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der Revolutionären Obleute und der ehrlichen sozialistischen Parteiführer. Die Gegenrevolution entwaffnen, die Massen bewaffnen, alle Machtpositionen besetzen, Rasch handeln!“127

Für Radek war eine solche Position nicht nachvollziehbar. Für ihn zählte nur die reale Erfolgsaussicht einer revolutionären Aktion und die war in diesem Falle kaum gegeben. Unmissverständlich äußerte er diese Auffassung in der Sitzung der KPDZentrale am 6. Januar, in der er sich gegen den Beschluss des Revolutionsausschusses wandte, die Regierung zu stürzen. Es war das letzte Mal vor Ausbruch der Kämpfe, dass er an einer Besprechung der Spartakusführer teilnahm: „Auf Verlangen des ZK verließ ich meine Wohnung nicht [mehr], denn Liebknecht meinte, meine Verhaftung würde die Lage sehr erschweren. Man würde sagen, die Bewegung sei von den Russen inszeniert.“128 Er beschäftigte sich nun damit, die militärischen Gegenmaßnahmen der Regierung gegen die Aufständischen aufzuklären: „In Berlin gab es eine Gruppe russischer Kriegsgefangener, die Kommunisten waren.129 Ich organisierte aus ihnen einen Nachrichtendienst, schickte sie an bestimmte Punkte der Eisenbahnlinie bei Berlin und in die Umgebung. Von ihnen erhielt ich die Nachricht, daß sich in Dahlem ein Militärstab befinde. Automobile und Radfahrer fuhren dorthin 127 Luxemburg, Rosa, „Was machen die Führer“, in: Luxemburg, Ausgewählte Reden, II, S. 689– 692. Waldman, S. 250. 128 Radek. Nojabr’, S. 137. 129 Es ist anzunehmen, dass Radek seine Helfer über die russische Kriegsgefangenenfürsorge in Berlin in der Taubenstraße 13 organisierte. Dort arbeitete auch die zuvor bei der sowjetrussischen Gesandtschaft beschäftigte „Genossin Käthe Rauch“, die von der Polizei verdächtigt wurde, Verbindung zu Radek zu unterhalten; ein Verdacht, der aber trotz wochenlanger polizeilicher Beobachtung unbewiesen blieb. Polizeibericht über Radeks Verhaftung vom 26. Februar 1919; Anlage 1 in: Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 109f.

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und kehrten von dort zurück. Mittwoch 6. Januar früh erhielt ich die Nachricht, daß sich Noske dort befand. Es war klar, daß die Regierung Militär gegen Berlin zusammenzog.“130

Die Regierungstruppen waren bereits im Anmarsch, als Radek am 9. Januar noch einmal eindringlich versuchte, die KPD- Führer zum Rückzug zu veranlassen: „Durch das ZK-Mitglied Duncker schickte ich einen Brief an das ZK [die KPD-Zentrale], in dem ich von den militärischen Vorbereitungen Noskes berichtete und darauf hinwies, daß es keinen Sinn hätte, bewaffnete Zusammenstöße zu riskieren, die mit der Entwaffnung der Arbeiter enden würden, wenn wir nicht die Absicht hätten, die Macht zu übernehmen. Ich schlug vor, den Proteststreik zu beenden und als Losung Neuwahlen zu fordern, da die Räte die Macht der Bourgeoisie wiederhergestellt hätten.“131

In dem Schreiben132, das Radek in seinen Novembererinnerungen lediglich summarisch wiedergibt, verwies er ausdrücklich auf das Spartakusprogramm, das die Gefolgschaft der Mehrheit der Arbeiterklasse als Voraussetzung für eine kommunistische Machteroberung bezeichnet. „Dieser vollkommen richtige Standpunkt“ gründe auf der „einfachen Tatsache, daß die Arbeiterregierung ohne Massenorganisation des Proletariats undenkbar ist.“ In den Arbeiterräten als den dafür infrage kommenden Gremien verfügten jedoch nicht die Kommunisten, sondern SPD und USPD über die Mehrheit. „In dieser Situation“, so fuhr er fort, „ist an die Machtergreifung des Proletariats gar nicht zu denken.“ An Rosa Luxemburgs Auffassung anknüpfend, wonach „die Übernahme der Macht in Berlin sinnlos sei, wenn die Provinz keinen Aufstand mache“133, schrieb er: „Würde sie, die Regierung, durch einen Putsch in eure Hände fallen, sie würde in ein paar Tagen von der Provinz abgeschnürt und erdrosselt werden.“ Die Arbeiterschaft, „mißgeleitet durch die revolutionären Obleute“, habe in ihrem Elan eine „Protestbewegung zu einem Kampf um die Gewalt ausgestaltet.“ Dadurch biete sich Ebert und Scheidemann die Gelegenheit, „der Berliner Bewegung einen Schlag zu versetzen, der die ganze Bewegung auf Monate schwächen kann.“ Er appellierte an die Spartakusführer: „Die einzig bremsende Kraft, die dieses Unglück verhindern kann, seid ihr, die Kommunistische Partei. Ihr habt genug Einsicht, um zu wissen, daß der Kampf aussichtslos ist […]. Nichts verbietet einem Schwächeren, sich vor der Übermacht zurückzuziehen.“ Nachdrücklich verwies er auf die bolschewistischen Erfahrungen im Petrograder Juliputsch: „Wir haben im Juli 1917, obwohl wir damals stärker waren als ihr jetzt, die Massen mit allen Kräften zurückgehalten, und als dies 130 Radek, Nojabr’, S, 137. 131 Ebenda, S. 137f. 132 Brief Radeks an die Zentrale der KPD vom 9. Januar 1919. Wesentliche Auszüge in: Illustrierte Geschichte der Deutschen Revolution, Berlin 1929, S. 282; zitiert nach dem leichter zugänglichen Text in: Möller, S.108f. Vollständige Wiedergabe in: Radek, Germanskaja revoljucija, tom II, S. 93–95; zitiert nach der auszugsweisen Rückübersetzung in: Goldbach, S. 32. 133 Radek, Nojabr’, S. 136.

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nicht gelang, sie durch rücksichtsloses Eingreifen aus einer bevorstehenden aussichtslosen Schlacht herausgezogen.“ Zur Lösung der Krise empfahl er folgende Schritte: – Aufforderung an die Revolutionären Obleute, den Kampf abzubrechen. – Zurückziehung der mit der Waffe in der Hand kämpfenden Arbeiter, notfalls unter Auslieferung der Waffen. – Herausgabe eines Manifestes, das die Notwendigkeit des Rückzuges erklärt und zur Neuwahl der Räte aufruft. Im ganzen Reich „müsse […] jetzt auf den Kampf um die Räte übergeleitet werden“, denn – dem bolschewistischen Erfolgsrezept „Alle Macht den Räten“ entsprechend – sei ohne die Eroberung der Räte an eine Machtübernahme überhaupt nicht zu denken.134 Offensichtlich war es Radek bewusst, wie unwillkommen seine auf russischen Erfahrungen basierenden Empfehlungen den KPD-Führern sein mussten, ungebetene Ratschläge eines bolschewistischen Emissärs, der ihre Entscheidung korrigieren wollte. Um solche Ressentiments aufzufangen, schloss er seinen Brief mit dem Satz: „Nicht kraft meines Mandats habe ich mir erlaubt, euch meine Meinung mitzuteilen – es versteht sich, daß ich den derzeitigen Standpunkt der KPR zur Situation in Berlin gar nicht kenne. Ich habe es mir vielmehr erlaubt auf Grund der Erfahrung, die ich in der russischen Bewegung gewonnen habe, und auf Grund meiner Kenntnisse über die Entwicklung in Deutschland.“135

In ihrer ersten Reaktion soll Rosa Luxemburg zu Hermann Duncker, der das Schreiben überbrachte und Antwort an Radek heischte, unwirsch gesagt haben: „Die Antwort wird er morgen in der ,Roten Fahne‘ lesen.“136 Am darauffolgenden Tage überbrachte ihm Paul Levi dennoch eine Erwiderung Luxemburgs. Sie hielt seine Vorschläge für taktisch falsch, berichtet Radek: „Rosa war der Meinung, daß die Unabhängigen zu einer Einigung mit der Regierung gelangen würden und wir nicht die Rolle derer auf uns nehmen müßten, die zum Rückzug bliesen.“137 Als Radek die Botschaft Luxemburgs erhielt, wurde in Berlin schon gekämpft. In der Nacht zum 10. Januar hatte der Angriff der Regierungstruppen begonnen und bis zum 13. Januar tobten im Herzen von Berlin – besonders im Zeitungsviertel – schwere Straßen- und Häuserkämpfe unter Einsatz von Artillerie und Flammenwerfern. Radeks Verbindung zu den KPD-Führern brach ab. „Angesichts der völligen Desorganisation des Zentralkomitees“ wollte er gemeinsam mit Levi initiativ werden. Beide beabsichtigten am 11. Januar eine im Friedrichshain stattfindende Protestdemonstration zum Zeitungsviertel umzudirigieren, um das von Arbeitern gehaltene Gebäude des „Vorwärts“ zu entsetzen. Ihr Vorhaben scheiterte 134 Brief Radeks an die Zentrale der KPD vom 9. Januar 1919. Möller, S. 108f. 135 Ebenda. Goldbach, S. 32. 136 Nicolaevsky, Boris: Les premières années de l’internationale communiste. D’après le réçit du camarade Thomas (1935), in: Freymond, J., Contributions à l’histoire du Comintern, Genève 1965, S. 14. Goldbach, S. 32, Anm. 67. 137 Radek, Nojabr’, S. 138.

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aus einem banalen Grund. Um in der Stadt nicht aufzufallen, hatten sie beschlossen in Soldatenuniformen zu agieren, aber Radek hatte man ein derart abgetragenes Exemplar besorgt, dass er allgemeines Aufsehen erregte, als er damit angetan auf die Straße trat. „Ich mußte nach Hause zurück“, erzählt er. „Ehe ich wieder menschliches Aussehen erlangt hatte, kam die Nachricht, daß das Gebäude des ,Vorwärts‘ von Truppen umstellt sei und gestürmt würde.“138 Er nahm von weiteren Aktionen Abstand, denn: „In der Stadt wurde geschossen. Überall wurden die Arbeiter entwaffnet.“139 Als der Aufstand zusammengebrochen war, hatte unter den beteiligten Organisationen die KPD die meisten Verluste zu beklagen. Ihre Führer tauchten unter, da ihnen in der Öffentlichkeit die Hauptverantwortung für die Kämpfe zugesprochen wurde, die 156 Todesopfer gefordert hatten. Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Karl Radek wurden als bolschewistische Handlanger denunziert und zu den Symbolfiguren einer antikommunistischen Propagandaoffensive mit deutlichen antisemitischen Zügen.140 Am 13. Januar 1919 veröffentlichte der „Vorwärts“ ein Hetzgedicht von Arthur Zickler, das die Pogromstimmung gegen die kommunistischen Führer anheizte: „Das Leichenhaus Vielhundert Tote in einer Reih’ – Proletarier! Es fragten nicht Eisen, Pulver und Blei, ob einer rechts, links oder Spartakus sei, Proletarier! Wer hat die Gewalt in die Straßen gesandt, Proletarier? Wer nahm die Waffe zuerst in die Hand und hat auf ihre Entscheidung gebrannt? Spartakus! Vielhundert Tote in einer Reih’ – Proletarier! Karl, Rosa, Radek und Kumpanei – es ist keiner dabei, es ist keiner dabei! Proletarier!“141

138 Ebenda. 139 Ebenda, S. 139. 140 Ein im Bestand des jüdischen Museums in Berlin befindliches, an die Berliner Arbeiterschaft gerichtetes zeitgenössisches Hetzflugblatt mit der Schlagzeile „Das sind eure Führer“ zeigt, neben anderen Porträts, auch die der KPD-Führer Radek, Liebknecht und Luxemburg als Karikaturen in der Manier des späteren nationalsozialistischen „Stürmer“. 141 Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, a.a.O., S. 293; zitiert nach dem leichter zugänglichen Text in: Waldman, S. 256.

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Zwei Tage später, am 15. Januar, verhaftete man Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Sie wurden an Angehörige der Gardekavallerie-Schützendivision übergeben, die im Hotel Eden am Kurfürstendamm, nahe dem Zoologischen Garten, ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatte und von diesen noch am gleichen Tage brutal ermordet. Radek erfuhr vom Tod der beiden Spartakusführer am darauffolgenden Abend aus einer Zeitung, die er sich auf dem Wege zu einem ersten konspirativen Treffen der KPD-Zentrale nach dem Aufstand gekauft hatte. Leo Jogiches, der die Führung der Partei übernahm, begrub jetzt endgültig den alten Streit mit Radek: „Rosa ist tot, wir müssen alle näher aneinander rücken.“142 In einer kleinen holländischen Teestube am Nollendorfplatz, wo man sich traf, versuchte er Radek vergebens zu überreden, Berlin zu verlassen und sich in Bremen oder München in Sicherheit zu bringen. „Ich lehnte es ab zu fahren“, erzählt Radek, „denn es war klar, daß man eine Gruppe zur Herausgabe des Zentralorgans der Partei [“Die rote Fahne“] zusammenstellen mußte. Als wir aus der Teestube hinausgingen, faßte mich Tyszka [Jogiches] plötzlich an der Hand und führte mich zur Litfaßsäule. Ich las ein Plakat, auf dem für meine Ergreifung ein Preis ausgesetzt war. Tyszka verlangte, daß ich tagsüber meine Wohnung nicht verlasse, wenn ich mich schon weigere abzufahren.“143

Gegen Radek lief seit dem 16. Januar ein Haftbefehl und im ganzen Reichsgebiet wurde fieberhaft nach ihm als dem vermuteten Drahtzieher der Januarkämpfe gesucht. An den Litfaßsäulen in Berlin klebten Plakate der „Vereinigung zur Bekämpfung des Bolschewismus“, die in Riesenlettern fragten, „Wo ist Radek?“ und für seine Ergreifung 10.000 Mark aussetzten.144 Gustav Mayer berichtet, dass sich die Liebknecht-Luxemburg- Mörder der Gardekavallerie-Schützendivision besonders eifrig an der Suche beteiligten: „Es war durchaus logisch, daß Hauptmann Waldemar Pabst145, der politische Kopf der Division, nach dem erfolgreichen Anschlag auf Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht Radek zu beseitigen wünschte, dem er bis dahin erfolglos nachgestellt hatte […]. Weil nun aber Radek bis dahin seine Spur jedesmal wieder verwischen konnte, wenn seine

142 Radek: Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, S. 87. 143 Radek, Nojabr’, S. 139f. 144 Text: „Wo ist Radek? Die Nachforschungen über den Aufenthalt des Bolschewistenführers haben bis jetzt noch keinen Erfolg gehabt. Die „Vereinigung zur Bekämpfung des Bolschewismus“ hat für die Ergreifung Radeks oder für Angaben, welche zu seiner Festnahme führen können, eine Belohnung von 10000 Mark ausgesetzt. Alle mündlichen oder schriftlichen Angaben sind an die Geschäftsstelle der Vereinigung, Berlin W 9, Schellingstraße 2, zu richten.“ Lerner, Bildseite 4 nach S. 82. Generalsekretär der Vereinigung war der rechte Publizist und Politiker Dr. Eduard Stadtler (1886–1945). 145 Pabst, Waldemar (1880–1970), Hauptmann; erster Generalstabsoffizier der GardekavallerieSchützendivision.

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Verfolger ihm schon auf den Fersen zu sein glaubten, so griffen diese zu immer unbedenklicheren Mitteln, um seiner habhaft zu werden.“146

Obwohl Radek zu seinem Stockholmer Bekannten Mayer in Berlin keinen Kontakt aufgenommen hatte, glaubten Pabst und seine Helfershelfer, der Gesuchte habe bei jenem Unterschlupf gefunden. Seit dem 18. Januar observierten sie Mayers Haus in Zehlendorf, hörten das Telefon ab, entsandten Lockspitzel und drangen schließlich bis an die Zähne bewaffnet mit dem Ruf „Gib Radek raus!“ nachts in das Haus ein.147 Radek befand sich unterdessen unentdeckt in seinem Domizil in Wilmersdorf. Gelegentlich wagte er es die Wohnung zu verlassen, etwa um den sterbenskranken, greisen Franz Mehring kurz vor dessen Tod am 28. Januar im Sanatorium im Grunewald zu besuchen.148 Die DDR-Historikerin Annemarie Lange behauptete sogar, Radek habe sich vor seiner Verhaftung „durchaus nicht versteckt“ gehalten: „Zwei jüngere Genossen trafen ihn einmal, an seiner Schifferfräse und Arbeitermütze nur zu leicht kenntlich, mitten auf der belebten Tauentzienstraße, faßten ihn unter und schleppten ihn fast mit Gewalt aus der Gefahrenzone.“149 Seinen eigenen Angaben zufolge schrieb und diktierte Radek damals „fast tausend Zeilen Artikel, Aufrufe und Broschüren.“150 Eine Menge davon kam bei seiner Verhaftung zu Tage151, aber vieles davon blieb allem Anschein nach, unveröffentlicht. Einiges erschien 1925 in der russischen Ausgabe seiner Schriften zur deutschen Revolution, „Germanskaja revoljucija“152, darunter auch eine Broschüre über „Die Lehren des Berliner Bürgerkrieges“, auf die noch zurückzukommen sein wird. Als Nachrufe auf die ermordeten KPD-Führer verfasste er zwei beeindruckende Porträts.153 Indem er darin das von ihm nicht gebilligte Verhalten Liebknechts während der Januarkämpfe verständnisvoll würdigte, schrieb er: „Die erste Welle der proletarischen Revolution trug ihn weiter, als er wollte, riß ihn mit sich. Im Sturm sah er die Entfernung nicht genügend scharf.“ Mit seinem „Tode im Kampfe“ habe er den Ehrentitel „Soldat der Revolution“ erworben; ihm würden noch „Tausende in den 146 Mayer, Gustav, S. 318. 147 Ebenda, S. 318–326. 148 Ebenda, S. 303. Demnach irrt Sisson (S. 269f.), der behauptet, Radek habe sich in der letzten Januarwoche 1919 in Wien aufgehalten. 149 Lange, S. 199. 150 Radek, Nojabr’, S. 138. 151 Bundesarchiv Koblenz, Preußisches Justizministerium, Ereignisse nach der Revolution, Band 1, S. 101–102. Goldbach, S. 34. 152 Radek, Germanskaja revoljucija. Sbornik statej. Tom 1, 2. Moskva – Leningrad 1925. 153 Radek, Karl Liebknecht zum Gedächtnis (18. Januar 1919), Anhang in: Karl Liebknecht, Klassenkampf gegen den Krieg, Berlin 1919. Den Nekrolog für Rosa Luxemburg, deren Leichnam erst am 31. Mai 1919 aus dem Landwehrkanal geborgen wurde, schloss Radek offensichtlich ab, nachdem auf der Beerdigung der Januar-Gefallenen am 25. Januar 1919 für sie ein leerer Sarg an der Seite Liebknechts beigesetzt worden war. Radek, Rosa Luxemburg, in: Radek: Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, Hamburg 1921.

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Märtyrertod folgen“.154 Auch Rosa Luxemburg sei zur Blutzeugin des Kommunismus geworden: „Sie starb auf dem Posten und ihr Blut wird für die Sache zeugen, der sie diente. Es wird ihrer Stimme ein Gehör verschaffen, wie sie es nicht haben würde, wäre sie lebendig unter uns geblieben. Wie ein Symbol liegt sie auf der Schwelle der proletarischen deutschen Revolution […]. Sie sagt dem deutschen Proletariat, unter wessen Fahne allein es siegen kann. Der blutige zerfetzte Leichnam Rosa Luxemburgs ist die Fahne des deutschen Kommunismus […].“155

„Wenn nicht die Schwatzhaftigkeit der nicht an Konspiration gewöhnten Genossinnen Stenotypisten gewesen wäre“, meinte Radek später, dann hätte er in der Wohnung der Witwe Callmann „so sicher wie in Abrahams Schoß sitzen können.“ Man kam ihm auf die Spur, weil es unter den Berliner Jungkommunisten – der „Freien Sozialistischen Jugend“ – ein offenes Geheimnis war, dass die ehemals in der sowjetischen Gesandtschaft als Schreibkraft beschäftigte „Genossin Lina Becker“ nunmehr bei Radek arbeite.156 Deren Observation führte die Kriminalpolizei am 12. Februar 1919 unmittelbar in die Paulsborner Straße 93 in Wilmersdorf: „Nach dem Klingeln wurde die Wohnung geöffnet, und die Beamten fanden Radek in der Wohnung am Tische sitzend. In seinem Zimmer befanden sich noch die Becker und [als eine weitere Stenotypistin] Frau Osterloh. Anfangs leugnete R., später gab er zu, der gesuchte Radek zu sein.“157

Radek schildert seine Festnahme, wie folgt: „Am 12. Februar beendete ich mein Diktat, aß zu Mittag und ging gerade an die weitere Arbeit, als plötzlich Polizeiagenten mit dem Ruf ,Hände hoch!‘ in das Zimmer eindrangen. In den Händen schwangen sie Handgranaten […] und fragten, ob ich nicht Herr Radek sei. Es hatte keinen Sinn zu leugnen, denn die Manuskripte und die anderen Papiere bewiesen es.“158

154 Radek , ebenda (Reprint), S. 77. 155 Ebenda, S. 68. 156 Radek, Nojabr’, S. 141. So berichtet auch Rosa Meyer-Leviné, Radek habe die Verhaftung seiner Sekretärin, einer ergebenen Kommunistin, zu verdanken gehabt: „Weil sie oft bis in die späte Nacht arbeiteten, mußte sie ihren eifersüchtigen Freund beschwichtigen und verriet ihm, daß sie für den berühmten Radek arbeite. Der junge Mann war tief beeindruckt, und gab damit vor seinen Arbeitskollegen an […].“ Meyer- Leviné, S. 357. 157 Polizeibericht über Radeks Verhaftung vom 26. Februar 1919; Anlage 1, in: Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 110. 158 Radek, Nojabr’, S. 140. In seiner „Avtobiografija“ (Sp. 168) wird die Verhaftung irrtümlich auf den 15. Februar datiert.

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Bei der Durchsuchung der Wohnung erregte ein Medizinfläschchen den Argwohn der Beamten, aber es handelte sich nicht um Gift sondern um ein Mittel, das Radek zur Linderung seiner Zahnschmerzen benutzte.159 Man fand zwar auf einen falschen Namen ausgestellte Lebensmittelkarten bei ihm vor, aber ansonsten verlief die Suche nach belastendem Material ziemlich ergebnislos. Im Bericht darüber heißt es: „An Geld hatte R[adek]. nur 8.000 Mark im Besitz. Irgendwelches bedeutendes Beweismaterial wurde bei der Durchsuchung der Wohnung nicht gefunden.“160 Die Beamten verständigten das „Freiwilligenregiment Reinhard“161 von der Festnahme Radeks. Dessen Kommandeur, Oberst Wilhelm Reinhard162, ein cholerischer Haudegen, war mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Stadtkommandanten von Berlin beauftragt und hatte seinen Sitz im Stadtgefängnis Berlin-Moabit. Er hielt sich für Radek zuständig, „zumal er ihn als militärischen Gefangenen, als Spion einer kriegführenden Macht ansah.“.163 Nach kurzer Zeit fuhren deshalb Soldaten des Regiments in einem Panzerauto vor, um ihn abzuholen. Als die Soldaten eintraten, bat Radek, die Willkür der Militärs fürchtend und das Schicksal Liebknechts und Luxemburgs vor Augen, einen der Kriminalbeamten doch bei ihm zu bleiben; er wolle sich später dafür erkenntlich zeigen.164 Wohl auf diese in sprödem Behördendeutsch im Polizeibericht wiedergegebene Szene bezugnehmend, hieß es dann in einem Gutachten des Auswärtigen Amtes, „Radek hat bei seiner Festnahme winselnd um sein Leben gebeten […].“165 In seinen Erinnerungen ist darüber verständlicherweise nichts zu lesen. Seine Ängste waren aber keineswegs unbegründet; drei Monate später wurde Leo Jogiches bei seiner Verhaftung „auf der Flucht erschossen“. Im Polizeibericht heißt es weiter: „Radek wurde zum Regiment Reinhard und von dort zum Untersuchungsgefängnis ,Moabit‘ gebracht. Bei seiner Untersuchung äußerte er sich dahin, daß er gar nichts gegen Deutschland unternommen habe, denn es habe sich nach dem ersten Putsch herausgestellt, daß Deutschland für den Bolschewismus noch nicht reif sei. Dagegen könne sich Frankreich über seine Festnahme freuen, denn mit allen Mitteln habe er den Bolschewismus weiter nach dort verpflanzen wollen.“166 159 Ebenda. 160 Polizeibericht über Radeks Verhaftung vom 26. Februar 1919, a.a.O., S. 111. 161 Der Verband bildete den Hauptbestandteil der in Berlin stehenden Regierungstruppen und hieß anfangs „mobiles 4. Garderegiment zu Fuß“ und seit 6. Februar 1919 „mobile 2. Gardeinfanteriebrigade“. 162 Reinhard, Wilhelm (1869–1955), Berufsoffizier; im 1. Weltkrieg ausgezeichnet mit dem Orden Pour le mérite mit Eichenlaub; schloss sich früh den Nationalsozialisten an (goldenes Parteiabzeichen); 1933 Führer der SA-Reserve, 1934 Reichsführer des NS-Deutschen Reichskriegerbundes „Kyffhäuser“, 1943 SS-Obergruppenführer. 163 Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 95. 164 Polizeibericht über Radeks Verhaftung vom 26. Februar 1919, a.a.O., S. 110. 165 Gutachten Freiherr von Thermann an Brockdorff-Rantzau vom 3. April 1919; Brockdorff-Nachlass, Auswärtiges Amt, Akte 18, H 235124ff. Schüddekopf, a.a.O., S. 95. 166 Polizeibericht über Radeks Verhaftung vom 26. Februar 1919, a.a.O., S.110f.

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Allerdings wurde Radek erst nach einem Zwischenstopp im Polizeipräsidium, wo man „ein formelles Protokoll“ aufsetzte, zum Regiment Reinhard verbracht. Er erzählte später, wie er in Handschellen Oberst Reinhard vorgeführt wurde: „Ich armer Schäker (er meinte Schächer) stand gefesselt vor ihm und meine Schönheit fand keine Gnade vor seinen Augen. ,So, nun haben wir dich ja, du rotes Schwein!‘ brüllte er mich an.“167 Angesichts der gewaltbereiten „Meute von Offizieren, Unteroffizieren und Soldaten“, die in der Kanzlei der Stadtkommandantur über ihn herfallen wollten, habe er seine einzige Chance darin gesehen, den Oberst durch selbstbewusstes Auftreten einzuschüchtern und zu verunsichern. Er sei Reinhard mit wiedergewonnener Chuzpe gegenübergetreten und habe so seine polizeiliche Überführung in das nahegelegene Zellengefängnis in der Lehrter Straße erreicht.168 Über die Ankunft in der Haftanstalt, in der ebenfalls Angehörige des Regiments Reinhard Bewachungsaufgaben wahrnahmen, berichtet er: „Man führte mich lange Korridore entlang und hinunter in den Keller. Eine Zelle, die durch Gitter in drei Teile geteilt war, wurde geöffnet. In der Mitte befand sich in einem Käfig das Bett. Man zog mich nackend aus, durchsuchte mich eingehend und befahl mir, mich wieder anzuziehen. Statt der Handschellen brachte man eine Eisenplatte von 20 Zentimeter Breite und siebzig Zentimeter Länge, befahl mir, die Hände in die Öffnungen zu legen, und machte sie dann zu. Die Platte wurde mit einer Kette an der Wand befestigt.“169

Erst jetzt fand der Leutnant, der Radek eskortiert hatte, in dessen Rocktasche ein in Saffian gebundenes Buch, „den ersten Teil des ,Faust‘ in der Ausgabe des Inselverlages“. Verlegen „blätterte er in dem unsterblichen Werk Goethes, als suche er nach seinen Lieblingsstellen“. Als junger Student, der ins Freikorps eingetreten war, hatte er sich Bolschewiken wie Banditen vorgestellt, schreibt Radek. „Hätte er in meiner Tasche eine Bombe gefunden wäre er nicht erstaunt gewesen, aber der ,Faust‘ brachte alle seine Vorstellungen durcheinander.“170 Durchaus möglich, dass Radek den Band Goethe aus Liebe und Verehrung mitführte, wie es auch Rosa Luxemburg mit Faust II bei ihrer Verhaftung getan hatte. Nicht auszuschließen aber auch, dass er das Buch eingesteckt hatte, um seine Häscher zu beschämen; seinem listenreichen Wesen hätte das entsprochen.171 Der Offizier jedenfalls gab Radek das Buch zurück, 167 Mitteilung Prof. Dr. Alexander Rüstow, damals Beamter im Reichswirtschaftsministerium und Dozent an der Hochschule für Politik in Berlin, an O. E. Schüddekopf über ein Gespräch, das er 1919 mit Radek im Moabiter Gefängnis führte; in: Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 144. 168 Radek, Nojabr’, S. 141f. Das Moabiter Zellengefängnis in der Lehrter Straße existiert heute nicht mehr. 1849 erbaut, wurde es im 2.Weltkrieg teilweise zerstört und 1952 abgerissen. Es handelte sich um einen sternförmigen, fünfflügeligen Zellenbau mit Einzelhaftzellen, der zwischen der Moabiter Kaserne und dem Lehrter Bahnhof lag. 169 Radek, Nojabr’, S. 141. 170 Ebenda, S. 142f. 171 Möller, S. 24.

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salutierte und sagte: „Entschuldigen Sie, ich handele auf direkten Befehl von Oberst Reinhard.172 Legen Sie sich schlafen, Sie sind sicher müde. Sie können ruhig sein, ich stelle zuverlässige Wachen auf. Es wird Ihnen nichts geschehen.“173 Der Leutnant, „anscheinend ein Liebhaber der klassischen Literatur“, hielt Wort. Der von ihm aufgestellte Wachposten verscheuchte energisch die sich vor der Zelle zusammenrottende Soldateska, die murrend äußerte, „der Hund müsse fertiggemacht werden“ und mit der Pistole durch das Guckloch in der Tür hindurch schießen wollte. Es kehrte Ruhe ein, und Radek fiel nach den Aufregungen des Tages in einen tiefen, traumlosen Schlaf.174 *** Im Jahre 1918 war Radek ein revolutionärer Enthusiast, der zu jenen sowjetischen Führern zählte, von denen der Journalist Hans Vorst damals schrieb, sie seien „auf der Leiter des Handelns so hoch geklettert, daß ihnen die Wirklichkeit fremd geworden ist.“ Sie träumten von der Weltrevolution. „Diese Leute sehen nicht den Abgrund, der sich unter ihnen schon gehöhlt hat, und Radek ruft triumphierend, es ist eine Lust zu leben.“175 Vorst berichtet über ein Gespräch mit Radek, den er als einen „Abenteurer“ betrachtete: „Sehr deutlich enthüllte sich mir sein Wesen, als ich ihm gegenüber eines Tages bemerkte, wenn die Hoffnung der Bolschewisten in Erfüllung ginge und die soziale Revolution die ganze Kulturwelt erfaßte, so würde alles zugrundegehen, was mir das Leben wert gemacht habe, und den Wiederaufbau, wenn er käme, würden wir nicht mehr erleben. Er erwiderte leichthin: ,Was ich im Leben brauche, wird es schon noch geben – und vor allem: es wird dann eben eine Revolution geben, und das ist doch das Schönste.‘“176

Beim Zusammenbruch der Mittelmächte vermeinte Radek, endlich den „eisernen Schritt“ der Weltrevolution zu vernehmen. Als Karl Liebknecht nach zweieinhalbjähriger Haft am 23. Oktober 1918 aus dem Zuchthaus entlassen wurde, frohlockte er, dass die deutsche Revolution nun einen Führer hatte.177 Radeks Auffassung hatte in Moskau Gewicht. „Bei den Russen war er der ,Deutsche Nr. 1‘, der als Lenins Rat172 Schüddekopf, gestützt auf die Akten des Preußischen Justizministeriums, schreibt, Oberst Reinhard habe die Fesselung Radeks und dessen besonders abgesicherte Unterbringung in einer isolierten Beruhigungszelle für tobsüchtige Schwerverbrecher damit gerechtfertigt, dass er ihn für einen gefährlichen Verbrecher gehalten und Selbstmord, Selbstbefreiung oder Befreiungsversuche von außen befürchtet habe. Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 95. 173 Radek, Nojabr’, S. 142f. 174 Ebenda. 175 Vorst, Das bolschewistische Rußland (Artikel vom 20.10.1918), Leipzig 1919, S.  219f. Merz, S. 297. 176 Merz, S. 298. 177 Radek, Nojabr´, S. 120.

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geber für deutsche Fragen großes Ansehen genoß.“178 Mit Ausbruch der Revolution in Deutschland wirkte er entscheidend an der Formulierung der Position mit, die Sowjetrussland zu den Ereignissen einnahm. Zusammen mit Čičerin übermittelte er den Berliner Volksbeauftragten den Vorschlag, gemeinsam gegen die Entente zu kämpfen, wobei er in der Erwartung eines schnellen Sieges der Revolution, gegenüber Haase „unglaublich dreiste Forderungen“179 aufstellte. Das entsprach dem von Radek in der Politik favorisierten Stil, „den Stier bei den Hörnern zu packen.“ Es war aber – wie Alfons Paquet dazu im Moskauer Außenkommissariat kritisch anmerkte – doch eher Ausdruck dafür, „daß sich die hiesigen Politiker, ohne Weisheit, in der Psychologie Deutschlands schwer irren und den Bogen überspannen.“180 Unter dem Eindruck des Gesprächs mit Haase, in dem Radek auch die sofortige Rückkehr Ioffes nach Berlin gefordert hatte, erklärten die Volksbeauftragten der SPD ihren Unabhängigen Genossen: „Da seht ihr ja, was wir zu erwarten haben, wenn diese Gesandtschaft wieder zurückkehrt. Sie wird uns in die schlimmsten Verwicklungen mit der Entente führen.“181 Und der Volksbeauftragte Barth nannte in seinen Memoiren die Unvorsichtigkeiten Radeks „eine große Eselei und die denkbar schwerste Schädigung der Weltrevolution.“182 Der so Gescholtene sah das selbstverständlich völlig anders. Noch später ereiferte er sich über die Zurückweisung des russischen Hilfsangebots, als er in einer Sitzung der Komintern erklärte: „Es gibt indessen Dinge in der Geschichte einer Arbeiterpartei, die man nicht vergißt. Mit den Führern, die zusammen mit Haase für die Politik des November 1918 verantwortlich sind, wollen wir nichts zu tun haben. Es gibt Dinge, die ein Revolutionär, und mag er noch so sehr irregeführt sein, nicht tut, und dazu gehört der Bruch der Solidarität mit einer Arbeiterklasse, die ihre Hilfe anbietet.“183

Radek zog es im November 1918 mit aller Macht ins Zentrum der deutschen Revolution, nach Berlin. Er erwog sogar, die Reise von Petrograd aus mit einem UBoot durchzuführen; damit könne er in zwei bis drei Tagen vor Ort sein.184 Seine Reisepläne hatten sich weit herumgesprochen. Der deutsche Gesandte in Schweden warnte am 22. November das Auswärtige Amt, es lägen ihm Informationen vor, wonach Radek sich vorbereite, nach Berlin zu fahren.185 Es ist viel darüber gerätselt worden, mit welchem Auftrag er seine Reise schließlich angetreten hat. Er selbst 178 Fischer, Louis, S. 383. 179 Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918, S. 363. 180 Paquet-Tagebuch (18. November 1918), S. 251. 181 So der Volksbeauftragte Dittmann vor der Komintern am 29. Juli 1920. Baumgart, a.a.O., S. 363. 182 Barth, Emil: Aus der Werkstatt der deutschen Revolution, Berlin 1919, S. 68. Baumgart, a.a.O., S. 364. 183 Radek vor der Komintern am 29. Juli 1920. Baumgart, a.a. O., S. 364. 184 Paquet-Tagebuch (18. November 1918), S. 251. 185 Akten betreffend Radek, Mikrofiche Nr. 2761 B II (22. November 1918). Lerner, S. 78.

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erwähnt nur, Lenin habe ihm Instruktionen für die Arbeit „im Rücken des Feindes“ erteilt. Lerner mutmaßt, er könnte damit beauftragt worden sein, die Streitigkeiten unter den deutschen Linksradikalen beizulegen und die Linke ohne Rücksicht auf seine persönlichen politischen Präferenzen zu einigen.186 Angress schreibt bezogen auf die Mission der Delegation des VCIK, die Radek dann im Alleingang ausführte, „ihr wirklicher Auftrag“ habe gelautet, „den Versuch zu unternehmen, die deutsche Revolution weiter nach links zu treiben.“187 Das ist plausibel, aber es ist zu fragen, welcher Weisungen denn ein Sowjetführer überhaupt bedurfte, der die bolschewistische Strategie und Taktik der Revolution nicht nur verinnerlicht, sondern aktiv mit formuliert und praktiziert hatte, der an der Definition der Ziele der Außenpolitik Sowjetrusslands und deren Implementierung maßgeblich beteiligt war – ja, in dieser Hinsicht als Alter ego Lenins galt – und bei dem es sich zugleich um den besten Kenner der deutschen Verhältnisse handelte. Indem er sich seine guten Deutschkenntnisse und seine Fähigkeit Dialekte nachzuahmen zunutze machte188, begab er sich als österreichischer Kriegsgefangener verkleidet im Dezember 1918 illegal nach Deutschland. Unterwegs halfen ihm Phantasie, Mut, Einfallsreichtum und Energie, sich durch zahlreiche Fallen und schwierige Situationen hindurchzulavieren.189 Ein Porträtfoto aus jener Zeit, auf dem er bartlos und mit kurzgeschorenem Haar zu sehen ist, zeigt, dass er sein Aussehen dem militärischen Milieu angepasst hatte, in dem er sich unterwegs unauffällig bewegte.190 Radek war ein scharfer Beobachter und erfasste die Lage in Deutschland rasch. War er in Moskau, von Illusionen befangen, noch äußerst euphorisch gewesen, so merkte er bald nach seinem Eintreffen in Berlin, dass man von einer Revolution nach russischem Muster und der Geburt eines Sowjetdeutschlands sehr weit entfernt war. Die ideologischen Differenzen der zahlenmäßig schwachen und organisatorisch zersplitterten Linksradikalen sowie deren geringe Präsenz und Resonanz in den Arbeiterund Soldatenräten ließen ihn schnell erkennen, dass es an der „Zeit für Organisation und nicht für Revolution“191 war. Merkwürdigerweise wird diese frühe Erkenntnis in der Geschichtsschreibung oft übersehen und erst auf seine Haftzeit in Moabit datiert. Selbst Schüddekopf meint, Radek habe erst im Gefängnis die innenpolitische Situation richtig eingeschätzt.192 Seit 1916 hatte Radek die Abspaltung von der Sozialdemokratie und die „Gründung einer eigenen Partei der Linksradikalen“, einer „Internationalen Sozialistischen Partei Deutschlands“ gefordert. Jetzt wurde er, wie die Vorgeschichte des Gründungsparteitages zeigt, nicht nur der Geburtshelfer, sondern der „wahre Gründer 186 Lerner, S. 80. 187 Angress, S. 87. 188 Lerner, S. 78. 189 Fischer, Louis, S. 385. 190 Wiedergabe in: Lerner, Bildseite 4 nach S. 82. 191 Lerner, S. 81. 192 Möller, S. 29.

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der KPD“193. Als Emissär Moskaus hat er aus nachvollziehbaren Gründen diese Rolle jedoch nie für sich in Anspruch genommen. In seinen Memoiren spricht er lediglich davon, dass er sich an der „Organisation des ersten Parteitages der Genossen in Deutschland“ b e t e i l i g t hat.194 Er war es aber, der diesen Schritt seit langem ideologisch vorbereitet hatte, die Fusion der Internationalen Kommunisten Deutschlands mit dem Spartakusbund durchsetzte sowie eine Schlüsselrolle dabei einnahm, den Widerstand von Luxemburg und Jogiches gegen den Bruch mit der USPD und die Parteigründung zu überwinden. Berücksichtigt man Radeks Rolle hinter den Kulissen, dann erscheint das Urteil nicht haltbar, wonach „die Ereignisse auf dem Gründungsparteitag zeigten, daß die russischen Bolschewisten mit der Gründung der KPD […] nicht direkt zu tun hatten.“195 Auch wenn sich der offizielle Vertreter Sowjetrusslands in der Rede auf der Gründungsveranstaltung der Kommunistischen Partei Deutschlands darauf beschränkte, die Solidarität zu unterstreichen, die die deutschen und die russischen Kommunisten verband, wussten die Delegierten, dass er sich aktiv für die Vereinigung von Spartakusbund und IKD eingesetzt hatte. Dadurch wurde seine Autorität noch erhöht und man bereitete ihm begeisterte Ovationen.196 Zu dieser Zeit glaubte er schon nicht mehr an die unmittelbar bevorstehende deutsche Revolution: „Wir sind überzeugt, daß die Weltrevolution im Eilschritt gehen wird“, doch „niemand kann das Tempo der Entwicklung berechnen.“ Seine revolutionäre Phraseologie wurde von vielen als ein Appell an die KPD, in einem Aufstand die Macht zu ergreifen, missverstanden.197 Aber nichts lag ihm ferner, als die junge Partei, die in Berlin kaum fünfzig Mitglieder hatte, in einem sinnlosen Putsch zu verheizen. Dennoch haben seine Ausführungen auf dem Gründungsparteitag und der bald darauf folgende Januaraufstand, die Mythenbildung, insbesondere unter seinen politischen Gegnern, beflügelt. Eduard Stadtler, der Führer der „Antibolschewistischen Liga“ schreibt, Lenin habe 1918 „seinen besten Mann, den großen Revolutionsdrahtzieher Karl Radek“ nach Berlin entsandt, damit er „die strategische Führung der deutschen Revolution“ in die Hand nehme. Sein Erscheinen habe den „Beginn des eigentlich bolschewistischen Stadiums der deutschen Revolution“ bedeutet: „Es war das Signal zum Losschlagen. In den ersten Tagen der Anwesenheit Radeks wurde die ,Kommunistische Partei‘ gegründet und unmittelbar darauf, in den Weihnachtstagen selbst [sic!], brach unter Führung Radeks in Berlin die kommunistische Revolution, der 193 Schurer, Part I, S.68. 194 Radek, Avtobiografija, Sp. 168. 195 Waldman, Spartakus, S. 211. 196 Weber, Hermann: Der Gründungsparteitag der KPD, S. 44. 197 Spitzelbericht der preußischen Polizei. Akten betreffend Radek, Mikrofiche Nr. A54719 (31. Dezember 1918). Lerner, S. 82. Auch Historiker haben Radeks Rede als Aufruf zur Revolution missdeutet; so beispielsweise Fainsod, Merle: International Socialism and the World War, Cambridge/ Massachusets 1935, S. 180 und Freund, Gerald: Unholy Alliance , New York 1957, S. 35f. Lerner, S. 82, Anm. 23.

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große Spartakusaufstand aus […] Deutschland schien rettungslos der Bolschewisierung verfallen und Radek konnte triumphierend nach Moskau melden, daß der totale Sieg nur noch eine Angelegenheit von Tagen und Wochen sein könnte.“198

Die historischen Fakten sprechen freilich eine andere Sprache. Radek hat später vor dem Untersuchungsrichter zu Recht behauptet, er habe seit seiner Ankunft in Berlin in keiner Weise zu revolutionären Aktionen aufgerufen, was in strengem Sinne auch zutrifft.199 In der Januarkrise erwies er sich wie immer, wenn er einer praktischen Herausforderung gegenüberstand, als ein „hartgesottener Realist“200. Er hielt die Beteiligung der KPD an dem Putsch einer radikalen Minderheit von Revolutionären Obleuten und USPD-Linken für einen Fehler, der sofort und rücksichtslos korrigiert werden musste, und er bot sein ganzes Prestige auf, um die Parteiführer zum Rückzug zu veranlassen. Er berief sich dabei auf das Spartakusprogramm, das erklärte: „Der Spartakus-Bund wird nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren, unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Masse in ganz Deutschland […].“201 In einer „Die Lehren des Berliner Bürgerkrieges“202 betitelten differenzierten Analyse untersuchte Radek unmittelbar nach den Januarkämpfen die Ursachen der Niederlage der KPD; zugleich befasste er sich ausführlich mit der Haltung der Partei zu den Räten. Er stellte fest, sowohl die Massen als revolutionäre Kraft als auch die Partei als deren Vorhut hätten im Januar 1919 noch nicht existiert. Die Parolen der SPD von Ruhe und Ordnung sowie von schrittweisen Reformen hätten unter den Arbeitern größeren Anklang gefunden als die Forderung der Kommunisten nach Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg. Der Spartakusbund habe versagt. Die untereinander zerstrittene Führung habe nicht einmal den Versuch unternommen, sich die Situation klarzumachen und sie sei deshalb auch nicht in der Lage gewesen, konkret zu führen. Ihre Propaganda beschränkte sich auf Protest. Niemand habe den Massen auf den Straßen ein Kampfziel gewiesen. Und so habe eine Partei reagiert, die in ihrem Grundsatzprogramm verkündet habe, nur auf den ausdrücklichen Willen der Mehrheit der Arbeiterklasse nach der Macht zu greifen. Die erste Konsequenz und damit die eigentliche Lehre der Januarkämpfe müsse heißen: Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse durch Eroberung der Mehrheit der Räte. Durch die Umstellung der Organisation der Partei und ihrer Agitationsinhalte gelte es, die Anhänger der SPD in den Betriebsräten abzuwerben. Die Betriebsräte müssten die 198 Stadtler, S. 70f. 199 Goldbach, S. 29. 200 Schurer, Part I, S. 69. 201 „Was will der Spartakusbund?“; in: „Die Rote Fahne“, 14.12.1918. Nettl, Rosa Luxemburg, S. 709. 202 Das noch vor Radeks Verhaftung am 12. Februar 1919 verfasste Manuskript erschien sechs Jahre später in der russischen Ausgabe seiner Schriften zur deutschen Revolution: Radek, Germanskaja revoljucija, 1925, tom 2, S. 101 – 147. Die inhaltliche Wiedergabe folgt Goldbach, S. 34f.

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kleinsten Zellen der KPD werden. Durch das Aufgreifen von Themen wie Arbeitslosigkeit und unzureichende Lebensmittelversorgung würden sich Ansatzpunkte für die Kontrolle der Produktion bieten. So betrachtet stehe man in Deutschland nicht am Ende, sondern erst am Anfang der revolutionären Entwicklung. Im Grunde ist das die Essenz seiner Vorstellungen über die „nächsten Aufgaben“ der Partei, die er bereits in seiner Rede vor dem Gründungsparteitag angedeutet, in seinen „Berliner Briefen“ prägnant formuliert und während des Aufstandes in dem Brief an die Parteizentrale mahnend wiederholt hatte. Kurz darauf wiederholte er in einem Brief aus dem Gefängnis noch einmal, er sei gegen die „Januarputsche“ gewesen, „weil die Eroberung der politischen Macht von unserem Standpunkt nur möglich ist, wenn wir die Mehrheit der Arbeiterklasse hinter uns haben. Das hatten wir nicht im Januar […].“203 Daraus zu folgern, er habe sich damit insbesondere in der Frage der Gewinnung der Macht „eindeutig und mit allen Konsequenzen auf die Seite des Spartakusprogramms gestellt“, erscheint jedoch voreilig.204 Den von Lenin apostrophierten inneren Gesetzen der deutschen Revolution und der Ermahnung die Ereignisse nicht zu forcieren Rechnung tragend, handelte es sich bei seinen Empfehlungen vor allem um ein taktisches Manöver. Unter Verweis auf ihr eigenes Programm sollten die KPD-Führer von Revolutionsabenteuern zurückgehalten werden, mit denen die Existenz der Partei aufs Spiel gesetzt wurde. Bei dem aus der Haft geschriebenen Brief mag dann auch der Gedanke eine Rolle gespielt haben, sich vor dem die Post mitlesenden Staatsanwalt von dem Vorwurf zu entlasten, er habe zum gewaltsamen Umsturz aufgerufen. Radek war keinesfalls von seiner aus Sowjetrussland importierten Auffassung abgekommen, wonach die Revolution nur als Tat einer aktiven Minderheit – also der kommunistischen Partei – beginnen könne, wie er es in seiner Schrift „Die Entwicklung von der Wissenschaft zur Tat – Die Lehren der russischen Revolution“ dargelegt hatte, einer Broschüre, die seine These bis in die Dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts fortwährend verbreitete. 1919 bekannte er sich noch aus dem Gefängnis heraus erneut zur gewaltsamen Machtergreifung durch eine kommunistische Minderheit: „Wie kommen wir zur Staatsgewalt? Werden wir [in einer revolutionären Situation] exakt feststellen können, daß wir die Mehrheit der Bevölkerung hinter uns haben? […] Daß durch irgendwelche Wahlen festgestellt werden könnte, auf welcher Seite die Mehrheit steht, ist fast unwahrscheinlich. Es ist auch zweifelhaft, daß das bewußte, nach Herrschaft strebende Proletariat, jemals vor der Machtergreifung eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich haben wird […]. Aber selbst wenn sich um die kommunistische Avantgarde des Proletariats eine Mehrheit sammeln würde, wenn sie mathematisch feststellbar wäre, so würde auch dann nicht zu hoffen sein, daß die Bourgeoisie sich einer Mehrheit unterwerfe.“205

203 Radek an Paquet, ca. 20. März 1919. Paquet, Der Geist der russischen Revolution, S. VI. 204 Goldbach, S. 34. 205 Radek, Proletarische Diktatur und Terrorismus, S. 36f.

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Die sich widersprechenden Ausführungen Radeks über den Weg zur Macht verdeutlichen seinen ausgeprägten Pragmatismus. Er handelte niemals abstrakt und doktrinär. Seine moralisch und ideologisch wertfreie Haltung verriet sich in Äußerungen, die auch aus dem Munde von faschistischen Führern hätten stammen können. Mussolini hat gleichlautendes gesagt206 wie Radek zu Leo Matthias207: Die Doktrin sei zwar die Achse des Lebens, aber man könne sich auch von ihr entfernen. Sie sei im Grunde nur ein Stützpunkt, eine Operationsbasis, deren Zweck nicht erfüllt werde, wenn man sie nicht verlässt. Er fügte hinzu: „Im Grunde genommen ist eben jedes Prinzip nur halb richtig. Jedenfalls wird es falsch, wenn man es durchführen will. Es hat nur den Zweck, die Regel festzulegen. Wir arbeiten daher eigentlich garnicht nach einer ,Theorie‘, haben eigentlich auch keine ,Ideologie‘, sondern nur ein Ziel.“208 Das Ziel war die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft durch revolutionären Umsturz und Diktatur des Proletariats. Im Hinblick darauf machte er keine Konzessionen. In Fragen der Taktik flexibel, bekannte er sich zu einer Spielart politischen Verhaltens, die er als „offenen Jesuitismus“ bezeichnete: „Man muß manchmal mit zwei Karten spielen – aber man soll offen spielen […]. Es ist manchmal unehrlich nicht mit zwei Karten zu spielen.“209 Typisch war auch Radeks Reaktion auf den Einwand, die Teilnahme an den Wahlen zur deutschen Nationalversammlung von 1919 bedeute deren Anerkennung durch die Kommunisten: „Mein lieber Herrgott! Ich anerkenne alles was, was existiert, weil ich Augen habe. Es kommt nur darauf an, wozu ich es benutze.“210 Nach den Januarkämpfen vollzog Radek eine unbewusste Weichenstellung im Hinblick auf sein persönliches Schicksal, als er sich weigerte dem Rat von Jogiches zu folgen und nach Bremen oder München abzutauchen. In der Hansestadt versank die von seinen einstigen politischen Weggefährten Knief und Henke geführte Räterepublik bald im Chaos.211 Sie wurde – wie auch später die Räterepublik in der bayerischen Hauptstadt – blutig zerschlagen. Im Strudel dieser Ereignisse hätte er wie Eugen Leviné in München leicht untergehen können. „Nach der Ermordung Rosa Luxemburgs und Liebknechts blieb ich illegal in Berlin und wirkte an der Füh206 Schüddekopf, Linke Leute von rechts, S. 13. 207 Matthias, Leo (1893–1970): Dr. jur., Schriftsteller, Professor der Soziologie; in den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts Verfasser kritischer Reisereportagen, u.a. „Genie und Wahnsinn in Russland“. 208 Matthias, Leo, S. 146. 209 Ebenda und S. 149. 210 Radek, in: „Kommunistische Rätekorrespondenz“, Nr. 17/1919, S. 5. Goldbach, S. 30. Zu Radeks Haltung in der Wahlfrage siehe oben, Anm. 89. 211 Am 10. Januar 1919 proklamierte in Bremen die KPD (Knief ) mit Unterstützung der USPD (Henke) eine kommunistische Räterepublik, um die in Berlin kämpfenden Revolutionäre zu unterstützen. Es handelte sich zu dieser Zeit um den einzigen kommunistischen Umsturzversuch außerhalb der Reichshauptstadt. Die im politischen und administrativen Chaos versinkende Räterepublik wurde auf Befehl Noskes am 4. Februar 1919 durch das Freikorps „Division Gerstenberg“ militärisch zerschlagen.

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rung der Partei mit“212, schreibt er in seinen Memoiren. Zusammen mit den beiden Spartakusführern galt er als Staatsfeind Nummer 1. Auch deshalb ist der erst 1962 aufgekommene Verdacht absurd, Radek habe die Parteiführer vor ihrer Verhaftung denunziert. Diese Vermutung geht auf einen Brief zurück, den Anželika Balabanova vermutlich von dem ehemaligen Menschewisten Solomon Schwarz erhielt. Darin heißt es: „Ich erinnere mich oft an meine Gespräche mit Theodor Liebknecht [Karls Bruder], der mir sagte, daß Radek Karl verraten hat. Einen Tag vor der Verhaftung sei Karl auf der Straße Theodor begegnet und im Gehen habe er ihm mitgeteilt, er habe Beweise dafür, daß Radek Verbindung zu militärischen Kreisen habe und daraus geschlossen, er sei ein Verräter.“213

Lerner ist der begründeten Ansicht, Schwarz habe Radek mit Wilhelm Pieck verwechselt214 und obwohl bislang unbewiesen, gibt es ernstzunehmende Indizien dafür, dass letzterer seine Genossen denunziert hat.215 Als Karl Radek am 12. Februar 1919 gefasst wurde, erklärte er, dass Frankreich sich über seine Verhaftung freuen könne, da er geplant habe, den Bolschewismus mit allen Mitteln dorthin zu verpflanzen. Er spekulierte mit dieser antifranzösischen Bemerkung wohl auf das Verständnis und Entgegenkommen der Soldaten, in deren Gewalt er sich befand. Seine Äußerung war jedoch sachlich gerechtfertigt. Die Siegermächte meinten damals, Deutschland müsse erheblich mehr gegen den Bolschewismus tun und beobachteten mit Argwohn Radeks mehrfach verkündete Möglichkeit eines deutsch-sowjetischen Bündnisses sowie von Propagandavorhaben unter den alliierten Kriegsgefangenen. Für Aufruhr in Berlin sorgte dazu eine angebliche Äußerung Radeks vor Spartakusleuten, wonach der Soldatenrat von Falkenhayns 10. Armee im Osten gewillt sei, Truppen der Roten Armee durchzulassen, die den deutschen Kommunisten bei einem Aufstand zu Hilfe kommen würden.216 Dazu kam auch noch eine Kontroverse mit Sowjetrussland. Aufgrund übertriebener An212 Radek, Avtobiografija, Sp. 168. Auch bereits zuvor hatte er sich „illegal“ in Berlin befunden. Nicht zu belegen und wohl unzutreffend ist es, wenn Annemarie Lange behauptet, „Radek lebte ,halblegal‘ in Berlin als Beauftragter Lenins und wurde mit Jahresschluß [1918] der Leiter der neueröffneten Petrograder Nachrichtenagentur ROSTA. Überall wo was los war, ob in der Buchhandlung der ,Aktion‘ [d.h. der kommunistischen Zeitschrift „Die Aktion“, Berlin W15, Kaiserallee 222] ob im Marstall bei den Matrosen, war Karl Radek zu finden.“ Lange, Annemarie, S. 127. 213 Brief von S[olomon Schwarz ?] an Anželika Balabanova, April 1962. Tuck, S. 53. 214 Tuck, S. 54. 215 Nettl (Rosa Luxemburg, S. 547) und Waldman (Spartakus, S. 195f.) deuten dies an. Nollau stellt kategorisch fest, Pieck habe bei der gleichzeitigen Verhaftung mit Luxemburg und Liebknecht einen Handel mit seinen Häschern gemacht und seine Genossen verraten. 216 Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 102f. Der Soldatenrat der 10. Armee wies am 8. Januar 1919 in einem Telegramm an das Auswärtige Amt das ihm angeblich von Radek unterstellte Verhalten als unwahr und eine „Beleidigung“ zurück. Ebenda.

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gaben der Justizverwaltung hatte der Sender Nauen am 14. Februar 1919 in einem Funkspruch verbreitet, man habe bei Radek Dokumente gefunden, die auf die Vorbereitung eines kommunistischen Aufstandes bei gleichzeitigem Angriff der Roten Armee auf Ostpreußen hätten schließen lassen. In einem am 15. Februar an das Auswärtige Amt gerichteten Telegramm reagierte das sowjetische Außenkommissariat darauf und bestritt die Existenz solcher Dokumente, da Angriffspläne nicht bestünden. Unter Verweis auf Lenins Rede vor dem VCIK am 3. Oktober 1918 und die Resolution dieses Gremiums vom gleichen Tage drahtete Čičerin, alle sowjetischen Aussagen über eine mögliche militärische Intervention in Deutschland bezögen sich nur auf den Fall eines Angriffs „der Entente-Imperialisten gegen Deutschland, der sich in einen Kampf gegen das proletarische Deutschland verwandeln kann, in welchem Falle eine revolutionäre Regierung auf die Hilfe Sowjetrußands zählen könne.“217 Obwohl bei Radek weder kommunistische Aufstands- noch Angriffspläne gefunden wurden, hielten sich phantasievolle Gerüchte, über seine angeblichen verschwörerischen Aktivitäten. Wipert von Blücher lässt ihn bereits Anfang Dezember 1918 unterirdisch in Berlin wirken.218 Stefan T. Possony macht ihn für die Radikalisierung der deutschen Revolution um die Jahreswende 1918/19 verantwortlich und erwähnt – unter Berufung auf Miljukov – einen zwischen Radek und Liebknecht abgeschlossenen Geheimvertrag219 – als ob zwischen marxistischen Internationalisten ein solches Papier jemals notwendig gewesen wäre!220 In der noch bis zum Ende des Kalten Krieges immer wieder zitierten Lenin-Biographie von Shub heißt es, bei Radeks Verhaftung „im „bolschewistischen Propagandabüro in Berlin“ [sic!] habe die Polizei den Entwurf eines Planes für eine allgemeine kommunistische Offensive im Frühjahr 1919 in seinem Besitz gefunden. Der Plan hätte vorgesehen, dass gleichzeitig mit dem Einmarsch der Roten Armee über Polen ein kommunistischer Aufstand in Deutschland losbrechen sollte. An die Stelle der Regierung Ebert-Scheidemann sollte eine „echte revolutionäre Regierung treten, die sich mit Rußland am Rhein verbünden und den imperialistischen Alliierten“ einen neuen Krieg erklären sollte.221 Solche Dokumente existieren selbstredend nicht. Auch in Berlin hatte Radek keineswegs zu sofortigem Handeln aufgerufen. Der gegen ihn ermittelnde Staatsanwalt, der sein Manuskript über die Strategie der KPD zur Eroberung der Macht prüfte, musste zugeben: „Aufforderung zur Gewalt, zum Umsturz durch Gewalt und Aufhetzung der Klassen sind in dieser Schrift kaum festzustellen.“222

217 Akten der Reichskanzlei, Weimarer Republik. Das Kabinett Scheidemann, Dokument Nr. 58, 2. Mai 1919, Anm. 7. 218 von Blücher, S. 42. 219 Possony, S. 134. 220 Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 87f. 221 Topitsch („Stalins Krieg. Die sowjetische Langzeitstrategie gegen den Westen als rationale Machtpolitik“), der Shub (Lenin, S. 396) zitiert. 222 Goldbach (S. 35), unter Bezugnahme auf die Akten des Preußischen Justizministeriums.

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Dennoch handelte es sich bei Radeks Berlinmission um einen unerhörten Vorgang. Als Mitglied der Regierung des ehemaligen Feindstaates Sowjetrusslands, der den Friedensvertrag von Brest-Litovsk aufgekündigt hatte, war er getarnt als Heimkehrer heimlich in die deutsche Hauptstadt gereist, um dort als erklärter Gegner eines demokratischen Verfassungsstaates aus der Illegalität heraus die KPD als eine revolutionäre Umsturzpartei mitzubegründen. Er verstand sich als Soldat der Revolution. Dem Gründungsparteitag hatte er stolz zugerufen, „wir Soldaten der Revolution“ gelangen überall hin, „wo uns das Interesse der Weltrevolution ruft“.223 Mit seiner Verhaftung war er in die Hände der Soldaten der Konterrevolution geraten, die ihn im Zellengefängnis Moabit in eiserne Ketten legten. Ihn auf ähnliche Weise zu beseitigen, wie Liebknecht und Luxemburg, getraute sich das Regiment Reinhard jedoch nicht mehr. Die Empörung der Berliner Arbeitermassen über die Ermordung der Spartakusführer wirkte abschreckend. Außerdem betrachtete man ihn als einen Vertreter der Sowjetregierung, die noch Tausende deutscher Kriegsgefangener in ihren Händen hielt224. Innen- und außenpolitische Beweggründe waren es auch, die den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes veranlassten, bereits im zeitlichen Vorfeld der Festnahme Radeks, dessen erwogene Auslieferung an die Entente zu untersagen. Brockdorff-Rantzau wollte angesichts der ohnehin labilen inneren Sicherheitslage zusätzliche Probleme mit den linksradikalen Kräften in Deutschland vermeiden und gleichzeitig verhindern, die zukünftige Russlandpolitik des Reiches mit einem solchen Schritt von vornherein zu belasten.225

223 Weber, Gründungsparteitag, S. 84. 224 Mayer, Gustav, S. 326f. 225 Schlesinger, S. 53.

11.  Gefangen in Moabit (1919–1920) Am 13. Februar 1919 meldete die „Vossische Zeitung“ die am Vortage erfolgte Festsetzung Radeks als des „gefährlichsten geistigen Führers“ der Spartakisten.1 „Die Rote Fahne“ protestierte gegen seine Verhaftung und gegen die „schweren eisernen Fesseln, […] wie das selbst bei Raubmördern nicht mehr üblich ist.“ Sie drohte mit Sanktionen durch Sowjetrussland, sollte Radek der Meucheljustiz der Militärs zum Opfer fallen. „Radek als Mitglied des Rats der Volkskommissare ist kollektives Staatsoberhaupt und genießt als solches völkerrechtliche Exterritorialität.“2 Das traf zwar nicht zu, sollte aber Eindruck machen, denn wer konnte damals schon genau wissen, welche Position Radek in der Sowjethierarchie einnahm.3 Der Erfolg der Polizei führte sogleich zu einer heftigen Kontroverse zwischen Militär und Justiz. Oberst Reinhard beantragte, Radek als russischen Spion dem Militärgericht zu übergeben. Der preußische Justizminister Heine protestierte am 14. Februar telegraphisch bei der Nationalversammlung in Weimar gegen die militärische Einmischung und der Untersuchungsrichter hob am gleichen Tage die Fesselung des Gefangenen auf. Er sorgte dafür, dass er aus dem Kellerverlies in eine saubere Zelle im dritten Stock des Moabiter Untersuchungsgefängnisses verlegt wurde. Dennoch durften ihn seine beiden durch Paul Levi vermittelten Anwälte, Dr. Siegfried Weinberg und Dr. Kurt Rosenfeld – beide USPD-Mitglieder – zunächst nur unter Aufsicht sprechen und für den täglichen Hofgang sollte er gefesselt werden. Bis diese Anordnung aufgehoben wurde, verzichtete er auf den Spaziergang.4 Seine Zelle hatte ein doppeltes Schloss und ein Beamter hielt vor seiner Tür ständig Wache. Nachts wurde ein drittes Schloss angebracht und ein Soldat des Freikorps Kessel, einer „ausgewählten Totschlägerorganisation“, wie Radek urteilt5, stand Posten. Es war genau diese militärische Präsenz, die ihn verunsicherte und er fühlte sich dadurch latent bedroht. Oberst Reinhard hatte ihm erklärt, dass er ihn am liebsten erschießen würde, „wenn diese ,verfluchten Juden Scheidemann und Ebert‘ nicht solche Angst vor den Bolschewiken hätten“ und man ihm nicht befohlen hätte, ihn „nicht anzufassen“.6 Während der Märzkämpfe7 in Berlin versetzte Radek eine Alarmübung der neben dem Gefängniskomplex kasernierten Soldaten in Angst und Schrecken. Er beschwerte sich über seine Anwälte bei Justizminister Heine über die

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Legters, S. 56. Die Rote Fahne“ Nr. 27, 28, 30, 36 vom 13., 14., 16., 25. Februar 1919. Goldbach, S. 39. Goldbach, S. 40. Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 95. Radek, Nojabr’, S. 146. Radek, Nojabr’, S. 143. Nach einem Aufruf zum Generalstreik kam es in Berlin vom 3.–8. März 1919 zu Arbeiterunruhen und heftigen Kämpfen; über die Stadt wurde der Belagerungszustand verhängt.

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martialischen Zustände in Moabit und schilderte am 11. März Alfons Paquet seine Gemütsverfassung in einem Brief: „Heute habe ich den ersten Abend seit 8 Tagen, der nicht von Maschinengewehrfeuer und wilden Schreien tobt. Meine überanstrengten Nerven haben sich etwas beruhigt. […] Sie wissen, daß ich mutig bin und zu sterben verstehen werde, selbst wenn es so blöd geschehen sollte, in einer Gefangenenzelle niedergemetzelt zu werden, was bei diesen Zeitläuften so möglich ist.“8

Gut eine Woche später teilte er seiner Frau gleichlautende Befürchtungen mit: „Der Tod Rosas, Karls und […] Leos9 sagt alles was die Situation an Möglichkeiten enthält. Deshalb habe ich während der März Kämpfe klar und offen die Regierung auf diese Möglichkeiten durch meinen Rechtsanwalt hinweisen lassen. Trotzdem haben sie mich hier im Gefängnis gelassen, dessen andere Flügel eine Kaserne der Freiwilligen bilden und der Justizminister Heine (jawohl der ethische Heine!) hielt es für möglich [nötig?], mich von der Tribüne des Landtags als ,Weltverbrecher‘, der die Seele aller auf Erniedrigung Deutschlands hinzielenden Bestrebungen [ist?], der Aufmerksamkeit der Patrioten zu empfehlen.“10

Einen Gewinn für seine Sicherheit versprach sich Radek von einem Appell, den er an den II. Kongress der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte Deutschlands richtete, der vom 8. bis 14. April in Berlin tagte. In einem drei Seiten langen Schreiben machte er auf die Gefahren aufmerksam, die ihm „in dem Gefängnis, das gleichzeitig Kaserne ist, täglich drohen“, und er appellierte an die Verantwortung der deutschen Räte für seine Sicherheit: „Ich überlasse es dem Kongreß der deutschen A.- und S.Räte, selbst zu urteilen, welchen Schutz er dem Delegierten des Zentralen Vollzugsausschusses der russischen A.- und S.-Räte schuldet.“11 Seine Befürchtungen waren nicht aus der Luft gegriffen. Noch im Juni wurde während eines Hofgangs aus der benachbarten Kaserne scharf auf ihn geschossen und die Kugeln schlugen nur zwei Schritte vor ihm ein.12 Berücksichtigt man die Umstände seiner Unterbringung im Zellengefängnis in Moabit, so erscheint das Urteil des damaligen Russlandbearbeiters im Auswärtigen Amt, des Freiherrn von Thermann13, in einem anderen Licht. 8 Brief Radeks an Paquet. 11. März 1919. Paquet, Der Geist der russischen Revolution, S. VII und S. IX. 9 Leo Jogiches, nach dem Tode Luxemburgs und Liebknechts der Führer der KPD, wurde nach seiner Verhaftung am 10. März 1919 erschossen. 10 Brief Radeks an seine Frau, 20. März 1919. Schüddekopf, a.a.O. (Anlage 2), S. 111. 11 Schreiben Karl Radeks an den II. Kongreß der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte Deutschlands, April 1919; in: Michaelis/Schraepeler, Band III, Dokument 686, S. 298–300. 12 Radek, Nojabr’, S.  147. Am 18. Juni 1919 kam es wegen dieses Zwischenfalls zu einer kleinen Anfrage in der Preußischen Landesversammlung. Schüddekopf, a.a. O., S. 96. 13 Thermann [bei Schüddekopf: „Thaermann“], Edmund Freiherr von (1884–?); deutscher Diplomat.

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Er bescheinigte Radek fanatischen Zynismus und persönliche Feigheit: Er habe bei seiner Festnahme um sein Leben gewinselt und „zittert jetzt in seiner Zelle vor jedem Besuch.“14 Noch bedrohlicher erschien Radek eine mögliche Ausweisung nach Sowjetrussland. Seiner Frau schrieb er: „Die größte Gefahr droht in dem Falle, daß sie mich ausweisen. Die Reise geht durch Ostpreußen, das vollkommen in den Händen des Militärs ist. Gehe ich nicht von hier mit einer Deckung politisch verantwortlicher Leute oder des Rothen Kreuzes oder der Neutralen und verpflichtet sich nicht die Deutsche Regierung, mich direkt in die Hände einer russischen Empfangskommission auszuliefern, so ist die Gefahr gleich groß auf ostpreußischem wie auf dem ,herrenlosen‘ Gebiete zwischen den beiden Truppen. Ich werde alles tun, um hier das notwendige zu erreichen, Du fordere von Lenin, daß die Regierung von Moskau radiotelegraphisch dieselben Forderungen stelle.“15

Die Bol’ševiki hatten bereits vierzehn Tage vorher versucht, Radek zu Hilfe zu kommen. Da zwischen Sowjetrussland und dem Deutschen Reich keine diplomatischen Beziehungen mehr bestanden, ernannte Radeks Freund Rakovskij, der an der Spitze der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik16 stand, ihn am 5. März zum Botschafter Kievs in Berlin. Der Funkspruch, in dem die Ernennung dem Auswärtigen Amt mitgeteilt wurde, forderte die Freilassung Radeks und seine Installierung im Gebäude der Botschaft am Kronprinzenufer. Das Auswärtige Amt reagierte nicht darauf und Radek erfuhr erst drei Monate später aus der Londoner „Times“, dass die ukrainische Sowjetregierung ihn zu ihrem Botschafter in der Reichshauptstadt ernannt hatte.17 Aber auch Moskau blieb nicht untätig. Um einen Austausch Radeks zu erreichen, nahm Sowjetrussland deutsche Geiseln, darunter auch den deutschen Konsul in Odessa.18 Wenn man ihm schon keinen diplomatischen Schutz geben konnte, so wollte man wenigstens signalisieren, dass er zur Führungsmannschaft der Bol’ševiki zählte. In Abwesenheit wurde er auf dem VIII. Parteitag der Kommunistischen Partei Russlands (Bol’ševiki) vom 18. bis 23. März 1919 ins Zentralkomitee der Partei gewählt. Für Radek, der immer wieder gegen die Fortdauer der Haft unter militärischer Kontrolle protestierte, hatten sich in Moabit die Bedingungen rasch gebessert. 14 Gutachten Freiherr von Thermann an Brockdorff-Rantzau vom 3. April 1919; Brockdorff-Nachlass, Auswärtiges Amt, Akte 18, H 235124ff. Schüddekopf, a.a.O., S. 95. 15 Radek an seine Frau, 20. März 1919. Schüddekopf, a.a.O., S. 111f.. Eines der von Radek erbetenen Telegramme findet sich in den Akten der Reichskanzlei, Bundesarchiv, Parteien 8, 36 f. (Aufnahme Breslau 16.4.1919 von Moskau an Königswusterhausen und Budapest). Goldbach, S. 40, Anm. 11. 16 Die Sowjetukraine, am 18. Dezember 1917 in Char’kov ausgerufen, hatte am 14. Februar 1919 die Föderation mit Sowjetrussland proklamiert, wobei die ukrainische Autonomie weitgehend gewahrt blieb. 17 Radek, Nojabr’, S. 149f. 18 Schüddekopf, a.a.O., S. 96f. Die acht Geiseln, darunter Dr. Brendel, Franz Cleinow, Heinz Stratz, wurden im Sommer 1919 verhaftet und zum Teil bis zu sieben Monaten festgehalten.

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Gleich nach seiner Einlieferung besorgte man ihm auf seinen Wunsch hin einen Band Shakespeare und Paul Levi, der nach dem Tod von Jogiches die Führung der KPD übernommen hatte, schickte ihm einen Schinken – im hungernden Berlin eine Rarität.19 Über das Dänische Rote Kreuz erhielt er dann sogar ein Lebensmittelpaket aus Kiev mit Bonbons, Maiskonserven und Moosbeerenextrakt zugestellt.20 Die Lebensumstände im Gefängnis beschrieb er seiner Frau: „Ich habe eine saubere Zelle, kriege von außen genug Nahrung, Bücher. Arbeite den ganzen Tag, habe das englische wieder repariert. Wenn die Haft länger dauert werde [ich] ein Buch fertig haben. Schreibe auch zur Erholung meine Jugenderinnerungen.“21 In seinen Novembererinnerungen erwähnt er die „Behaglichkeit der Zelle“ und erzählt: „Schon in den ersten Tagen war mir erlaubt worden, Zeitungen zu abonnieren und Bücher zu bekommen. Zuerst bestellte ich zwei oder drei Zeitungen, aber später, als ich mich näher mit [dem Untersuchungsrichter von] Ziethen bekanntgemacht hatte, erhielt ich die Erlaubnis, beliebig viele zu bestellen. Ich bestellte mir die ganze führende Weltpresse und Wirtschaftszeitungen, führte eine Karthot[h]ek ein und bearbeitete alle mich interessierenden Fragen. An Büchern hatte ich bald eine ganze Bibliothek zusammen, so daß man mir eine zweite Zelle zur Verfügung stellte. Ich beschäftigte mich vor allem mit der Geschichte der Diktatur in den bürgerlichen Revolutionen.“22

„Am schwersten“ so beklagt er sich, „war zu ertragen, daß ich keine Sowjetpresse und keine unmittelbaren Nachrichten über unsere Lage erhielt.“23 Über seine Frau erbat er sich von Osinskij „einen knappen rein tatsächlichen Bericht“ zur aktuellen Situation in Sowjetrussland, insbesondere über die Wirtschaftslage.24 Bereits am Tage nach Radeks Verhaftung wurde im Zellengefängnis Moabit die Voruntersuchung für das gegen ihn geplante Gerichtsverfahren aufgenommen. Zu den Anschuldigungen „Beihilfe zum Spartakusputsch“, „Aufreizung zum Klassenhass“ und „Geheimbündelei“ befand der Untersuchungsrichter das vorliegende Material „äußerst gering“ bis „noch unzureichend“. Lediglich zu Punkt 4 der Anklage – „schwere Urkundenfälschung“ – gab es genügend Beweise. Er habe sich mit einem falschen Pass Lebensmittelkarten verschafft. Die Ermittlungen kamen bald ins Stocken. Schon im März schrieb Radek an seine Frau: „Juristisch ist die Sache 19 20 21 22

Radek, Nojabr’, S. 143 und S. 145. Ebenda, S. 150. Brief Radeks an seine Frau, 20. März 1919. Schüddekopf, a.a.O., S. 112. Radek, Nojabr’, S. 146. Das Ergebnis der historischen Studien fand seinen Niederschlag in Radeks im Gefängnis geschriebener Broschüre „Proletarische Diktatur und Terrorismus“ (Hamburg 1919), einer Replik auf Karl Kautskys Schrift „Terrorismus und Kommunismus“ (Berlin 1919). Darin polemisiert er wütender denn je gegen Kautsky und dessen Kritik an der Herrschaftspraxis der Bol’ševiki. 23 Radek, Nojabr’, S. 150. 24 Brief Radeks an seine Frau, 20. März 1919. Schüddekopf, a.a.O., S. 112.

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papperlapapp.“25 In einem Brief an Reichsaußenminister Hermann Müller26 vom 1. Juli 1919 wies er auf die Ungereimtheiten der Anklage und die Lächerlichkeit der Vorwürfe hin. Seine Verhaftung sei ein einziger Willkürakt gewesen, „ein reiner Akt politischen Kampfes und nicht eine Justizmaßregel.“ Im Hinblick auf die Vorwürfe des Landfriedensbruches und des Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz im Zusammenhang mit den Januarkämpfen habe die Staatsanwaltschaft dem Untersuchungsrichter kein Belastungsmaterial liefern können: „So untersuchte er die bei mir vorgefundenen Dokumente. Es waren Artikel und Broschüren, die zum Teil druckfertig waren, aus denen sich aber ergab, daß sie der Verbreitung der Grundsätze des Kommunismus dienen sollten, und darum eben, von ihrem Standpunkt aus, sich in entscheidender Weise gegen jeden Versuch der Machtergreifung wandten, bevor die Mehrheit der Arbeiterklasse sich zum Kommunismus durchgerungen hat. In Artikeln, die im Bremer Kommunist vor den Januarunruhen veröffentlicht waren, bezeichnete ich die bevorstehende Periode der kommunistischen Politik als die der Agitation und Organisation.“27

Radek machte darauf aufmerksam, dass er in den Januartagen die KPD kritisiert habe, weil sie „den Massen nicht klipp und klar gesagt hat, daß zur Zeit an die Machtergreifung nicht zu denken ist“ und er „vor Gewalttaten aufs eindringlichste gewarnt“ habe. Gegen den Vorwurf, er habe sich illegal unter falschem Namen in Berlin aufgehalten, verteidigte er sich mit dem Argument, er sei als Vertreter des russischen VCIK auf „Einladung des Berliner Vollzugsrathes der A. und S. Raethe, also der damals höchsten Regierungsgewalt in Deutschland legal als Delegierter“ zum Reichsrätekongress eingereist. Auf dem Gründungsparteitag der KPD sei er „offen unter eigenem Namen“ aufgetreten. Erst nach den Januarkämpfen habe er sich unter falschem Namen verborgen, um dem Schicksal Liebknechts und Luxemburgs zu entgehen. Es sei absurd, wenn der Staatsanwalt ihm zunächst unterstellt habe, er hätte sich seinen falschen Pass in gewinnsüchtiger Absicht beschafft. Es gehöre schon ein ungewöhnliches Maß an Humor dazu, anzunehmen, „ein Mitglied der russischen Regierung lebe in Berlin unter falschem Passe um Lebensmittelkarten zu ergattern.“ Kein Gericht würde dem Glauben schenken. Auch die Anklage wegen öffentlicher Aufreizung zum Klassenhass sei nicht stichhaltig. Die bei seiner Festnahme beschlagnahmten Materialien seien entweder schon publiziert gewesen, ohne dass die Justizbehörden dagegen eingeschritten wären, oder aber noch unveröffentlichte Manuskripte, auf die damit die Tatbestandsmerkmale nicht zutreffen würden.28

25 Brief Radeks an seine Frau, 20. März 1919. Schüddekopf, a.a.O., S. 112. 26 Müller, Hermann (1876–1931); SPD-Politiker, Vertrauter Eberts; als Nachfolger von BrockdorffRantzau seit 21. Juni 1919 Reichsaußenminister; 1920 und 1928–1930 Reichskanzler. 27 Radek an Hermann Müller, 1. Juli 1919; in: Schüddekopf, a.a.O. (Anlage 3), S. 114. 28 Ebenda, S. 115f.

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Es waren aber nicht nur die deutschen Behörden, die sich für Radek interessierten. Die aufsehenerregende Verlautbarung über den angeblichen Inhalt der bei ihm sichergestellten Dokumente hatte das Interesse der Entente-Siegermächte an dem Fall geweckt. Sie betrachteten mittlerweile den Bolschewismus als Hauptbedrohung und wünschten Einblick in das vorgefundene Material zu erhalten. In der zweiten Märzhälfte 1919 erschien sowohl eine französische als auch eine britische Militärdelegation in Berlin, um die Radek-Akten einzusehen. Da sie nur sehr dürftiges Material enthielten und insbesondere nichts über Verbindungen Radeks nach Frankreich und England, reisten die Offiziere ohne Ergebnis wieder ab. Am 9. April jedoch, traf erneut ein britischer Stabsoffizier in Berlin ein, um im Namen Londons inoffiziell zu erklären, die britische Regierung sei von der Gefahr des Bolschewismus auch für England überzeugt. Nach Kenntnisnahme der bei Radek gefundenen Unterlagen glaube man jedoch nicht, dass er in Deutschland auf längere Zeit in Haft gehalten werden könne. London sehe in ihm aber den gefährlichsten bolschewistischen Agitator und schlage deshalb vor, ihn an die Engländer zur Überführung in das von ihnen besetzte Köln auszuliefern. Die juristische Begründung für diesen Schritt liefere Radeks Erklärung, das bei ihm vorgefundene Geld sei für die Propaganda gegen die Ententeländer bestimmt gewesen. Der britische Vorschlag traf im Preußischen Justizministerium und im Auswärtigen Amt unterhalb der Ministerebene auf positive Resonanz. Dort wäre man froh gewesen, durch die Auslieferung den leidigen Fall endlich loszuwerden und auf diese Weise den Alliierten die antibolschewistische Haltung der deutschen Regierung überzeugend dokumentieren zu können. Man hätte sich aus dem Dilemma befreit gesehen, dass Berlin die von Moskau geforderte Überstellung Radeks „mit Rücksicht auf das tatsächlich geringe Belastungsmaterial“ nicht verweigern konnte, wohl wissend, „der Eindruck einer derartigen Maßnahme bei der Entente müßte geradezu verhängnisvoll sein.“29 Mit Rücksicht darauf hatte Reichsaußenminister BrockdorffRantzau schon Anfang März geäußert, „Radek könne er unter keinen Umständen freilassen.“30 Im Januar 1919 hatte er bereits sein Veto gegen Erzbergers Auslieferungspläne eingelegt.31 Auch jetzt scheiterte das Vorhaben, Radek den Engländern zu übergeben, an Brockdorffs Widerstand. Er war nicht bereit, Radek als wertvollstes Unterpfand für eine Annäherung an den Osten freiwillig aus der Hand zu geben. Er erklärte am 13. April, er trage innenpolitisch schwerste Bedenken gegen die Absicht, Radek ins besetzte Gebiet nach Köln zu bringen. Selbst die als Kompromiss angebotene Überführung nach Köln unter Verbleib in deutschem Gewahrsam bedeute noch einen „recht erheblichen Verzicht auf die eigene Souveränität.“32 29 Gutachten Freiherr von Thermann an Brockdorff-Rantzau vom 3. April 1919; Brockdorff-Nachlass, Auswärtiges Amt, Akte 18, H 235124. Schüddekopf, a.a.O., S. 106. 30 Graf Kessler (Tagebucheintrag vom 4. März 1919), S. 145. 31 Siehe oben, Kapitel 10, Anm. 121. 32 Vgl. die detaillierte Darstellung anhand der Akten des Preußischen Justizministeriums, des Auswärtigen Amtes und des Brockdorff-Rantzau-Nachlasses, in: Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 103–107.

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So verblieb Radek im Zellengefängnis an der Lehrter Straße, wo er am 19. Juni von seiner Ernennung zum Vertreter der Ukrainischen Sowjetrepublik erfuhr. Der neue Reichsaußenminister Müller habe dies zwar ignoriert, erzählt Radek, aber der Gefängnisdirektor reagierte darauf, indem er den unbequemen Kübel in der Zelle gegen einen großen Porzellannachttopf austauschen ließ. Er selbst, habe dem Außenministerium sofort eine „diplomatische Note“ geschickt, die jedoch ohne Antwort geblieben sei.33 Bei der „Note“ handelte es sich um den oben erwähnten Brief an Hermann Müller vom 1. Juli 1919, den Radek in seiner Eigenschaft als „Mitglied der russischen, Vertreter der ukrainischen Raetheregierung“ und „Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Rußlands“ schrieb. Er bezeichnete sich als „einen Führer des Weltkommunismus“ und indem er auf die bereits erwähnten Schwachstellen der Anklage verwies, nannte er seine „schon 4 ½ Monate andauernde Haft“ einen „Akt der puren Gewalt“. Mit Blick auf das Los der in Sowjetrussland festgesetzten deutschen Geiseln, forderte er von Müller eine Überprüfung seines Falles: „Sie brauchen nur, – wozu Sie verpflichtet sind -, weil deutsche Bürger und Beamte als Geisel in Rußland für meine Sicherheit mit ihren Köpfen einstehen müssen – vom Justizministerium die Konkretisierung der gegen mich in fünfmonatlicher Untersuchung gesammelten Beweise einzufordern. Das Justizministerium wird nicht imstande sein, Ihnen auch nur die geringste Tatsache zu nennen […].“34

Bereits vier Tage bevor Radek diese in völlig undiplomatischem Ton abgefassten brüskierenden Zeilen zu Papier brachte, hatte das Reichskabinett in einer gemeinsamen Sitzung mit dem Preußischen Staatsministerium beschlossen, ihn im Austausch gegen die deutschen Geiseln an Russland auszuliefern. Im Protokollvermerk der Sitzung, an der auch Radeks einstiger Freund Konrad Haenisch als preußischer Kultusminister teilnahm, wurde festgehalten: „Der Reichsminister des Auswärtigen [Hermann Müller] teilte mit, daß der zur Zeit verhaftete russische Volkskommissar Radek voraussichtlich nicht in Haft gehalten werden könne. Das Kabinett empfiehlt, Radek in diesem Falle über die russische Grenze auszuweisen, und zwar möglichst in der Weise, daß eine Vereinbarung mit der russischen Regierung auf gegenseitigen Austausch mit Deutschen, die von russischer Seite in Haft gehalten werden, getroffen wird.“35

33 Radek, Nojabr´, S. 149f. 34 Radek an Hermann Müller, 1. Juli 1919; in: Schüddekopf, a.a.O. (Anlage 3), S. 118. 35 Akten der Reichskanzlei, Weimarer Republik. Das Kabinett Bauer, Dokument Nr. 5 (Gemeinsame Sitzung des Reichskabinetts mit dem Preußischen Staatsministerium vom 26. Juni 1919, 11 Uhr), S. 17. Wenn Franz (S. 483) schreibt, Haenisch habe sich Anfang 1920 als Minister für den verhafteten Radek eingesetzt und daran mitgewirkt, dass dieser gegen deutsche Häftlinge der Sowjetre-

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Nachdem die monatelange Voruntersuchung ohne greifbares Ergebnis geblieben war, beantragte die Staatsanwaltschaft am 12. August 1919 das Verfahren einzustellen und Radek und die mitangeklagten Sekretärinnen Lina Becker und Hertha Osterloh freizulassen. Eine Haftentschädigung wurde abgelehnt, „da das Verfahren weder ihre Unschuld ergeben noch dargetan hat, daß gegen sie ein begründeter Verdacht nicht vorlag.“36 Radeks Untersuchungshaft wurde in militärische Schutzhaft umgewandelt; zuständig wurde Kriegsgerichtsrat Sohl im Reichswehrministerium.37 Die weitere Behandlung des Falles wurde jedoch in die Hände des Auswärtigen Amtes gelegt, das nun die Rückführung Radeks nach Sowjetrussland in die Wege zu leiten hatte. Vorher hatte sich die sowjetische Regierung noch verpflichten müssen, Radek nach seiner Rückführung keinen neuen Auftrag in Deutschland zu geben und Versuche von ihm ins Reich zu gelangen, nicht zu unterstützen.38 Radek schreibt: „Die Untersuchung war abgeschlossen. Damit war auch meine Isolierung zu Ende. Man hielt mich im Gefängnis fest und erklärte, ich würde freigelassen, wenn Sowjetrußland die Geiseln entließe, die für mich festgehalten wurden, und wenn sich eine Gelegenheit für meine Reise ergäbe39. Am 16. August ließ er dem Moskauer Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten in einem Funkspruch mitteilen, er befinde sich bis zu seiner Rückreise in militärischer Schutzhaft.40 Er blieb zwar weiterhin im Moabiter Zellengefängnis untergebracht, erhielt aber die Erlaubnis in der ehemaligen Wohnung eines Gefängniswärters – und nicht wie oft kolportiert, in seiner Zelle – Besucher der verschiedensten Couleur zu empfangen. Radek nutzte diese Möglichkeit sogleich, um einflussreichen Politikern, Publizisten, Wirtschaftsführern und Militärs, die ihr Russlandbild bisher hauptsächlich auf Informationen aus Emigrantenkreisen gestützt hatten, den neuen Sowjetstaat als attraktiven Partner für eine künftige Kooperation zu empfehlen. Auf einem roten Plüschsofa sitzend, führte er lange und oft sehr lebhafte Gespräche.41 Gleichzeitig begann er wieder, unmittelbaren Einfluss auf die Geschicke der KPD zu nehmen. Sehr treffend, sprach er später davon, bei ihm im Gefängnis sei innerhalb weniger Tage „ein politischer Salon“ entstanden.42 Die Besuche sowohl seiner Genossen als auch von Prominenz aus dem bürgerlichen Lager, die das „rote Wundertier“ bestaunen wollte, organisierte Radeks alter Bekannter Karl Moor. Er hatte sich im August 1918 nach Moskau begeben und war im März 1919 über Stockholm nach Deutschland zurückgekommen, um als

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gierung ausgetauscht wurde, so bezieht sich das wahrscheinlich auf Haenischs Verhalten in dieser Kabinettssitzung. Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 97. Ebenda, S. 98. Ebenda, S. 97. Radek, Nojabr´, S. 151. Schüddekopf, a.a.O., S. 97. Die „militärische Schutzhaft“ Radeks begann am 15. August 1919. Erinnerungen von Prof. Dr. Alexander Rüstow; in: Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 144. Radek, Nojabr´, S. 152.

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sowjetischer Einflussagent zu wirken. Als „Vertrauensmann der Bolscheviki in Berlin“ wohnte er mit seiner juwelenbehängten russischen Freundin im Hotel. „Ein Diplomat ohne amtliche Beglaubigung“43, benutzte er seine guten Verbindungen zur Sozialdemokratie und ins Reichswehrministerium, um Radeks Lage in Moabit zu erleichtern und für ihn Außenkontakte zu schaffen. Ruth Fischer erzählt, wie Moor ihren Besuch bei Radek in die Wege leitete: „Moor führte mich zu meinem größten Erstaunen zum Hauptquartier des Generalstabs in der Bendlerstaße, wo sich alle Türen automatisch öffneten. Ein Offizier gab mir einen Paß auf dem Name, Stand und Beschreibung deutlich gefälscht waren; und mit diesem Paß hatte ich dreimal wöchentlich Zugang zu Radeks Zelle.“44

Einen Eindruck von der Atmosphäre des „politischen Salons“ vermittelt Max Barthel, der den Gefangenen als vorgeblicher Gehilfe des Zahnarztes aufsuchte: „Im Besuchszimmer warteten einige Leute. Und schon fegte er herein, der Herr Botschafter der Ukraine. Er trug eine Art militärischer Uniform aus grauem Tuch und sah wie ein gutmütiger Menschenaffe aus. Bemerkenswert war sein Bart, eine Schifferfräse, die das Gesicht umgab. Hinter großen schwarzgerahmten Brillengläsern blitzten dunkle Augen. Aber das war kein Gefangener, der bei uns stand, vielmehr ein Mann, der Audienz gab und sich dessen bewußt war. Wem gab er Audienz? Da wartete ein bekannter Professor, der sich für die russische Agrarfrage interessierte [Otto Hoetzsch45], Maximilian Harden46 war da, der gefürchtete Leitartikler der „Zukunft“, dann ein englischer Journalist, klug und skeptisch [Philips Price], dort einige Herren mit kommerziellen Plänen und im Hintergrunde hochgewachsen, das Gesicht beherrscht, ein Mann der den hohen Offizier nicht verleugnen konnte. Weiter ein Verbindungsmann zur KPD-Zentrale und zuletzt eine elegante Dame in einem Wölkchen Parfüm.“47

Der herausragendste Besucher im „Salon“ war Walther Rathenau48, Präsident der Allgemeinen-Electricitäts-Gesellschaft (AEG) und Mitglied des vorläufigen Reichswirtschaftsrates. Lebhaft am Rußlandgeschäft interessiert, war er bereits über den 43 Barthel, S. 55. 44 Fischer, Ruth, Stalin, S. 251. Es war das Truppenamt im Reichswehrministerium, das für die Erteilung der Besuchserlaubnis zuständig war; ein Generalstab existierte nicht mehr. 45 Hoetzsch, Otto (1876–1946); Historiker und DNVP-Politiker; Mitbegründer und Vorsitzender der „Deutschen Gesellschaft zum Studium Rußlands“ und Herausgeber osteuropakundlicher Zeitschriften. 46 Harden, Maximilian; Pseudonym von M. Witkowski (1861–1927); einflussreicher Publizist und Schriftsteller; Hrsg. der politischen Wochenzeitschrift „Die Zukunft“; ursprünglich Monarchist, wandelte er sich im 1. Weltkrieg zum Pazifisten; entschiedener Gegner des Nationalsozialismus. 47 Barthel, S. 66f. 48 Rathenau, Walther (1867–1922); Industrieller, Schriftsteller, Staatsmann; seit 1915 Präsident der AEG; als Politiker der Deutschen Volkspartei (DVP) am 31.1.1922 zum Reichsaußenminister er-

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Wunsch der Sowjets nach enger wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit Deutschland unterrichtet.49 In Moabit erschien er überraschend „ohne jegliche Ankündigung“, berichtet Radek: „Ich kannte ihn nur aus seinen Büchern, von seiner Tätigkeit als Vorsitzender des Vorstands der AEG und als Organisator der Versorgung Deutschlands mit Rohstoffen während des Krieges. Später habe ich noch häufig Gelegenheit gehabt, mit ihm als Außenminister Deutschlands zusammenzutreffen, und ich konnte mir ein sehr klares Bild von diesem sehr komplizierten Menschen machen. Schon bei der ersten Begegnung fielen mir seine bedeutendsten Eigenschaften auf: eine hervorragende abstrakte Geisteskraft, der Mangel an jeglichem Einfühlungsvermögen und eine krankhafte Eigenliebe.“50

Das ist zwar nicht gerade eine liebevolle, aber doch im Wesentlichen zutreffende Charakterisierung. Rathenau, ein hochgebildeter und kultivierter Großbürger, war der Ansicht, Radek sei „ein ungewöhnlich intelligenter und interessanter Bursche“, den man unbedingt kennenlernen müsse.51 Dann urteilte er aber ebenfalls wenig schmeichelhaft über seinen Gesprächspartner. Er nannte ihn „zweifellos klug und witzig, aber einen schmierigen Kerl, den echten Typus eines gemeinen Judenjungen.“52 Später auf Radek angesprochen, machte er nur noch „eine abweisende Handbewegung“.53 Radek erzählt, Rathenau habe seiner eigenen angenehmen Baritonstimme mit Wohlgefallen lauschend, ihm mehr als eine Stunde lang die Weltlage dargelegt. Mit seiner Sympathie für einen gebremsten Staatssozialismus interessierte ihn das sowjetische Gesellschaftsexperiment, aber seinem Zuhörer habe er geraten: „Lesen Sie meine Bücher […]. Marx schuf nur die Theorie der Zerstörung. In meinen Büchern finden Sie die Theorie des konstruktiven Sozialismus.“ Und, so spottet Radek, „bescheiden“ erklärte er: „Es ist der erste wissenschaftliche Schritt, der nach Marx getan wurde.“54 In ihrer Beurteilung der Situation stimmten beide Männer jedoch in hohem Maße überein. Rathenaus Ausführungen machen das deutlich: „Sowjetrußland wird nicht besiegt werden […]. In Deutschland ist der Sieg der Revolution für lange Jahre hinaus unmöglich. Der deutsche Arbeiter ist ein Philister.“55 Rathenau setzte den Kontakt zu Radek fort und „brachte den Hauptdirektor der AEG, den alten klugen Felix Deutsch56 mit, der in Rußland alte Verbindungen unterhielt und die russische technische Welt sehr gut kannte.“ Der einflussreiche Geheimrat Deutsch war nicht nur

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nannt, schloss er am 16.4.1922 mit Sowjetrussland den Rapallovertrag ab; zwei Monate später Opfer eines Attentats. Vgl. Goldbach, S. 46. Radek. Nojabr’, S. 153. Erinnerungen von Prof. Dr. Alexander Rüstow; in: Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 144. Walther Rathenau 1922. Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 88. Schlesinger, S. 278. Radek, Nojabr’, S. 154. Ebenda, S. 153f. Deutsch, Felix (1858–1928).

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der Vorstandsvorsitzende der AEG, sondern als Vorsitzender des Reichsverbandes der Deutschen Industrie auch Berater der Reichsregierung in Wirtschaftangelegenheiten. Die Frage der Gesellschaftsordnung in Russland betrachtete er als nachrangig: „[…] möge die Ordnung sein wie sie wolle, wenn wir nur mit der AEG Handel treiben würden.“ äußerte er Radek gegenüber. Er stöhnte zwar über dessen „verdrehte“ politische Auffassungen, „aber auch er wollte nach Rußland.“57 Was Radek den Exponenten der deutschen Wirtschaft inhaltlich vermitteln wollte, war, dass sich das Sowjetregime auf Dauer behaupten werde, aber nicht die Absicht habe, die Revolution gewaltsam zu exportieren. Der Kommunismus werde sich von selbst in Europa ausbreiten. Ein entschlossenes Engagement beim Wiederaufbau Sowjetrusslands biete Deutschland eine einmalige Chance zur Behebung seiner wirtschaftlichen und vielleicht auch seiner politischen Probleme. Selbstverständlich sprach er pro domo. Seiner Frau hatte er geschrieben, nach dem was er aus der Ententepresse erfahre, schätze er mittlerweile die äußeren Gefahren für den Sowjetstaat niedrig ein und halte die wirtschaftliche Situation für ausschlaggebend.58 Auf Anregung von Maximilian Harden, der zu den Besuchern in Moabit zählte, verfasste er für dessen „Zukunft“ freudig einen Aufsatz über die deutsch-russischen Beziehungen.59 „Deutschland und Rußland. Ein in der Moabiter Schutzhaft geschriebener Artikel für ,richtiggehende‘ Bourgeois“60 lautete der beziehungsvolle Titel der Ausführungen, mit denen er seinen Standpunkt einem größeren Kreis von Interessenten für das Rußlandgeschäft zugänglich machen wollte. Es liege ihm fern zu versuchen, „das bürgerliche Deutschland von den Vorzügen des Kommunismus zu überzeugen“, schrieb er einleitend: „In diesem Artikel wird es sich nur um Dinge handeln, die die wütendsten Gegner des Kommunismus sehr lebhaft interessieren: um Kohle, Holz, Hanf, Leinen, Baumwolle, Eisenbahnen und andere Dinge, die ihre zehn Prozent wert sind. Ich darf also die Aufmerksamkeit der Leser beanspruchen, die sich eher an den Handelsteil als an den Leitartikel ihrer Zeitung halten.“61

Solange die Weltrevolution nicht alle kapitalistischen Staaten ergriffen habe „(und das kann nicht auf einmal geschehen), sind die sozialistischen Staaten darauf angewiesen, aus politischen wie aus wirtschaftlichen Gründen einen Modus vivendi für ihre Beziehungen zu suchen.“62 Deutschland habe nunmehr eingesehen, dass es „sich 57 58 59 60

Radek, Nojabr’, S. 161f. Brief Radeks an seine Frau, 20. März 1919. Schüddekopf, a.a.O., S. 112. Radek, Nojabr´, S. 155. Radek: „Deutschland und Rußland. Ein in der Moabiter Schutzhaft geschriebener Artikel für ,richtiggehende‘ Bourgeois“, Die Zukunft, XXVIII Jahrgang, Berlin, 7. Februar 1920, Nr. 19, S. 178– 189. Zitiert nach dem 1920 in Berlin erschienenen Sonderdruck des Artikels. 61 Radek, Deutschland und Rußland, S. 3. 62 Ebenda, S. 6.

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nicht als den heiligen Georg des Antibolschewismus aufspielen, sondern mit Rußland in nachbarlich freundschaftlichem Verhältnis leben kann und muß.“ Russland habe den Bürgerkrieg bereits gewonnen und benötige für den Wiederaufbau seiner Volkswirtschaft Techniker aus dem Ausland. „Das einzige Land, das Überfluß an diesen Kräften hat, ist Deutschand.“ Deshalb sei es der gegebene Partner. Das Reich fürchte zwar, Beziehungen zu Sowjetrussland aufzunehmen, „weil es jetzt das Messer der Entente an der Kehle hat.“ Aber man dürfe die Vorsicht nicht zu weit treiben. „Man kommt mit ihr nicht weiter, weder in der Liebe noch in der Politik.“63 Er sei zwar seit einem Jahr „außer Verkehr mit der russischen Regierung“, aber seine persönlichen politischen Überlegungen ließen sich wie folgt zusammenfassen: „1. Sowjet-Rußland sucht kein deutsches Bündnis zum Kampf gegen die Entente. Weder ist die deutsche kapitalistische Regierung bündnisfähig, noch ist ein dauernder Kampf der Entente gegen Rußland anzunehmen. 2. Deutschland und Rußland brauchen wirtschaftliche Beziehungen zueinander, weil keins der beiden Länder hoffen kann, von der Entente allein zu bekommen, was es braucht, und weil sie einander vielfach helfen können. 3. Beide Staaten können auf die Einmischung in die inneren Verhältnisse verzichten und müssen bei der Wiederaufnahme ihrer Handelsbeziehungen mit den voneinander abweichenden wirtschaftlichen Organisationen rechnen [Anmerkung: d.h. keine Rückgängigmachung der Enteignung deutscher Firmen in Sowjetrussland].“64

Die praktischen Schlussfolgerungen aus diesen Grundgedanken seien: 1. Die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Sowjetrussland. 2. Die Vorbereitung des Warenaustauschs und -transports durch die Entsendung von Wirtschaftsexperten beider Regierungen. 3. Würde die deutsche Regierung sich weigern, die Wirtschaftsbeziehungen zu fördern, müsse die deutsche Industrie selbständig initiativ werden, die Regierung werde dann schon „nachhinken“.

Dieses „Arbeitsprogramm“, so hob er hervor, „ist auf die Zwischenzeit berechnet“, die noch vergehen wird, bis die deutschen Arbeiter an die Macht kommen. Sie würden dann schon für alles Übrige sorgen. Er schloss mit sarkastischer Doppeldeutigkeit:

„Ich bin zu wenig Diplomat, um zu heucheln, daß ich an die lange Lebensdauer des deutschen Zustandes von heute glaube. Das deutsche Bürgertum glaubt nicht an die lange Dauer unseres Lebens. Wir sind also einer Meinung. Weshalb aber sollen wir nicht

63 Ebenda, S. 9f. 64 Ebenda, S. 11.

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Leinen für Medikamente, Holz für elektrische Apparate tauschen? Sie fordern doch nicht von Leuten, denen Sie Unterhosen verkaufen, ein Attest der Unsterblichkeit?“65

Für kommunistische Ohren bedeutete dies, Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen lediglich als Provisorium bis zum Zeitpunkt des Sieges der Revolution. Aber zugleich lockte er die „richtiggehenden Bourgeois“ mit Profitchancen bis zum möglichen Scheitern des bolschewistischen Regimes.66 Als enger Anhänger Trockijs, des Schöpfers der Roten Armee, und unverhohlener Bewunderer des preußischen Offizierskorps beschäftigte sich Radek auch mit dem Gedanken einer militärischen Zusammenarbeit. Es erschienen bei ihm ehemalige Mitarbeiter General Ludendorffs, die in ihrem Hass gegen die junge Republik und gegen die Westmächte ein Zusammengehen mit Sowjetrussland anvisierten. „Der alte Moor schleppte mir den Baron von Reibnitz an“, erzählt Radek, „einen Kameraden Ludendorffs aus dem Kadettenkorps.“ Eugen Freiherr von Reibnitz war der erste Vertreter des „Nationalbolschewismus“ den Radek kennenlernte, einer Denkrichtung, die Deutschland in einer sogenannten friedlichen „zweiten Revolution“ als sozialistischen Staat nationalistischer Prägung etablieren und vom Versailler Diktat befreien wollte. Sowjetrussland betrachtete man als den natürlichen Alliierten in diesem Kampf.67 Auch Konteradmiral von Hintze, der letzte Staatssekretär des kaiserlichen Auswärtigen Amtes, und Oberst Max Bauer68, ehemaliger Artillerieführer und nun politischer Berater Ludendorffs, diskutierten mit Radek solche Überlegungen. Radek erfasste sofort die Bedeutung des Nationalbolschewismus für die Verbesserung der deutsch-russischen Beziehungen, hielt sich aber bedeckt. Oberst Bauer, der davon sprach, im Konsens von Militär und Arbeiterschaft die bürgerliche Demokratie in Deutschland durch eine „Diktatur der Arbeit“ abzulösen und ihm zu verstehen gab, „daß auf dieser Grundlage eine Zusammenarbeit der Offiziere mit der Kommunistischen Partei und Sowjetrußland möglich sei“, wies er darauf hin, „daß nur das deutsche ZK im Namen der Kommunistischen Partei sprechen könne und man mit der Sowjetregierung in Moskau verhandeln müsse.“69 Radek wusste, dass diese pläneschmiedenden Militärs im republikanischen Deutschland ohne wirklichen Einfluss waren. Gegen Bauer hegte er dazu den Verdacht, dieser sei an der Vorbereitung eines Staatsstreiches beteiligt, was sich wenige Monate später beim KappPutsch bestätigen sollte.

65 66 67 68

Ebenda, S. 11f. Goldbach, S. 48f. Radek, Nojabr´, S. 155. Bauer, Max Hermann (1869–1929); Artillerieoffizier, Oberst im Generalstab; Mitarbeiter Hindenburgs und Ludendorffs; floh nach dem Kapp-Putsch 1920 nach Österreich; folgte 1923 einer Einladung nach Sowjetrussland; seit 1925 Luftfahrtberater in Spanien und Argentinien; 1927–1929 Militärberater in China. 69 Radek, Nojabr’, S. 160f.

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Als wesentlich geeignetere Gesprächspartner erschienen ihm zwei türkische Emigranten, die mit zu den ersten Besuchern in Moabit zählten: Das ehemalige Haupt der türkischen Regierung, Großvezir Talaat Pascha70 und dessen Kriegsminister und Vizegeneralissimus, Enver Pascha71. Als Führer der jungtürkischen Bewegung und Parteigänger der Mittelmächte waren beide nach der militärischen Niederlage des Osmanischen Reiches vor den Engländern nach Berlin geflüchtet. Radek hatte Talaat bereits in Brest-Litovsk getroffen, wo dieser noch am Tisch der Sieger gesessen hatte. Interessanter für ihn war aber General Enver Pascha. Dieser erhoffte sich sowjetische Unterstützung für das Ziel, durch den Zusammenschluss aller Turkvölker einen autonomen turanischen Staat zwischen Russland und Indien zu bilden, der als Puffer zum Erzfeind England dienen sollte. Enver kannte zudem den deutschen General Hans von Seeckt72. Während Envers Amtszeit als türkischer Kriegsminister hatte von Seeckt die Funktion des Generalstabschefs des osmanischen Feldheeres ausgeübt. Wieder zurück in Deutschland, war er im November 1919 zum Chef des Truppenamtes ernannt worden, das im Reichswehrministerium die Aufgaben des vom Versailler Vertrag verbotenen Großen Generalstabes weiterführen sollte. Radek berichtet, Enver habe versucht, die deutschen Militärs – womit nur Seeckt und sein Stab gemeint sein können – „davon zu überzeugen, daß Sowjetrußland eine kommende Weltmacht sei, mit der sie rechnen müßten, wenn sie wirklich gegen die Entente kämpfen wollten.“73 Der Inhalt der Gespräche zwischen Radek und Enver blieb unbekannt, „daß aber über diesen türkischen Mittelsmann die ersten sowjetischen Fühler zur Reichswehr und zu Seeckt ausgestreckt wurden, unterliegt heute keinem Zweifel mehr.“74 Es hat den Anschein, dass es damals bei dieser indirekten Fühlungnahme geblieben ist, auch wenn viel über ein Geheimtreffen zwischen Seeckt und Radek spekuliert worden ist.75 70 Talaat Pascha, Mehmed (1872–1921); als Großvezier 1917/1918 verantwortlich für den Genozid an den Armeniern im 1. Weltkrieg; fiel 1921 in Berlin der Rache eines armenischen Studenten zum Opfer. 71 Enver Pascha (1881–1922); türkischer General und Staatsmann; erhoffte sich als Verfechter panturanischer Ideen sowjetische Hilfe; wendete sich schließlich enttäuscht gegen die Sowjets und fiel 1922 bei einer Aufstandsaktion in Turkestan im Kampf gegen die Rote Armee. 72 Seeckt, Hans von (1866–1936); Generalstabsoffizier; 1920 Chef der Heeresleitung, der als militärischer Oberbefehlshaber die Reichswehr als Kaderarmee aufbaute und zum „Staat im Staat“ machen wollte; überzeugter Monarchist und Gegner der parlamentarischen Demokratie; 1926 als Generaloberst im Dissens mit der politischen Führung verabschiedet; 1934/35 Militärberater Tschiang Kai-scheks in China. 73 Radek, Nojabr’, S. 152. 74 Krummacher/Lange, S. 81. 75 General Köstring, in den 1930er Jahren deutscher Militärattaché in Moskau, hat in einem Interview mit dem „Svenska Dagbladet“ (5.September 1949) auf Radeks militärische Kontakte 1919 und seinen Anteil bei deren Zustandekommen Bezug genommen (er war zu dieser Zeit im Stabe Seeckts tätig); leider sind seine Belege dafür vage, und im nachhinein dementierte er, im Interview gesagt zu haben, Radek hätte ein Geheimtreffen mit Seeckt gehabt. A. Fredborg: Storrbritannien

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Seit sich Radek in militärischer Schutzhaft befand, bemühten sich seine Anwälte darum, ihn aus dem Gefängnis herauszubekommen, was über fast vier Monate hinweg am Widerstand von Reichswehrminister Noske scheiterte. Erst als sich der Plan zerschlug, ihn zusammen mit Enver Pascha nach Moskau ausfliegen zu lassen76 und sich eine Rückreise auf dem Landwege als realisierbare Option abzeichnete77, gelang es dem Auswärtigen Amt, die Übersiedlung Radeks aus Moabit in die Privatwohnung seines nationalbolschewistischen Besuchers von Reibnitz in Berlin W, Sigismundstraße 5, in die Wege zu leiten. Durchgesetzt hatte dies Freiherr Ago von Maltzan, seit August 1919 Leiter des Russlandreferats. „Maltzan war sehr klug und gerissen, er passte sich geschmeidig der gegebenen Situation an, war dann aber, wenn er sich ein Ziel gesetzt hatte, in der Wahl seiner Mittel durchaus nicht wählerisch. Er überragte bei weitem seine Kollegen.“78 Er war der Auffassung, der Bolschewismus sei ein Faktor, mit dem man in drei bis vier Jahren rechnen müsse, und in der Rapallo-Ära sollte er sich „als eine Art von [Brockdorff-] Rantzaus zweitem Ich“ erweisen.79 Die Zusammenhänge von Radeks Umzug werden verständlicher, wenn man berücksichtigt, dass es sich bei von Reibnitz um einen Onkel Maltzans handelte.80 In einem unmittelbar nach Radeks Umzug verfassten Brief vom 6. Dezember 1919 an Reichskanzler Bauer81 nennt Reibnitz die Motive für die Bereitschaft, Radek bei sich unterzubringen; sie hätten in ihrer Formulierung von Maltzan stammen können: „Ich hatte mich bereit erklärt, Herrn Karl Radeck [sic!] in meinem Hause aufzunehmen, falls es nach der Freilassung des Herrn Radeck im deutschen Interesse liegen würde, wenn derselbe noch einige Tage in Berlin verbliebe, um über wirtschaftliche Fragen und die Rückbeförderung deutscher Geiseln in voller Freiheit zu verhandeln.“82

Radek schreibt, man habe ihn eines Abends mit Gewalt aus dem Gefängnis gejagt, obwohl er protestiert habe, er brauche mindestens einen Tag Zeit um seine Bücher zu packen. Aber die vier Polizeibeamten, die ihn abholten, seien „unerbittlich“ gewesen. „Mit großem Lärm brachten sie mich in die Wohnung des Baron von Reibnitz und

och den Ryska Frågan, 1918–1920, Stockholm 1951, S. 196, Anm. 52; zitiert in: Carr, The Bolshevik Revolution, Vol. III, S. 313, Anm. 2. 76 Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 97f. und Radek. Nojabr´, S. 162. Radek gibt an, er habe auf den Flug verzichtet, da er den begründeten Verdacht gehabt hätte, bei einer Zwischenlandung in Polen als Geisel festgehalten zu werden. Nojabr´, S. 162. 77 In „Nojabr´“ (S. 159) erwähnt Radek, Warschau habe Berlin darüber unterrichtet, „daß zwischen Piłsudski und uns [Sowjetrussland] ein Geheimvertrag abgeschlossen worden sei, auf Grund dessen Polen sich verpflichtete, mich durchzulassen.“ 78 Schlesinger, S. 109. 79 Hilger, S. 130. 80 Schlesinger, S. 109f. Helbig (S. 59) nennt von Reibnitz einen angeheirateten Onkel Maltzans. 81 Bauer, Gustav (1870–1944); SPD-Politiker und Gewerkschaftsführer; 1919–1920 Reichskanzler. 82 Von Reibnitz an Reichskanzler Bauer, 6. Dezember 1919. Schlesinger, S. 110, Anm. 1.

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richteten sich im Schlafzimmer mit mir ein.“83 Sein Gastgeber beschwerte sich beim Reichskanzler über die grobe Behandlung Radeks. Dieser sei wie ein Strafgefangener unter Begleitung von acht Polizeibeamten in seine Wohnung transportiert worden, zwei Mann mussten dauernd in dem ihm zugewiesenen Zimmer, zwei im Nebenzimmer bleiben. „Dergestalt wurde mein Haus zu einem Gefängnis umgewandelt, in welchem eine weitergehende Bewachungsform eingerichtet wurde, als sie vorher im Gefängnis praktisch war. Es sind inzwischen Milderungen in der Richtung eingetreten, daß nicht mehr vier, sondern nur noch zwei Beamte ihn bewachen.“84 Radek verblieb nur etwa zehn Tage im Hause von Reibnitz. Er empfing dort weitere Besucher, darunter die bereits erwähnten Militärs, und die Sozialdemokraten Ernst Heilmann und Friedrich Stampfer. Sowohl der „Revisionist“ Heilmann, den Radek als „reformistischen Ritter“ schätzte, da er ihm 1913 zur Seite gesprungen war und die „Lex Radek“ angeprangert hatte, wie auch der Chefredakteur des „Vorwärts“, Stampfer, beurteilten ihm gegenüber die revolutionären Aussichten in Deutschland äußerst skeptisch.85 Später suchten ihn auch noch zwei Führer der Unabhängigen Sozialdemokraten auf, Ernst Däumig und Arthur Crispien86, der sich zusammen mit Haase den Parteivorsitz teilte. Er dürfte ersteren in seinen Überlegungen, den linken Flügel der USPD abzuspalten und mit der KPD zu vereinen, bestärkt haben. „Um die Gastfreundschaft von Baron Reibnitz nicht zu mißbrauchen, der nicht an ein solches Durcheinander gewöhnt war, wie es durch mich entstand“, erzählt Radek, „mußte ich in die Wohnung des Polizeikommissars Gustav Schmidt übersiedeln.“87 Der Grund für den Umzug am 15. Dezember 1919 war allerdings, dass die Berliner Politische Polizei glaubte, ihn in der Schöneberger Wohnung des Kriminalkommissars Schmidt besser unter Kontrolle halten zu können. Der Berliner Polizeipräsident drängte das Auswärtige Amt, die Abreise Radeks zu beschleunigen, da „er seinen Aufenthalt zu Kontakten mit der hiesigen kommunistischen und linksradikalen Bewegung“ benutze.88 So war es zweifellos. Die KPD befand sich in einem desolaten Zustand. Sie war vorübergehend nach dem Januaraufstand und endgültig nach den Märzkämpfen verboten worden. Ihrem Führer Paul Levi hatte Radek deshalb untersagt, ihn im Gefängnis aufzusuchen, korrespondierte jedoch mit ihm. Von weniger prominenten Genossen, die ihn besuchten, erfuhr er auch so, was in der Partei vor sich ging.89 In Schöneberg gab es hingegen für seine Aktivitäten kaum noch Beschränkungen. Im Vorzimmer saß der Polizist und aß Kartoffelpuffer. Er besorgte Radek einen Lederanzug und eine Mauserpistole aus Polizeibeständen 83 Radek, Nojabr’, S. 159. 84 Von Reibnitz an Reichskanzler Bauer, a.a.O. 85 Radek, Nojabr´, S. 160f. 86 Crispien, Arthur (1875–1946); Theatermaler, Redakteur; wurde als USPD-Politiker 1920 zum Gegner des Kommunismus. 87 Radek, Nojabr’, S. 161. 88 Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 99. 89 Radek, Nojabr´, S. 155.

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und begnügte sich im Übrigen mit der Besucherliste, die ihm der zu Überwachende jeden Abend zum Abzeichnen gab. „Ein Schwarm von Menschen zog täglich durch das Haus; Vertreter von Parteien und unzähligen revolutionären Gruppen“.90 Für die Besucher aus der Partei regelte Ruth Fischers Freund, Arkadij Maslov91, den Zugang. Jetzt getrauten sich auch Paul Levi und die anderen Führer der KPD zu Radek. Rosa Meyer-Leviné, in jenen Tagen Radeks Sekretärin, war Zeugin seiner Auftritte im Kreise der Besucher: „Und Radek redete. Er redete ohne Pause, den ganzen Tag lang, offensichtlich voller Hunger nach Kommunikation nach der langen Gefängnishaft. Die meiste Zeit schritt er dabei im Zimmer auf und ab – vielleicht eine Angewohnheit aus seiner Zelle -, federnd, feurig, er beschwor das Bild eines neuen unbesieglichen Napoleon herauf. Sein Witz, für den er berühmt war, verlieh seiner Argumentation noch zusätzliche Kraft. Er brachte sie alle zum Verstummen.“92

Es kamen jedoch nicht nur deutsche Besucher zu ihm. Während Radek als einer der entschiedensten Vorkämpfer für eine revolutionäre Dritte Internationale im Gefängnis saß, wurde Anfang März 1919 in Moskau die Kommunistische Internationale (Komintern) als die Weltorganisation kommunistischer Parteien gegründet.93 Als Abgesandte ihres Exekutivkomitees waren im Sommer 1919 die Bol’ševiki Mečislav Bronskij und ein geheimnisumwitterter Emissär, der sich „Genosse Thomas“94 nannte, illegal in Berlin aufgetaucht und hatten heimlich ein „Westeuropäisches Sekretariat“ der Komintern eingerichtet, das vornehmlich als kommunistische Propagandazentrale fungierte, aber auch konspirative Aufgaben hatte. Bei Bronskij handelte es sich um Radeks einstigen polnischen Kampfgenossen Mieczysław Broński. 90 Ebenda, S. 161 und Meyer-Leviné, S. 359. 91 Maslov, Arkadij; Pseudonym von A. Čemerinskij (1891–1941); Sohn russischer „Vorkriegsemigranten“; Studium in Deutschland; gehörte zum linken Flügel der Berliner KPD; organisierte die Parteiarbeit unter russischen Kriegsgefangen; 1926 Parteiausschluss; 1941 mysteriöser Tod im kubanischen Exil. 92 Meyer-Leviné, S. 359. 93 Die Komintern wurde auf Initiative der Bol´ševiki auf dem sogenannten I. Weltkongress der Komintern vom 2. bis 6. März 1919 aus der Taufe gehoben. Bei diesem Treffen von etwa 60 bunt zusammengewürfelten Mitgliedern linksextremer Gruppierungen (die KPD war mit Hugo Eberlein vertreten) nährten Lenin, Trockij und Zinov’ev in ihren Reden weltrevolutionäre Hoffnungen: „In tollem Tempo saust das alte Europa der kommunistischen Revolution entgegen […]. Nach Jahresfrist werden wir bereits zu vergessen beginnen, daß es einen Kampf um den Kommunismus gegeben hat, denn nach einem Jahr wird Europa kommunistisch sein.“ (Zinov’ev; in: „Kommunistische Internationale“, Nr. 1, 1919, S. XII.). Obwohl 20 „Sektionen“ (Parteien) umfassend, hatte die Komintern bis zum Sommer 1920 eher programmatischen Charakter als reale Bedeutung. 94 Genosse Thomas alias James Reich alias A. A. Rubinštejn; leitete 1919–1925 das Westeuropäische Sekretariat der Komintern in Berlin; lebte noch bis mindestens 1935 in Berlin und verstarb Mitte der 1950er Jahre in den USA.

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Es gelang ihm, zu Radek ins Gefängnis vorzudringen und mit ihm die innerparteiliche Situation der KPD zu erörtern. Er stimmte Radeks Lageanalyse zu, „[…] daß die erste Welle der Revolution abgeklungen war, daß die Aufgabe in der Organisierung der Massen für die nächste Welle beruhte und daß es hierfür notwendig sei, die Gewerkschaften und die Betriebsräte zu erobern sowie in das Parlament und in die Stadtverordnetenversammlungen zu gehen. Er war einverstanden damit, daß man den Kontakt mit den linken Unabhängigen aufrechterhalten, die Spaltung in der Unabhängigen Sozialdemokratie unterstützen und, die Kommunistische Partei festigend, den Kurs auf die zukünftige Vereinigung mit den linken Unabhängigen nehmen müsse.“95

Die Verbindung zu Bronskij hielt Radek dann über die junge österreichische Kommunistin Ruth Fischer, eine begabte Agitatorin, auf die ihn der österreichische KPFührer Toman96 aufmerksam gemacht hatte. Sie erhielt die Erlaubnis, Radek dreimal wöchentlich zu besuchen. „Die Gefängniszelle“, erinnert sie sich, „wurde für mich eine Art Schulklasse, in der ich an einem Kursus in fortgeschrittenem Kommunismus teilnahm.“97 Radek bescheinigte ihr, sie habe seine taktische Linie im Fluge begriffen und gab ihr eine Empfehlung an August Thalheimer, Mitglied der Parteizentrale.98 Im Nachhinein äußerte er sich etwas distanzierter über seine begabte Schülerin, aber in Moabit schwärmte er von ihr und fand sie sehr schön und talentiert. Rosa Meyer Leviné erzählt, jedermann habe erwartet, dass er sich um Ruth Fischer bemühen würde, nachdem er aus Moabit freigelassen worden war: „Aber er tat es nicht. Er ging so weit, daß er nie mit ihr allein blieb. Er war davon überzeugt, daß sie demnächst den Platz von Rosa Luxemburg einnehmen würde, und er hielt es für seine Aufgabe sie nach Kräften zu fördern und zu unterstützen. Eine persönliche Beziehung konnte diesen Absichten nur hinderlich sein und der Partei schaden. Radek brachte der Partei damit ein für seine Verhältnisse großes Opfer.“99

Der Genosse Thomas, der Radek besuchte, war ein Mann des totalen Untergrunds, durch dessen Hände beträchtliche russische Gelder flossen, angeblich Hunderte von Millionen. Mit Radek verband ihn die gemeinsame Herkunft aus einer jüdischen Familie in Lemberg. Sein wirklicher Name war Jakob Reich – russisch: Jakov Samojlovič Reich. In seiner Jugend hatte er der sozialistischen Gruppe „Promień“ angehört, später in der Schweiz studiert, dort als Emigrant Zinov’ev kennengelernt 95 Radek, Nojabr’, S. 156. 96 Toman, Karl; ehemaliger österreichischer Kriegsgefangener in Russland und 1918/19 der erste Obmann der österreichischen KP; nach 1933 Nationalsozialist und NSDAP-Ortsgruppenleiter; 1945 beim Einmarsch der Roten Armee von Sowjetsoldaten erschlagen. 97 Fischer, Ruth, Stalin, S. 251f. 98 Radek, Nojabr’, S. 157. 99 Meyer-Leviné, S. 367.

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und sich zum Bolschewismus bekehrt. Jetzt leitete er das „Westeuropäische Sekretariat (WES)“ der Komintern, das die konspirative Außenstelle Moskaus zur Revolutionierung Westeuropas darstellte und dem auch Paul Levi, August Thalheimer, Hermann Remmele und Willi Münzenberg angehörten. Reich hatte den Auftrag, den Verbindungsapparat der Komintern von Moskau über Deutschland nach Westeuropa aufzubauen, bolschewistische Gelder an kommunistische Parteien, Verlage und Organisationen weiterzuleiten sowie in Deutschland einen Komintern-Verlag als kommunistische Propagandazentrale zu etablieren. Zusammen mit Werner Rakow (Felix Wolf ) kaufte er die Hamburger Verlagsbuchhandlung Carl Hoym, deren legales Büro in Hamburg belassen und die wichtigere illegale Dependance in Berlin eingerichtet wurde. Diese Buchhandlung, die Privatwohnungen von Reich, weitere angemietete Wohnungen und Keller als Lager für Literatur bildeten die Operationsbasis des WES.100 Radek erwähnt den „Genossen Thomas“ in seinen Novembererinnerungen nur kurz. Im Gefängnis sei er bei ihm „als Korrespondent irgendeiner erfundenen jüdischen Zeitung“ erschienen: „Da der Aufseher im Besuchsraum blieb, begann er mich über die Lage der Juden in Rußland auszufragen. Ich erkannte ihn nicht und antwortete scherzhaft, daß die Juden immer leiden, sowohl durch die Revolution wie durch die Konterrevolution. Als der Aufseher fort war, erklärte mir Thomas wer er sei und entwickelte den ganzen Plan seiner Arbeit.“101

Radek verrät allerdings keine Einzelheiten von Reichs Auftrag, sondern schreibt nur, dieser habe, „selbst illegal, einen wunderbaren legalen Verlag der Komintern“ gegründet, der dann seine Schriften herausbrachte. In Moskau zählte Radek später, neben Zinov’ev und Bucharin, zu den einflussreichen Schirmherren des „Genossen Thomas“, der dann allerdings schamlos in die eigene Tasche wirtschaftete und sich mit den unterschlagenen Geldern in die USA absetzte. „Genaueres über die Lage in Rußland“ erfuhr Radek von Viktor Kopp102, der sich seit 20. September 1919 in Berlin aufhielt103, um als Sowjetdiplomat Gespräche über die Rückführung der über eine Million kriegsgefangener Russen, die sich noch in deutschen Lagern befanden, zu führen. Für Moskau ein Ansatzpunkt, um halbamtliche Kontakte aufzunehmen und die von Radek angeknüpften Verbindungen auszubauen. So schreibt Radek denn auch, der Genosse Kopp „richtete sich nach außen hin als Vertreter der Kriegs100 Vgl. Goldbach, S. 36f.; Watlin, Alexander [Vatlin, Aleksandr], Die Komintern 1919–1939, Historische Studien, Studien zur Geschichte der Komintern, Band 1, Mainz 1993, S. 21–24. 101 Radek, Nojabr’, S. 158. 102 Radek, a.a.O., S.  158f. Kopp, Viktor Leontevič (1880–1930); Trockij nahestehender Revolutionär undSowjetdiplomat; im 1. Weltkrieg Soldat in der russischen Armee; Kriegsgefangener in Deutschland; dann Angehöriger des Außenkommissariats, der als diplomatischer Vertreter die Gespräche über den deutsch-russischen Kriegsgefangenenaustausch führte. 103 Schlesinger (S. 108) führte zu dieser Zeit in Berlin bereits Besprechungen mit ihm. Goldbach u.a. datieren seine Ankunft in Berlin erst auf November 1919.

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gefangenen ein, nahm aber in Wirklichkeit halblegal die Stellung eines Botschafters ein.“104 Ruth Fischer bezeugt: „Vom Moabiter Gefängnis aus nahm Radek weiter aktiven Anteil am Ausbau der deutschen kommunistischen Partei. Er sah alle Führer und viele aktive Kommunisten […].“105 Radek selbst, berichtet über die „illegale Arbeit im Gefängnis“, er habe neben den erwähnten persönlichen Kontakten zu verschiedenen Genossen vor allem versucht, im Sinne der mit dem Komintern-Vertreter Bronskij besprochenen taktischen Linie, „schriftlich auf die Parteiführer einzuwirken.“106 In der Partei bestanden Differenzen zwischen ultralinken Gruppen und der Führungsspitze unter Levi. Zwei Streitfragen standen im Vordergrund: Erstens die Frage eines temporären Bündnisses des Proletariats mit dem nationalen Bürgertum im Interesse eines revolutionären Befreiungskrieges gegen die Entente – nationalbolschewistische Gedankengänge, die von den Hamburger Kommunisten Heinrich Laufenberg und Fritz Wolffheim verfochten wurden.107 Zweitens die ebenfalls von der Hamburger Richtung sowie den Bremer Kommunisten um Paul Fröhlich entfachte Diskussion über den Rückzug der Parteimitglieder aus den bestehenden sozialdemokratischen Gewerkschaften und die Gründung revolutionärer „Arbeiterunionen“ als konkurrierende Organisationen. Laufenberg und Wolffheim hatten Radek im Oktober 1919 in Moabit besucht und ihn aus erster Hand über ihre nationalbolschewistischen und syndikalistischen Vorstellungen informiert. Anderen Besuchern gegenüber äußerte er sich danach sehr abfällig über die beiden: „Was machen denn die blödsinnig gewordenen Hamburger?“108 In seiner Schrift „Die auswärtige Politik des Kommunismus und der Hamburger nationale Bolschewismus“109 verurteilt er die im Manifest der Hamburger Linksopposition geäußerten außenpolitischen Vorstellungen und distanziert die KPD entschieden vom Nationalbolschewismus. Er toleriert diesen zwar als mögliche 104 Radek, Nojabr’, S. 158f. 105 Fischer, Ruth, Stalin, S.252. 106 Radek, Nojabr’, S. 156. 107 Vgl. die Darstellung des „Hamburger Nationalkommunismus“ in Schüddekopf, Linke Leute von rechts, S. 70–86. 108 Hilarius Berg in der „Hamburger Volkszeitung“ (USPD); zitiert in: „Kommunistische Arbeiterzeitung“ (KAPD/Hamburg) vom 13. Dezember 1919, S. 192. Schüddekopf, Linke Leute von rechts, S. 445, Anm. 30. 109 Sie entstand wohl unmittelbar nach dem Gespräch mit Lauffenberg und Wolffheim, jedenfalls vor dem Parteitag der KPD vom 20.- 24. Oktober 1919. Innerhalb weniger Monate wurde sie fünfmal publiziert: (1) in: „Kommunistische Arbeiterzeitung“ (KAPD/Hamburg) Nr. 173–176, 1919. (2) Strutha[h]n, A: Die Auswärtige Politik; in: „Die Internationale“ Nr. 17/18, 1919, S. 342–346. (3) Radek, Karl: Die auswärtige Politik des deutschen Kommunismus und der Hamburger nationale Bolschewismus, Wien 1919. (4) Radek, Karl: Die auswärtige Politik des deutschen Kommunismus und der Hamburger nationale Bolschewismus. Hamburg 1920. (5) Radek, Karl: Die auswärtige Politik des deutschen Kommunismus und der Hamburger nationale Bolschewismus, in: Gegen den Nationalbolschewismus. Zwei Aufsätze von Karl Radek und August Thalheimer, Berlin 1920.

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taktische Variante der begrenzten Kooperation mit nationalen bürgerlichen Kräften, lehnt ihn aber als ideologische Richtung innerhalb der Partei strikt ab: „Mit dem nationalen Bolschewismus kann die kommunistische Partei in der Zukunft unter gewissen Bedingungen praktische politische Berührungspunkte haben: So zum Beispiel kann er ehrlich national gesinnten Offizieren in Deutschland in der Zukunft den Weg zum freiwilligen ehrlichen Dienst in der deutschen roten Armee bahnen. Aber für den nationalen Bolschewisten gibt es keinen Platz in dem Rahmen der bolschewistischen Partei, noch kann sie ihren proletarischen, internationalen Standpunkt verwischen, um auf national-bolschewistischen Bauernfang zu gehen.“110

Er bezichtigt Lauffenberg und Wolffheim, unter der Maske des kommunistischen Radikalismus die kommunistische auswärtige Politik in eine nationalistische zu verwandeln: „Es ist das Kennzeichen aller konterrevolutionärer nationalistischer Politik, daß sie von dem sogenannten Primat der auswärtigen Politik ausgeht, das heißt von der durch Ranke formulierten Auffassung, die Aufgaben der auswärtigen Politik müßten die der inneren bestimmen [...]. Es war eine der Lebensleistungen von Marx und besonders Engels, daß er zeigte, wie sich umgekehrt das Verhältnis zum Auslande aus den inneren Klassenverhältnissen einer Nation ergibt, wie die Außenaufgaben aus den inneren herauswachsen, um sie natürlich dann ihrerseits zu beeinflussen. Wenn man also irgendein Primat festzustellen hat, dann besteht für uns Marxisten der Primat der inneren Verhältnisse. Konkret gesprochen: Sind die Interessen aller Klassen der deutschen Nation gegenüber der Entente gleich? Diese Behauptung ist unsinnig.“111

Man müsse die Lehren berücksichtigen, die zwei Jahre sowjetrussischer Außenpolitik einem „denkenden Kommunisten“ erschließen. „Sie zeigen, daß die Lage eines proletarischen Staates keineswegs so ist, daß sie auf sofortigen Sieg der Weltrevolution oder Untergang angewiesen wäre. Sie enthält Möglichkeiten des Friedens mit den kapitalistischen Staaten […].“112 Dies sei „keine Utopie“. Falls die Weltrevolution sich nicht viel schneller entscheiden sollte als bisher, bestehe das Problem der auswärtigen Politik Sowjetrusslands und aller anderen Länder in denen die Arbeiterklasse siegen wird, darin, „zu einem Modus vivendi mit den kapitalistischen Staaten zu gelangen“, um „Frieden und Warenverkehr“ mit den kapitalistischen Staaten zu gewährleisten. Zwar bleibe der Krieg auch für den Proletarierstaat Ultima ratio, aber „er wird suchen müssen, seine Ziele im Verhältnis zu den kapitalistischen Staaten

110 Radek, Die auswärtige Politik des deutschen Kommunismus und der Hamburger nationale Bolschewismus, Hamburg 1920, S. 4. 111 Ebenda, S. 15. 112 Ebenda, S. 10.

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mit friedlichen Mitteln zu erreichen.“113 Noch deutlicher bezog Radek im Dezember 1919 Stellung. In dem zum zweiten Jahrestag der Oktoberrevolution in Berlin verfassten Aufsatz „Die auswärtige Politik Sowjet-Russlands“114 schreibt er im Abschnitt „Der Arbeiterstaat und das kapitalistische Staatensystem“: Die Tatsache, „daß die Weltrevolution nicht als Explosion, sondern als Zersetzung, also als langer Prozeß die kapitalistische Welt überwindet ändert vollkommen die Lage, die Bedingungen der äußeren Politik der Sowjetregierung […] weil es ein langer Prozeß sein wird, mit dem zu rechnen ist, darum kommt Sowjet-Rußland nicht um die Frage herum, einen modus vivendi mit den noch kapitalistischen Staaten zu suchen und zu finden. Die Frage, die zu entscheiden ist lautet: sozialistischer Aufbau im Rahmen eines einstweiligen Kompromisses oder Krieg ohne jeden wirtschaftlichen Aufbau.“115

Der ausschlaggebende Grund für Radeks scharfe Verurteilung des Nationalbolschewismus war das außenpolitische Interesse Sowjetrusslands. Er rechnete nicht mehr mit einer Revolution in Deutschland und strebte zur Überwindung der russischen wirtschaftlichen Schwierigkeiten Kontakte zum Westen an. An einem revolutionären Volkskrieg des deutschen Proletariats gegen die Entente, den er noch im Oktober 1918 ins Kalkül gezogen hatte116, konnte ihm nun nichts mehr gelegen sein. Das zweite große Thema innerhalb der Partei bildeten Meinungsverschiedenheiten über die auf dem Weg in die Revolution einzuschlagende Taktik. Die sogenannten linken Kommunisten betrachteten es als unrevolutionär den Parlamenten und den sozialdemokratisch beherrschten Gewerkschaften anzugehören und in ihnen politisch zu arbeiten – eine Haltung, die bereits auf dem Gründungsparteitag der KPD von der Mehrheit der Delegierten eingenommen wurde und die Lenin 1920 in seiner Schrift „Der ,linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“117 als brennende Frage aufgreifen sollte. Er entschied sie dahingehend, daß in den bestehenden Gewerkschaften „um jeden Preis kommunistische Arbeit zu leisten“ und es „unbedingte Pflicht“ sei, an Parlamentswahlen und am Kampf auf der Parlamentstribüne teilzunehmen. Lange bevor Lenin ex cathedra sprechen sollte, schaltete sich Radek in die innerparteiliche Auseinandersetzung ein. Anlass war der in der Illegalität anberaumte 2. Parteitag der KPD im Raum Heidelberg vom 20.–24. Oktober 1919. Radek er113 Ebenda, S. 9f. 114 Radek, „Die auswärtige Politik Sowjet-Russlands“ (geschrieben: Dezember 1919), Hamburg 1921, S. 29–52. 115 Ebenda, S. 37ff. 116 Brief Radeks an Paquet. 11. März 1919. Paquet, Der Geist der russischen Revolution, S. X. Darin schreibt Radek, seiner Auffassung nach, werde sich die deutsche und die russische Arbeiterklasse zusammenfinden, allerdings: „Nicht zum gemeinsamen Krieg gegen die Entente, wie ich es noch im Oktober 1918 annahm […].“ 117 Lenin: „Der ,linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit des Kommunismus“ (geschrieben April/ Mai 1920, veröffentlicht in Buchform Juni 1920); in: Lenin, Werke, Band 31, S. 5–106.

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zählt, „in der Grundfrage, dem Verhältnis zu den Gewerkschaften, herrschte vor dem Parteitag großes Chaos.“ Er sei deshalb darangegangen, „eine Broschüre über die Entwicklung der deutschen Revolution und die Aufgaben der Kommunistischen Partei118 zu schreiben“, die er „kapitelweise illegal aus dem Gefängnis zum Druck in der ,Kommunistischen Arbeiterkorrespondenz‘ herausgab, die für die Instruktion der Parteikader bestimmt war.“119 In dieser Schrift bettet er die Gewerkschaftsfrage in den Kontext der „wichtigsten nächsten Aufgaben der Partei“ ein: „Verbreitung der Lehren der Revolution: Rätediktatur als Ziel, zielbewußte Eroberung der Mehrheit des Proletariats für dieses Ziel, kein Putschismus, keine Ablehnung irgendwelcher Mittel, die uns helfen, das Proletariat auszurüsten, weder des Parlaments noch der Gewerkschaften, die aus dem Organ der Konterrevolution in das der Revolution zu verwandeln sind; als Hauptmittel der Ausbau der politischen und Betriebsräte“120

Die Mitarbeit der Kommunisten in den Parlamenten und Gewerkschaften sollte also darauf gerichtet sein, diese Einrichtungen Schritt für Schritt zu zersetzen und sie schließlich ganz zu zerstören. Mit SPD und USPD allerdings wurde eine Kooperation abgelehnt. Die Sozialdemokratie ist für Radek der „gefährlichste Feind“121. Seine Parole lautete: „Rücksichtsloser Kampf gegen die S.P.D. und U.S.P.D.“, wobei er jedoch bestrebt blieb, die linken Unabhängigen in die KPD zu vereinnahmen. Darüberhinaus gelte es nicht nur das Proletariat in der Kommunistischen Partei zu sammeln, sondern auch neue Schichten zum Kampfe heranzuziehen, „ohne die die proletarische Revolution nicht siegen kann: „des landwirtschaftlichen Proletariats und Kleinbauerntums einerseits, der Kopfarbeiter andererseits.“ Er erinnerte die KPD daran, dass sie Glied der Kommunistischen Internationale geworden sei. An die Stelle der Komintern werde eines Tages „die internationale föderative sozialistische Räterepublik“ treten; aber: „Noch sind wir fern von diesem Ziele. Ein gutes Menschenalter wird der Kampf noch dauern […].“ Deshalb sei die Devise, „sich nicht an den großen Aufgaben der Zukunft zu berauschen, sondern die Aufgaben zu erfüllen, die heute erfüllbar sind“, wobei die „aktive Unterstützung der russischen Sowjetrepublik“ die internationale Pflicht der Genossen darstelle122: „Es gilt von der russischen Revolution eine Brücke nach dem Westen zu schlagen, und die Kommunistische Partei muß die tragfähigen Pfeiler bilden. Sie muß fähig sein als Vorkämpfer der Weltrevolution den Kampf weiter voranzutragen, durch Beispiele weit in die Welt

118 Struthahn, Arnold [Radek, Karl]: „Die Entwicklung der deutschen Revolution und die Aufgaben der Kommunistischen Partei“, (datiert 15. September 1919), Stuttgart-Degerloch 1919. 119 Radek, Nojabr’, S. 155f. 120 Struthahn [Radek], a.a.O., S. 60. 121 Ebenda, S. 47. 122 Ebenda, S. 56–60.

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zu wirken, indem sie die Erfahrungen des russischen Proletariats in einem sozial mehr fortgeschrittenen Milieu bereichert, seine Gedanken weiterbaut.“123

Während Radek in seiner Broschüre mit Schwerpunkt die konzeptionellen Fragen der künftigen Parteitaktik behandelte, versuchte er mit zwei Briefen die Diskussionen auf dem Parteitag unmittelbar zu beeinflussen. Das erste Schreiben124 richtete er als „offenen Brief“ an alle Delegierten. Als „Mitglied des Zentralkomitees der Kom[munistischen]. Partei Rußlands“ wolle er der KPD aufgrund der Erfahrungen der russischen Revolution mit seinem Rat helfen. Er sei „mehr als irgendein anderer russischer Genosse […] mit den geistigen Kämpfen verbunden, die zur Gründung der kommunistischen Partei Deutschlands geführt haben.“125 Es wäre ein „unverzeihlicher Fehler“, wenn die Partei „zur Herstellung einer neuen Kampffront“ auf „die Ausnutzung des Parlamentarismus“ verzichten würde.126 Dies treffe auch auf die Mitarbeit in den Gewerkschaften zu: „Wir haben nicht die Formen der Organisationen dem Proletariat zu erfinden, sondern zum Schwert das Eisen zu schmieden, das sich im Feuer befindet; das sind die Gewerkschaften. Nur indem wir uns in ihren Reihen […] betätigen, können wir die Gewerkschaften der Konterrevolution [d.h.: der Sozialdemokratie] entreißen oder sie als Bastillen der Konterrevolution von innen heraus zerstören.“127

Mit seinen Ausführungen versuchte Radek, die Opposition argumentativ zu überzeugen und auf die von ihm und der Parteizentrale gemeinsam vertretene Linie zu bringen. „Es gilt, die gegen den Kapitalismus anstürmenden Kräfte zu sammeln und nicht zu spalten“128 lautete seine Parole. Als er über Ruth Fischer von Bronskij die Nachricht erhielt, dass Levi auf dem Parteitag vorhatte, sich von der Parteilinken aus Gründen der ideologischen Reinheit zu trennen, richtete er einen zweiten Brief unmittelbar an ihn. Ruth Fischer schmuggelte das Schreiben aus dem Gefängnis nach Heidelberg.129 „Ich schrieb […] Levi, daß man nicht spalten dürfe, ohne versucht zu haben, die Partei zu überzeugen, daß man die Ideologie klären müsse und erst danach, wenn nötig, organisatorische Maßnahmen ergreifen könne. Levi unterschlug dem ZK meinen Brief und 123 Ebenda, S. 63f. 124 Radek: „Zur Taktik des Kommunismus. Ein Schreiben an den Oktober-Parteitag der K.P.D.“, o.O. 1919. 125 Ebenda, S. 3. 126 Ebenda, S. 5. 127 Ebenda, S. 7. 128 Struthahn, Arnold [Radek, Karl]: „Die Entwicklung der deutschen Revolution und die Aufgaben der Kommunistischen Partei“, a.a.O., S. 55. 129 Fischer, Ruth, Stalin, S. 252.

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nahm Kurs auf die Spaltung. Später rechtfertigte er sich damit, er habe den Brief zu spät erhalten, aber das entsprach nicht der Wahrheit.“130

Noch bevor auf dem Parteitag über die Tagesordnungspunkte „Parlamentarismus“ und „Gewerkschaftsfrage“ diskutiert werden konnte, legte Levi den Delegierten seine scharf formulierten Leitsätze über kommunistische Grundsätze und Taktik zur Abstimmung vor. Die linksradikalen Gegner dieser Thesen unter Führung von Wolffheim und Laufenberg aus Hamburg erlitten eine Abstimmungsniederlage, wurden daraufhin ausgeschlossen und verließen den Parteitag. Sie gründeten im April 1920 die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD). Die KPD, die bis zu diesem Zeitpunkt mehr als 100.000 Mitglieder zählte, verlor die Bezirke Hamburg, Bremen, Hannover und Berlin fast völlig; in den anderen Bezirken sank die Mitgliederzahl auf die Hälfte. Damit war der Mitgliederzuwachs, den Radek Ende 1918 durch die Fusion mit den Internationalen Kommunisten Deutschlands erreicht hatte, durch Levi wieder rückgängig gemacht worden.131 Radek wollte es nicht hinnehmen, dass Levi in Heidelberg vollendete Tatsachen geschaffen hatte: „Um […] noch zu versuchen, die Arbeiterschaft zu halten, die Levi dadurch abstieß, daß er in Heidelberg die Thesen zum Gesetz der Partei machte, die die Arbeiter erst nach Heidelberg diskutieren konnten, überredete ich die Zentrale der Partei, neue Thesen vorzulegen, damit die Organisationen die Empfindungen loswürden, sie seien vor vollzogene Tatsachen gestellt. Es sind die Thesen, die die Zentrale zusammen mit dem Westeuropäischen Sekretariat der Kommunistischen Internationale im Januar 1920 der Partei zur Diskussion vorlegte.“132

Zusammen mit Clara Zetkin und August Thalheimer arbeitete er „die Thesen des Westeuropäischen Sekretariats der Komintern über die Weltlage und die Taktik der Kommunisten“133 aus. „Sie begannen mit den Worten, daß jede richtige Taktik der kommunistischen Parteien von der Annahme ausgehen muß, daß die Revolution selbst im europäischen Maßstab, einen langen Prozeß darstellen werde.“134 In wesentlich moderaterem Ton gehalten als die Thesen Levis, versuchten sie in sieben Abschnitten das Selbstverständnis der Partei in Zeiten revolutionärer Flaute zu definieren und die Frage zu beantworten, wie in dieser Phase eine klare kommunistische Agitation durchzuhalten sei, ohne die Partei durch verfrühte putschistische 130 Radek, Nojabr’, S. 157. 131 Goldbach, S. 55. 132 Radek, Der Fall Levi, in: „Kommunistische Internationale“, Nr. 17., 1921, S.  66. Goldbach, S. 56. 133 Radek, Nojabr’, S. 142. Diese Thesen wurden publiziert als „Leitsätze über die Taktik der Kommunistischen Internationale im Kampfe um die proletarische Diktatur“ (Entwurf ), in: „Kommunistische Internationale“, Nr. 4/5, 1919, S. 3–13. Goldbach, S. 56. 134 Radek, Nojabr’, S. 162.

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Aktionen in die Isolierung zu treiben. Alle taktischen Mittel, auch die Tribüne des Parlaments, müssten genutzt, und manche Kompromisse geschlossen werden.135 Dabei bilde „[…] die aktive Verteidigung Sowjet-Rußlands durch die proletarischen Massen aller Länder die Pflicht, die zu erfüllen ist ohne Rücksicht auf die Opfer, die der Kampf erfordern wird. Jeder neuentstehende proletarische Staat wird den kapitalistischen Staaten gegenüber sich leichter durchsetzen können, wenn Sowjet-Rußland unbesiegt aus dem Kampfe hervorgeht, die erste Bresche in das kapitalistische Staatensystem geschlagen haben wird.“136

Beim Versuch die Linie der KPD zu korrigieren, um ihre verprellte Klientel zurückzugewinnen, warf Radek erstmals das Gewicht der Komintern in die Waagschale. Die Führer der Opposition hingegen, gab er als politische Gegner verloren und schrieb „eine Broschüre gegen die Linken über die Rolle der Partei in der proletarischen Revolution.“137 In dieser Schrift mit dem Titel „Die Diktatur der Arbeiterklasse und der kommunistischen Partei“138 polemisiert er gegen die „,Hamburger Spaltungspropheten‘ Laufenberg und Wolffheim“, die jetzt „von rauher Hand außerhalb des Beratungszimmers der Partei gestellt“139, das heißt in Heidelberg ausgeschlossen wurden. Die von ihnen propagierte „sektiererische Absonderung“ von den Gewerkschaften und der von ihnen geforderte „sektiererische Verzicht auf ein nützliches Kampfmittel“ wie es der „parlamentarische Kampf“ darstellt, seien abzulehnen: „Das Gebot der Stunde ist die Zusammenfassung der klar denkenden Arbeiter in den Reihen der kommunistischen Partei, ist die Eroberung der Massenorganisationen des Proletariats, das heißt des Ruders des proletarischen Schiffs. Das Ziel ist: Zusammenfassung aller revolutionären proletarischen Kräfte zur Eroberung der politischen Macht.“140

Als „lächerlich“ zurückzuweisen sei die Auffassung der „Kommunisten der Hamburger Richtung“, die Arbeiterräte hätten eine „höhere ,einigende‘ Kraft“ als die KPD. Das Gegenteil treffe zu, die Partei sei die Avantgarde des Proletariats: „Die kommunistische Partei hat nicht in der unbewußten und halbbewußten Masse des Proletariats unterzutauchen, sie hat sich durch ihre Politik von dieser Masse zu unter135 Goldbach, S. 56. 136 „Leitsätze über die Taktik der Kommunistischen Internationale im Kampfe um die proletarische Diktatur“, a.a.O., S. 13. Goldbach, S. 56 137 Radek, Nojabr’, S. 158. 138 Struthahn, A[rnold]. [Radek, Karl]: „Die Diktatur der Arbeiterklasse und der Kommunistischen Partei“, o.O. [Berlin] 1919. 139 Ebenda, S. 3. 140 Ebenda, S. 15.

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scheiden. Die kommunistische Partei hat die Rolle des Führers der gesamten Arbeiterklasse zu spielen, ihr voranzugehen, vor ihr die Fahne der proletarischen Revolution zu entfalten, auch wenn ihr die Mehrheit nicht folgt.“141

Die Partei werde „sich den Teufel um die Sektierer kümmern.“ Sie müsse zu einer nach dem bolschewistischen Prinzip des demokratischen Zentralismus geführten Kaderpartei werden: „Die Kommunisten müssen im ganzen Reich eine Partei bilden, die eine von den Parteikonferenzen festgelegte Politik treibt, eine stramme Leitung besitzt, zu deren Pflichten es gehört, wenn die Vertreter der Lokalorganisationen sich nicht versammeln können, über die Politik der Partei und ihre Organisationsfragen zu entscheiden.“142

Rückblickend auf die Januarkämpfe 1919 warnt er vor revolutionären Abenteuern und charakterisiert die kommunistische Partei als eine „Gegnerin der Putsche“: „Bevor sie [die KPD] in den Massenorganisationen des Proletariats, in den Räten und Gewerkschaften, die Mehrheit nicht auf ihrer Seite hat, muß sie auf jeden Versuch der Machtergreifung verzichten, denn dazu ist eine Mehrheit notwendig. Sie muß Aktionen unterlassen, die ohne diese Mehrheit undurchführbar sind. Aber sonst muß sie sich nicht nur die Freiheit der besonderen Propaganda und Agitation, sondern die Freiheit der besonderen politischen Aktion bewahren.“143

Der Bewahrung der Handlungsfreiheit der Partei muss ihre Organisationsform Rechnung tragen. Die Staatsorgane im Deutschen Reich würden mit unterschiedlich starken Repressionsmaßnahmen gegen die Kommunisten vorgehen: „Daraus folgt, daß, obwohl die kommunistische Partei keine Ziele verfolgt, die sie zu verheimlichen hätte, ihre Leitung und oft ihre Lokalorganisationen geheim bleiben müssen, damit Agitation, Propaganda, organisatorische Bedingungen der Partei nicht bei jeder Änderung der Situation unterbunden werden können.“144

Eine revolutionäre Geheimorganisation brauche eine stabile und autoritative Führung. Das konspirative Organisationsprinzip schließe ein, dass die „geheime Parteileitung“ in Zeiten des Bürgerkrieges diktatorische Vollmachten über die Partei erhalte, um so einerseits ihre einheitliche Leitung und Schlagkraft sicherstellen und andererseits putschistische Abenteuer mit Nachdruck unterbinden zu können.145 141 Ebenda, S. 7. 142 Ebenda, S. 11. 143 Ebenda. 144 Ebenda, S. 12f. 145 Ebenda, S. 13.

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Insgesamt nahm Radek damit für die KPD Elemente des Aufbaus und der Arbeit kommunistischer Parteien vorweg, wie sie erst 1921 von der Komintern als international verbindlich verabschiedet wurden und von denen Lenin sagte, sie seien völlig „den russischen Verhältnissen entnommen“ sowie „durch und durch von russischem Geist durchdrungen.“146 Radek empfahl den Genossen auch das neue Parteiprogramm der Kommunistischen Partei Russlands (Bol’ševiki), das der 8. Parteitag im März angenommen hatte, als Richtschnur.147 Er hatte es von Viktor Kopp zusammen mit russischen Zeitungen und Büchern erhalten, übersetzte es sogleich ins Deutsche und gab es, mit einem Vorwort versehen, heraus.148 Ohne Rosa Luxemburg zu erwähnen, aber indirekt auf ihre Kritik an dem von den Bol’seviki beanspruchten Modellcharakter der Oktoberrevolution eingehend, betonte er, niemandem liege der Gedanke ferner als den Moskauer Führern, „daß die Kommunisten im Ausland das russische Beispiel zu kopieren hätten.“ Im gleichen Atemzug unterstrich er aber die internationale Verbindlichkeit des Programms, indem er hervorhob, die westeuropäischen Arbeiter seien dennoch gehalten sich damit auseinandersetzen, da es strategischen Charakter trage. Es fixiere die „Probleme der russischen Arbeiterrevolution“ und stelle damit „eine Schule des revolutionären Denkens“ dar, die den Kommunistischen Parteien des Westens helfen möge „ihre nächsten Aufgaben in demselben Sinne […] zu erfüllen.“149 Seine publizistische Tätigkeit während der Schutzhaft fasste Radek mit den Worten zusammen, er habe insgesamt „sieben, den Tagesfragen der deutschen Arbeiterbewegung gewidmete Broschüren herausgegeben“150 und besonders in den zwei Monaten, die seiner Ausweisung aus Deutschland im Januar 1920 vorausgingen, „mit großer Anspannung arbeiten müssen.“151 Er riet der KPD zu Mäßigung und taktisch motiviertem Wohlverhalten und untersuchte die „Frage der Machtergreifung“, notfalls auch gemeinsam mit dem „gefährlichsten Feind“, den Sozialdemokraten. So sei in Ungarn die Räteregierung Béla Kuns im März 1919 durch ein Abkommen der Kommunisten mit der Sozialdemokratischen Partei an die Macht gelangt, jedoch bereits nach 133 Tagen gescheitert. Kun habe den „taktischen Fehler“ begangen, den Sozialdemokraten zu vertrauen und sei von ihnen verraten worden.152 Die Lehre daraus laute: „Die Koalition mit der Sozialdemokratie war notwendig; aber die Kommunisten mußten neben dem Regierungsgebäude den Galgen aufgerichtet 146 Lenin, Werke, Band 33, S. 416. 147 Radek, Nojabr’, S. 159. 148 „Das Programm der Kommunistischen Partei Rußlands (Bolschewiki). Angenommen auf dem 8. Parteikongreß (18. – 23. März 1919). Mit einer Einführung von Karl Radek“, [geschrieben in Berlin Ende Dezember 1919], Zürich 1920. 149 Ebenda, S. 29ff. 150 Radek, Avtobiografija, Sp. 168. 151 Radek, Nojabr’, S. 158. 152 Radek, Die Lehren der ungarischen Revolution (datiert 12. Januar 1920), Vorwort in: Szánto, Béla: Klassenkämpfe und Diktatur des Proletariats in Ungarn, S. VII.

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halten, auf dem sie eventuell ihren lieben Verbündeten vordemonstrieren konnten, was proletarische Diktatur konkret bedeutet“153. Im Falle einer Machtübernahme durch das Proletariat könne die KPD zwar in eine Koalitionsregierung eintreten, dürfe sich aber nicht dem „Einheitswahn“ hingeben und „diese Koalition für mehr als nur einen Übergang“ ansehen. Sie müsse „bewußt danach streben, die wichtigsten Kampfposten der proletarischen Regierung in ihren Händen zu konzentrieren“ und eine „konsequente kommunistische ,Politik“ betreiben154, das heißt „die Diktatur der Arbeiterklasse und der Kommunistischen Partei“ errichten. Bei der Realisierung dieser Ziele ist der Rückgriff auf den Terror jedoch schon allein aus machtpolitischen Gründen unverzichtbar, wie das sowjetische Beispiel belegt: „In der gesamten zweijährigen Geschichte der proletarischen Diktatur in Rußland gibt es inhaltlich keine einzige größere Maßnahme, die auf doktrinärem Wege, nicht aus Notwendigkeit entstanden wäre, […] d.h. dank der Unmöglichkeit der Durchsetzung der primitivsten Volksinteressen gegen den Widerstand der Bourgeoisie auf einem anderen als diktatorischen Wege wurde die Diktatur zur Notwendigkeit.“155

Dabei bilde der Terror für die Bol’ševiki nur ein pragmatisch gehandhabtes Defensivinstrument, stellt er beschwichtigend fest, denn: „Je stärker die Sowjetregierung wird, desto mehr kann sie auf den Terrorismus, der nur ein Abwehrmittel ist, verzichten, desto milder kann sie ihre Diktatur handhaben.“ Aber selbstverständlich dürfe die Diktatur nicht aufgehoben werden, solange der Herrschaft des Proletariats Gefahren drohen, denn „von der Höhe der Gefahr hängt die Schärfe der Diktatur ab.“156 Der Protagonist der kommunistischen Diktatur und des Terrors gab sich privat als ganz umgänglicher Mensch. Rosa Meyer-Leviné, die Witwe des Führers der Münchner Räterepublik Eugen Leviné, lernte Radek in Schöneberg kennen. Sie arbeitete als Sekretärin für ihn. Eine Zeit, die sie wie Ruth Fischer, ihre „ politische Lehre“157 nannte. Vor der Drucklegung seiner Arbeiten legte er Wert auf ihre kritischen Korrekturvorschläge, da weder sein Deutsch noch sein Russisch fehlerlos war. „Er beherrschte beides nur fast perfekt.“158 Sie erlebte ihn weit entfernt von dem 153 Ebenda, S. VIII. 154 Struthahn [Radek], Die Diktatur der Arbeiterklasse und der Kommunistischen Partei, S. 8f. 155 Radek, „Die auswärtige Politik Sowjet-Russlands“ (geschrieben: Dezember 1919), Hamburg 1921, S. 43. Auf Radeks zur gleichen Zeit entstandene Polemik „Proletarische Diktatur und Terrorismus“ gegen Kautskys Buch „Terrorismus und Bolschewismus“ wurde in Kapitel 8 verwiesen. 156 Ebenda, S. 49. Radek beruft sich bei diesen Ausführungen ausdrücklich auf § 2 des politischen Teils des Programms der RKP(b) vom März 1919, der lautet: „Im Maße, wie die objektive Ausbeutung der Menschen durch den Menschen verschwindet, wird auch die Unumgänglichkeit der vorübergehenden Unterdrückungsregeln verschwinden, und die Partei wird bestrebt sein, sie einzuschränken und schließlich völlig abzuschaffen.“ 157 Meyer-Leviné, S. 359. 158 Ebenda, S. 370.

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Bilde eines skrupellosen und finsteren Verschwörers, das seine Feinde zeichneten. Er habe sich manchmal benommen, wie ein Kind bei einem gefährlichen Spiel. Ein Egozentriker, zumeist „ganz in sich selbst vertieft“, konnte er im privaten Umgang auf gewinnende Art aus sich herausgehen: „Wenn wir unter uns waren, pflegte er mir Anekdoten aus jüngster Zeit zu erzählen, oft lustige und boshafte Geschichten, er strahlte einen Geist der Kameradschaft und des gegenseitigen Vertrauens aus, wie ich ihn nicht noch einmal erlebt habe.“159 Er habe mehr Geld aus Russland für seinen Lebensunterhalt zur Verfügung gehabt, als er benötigte und sei damit großzügig umgegangen. „Es kam ihm […] nicht in den Sinn, das überschüssige Geld zurückzuzahlen; ebenso wenig behielt er es. Er gab es einfach weg, an jeden der Geld brauchte.“160 Zugleich überraschten sie einige banale Angewohnheiten des „legendären Mannes der Sowjetregierung“, der für sie „so etwas wie ein Halbgott“ war. Er erzählte ihr „rührende Geschichtchen“ und gelegentlich wenig erbaulichen“ Klatsch über das Liebesleben der Kollontai und der Balabanoff.“ Als eifriger Leser verschlang er in den deutschen Zeitungen mit Begeisterung „die billigen, literarisch wertlosen Kriminalromane“, die in Fortsetzungen abgedruckt wurden.161 Im Gegensatz zu den vielen Zeitzeugen, die Radeks Äußeres als wenig ansprechend beschreiben, fand sie ihn keineswegs unattraktiv: „Radek war ein Mann Mitte dreißig und stand in dem Rufe, von affenartiger Häßlichkeit zu sein. Mag sein, daß er sich diesen Ruf erworben hatte, weil er einen Backen- und Schnurbart trug, der sein schmales Gesicht fast ganz bedeckte und einem als erstes ins Auge fiel.162 Aber das Urteil war einhellig bestätigt von Freund und Feind in ungezählten Beschreibungen. Ich glaube, es war ein männliches Urteil – kaum eine Frau aus Radeks unmittelbarer Umgebung hätte es unterschrieben. Er war schlank und überdurchschnittlich groß, er hatte eine schöne Stirn, große eindringliche Augen hinter dicken Brillengläsern und einen ausdrucksvollen sinnlichen, Mund. Ich war vorgewarnt und angemessen voreingenommen – es gelang mir nicht, ihn häßlich zu finden. Der Gedanke kam mir überhaupt nicht.“163

Die Arbeiten, in denen Radek taktische Direktiven und Ratschläge für die deutschen Genossen gibt, werden durch eine Buchveröffentlichung ergänzt, mit der er einen Platz als maßgebender Vordenker und Wegbereiter der Kommunistischen Partei Deutschlands beansprucht. Unter dem kämpferischen Titel „In den Reihen 159 Ebenda, S. 360. 160 Ebenda, S. 366. 161 Ebenda, S. 371. 162 Schüddekopf beschreibt ein Foto Radeks aus dieser Zeit. Es befindet sich in den Akten des Auswärtigen Amtes in einem Lichtbildausweis, der im Dezember 1919 für seinen nicht zustande gekommenen Flug nach Russland ausgestellt wurde und „zeigt den mit einem großen Bart wie einen Propheten anmutenden Radek.“ Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 98. 163 Meyer-Leviné, S. 360.

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der deutschen Revolution“164 beinhaltet das Werk eine Auswahl von Zeitungsartikeln „prinzipieller und taktischer“ Natur, die von 1909 bis 1917 entstanden sind. Charlotte Stucke-Kornfeld, die Lebensgefährtin seines 1919 verstorbenen Freundes Johann Knief, fungierte als Herausgeberin. Sein Parteifreund Paul Frölich schrieb das Vorwort, und würdigte Radek als „Realpolitiker großen Wurfs wie Lenin, Bucharin, Trotzki“165. Ruth Fischer erwähnt, der Verfasser sei sehr interessiert an dem Nachdruck seiner alten Artikel gewesen, geht jedoch fehl, wenn sie meint, er habe damit seinen Ruf als „alter Sozialdemokrat“ wiederherstellen wollen.166 Im Gegenteil, Radek selbst bezeichnete die Anthologie als „eine der geistigen Urkunden der Entstehung der deutschen kommunistischen Partei.“ Mit einer im „Gefängnis Lehrterstraße“ verfassten Widmung dedizierte er das Buch seiner Frau Rosa als „die Auslese von zehn gemeinsam durchkämpften und durchdachten Jahren.“167 Die also Bedachte sorgte sich derweil im fernen Moskau um ihren Mann. Sie war aus dem Metropol’ in den Kreml’ umgezogen, wo sie luxuriös mit Gobelins und geschnitzten Möbeln ausgestatte historische Räume in einem der Paläste bewohnte.168 In den ersten Wochen nach Radeks Weggang nach Deutschland war sie ohne Nachricht von ihm geblieben. Arthur Ransome gegenüber, der sie Anfang 1919 im Kreml’ aufsuchte, und in der Gesellschaft von Karl Moor antraf, gab Rosa Radek ihrer Befürchtung Ausdruck, ihr Mann könnte ein Opfer des Untergangs der Bremer Räterepublik geworden sein. Sie glaubte, er würde nie wieder nach Russland zurückkehren. Ransome versuchte sie zu beruhigen und sagte ihr, er habe in Stockholmer Zeitungen gelesen, Radek halte sich in Braunschweig auf – eine Fehlinformation. Erst nach seiner Inhaftierung in Moabit erfuhr sie, dass er sich noch in Berlin befand.169 Am 20. März 1919 schrieb er ihr aus dem Gefängnis einen Brief, in dem er sich über die bereits zitierten Passagen zu seiner Situation in Berlin hinaus, als sensibler, liebevoller Ehemann und Vater erweist: „Meine Liebe! Ich freue mich sehr, daß Du mir ein Maedelchen geschenkt hast, nicht einen Buben. Einen Buben haben wir schon, und dazu einen Wilden. Ich erwarte sehn164 „In den Reihen der deutschen Revolution 1909–1919. Gesammelte Aufsätze und Abhandlungen von Karl Radek. Kurt Wolff Verlag, München 1921.“ Die Jahreszahl 1919 im Titel bezieht sich auf das Vorwort Radeks mit der Datierung 5. Dezember 1919; die Artikel selbst, erstrecken sich nur bis zum Jahre 1917 165 Ebenda, S.14. 166 Fischer, Ruth, Stalin, S. 252. 167 Ebenda, S. 5. 168 Rosa Radek war zu dieser Zeit Mitglied des VCIK. Am 10. Februar 1919 beklagte sie sich am Rande einer VCIK-Sitzung bei Ransome bitterlich darüber, dass sie die großfürstlichen Gemächer im Kreml’ räumen müsse, da sie angeblich für Museumszwecke benötigt würden. Sie vermutete hinter dieser Aufforderung eine Intrige von Trockijs Frau, die – im Kreml’ wesentlich bescheidener untergebracht – ihr die prächtigen Räume missgönnte. Ransome, S. 52. Ein seltener Hinweis auf die kleinbürgerliche Rivalität unter den Frauen der großen Revolutionäre. 169 Ransome, S. 31 f.

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lichst eine Photographie des kleinen Dings, noch mehr die Möglichkeit es zu sehen. Es drückt mich sehr, daß ich keine Nachricht über Dein Befinden hatte […]. Das schwerste an der ganzen Geschichte ist das Empfinden, daß Du Dir bei jeder Nachricht über diesen schrecklichen Charakter des Kampfes hier den Kopf zermarterst daß Du Dir über mich und ich nicht die Möglichkeit habe, Dir ein Lebenszeichen zu geben.“

Der Schlussabsatz ist eine einzige Liebeserklärung: „Meine Einzige! Ich kann Dir nicht das alles schreiben, was ich Dir schreiben möchte. Ich sag Dir nur: wenn wir uns wieder sehen, so sollten wir uns niemals trennen, wohin auch der Dienst mich ruft. Niemals, verstehst Du. Ich habe Deine kleine Photographie […]. Ich denke tagtäglich an Dich und sollte mir was menschliches passieren, so wisse, daß ich in dem letzten Augenblick nur an unsere Sache und an Dich gedacht habe. Aber ich hoffe, daß wir uns sehen werden, daß ich das Kind sehen werde, daß Du in Schmerzen geboren hast, wie wenige Mütter […]. Und ich will jeden Tag, bis zu unserem Wiedersehen, an Dich, Du Liebe und Gute, denken. Ich umarme Dich herzlich und küsse viele Mal. Auch das kleine Maedelchen, dessen Namen ich nicht kenne. Wollen wir sie nicht Sophie nennen? Denk an mich immer als an den Dich in tiefster Seele liebenden Dein Karl“170

Rosas Antwort auf dieses Schreiben ist undatiert, muss jedoch im Juli 1919 entstanden sein.171 Darin zeigt sie sich als „eine nicht minder liebende Gefährtin und Mutter, politisch engagiert, doch keineswegs emanzipiert.“ Voller Bewunderung muntert sie Radek mit den Worten auf, „ein Mann, dem es gegeben wurde, in diesen Zeiten zu leben, und noch der Strom selbst [zu] sein und [zu] werden“, dürfe „niemals, nicht eine Minute klagen.“172 Ihrer eingehenden Beschreibung der Lage an den russischen Bürgerkriegsfronten folgt dann ein großer Gefühlsausbruch: „Wie wäre ich glücklich, wenn ich mit Dir schon über alles sprechen könnte. So lange schon, so lang sind wir nicht zusammen. Und immer diese Angst. Du weißt, ich bin wahrhaftig nicht kleinmütig, aber Dich sehen dürfen! Ich bin [nach] Kiew gegangen der 170 Brief Radeks an seine Frau, 20. März 1919. Schüddekopf, Karl Radek in Berlin. Anlage 2, S. 111ff. Aus den Radeks Tochter Sonja betreffenden Passagen des Briefes schließen zahlreiche Autoren, wie beispielsweise Lerner (S. 132), dass das Kind geboren wurde, während Radek im Gefängnis saß. Tatsächlich ist die Geburt der Tochter aber auf die Tage vor dem 14. November 1918 zu datieren, d.h. auf einen Zeitraum der deutlich v o r Radeks Abreise nach Deutschland lag. Paquet-Tagebuch (14. November 1918), S. 242. 171 Bei ihrer Schilderung der Bürgerkriegssituation bezieht sie sich auf gerade aktuelle Ereignisse des Jahres 1919: „Koltschak ist jetzt vollkommen geschlagen […] Perm ist in unseren Händen [1. Juli] […] Denikin hat Charkow [24. Juni], Ekaterinoslaw [7. Juli] und Zarisin [Caricyn, 30. Juni] genommen.“ 172 Möller, S. 28.

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Kleinen wegen […].173, Sie ist auch heute nicht dick, sie ist zierlich gebaut, aber kräftig und lustig […]. Wenn ich mir vorstelle, daß der Tag kommt, wo wir zusammen sein werden, Lieber, wenn er schon käme. Nun, Kopf hoch. In meinem Leben habe ich so viele schwere Tage gesehen so viele werde ich noch sehen, und doch ist mein so viel Glück […]. Nun auf Wiedersehen! Wir sehen uns doch. Ich bin tief überzeugt! Auf baldiges Wiedersehen. Ich küsse Dich von Herzen.“174

Erst Ende Januar 1920 konnte Rosa Radek ihren Karl wieder in die Arme schließen, denn auch als er bereits „halbfrei“ in Schöneberg wohnte, verzögerte sich seine Abreise noch wegen Problemen, die bei der Koordinierung des Geiselaustauschs auftraten. In dieser Schlussphase seines Aufenthaltes kam es am 10. Januar 1920 in der Wohnung des Polizeikommissars Schmidt zu einem letzten Gespräch mit Geheimrat Deutsch und Bankdirektor Simon175 als führenden Vertretern der deutschen Wirtschaft. Weitere Teilnehmer waren Legationsrat Hey vom Auswärtigen Amt und der inoffizielle sowjetrussische Vertreter in Berlin, Viktor Kopp. Radeks Argumente in der lebhaften wirtschaftlichen Aussprache waren identisch mit dem, was er für Hardens „Zukunft“ zu Papier gebracht hatte. Das Gesprächsergebnis blieb jedoch im unverbindlichen, und Radek drang bei seiner zehn Tage später erfolgenden Ausreise noch einmal auf den ihn begleitenden Hey ein, dass Deutschland „den Augenblick des Zusammengehens mit Rußland nicht versäumen“ sollte. Auch sei eine Reise von Außenhandelskommissar Krasin nach Deutschland „baldigst […] dringend erwünscht.“176 „Die Verzögerung der Abfahrt begann mich aufzuregen“, erinnert sich Radek, obwohl er nun relative Freizügigkeit genoss. In Begleitung von Kommissar Schmidt, dessen Frau und Rosa Meyer-Leviné besuchte er sogar eine Theateraufführung von Strindbergs religiös gestimmtem Schauspiel „Ostern“. Als der Satz fiel, „Gott sorgt

173 Radek hatte Rosa in seinem Brief vom 20. März 1919 gebeten, Grüße an seinen Freund „Christe [Christian] Rakowski [Rakovskij]“, Präsident des Obersten Sowjets der Ukraine, zu übermitteln. Es war Rakovskij, der Radek dann zum Botschafter seiner Sowjetrepublik ernannte und in der Ukraine erfolgte im Juli 1919 die Verhaftung der deutschen Geiseln, um den Austausch Radeks zu erzwingen. Möglicherweise steht Rosa Radeks Besuch in Kiev mit diesen Vorgängen im Zusammenhang. Der Satz im Brief könnte eine verdeckte Mitteilung sein, dass sie sich bei Rakovskij für Radek verwendet hat – im Klartext: „Ich bin nach Kiev gegangen, deinetwegen“. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb sie um ihres Babys willen, die Risiken einer Reise in die damals von den Wirren des Bürgerkriegs heimgesuchte ukrainische Hauptstadt auf sich nehmen sollte. 174 Rosa Radek an Karl Radek, undatiert. Eine erstmals von Möller (S. 27f.) publizierte Abschrift des Briefs befindet sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes: Deutschland IAAD, Band II, Abschrift zu AS 1714. Zitiert nach Möller, ebenda. 175 Simon, Hugo (1880–1956), Privatbankier und SPD-Politiker; 1919 Unterstaatssekretär im preußischen Finanzministerium und für kurze Zeit Finanzminister. 176 Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 99. Goldbach (S. 48f.), die sich auf die dienstlichen Aufzeichnungen Heys für Maltzan bezieht.

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für alle lebendige Kreatur“, rief Radek laut dazwischen; „Ach ja? Das wissen wir aber besser!“ Im Theater entstand ziemliche Unruhe.177 Am 20. Januar 1920 durfte er schließlich abreisen: „Endlich fuhren wir mit dem Zug zur […] Grenze in Prostken [in Ostpreußen; heute das russische Prostki]. Ich wurde von Polizeikommissar Schmidt mit zwei Polizeibeamten und [Legationsrat] Hey begleitet.178 Von Prostken aus beförderte ihn ein eigens bereitgestellter Sonderzug weiter durch Polen. Seit Herbst 1919 war das Land in bewaffnete Auseinandersetzungen mit Sowjetrussland verwickelt. Polnische Truppen hatten das litauische Vilnagebiet besetzt und waren dann in Weißrussland eingedrungen. Eine Eskorte polnischer Militärs, darunter auch der Chef der Abwehr, brachte Radek über Białystok ins weißrussische Luninec, wo General Sikorski179, später polnischer Verteidigungsminister und Ministerpräsident, seinen Frontstab aufgeschlagen hatte. Er bat Radek zum Tee und beide führten „ein langes Gespräch über die Beziehungen zwischen Polen und Rußland und die russische Revolution.“ Ein „roter Kommandeur“ holte Radek vereinbarungsgemäß in einer Feuerpause ab und begleitet von einer polnischen Patrouille, erreichte man zu Fuß den russischen Frontabschnitt180: „Es war eine wunderbare Mondnacht. Der Schnee knirschte unter den Füßen, als wir uns den sowjetischen Linien näherten. Das Herz schlug in der Brust. Unsere Wachen sprangen heraus und nahmen uns freudig auf.“181 In den Hütten der Rotarmisten wurde Radek mit „Tee aus Mohrrüben“ bewirtet. Die Soldaten spielten ihm auf einem Grammophon eine Schallplatte mit Liedern von Dem’jan Bednyj182 vor, und Radek hörte voller Rührung „zum erstenmal eine sowjetische Platte.“ Der Kommissar der sowjetischen Südwestfront, Aralov183 erschien, um ihn mit seinem Eisenbahnzug nach Moskau zu bringen.184 Das Zugpersonal konnte keine Auskunft geben, wann man auf der tiefverschneiten Strecke in der Hauptstadt ankommen würde. Also legte Radek sich erst einmal schlafen. Er schreckte hoch, als er von der Tür des Abteils her plötzlich die Stimme Bucharins und den Bass von Dem’jan Bednyj vernahm: „So ein feierlicher Tag, und 177 Meyer-Leviné, S. 368f. 178 Radek, Nojabr’, S. 162. 179 Sikorski, Władysław (1881–1943), 1939–1943 Ministerpräsident der polnischen Exilregierung. 180 Radek, Nojabr’, S.  163ff. Im Bestand des RGASPI (bis 1999 RCChIDNI) Moskau, sind die Bescheinigungen deutscher und polnischer Offiziere über seine Übergabe erhalten. An der sowjetrussischen Grenze erbat er zwei Fuhrwerke für sein Gepäck sowie eine Feuerpause für die Zeit seiner Frontüberquerung. RGASPI, fond [Bestand] 326, opis’ [Verzeichnis] 1, delo [Aktenordner] 47, list [Seite] 2–3. Vatlin, Die Krise unserer Partei bedroht die Weltrevolution. S. 2. 181 Radek, a.a.O., S. 165. 182 Bednyj [„der Arme“], Dem’jan; Pseudonym von Pridvorov, Efim Alekseevič (1883–1945); bäuerlicher Herkunft; ständiger Mitarbeiter der „Pravda“; eine Art „Hofdichter“ des Sowjetregimes; verfasste Fabeln, Lieder, Gedichte und antireligiöse Propaganda. 183 Aralov, Semën Ivanovič (1880–1969); sowjetischer Militär und Diplomat; im Bürgerkrieg Mitglied des Revolutionären Militärrats der 12. Armee und der Südwestfront. 184 Radek, Nojabr’, S. 165.

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er schläft, der Schweinehund!“ Es war der Morgen des 24. Januar 1920. „Das liebe Rußland empfing mich“, kommentiert Radek die burschikose Begrüßung durch die beiden „Pravda“-Redakteure. Er hatte umfangreiches Reisegepäck bei sich: „In vier riesigen Koffern führte ich die gesamte wichtige Wirtschaftsliteratur des ersten Nachkriegsjahres, die gesamte kommunistische Presse und die Arbeiten Einsteins mit, die damals in Rußland noch unbekannt waren.“185 Der größte Gewinn für die Bol’ševiki waren jedoch der Heimgekehrte selbst und seine aktuellen Erfahrungen186: „Wir fuhren nach Hause in den Kreml’, und Genosse Čičerin zwang mich, ohne mir Zeit zum Frühstück zu lassen, und auf den Genossen Karachan schimpfend, der in Richtung des Speisesaals blickte, die Sitzung sofort mit einem Bericht über die Lage in Polen zu beginnen.“187 *** Als Radek Ende Januar 1920 nach Moskau zurückkehrte, war er davon überzeugt, dass mit einer die Weltrevolution auslösenden deutschen Revolution in absehbarer Zeit nicht zu rechnen sei. Im Gegensatz zu den bolschewistischen Führern, die das Überleben des im Bürgerkrieg um seine Existenz kämpfenden Sowjetstaates noch immer mit dem raschen Sieg der proletarischen Revolution in Europa verknüpften, befürwortete er einen modus vivendi zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Insbesondere von der Kooperation mit Deutschland versprach er sich Hilfe und Unterstützung für Sowjetrussland. Das waren konzeptionelle Vorstellungen, denen Lenin skeptisch gegenüberstand und über die selbst Männer wie Bucharin den Kopf schüttelten.188 Es handelte sich jedoch um strategische Überlegungen, die Radek seit 1918 immer wieder geäußert hatte.189 Sie erhielten nun anhand seiner in Deutschland gewonnen Erkenntnisse weitere Ausprägung und perspektivische Dominanz. Die katastrophale Erfahrung der Januarkämpfe und der im Berlin des Jahres 1919 gewonnene Einblick in die Realität der deutschen Verhältnisse ließen ihn „mit scharfem Beobachterblick und ohne alle Scheuklappen“ die Ebbe konstatieren, die in der europäischen Revolution eingetreten war, noch bevor andere bolschewistische Führer ihrer gewahr wurden.190 Seine Revolutionseuphorie war verflogen, und seine ironische Bemerkung, „er habe eine Lebensstellung: Warten auf die Weltrevolution“, machte die Runde.191 Insbesondere zwei seiner Ende 1919 entstandenen Schriften geben in komprimierter Form nahezu die vollständige Komintern- und KPD-Linie der nächsten drei 185 Ebenda, S. 162. 186 Goldbach, S. 59. 187 Ebenda, S. 166. 188 Radek, Nojabr’, S. 162. 189 Siehe oben, Kapitel 8, Anm. 75, 151, 223. 190 Deutscher, Trotzki II, S. 203. 191 Möller, S. 29.

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Jahre wieder: „Die Entwicklung der Weltrevolution und die Taktik der kommunistischen Parteien im Kampf um die Diktatur des Proletariats“ und „Die Entwicklung der deutschen Revolution und die Aufgaben der Kommunistischen Partei“.192 Er hatte sich vom Gedanken an eine sich rasch verwirklichende Weltrevolution verabschiedet und appellierte an das „Weltproletariat“: „Denkt in Kontinenten, denkt in Jahrhunderten!“193 – „Die Weltrevolution ist ein langwieriger Prozeß.“194 – „Die Strategie des Proletariats“ dürfe „nicht auf einen kurzen Niederwerfungsfeldzug“ gerichtet, sondern müsse „auf einen langen Krieg, in dem Offensive und Defensive wechseln, in dem alle Arten von Waffen zur Anwendung gelangen, eingestellt sein.“195 Die kommunistischen Parteien des Westens seien noch „zu jung, um sich vollkommen klar zu sein über alle Bedingungen der erst im Beginn befindlichen Weltrevolution.“196 Da sich bisher nur das industrielle Proletariat im Kampf befinde und die Landarbeiter noch fehlten, sei „der Sieg einstweilen noch nicht möglich.“ Es gelte daher, „vorerst nicht den endgültigen Sturm, sondern Vorkämpfe im Vorgelände vorzubereiten.“ Dabei dürfe man „nirgends, in keinem Lande […] im Kampf um die proletarische Diktatur auf die geringste Waffe verzichten.“197 Zwar würden nur die „schweren Waffen […] den endgültigen Sieg bringen, aber auch sonst nebensächliche Waffen können ihn […] unter Umständen erleichtern.“198 Scharf warnte er vor der Gefahr des Putschismus, davor mit „einer unfruchtbaren geistigen Unbewegtheit […] am Anfange des Weges das Ziel, das an seinem Ende liegt, zu realisieren.“199 „Massenaktionen des Proletariats“ ließen sich „nicht vom Zaune brechen.“200 Immer wieder betonte er, die Verhältnisse seien für die Revolution noch nicht reif: „Die Revolution kann nicht schneller kommen, als sie kommen kann“, und seines Wissens gebe es „kein medizinisches Buch, daß die Länge der Schwangerschaft der kapitalistischen Gesellschaft festsetzt.“201 Dennoch sei die kommunistische Partei keineswegs „eine Partei des Wartens auf den kommenden Kladderadatsch, sondern die Partei der Verschärfung der Radikalisierung der Aktionen des Proletariats.“202 Radek hatte in Deutschland den Boden für die Kommunistische Partei vorbereitet und sie mit aus der Taufe gehoben. Er war tief in die Einzelheiten ihrer Politik verstrickt und kannte hunderte aktive Genossen persönlich. Seinen eigenen Worten 192 Goldbach, S. 57. 193 Radek, Die Entwicklung der Weltrevolution und die Taktik der kommunistischen Parteien im Kampf um die Diktatur des Proletariats (geschrieben im November 1919), S. 66. 194 Ebenda, S. 59. 195 Ebenda, S. 15. 196 Ebenda, S. 22. 197 Ebenda, S. 30. 198 Ebenda, S. 23, 199 Ebenda, S. 28. 200 Ebenda, S. 31. 201 Struthahn [Radek], Die Entwicklung der deutschen Revolution und die Aufgaben der Kommunistischen Partei, S. 37. 202 Radek, Die Entwicklung der Weltrevolution… , S. 30f.

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zufolge, gelang es ihm während seiner Haftzeit in Berlin, „tatkräftig an der Führung der deutschen Genossen m i t z u w i r k e n .“203 Nach dem Tod von Luxemburg, Liebknecht und Jogiches vermochte er es, ungebremsten Einfluss auf die ihnen nachfolgenden Führer der KPD auszuüben. Paul Levi, August Thalheimer, Jakob Walcher, Heinrich Brandler und Clara Zetkin, sie alle erkannten die Vorrangstellung „des Vertreters der mächtigen russischen Partei“ an, schreibt Ruth Fischer.204 ,Allerdings ist ihr zu widersprechen, wenn sie behauptet, Radek habe besessen von „brennendem Ehrgeiz“ und in der Absicht, „seine unbefriedigende Stellung in der russischen Hierarchie zu verbessern“, versucht, „sich zum Führer der deutschen Kommunisten zu machen“.205 Er stand der KPD zwar „mit Rat und Tat zur Seite“206, erteilte Direktiven, machte jedoch nie Anstalten, sich zu ihrem Führer aufzuschwingen. Er war der Emissär Lenins, und verstand sich als ein über den Niederungen des Parteialltags stehender Internationalist und „Führer des Weltkommunismus“. In den Reihen der deutschen Kommunisten spielte er die Rolle eines „Sovetniks“ – eines bolschewistischen Kommissars, sowjetrussischen Beraters und politischen Kundschafters zugleich.207 Das Gefängnis Moabit und die Wohnungen Reibnitz und Schmidt waren „neben einem politischen Salon schließlich sowohl Studierstube als auch Agitationsund Propagandazentrale und Leitstelle für die deutschen Kommunisten.“208 Seine Schriften waren „Lehrbücher für die Partei.“209 Darin erklärte er den deutschen Genossen, wie der Weg in die Revolution aussehen sollte: Ausbau der KPD zu einer Massenpartei unter gleichzeitiger Ausweitung ihres Einflusses durch taktische Kompromisse und die Gewinnung temporärer Bündnispartner.210 Er plädierte für das Hineingehen in die bestehenden Gewerkschaften, um dort kommunistische Politik zu machen – eine Position, die er bereits 1910 im Streit über die Gewerkschaftsfrage unter den polnischen Sozialdemokraten vertreten hatte und die seinerzeit zum Bruch mit Luxemburg und Jogiches geführt hatte. Zur Gewinnung der Massen seien ausgehend von den Fragen alltäglicher Bedürfnisse, zunächst reformerische Ziele anzusteuern. Auch eine „Arbeiterregierung“ aus Kommunisten und Sozialdemokraten könne als Übergangslösung nicht ausgeschlossen werden211, vorausgesetzt die KPD gewinne darin die Oberhand: „Die Lehre der ungarischen Revolution, daß die neue Epoche, in der es nicht ums Parlamenteln, nicht ums Diskutieren, in der es um Hals

203 Radek, Avtobiografija, Sp. 168. 204 Fischer, Ruth, Stalin, S. 253. 205 Ebenda. 206 Frölich, Einleitung zu: Radek, in den Reihen der deutschen Revolution, S. 14. 207 Möller, S. 15. 208 Möller, S. 31. 209 Fischer, Ruth, Stalin, S. 254. 210 Struthahn [Radek], a.a.O. 211 Radek, Zur Taktik des Kommunismus, S. 9.

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und Kragen geht, daß diese Epoche geschlossene, starke kommunistische Parteien erfordert, die das Ruder im Sturm fest in der Hand zu halten wissen.“212 Den kommunistischen Parteien sprach er eine Doppelfunktion zu. Einerseits müssten sie die „tragfähigen Pfeiler“ einer Brücke bilden, die von der russischen Revolution nach Westen geworfen werde213, andererseits aber auch fähig sein, Sowjetrussland als „das Herz der Weltrevolution“ aktiv zu unterstützen.214 Radek, der 1918 gesagt hatte, dass die Bol’ševiki sogar um den Preis einer „vorübergehenden Unterdrückung der russischen Revolution“ der „Arbeiterrevolution in Europa“ zu Hilfe kommen würden215 und noch ein Jahr später die deutschen und die russischen Arbeiter Arm in Arm am Rhein kämpfen sah216, erwähnte damit erstmals ausdrücklich den Aspekt, dass es die Aufgabe der kommunistischen Parteien sei, Sowjetrussland zu helfen. Das Schwinden der Aussichten auf eine rasche Verwirklichung der Weltrevolution bedrohe die Existenz des Sowjetstaates und damit die künftige Weltrevolution an sich. Deshalb sei „die aktive Verteidigung Sowjet-Rußlands“ die Pflicht aller Kommunisten.217 Die „kommunistische Internationale“ müsse sich der Bedeutung der „Rettung Sowjetrußlands“ bewusst sein und „den Kampf für Sowjetrußland zum Pfeiler ihrer Weltpolitik machen. Es gibt kein Opfer, das für dieses Ziel zu groß wäre.“218 Der Satz „Sowjetrussland ist in Gefahr“ wurde zu Radeks Leitmotiv. Je pessimistischer er die Aussichten der Revolution beurteilte, desto stärker erklärte sich daraus sein Handeln. Wichtiger als die Förderung der Revolution um jeden Preis, erschien ihm nun die Unterstützung des bislang einzigen Staates, in dem eine kommunistische Partei die Macht erobert und erfolgreich behauptet hatte.219 Ironischerweise erwies er sich damit bereits 1919 als ein Internationalist in dem Sinne, wie ihn Stalin erst acht Jahre später dekretierte: „Ein Internationalist ist, wer vorbehaltlos, ohne zu schwanken, ohne Bedingungen zu stellen, bereit ist, die UdSSR zu schützen.“220 Der Erhaltung des in seiner Existenz gefährdeten Sowjetstaates diente auch Radeks wiederholte Aufforderung an seine Genossen, zu „einem Modus vivendi mit

212 Radek, Die Lehren der ungarischen Revolution (datiert 12. Januar 1920), Vorwort in: Szánto, Béla: Klassenkämpfe und Diktatur des Proletariats in Ungarn, S. IX. 213 Struthahn [Radek], Die Entwicklung der deutschen Revolution und die Aufgaben der Kommunistischen Partei, S. 63. 214 Radek, Die Entwicklung der Weltrevolution … , S. 63. 215 Radek, Der Zusammenbruch des Imperialismus und die Aufgaben der internationalen Arbeiterklasse, S. 43. 216 Radek, Die russische und die deutsche Revolution und die Weltlage, S. 85. 217 „Leitsätze über die Taktik der Kommunistischen Internationale im Kampfe um die proletarische Diktatur“, a.a.O., S. 13. Goldbach, S. 56. 218 Radek,. Die Entwicklung der Weltrevolution, S. 64. 219 Vgl. Fischer, Ruth, Stalin, S. 328 und Goldbach, S. 133. 220 Stalin, Werke, Band X, Berlin (Ost) 1952, S. 45.

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den kapitalistischen Staaten zu gelangen“221, was selbstverständlich auch ein reziprokes Verhalten dieser Länder gegenüber Sowjetrussland implizierte. An die Adresse der deutschen Industrie und Wirtschaft richtete er den Appell, Deutschland tue gut daran, sich rechtzeitig auf das in nächster Zeit bevorstehende Rennen um den großen russischen Markt einzustellen. Die Angst vor der bolschewistischen Propaganda dürfe doch nicht zum „Blödsinn“ ausarten, schrieb er in Hardens „Zukunft.“ Zu Moritz Schlesinger sagte er Ende 1919, wichtiger als die Wiederaufnahme von diplomatischen Beziehungen und der Austausch von Kriegsgefangenen „[ …] sei indessen für Sowjetrußland ein Warenaustausch von exportbereiten Rohstoffen wie Flachs, Holz, Pelze im Werte von vielen Millionen Mark gegen deutsche industrielle Güter sowie auch die Entsendung von Fachleuten zum Wiederaufbau der Industrie und des Transportwesens. Über alle diese Fragen habe er mit führenden Industriellen, u.a. mit Walter Rathenau, Felix Deutsch von der AEG gesprochen, deren Interesse durch die bereits von Litwinow mit den Engländern in Kopenhagen geführten Verhandlungen gefördert werde.“222

Schlesinger zeigte sich verwirrt, denn er konnte den von Radek „angebotenen Warenaustausch nicht auf einen Nenner bringen mit den von den Heimkehrern erhaltenen Berichten über die grauenhaften Zustände [in Sowjetrussland], welche täglich Tausende Menschenleben forderten.“223 Auch Radek sind allem Anschein nach Bedenken hinsichtlich der sowjetischen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Bereitschaft Deutschlands zum schnellen Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen gekommen, denn er stellte hinfort die Anwerbung deutscher Entwicklungshelfer zum „Wirtschaftsaufbau Sowjetrusslands“ in den Vordergrund seiner Überlegungen: „[…] eine der wichtigsten Waren, die es vom Ausland benötigt [ist] die Einfuhr geschulter technischer Kräfte […]. Deutschland hat Dank dem Zusammenbruch seiner Auslandsbeziehungen und dem Niedergang seiner Wirtschaft Tausende von Ingenieuren, Chemikern, geschulten Arbeitern, die brotlos und arbeitslos herumlaufen, die Sowjet-Rußland die besten Dienste beim Wiederaufbau leisten könnten […]. Nicht Warenaustausch und Kapitalausfuhr, sondern Arbeitshilfe, das ist die neue Grundlage der deutsch russischen Wirtschaftsbeziehungen.“224

Die Sowjetpresse veröffentlichte ein Interview des Rückkehrers, in dem er ein propagandistisch düster gefärbtes Bild der Wirtschaftslage im Westen zeichnet. Das Leben 221 Radek, Die auswärtige Politik des deutschen Kommunismus und der Hamburger nationale Bolschewismus, S. 9. 222 Schlesinger, S. 110. 223 Ebenda. Schlesinger ergänzt: „Wie berechtigt meine Zweifel waren, hatte ich noch ein Jahr später Gelegenheit in Moskau festzustellen.“ Ebenda. 224 Radek, Die auswärtige Politik Sowjetrusslands (Dezember 1919), S. 46f.

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in der Sowjetrepublik sei schwer, aber wenn ein russischer Arbeiter beispielsweise nach Wien verschlagen würde, so würde ihm das Leben zu Hause als „Paradies“ erscheinen. Der westeuropäische Kapitalismus sei derzeit nicht fähig, „Rußland aus seinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu erretten.“ Von ihm dürfe man für den Neuaufbau Russlands keine Hilfe erwarten, „sondern von den arbeitenden Massen in Form von qualifizierten Arbeitern und Technikern“.225 Angesichts des Abflauens der revolutionären Welle im Westen nahm er Abschied von der bisherigen Maxime der Bol’ševiki, ohne den Sieg der Revolution in den Staaten Westeuropas, insbesondere in Deutschland, sei der Sowjetstaat verloren. In der Diskussion um den Frieden von Brest-Litovsk hatte er noch kategorisch behauptet, es sei „unmöglich“ den Sozialismus in einem „rückständigen Lande“ wie Sowjetrussland einzuführen. Jetzt reduzierte er seine Aussage darauf, schadenfroh triumphierend festzustellen „[…] wir leben, die Sieger von Brest-Litowsk aber sind unter das Rad der Geschichte gekommen.“226 Und nach Moskau zurückgekehrt, verkündete er: „Jetzt schon kann ich mit Bestimmtheit sagen: , wir sind unbesieglich. Wir werden alle Krisen siegreich überwinden‘. Wir haben die Weltrevolution unterstützt durch die Tatsache unseres Bestehens – jetzt werden wir sie stärken durch die Arbeit unseres Wiederaufbaues.“227 Von dieser Aussage bis zu Stalins These, dass die Sowjetunion den Sozialismus auch für sich allein aufbauen könne, ohne auf die Weltrevolution zu warten – der 1925 verkündeten Lehre vom „Aufbau des Sozialismus in einem Lande“ – besteht gedanklich kein großer Abstand. Allerdings sträubte sich Radek im Unterschied zu Stalin immer mit allen Fasern gegen eine revolutionäre Strategie, die zur Doktrin gerann. Eine Elastizität, die allen Eventualitäten Rechnung trug und wie sie von Lenin praktiziert wurde, war auch in seinen Augen die beste aller revolutionären Strategien. Seine grenzenlose Bewunderung des Sowjetführers galt vor allem dieser seiner Fähigkeit.228 Unter dem Eindruck der Berichterstattung Radeks über den taktischen Richtungsstreit der deutschen Kommunisten und vielleicht sogar auf dessen unmittelbare Anregung hin, schrieb Lenin im Frühjahr 1920 die Broschüre „Der ,linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit des Kommunismus“ mit dem Untertitel „Versuch einer populären Darstellung der marxistischen Strategie und Taktik.“ Er greift darin die Argumente, auf die Radek in seinen Schriften Ende 1919 formuliert hatte. Die KPD müsse lernen im Kampf um die Macht alle Möglichkeiten auszuschöpfen – lavieren, paktieren und provisorische Kompromisse schließen. Die Arbeit, in der Lenin auch die Vorbildrolle der Bol’ševiki betont, gehört mit zum Wirkungsvollsten, was er geschrieben hat. Sie wurde in der Folgezeit für die kommunistischen Parteien richtungsgebend229 und ist gleichzeitig ein Beispiel dafür, auf welche Weise Radek 225 Ende Januar 1920 in Moskau gegebenes Interview Radeks; zitiert in: Cleinow, S. 20f. 226 Radek, „Die auswärtige Politik Sowjet-Russlands“ (Dezember 1919), Hamburg 1921, S. 51. 227 Ende Januar 1920 in Moskau gegebenes Interview Radeks; zitiert in: Cleinow, S. 21. 228 Goldbach, S. 61 und Radek, Lenin; in: Portrety i pamflety, S. 21–28. 229 Goldbach, S. 63.

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durch seine realistische Einschätzung der Lage Einfluss auf die KPD und den Weltkommunismus auszuüben vermochte. Die Historiker sind sich darüber einig, dass 1919 „das bedeutendste und wichtigste Jahr“ in Radeks Leben war. Unter unzulänglichen äußeren Umständen „wuchs er zu wahrer Größe auf.“230 Im Hinblick auf seinen Erfahrungsschatz über Deutschland wurde der unfreiwillig lange Berlinaufenthalt nach den Jahren in Bremen „wohl die wichtigste Station in Radeks Leben“ und „auch für die deutsch-sowjetrussischen Beziehungen kann diese Episode […] kaum überschätzt werden.“231 In seinen Gesprächen mit prominenten Deutschen wurden „die ersten ernsthaften Kontakte deutscher Stellen mit dem neuen Regime in Rußland geknüpft.“232 Radek überraschte im Gespräch durch „eine ungewöhnliche Intelligenz und seine Kenntnis weltpolitischer Zusammenhänge der Vergangenheit und Gegenwart.“233 Mit einer Stimme, die „fast von einer Märchensüße“ war, „wie die Stimme des Wolfs, der Honig und Kreide gefressen hatte, um die armen Geißlein zu betören“234, versuchte er, prominenten Deutschen eine Annäherung an Sowjetrussland schmackhaft zu machen. Viele davon waren in den politischen Vorstellungen Preußens und Bismarcks über das deutsch-russische Verhältnis aufgewachsen und stellten sich unter dem harten Druck des Versailler Diktatfriedens die Frage, ob man nicht die traditionelle Interessengemeinschaft mit Russland wieder aufleben lassen sollte. Akteure der deutschen Politik, wie von Seeckt, von Maltzan und vermutlich auch von Brockdorff-Rantzau, regte er „derartig zum Nachdenken an, daß er noch lange Zeit indirekt Einfluß auf die Gestaltung der deutschen auswärtigen Beziehungen ausübte.“235 Sieht man von Radeks gelegentlichen Kontakten zu Bronskij, dem Genossen Thomas und Viktor Kopp ab, so führte er all diese Gespräche im Grunde ohne aktuelle Verbindung mit Moskau. „Es war ein Alleingang ohne Auftrag, aber nicht ohne Erfolg.“236 Er wurde zum Bahnbrecher der deutsch-russischen Annäherung und zu einem der „Hauptarchitekten von Rapallo“.237 Louis Fischer trifft den Kern des Sachverhalts, wenn er feststellt: 230 Schurer, Part I, S. 69. 231 Möller, S. 31. 232 Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 101. 233 Schlesinger, S. 110. 234 Belzner, S. 64. 235 Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 101. „Ein mittelbarer Einfluß seiner Thesen auf von Seeckt und von Maltzan ist nicht zu bezweifeln, zum Teil konnte er aus den Akten nachgewiesen werden.“ Ebenda. 236 Krummacher/Lange, S. 80. Das deckt sich mit der Bewertung Carrs: „On the Soviet side Radek was playing a lone hand […]. [Auf sowjetischer Seite agierte Radek auf eigene Faust[…].“. Carr, The Bolshevik Revolution 1917–1923, Vol. III, S. 321. 237 Carr, The Bolshevik Revolution 1917–1923, Vol. III, S. 381. Diese Auffassung ist seit Schüddekopfs Forschungen (1962) kaum noch zu widerlegen, jedoch nicht unumstritten; so urteilt Angress (S. 88f.) 1963 wesentlich zurückhaltender: „Zwar dürfte es übertrieben sein, zu behaupten, daß Radeks politische Ansichten […] zum russisch-deutschen Vertrag von Rapallo geführt haben.

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„Radek kam nach Deutschland, um eine Revolution zu machen. Er blieb um sowjetische Außenpolitik zu betreiben. Der Rapallo-Vertrag von 1922 und die Bande zwischen der Sowjetregierung und der deutschen Armee nahmen in einer Gefängniszelle und im Fremdenzimmer eines Ludendorff-Freundes zum erstenmal Gestalt an […]. In der Wandlung die Radeks Mission in Deutschland durchgemacht hatte, lag unausgesprochen die Wandlung, die das sowjetische System noch durchmachen sollte.“238

Oder um es auf Möllers Kurzformel zu bringen: „Sowjetrußland war“ für Radek „real, die Weltrevolution nicht.“239 Zum zweiten Jahrestag der Oktoberrevolution außenpolitische Bilanz ziehend, legitimierte er den von ihm beförderten außenpolitischen Paradigmenwechsel Sowjetrusslands von der revolutionären Konfrontation hin zum modus vivendi, indem er flexibel wie immer, die Ideologie der politischen Realität anpasste: „Zwischen unseren Gegnern und uns besteht der Unterschied: Die Zeit arbeitet für uns. Darum haben wir uns entschieden Zugeständnisse zu machen, weil wir wissen, daß wir endgültig siegen werden […].“240 In diesem Zusammenhang bedarf allerdings das gängige Image Radeks als geschickter Jongleur und trickreicher Taktiker mit ständig schwankendem politischem Standort einer Korrektur. Als „durchaus richtig“ stützt sein Biograph Lerner241 das Urteil Gerald Freunds: „Radek war berüchtigt sprunghaft; es ist ein Fehler, ihm logische Verhaltensmuster oder logisches Denken oder konsequente Überzeugungen zuzuschreiben.“242 In die gleiche Richtung zielt Helmut Grubers Charakterisierung von Radek als dem „Wetterhahn der Komintern-Politik.“243 Marie-Luise Goldbach hat demgegenüber erstmals auf die erstaunlichen Konstanten hingewiesen, die in Radeks politischen Konzepten zumindest von 1918 bis 1923 erkennbar werden. Konstanten, die durch sein bedenkenloses und oft verwirrendes Taktieren weitgehend verdeckt worden sind. Sie betreffen sowohl den sich zu einer pragmatischen Realpolitik hin verändernden Kurs der sowjetischen Außenpolitik, einschließlich der Bemühungen um den Ausbau der sowjetisch-deutschen Beziehungen, als auch seine in der KPD verfolgte Linie und fügen seinem Bild eine zuvor wenig beachtete Facette hinzu.244

Aber zweifellos trugen sie zur Anbahnung einer eventuellen Annäherung zwischen Deutschland und der Sowjetunion bei“. 238 Fischer, Louis: Lenin, S. 387f. 239 Möller, S. 32. 240 Radek, „Die auswärtige Politik Sowjet-Russlands“ (Dezember 1919), Hamburg 1921, S. 52. 241 „Freunds judgement is essentially correct.“ Lerner, S. 175. 242 „Radek was notoriously volatile; it is a mistake to ascribe logical patterns or thought or consistent opinion to him.“ Freund, Gerald: Unholy Alliance, New York 1957, S. 65. 243 „Radek, the weathercock of Comintern policies.“ Gruber, S. 81. 244 Vgl. Goldbach, S. 58.

12.  Sekretär der Komintern (1920) Während der Haft in Berlin war Radek in Abwesenheit in das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Russlands (Bol’ševiki) gewählt worden. Er erreichte damit die formal höchste Position in der bolschewistischen Hierarchie, die er je innehatte. Er behielt sie bis 1924. Bei seiner Rückkehr nach Moskau war er noch immer Mitglied des Kollegiums des Außenkommissariats sowie Stellvertretender Außenkommissar. Auch schrieb er sofort wieder für „Pravda“ und „Izvestija“. Vor allem aber gehörte er unverändert zum engsten politischen Beraterkreis Lenins. Eine Woche nach seiner Ankunft im Kreml’ wurden am 31. Januar 1920 die fünf für ihn noch in Russland festgehaltenen deutschen Geiseln freigelassen.1 „Karl Radek, der augenscheinlich mit seiner Behandlung in Berlin zufrieden war“, sorgte dafür, dass die zeitweilig unter unmenschlichen Bedingungen Inhaftierten für ihre Rückreise mit Bargeld versehen und unterwegs gut verpflegt wurden.2 In Moskau sprach er Ende Januar erstmals wieder auf einer öffentlichen Versammlung. Er stimmte die Zuhörer darauf ein, dass es in Westeuropa nicht so bald zur Revolution kommen werde, denn: „der Weg zur Revolution ist für die Arbeiter Europas schwerer als für die in Russland, da sich auf der Seite des russischen Proletariats die Armee befand, die Frieden wollte sowie die Bauernschaft, die danach strebte Land zu bekommen, während in Europa die Massen entwaffnet sind und die Bourgeoisie eine Weiße Garde darstellt.“3

Der Rückkehrer aus Deutschland wurde als Held gefeiert. In Petrograd, wo Zinov’ev, der Vorsitzende des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI), als Parteisekretär amtierte, wurde Anfang Februar zu Ehren Radeks eine Sitzung des Petrograder Sowjets anberaumt. Auf der im Taurischen Palais stattfindenden Veranstaltung gab sich Radek „klug, geistreich und sarkastisch“ zugleich – „ein in1 Drei der acht Geiseln – Dr. Brendel, Pallat und Stratz – waren bereits am 28. Oktober 1919 freigelassen worden. Heinz Stratz schilderte seine Hafterlebnisse unmittelbar danach in der Broschüre „Drei Monate als Geisel für Radek“, Berlin 1919. Hauptmann Franz Cleinow, der zu den Ende Januar 1920 Entlassenen gehörte, beschrieb seine sieben Monate betragende Geiselhaft in der Schrift „Bürger, Arbeiter rettet Europa. Erlebnisse im sterbenden Rußland“, Berlin 1920. Anfangs unter menschenunwürdigsten Bedingen im Čeka-Gefängnis in Kiev inhaftiert, wurden die Geiseln von ihren Bewachern terrorisiert und Zeuge der fortlaufenden Hinrichtung von Mitgefangenen durch Genickschuss. Sie hungerten und Cleinow schreibt, nur die dünnen Suppen des Dänischen Roten Kreuzes hätten sie am Leben erhalten. Dabei habe man ihnen immer wieder versichert, sie würden genauso behandelt wie Radek in Deutschland. Nach der Verlegung aus Kiev in ein „Konzentrationslager“ in der Nähe von Moskau sei man sich dort vorgekommen wie im Paradies. 2 Cleinow, S. 20. Nach seinen schrecklichen Hafterfahrungen war Cleinow von dieser Geste Radeks derart beeindruckt, dass er ihm in seiner Broschüre nochmals ausdrücklich dafür dankt. Ebenda. 3 „Izvestija“, 29. Januar 1920. Carr, The Bolshevik Revolution 1917–1923, Vol. III, S. 101.

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teressanter Mann und eine interessante Rede“, wie eine amerikanische Zuhörerin anmerkte. Es handelte sich um die gerade in Russland eingetroffene Frauenrechtlerin Emma Goldman4, die anschließend nach Moskau weiterreiste. Im Zug traf sie auf Radek und Dem’jan Bednyj. Radek erzählte ausführlich von seinen Erfahrungen in Deutschland und im deutschen Gefängnis. Bednyj wollte sich in Moskau um sie kümmern, war dann aber bei der Ankunft plötzlich verschwunden.5 Als sie mit ihrem Gepäck verlassen auf dem Bahnsteig stand, kam ihr Radek zu Hilfe: „Er rief einen Gepäckträger herbei, nahm mich und mein Gepäck mit zu seinem wartenden Automobil und bestand darauf, daß ich in seine Wohnung im Kreml mitkommen sollte. Dort wurde ich von seiner Frau freundlich empfangen und zum Essen eingeladen, das von ihrem Dienstmädchen serviert wurde. Danach nahm Radek die schwierige Aufgabe auf sich, mich im Hotel „National“ [gemeint ist das Hotel Metropol’] unterzubringen. Auch mit all seinem Einfluß dauerte es Stunden ein Zimmer für mich zu bekommen. Für russische Verhältnisse erschienen Radeks luxuriöse Wohnung, das Dienstmädchen, das herrliche Essen befremdlich. Aber Radeks kameradschaftliche Fürsorge und die Gastlichkeit seiner Frau waren wohltuend […]. Dies gab mir das Gefühl, daß Freundlichkeit, Mitgefühl und Solidarität in Russland immer noch existierten.“6

Im Februar 1920 hatte das Allrussische Zentralexekutivkomitee der Sowjets (VCIK) einen Katalog von Maßnahmen zur Bekämpfung der sich dramatisch zuspitzenden Wirtschaftskrise in Russland beschlossen. Damit sollte der vollständige Zusammenbruch des Eisenbahnwesens verhindert, die Brennstoff- und Lebensmittelkrise behoben, Epidemien bekämpft, disziplinierte Arbeitsarmeen formiert und die Elektrifizierung Russlands in Angriff genommen werden. Die Frage des „sozialistischen Wirtschaftsaufbaus“ wurde als das zentrale Thema auch auf die Tagesordnung des Ende März bevorstehenden IX. Parteikongresses der RKP(b) gesetzt. Die Mitglieder des Zentralkomitees und andere hohe Moskauer Parteifunktionäre schwärmten aus, um den Parteitag propagandistisch vorzubereiten. Radek, der die von Trockij 1919 in dessen Dezemberthesen7 konzipierte Militarisierung der Arbeit durch Zwangsrekrutierung von Arbeitskräften in Arbeitsarmeen voll unterstützte, begab sich im März nach Jaroslavl’, wo er sich schon einmal im Juli 1918 aufgehalten hatte, als rote Artillerie den Aufstand der Sozialrevolutionäre niederkartätschte.8 Jetzt reiste er zusam-

4 Goldman, Emma (1869–1940); 1886 aus Russland in die USA ausgewanderte Anarchistin und Frauenrechtlerin. 5 Goldman, S. 13ff. 6 Ebenda, S. 20f. 7 Am 16. Dezember 1919 von Trockij dem Zentralkomitee unterbreitete Vorschläge zum wirtschaftlichen Übergang vom Krieg zum Frieden; darunter als wesentlichste Maßnahme, die Militarisierung der Arbeit. 8 Siehe oben, Kapitel 8.

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men mit Jurij Larin9 und begleitet von Arthur Ransome, dem Korrespondenten des „Manchester Guardian“, im Eisenbahnsonderwagen des VCIK dorthin, um auf der örtlichen Parteikonferenz zu sprechen. Man fuhr in Moskau abends ab. Obwohl der Waggon einen sehr sauberen Eindruck machte, rieben sich die drei Reisenden vorsichtshalber den Hals sowie die Hand- und Fußgelenke mit Terpentin ein, um sich vor Kleiderläusen als den Überträgern des seinerzeit grassierenden Flecktyphus zu schützen. Ransome klagte, sein Hals habe gebrannt als ob er einen Kragen aus Feuer tragen würde und er habe deshalb lange nicht einschlafen können. Radek führte einen sehr praktischen Picknickkorb mit sich, den ihm die Berliner KPD-Führer im Januar als Abschiedsgeschenk verehrt hatten. Er enthielt Bestecke, Geschirr und einen Spirituskocher, auf dem vor der Ankunft in Jaroslavl’ am nächsten Morgen der Frühstückskaffee zubereitet wurde. Radek und seine Mitreisenden blieben zwei Tage in der Stadt. Sie übernachteten in ihrem auf dem Bahnhof abgestellten Sonderwagen. Die Mahlzeiten wurden zusammen mit den lokalen Parteispitzen in dem durch Artilleriebeschuss stark beschädigten ehemaligen Nonnenkloster von Jaroslavl’ eingenommen. Es diente nun „als eine Art Gefängnis oder Konzentrationslager für ein Arbeitsregiment“, das aus zu Zwangsarbeit verurteilten Bauern bestand. Im gleichen Raum mit den Häftlingen – die Holzlöffel in eine große Gemeinschaftsschüssel eintauchend – verzehrte man die Gefangenenkost, eine „wirklich ausgezeichnete Suppe“ und als zweiten Gang Bratkartoffeln. Die Parteiversammlung fand im Stadttheater statt. Radek, den seine Haft in Moabit „zu einer Art volkstümlichem Helden gemacht hatte“, wurde vom Auditorium mit „gigantischem Jubel“ begrüßt. In einer langen, kämpferischen Rede begründete er den Beschluss des VCIK den Arbeitszwang zum Prinzip der Sowjetwirtschaft zu machen und Politische Kommissare für Kontrollaufgaben in die Fabriken zu entsenden. Nach dem Vorbild der Roten Armee müsse eine Rote Armee der Arbeit jetzt die Siege an der unblutigen Front gegen die drohende Wirtschaftskatastrophe erkämpfen. Am zweiten Tage endete die Konferenz mit der Wahl der Delegierten für den IX. Parteikongress. Unmittelbar vor der Rückreise nach Moskau wurde Radek gebeten, vor Eisenbahnern, die sich mit ihren Frauen in einem Holzschuppen am Bahnhof als Zuschauer einer Theateraufführung eingefunden hatten, eine allgemeingehaltene Rede zur internationalen Lage zu halten. Radek grinste sardonisch als er die Themenankündigung vernahm und begann zur Überraschung der Eisenbahner seine Ausführungen damit, von ihnen vehement Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit zu fordern. Bisher sei die Rote Armee die Vorhut der Revolution gewesen, habe gehungert, gekämpft und Leben geopfert, um die zu Hause gebliebenen vor den Weißen zu retten. Jetzt seien es die Eisenbahnarbeiter, von deren Anstrengungen die gesamte Zukunft Russlands abhänge. Den Frauen rief er in sehr schlechtem Russisch zu, wenn ihre Männer nichts Übermenschliches leisteten, könnten sie zuschauen, wie ihre Kinder 9 Larin, Ju.; Pseudonym von Lure, Michail Aleksandrovič (1882–1932); Bol’ševik seit 1902; seit 1918 Mitglied des Obersten Volkswirtschaftsrats.

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im kommenden Winter verhungern würden. „Nicht etwa, daß er die Medizin, die er ihnen verabreichte, gezuckert hätte. Seine Rede bestand ausschließlich aus Forderungen nach Disziplin und Arbeit verbunden mit der Prophezeiung, daß es zur Katastrophe kommen würde, falls der Wille zu Arbeit und Disziplin fehle.“10 Er sagte ihnen die ungeschminkte Wahrheit, sie lauschten gespannt und „der Beifallssturm hob das Schuppendach fast ab als er geendet hatte.“11 Die Rede war eine demagogische Glanzleistung, auch wenn sie wie alle seine Ansprachen mit starkem polnischen Akzent und ständigen grammatikalischen Fehlern gehalten wurde12: Der vom 29. März bis zum 5. April stattfindende IX. Parteikongress der RKP(b) erklärte erwartungsgemäß die Hinwendung zu den akuten Fragen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus zur Hauptaufgabe. Radek verlieh dem Projekt der Einführung des Arbeitszwangs und der Militarisierung der Arbeit eine geradezu sakrale Aura. „Die Arbeit wurde zu einer Religion gemacht“, schrieb er und pries das Projekt des Kriegskommunismus „durch Arbeitsarmeen die Kraft des Bauerntums zur Wiederherstellung der Industrie zu gebrauchen“ und die „Arbeitsdisziplin“ zu verschärfen.13 Auch werde die Sowjetrepublik sich beim „sozialistischen Wirtschaftsaufbau“ die „größte Mühe geben, alles was ihr die sterbende kapitalistische Welt auf dem Gebiet der Technik geben kann, zu erhalten.“14 Die Voraussetzung dafür bilde allerdings das Wohlverhalten des Westens gegenüber Sowjetrussland und der Verzicht auf militärische Interventionsabsichten, denn „[…] es wird von der kapitalistischen Welt abhängen, ob die Arbeitsarmeen Rußlands Wälder roden, Rußlands Wege verbessern, Rußlands Ruinen abräumen, oder ob sie hungrig und zerlumpt, mit leerem Magen, aber mit heißem Herzen, sich dem Westen zuwälzen, um gegen die zu kämpfen, die sie nicht in Frieden arbeiten lassen […]. Die Wahl liegt bei der kapitalistischen Welt […].“15

Die von der RKP(b) verordnete Militarisierung der Arbeit berührte auch das Verhältnis der Partei zu den sowjetischen Gewerkschaften. Die von Radek vertretene Forderung Trockijs, die Gewerkschaften müssten die Arbeiter zur Disziplin zwingen 10 Ransome, The Crisis in Russia, S. 52–66. 11 Ebenda, S. 66. 12 Radek hat einmal sein rednerisches Erfolgsrezept ausgeplaudert. Im Publikum suche er immer Augenkontakt zu einer skeptisch blickenden Zuhörerin – beispielsweise einer alten Arbeiterin – und spreche dann ausschließlich zu ihr. Werde er gewahr, dass er sie überzeugt habe, so wisse er, dass er das ganze Auditorium gewonnen habe. 13 Radek, Die auswärtige Politik Sowjet-Russland, (November 1920), S. 54. Für Radek charakteristisch ist, dass er nichts dabei fand, sich später über die utopischen Pläne des Kriegskommunismus zu mokieren: „Die Bolschewiki hatten es sich in den Kopf gesetzt mit dem Gewehr in der Hand quer über alle Hindernisse hinweg in das Gelobte Land einer vollkommen klassenlosen Gesellschaft aufzubrechen.“ Deutscher, Stalin, S. 240. 14 Radek, Programm des sozialistischen Wirtschaftsaufbaus, Wien 1920, S. 14. 15 Radek, Die auswärtige Politik Sowjet-Russlands, (November 1920), S. 83.

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und ihnen vermitteln, dass die Produktion Vorrang vor der Lösung sozialer Probleme habe, hatte den Zentralrat der Gewerkschaften in zwei Gruppen gespalten. Die eine unterstützte die „produktionistische“ Position der Parteiführung und das gewerkschaftliche Rollenverständnis als „Transmissionsriemen der Partei“. Die andere vom Vorsitzenden des Zentralrats der Gewerkschaften Tomskij16 geführte, vertrat die Auffassung, die Gewerkschaften müssten die „Verbraucheransprüche“ der Arbeiter verteidigen.17 Um die von der Partei vertretene Linie durchzusetzen, delegierte das Zentralkomitee der RKP(b) seine auf dem Parteikongress wiedergewählten Mitglieder Radek und Bucharin in den Zentralrat der Gewerkschaften – eine Personalentscheidung die bei den Anhängern Tomskijs auf Kritik stieß und Lenin auf dem Parteitag veranlasste, dazu harsch Stellung zu beziehen: „Ich muß noch zwei Punkte erwähnen, vor allem die Ernennung der Gen[ossen]. Bucharin und Radek. Man sagt, wir hätten die Genossen als Politische Kommissare in den Gesamtrussischen Zentralrat der Gewerkschaften geschickt und will damit behaupten, daß wir die Initiative stören und Bürokratismus treiben. Vielleicht kennen Sie bessere Theoretiker als Radek und Bucharin, dann geben Sie uns welche. Vielleicht kennen Sie bessere Leute, die mit der Gewerkschaftsbewegung vertraut sind, dann geben Sie sie uns. Wie? Das ZK soll kein Recht haben, in die Gewerkschaften Leute hineinzuschicken, die theoretisch aufs gründlichste mit der Gewerkschaftsbewegung vertraut sind, die deutsche Erfahrungen kennen und in der Lage sind, ihren Einfluß geltend zu machen, wenn eine falsche Linie eingeschlagen wird? Ein ZK, das diese Aufgabe nicht erfüllt, wäre nicht imstande zu führen. Je mehr wir von Bauern und Kubankosaken umgeben sind, desto schwerer haben wir es mit dem Problem der proletarischen Diktatur! Deshalb muß man die Linie geradebiegen, muß sie zu einer stahlharten machen, koste es, was es wolle.“18

Dem IX. Parteikongress folgte in Moskau der III. Gesamtrussische Gewerkschaftskongress19, der – ebenso wie der Parteitag – mit dem sich abzeichnenden Ende des Bürgerkriegs den Übergang der Bol’ševiki „von der Phase des Kampfes um die Macht und ihrer Bewahrung zur Phase des sozialistischen Aufbaus“20 markieren sollte. Das auf beiden Kongressen verabschiedete „Programm des sozialistischen Wirtschaftsaufbaues“ erläuterte Radek in einer von ihm eigens für Kommunisten und politisch interessierte Kreise im Westen verfassten Propagandabroschüre.21 Wie die Revolu16 Tomskij, Michail Pavlovič (1880–1936); sowjetischer Gewerkschaftsführer, Mitglied des Politbüros, politisch Bucharin nahestehend. 17 Dazu im Einzelnen: Deutscher, Trotzki I, S. 468ff. 18 Lenin im „Schlußwort zum Bericht des Zentralkomitees“ auf dem IX. Parteitag der KPR(B), 29.3– 5.4.1920. Lenin, Werke, Band 30, S. 462. 19 6.–13. April 1920. 20 Radek, Programm des sozialistischen Wirtschaftsaufbaues (geschrieben zwischen dem Ende des Gewerk-schaftskongresses am 13. April und dem Beginn des polnischen Angriffs am 25. April 1920), Wien 1920, S. 6. 21 Siehe oben, Anm. 20.

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tion sei auch der planmäßige ökonomische Aufbau Sowjetrusslands nach dem Bürgerkrieg ein wesentlicher Beitrag im „Kampf um die Vernichtung des Kapitalismus“. Dabei würden die Fragen des „Wirtschaftsaufbaues und der Verwaltungsmethoden an die erste Stelle“ treten.22 Wegen der vom Kapitalismus hinterlassenen Anarchie, könne es bei der „Organisation der Arbeit“ jedoch nicht ohne staatlichen Zwang abgehen. „Sowjetrußland leidet gewaltigen Mangel an Maschinen. Es wird Maschinen durch Menschen ersetzen müssen, durch die lebendige Kraft der ausgebildeten Industriearbeiter und der Bauernschaft.“ Aber „ausgebildete Arbeitskraft gibt es in Rußland sehr wenig.“ Desto stärker werde man auf die „physische Kraft“ zurückgreifen, „die uns nur der russische Bauer geben kann. Die Arbeiter- und Bauernregierung, die diese Kraft von dem Bauer nimmt, leistet [damit] nicht nur sozialistische, schöpferische, sondern geradezu Kulturarbeit.“23 Eine überaus zynische Behauptung, wenn man sich an Radeks Besuch in dem von seinem Freund Ransome als „Konzentrationslager“ bezeichneten Bauern-Arbeitsregiment Jaroslavl’ erinnert und ein Beispiel dafür, wie „Bauernarbeit zum Wiederaufbau des ökonomischen Lebens im Lande herangezogen“24 wurde. Zusätzlich werde, so Radek, „für die ökonomischen Aufgaben der schon vorhandene Kriegsapparat weiterverwendet.“ Man kommandiere die Armee die „keine tatsächliche Kampfaufgabe mehr“ habe, „vom Kampf zur Arbeit“. Es werden „Arbeiterarmeen“ geschaffen, „die als große Arbeitseinheiten an die schmutzige Arbeit der Städtereinigung, der Reinigung der Eisenbahnstrecken, der Gewinnung von Heizmaterial“ und ähnliche Arbeiten, die keine besondere Ausbildung erforderten, gehen könnten. Im Gegensatz zur Bauernschaft, falle die Mobilisierung der beruflich qualifizierten Arbeiter in den Fabriken durch die Umsetzung der Produktionspropaganda der Partei in die Zuständigkeit der Gewerkschaften, bzw. der aus ihnen hervorgegangenen Produktionsverbände.25 „Die Organisation der Produktion, der Anspannung aller Kräfte und der Disziplin“ habe kurzfristig „die Rettung der Arbeiterklasse vom Hungertode“ zum Ziel. Dennoch sei der sozialistische Aufbau „das Werk langer Jahre, während denen das Lebensniveau der Arbeitermassen nicht höher, sondern tiefer sein wird als in den kapitalistischen Ländern.“26 Die kommunistische Politik verheimliche nichts und verspreche nicht den Himmel auf Erden. Sie demonstriere nur, dass die Welt in der Barbarei des Kapitalismus versinken werde, „wenn nicht das Proletariat trotz Hunger und

22 Radek, a.a.O., S. 7–13. 23 Ebenda, S. 14–16. 24 Ebenda, S. 17. 25 Ebenda, S. 17–21. 26 Ebenda, S. 25. Diese Passage belegt, dass die Ausführungen für den Westen bestimmt waren. In einem Interview für die Sowjetpresse hatte Radek noch kurz zuvor behauptet, einem russischen Arbeiter, der in Wien leben müsste, würde das Leben zu Hause als „Paradies“ vorkommen.

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Kälte den Willen zur Arbeit aufbringt, die Arbeit organisiert und diszipliniert.“27 Damit räumt Radek indirekt ein, dass sich die von den Bol’ševiki mit Einführung des Sowjetsystems erwartete proletarische Arbeitsmoral, freiwillige Arbeitsdisziplin und gesteigerte Arbeitsbereitschaft als Illusion erwiesen hatten. Angesichts des Ausmaßes der politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Lande, sollten nun die Probleme der Arbeit unter den Bedingungen der Diktatur des Proletariats gelöst werden. Arbeitskontrolle und Arbeitszwang wurden zum Prinzip der Sowjetwirtschaft erhoben28, auch wenn Radek beschönigend behauptet, es gehe allein „um die Selbstorganisation der Arbeiterklasse in der kommunistischen Gesellschaft.“ Mit dem ideologischen Argument des Klasseninteresses wehrt er sich gegen den Vorwurf, die Bol’ševiki würden die Bevölkerung mit der Knute zur Arbeit treiben: „Jedes Geschrei über die Einführung der Zwangsarbeit erweist sich als Heuchelei im Munde derer, die nicht protestierten, als der Zarismus und der Kapitalismus Millionen von Bauern für die Interessen eines Häufleins von Bankiers, Bureaukraten und Generalen zur Schlachtbank schleppten. Es ist ein Beweis völligen Stumpfsinnes nicht zu verstehen, daß die soziale Bedeutung eines Zwangsaktes wie es die Benützung der Bauernmassen für staatswirtschaftliche Aufgaben ist, davon abhängt, wer die Gewalt in der Hand hat und wofür diese Massen herangezogen werden. Die Benützung von Millionen zur Arbeit am Bau von Eisenbahnstrecken, für den Kampf mit Typhus und Cholera, für die Wiedergeburt des industriellen Lebens, ist Dienst zum Wohle der Bauern […].“29

Das von Radek in seiner Broschüre propagierte Projekt Trockijs zur „Organisation der Arbeit“ durch Militarisierung und Zwangsarbeit in Arbeitsarmeen30 blieb ein kurzlebiges Experiment, das 1921 mit dem Ende des Kriegskommunismus wieder aufgegeben wurde. Die Zwangsarbeit blieb als wirtschaftliches Prinzip jedoch erhalten und in den 1930er Jahren wurde offenbar, dass die Arbeitsarmeen Vorläufer der aus Lagerhäftlingen bestehenden Heere vorwiegend bäuerlicher Arbeitssklaven waren, die Stalins Großbauten errichten mussten. Aus Deutschland zurückgekehrt, wurde Radek sogleich Mitglied des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI), das in der Zeit zwischen den Weltkongressen die kommunistische Weltorganisation führte. Die Sekretärin des EKKI, Anželika Balabanova war kurz vor Radeks Ankunft ihres Postens enthoben worden. Sie behauptet, er war über meine Kaltstellung empört, vor allem weil er wußte, wie sich die westeuropäischen Parteien zu mir stellten und weil er zu jener Zeit überhaupt gegen die Selbstherrschaft desVorsitzenden der Kommunistischen 27 Ebenda, S. 26. 28 Kernig, Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Band I, Sp. 266. 29 Radek, a.a.O., S. 30. 30 Radeks Argumentation zu diesem Thema deckt sich mit den Ausführungen Trockijs über „die Probleme der Organisation der Arbeit“ in dessen Schrift „Terrorizm i Kommunizm“ [deutsch: „Terrorismus und Kommunismus – Anti-Kautsky“, Hamburg 1921, Kapitel VIII, S. 106–146].

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Internationale [Zinov’ev] aufgebracht war.“31 Der Unmut Radeks dürfte sich allerdings in Grenzen gehalten haben, denn er avancierte in der Komintern sogleich zum zweiten Mann nach Zinov’ev und trat die Nachfolge der Balabanova auch offiziell an, als er am 24. April 1920 zum Sekretär des EKKI berufen wurde.32 In dieser Funktion blieb Deutschland seine Domäne. Er versuchte von Moskau aus fortzuführen, was er in Berlin über das Westeuropäische Sekretariat bereits begonnen hatte: Die Korrektur der in Heidelberg vollzogenen Spaltung der KPD und ihren Ausbau zur Massenpartei.33 Wir werden noch auf die Einzelheiten dieser Tätigkeit zurückkommen. Die langfristig angelegte Strategie zur Vorbereitung der deutschen Revolution kam kurzzeitig ins Wanken als es in Berlin und einer Reihe weiterer Städte am 13. März 1920 zum Rechtsputsch des Generallandschaftsdirektors Kapp34 und des Generals von Lüttwitz35 kam. Der Putsch der nach vier Tagen an dem von SPD und Gewerkschaften ausgerufenen und von der KPD unterstützten Generalstreik scheiterte, weckte in Moskau neue Hoffnungen auf eine jähe revolutionäre Wende, da in der Folge kommunistisch geführte Arbeiteraufstände in Mitteldeutschland und im rheinisch-westfälischen Industriegebiet ausbrachen. Im Ruhrgebiet kämpfte eine „Rote Ruhrarmee“ noch bis Anfang April gegen die Reichswehr, die die Lage schließlich wieder bereinigte. Moskau übermittelte den Aufständischen über Funk herzliche Grüße: „Sie kämpften unter dem Banner des Kommunismus, unter dem Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gestorben seien, welches das Banner der deutschen Räterepublik sei.“ Ein Aufruf der Komintern vom 25. März verdammte die Sozialdemokraten, sprach von „der feigen Noskebande und dem Henker Ebert.“ Das deutsche Proletariat wurde aufgefordert zu den Waffen zu greifen und zu kämpfen.36 Radek funkte nach Deutschland: „An Radiostationen Nauen, Königs Wusterhausen und Berlin. Soeben erhalten unklare in deutscher Sprache verfaßte Radios aus Berlin. Ersuche, wenn irgendwo Kommunisten auf den Radiostationen vorhanden, klaren Bericht über Situation Deutschlands. Telegraphiert uns besonders, welche Regierung am Ruder, welche Gegen-

31 Balabanoff [Balabanova], Erinnerungen und Erlebnisse, Berlin 1927, S. 250. Später behauptete sie sogar, Radek habe ihr die Bitte ausländischer Sozialisten überbracht, die Funktion als Sekretärin der KI wiederaufzunehmen. Lenin (1961), S. 84. 32 Schumacher, S. 261. Radek schreibt demgegenüber in seiner Avtobiografija (Sp. 168), er sei „im März 1920“ zum Sekretär des Büro des EKKI ernannt worden, wobei er sich wohl darauf bezieht, dass er bereits zu dieser Zeit diese Funktion informell ausgeübt hat. Die Balabanova gehörte dem Exekutivkomitee bis zum II. Kominternkongress im Sommer 1920 noch als Mitglied an. 33 Goldbach, S. 63. 34 Kapp, Wolfgang (1858–1922); Generallandschaftsdirektor von Ostpreußen; im Ersten Weltkrieg Alldeutscher und Annexionist; Mitbegründer der nationalistischen Deutschen Vaterlandspartei. 35 Lüttwitz, Walter Freiherr von (1859–1942); General der Infanterie; Befehlshaber der Reichswehrgruppe I in Berlin, der sich für den Putsch auf Freikorpsverbände abstützte. 36 Schlesinger, S. 118f. und Degras, The Communist International, Documents, I, S. 83–85.

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den und Städte in den Händen von Kommunisten und Unabhängigen, welche Politik verfolgen Unabhängige und welche Kräfte und wo Rote Armee sich befinden.“37

Er versuchte sich Klarheit über die Situation zu verschaffen, begegnete aber den im Kreml’ neu aufkeimenden revolutionären Hoffnungen skeptisch. In den „Izvestija“ vom 16. März vertrat er sogar die Meinung, dass ein Erfolg des Kapp-Putsches im außenpolitischen Interesse Sowjetrusslands liege, da „eine Machteroberung durch die deutschen Putschisten die außenpolitische Lage Sowjetrußlands insofern erleichtern würde, als Frankreich Polen nun nicht mehr gegen Sowjetrußland, sondern gegen die deutschen Revanchisten einsetzen müßte.“38 Polen, der Verbündete Frankreichs, bedrohte Sowjetrussland im Westen. Im Grenzkonflikt mit Sowjetrussland hatte es im Januar die militärischen Operationen gegen das vom Bürgerkrieg geschwächte Land wiederaufgenommen. Nicht ohne Grund war Radek von Čičerin am Tage seiner Ankunft in Moskau sofort in eine Besprechung gerufen und zu aktuellen Erkenntnissen während seiner Fahrt durch das Land des Gegners gehört worden. An jenem Tage hatte die Sowjetregierung eine diplomatische Note mit dem Angebot eines für Warschau vorteilhaften Grenzverlaufs fertiggestellt; eine Friedensofferte, die allem Anschein nach, eiligst noch mit Radek als Experten für Polen abgestimmt werden sollte.39 Polen ignorierte den Vorschlag. Am 25. April 1920 griffen polnische Truppen unter dem Befehl Piłsudskis40 überraschend die sowjetischen Stellungen in der Ukraine an. Sie drangen über sowjetisches Territorium bis Kiev vor, das sie am 6. Mai besetzten. Die polnische Invasion bewirkte in Russland eine von den Sowjetführern nicht gewünschte Aufwallung patriotischer Gefühle. Radek beeilte sich deshalb auf den Klassencharakter des Krieges mit Polen hinzuweisen und demonstrierte wie sich Unvereinbares dialektisch miteinander vereinbaren ließ: „Da Rußland das einzige Land ist, in dem die Arbeiterklasse die Herrschaft angetreten hat, müssen von nun an die Arbeiter der ganzen Welt russische Patrioten werden.“41 Von einer Welle nationaler Begeisterung getragen, schlug die Rote Armee die Angreifer nach wenigen Wochen zurück, nahm am 12. Juni die ukrainische Hauptstadt wieder ein und stand kurz darauf am Bug, der ethnischen Grenze zu Polen. Die Sowjetführung sah sich nun mit der Frage konfrontiert, Frieden zu schließen oder den Vormarsch nach Westen fortzusetzen. Im Politbüro waren diese Optionen heiß umstritten. Kriegskommissar Trockij war gegen einen Marsch auf Warschau, aber 37 Schlesinger, S. 119. 38 Rosenfeld, S. 272. 39 Lerner, S. 99. 40 Piłsudski, Józef (1867–1935); Heerführer; 1918–1922 polnischer Staatspräsident und Oberbefehlshaber. 41 Radek, O charaktere vojny s beloj Polšej [Über den Charakter des Krieges mit Weißpolen], „Pravda“, 11./12. Mai 1920. Heller/Nekrich, Band I, S. 86.

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Lenin unterstützt von Zinov’ev, setzte seine Hoffnungen nicht nur auf einen Sieg der sowjetischen Waffen, sondern auch auf das Umsturzpotential der polnischen Kommunisten. Er glaubte, ein sowjetischer Einmarsch im Nachbarland würde dort das Signal zur Revolution geben; ein erobertes oder revolutioniertes Polen könnte als Brücke für die Revolution in Deutschland und Westeuropa dienen und ein Sieg der Roten Armee würde nahezu automatisch die Revolution nach Westen tragen. Er wollte Europa mit den Bajonetten der Roten Armee sondieren. Die von Lenin als Fünfte Kolonne ins Auge gefasste Kommunistische Arbeiterpartei Polens (Komunistyczna Partija Robotnicza Polski/KPRP)42 war jedoch zu schwach und zählte nur 6350 Mitglieder. Sie war verboten und in den Untergrund gedrängt worden. Die führenden polnischen Kommunisten lebten längst in Moskau und hatten sich den Bol’ševiki angeschlossen, darunter Radek, Dzeržinskij, Unšlicht und Marchlewskij. An sie wandte sich das Politbüro vor seiner Entscheidung über die Fortsetzung des Krieges um Rat. Sie alle, die dem internationalistischen Flügel der polnischen Sozialisten angehört hatten, sprachen sich gegen eine militärische Intervention aus. Ein solcher Schritt würde eine machtvolle Welle des polnischen Patriotismus und daraus gespeisten erbitterten Widerstand von Armee und Bevölkerung auslösen. Radek kannte von Kindesbeinen an die Russophobie und den militanten Nationalismus der Polen.43 Er warnte die Partei nicht nur in camera davor, den Kommunismus in Polen mit Waffengewalt einzuführen. In seiner Propagandaschrift „Vojna Pol’skich belogvardejcev protiv Rossii [Der Krieg der polnischen Weißgardisten gegen Russland]“44 erteilte er allen Plänen, die Revolution durch die Bajonette der Roten Armee vorwärtszutragen, öffentlich eine Absage. Gegen die Stimmen von Trockij, Radek und Dzeržinskij beschloss das Zentralkomitee am 17. Juni 1920 dennoch den Einmarsch in Polen.45 Der bisherige Verteidigungskrieg wurde zum Angriffskrieg. Lenin warf Radek erbost Defätismus vor und entband ihn von allen Tätigkeiten, die polnische Angelegenheiten zum Gegenstand hatten.46 In der Folgezeit war das Fehlen seiner Artikel in der Sowjetpresse augenfällig.47 Auch während des II. Weltkongresses der Komintern, der am 19. Juli in Petrograd eröffnet, dann vom 23. Juli bis zum 3. August in Moskau fortgesetzt wurde und ganz im Zeichen der militärischen Erfolge der Roten Armee stand, verlor er offiziell kein Wort mehr zu Polen, obwohl er dem Exekutivkomitee der Komintern als Vertreter für Sowjetrussland u n d P o l e n angehörte. An der Organisation dieses Kongresses, an dem 218 Delegierte aus 41 Ländern teilnahmen, hatte Radek „tätigen Anteil“ 42 Die KPRP war am 16. Dezember 1918 in Warschau auf dem Vereinigungskongress der SDKPiL und der Linken der PPS gegründet worden. 1925 änderte sie ihren Namen in Kommunistische Partei Polens (Komunistyczna Partija Polski/KPP). 43 Lerner, S. 101. 44 Radek, Vojna Polskich belogvardejcev protiv Rossii [Der Krieg der polnischen Weißgardisten gegen Russland], Moskva, 1920. 45 Pipes, S. 298. 46 Zetkin, S. 21. 47 Lerner, S. 101.

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gehabt.48 Es handelte sich um den eigentlichen Gründungskongress der Komintern. Aus dem 1919 in Moskau zusammengetrommelten Konglomerat kommunistischer und sozialistischer Parteien und Splittergruppen entstand nun eine straff gegliederte und einheitlich geführte Weltpartei, in der das Übergewicht und die führende Rolle der Bol’ševiki auch faktisch festgeschrieben wurden. Das Organisationsprinzip der bolschewistischen Partei, der „demokratische Zentralismus“, wurde mittels eigens formulierter 21 Aufnahmebedingungen auf alle angeschlossenen Parteien übertragen. Durch diese vom Kongress verabschiedeten Leitsätze sollte ein für allemal die reformistische und zentristische sozialistische Spreu vom kommunistischen Weizen getrennt werden. Die Mitgliedsparteien wurden als „Sektionen der Komintern“ zu territorialen Gliederungen dieser einen Weltpartei, deren Statut die Kommunisten überall den Anordnungen des in Moskau eingerichteten Exekutivkomitees (EKKI) unterwarf. Ein „Kleines Büro“ mit Zinov’ev als Vorsitzendem und Radek als Sekretär an der Spitze des EKKI fungierte als leitendes Organ der Komintern zwischen den Weltkongressen. Im September 1921 in „Präsidium“ umbenannt, sorgte es dafür, dass weltkommunistische Interessen künftig mit den Interessen der russischen Sowjetmacht identifiziert werden mussten.49 Als Sekretär und Mitglied des EKKI war Radek auf dem Kongress omnipräsent. Ein Monumentalgemälde Isaak Brodskijs50, das die Eröffnungsansprache Lenins im Petrograder Taurischen Palais festhält, zeigt ihn neben dem Sowjetführer am Präsidiumstisch sitzend.51 Auf einem Foto, das auf den Stufen des Gebäudes entstand, steht er zusammen mit Bucharin, dem Stellvertreter Zinov’evs im EKKI, am Rande einer Gruppe von Delegierten, die um Lenin und Gor’kij versammelt sind – eine schlanke, lässig wirkende Gestalt, heller Anzug, Krawatte, bartloses Gesicht, die Augen hinter der Brille halbgeschlossen, Zigarette im Mund.52 Während der folgenden Großkundgebung vor dem Winterpalais sah man ihn auf der Tribüne gemeinsam mit Bucharin, Münzenberg und John Reed in die begeisterten „Lenin, Lenin“-Sprechchöre einstimmen, mit denen die Massen ihrem Idol huldigten. Weitere Lichtbilder zeigen ihn fröhlich lachend mit Lenin sowie von hübschen Sekretärinnen umringt, zusammen mit Zinov’ev.53

48 Radek, Avtobiografija, Sp. 168. 49 Kernig, Die Kommunistischen Parteien der Welt, Sp. 19f. 50 Brodskij, Isaak Izrajlevič (1894–1939); der „Hofmaler“ der RKP(b), der die Parteiführer in seinen Gemälden glorifizierte und später als Vertreter des sozialistischen Realismus einer der Lieblingsmaler Stalins war. 51 Das 1920–1924 entstandene Bild „Lenins Eröffnungsrede auf dem 2.Weltkongreß der Komintern“ wurde ab 1927 nicht mehr ausgestellt. Erst seit 1981 hängt es wieder im Treppenhaus des Leninmuseums in Moskau, wo es 62 Jahre hindurch zusammengerollt aufbewahrt worden war. King, S. 81f. 52 King, S. 74. Als Radek und Bucharin in der Stalinära zu „Unpersonen“ geworden waren, wurde das Foto so retuschiert, dass nur noch Lenin und Gor´kij auf ihm übrigblieben. 53 Portisch, S. 150.

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Bei der Fortsetzung des Kongresses im Thronsaal des Alexanderpalastes im Moskauer Kreml’ verzeichnet ihn die Tagesordnung nach Lenin, Zinov’ev und Bucharin an vierter Stelle mit einem Referat über die Gewerkschaftsfrage. In dem am 3. August 1920 vorgetragenen „Bericht über die Gewerkschaftsbewegung“ charakterisierte er das Verhältnis der Komintern zu den Gewerkschaften als „die ernsteste und wichtigste Frage unserer Bewegung“. Als größte Massenorganisationen des Proletariats hätten die Gewerkschaften „die entscheidende Rolle in den ökonomischen Kämpfen“ und nach dem Sieg der Revolution“ seien sie „in erster Linie dazu berufen […] an dem wirtschaftlichen Aufbau des Sozialismus zu arbeiten.“ Dieser Tag sei aber noch fern: „Ein sofortiger Zusammenbruch des Kapitals ist ebenso wie der sofortige Einsturz eines Gebäudes, dem man die Pfeiler weggezogen hat, schon aus Gründen der Mechanik undenkbar.“54 Um das Ziel zu erreichen, müssten die „reaktionären Gewerkschaften in Institutionen der Revolution“ umgewandelt werden. Betrachte man die „praktischen Möglichkeiten“ dazu, so gelte als „generelle Regel“ die Losung: „Eintritt in die Gewerkschaften und Kampf in den großen Gewerkschaften und ihre Eroberung.“ Dieser auf den russischen und den deutschen Erfahrungen basierende Leitsatz treffe jedoch nicht unumschränkt auf die besonderen Verhältnisse in den angloamerikanischen Ländern zu. Dort bilde die „Arbeiteraristokratie“ die organisierte Arbeiterschaft, die sich hermetisch von der großen Masse des Proletariats abschließe. Unter solchen Gegebenheiten müsse man ausnahmsweise auch „die Notwendigkeit der Bildung neuer Gewerkschaften in Betracht ziehen.“55 Unabhängig von diesen taktischen Organisationsvarianten, hätten die Gewerkschaften eine historische Mission wahrzunehmen. Sie seien von der Geschichte dazu berufen, „der Haupttrupp der sozialen Revolution zu werden.“56 Allerdings sei der Tag des Sieges nicht exakt vorhersagbar: „Niemand kann bestimmen, wie lange Zeit es in Anspruch nehmen wird, bis die soziale Revolution ihren siegreichen Fuß auf den Nacken des Kapitalismus setzt, und wenn es notwendig ist, die Massen für die Idee des Kommunismus zu erobern. Es gibt nur eins: keine Schwierigkeiten zu scheuen, in die Organisationen zu gehen und den Kampf zu führen.“57

Und speziell an die Adresse der deutschen Genossen gerichtet, fügte er hinzu: „Ich sage meinen deutschen Parteigenossen: Ihr habt bis heute nicht einmal ein gewerkschaftliches Wochenblatt gegründet, das systematisch den Kampf leiten könnte. Wo gibt es geschlossene Fraktionen der Kommunisten und der Unabhängigen in den Gewerk54 Radek, Bericht über die Gewerkschaftsbewegung (II. Weltkongress der Komintern, 3. August 1920); in: Die Bedeutung der Arbeit in den Gewerkschaften im Kampf für die Revolution, S. 135. 55 Ebenda, S. 140f. 56 Ebenda, S. 148. 57 Ebenda.

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schaften? Wo ist der Versuch gemacht worden, die Organisationen der Gewerkschaftsbürokratie von unten her zu brechen? Wir stehen erst am Anfang des Kampfes und wir haben kein Recht über die geringen Resultate zu klagen.“58

Abgesehen davon, dass er sich erneut nur unverbindlich über den Termin der Revolution äußerte, den britischen und amerikanischen Kommunisten verbal Konzessionen machte59 und den deutschen Genossen die Leviten las, entsprachen Radeks Ausführungen inhaltlich dem, was er bereits in der polnischen Sozialdemokratie vertreten und wofür er 1919 mit Nachdruck eingetreten war. Positionen, die Lenin jüngst in seiner Schrift über den linken Radikalismus hervorgehoben hatte und die sich im Punkt 9 der „Leitsätze über die Bedingungen der Aufnahme in die Kommunistische Internationale“60 wiederfanden: Die Pflicht der Kommunistischen Parteien, die Gewerkschaften mit dem Ziel ihrer Übernahme zu unterwandern. Oder wie Lenin es prägnant formulierte: „Wir müssen die Gewerkschaften um jeden Preis den Händen der Kapitalisten und Sozialverräter entreißen […]. Wir müssen in jedem Gewerkschaftsverband, in jeder Ortsgruppe eine kommunistische Gruppe, eine kommunistische Zelle bilden.“61 Auf dem Kongress waren die deutschen Linken mit drei verschiedenen Parteien vertreten: der KPD, der KAPD und der USPD. Die KPD-Delegation wurde von Paul Levi angeführt, die beiden letzteren waren als Gäste angereist. Absicht der Komintern war es, die 50.000 Mitglieder umfassende KAPD zurückzugewinnen, die sich 1919 in Heidelberg von der KPD getrennt und im April 1920 ihre eigene Organisation gegründet hatte. Nachdem die KPD sich wenig kompromissbereit gezeigt hatte, übernahm die Komintern die Vermittlerrolle, wobei Karl Radek eine wichtige Funktion zukam. Vor dem Kongress hatte man von der KAPD gefordert, die Führer Laufenberg, Wolffheim und Ruehle auszuschließen, im voraus eine verbindliche Erklärung abzugeben, sich den Beschlüssen des II. Weltkongresses zu unterwerfen und 58 Ebenda, S. 148f. 59 Als Vorsitzender der Gewerkschaftskommission war Radek dann wenig konzessionsbereit. Nachdem der mit den Verhältnissen in den USA vertraute John Reed in der Debatte gegen die von vornherein aussichtslose Infiltration der konservativen American Federation of Labor (AFL) und für die Unterstützung der militant-radikalen Splittergruppe Industrial Workers of the World (IWW) plädiert hatte, sorgte Radek dafür, dass der Antrag abgeschmettert und Reed mundtot gemacht wurde. Tuck, S. 58f. 60 Punkt 9 der Komintern-Aufnahmebedingungen lautet: „Jede Partei, die der Kommunistischen Internationale anzugehören wünscht, muß systematisch und beharrlich eine kommunistische Tätigkeit innerhalb der Gewerkschaften, der Arbeiter- und Betriebsräte, der Konsumgenossenschaften und anderer Massenorganisationen der Arbeiter entfalten. Innerhalb dieser Organisationen ist es notwendig kommunistische Zellen zu gründen, die durch andauernde und beharrliche Arbeit die Gewerkschaften usw. für die Sache des Kommunismus gewinnen sollen […].“ 61 Lenin: Schreiben des II. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale an die französischen Sozialisten (Auszug), 29. Juli 1920; in: Die Bedeutung der Arbeit in den Gewerkschaften im Kampf für die Revolution, S. 135.

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sich an einem provisorischen Leitungsbüro zusammen mit der KPD unter Vorsitz eines Vertreters des EKKI zu beteiligen.62 Die KAPD ging auf das Ansinnen nicht ein. Sie entsandte aber zur Erbitterung Paul Levis, über dessen Kopf hinweg das EKKI mit der KAPD verhandelt hatte, Otto Ruehle und August Merges63 als gleichberechtigte Delegierte zum Kongress. Ein Eklat mit Levi, der den kommunistischen Alleinvertretungsanspruch seiner KPD dadurch untergraben sah, wurde jedoch vermieden, da die zwei KAPD-Vertreter, empört über die 21 Aufnahmebedingungen, auf eine Teilnahme an den Sitzungen verzichteten und abreisten. Damit wurde auf dem II. Weltkongress nicht die Integration der deutschen Linksradikalen zum Thema, sondern die verbleibende Frage der Abgrenzung der Kommunisten nach rechts zur USPD und auch zu anderen „zentristischen“ Parteien in Europa. Von den Parteien, die sich anschließen wollten, verlangten die Aufnahmebedingungen der Komintern in Punkt 7 und 21 „unbedingt und ultimativ […] in kürzester Frist“ den Bruch mit den reformistischen und zentristischen Mitgliedern und Führern. Deren Hauptrepräsentanten wurden namentlich aufgeführt; für Deutschland waren dies Kautsky und Hilferding. Mit Blick auf sie und ihre Gefolgschaft wetterte Karl Radek während der Debatte, „für tote Seelen“ und „lebendige Leichname“ sei in der III. Internationale kein Platz.64 Er hatte bereits zur Zeit seines Berliner „Salons“ versucht, auf publizistischem Wege die Annäherung des linken Flügels der USPD an die KPD zu fördern und die rechten Führer von der Masse der Mitglieder zu isolieren. Gleichzeitig war er bemüht, Vorbehalte in den eigenen Reihen abzubauen. Es sei an der Zeit, hatte er die KPD gerügt, endlich die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen und davon auszugehen, „1. daß die Massen der Unabhängigen kommunistisch sind, 2. daß in ihrer Führerschaft ein linker Flügel besteht, der ehrlich den revolutionären Weg gehen will.“65 Um diese linken Führer und Mitglieder warb das EKKI mit einer Reihe von Briefen, Aufrufen und Telegrammen, unterschrieben von Zinov’ev und Radek. Zum II. Weltkongress hatte man der USDP eine betont herzliche Einladung gesandt, der Crispien und Dittmann für die Parteirechte sowie Däumig und Stöcker66 für die Parteilinke folgten. Während der Debatten auf dem Kongress kritisierten Radek und Lenin unerbittlich die Sünden der Partei.67 Radek setzte den Delegierten der USDP die ideologischen Daumenschrauben an: 62 „Offenes Schreiben [des EKKI] an die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands“, 2. Juni 1920. Goldbach, S. 63f. 63 Merges, August (1870–1945); linksradikaler Redakteur und Politiker in Braunschweig. 64 Protokoll des II. Weltkongresses der Komintern, S. 260. Goldbach, S. 67. 65 Radek: „Der Parteitag der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands; in: „Die Kommunistische Internationale“ Nr. 4/5, 1919. Goldbach, S. 66. 66 Stöcker, Walter (1899–1939); Journalist und Politiker; 1920 von der USDP zur KPD gewechselt; Vorsitzender der KPD-Reichstagsfraktion bis 1933; 1939 im KZ Buchenwald an Typhus verstorben. 67 Protokoll des II. Weltkongresses der Komintern, S. 353–362. Angress, S. 103.

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„Wir haben zwei Tatsachen zu berücksichtigen. Die eine Tatsache ist die dauernde Radikalisierung der deutschen Arbeiterklasse, eine Tatsache, die uns nötigt und zwingt und zur Pflicht macht, mit den unabhängigen Arbeitern Fühlung zu suchen und in ihnen unsere Kampfgenossen zu sehen […]. Gleichzeitig sehen wir aber, daß die Mehrheit der Führer der U.S.P. […] nicht nur kein vorwärtsstrebender Faktor waren, sondern ein zurückhaltender Faktor, daß sie nur vorwärtsgingen, weil sie von der eigenen Arbeiterschaft gestoßen wurden […] es handelt sich nicht darum, nur Hilferding aus der Partei auszuschließen, es handelt sich darum, den kleinmütigen Geist, den schwachen revolutionären Willen mit glühenden Eisen aus der Partei zu vertreiben! Wenn die U.S.P. das nicht tut, so wird ihr Anschluß nur eine Geste sein; dann haben wir tote Seelen für die Kommunistische Internationale gewonnen.“68

Die Botschaft wurde verstanden. Nur Däumig und Stöcker stimmten den 21 Aufnahmebedingungen zu. Crispien und Dittmann empfahlen der USDP die Ablehnung. Ein noch einzuberufender Parteitag sollte über den Beitritt zur Kommunistischen Internationale entscheiden. Damit war die Spaltung der USDP nur noch eine Frage der Zeit. Auch Paul Levi, der Führer der KPD, ein Schüler Rosa Luxemburgs und langjähriger politischer Freund Karl Radeks, kam auf dem Kongress nicht ungeschoren davon. Als er in den Kommissionssitzungen Bedenken gegen die 21 obligatorischen Aufnahmebedingungen äußerte und vor Lenin Skepsis über die revolutionären Aussichten in Deutschland laut werden ließ, verübelten ihm die Bol’ševiki dies. Noch während des Kongresses traten hinter Levis Rücken Radek, Zinov’ev und Bucharin an seinen engen Mitarbeiter Ernst Meyer heran, einen Angehörigen der KPD-Zentrale und nunmehr auch Mitglied des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale. Sie versuchten Meyer dazu zu bewegen, innerhalb der KPD eine linke Oppositionsfraktion gegen seinen Parteiführer zu bilden. Als Levi davon erfuhr, erbitterte er sich über „die Feigheit Radeks“, der über die revolutionäre Stagnation in Deutschland bestens informiert sei. Dennoch scheue er sich, der vorgefassten Meinung Lenins entgegenzutreten, die russische Offensive in Polen beschleunige die revolutionäre Entwicklung. Zugleich erregte sich Levi über die Arroganz des Komintern-Präsidiums und die Missachtung seiner Person durch dessen Angehörige. Bucharin sei „noch schlimmer“ als Zinov’ev. Dagegen halte er „Radek trotz seiner Servilität Lenin gegenüber und trotz all seiner Doppelzüngigkeit noch für den Vernünftigsten“. „Sie waren alle siegestrunken“69, erklärte sich der KPD-Chef das hochfahrende Verhalten der Kominterngrößen. Zu einer solch euphorischen Stimmung bestand in Moskau durchaus Anlass. Der Kongress fiel zeitlich mit dem siegreichen Vormarsch der Roten Armee in Polen zusammen. Die Delegierten scharten sich täglich in der Vorhalle des Alexanderpalastes um eine riesige Landkarte, auf der Fähnchen die aktuelle militärische Lageentwick68 Protokoll des II. Weltkongresses der Komintern, S. 256. Legters, S. 65. 69 Angress, S. 104: Geyer, S. 207f.

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lung markierten. Sie verfolgten mit atemlosen Interesse das Vorrücken der sowjetischen Truppen, berichtet Zinov’ev: „Sie alle verstanden, daß das Erreichen der militärischen Ziele durch unsere Truppen eine immense Beschleunigung der internationalen proletarischen Revolution bedeutet hätte. Sie alle verstanden, daß von jedem Schritt den unsere Rote Armee vorwärts machte, buchstäblich das Schicksal der internationalen proletarischen Revolution abhing […]. Wir mußten uns mit der Tatsache auseinandersetzen, ob eine siegreiche Arbeiterrepublik den Sozialismus auf den Spitzen der Bajonette in andere Länder tragen könne.“70

Victor Serge schildert eine typische Szene vor der Karte der polnischen Front: „Lenin im Straßenanzug, die Aktentasche unter dem Arm von Delegierten und Stenotypistinnen umringt, erläuterte den Vormarsch der Armee Tuchatschewski [Tuchačevskij]71 auf Warschau. Er war in ausgezeichneter Stimmung und glaubte den Sieg schon in Händen zu halten. Karl Radek, mager, affenähnlich, sarkastisch und scherzhaft fügte hinzu, während er seine zu weite Hose hochzog, die ihm über die Hüften herunterrutschte: `Wir werden den Versailler Vertrag mit Bajonettstichen zerreißen!“72

Radek, offenbar mit Lenin längst wieder versöhnt73, artikulierte damit nichts anderes als die Absicht der Bol’ševiki, die in Europa durch Versailles gezogenen Nachkriegsgrenzen gewaltsam zu revidieren. Lenin hat dies im Nachhinein bestätigt: „Wäre Polen ein Sowjetstaat geworden, hätten die Warschauer Arbeiter von Sowjetrußland die Hilfe erhalten, die sie erwarteten und begrüßten, so wäre damit der ganze Versailler Friede und das ganze internationale System erschüttert worden, das ein Ergebnis der Siege über Deutschland ist. Frankreich hätte dann nicht mehr jenen Pufferstaat [Polen], der Deutschland von Sowjetrußland trennt.“74 70 Zinov’ev, Bericht auf dem X. Parteitag der KPR(B) [RKP(b)] am 16. März 1921. Degras, The Communist International, S. 111. 71 Tuchačevskij, Michail Nikolaevič (1893–1937); ehemals Offizier der zaristischen Armee; mit 26 Jahren Befehlshaber der im Polenfeldzug auf Warschau vorstoßenden sowjetischen Nordwestfront; in den 1930er Jahren Marschall der Sowjetunion und Stellvertretender Volkskommissar für Verteidigung; fiel 1937 Stalins „Großer Säuberung“ zum Opfer. 72 Serge, Beruf: Revolutionär, S. 126. 73 Clara Zetkin berichtet, Lenin habe sich nach den heftigen Meinungsverschiedenheiten mit Radek über Polen durch ein langes politisches Gespräch am Telefon mitten in der Nacht oder gegen Morgen wieder mit ihm versöhnt. Es scheint als habe ihm sein Gewissen so sehr zugesetzt, dass er Radek nach einer schlaflosen Nacht anrief. Zetkin, S. 21f. Sie datiert dieses Gespräch auf 1921, das heißt den Zeitpunkt zu dem Lenin ihr gegenüber eingestand, daß Radeks Beurteilung zu Polen sich als zutreffend erwiesen hatte, aber zu der Aussöhnung kam es sicherlich schon viel früher. 74 Lenin, Rede auf dem Verbandstag der Arbeiter und Angestellten der Lederindustrie, 2. Oktober 1920; in: Lenin, Werke, Band 31, S. 296.

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Belegt ist, dass das deutsche Auswärtige Amt durch Maltzan von Viktor Kopp die Versicherung der Sowjets einforderte, die Rote Armee möge bei ihrer Offensive die deutsche Grenze respektieren und eine solche Zusage auch prompt erhalten hat, ohne dass dabei aber sonderliches Interesse an einer möglichen Revision der in Versailles diktierten Grenzen deutlich wurde.75 Dennoch hat es anscheinend Sondierungen im Sinne der von Radek und Lenin geäußerten Absicht gegeben, die alte russische Westgrenze wiederherzustellen. Freiherr von Reibnitz, Radeks kurzzeitiger Gastgeber in Berlin, behauptet er habe in den Tagen des russisch-polnischen Krieges mit Kopp und Radek über einen Plan verhandelt, demzufolge bei der Eroberung Warschaus durch die Rote Armee deutsche Freikorpseinheiten in Westpreußen, der Provinz Posen und Oberschlesien vorstoßen und die einstige Reichsgrenze wiederherstellen sollten.76 Radek war zu dieser Zeit vermutlich nicht in Deutschland, auch wenn das Fehlen seiner Artikel in der Sowjetpresse und sein glattrasiertes Gesicht auf dem II. Kominternkongress Indizien dafür sein könnten. Bekanntlich pflegte er sich immer den Bart abzunehmen, wenn er illegal ins Ausland fuhr.77 Wahrscheinlicher ist, dass Viktor Kopp, der sowjetische Vertreter in Berlin, die Verbindung zu Radek nach Moskau hielt. Dem Geständnis des Stellvertretenden Außenkommissars Krestinskij78 im Moskauer Schauprozess von 1938 zufolge war es Kopp, der im Juli 1920 im „offiziellen Kontakt“ mit General Seeckt stand.79 So hat Radek damals wohl nur indirekt „mit deutschen Offizieren über eine Zusammenarbeit verhandelt […] und dabei die Rückkehr zu den Grenzen von 1914 angeboten80“. Im Zusammenhang steht ein weiterer vorsichtiger Sondierungsversuch über Radeks Besucher in Moabit, Enver Pascha. Der Türke hatte sich nach Moskau begeben, war von Lenin empfangen worden und war als Bundesgenosse zur Mobilisierung des Panislamismus gegen die Engländer auf wohlwollendes Interesse gestoßen. Mitte August ließ er seinen deutschen Freund General von Seeckt in einem Brief wissen, im Volkskommissariat für Kriegswesen gäbe es eine einflussreiche „Partei“, zu der auch Trockij gehöre, die für eine Verständigung mit Deutschland eintrete. Um ihre Position zu stärken und „die ganze Sowjet-Regierung für die Sache zu gewinnen“, fragte Enver beim Chef der Heeresleitung an, „ob es nicht möglich wäre, manche unoffizielle Hilfe zu zeigen. Z.B. Nachrichten über die Polnische Armee und wenn möglich Waffen zu verkaufen und schmuggeln zu lassen. Der Überbringer meinen Brief“, so der Originalwortlaut, „ist, mit Vollmacht, beauftragt worden ganz geheim mit Ihnen oder mit einem Ih75 von Blücher, S. 100f. 76 Mitteilung Gustav Hilgers an Carr. Carr, The Bolshevik Revolution 1917–1923, Vol. III, S. 324, Anm. 2. 77 Hilger, S. 156f. 78 Krestinskij, Nikolaj Nikolaevič (1883–1938); Jurist, Revolutionär, Diplomat; nach der Oktoberrevolution Finanz- bzw. Justizkommissar und CK-Sekretär; 1921–1930 Sowjetbotschafter in Deutschland; 1930–1937 Stellvertretender Außenkommissar; 1938 nach Schauprozess hingerichtet. 79 Carr, a.a.O. 80 Graml, S. 238.

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nen beauftragten zu sprechen […].“81 Man geht wohl nicht völlig fehl, wenn man hinter diesem sowjetischen Vorstoß Radeks Hand vermutet, bewegt sich das Ganze doch auf der Linie seiner Anregungen für die „diskrete Zusammenarbeit“, die er im November 1918 Alfons Paquet nach Deutschland mitgab. Allerdings ist nicht mehr feststellbar, ob es aufgrund von Envers Brief bereits zu diesem Zeitpunkt tatsächlich zu Verhandlungen gekommen ist. Vorübergehend für die polnischen Angelegenheiten kaltgestellt, wurde Radek bis in den Monat August hinein vor allem durch den Weltkongress der Komintern sowie die Durchsetzung der Linie des EKKI gegenüber den deutschen Linken in Anspruch genommen. Es war sein polnischer Genosse Julian Marchlevskij, der im Auftrag des Kreml’ die Kampagne zur Unterstützung der Roten Armee unter den in Sowjetrussland lebenden polnischen Kommunisten zu organisieren hatte. Aus Polen stammende führende Bol’ševiki überschritten dann unter seiner Leitung die russische Grenze im Gefolge der vormarschierenden Roten Armee und konstituierten sich in Białystok, also auf polnischem Boden, am 30. Juli 1920 als das Provisorische Revolutionskomitee Polens. Ihm gehörten neben Marchlevskij als Vorsitzendem, Feliks Dzeržinskij, Feliks Kon, Jozef Unšlicht und Edward Próchniak82 als Sekretär an.83 Aber auch Karl Radek, der sich zu dieser Zeit noch auf dem Kominternkongress in Moskau befand, wurde nach seinen eigenen Angaben zum „Mitglied des polnischen Rev[olutions-]kom[itees]“84, das sich als „Provisorische Regierung Polens“ betrachtete. Er wurde allerdings erst nach dem II. Weltkongress, der am 7. August endete, „an die Front geschickt“85, um dieser sowjetischen Marionettenregierung beizutreten, deren Machtbereich sich für 22 Tage auf das von der Roten Armee eroberte Gebiet von Białystok sowie die angrenzenden Kreise der Wojewodschaften Lublin und Warschau erstreckte.86 Vor seiner Abreise sahen ihn amerikanische Kommunisten durch einen Vorraum des Alexanderpalastes hasten, Machiavellis „Il Principe“ mit sich führend, den er als Lektüre „mit nach Polen“ nehmen wollte.87 Inzwischen waren die sowjetischen Kräfte bis an die Tore Warschaus vorgestoßen. Am 13. August erreichten sie die Vorstadt Praga. Drei Tage später leitete ein mit der Unterstützung französischer Militärberater geführter Gegenangriff Piłsudskis in die ungeschützte Flanke der Armeegruppe Tuchačevskijs die Schlacht bei Warschau ein. Es ereignete sich das „Wunder an der Weichsel“, die sowjetische Front brach 81 Krummacher/Lange, S. 95. 82 Próchniak, Edward (1888–1937); aus der SDKPiL hervorgegangener polnischer KP-Führer. 83 Schumacher/Tych, S. 300 ff. 84 Radek, Avtobiografija, Sp. 168. 85 Radek, ebenda. 86 Schumacher/Tych, S. 302 ff. 87 Gomez, S. 44. Es ist der einzige unabhängige Hinweis auf Radeks Fahrt an die polnische Front. Bei Manuel Gomez, der über diese Episode berichtet, handelt es sich um einen US-Amerikaner, der nach dem Ersten Weltkrieg unter diesem Namen als Journalist in Mexico lebte. Er war Mitbegründer der Kommunistischen Partei Mexicos und Delegierter auf dem II. Weltkongress der Komintern.

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zusammen und am 18. August begann der fluchtartige Rückzug der Roten Armee aus Polen. Radek hielt sich zu diesem Zeitpunkt etwa 90 km ostwärts der polnischen Hauptstadt auf. „Die Niederlage überraschte mich in Siedlce“88, schreibt er. „Die bei Warschau zurückgeworfene Armee flutete zurück, und in den Rückzugskämpfen hart mitgenommen, konnte sie erst fast an der Beresina haltmachen.“89 Hautnah erlebte er das Chaos des Rückzuges wohl ähnlich, wie es ein sowjetischer Leutnant als Feldzugteilnehmer schilderte: „Der Rückzug war völlig chaotisch. Train, Stäbe, Lazarette, Kampftruppen – alle Waffengattungen vermischten sich in einem großen unlöslichen Wirrwarr […]. Manchmal wurde der Rückzug zur wilden Flucht. Wir verloren die Richtung und marschierten weiter, ohne zu wissen wohin […]. Überall herrschte ein Wirrwarr von Schreien und Befehlen […]. Plötzlich auf irgendeiner Lichtung in irgendeinem Wald – eine Szene, die aus einem Angsttraum hätte stammen können – beleuchteten dann unsere Fackeln ein Durcheinander von Autos und Wagen, die den Weg verloren hatten […]. Die Landschaft ringsum war öde und verheert.“90

Die überraschende Niederlage der Roten Armee vor Warschau traf die Sowjetführer wie ein Blitz aus heiterem Himmel. In seiner Analyse „Der Krieg mit Polen“91 ging Radek nochmals auf die Risiken der Operation ein: „Die Gefahren des Vormarsches lagen auf der Hand. Je weiter die Rote Armee sich von ihrer Basis entfernte, desto schwieriger war ihre Verpflegung und Versorgung mit Munition […].“ Dennoch „war der vollkommene Sieg möglich“. „Er scheiterte in erster Linie an organisatorischen Fragen.“ Um das Zusammenwirken der sowjetischen Kräfte zu verbessern, sei die in Galizien vorstoßende „südwestliche [Armee-]Gruppe unter Budënnyj92 „dem allgemeinen Kommando Tuchatschewkys unterstellt“ worden. Dieser habe „die Gefahr eines Flankenstoßes gegen die die Vorstadt Warschaus, Praga, bestürmende Armee“ gesehen. „Er befahl der Kavallerie Budjonnys den Kampf um Lemberg abzubrechen“ und zum Entlastungsangriff nach Norden auf Lublin anzusetzen. „Budjonny war jedoch auf Grund der früheren Befehle des selbständigen Südwestkommandos in schwere Kämpfe verwickelt und konnte sich vom Feinde nicht ablösen.“ Insgesamt müsse man aber feststellen, der gegnerische Stoß in die Flanke der Armeegruppe Tuchačevskijs wäre ohne „ausschlaggebende Bedeutung“ geblieben, „wenn Budjonny zeitig genug eingegriffen hätte.“93 88 Radek, a.a.O. 89 Radek, Die auswärtige Politik Sowjet-Russlands (November 1920), S. 64. 90 Barmine, S. 122f. 91 Radek, Abschnitt „Der Krieg mit Polen“, in: Die auswärtige Politik Sowjet-Russlands (1920), S. 62–65. 92 Budënnyj, Semën Michajlovič (1883–1973); als „roter“ Reiterführer eine legendäre Figur; Befehlshaber der in Galizien operierenden Südwestfront; im Zweiten Weltkrieg Marschall der Sowjetunion. 93 Radek a.a.O., S. 63f.

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In seinen Ausführungen konzentriert sich Radek auf die Person Budënnyjs, ohne den an der Niederlage eigentlich Schuldigen mit Namen zu nennen. Er schlug den Sack, aber jedermann im Kreml’ musste klar sein, dass er den Esel meinte, in diesem Falle Iosif Vissarionovič Stalin. Er war es, der sich als Politkommissar der Südwestfront nicht mit Handlangerdiensten begnügen wollte und Tuchačevskij den Triumph des Einmarschs in Warschau missgönnte. Er ignorierte die Befehle des Oberkommandos, um – weiter nach Westen marschierend – Lemberg zu erobern. Stalin hat Radeks Analyse seinerzeit sicherlich aufmerksam registriert. In der Zeit seiner Herrschaft – der „Zeit des Personenkults“ – wie man sie im Nachhinein offiziell benannte, wurde die Niederlage vor Warschau geschichtsfälschend Trockij und Tuchačevskij angelastet. Erst 1965 rückte die sowjetische Geschichtsschreibung das wieder zurecht. Es sei vor allem die Eigenmächtigkeit Stalins gewesen, die am Desaster des Polenfeldzuges Schuld trage. Als Mitglied des Revolutionären Kriegsrates der Südwestfront habe er einen Befehl des Oberkommandos missachtet und dadurch dessen Ausführung verzögert.94 Es gehörte zu den Ergebnissen des II. Kominternkongresses, dass die Kommunistische Internationale zusätzlich zu Mittel- und Westeuropa auch Asien und den Orient in ihr Kalkül einzubeziehen begann. Die Thesen Lenins in der sogenannten „nationalen und kolonialen Frage“ wurden von den Delegierten angenommen und in Ziffer 8 der Aufnahmebedingungen in die Komintern wurde die Taktik der Zweckbündnisse mit antiimperialistischen Unabhängigkeitsbewegungen verpflichtend festgelegt.95 Das schloss die Unterstützung bürgerlicher Freiheitsbewegungen ein, sofern sie revolutionären Charakter trugen und nicht antikommunistisch eingestellt waren. Als ein britischer Delegierter in einer Kommissionssitzung äußerte, der einfache englische Arbeiter würde es als Verrat auffassen, den von Großbritannien abhängigen Völkern beim Aufstand gegen die britische Herrschaft zu helfen, kommentierte Radek dies schneidend mit den Worten: Das britische Proletariat werde nicht fähig sein, sich vom kapitalistischen Joch zu befreien, wenn es nicht die revolutionäre Bewegung in den Kolonien aktiv unterstütze. Die Komintern würde die britischen Genossen nicht aufgrund ihrer die koloniale Befreiung befürwortenden 94 Sovetskaja istoričeskaja ėnciklopedija, tom 6, 1965, Sp. 75f. und Kernig, Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Band V, Sp, 184f. Das Ergebnis des Krieges wird allerdings als ein Erfolg Sowjetrusslands bezeichnet, da die sowjetisch-polnische Grenze im Friedensvertrag von Riga (18 März 1921) 50–100 km westlich der Linie festgelegt wurde, welche die Sowjetregierung Polen im Januar 1920 vorgeschlagen hatte. Ebenda. 95 „[…] Jede Partei, die der III. Internationale anzugehören wünscht ist verpflichtet, die Kniffe `ihrer´ Imperialisten in den Kolonien zu entlarven, jede Freiheitsbewegung in den Kolonien nicht nur in Worten sondern durch Taten zu unterstützen, die Verjagung ihrer einheimischen Imperialisten aus den Kolonien zu fordern, in den Herzen der Arbeiter ihres Landes ein wirklich brüderliches Verhältnis zu der arbeitenden Bevölkerung und zu den unterdrückten Nationen zu erziehen und in den Truppen ihres Landes eine systematische Agitation gegen jegliche Unterdrückung der kolonialen Völker zu führen.“ Leitsätze über die Bedingungen zur Aufnahme in die Kommunistische Internationale; in: Kernig, Die Kommunistischen Parteien der Welt, Sp. 29f.

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Zeitungsartikel beurteilen, sondern anhand der Anzahl derer, die wegen ihrer Agitation in Irland, Ägypten oder Indien und unter den Truppen, die zur Unterdrückung von Aufständen in diese Länder verlegt wurden, ins Gefängnis geworfen würden.96 In einem Aufruf „An die unterdrückten Volksmassen Persiens, Armeniens und der Türkei“ lud das Exekutivkomitee der Komintern zu einem „Kongreß der Bauern und Arbeiter“ dieser Länder für Anfang September 1920 ein. Dieser „I. Kongreß der Völker des Ostens“ fand vom 1.–8. September 1920 in Baku, der Hauptstadt Azerbajdžans, statt. Zu ihm versammelten sich fast 1.900 Delegierte aus den russischen Territorien des Kaukasus und Zentralasiens, aber auch viele Türken und Iraner. Insgesamt waren 32 Nationalitäten vertreten. „Gemeinsam mit Zinov’ev beteiligte ich mich an der Organisation“ des Kongresses, schreibt Radek97, der aus Polen zurückgekehrt, seine Geschäfte als Sekretär des EKKI wieder aufgenommen hatte. Die Komintern-Führung, Zinov’ev, Radek, Béla Kun, John Reed und zahlreiche Delegierte des II. Weltkongresses reisten in einem Sonderzug, für den Radek verantwortlich war98, nach Baku. „Die Verteidigung des Zuges – sie mußten unsichere Gegenden durchqueren – und das Kommando wurde Béla Kuns Freund Jakov Bljumkin anvertraut“, einem der Mirbach-Mörder, der inzwischen amnestiert worden war.99 Als John Reed, der in der Gewerkschaftsdebatte mit Radek auf dem vorausgegangenen Kongress den Kürzeren gezogen hatte, unter Hinweis auf die Not der Bevölkerung, die luxuriöse Versorgung im Zug mit Speisen und Wein kritisierte, lachten ihn Zinov’ev und Radek aus. Später in Moskau, soll Reed seiner Frau folgende Skandalgeschichte erzählt haben: „Sobald der Zug im Kaukasus war, übertraf Radek sich selbst damit, den Delegierten angemessene Unterhaltung zu verschaffen. Alte mohammedanische Frauen, gefolgt von schönen kaukasischen Mädchen kamen in den Zug. Einige der Mädchen waren kaum vierzehn Jahre alt. Die alten Frauen entkleideten die Mädchen vor den Delegierten. Die nackten Schönheiten standen vor den gaffenden Augen derjenigen, die sich selbst als Kommunisten bezeichneten und gewillt waren, das verfaulte Gebäude der kapitalistischen Gesellschaft abzureißen, um eine neue bessere Welt zu bauen. Was folgte, war eine Orgie betrunkener Lüsternheit mit Radek als Hauptperson.“100

Reed war zwar nicht prüde, aber er fand den von Radek im Kaukasus eingefädelten „Tauschhandel mit Menschenfleisch“ verabscheuungswürdig. Benjamin Gitlow101, 96 Degras, The Communist Inernational, S. 139. 97 Radek, Avtobiografija, Sp. 168. 98 Gitlow, S. 32. 99 Serge, Beruf: Revolutionär, S. 126. 100 Gitlow, S. 33f. 101 Gitlow, Benjamin (1891–1965); einer der Führer der amerikanischen Kommunistischen Partei; 1927–1929 Mitglied des Komintern-Präsidiums; 1929 Parteiausschluss und Bruch mit dem Kommunismus.

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der über diese Begebenheit berichtet, war ein ehemaliger KP- und KominternFunktionär, der dem Ausschuss gegen antiamerikanische Umtriebe von US-Senator McCarthy102 als „professioneller Zeuge“ diente. Dies entwertet sein Zeugnis nicht von vornherein, auch wenn Virginia Gardner, die Biographin von John Reeds Frau Louise Bryant, den Sachverhalt als frei erfunden bezeichnet hat.103 In Baku verkündete Zinov’ev in seiner Eröffnungsansprache die Bereitschaft der Komintern, den revolutionären Kampf der Völker des Ostens zu unterstützen: „Es ist unsere Aufgabe, einen wirklich heiligen Krieg gegen die englischen und französischen Kapitalisten zu entfachen“104 Ein zeitgenössischer Filmausschnitt105 zeigt Radek bei seiner Rede, die der Zinov’evs folgte. Ein sonnengebräunter, tadellos gekleideter zierlicher Mann mit im Licht der Scheinwerfer funkelnder Brille – „brennenden gläsernen Augen“, wie Leo Matthias es formulierte, der „in seinen Bewegungen, die manchmal gespannt und manchmal salopp sind an einen Tennisspieler erinnert.“106 Er sagte den Delegierten, ihr „müßt keinen Feind fürchten; nichts kann den reißenden Strom der Arbeiter und Bauern Persiens, der Türkei und Indiens überdauern, wenn sie sich mit Sowjetrussland verbünden […]. Sowjetrussland kann Waffen produzieren und nicht nur seine eigenen Arbeiter und Bauern bewaffnen, sondern auch die Bauern von Indien, Persien und Anatolien, alle Unterdrückten, und sie im gemeinsamen Kampf zum gemeinsamen Sieg führen.“107

Angesichts des gemeinsamen Feindes, müsse man gemeinsame Sache machen, fuhr er fort: „Bei der Ostpolitik der Sowjetregierung handelt es sich deshalb nicht um ein diplomatisches Manöver, und nicht darum, die Völker des Ostens die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen oder sie zu betrügen, um Vorteile für die Sowjetrepublik zu erlangen […]. Wir sind mit euch durch ein gemeinsames Schicksal verbunden: Entweder vereinen wir uns mit den Völkern des Ostens und beschleunigen den Sieg des westeuropäischen Proletariats, oder wir gehen unter und ihr werdet Sklaven sein.“108

Die Begeisterung der Versammlung schlug hohe Wellen. Enver Pascha, der ebenfalls auf dem Kongress sprach, hatte einen „sensationellen Auftritt. Ein Saal voller Orientalen brach in Geschrei aus, Jatagane und Dolche wurden geschwungen: ,Tod 102 McCarthy, Joseph Raymond (1909–1957); republikanischer Senator für den US-Bundesstaat Wisconsin; 1950–1954 treibende Kraft einer antikommunistischen Verfolgungswelle in den USA. 103 Tuck, S. 60. 104 Degras, a.a.O., S. 105. 105 Lenin. Dokumentation; gesendet im 2. Programm des Österreichischen Fernsehens am 21. Januar 1974. 106 Matthias, Leo, S. 145. 107 Degras, The Communist International, S. 105. 108 Ebenda.

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dem Imperialismus!‘“109 Radek, der feierliche Gesten hasste, nahm es hin, dass er mit „teurer Führer“ angeredet wurde und duldete sogar den Fußfall kaukasischer Stammeshäuptlinge. Aus politischen Zweckmäßigkeitserwägungen unterdrückte er seine instinktive Abneigung gegen derartige „Aufmachungen“ und meinte später: „Man muß es ihnen lassen, denn man braucht ihnen nur in die Augen zu sehen, um zu sehen, daß es echt ist. – Es war eigentlich sehr komisch. Ich stand da mit meiner Reisemütze und wußte zum erstenmal in meinem Leben, nicht was ich sagen sollte.“110 Um Worte nicht verlegen war er hingegen, als er die Berichterstattung über den Kongress unter seine alleinige Regie nahm. Die Pressetelegramme aus Baku wurden von ihm redigiert und manipulativ bearbeitet. Gemäß seinem Verständnis von Publizistik als Waffe, verbreitete er je nach Bestimmungsland – Sowjetrussland, Deutschland, Großbritannien, USA – unterschiedliche Versionen der auf dem Kongress gehaltenen Ansprachen. John Reed, der bei Zinov’ev und Radek gegen die Verfälschung der Redetexte protestierte, wurde von beiden belächelt. Er solle doch „nicht naiv sein“, sagten sie zu ihm.111 Der I. Kongress der Völker des Ostens war eine einmalige Propagandaveranstaltung, der nichts derartiges mehr folgte. Der Aufruf zum Aufstand gegen die Kolonialmacht Großbritannien blieb ohne unmittelbare Resonanz. Ein in Baku kreierter, dem EKKI angegliederter „Rat für Propaganda und Aktionen der Völker des Ostens“ hat nie getagt. In der Folge gründete man in Moskau allerdings ein „Institut für orientalische Studien“ und die „Kommunistische Universität für die Werktätigen des Ostens“112, eine Kaderschmiede für die Ausbildung politischer Funktionäre aus Zentralasien und gewissermaßen das Modell für Radeks spätere „Sun Jat-sen-Universität“, der „Hochschule für die Ausgebeuteten des Fernen Ostens“. Was die sowjetische Politik gegenüber der Türkei anbelangt, hatte Radek auf Enver Pascha gebaut und dessen Propagandaauftritt in Baku in Szene gesetzt. Als Kemal Pascha113 daraufhin die Sowjetregierung scharf darauf aufmerksam machte, wo die türkische Regierung saß, lenkte Moskau ein und übertrug seine Freundschaft auf Ankara. England war der gemeinsame Feind. Es stand hinter der griechischen Invasion Anatoliens und hinter den drei kleinen Pufferrepubliken im Kaukasus. Lenin und Kemal beschlossen Georgien, Azerbajdžan und Armenien gemeinsam zu liquidieren und die Vorkriegsgrenze zwischen Russland und der Türkei wiederherzustellen. Noch vor Jahresende marschierte die Rote Armee in Erevan ein und Armenien 109 Serge, Beruf: Revolutionär, S. 127. Enver Pascha wandte sich bald enttäuscht von den Bolschewisten ab und fiel 1922 in Turkestan bei einer Aufstandsaktion im Kampf gegen die rote Kavallerie Budënnyjs. 110 Mathias, Leo, a.a.O. 111 Gitlow, S. 34. 112 Degras, a.a.O., S. 106. 113 Kemal Pascha, Mustafa; ab 1934 Kemal Atatürk (1881–1938); Führer der türkischen Nationalbewegung, Befreier der Türkei und erster Präsident der türkischen Republik.

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wurde zwischen Russland und der Türkei aufgeteilt.114 Für Radek blieb die Exkursion nach Baku Episode. Zurück in Moskau wandte er sich neuerlich der Entwicklung in Westeuropa und in Deutschland zu. „Die Weltrevolution ist ein langwieriger Prozeß“115 hatte Radek Ende 1919 angesichts der revolutionären Ebbe in Europa geschrieben. Ein Jahr später – im November 1920 – analysierte er unter dem Eindruck der sich abzeichnenden Beendigung des russischen Bürgerkriegs und der Erfahrungen des Polenfeldzuges die Sicherheitslage Sowjetrusslands und die revolutionären Aussichten. Er diagnostizierte, durch „die Zertrümmerung der Interventionspläne der Alliierten“116 sei man am Vorabend der europäischen Revolution angelangt: „Die Weltrevolution bereitet ihr Übergreifen auf Mitteleuropa vor. Ihr Sieg in Mitteleuropa oder auch nur der große Bürgerkrieg zwischen dem Rhein, der Weichsel und der Donau, würden Sowjet-Rußland vor jedem Angriff sichern.“117 Sollte es nach der Beendigung des russischen Bürgerkriegs zu einem neuerlichen militärischen Vorgehen der kapitalistischen Staaten gegen Sowjetrussland kommen, so könne dies die weltrevolutionäre Entwicklung nur beschleunigen: „[…] in dem Moment, wo die Bourgeoisie sich gegen das russische Proletariat zusammenfindet, muß sie auch ihr eigenes Proletariat in Deutschland, in Oesterreich, in der Tschecho-Slowakei, in Polen, wie in den Entente-Ländern niederwerfen, um sich freie Bahn gegen das russische zu schaffen. Dann gibt es […] keine Staaten, keine Nationen in Europa mehr, es gibt dann nur das Lager der Revolution und das Lager der Konterrevolution. Dann würde die einfachste Kriegsregel sein: mit dem Bajonett in der Hand der Weltrevolution nach Mitteleuropa, nach Westen den Weg zu bahnen. Und die soziale Lage ist objektiv so, daß es sich dabei keinesfalls darum handeln würde, den Kommunismus mit der Spitze der Bajonette nach Westeuropa zu tragen, sondern mit dem Bajonett, mit dem Kolben die kapitalistische dünne Kruste zu zerschlagen, die noch den proletarischen Kern umgibt und auf ihn drückt. Will die Entente, will die Weltbourgeoisie durch einen Krieg gegen Sowjet-Rußland in dieser Weise die Weltrevolution beschleunigen, Sowjet-Rußland würde dabei nicht schlecht fahren, wie groß auch die Leiden sein könnten, die ihm ein neuer Krieg bringen würde, wie groß die Opfer, die es in diesem entscheidenden Krieg zusammen mit dem Weltproletariat bringen müßte.“118

Aber auch bei dem Verzicht auf einen Krieg mit Sowjetrussland sei „der Kapitalismus […] dem Tode geweiht“.119 Deshalb könne „die Unmöglichkeit der Niederwerfung 114 Pächter, S. 106. 115 Radek, Die Entwicklung der Weltrevolution und die Aufgaben der kommunistischen Parteien im Kampf um die Diktatur des Proletariats (geschrieben im November 1919), S. 59. 116 Radek, Die auswärtige Politik Sowjet-Russlands (1920), S. 68. 117 Ebenda, S. 76. 118 Ebenda, S. 76. 119 Ebenda, S. 82.

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des proletarischen Rußland und die wachsende Zersetzung der kapitalistischen Welt die widerspruchsvolle Tatsache friedlicher Beziehungen zwischen dem ersten proletarischen Staat und der sterbenden kapitalistischen Welt nur stärken […].“120 Und für seine sowjetischen Genossen wiederholte er aus der angenommenen Perspektive westlicher Interessen seine These vom modus vivendi und von wirtschaftlicher Kooperation: „Die kapitalistischen Staaten, die den proletarischen Staat eher heute als morgen begraben lassen möchten, können ihm nicht den Dolchstoß versetzen. Was bleibt ihnen übrig, als mit ihm in Handelsbeziehungen zu treten?“121 Es war vor allem die Sorge vor der Einbeziehung des Deutschen Reiches in die antisowjetische Front der Entente, die Radek so kriegerische Töne finden ließ.122 Aber jenseits aller überschäumenden, ideologiegeprägten, militanten Rhetorik und ungeachtet der Beschwörung eines Revolutionskrieges, setzte er unverändert auf die Option der Koexistenz mit den kapitalistischen Staaten, wobei sich sein Blick auch hier auf Deutschland richtete. Trotz des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen waren die Verbindungen zwischen beiden Staaten nicht abgerissen. Sie wurden durch die Kommissionen für die Repatriierung der Kriegsgefangenen aufrechterhalten123, auf russischer Seite durch Viktor Kopp in Berlin und für Deutschland durch Moritz Schlesinger und seinen Vertreter Gustav Hilger.124 Im Frühjahr 1920 übernahm Legationssekretär Schmidt-Rolke die deutsche Fürorgestelle für Kriegsgefangene in Moskau. Er stellte „ein gutes persönliches Verhältnis zu Radek“ her, dessen Frau ja ebenfalls in der Kriegsgefangenenfürsorge arbeitete und der „in allem, was das deutsch-russische Verhältnis betraf, starken Einfluß ausübte“. Als Schmidt-Rolke sich einmal bei Radek über die Unterstützung der deutschen Kommunisten durch die Sowjetregierung beschwerte, gab dieser eine bemerkenswerte Einschätzung der revolutionären Perspektive in Deutschland ab: „Nehmen Sie doch diese Dinge nicht ernst. Wir wissen ganz genau, daß wir in Deutschland gar nichts erreichen können, solange die gegenwärtigen Regierungen am Ruder sind. Wir werden in Deutschland erst zur Macht kommen, wenn Sie eine rechtsradikale Regierung haben, aber dann kommen wir.“125

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120 Ebenda, S. 80. 121 Ebenda. 122 Schüddekopf, Linke Leute von rechts, S. 134. 123 Bräutigam, S. 110. 124 Hilger, Gustav (1886–1965); deutscher Diplomat und Russlandexperte; 1918–1922 Beauftragter der Reichszentrale für Kriegs- und Zivilgefangene in Moskau; ab 1923 im Auswärtigen Dienst tätig. 125 von Blücher, S. 147.

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In den frühen zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts bezeichnete man Radek einmal als die Hupe auf Lenins russischem Staatswagen.126 Aber seine Funktion war es nicht, andere zu warnen oder einfach nutzlosen Lärm zu vollführen, obwohl ihm manche seiner Gegner gern die letztere Rolle zugesprochen hätten. Als Trommler für den Marxismus-Leninismus und der Politik Sowjetrusslands waren Agitation und Propaganda zwar sein Metier, jedoch sein Wirken beschränkte sich keineswegs darauf.127 Ein ehemaliger Kominternfunktionär, der Amerikaner Manuel Gomez, charakterisierte die Rolle, die Radek 1920 in der sowjetischen Politik spielte, ganz richtig als eine Mischung aus einem „internationalen Politkommissar und Il’ja Ėrenburg“128 Er war der Journalist, der die Weltöffentlichkeit über Russland informierte, aber zugleich auch politischer Akteur.129 Ein sanguinischer, sprunghafter und rücksichtsloser Mensch, aber zugleich auch eine Persönlichkeit von ungewöhnlicher politischer Kraft.130 Im Frühjahr 1920 war Radek, der auch als der führende Sowjetjournalist noch immer im Außenkommissariat verankert war, zum Sekretär des Exekutivkomitees der Komintern ernannt und damit der wichtigste Funktionär der III. Internationale, neben dem Vorsitzenden Zinov’ev. „Als Sekretär des EKKI, ein Sprecher des internationalen Kommunismus und ein Taktiker der Weltrevolution, erreichte er den Gipfel seiner Laufbahn. Seine Stellung in der Komintern verlieh ihm neues Gewicht, sowohl innerhalb wie außerhalb der Partei.“131 Gemeinsam mit Zinov’ev gelang es ihm auf dem II. Weltkongress, die Komintern aus einer losen Propagandaorganisation in eine zentralisierte Kampforganisation umzufunktionieren – eine kommunistische Weltpartei unter einem revolutionären Generalstab in Moskau.132 Dieser Kongress bildete das eigentliche Gründungsdatum der Kommunistischen Internationale als „die internationale Partei des proletarischen Aufstandes und der proletarischen Diktatur“.133 Der zur Erinnerung an das Ereignis herausgegebene pompöse Bildband „Oktjabr’ [Oktober]“ platziert auf einer großen Fotomontage mit den Porträts

126 Hans Meyer in Paul Levis Zeitschrift „Unser Weg“. Jg. 4, Heft 5, 1. März 1922, S. 94. Möller, S. 24. 127 Möller, S. 25. 128 Ėrenburg, Il’ja Grigor’evič (1891–1967), Schriftsteller und Journalist; agierte als Sprachrohr des Bolschewismus und Stalins. 129 „At that time Radek played a role in Soviet affairs that was a combination of what a political Commissar – if you could think of an international political Commissar – and Ilya Ehrenburg combined played. He was the journalist for the world on Russia. And also he was a political figure“. Gomez, S. 44f. 130 Paquet in seinem Begleitschreiben vom 24. März 1919, mit dem er Radeks Brief vom 11. März 1919 an Reichsaußenminister Brockdorff-Rantzau übersandte. Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 107. 131 Lerner, S. 96. 132 Brandt/Lowenthal, S. 137. 133 Auf dem II. Weltkongress verabschiedetes „Manifest“ der Komintern. Carrière, S. 303.

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prominenter Teilnehmer Radek unmittelbar neben Lenin und Trockij.134 Zusätzlich zu seiner Schlüsselrolle in der vom Sowjetstaat offiziell getrennt arbeitenden Komintern, hatte er auch im Kreml’ eine politisch einflussreiche Position inne. Er war Vollmitglied des Zentralkomitees, des zweithöchsten Entscheidungsgremiums der Kommunistischen Partei Russlands, das aus 19 Vollmitgliedern und acht Kandidaten bestand. In dieser Eigenschaft hatte er das Recht an den Sitzungen der Politbüros teilzunehmen, wenn auch ohne stimmberechtigt zu sein.135 In den Protokollen der ZK-Sitzungen wurde er in der Regel an vierzehnter Stelle genannt.136 Daran wird deutlich, dass er Anfang der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zum „Führungskern“ der Partei zählte.137 Als Berater Lenins fiel er kurzzeitig in Ungnade, als Lenin entgegen seinem Rat befahl, den russisch-polnischen Krieg dazu auszunutzen, um „über die Leiche des ,bürgerlichen‘ Polens“ nach Deutschland vorzustoßen und auch dort die proletarische Revolution militärisch zu unterstützen.138 Erzürnt über Radeks Warnungen vor dem Marsch auf Warschau und die davon beeinflusste oppositionelle Haltung Trockijs gegen das Unternehmen139, beschimpfte Lenin ihn als „Defaitisten“. Erst nach der militärischen Katastrophe der Roten Armee an der Weichsel sah er sich veranlasst, ihm rechtzugeben: „Radek hat vorausgesagt, was sich zutragen wird. Ich bin darüber ernstlich böse gewesen […]. Aber im wesentlichen hat gerade er klar gesehen. Er kannte besser als wir die Lage außerhalb Rußlands und besonders im Westen.“140 Radek, dessen unbedingte Loyalität zu Lenin von Levi als „Servilität“ missdeutet wurde, war indes weit entfernt davon, dem Sowjetführer dessen Fehlbeurteilung zu verargen und legitimierte ihn nachträglich. Sowjetrussland habe die Gelegenheit von der Verteidigung zum Angriff überzugehen, nicht ungenutzt lassen dürfen, führte er vor der Komintern aus. Er bewundere „die Genialität Lenins in taktischer Beziehung“ und „sage das nicht als Mitglied der russischen Partei“ sondern „als einer, der verhältnismäßig schwierig den Weg zu der rücksichtslosen Anerkennung der taktischen Genialität des Genossen Lenin fand“. Brest-Litovsk und der Vormarsch auf Warschau verkörperten für ihn die Gegenpole bezogen auf die „taktische Elastizität“ Lenins. Der „Sieg in Brest-Litovsk“ wurde durch große Vorsicht erreicht: „Dort wo die Partei große Gefahren sah, ging sie vorsichtig, wie der Maulesel am Abgrund. Sie 134 Abbildung in: King, S. 77. 135 Schapiro, S. 260f. 136 Wolkogonow [Volkogonov], Stalin, S. 142. In den Protokollen wurden an erster Stelle die Politbüromitglieder genannt, gefolgt von den Kandidaten des Politbüros und den „einfachen“ CKMitgliedern. So lautet z.B. die Reihenfolge im Protokoll der Plenarsitzung des CK vom 20. und 21. November 1920 wie folgt: Lenin, Trockij, Zinov’ev, Kamenev, Stalin, Rudzutak, Tomskij, Rykov, Preobraženskij, Bucharin, Kalinin, Krestinskij, Dzeržinskij, Radek [...]. 137 Ebenda, S. 99. 138 Grottian, S. 256. 139 Deutscher, Trotzki I, S. 435. 140 Zetkin, S. 21.

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tastete mit den Füßen, denn sie war schwach. Hatte sie aber Chancen für den Sieg, so stürmte sie vorwärts in den Kampf. Sie ging auf Warschau los, um die Revolution weiterzutragen.“141 Und in der Rückschau verlieh er dem Krieg mit Polen welthistorische Dimension: „Ich brauche jetzt nicht in Phantasien zu schwelgen, was der Sieg des russischen Proletariats bei Warschau, wenn er endgültig gewesen wäre, für die Weltlage bedeutet hätte. Ich brauche nur an die Tatsache zu erinnern, daß gleichzeitig mit diesem offensiven Vorgehen des russischen Proletariats mit der Waffe in der Hand die Offensive des ersten größeren Teils der westeuropäischen Arbeiterklasse einsetzte – die italienische Bewegung zur Besetzung der Fabriken.142 Es genügt, einen Augenblick daran zu denken, welche Folgen die Hinausrückung der Grenzen des ersten proletarischen Staates über die Weichsel und die Eroberung der Macht in Italien haben müßte; es würde die Agrarländer in Ost- und Südeuropa in die Zange zweier proletarischer Staaten bringen, ja zur Verfügung des industriellen Proletariats in Europa stellen. Und wenn wir uns heute [1922] einen Begriff über die Bedeutung der Niederlage Sowjetrußlands und der italienischen Arbeiter im Jahre 1920 machen wollen, so genügt es, nur an die Möglichkeiten, die in der Lage damals real existierten, konkret zu denken […].“143

Seit der Rückkehr aus Deutschland wohnte Radek mit seiner Frau in einer Dreizimmerwohnung in einem der Kavaliershäuser des Kreml’. „Ich liebe das Leben leidenschaftlich“, hatte er an Alfons Paquet aus Moabit geschrieben144 und nach seiner Zeit im Gefängnis hatte er offensichtlich Nachholbedarf. Während die russische Bevölkerung hungerte und ein striktes Alkoholverbot im Lande galt, sorgte er nicht ganz uneigennützig bei den von ihm persönlich betreuten ausländischen Gästen der Komintern für „außerordentlich privilegierte Verpflegungsbedingungen“ und reichliche Versorgung mit Alkoholika – so etwa beim Russlandbesuch englischer Arbeiterführer mit Bertrand Russel145 im Mai146 oder bei der berüchtigten Fahrt nach Baku im September 1920. Er feierte die Feste, wie sie fielen. In der Vorbereitungsphase des II.  Weltkongresses traf er während einer Zugfahrt mit dem Führer der Roten Kosaken Butenov [gemeint ist Budënnyj], dem Sänger Fëdor Šaljapin147 und dem 141 Radek, Der Weg der Kommunistischen Internationale. Referat über die Taktik der Kommunistischen Internationale, gehalten auf dem III. Weltkongreß, Moskau, Juli 1921, S. 65f. 142 Radek bezieht sich auf die 1920 von den Faschisten mit Terror bekämpften Streiks und Fabrikbesetzungen durch die italienischen Sozialisten in Mailand und Turin. 143 Radek, Die Offensive des Weltkapitals und die Taktik der Kommunistischen Internationale. Zwei Reden gehalten auf dem IV. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale im Novemer 1922. Möller, S. 227. 144 Brief Radeks an Paquet, 11. März 1919; in: Paquet, Der Geist der russischen Revolution, S. IX. 145 Russel, Bertrand (1872–1970), britischer Philosoph und Schriftsteller; Pazifist. 146 Balabanova, My Life as a Rebel, S. 257. 147 Šaljapin, Fëdor Ivanovič (1873–1938); weltberühmter Bassist und Schauspieler, verließ Sowjetrussland 1922 und ging in die USA.

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Schriftsteller Dem’jan Bednyj auf gleichgesinnte Geister. Eine feuchtfröhliche Gesellschaft, in der Radek Witze erzählte, Šaljapin sang, ein Kosakentrio aufspielte und ein Kosak auf dem Koffer tanzte.148 Als ihm einmal vorgehalten wurde, sein Russisch sei „immer noch erbärmlich“, obwohl er „schon massenhaft“ Sekretärinnen gehabt habe, die ihm die Sprache doch hätten beibringen können, entgegnete er munter: „Na und – ich spreche ja nicht mit der Zunge zu ihnen.“149 Mit seinen knapp 35 Jahren galt Radek unverändert als brillanter Publizist, „gleich begabt für die Gesamtschau, wie für den Spott“. Viktor Serge beschreibt ihn als eine auffallend hässliche Erscheinung: „Mager, ziemlich klein, aufgeregt, vollgestopft mit oft grimmigen Anekdoten, grausam realistisch, das glattrasierte Gesicht mit den unregelmäßigen Zügen von einer Seemannskrause umrahmt, die sehr kurzsichtigen Augen mit einer dicken Schildpattbrille bewehrt. Sein Gang hatte etwas affenhaft Amüsantes, die Gebärden waren abgehackt, das Gesicht mit den dicken Lippen schien ununterbrochen zu reden.“

Er sprach alle Fremdsprachen, die er beherrschte, mit einem „unwahrscheinlichen [polnischen] Akzent“. Auf dem II. Weltkongress – so Serge – habe er „mit seiner spöttischen Dialektik die gemäßigten Deutschen verfolgt, […] auf der Tribüne die immer zu weite Hose hochziehend, ein schrilles ,Parteigenossen!‘“ hinausschleudernd. „Er war sehr gelehrt, las alle erdenklichen Zeitschriften, aber doch eher ein Improvisator als ein Theoretiker, […] der die kommunistische Partei Deutschlands nicht schonte und der Meinung war, für absehbare Zeit sei die Periode der Aufstandsbewegungen in Mitteleuropa zu Ende.“150 Zeitgenössische Zeugnisse, vor allem die späterer Dissidenten, zeichnen ein wenig vorteihaftes Bild von dem sarkastischen, lockenköpfigen, kurzsichtigen „Meisterjongleur der Worte“. Auf dem II. Weltkongress empfand der Führer der amerikanischen Kommunisten Louis Fraina den Zynismus Radeks sowie die Kluft zwischen dem Elend der Bevölkerung und dem privilegierten Leben der Komintern-Funktionäre so abstoßend, dass er enttäuscht dem Kommunismus den Rücken kehrte.151 Für Anželika Balabanova bildete Radek „eine merkwürdige Mischung aus Amoralität, Zynismus und spontaner Begeisterung für Ideen, Bücher, Musik, Menschen“ – ein befremdliches psychologisches Phänomen, aber mitnichten ein Rätsel. Wie jemand, der keine Farben erkennen kann, fehlte ihm das Wahrnehmungsvermögen für moralische Werte. Er konnte politische Standpunkte über Nacht wechseln. Zusammen mit seinem raschen Verstand, seinem sardonischen Humor, seiner Vielseitigkeit und seiner ungeheuren Belesenheit, war dies der Schlüssel seines journalistischen 148 Herzog, Wilhelm: Russisches Notizbuch, Mai-August 1920; in: „Das Forum“, IV, August 1920. Tuck, S. 58. 149 Meyer-Leviné, S. 58. 150 Serge, Beruf: Revolutionär, S. 156f. 151 Gitlow, S. 9 und S. 30.

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Erfolgs. Die Sowjetführer nutzten diese Fähigkeiten, um politische Versuchsballons gegen Westeuropa zu starten, von denen sie sich im Falle negativer diplomatischer und öffentlicher Reaktionen offiziell wieder distanzieren konnten. Radek fühlte sich in Russland vollkommen zu Hause. Er hatte die Mentalität und die Sprache der Bol’ševiki vollständig übernommen. Als Ausländer galt er dennoch als Außenseiter. Durch die Revolution emporgekommen, scheute er sich nicht, die materiellen Vorteile, die seine Stellung ihm bot, voll in Anspruch zu nehmen.152 So wurde die Balabanova Zeugin eines aufsehenerregenden Auftritts Radeks auf dem Bahnhof in Petrograd, als für ihn und seine Begleitung einmal der Salonwagen der Kominternführung nicht bereitstand. Er weigerte sich in einen für ihn reservierten regulären Personenwagen einzusteigen und erklärte dem Schaffner, der Zug dürfe nicht eher abfahren, bis ein besserer Wagon zur Verfügung gestellt würde: „Sein Ultimatum wurde von vulgärsten Beleidigungen begleitet, die wegen seiner mangelhaften Beherrschung des Russischen noch provokanter klangen. Wie könne der Schaffner es wagen, nach seinem Namen zu fragen? Erkannte er Karl Radek nicht, wenn er ihn sah?“ Ein mit dem gleichen Zug in seinem Sonderwagen reisender Kommissar der Roten Armee bat ihn schließlich, den Wagen mit ihm zu tauschen. Radek akzeptierte das Angebot sofort. Er betrachtete es als die ihm als Sowjetführer zustehende selbstverständliche Reverenz. Die von seinem Verhalten beschämte Balabanova, die nichts dabei fand, genauso wie ein russischer Durchschnittsbürger zu fahren, schrie er an: „Sie sind es, die die Sowjetunion entehrt, wenn sie als Mitglied der Regierung gewillt sind unter solchen Bedingungen zu reisen. Das ist gut genug für andere Leute, aber nicht für uns.“153 Auch andere bolschewistische Genossen äußerten sich mit kritischen Untertönen, so der Komsomol154-Führer Lazar Šackin155: „[…] Radek – dem mußt du nicht jedes Wort glauben, ich glaube, er glaubt selber nicht jedes Wort, das er schreibt oder spricht. Nun, das ist nicht wichtig, er ist unser bester Propagandist für den Westen: gäbs keinen Radek, müßte er erfunden werden.“ Šackin wollte mit diesen Worten den Schriftsteller Max Barthel156 besänftigen, den Radek nach Sowjetrussland eingeladen hatte und dann kaltschnäuzig abblitzen ließ. Der Jugendfunktionär sagte zu dem Enttäuschten: „Radek, ich will dir erklären wie es ist: heute der Brudergruß, morgen der Fußtritt.“157 Der Men’ševik Oscar Blum nennt als grundlegenden Wesenszug Radeks „jene brutale Offenheit, die mit 152 Balabanoff [Balabanova], My Life as a Rebel, S. 264f. 153 Ebenda, S. 248. 154 Komsomol: sowjetischer Kommunistischer Jugendverband (Kommunističeskij Sojuz Molodëži). 155 Šackin, Lazar’ Abramovič (1902–1937); Komsomol-Funktionär, Mitglied der Zentralen Kontrollkommission der RKP(b) und des EKKI; fiel 1937 der „Großen Säuberung“ Stalins zum Opfer. 156 Barthel, Max (1893–1975); deutscher Schriftsteller; Verfasser klassenkämpferischer Lyrik; KPDMitglied; 1933 Nationalsozialist. Radek hatte Barthel zum II. Weltkongress der Komintern eingeladen. Als dieser ihm seine Gedichte präsentierte, fertigte Radek ihn kurz ab und empfahl ihm Bednyj und Majakovskij als lyrische Vorbilder: „So muß es gemacht werden, das brauchen wir […]. Hat mich gefreut, auf Wiedersehen.“ Barthel, S. 86. 157 Barthel, S. 95.

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dem Erfolg wächst und die den Gegner einschüchtert.“ Er schildert als Beispiel für Radeks Zynismus dessen Auftritt in einer Moskauer Arbeiterversammlung: „Es ist kein Brot da, keine Arbeit da. Die Massen schauen dem Hungertod in die Augen. Plötzlich wird ein Zwischenruf laut: ,Genosse Radek. Haben Sie täglich Ihr Mittagessen auf dem Tisch? Hungern Sie ebenso wie wir?‘ Eine hämische Frage, die irgend ein Menschewist stellt, um ihn aus dem Konzept zu bringen. Radek tritt vor, stellt sich breit vor das Podium und sagt laut und vernehmlich: ,Ich esse dreimal täglich zu Mittag […].‘ – Alles sitzt mäuschenstill da. – ,Wenn ich nicht essen würde, könnte ich nicht arbeiten. Wenn ich nicht arbeiten würde, würde eure Revolution verrecken.‘“158

Blum beschreibt Radek als einen Menschen „mit der Kaltblütigkeit eines Tierbändigers, mit der Waghalsigkeit eines Spielers“, der ausspricht, was ist. Diese Offenheit sei aber Zynismus, weil sie die Situation ins Persönliche zuspitzt und die nackte Tatsache als solche verherrlicht. „Es ist die Verachtung des Emporgekommenen für die Ungeschicktheit des Widerparts.“159 Radek wurde zwar eine große Ausstrahlungskraft auf das weibliche Geschlecht nachgesagt, aber Frauen zählten auch zu seinen schärfsten Kritikerinnen. Die amerikanische Anarchistin Emma Goldman, bei ihrem Aufenthalt in Sowjetrussland anfangs sehr von ihm angetan, erkannte ihn bald als den Protagonisten eines totalitären Systems, das auf Terror und Lüge aufbaute, dem der Zweck alle Mittel heiligte.160 Als Exponenten der Bol’ševiki nennt und verdammt sie ihn mit Lenin im gleichen Atemzug: „Jeder Gedanke an den Wert des menschlichen Lebens, die Beschaffenheit des Charakters, die Bedeutung revolutionärer Redlichkeit als Grundlage einer neuen Sozialordnung wurde als ,bürgerliche Gefühlsduselei‘ zurückgewiesen, für die es in der Revolution keinen Platz gab. Das Ziel, das es für die Bol’ševiki zu erreichen galt, war der kommunisti158 Blum, S. 88f. In die gleiche Richtung zielt eine Begebenheit, die Radek gegenüber Leo Matthias erwähnte. Von einer Frau in einer Versammlung befragt, warum er einen Winterüberzieher trage und sie nicht, antwortete er: „Weil ich heute abend bei 30 0 Kälte noch vier Versammlungen zu besuchen habe und dann noch zehn Stunden arbeiten muß. Sie aber können sich ins Bett legen und sich wärmen.“ Matthias Leo, S. 148. Ähnliches erzählte Radek auch Curt Geyer: „Ich war kürzlich bei zwanzig Grad Kälte in einer Versammlung in der Provinz. In der Versammlung stand ein Bauer auf und fragte mich, wie es komme, daß ich einen so warmen Pelz hätte und er nicht, und ob das die versprochene Gleichheit sei. Ich antwortete ihm: `Mein Freund, ich bin zehn Stunden durch die Kälte gefahren, um zu Euch zu reden. Du gehst nach der Versammlung nachhause, ich muß wieder zehn Stunden durch Nacht und Nebel fahren. Hätte ich den Pelz nicht, könnte ich nicht zu Euch kommen, ich habe den Pelz, um zu Euch kommen zu können.´“ Als Geyer ihn fragte, ob der Bauer ihm das abgenommen hätte, zuckte Radek mit den Schultern und sagte: „Die Versammlung war jedenfalls überzeugt.“ Geyer, S. 261. 159 Blum, S. 89. 160 Goldman, S. 69f.

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sche Staat, die sogenannte Diktatur des Proletariats. Alles, was diesem Endzweck diente, war gerechtfertigt und revolutionär. Die Lenins, Radeks […] waren in dieser Hinsicht konsequent. Besessen von der Unfehlbarkeit ihres Glaubens und mit vollstem persönlichem Einsatz konnten sie gleichzeitig sowohl heroisch als auch verachtenswert handeln. Sie vermochten es, zwanzig Stunden am Tag zu arbeiten, von Hering und Tee zu leben und das Abschlachten unschuldiger Männer und Frauen zu befehlen. Gelegentlich versuchten sie ihrem Töten den Deckmantel eines ,Mißverständnisses‘ zu geben – rechtfertigte das Endziel denn nicht alle Mittel? Sie waren fähig die Tortur anzuwenden und die Inquisition zu leugnen, sie waren fähig zu lügen und zu verleumden und bezeichneten sich als Idealisten. Kurzum sie konnten sich und andere glauben machen, daß vom Standpunkt der Revolution aus gesehen, alles legitim und richtig war; jede andere Politik war schwach und sentimental oder ein Verrat an der Revolution […] die Bol’ševiki waren gesellschaftliche Puritaner, die allen Ernstes glaubten, daß sie allein auserwählt waren, die Menschheit zu retten.“161

Die sittlichen Kategorien Radeks, der zwar keine Mordbefehle unterzeichnete, aber den Bürgerkrieg predigte, den bolschewistischen Terror legitimierte und die Zwangsarbeit verteidigte, waren immer wieder Gegenstand einer kritischen Wertung. Leo Matthias versuchte „klarzumachen, daß mit Radek der antimoralische Mensch in die Helle des politischen Geschehens getreten ist.“ Mit ihm habe „der Staatsmann des 20. Jahrhunderts seine Visitenkarte abgegeben.“162 Valeriu Marcu163 bescheinigte ihm „Immoralismus aus Ehrgeiz“ und schreibt: „Man hat Radek oft mit Machiavelli164 verglichen. Er ist sicher sehr stolz auf diesen Vergleich, denn er liebt den florentinischen Staatsmann. Machiavelli aber war ein Genie und deshalb ist der Vergleich falsch.“165 Die Vorliebe Radeks für die politischen Theorien Machiavellis, mit dessen Namen sich fälschlicherweise der Begriff der politischen Skrupellosigkeit verbindet, war allgemein bekannt und er hat den Vergleich mit dem Florentiner vielfach zu hören bekommen.166 Als ihm auf dem II. Weltkongress ein amerikanischer Kommunist scherzhaft-ironisch mit „Hallo Machiavelli“ begrüßte, bemerkte er: „Das ist ja interessant, ich habe gerade den Machiavelli in meine Tasche gepackt“, und zog das Buch 161 Ebenda, S. 70f. 162 Matthias, Leo, S. 150. 163 Marcu, Valeriu (1899–1942); Schriftsteller; Sohn des AEG-Direktors in Bukarest; lernte als Student in der Schweiz Lenin kennen; nach 1918 in der KPD und Mitarbeiter Münzenbergs in der Kommunistischen Jugendinternationale. 1921 Bruch mit der KPD; 1933 Emigration (Nizza, New York). 164 Machiavelli, Niccolò (1496–1527); italienischer Staatsmann und Geschichtsschreiber, dessen Buch „Il Principe [Der Fürst]“ vielfach als Rechtfertigung des von sittlichen Normen losgelösten Machtstaats gilt. 165 Marcu, S. 201. 166 Retzlaw, S. 231.

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„Il Principe“ hervor.167 Seine moralisch wertfreie Haltung rückte Radek in der Tat in die Nähe Machiavellis, der in der Erkenntnis der radikalen Eigengesetzlichkeit politischen Handelns, Politik und Moral voneinander trennte. Gleich ihm, schien Radek die Tauglichkeit oder Untauglichkeit der eingesetzten Mittel entscheidender zu sein, als deren moralische oder ideologische Qualität. Als „Machiavellisten“ war ihm „im revolutionären Kampf jedes Mittel recht“168, urteilt Margarete Buber-Neumann. Aber Radek handelte in erster Linie nicht als Machiavellist, sondern als MarxistLeninist. Als solcher hätte er den Vorwurf, er habe keine Moral, sicherlich mit dem Argument Lenins zurückgewiesen, der als moralische Norm verkündet hatte, sittlich sei alles, was den Kampf um den Kommunismus unterstütze und unsittlich alles, was ihn behindere.169

167 Gomez, S. 44. 168 Buber-Neumann, S. 86. 169 Lenin, „Die Aufgaben der Jugendverbände“ (Rede auf dem II. Gesamtrussischen Kongreß des Kommunistischen Jugendverbandes Rußlands), 2. Oktober 1920. Darin führt er zum Thema Moral und Sittlichkeit aus: „Ich will hier vor allem auf die Frage der kommunistischen Moral eingehen […]. Aber gibt es denn eine kommunistische Moral? Natürlich gibt es sie.“ Zwar verneine man die Moral der Bourgeoisie, die sich aus den „Geboten Gottes“ oder aus „idealistischen und halbidealistischen Phrasen“ ableitet. „Jede solche Sittlichkeit, die von einem übernatürlichen, klassenlosen Begriff abgeleitet wird, lehnen wir ab […]. Wir sagen, daß unsere Sittlichkeit völlig den Interessen des proletarischen Klassenkampfes untergeordnet ist. Unsere Sittlichkeit ist von den Interessen des proletarischen Klassenkampfes abgeleitet […]. Die Grundlage der kommunistischen Sittlichkeit ist der Kampf für die Festigung und Vollendung des Kommunismus.“ Lenin, Werke, Band 31, S. 280 und S. 285.

13.  Lenins „Deutscher“ (1920/21) Aus Baku nach Moskau zurückgekehrt, legte Radek sein Amt als Sekretär des Exekutivkomitees der Komintern nieder, um sich voll den deutschen Angelegenheiten zu widmen. Er blieb allerdings weiter Mitglied des Exekutivkomitees und des Kleinen Büros. Als „der eigentliche Gründer der KPD“1 arbeitete er jetzt mit Hochdruck daran, den großen linken Flügel der USPD abzuspalten und mit der relativ kleinen Partei der Spartakisten zu fusionieren, um so eine kommunistische Massenpartei in Deutschland zu schaffen. Mit einem gehässigen Pamphlet2 startete er eine Propagandaoffensive gegen die gemäßigten USPD-Führer Crispien und Dittmann, die nach ihrer Teilnahme am II. Weltkongress der Komintern ihrer Partei die Ablehnung der 21 Aufnahmebedingungen empfohlen hatten und sich kritisch über Sowjetrussland äußerten: „Herr Arthur Crispien und Herr Wilhelm Dittmann, die Führer des rechten Flügels der Unabhängigen haben die Masken fallen lassen.“ Sie hätten sich in Anbetracht der prokommunistischen Tendenzen in der USPD zunächst verstellt, „das Wort Revolution in ihren Mund genommen, […] das Bußgewand angelegt, die Lichter vor dem Altar des alleinseligmachenden Gottes der Demokratie ausgelöscht und auf die Diktatur des Proletariats als das rettende Schwert der Menschheit, geschworen.“ Bei ihrem zweiwöchigen Besuch in Moskau mit der Realität des revolutionären Russland konfrontiert, entlarvten sie sich nun – „wie auch die ihnen zu Hilfe eilenden Hilferdinge“ – als „Feinde Sowjetrußlands“.3 Sie führten einen „Lügenfeldzug“ und hätten sich als „Heuchler und Verräter“ sowie „Helfershelfer der Weltkonterrevolution gegen Sowjetrußland entpuppt.“4 Im Hinblick auf die 21 Aufnahmebedingungen sei ihr „Geschrei über die ,Diktatur von Moskau‘ „nur „eine faule Ausrede“: „In Wirklichkeit fürchten sie die Diktatur des revolutionären Teiles des Weltproletariats. Sie fürchten nicht die Befehle von Moskau, sondern sie fürchten, daß gestärkt durch den neuen Kontakt mit der Kommunistischen Partei Rußlands, mit Sowjetrußland, die revolutionären Arbeiter in Berlin, Leipzig, Hamburg sich nicht mehr von ihren rechten Führern betrügen lassen werden.“ 5

Die „Führer der rechten Unabhängigen“ würden sich zudem „mit Händen und Füßen“ gegen die Forderung der Kommunistischen Internationale wehren, „daß die kommunistischen Parteien überall illegale, geheime Organisationen aufbauen sollen. 1 Geyer, S. 228. 2 Radek, Die Masken sind gefallen – Eine Antwort an Crispien, Dittmann und Hilferding, o.O. [Hamburg], 1920. 3 Ebenda, S. 3f. 4 Ebenda, S. 12. 5 Ebenda, S. 18.

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Daß diese Forderung absolut in den Bedingungen des Bürgerkriegs, in den Bedingungen der sich entwickelnden Revolution begründet ist, wird jeder Arbeiter ohne weiteres einsehen.“6 Für die USPD sei es das Gebot der Stunde, sich von ihren „rechten Führern“ zu trennen und mit der KPD zusammenzugehen: „Wer gegen die illegale Organisation des Proletariats in der Epoche der Revolution, des Bürgerkrieges eintritt, der kämpft gegen die Revolution […].“7 Die „revolutionären unabhängigen Arbeiter“ müssten den Mut zur Spaltung von ihren Führern finden: „Die Spaltung von den opportunistischen Führern und ihren Anhängern, die Einigung aller revolutionären deutschen Arbeiter in einer mächtigen Kommunistischen Partei, die alle legalen Praktiken zum Ausbau der proletarischen Kampfbereitschaft ausnutzend, illegale Waffen für den entscheidenden Kampf schafft, das ist die große Aufgabe des Augenblicks, das ist die Hauptaufgabe des Augenblicks.“8

Im Hinblick auf den bevorstehenden Sonderparteitag der USPD in Halle (12.– 17 Oktober 1920), der über den Beitritt zur Komintern und das Zusammengehen mit der KPD entscheiden sollte, empfahl er: „Kein unabhängiger Arbeiter darf jetzt auch einen Tag nur in einer Partei mit den Verrätern der Revolution, mit ihren Saboteuren bleiben. Gewinnen die unabhängigen Arbeiter die Mehrheit auf ihrem Parteitag, dann gilt es die Opportunisten hinauszuwerfen. Sie mögen zu den Scheidemännern [d.h. zur SPD] gehen, wohin sie politisch gehören. Bleiben die revolutionären unabhängigen Arbeiter jetzt noch in der Minderheit, dann sollen sie sich von den Opportunisten trennen, wie sie sich von den Scheidemännern getrennt haben. Dann gilt es, zusammen mit den kommunistischen Arbeitern eine Partei zu bilden […].“9

Noch vor dem USPD-Parteitag in Halle begab sich Radek, dessen Ausweisung aus dem Reich noch rechtskräftig war, Anfang Oktober 1920 „illegal nach Deutschland“10. Während Zinov’ev und Lozovskij11 als offizielle Komintern-Delegation am Parteitag teilnahmen, war Radek als Vertreter des EKKI, unterstützt von seinem Gehilfen Felix Wolf12, hinter den Kulissen in Berlin konspirativ tätig geworden. In Halle kam es zur Spaltung der USPD. Der linke Flügel votierte für den Anschluss an die III. Internati6 Ebenda, S. 22. 7 Ebenda, S. 30. 8 Ebenda, S. 34. 9 Ebenda, S. 36. 10 Radek, Avtobiografija, Sp. 168. 11 Lozovskij, Artur (1878–1952); russischer Gewerkschaftsfunktionär; Juli 1921–1937 Generalsekretär der Roten Gewerkschaftsinternationale/Profintern (Krasnyj internacional professional’nych sojuzov). 12 Geyer (S. 217) beschreibt aus eigenem Erleben 1920 in Berlin Felix Wolf (richtiger Name Werner Rakow) als Radeks „rechte Hand, seinen ihm absolut ergebenen Sekretär, Mitarbeiter und Mädchen für alles.“

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onale, verließ mit über 300.000 Mitgliedern13 die Partei und nahm Fusionsverhandlungen mit der knapp 80.000 Mitglieder zählenden KPD auf. Radek schreibt in seinen Memoiren zurückhaltend, er habe „an der Organisation des Parteitages“ mitgewirkt, „auf dem die Vereinigung der Unabhängigen Linken mit den Spartakisten durchgeführt wurde.“14 Dieser Vereinigungsparteitag der Kommunisten und der linken Unabhängigen, auf dem die „Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands (VKPD)“ aus der Taufe gehoben wurde, tagte vom 4.–7. Dezember 1920 in Berlin. Zuvor leitete Radek „die schwierigen Verhandlungen über die Verschmelzung“ der USPD-Linken mit der KPD, wie der linke Unabhängige Curt Geyer15 berichtet: „Sie [die Verhandlungen] standen unter der Ägide der Komintern. Karl Radek als Mitglied des Präsidiums der Komintern führte praktisch die Verhandlungen mit uns. Er hatte inzwischen seinen eigenen Stab in Berlin beträchtlich verstärkt. Sein Hauptmitarbeiter neben Felix Wolf war A. Guralski16, die Führung der Roten Gewerkschaften entsandte daneben einen jungen Mann in Radeks Stab […]. Die führenden ,Turkestaner‘17 hatten neben sich Kuriere, von denen einige offenbar die Rolle von Radeks Geheimpolizei spielten, und weitere junge Männer, deren Funktion nicht klar war, sowie zugehörige Sekretärinnen. Es war selbstverständlich ganz unmöglich, die Reisen der minderen Mitglieder dieses Stabes in Deutschland genau zu verfolgen und festzustellen, was sie taten […]. Dies war das Personal für die Durchführung der Absicht des Komintern-Präsidiums, die Führungsfrage der neu zu bildenden Partei so zu lösen, daß die Partei völlig der Führung des Komintern-Präsidiums unterstellt werden würde.“18

Zum Nachteil der weitaus mitgliederstärkeren USPD-Linken setzte Radek die paritätische Besetzung der neuen Parteiführung durch und brachte mit Wilhelm Pieck, Heinrich Brandler und August Thalheimer seine Gefolgsleute aus der KPD – ihm „ergebene Werkzeuge“, wie Geyer urteilt – in der Zentrale der nunmehr gemeinsam von Paul Levi (KPD) und Ernst Däumig (USPD) geführten VKPD unter. Das von den Kommunisten in die VKPD eingebrachte Parteiblatt „Die Rote Fahne“ behielt Radek unter seiner persönlichen Kontrolle. Er bestand darauf, dass der als sein 13 500.000 Mitglieder verblieben bei der USPD, ebenso wie die Mehrheit ihrer Reichstagsabgeordneten und die meisten Parteizeitungen. 14 Radek, Avtobiografija, Sp. 168. 15 Geyer, Curt Theodor (1891–1967); Dr. phil.; Journalist und Politiker; einer der Wortführer des linksradikalen Flügels der USPD; 1921 Vertreter der VKPD bei der Komintern in Moskau; nach Parteiausschluss, 1922 Rückkehr in die SPD; 1919–1924 Mitglied der Nationalversammlung und des Reichstags; ab 1933 in der Emigration (Prag, Paris, London). 16 Guralski, Samuel (1850–1960?); Angehöriger des Komintern-Apparats; 1923–1924 in der KPDZentrale unter dem Namen August Kleine tätig; in den 1930er Jahren Komintern-Vertreter in Südamerika. 17 „Turkestaner“: Von Paul Levi geprägter Spottname für die Komintern-Beauftragten. 18 Geyer, S. 226f.

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Sprachrohr fungierende Thalheimer Chefredakteur des Blattes blieb und erklärte unverblümt, „daß das Präsidium der Komintern in der Leitung des Zentralorgans durch einen alten und bewährten Kommunisten einen wesentlichen Punkt im Geist der 21 Bedingungen erblickte und daß deshalb dieser Punkt nicht verhandlungsfähig sei“. Zusätzlich plante er durch eine zentrale Parteizeitschrift mit dem Namen „Der Leuchtturm“ unmittelbar Einfluss auf die VKPD zu nehmen. Das Blatt sollte „informierend, richtungweisend und theoretisch bildend“ auf die Funktionäre der Partei einwirken. Dem ehemaligen USPD-Funktionär und nunmehrigen Mitglied der VKPD-Zentrale Curt Geyer schlug er vor, mit ihm zusammen die Chefredaktion zu übernehmen: „Sie und ich, wir beide, werden damit gemeinsam die intellektuelle Führung der Partei in der Hand haben.“ Das Vorhaben scheiterte, als Geyer sich dem Werben Radeks verweigerte.19 Auf dem Einigungskongress in Berlin war Radek nicht offiziell in Erscheinung getreten. So glaubten selbst Mitglieder der Parteizentrale, die beiden Vorsitzenden Levi und Däumig hätten das Hauptdokument des Vereinigungsparteitags, das „Manifest an das deutsche und internationale Proletariat“, verfasst. In Wahrheit stammte es aus der Feder Karl Radeks und hatte der VKPD-Führung gar nicht vorgelegen. Die Delegierten nahmen es ohne Diskussion einstimmig an. Es nennt als Schwerpunktaufgabe, die Erschließung neuer Mitgliederreservoire nicht nur innerhalb der Arbeiterschaft, sondern auch unter den Angestellten – den „Stehkragenproletariern“ des verarmten Mittelstands. Gleichzeitig schürt Radek darin aber auch den Aktivismus der auf den revolutionären Kampf brennenden, lautstarken Minderheit von Parteilinken20: „Aber während eine Partei auf die nur Zehntausende hören, in erster Linie durch Propaganda ihre Anhänger wirbt, muß eine Partei, deren Organisation Hunderttausende umfaßt, in erster Linie auf die Millionen hören, in erster Linie durch die Tat, durch die Aktion werben […]. Die Vereinigte Kommunistische Partei hat Kraft genug um, wo die Ereignisse es erlauben oder es erfordern, auf eigene Faust in Aktionen einzutreten.“21

In einem allgemein gehaltenen Szenario formulierte Radek die Erwartungen der Komintern: „Und die Revolution, d. h. der Aufstand der am Ende ihrer Geduld angelangten Massen, sie wird nicht entstehen auf dem Wege der Parteipropaganda und in Ausführung eines von der Partei gefassten Beschlusses, sondern sie wird kommen als Zuspitzung eines von den Massen unter Leitung der Partei geführten Kampfes um ihre Existenz. Viele solcher Kämpfe werden noch mit Niederlagen und in Teilsiegen enden, viele werden nicht aus19 Ebenda, S. 236ff. 20 Ausführlich hierzu: Goldbach, S. 71f. 21 Protokoll Vereinigungsparteitag USPD/KPD S.  232. Goldbach, S.  72 und Brandt/Lowenthal, S. 141.

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münden in den revolutionären Kampf um die Macht. Aber schließlich wird einer dieser Kämpfe die Situation schaffen, in der der Feind den Kopf verliert […] und die von der Not geeinigten Arbeiter den Widerstand der Bourgeoisie […] brechen.“22

Passagen, wie diese, sind als entscheidende Impulse für den im März des folgenden Jahres kläglich gescheiterten kommunistischen Aufstand in Mitteldeutschland zu bewerten. Dessen Initiatoren und Verteidiger haben diese Wendungen ausdrücklich zu ihrer Rechtfertigung angeführt. Es ist jedoch zu einfach, Radek blinden revolutionären Aktionismus vorzuwerfen. Goldbach hat nachgewiesen, dass er ganz gezielt die Absicht verfolgte, mit der Unterstützung der Linken ein Gegengewicht zu Levis Quietismus um jeden Preis zu schaffen, der mit seiner zaudernden Haltung während des Kapp-Putsches die KPD davon abgehalten hatte, die revolutionäre Situation auszunutzen. In Anbetracht des uneingeschränkten Antiputschismus Levis, wollte er die VKPD für den Fall einer existentiellen Bedrohung schlagkräftig machen. Und er konkretisiert diese Bedrohung im Manifest. Wenn Deutschland zum Aufmarschoder Transitgebiet französischer Hilfstruppen für das weiße Polen wird und damit ein unmittelbarer Anschlag auf Sowjetrussland bevorsteht, dann müsse sich die Partei entscheiden, von friedlichen Kampfmitteln zur Gewaltanwendung überzugehen.23 So hatte er auch in seiner Schrift „Die Masken sind gefallen“ formuliert, dass im Falle eines von der Entente unterstützten polnischen Angriffs auf Sowjetrussland, bei dem die deutsche Bourgeoisie der Entente helfen werde, „für das deutsche Proletariat die Stunde der Entscheidung gekommen“ sei. „Es hätte zu wählen zwischen der vollen Versklavung bei der deutschen und der Entente-Bourgeoisie und zwischen dem Kampf um die Befreiung Arm in Arm mit der russischen Arbeiterklasse, mit der roten Armee des revolutionären Rußland.“24 In seinen Augen würde ein kommunistischer Aufstand im Rücken der Entente-Armeen im Kriegsfall die Überlebenschancen für Sowjetrussland und damit die Weltrevolution entscheidend verbessern. Der Ausbau der VKPD zur Massenpartei durch die Gewinnung weiterer Schichten war die adäquate Strategie, wenn Sowjetrussland eine Atempause und dadurch die Weltrevolution Zeit zum organischen Wachsen erhielt. Sollte es jedoch durch einen „Anschlag auf Sowjetrussland“ zur akuten Krise kommen, dann musste die deutsche Partei durch einen einflussreichen linken Flügel rasch zu mobilisieren sein.25 Die Zentrale der Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands nahm nach dem Vereinigungsparteitag ihre Arbeit in gemieteten Büroräumen an der Berliner

22 Lutz, Rudolf: KPD, Weimarer Staat und politische Einheit in der Nachkriegszeit 1919–1923. Ein Beitrag zur Krisen-, Staats- und Strategiediskussion der KPD und zur Analyse der politischen Spaltung der Arbeiterbewegung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik. Dissertation, Konstanz 1987, S. 234. Zitiert nach Becker, Jens: Heinrich Brandler, S. 127. 23 Goldbach, S. 72 f. 24 Radek, Die Masken sind gefallen, S. 35. 25 Goldbach, S. 73.

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Friedrichstraße auf. Karl Radek, der sich mit dem Decknamen „Genosse Max“26 tarnte, nahm als Komintern-Vertreter „wie ein übergeordnetes Zentralemitglied“ an allen politischen Sitzungen der VKPD-Führer teil. Er versuchte, durch organisatorische Maßnahmen die Partei in die Hände der KPD-Minderheit zu bekommen, indem er die aus der USPD stammenden Bezirks- und Ortssekretäre durch aus der KPD kommende Funktionäre ersetzen lassen wollte. Sein „Werkzeug für die Durchsetzung dieses Planes in der Zentrale war Wilhelm Pieck.“ Als dieser mit seinen Anträgen auf personelle Umbesetzungen auf Widerstand stieß, sorgte Radek dafür, dass die finanziellen Zuschüsse der Komintern für die VKPD-Zentrale wegen angeblicher „Transferschwierigkeiten“ stockten. Als dann neue Anträge Piecks von der in Geldnöte geratenen Parteizentrale angenommen wurden, folgte eine Reaktion, die alles verriet: „Binnen zwei Stunden nach dem Zentralebeschluß wurde dem Kassierer der Zentrale mitgeteilt, das sowohl die ausstehenden Beträge als auch die laufenden zur Verfügung stünden. Wahrscheinlich hat Karl Radek getobt, als er hörte, auf wie primitive Art gezeigt wurde, daß die Schraube angesetzt worden war.“27

Hinter dem Rücken Paul Levis, der sich gegen die Bolschewisierung der Partei sträubte, arbeitete Karl Radek seit dem II. Weltkongress ganz bewusst daran, in der VKPD eine innerparteiliche Fraktion gegen ihn aufzubauen. Curt Geyer vermutet dahinter die Absicht Radeks, selbst den Platz des deutschen Parteiführers einzunehmen: „Sein Ziel war es, die deutsche Partei offiziell selber zu führen. Sein Status als Mitglied des Präsidiums der Komintern war nicht zu übertreffen, aber die Führung der deutschen Partei wäre für ihn ein Sprungbrett zu, wenn auch begrenzter, Selbständigkeit gewesen – er hätte im Präsidium auf seinen Status als Führer der deutschen Partei pochen können. Vielleicht hat ihm sogar vorgeschwebt, als Führer der deutschen Partei eines Tages der Führer oder mindestens der Außenminister einer deutschen Sowjetregierung zu werden. Und je energischer er den Kampf um die Führung der Zentralemehrheit betrieb, desto näher würde er diesem Ziel kommen.“28

Für solche Ambitionen des überzeugten Internationalisten Radek, wie sie auch Ruth Fischer behauptet hat, gibt es keine Indizien.29 Nachdem er in Deutschland nicht öffentlich agieren konnte und ihn die Vorbereitungen für den X. Parteitag der RKP(b) nach Russland zurückriefen, war es sein Ziel, innerhalb der VKPD eine Moskau ergebene einflussreiche Gruppe aufzubauen, die in seinem Sinne weiterarbeitete. Sie 26 27 28 29

Goldbach, S. 81; Lerner, S. 109. Geyer, S. 234f. Ebenda, S. 237. Siehe oben, Kapitel 11, Anm. 207 und 208.

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musste aus gläubigen Anhängern der Komintern-Linie bestehen und sollte bei jeder Gelegenheit die mangelnde Aktionsbereitschaft der Parteizentrale attackieren. Dieser von Radek im Winter 1920/21 ausgebaute linke Flügel bestand aus Parteifreunden, die er zum Teil schon vor dem Krieg in Bremen kennengelernt hatte, wie Heinrich Brandler, Wilhelm Pieck und Paul Frölich, dazu kamen Ernst Meyer, Fritz Heckert30 und die linken USPD-Führer Walter Stöcker, Hermann Remmele31, Wilhelm Koenen32. Für das Echo dieser Gruppe in der Parteipresse sorgte der von Radek ganz besonders protegierte August Thalheimer, den er „den besten Marxisten Westeuropas“ nannte. Da Thalheimer für seine Artikel konkrete Instruktionen von Radek bekam, liegt auf der Hand, was damit gemeint war.33 In der von Radek aus dem Hintergrund gesteuerten Tagespolitik der VKPD versuchte er in konsequenter Fortführung der Linie, die vom Heidelberger Parteitag der KPD und Lenins Schrift über die „Kinderkrankheit“ zu dem Manifest des Vereinigungsparteitags führte, die bereits bei den Unabhängigen erfolgreich praktizierte Taktik nun auch gegenüber der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften anzuwenden: Durch eine an den Nöten des Alltags orientierte Politik die Sympathien der Massen zu gewinnen und die Führer zu isolieren. Es handelte sich um die Politik des „Offenen Briefes“, des unmittelbaren Vorläufers der Einheitsfronttaktik.34 Radek hat sich in seiner „Avtobiografija“ als Verfasser dieses oftmals fälschlich Paul Levi zugeordneten Schreibens35 bekannt: „Im Januar 1921 gab ich in einem Offenen Brief die Anregung zur sogenannten Einheitsfronttaktik.“36 In vorbereitenden Sitzungen der VKPD-Zentrale wurde der Brief im Beisein Radeks besprochen37, auf seinen Vorschlag hin von der Konferenz der Bezirkssekretäre am 7. Januar 1921 einstimmig gebilligt38, damit zur offiziellen Parteilinie erklärt und am darauf folgenden Tag 30 Heckert, Fritz (1884–1936); Maurer; Spartakist; Mitbegründer der KPD und bis 1924 Mitglied der Parteiführung; 1923 sächsischer Wirtschaftsminister; 1924–1933 MdR; 1932–1936 im EKKI in Moskau tätig. 31 Remmele, Hermann (1880–1938); Eisendreher und sozialdemokratischer Redakteur; 1920 Mitglied der Zentralleitung der USPD; dann bis 1933 in der Zentrale bzw. im ZK der KPD und 1924 kurzzeitig Parteivorsitzender; 1933 Emigration in die UdSSR; 1939 Opfer der Stalinschen Säuberung. 32 Koenen, Wilhelm (1886–1963); Handlungsgehilfe; sozialdemokratischer Redakteur und kommunistischer Politiker; 1917 USPD-, 1920 KPD-Mitglied; 1920–1932 MdR (KPD); 1930–1946 Emigration (zuletzt in England); 1946–1963 KPD- bzw. SED Politiker in der SBZ bzw. der DDR. 33 Goldbach, S. 74. 34 Ebenda, S. 75. 35 Zu den verschiedenen Versionen siehe Angress, S. 125, Anm. 27. 36 Radek, Avtobiografija, Sp. 168. Bereits im April 1921 hatte er in einer Propagandaschrift darauf verwiesen, dass die „Taktik des Offenen Briefes“ in der VKPD-Zentrale vom „Vertreter der Exekutive [also ihm selbst] angeregt“ worden sei. Radek, Soll die Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands eine Massenpartei der revolutionären Aktion oder eine zentristische Partei des Wartens sein (datiert 18. April 1921), S. 24. 37 Geyer, S. 240. 38 Radek, Soll die Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands…, S. 24.

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in der „Roten Fahne“ veröffentlicht.39 Die Zentrale der VKPD wandte sich darin offen an die deutschen Gewerkschaften und Arbeiterparteien „mit dem Vorschlag des gemeinsamen Kampfes um eine Reihe der brennendsten, unaufschiebbaren Bedürfnisse der Arbeiterklasse“40, das heißt, es wurden gemeinsame Aktionen vorgeschlagen, um die dringendsten wirtschaftlichen und politischen Forderungen der Arbeiterschaft durchzusetzen, aber auch Maßnahmen zur Schaffung einer günstigeren revolutionären Ausgangslage und im außenpolitischen Interesse Sowjetrusslands liegende Schritte. In einem detaillierten Katalog wurde angeboten, gemeinsam um die Erhöhung von Löhnen, Arbeitslosengeld, Renten und Pensionen sowie für die generelle Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterschaft zu kämpfen. Daneben wurde die Bildung proletarischer Selbstschutzorganisationen, eine Amnestie für politische Gefangene und die sofortige Aufnahme von Handels- und diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrussland gefordert. Abschließend wurde mit Blick auf die Perspektive revolutionärer Kämpfe betont, dass die VKPD mit ihrer Offerte keineswegs darauf verzichte, „die Arbeitermassen in jedem günstigen Moment zum Kampf um die Diktatur aufzufordern und zu führen.“41 Welchen politischen Erfolg bei den Adressaten sich Radek von dem „Offenen Brief“ versprochen hat, erhellt eine drastische Äußerung Heinrich Brandlers: „Entweder nehmen sie an, und dann überfahren wir sie und nehmen ihnen die Mitglieder ab, und sie sind beschissen. Oder sie lehnen ab, dann denunzieren wir sie als Feinde der Arbeiterklasse, und dann sind sie auch beschissen.“42 Die Aktion erwies sich rasch als ein Schlag ins Wasser. Das Angebot der VKPD wurde von allen Seiten zurückgewiesen. Im Exekutivkomitee der Komintern war Radeks neue Taktik stark umstritten, wobei es nicht nur um ihre Gültigkeit für Deutschland ging, sondern darum, sie in allen Ländern mit starker Gewerkschaft und Sozialdemokratie anzuwenden. Zinov’ev und Bucharin lehnten das strikt ab und lenkten erst ein, als Lenin den „Offenen Brief“ billigte. Die endgültige Entscheidung für die Einheitsfronttaktik brachte dann der III. Weltkongress der Komintern.43 Trotz aller Gemeinsamkeiten in der Tagespolitik, kam es jedoch schon bald nach dem Zusammenschluss der beiden Linksparteien zu offenen Auseinandersetzungen in der Parteiführung. Die Ursache waren die divergierenden Vorstellungen Levis und Radeks über das Wesen einer proletarischen Partei und deren Verhältnis zur Kommunistischen Internationale. Einen wunden Punkt bildete in diesem Zusammenhang die Haltung gegenüber der KAPD, die Radek zurückgewinnen 39 „Offener Brief an den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund, die Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände, die Allgemeine Arbeiterunion, die Freie Arbeiterunion (Syndikalisten), die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands“, in: „Die Rote Fahne“ Nr. 11 vom 8. Januar 1921. 40 Radek, Soll die Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands…, S. 24. 41 „Die Rote Fahne“, Nr. 11 vom 8. Januar 1921. Goldbach, S. 76. 42 Geyer, S. 241. 43 Goldbach, S. 77.

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wollte und mit der er unter Umgehung Levis weiterverhandelte; der KominternEmissär Michail Borodin44 und Radeks Adlatus Werner Rakow (alias Felix Wolf ) führten die Gespräche. Als die linken KPD-Dissidenten dann im Dezember 1920 mit dem Status einer sympathisierenden Partei in die III. Internationale aufgenommen wurden, sprach Levi von einem „Geniestreich“ des Exekutivkomitees und protestierte gegen die Bevormundung durch Moskau.45 Eine weitere Kontroverse entzündete sich an Radeks Absicht, das Heer der arbeitslosen Arbeiter und Angestellten – von ihm als das Potential der politisch orientierungslosen und sozial deklassierten Arbeitslosen in Deutschland bezeichnet – für die VKPD zu erschließen. Levi, der sich über dieses „Lumpenproletariat“ mokierte, attackierte Radek, indem er Friedrich Engels zitierte: „Jeder Arbeiterführer, der diese Lumpen als Garde verwendet oder sich auf sie stützt, erweist sich schon dadurch als Verräter an der Revolution.“46 Der ungeheuerliche Vorwurf prallte an Radeks Pragmatismus ab und er konterte: „Es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger als um die Tatsache, daß bei dem rapiden Verfall des Kapitalismus und der langsamen Entwicklung der Revolution immer größere proletarische Massen in die Reihen der Arbeitslosen hineingedrängt werden. Sie verelenden und verlumpen. Wer jetzt nach alter sozialdemokratischer Manier seine theoretische Nase über dieses ,Lumpenproletariat‘ zu rümpfen beginnt, der wird die Massen niemals zu mobilisieren verstehen.“

Die von Levi verachteten Arbeitslosen würden mit ihrer dumpfen Ungeduld und Verzweiflung „den Boden der K.A.P.D.-Stimmung“ darstellen. Sie seien ein wichtiger revolutionärer Faktor. Er führt weiter aus: „Nun unterliegt es keinem Zweifel, daß klar und bewußt den Kampf um die Macht nur die marxistisch geschulten Revolutionäre führen können, aber man muß doktrinär vernagelt sein, um nicht einzusehen, daß sich auch in Westeuropa an dem Kampf um die Macht große proletarische Massen beteiligen werden, die nichts vom Marxismus wissen oder sogar wissen wollen, und daß wir auch zu diesen Massen in ein Verhältnis kommen müssen, das uns erlauben wird, sie im revolutionären Kampfe zu leiten.“47

Und er schlägt den Bogen zur KAPD-Frage. Man müsse politisch blind sein, wenn man es nicht verstünde, 44 Borodin, Pseudonym von Gruzenberg, Michail Markovič (1884–1951); Agent der Komintern und der Sowjetregierung; 1923–1926 in China als sowjetrussischer Berater der Kuomintang; 1932 Chefredakteur der „Moscow Daily News“; 1949 verhaftet und 1951 in der Haft verstorben. 45 Goldbach, S.78 f. 46 Aus der Vorrede zur Geschichte des Bauernkriegs, zitiert bei Levi, Der Parteitag der Kommunistischen Partei; in: „Die Internationale“, Nr. 26, 1920, S. 43. Goldbach, S. 79. 47 Radek, Die Krise in der V.K.P.D., S. 5f.

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„den Hebel der revolutionären Aktion anzusetzen bei den Arbeitslosen, bei allen den revolutionären Massen, die nicht marxistisch sind, aber eine große Rolle in der proletarischen Revolution spielen werden. Somit handelt es sich bei der K.A.P.D.-Frage nicht um einen Protest gegen einen richtigen oder unrichtigen Beschluß der Exekutive, […] sondern um eine höchst wichtige Aktionsfrage der Zukunft, um das mangelnde Verhältnis zu den revolutionären nichtmarxistischen Elementen des Proletariats, die tausendmal zahlreicher sind als die Mitgliedschaft der K.A.P.D.“48

Mit der Konzeption einer kleinen schlagkräftigen Elitepartei, die befähigt ist, für die Durchsetzung ihrer Ziele Alliierte zu mobilisieren, wo immer sie gefunden werden können, um mit ihnen „die nächste Aktion“ zu führen, folgte Radek den taktischen Richtlinien Lenins, jede, selbst die kleinste Möglichkeit auszunutzen, um Verbündete zu gewinnen: „Wer das nicht begriffen hat, der hat auch nicht einen Deut vom Marxismus und vom wissenschaftlichen Sozialismus überhaupt begriffen.“49 Beginnend mit dem „Offenen Brief“ sollte die „Taktik des Suchens nach den Verbündeten, wo sie sind“50 auch in den kommenden Jahren eines der prägenden Elemente der Politik Radeks innerhalb des deutschen Kommunismus darstellen. Den Anlass zum Bruch mit Levi bildete für Radek jedoch nicht der Dissens über die KAPD, sondern dessen ablehnende Haltung zur Spaltung der Sozialistischen Partei Italiens (Partito Socialista Italiano/PSI).51 Als einzige der großen sozialistischen Parteien Europas war sie geschlossen der Komintern beigetreten. Da sich ihr Führer Serrati52 weigerte, die von Moskau verlangte Namensänderung in „Kommunistische Partei Italiens“ zu vollziehen und die reformistische Rechte unter dem alten Parteiführer Turati53 auszuschließen, kam es zum Konflikt mit der Komintern. Auf dem Kongress der PSI in Livorno (15. – 21. Januar 1921) bestanden die beiden Vertreter der Komintern, Kabakčiev54 und Rákosi55 mit einem Höchstmaß von Arroganz und 48 Ebenda, S. 6. 49 Lenin (1920), Ausgewählte Werke in 2 Bänden, Berlin (Ost) 1953, Band II, S. 716. Leonhard, Wolfgang, Sowjetideologie heute 2, S. 14. 50 Radek, Das Abflauen der Offensive des Kapitals und die Aufgaben der Kommunistischen Jugendinternationale, S. 76. 51 Ausführlich hierzu: Goldbach, S. 80ff. 52 Serrati, Giacinto Menotti (1872–1926); italienischer Sozialist; Chefredakteur des PSI-Organs „Avanti“, Teilnehmer an den Konferenzen der Zimmerwald-Bewegung; Führer der PSI und 1920 Mitglied des EKKI; 1924 Anschluss seiner Gruppe an die PCI; ZK-Mitglied bis 1926. 53 Turati, Filippo (1857–1932); italienischer Sozialist; einer der Führer der PSI; 1922 Parteiausschluss und Gründer der neuen Linkspartei Partito Socialista Unitario/PSU; von den Faschisten verfolgt, Exil in Paris, wo er 1932 starb. 54 Kabakčiev (Kabaktschieff), Christo (1878–1940); bulgarischer Sozialist; 1919 ZK-Mitglied der bulgarischen KP; seit 1920 Komintern-Funktionär in Moskau. 55 Rákosi, Mátyás (1892–1971); ungarischer Sozialist; 1919 Volkskommissar der ungarischen Räteregierung; 1920–1924 Mitglied des EKKI; 1926–1940 in Ungarn inhaftiert; 1945–1956 Generalsekretär der ungarischen KP und Stellvertretender Ministerpräsident bzw. Ministerpräsident; 1956 Rücktritt im Zuge der Entstalinisierung und Emigration in die UdSSR.

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Taktlosigkeit darauf, die 21 Bedingungen anzuerkennen, Turati und Serrati mit ihren Anhängern auszuschließen sowie nur diejenige Minderheit, die zu diesem Schritt bereit war, als Kommunisten zu akzeptieren. Daraufhin trennte sich der kleine linke Flügel der Partei von der PSI, konstituierte sich unter Amadeo Bordiga56 als Kommunistische Partei Italiens (Partito Comunista d’Italia/PCI) und gab die Aufnahme in die Komintern bekannt. Paul Levi, der als Gastdelegierter der VKPD auf dem italienischen Parteitag Zeuge dieser Vorgänge wurde, war darüber entsetzt und reiste vorzeitig ab. Er sah sich in seinen Befürchtungen bestätigt, dass die 21 Bedingungen die revolutionäre Bewegung zur Sekte degradieren und zu einer Politik der Spaltung als Selbstzweck führen würden. Er stand in der Tradition Rosa Luxemburgs und ihm war klar geworden, dass es bei der Spaltung der sozialistischen italienischen Partei um dieselbe Grundsatzfrage wie in der VKPD ging: Den Verlust der Selbständigkeit als Partei durch Moskaus Politik der Bolschewisierung.57 In der „Roten Fahne“ äußerte er Zweifel an der Zweckmäßigkeit der Spaltung der italienischen Partei auf Befehl der Komintern58, was eine scharfe Entgegnung Radeks im gleichen Organ hervorrief59. Radek zeichnete seine Artikel in Anlehnung an sein altes Pseudonym Parabellum nur mit „P.B.“, aber zweifellos verstand sein früherer Weggefährte und nunmehriger Kontrahent, was damit gesagt werden sollte. Dennoch gingen beide zunächst noch höflich miteinander um, auch wenn sie in der Frage, ob die VKPD als Sektion der Komintern berechtigt sei, prinzipielle Beschlüsse der Moskauer Zentrale zu kritisieren, gegenteiliger Auffassung waren. Auf einer Sitzung der VKPD-Führung am 28. Januar 1921, an der Radek als „Genosse Max“ teilnahm, entschuldigte sich Radek noch dafür, Levi öffentlich der Lüge bezichtigt zu haben, griff ihn aber dann wegen der italienischen Frage an. Er warf ihm vor, die Situation dort nicht begriffen zu haben. Der Hauptgrund seiner Kritik an Levi sei aber dessen Haltung zur Komintern: „Was meine scharfe Polemik gegen Levi vor allem entfachte, war nicht seine ablehnende Haltung in der italienischen Frage, sondern vielmehr seine Einstellung zur Kommunistischen Internationale, die sichtbar wurde, nicht so sehr in dem was gedruckt wurde, als vielmehr in der aktuellen Diskussion. Es ist überflüssig zu betonen, daß ich dem Exekutivkomitee nicht blind ergeben bin. Mein Teil an Schlägen habe ich ausgeteilt und auch eingesteckt. Aber Kritik und Kritik sind zweierlei.“60 56 Bordiga, Amadeo (1889–1970); italienischer Sozialist; 1921–1923 Führer der italienischen KP; dann von den Faschisten verhaftet und deportiert; 1930 Parteiausschluss als „Trotzkist“. 57 Löwenthal, Die Bolschewisierung der deutschen Kommunisten, S. 9. 58 „Die Rote Fahne“, Nr. 37, 23. Januar 1921. Angress, S. 132, Anm. 42. 59 „Die Rote Fahne“, Nr. 41, 26. Januar 1921; Nr. 42, 26. Januar 1921 (Abendausgabe); Nr. 43, 27. Januar 1921. Angress, ebenda. 60 Session of the Zentrale 28.1.1921, in: Drachkovitch, Milorad M. and Lazitch, Branko (Ed.): The Comintern, Historical Highlights. Essays, Recollections, Documents. New York, Washington, London 1966, S. 291 (Rückübersetzung aus dem Amerikanischen). Goldbach, S. 82.

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Die folgenden Treffen der VKPD-Führung standen im Zeichen der Auseinandersetzung zwischen Radek und Levi. Radek hielt lange Monologe mit offenen und versteckten Angriffen auf Levi und dieser, ein von sich sehr überzeugter, moralisch mutiger und ehrlicher Mann, aber in der taktischen Raffinesse Radek keineswegs gewachsen, beendete einige dieser Sitzungen, indem einfach aufstand und mit Tränen des Zornes in den Augen ging.61 Bei den Treffen in jeweils anderen illegalen Wohnungen im Berliner Westen, zumeist aber in Arbeiterwohnungen in Neukölln, mokierte sich Radek einmal über das kleinbürgerliche Ambiente dieser mit Plüschsofa, Vertiko und Nippes ausgestatteten Behausungen. Nachdenklich meinte er: „Solange Eure Arbeiter noch Vertikos haben, ist an eine Revolution in Deutschland nicht zu denken.“62 Er war sich darüber im klaren, dass die Revolution nicht auf der Tagesordnung stand und beurteilte im Gegensatz zum EKKI die revolutionären Aussichten recht skeptisch. Aber er glaubte, dass die internationale Situation sich zuspitze, ein neuer Krieg unmittelbar bevorstehe und dieser Konflikt zu einer neuen Phase der Weltrevolution in Europa führen und auch in Deutschland eine revolutionäre Aktion zur Folge haben werde. In den letzen Zentralesitzungen vor seiner Abreise nach Moskau entrollte er vor den Führern der VKPD „eine weltpolitische Perspektive, in welcher der nächste Krieg, und also die Revolution, zum Greifen nahe war.“ Curt Geyer, der an diesen Besprechungen teilnahm, urteilt rückblickend: „Der Krieg war für ihn die Eselsbrücke, um über die nichtrevolutionäre Mehrheit der deutschen Arbeiterschaft hinwegzukommen.“ Radek habe zwar nicht unrichtig antizipiert. „Nur brauchten die Tendenzen, die er erkannte, nicht vier Wochen, sondern zwanzig Jahre, bis sie zu den von ihm prophezeiten Ereignissen führten. Und jeder weiß, daß dann keine Revolution der deutschen Arbeiter die Folge war.“63 Schließlich führte Radek auf einem Treffen in Koenens Wohnung eine Generalanklage gegen Levi: „Er warf ihm zunächst vor, er wolle einen rechten Flügel in der Kommunistischen Internationale ausbilden, er setze sich in allem und in jedem Punkt nicht nur in Widerspruch zu den Anschauungen des Komintern-Präsidiums, sondern auch Lenins, er verfälsche die Lage der Partei, die kämpfen wolle, er habe sich nicht nur in Livorno auf die Seite der Feinde der Kommunisten und an die Seite von Sozialverrätern gestellt, sondern habe die Absicht, auch in Deutschland dem Drängen der Partei und der Arbeiter auf die Revolution in den Weg zu treten. Die ganz ungewöhnlich scharfe Rede, die nur einen endgültigen Abbruch der Beziehungen zwischen Radek und Levi zur Folge haben konnte, steigerte sich bis zu einer Art von Tobsuchtsanfall Radeks, an dessen Ende er mit der Faust auf den Tisch schlug und pathetisch ausrief: ,Und wenn Sie fortfahren, werden Sie uns zwingen, das Schwert gegen Sie zu ziehen.‘ Es war eine Kriegserklärung in aller Form.“64

61 62 63 64

Geyer, S. 243. Ebenda, S. 238. Ebenda, S. 246. Ebenda, S. 247.

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Das Tischtuch zwischen beiden war zerschnitten. Levi reagierte, indem er sich von seinem Stuhl erhob, Radek ins Gesicht sah und sagte: „Radek, Sie können so nicht mit mir reden.“ Dann drehte er sich um und verließ die Sitzung. Radek machte eine schnoddrige Bemerkung und als Curt Geyer ihm vorwarf, sein Wutanfall sei unerhört und seine Aufregung gänzlich unangebracht, antwortete er, indem er dabei zu berlinern versuchte: „,Ick mir aufregen? Ick rege mir niemals uff. Ick rege mir nur uff, wenn ick es für nötig halte.‘ Und dann änderte er seinen Ton und sagte: ,Ich kann ihnen sagen, es hat sich gelohnt. Sie werden sehen.‘“ Tatsächlich schlugen sich nun weitere USPD-Führer auf Radeks Seite und Geyer wurde klar, dass die Kommunisten nun mit acht gegen sechs Stimmen die Mehrheit in der VKPD-Zentrale gewonnen hatten. Resignierend stellte er fest: „Ich wußte, wir hatten den Kampf um die Führung verloren.“65 Welche frostige Atmosphäre hinfort in der Parteizentrale herrschte, erhellt eine bizarre Szene, die Curt Geyer schildert. Die Parteiführer hatten sich zu nächtlicher Stunde in einer Wohnung im Hansaviertel versammelt, und warteten auf den Kurier der Komintern: „Paul Levi lag lang ausgestreckt auf dem Diwan, er schlief nicht, sondern blickte starr nach oben. Karl Radek saß mürrisch am Tisch und trank Schnaps, und vor sich hinmurmelnd, beschwerte er sich, daß kein anständiger Schnaps im Hause sei. Endlich fragte ihn sein Mädchen für alles, Felix Wolf [Werner Rakow], welchen Schnaps er denn gerne haben möchte. Karl Radek dachte nach und sagte dann: ,Danziger Goldwasser.‘ Felix Wolf ging weg und kam […] mit einer großen viereckigen Flasche Danziger Goldwasser zurück. Radek gab geradezu eine Vorstellung. Er liebkoste die Flasche. Er hielt sie gegen das Licht und schüttelte sie, daß die Goldblättchen darin tanzten. Dann gab er sie Felix Wolf zum Öffnen, nahm sie ihm aus der Hand und begann aus der Flasche zu trinken. Danach taute er auf und wurde jovial. Dabei drehte er sich von Zeit zu Zeit um, sah Paul Levi an und schüttelte in komischer Weise seinen großen Kopf. Bei einer solchen Gelegenheit sagte er: ,Da liegt nun Euer Großer Paul. Ich wette, der Große Paul ist noch nie mit Schnaps getauft worden.‘ Eines der kommunistischen Zentralemitglieder nahm dies für eine Aufforderung, ergriff sein Schnapsglas, stellte sich hinter Paul Levi und ließ einen Tropfen Schnaps auf Levis Glatze fallen […]. Paul Levi fuhr in die Höhe und seine Empörung war so ungeheuer und fühlbar, daß nicht der Täter, sondern Radek anfing Entschuldigungen zu stammeln […]. Der Kurier kam eine Stunde später. Bis zu seiner Ankunft wurde in diesem Zimmer nicht mehr ein einziges Wort gesprochen.“66

Als Radek in den ersten Februartagen 1921 nach Moskau abreiste67, hatten sich die Wogen nur scheinbar wieder geglättet. Zuvor war am 1. Februar in seinem Beisein noch die Parteiresolution verabschiedet worden, wonach die Komintern in Livorno 65 Ebenda. 66 Ebenda, S. 244. 67 Am 1. Februar 1921 nahm Radek noch an einer Sitzung der VKPD-Zentrale teil, war aber am 8. Februar bei der Sitzung der Berliner Vertrauensmänner bereits abwesend. Am 13. Februar hielt

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richtig gehandelt habe und die Spaltung der italienischen Sozialisten nicht auf einen Ukas aus Moskau hin, sondern in „Ausführung eines internationalen Beschlusses“ erfolgt sei. Zugleich wurde die Erwartung geäußert, die III. Internationale möge auf eine Wiedervereinigung mit Serrati hinwirken. Radek hielt sich nicht mehr in Deutschland auf, als die Komintern-Emissäre Rákosi und Kabakčiev aus Livorno kommend in Berlin eintrafen und Levi für sein Verhalten zur Rechenschaft zogen. Rákosi nahm an den Sitzungen des Zentralausschusses der VKPD am 22. und 24. Februar teil. Er behauptete, die Exekutive habe in Italien „,ein Exempel statuiert‘ und auch die deutsche Partei müsse immer wieder gespalten werden.“68. „Der linke Flügel der Zentrale“ – geführt von Stöcker und Thalheimer – „setzte daraufhin mit 28 gegen 23 Stimmen seine Resolution durch, daß die hinter Serrati stehenden Arbeitermassen nur durch Kampf gegen die Serrati-Elemente für die KI zurückgewonnen werden können.“69 Von einer Korrektur der italienischen Parteispaltung war nicht mehr die Rede. Daraufhin legten von den 14 Mitgliedern der Zentrale fünf ihr Mandat nieder, darunter die Parteivorsitzenden Levi und Däumig sowie Clara Zetkin, die alte Kampfgefährtin Rosa Luxemburgs. Levi warf der KominternFührung vor, die Bildung von Massenparteien zugunsten von politischen Sekten zu verhindern. Er und die zurückgetretenen Zentralemitglieder wollten die Spaltungstaktik des EKKI, die zum Verlust des Parteieinflusses in den Massen führen musste, nicht mittragen. Die Nachwahl für die Zentrale brachte Brandler und Stöcker an die Spitze der Partei. Auch die Posten der Sekretäre wurden mit Radeks Klientel besetzt, darunter Ernst Meyer und Paul Frölich. Damit hatte der von Moskau seit dem II. Weltkongress protegierte und von Radek lancierte linke Flügel die Führung der Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands übernommen.70 Radek ahnte nicht, dass die erste Runde im Kampf um die Bolschewisierung der V.K.P.D. bereits gewonnen war, als er im Moskauer Metropol’ am 22. und 23. Februar 1921 an den Sitzungen des Exekutivkomitees der Komintern teilnahm. In Anwesenheit Zinov’evs, Bucharins, Béla Kuns und einer Reihe weiterer Spitzenfunktionäre befasste man sich an erster Stelle mit Deutschland. Radek berichtete in schonungsloser Offenheit über seine jüngsten viermonatigen Erfahrungen mit den deutschen Kommunisten und zog ernüchternde Schlussfolgerungen71: „Noch habe die Revolution in Deutschland keine ,einheitliche schlagkräftige Partei‘ gebildet. Die V.K.P.D. sei keine solche. Er habe die Presse der V.K.P.D. immer mit dem er sich dann schon wieder in Moskau auf und beteiligte sich an einer Besprechung im Narkomindel über das Kriegsgefangenenabkommen mit Deutschland. Goldbach, S. 83, Anm. 59. 68 Levi, Unser Weg wider den Putschismus, S. 54. 69 Radek, Die Krise in der V.K.P.D., S. 7. 70 Goldbach, S. 83f. 71 Protokoll der Sitzungen des Erweiterten Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale, Moskau vom 22. und 23. Februar 1921; im folgenden zitiert nach Goldbach, Anhang 1, S. 137– 145.

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Gefühl der größten Unzufriedenheit, ja mit dem Gefühl der Schande gelesen, es fehle ihr das ganze organisatorische Geschick. `Bei den Reichstagsreden der kommunistischen Parlamentarier seien die eigenen Berichterstatter eingeschlafen […]. Nun sage die Fraktion selbst, daß die Arbeiterschaft Deutschlands auf Reden nicht reagiere. Die Fraktion habe nicht mal eine politische Leitung, halte keine Sitzungen ab, sie ,setze sich selbst unter die Glasglocke‘. Die illegale Organisation sei im allerersten Entstehen begriffen. Mit ,spontanen Ereignissen‘ sei in Deutschland nicht zu rechnen. Was wäre die V.K.P.D. mit ihren 22 Zeitungen und ihrer halben Million gegen die 9 Millionen der Gewerkschaften? Daher sei die Kernfrage: Wie unterwühlen wir die Gewerkschaftsbürokratie? Das sei möglich durch Teilaktionen, entweder mit oder ohne die Gewerkschaften […].“

Auf Levis Haltung in der italienischen Frage eingehend, meinte Radek, sie kennzeichne ihn als „Exponent“ der „opportunistischen Strömungen in der V.K.P.D.“ und zieh ihn der „revolutionären Impotenz“. „Nur `in der Aktion sei die Vereinigung des Proletariats zu schaffen´. Wenn auch heute die Situation zum direkten Aufstand noch nicht gegeben sei, so doch vielleicht schon morgen.“ Allerdings sehe es „heute […] so aus, als ob Deutschland statt einer gesunden kommunistischen Partei ein ,rachitisches Kind mit einem Wasserkopf‘ bekäme.“ Radek drängte auf die politische Ausschaltung Levis hin, da dieser gegen die Moskauer Linie opponiere. Sein Chef Zinov’ev unterstütze ihn in der Diskussion: Das EKKI führe gegen Levi den „Kampf bis aufs Messer“. Das vorrangigste Ziel sei die Auswechslung der Führung der VKPD. Im Kreml’ hatte man zu dieser Zeit allerdings mit gravierenderen Problemen zu kämpfen, als mit den Auseinandersetzungen in der VKPD. Curt Geyer, in jenen Tagen Vertreter der VKPD-Zentrale im Exekutivkomitee der Komintern, der sich wegen der Parteikrise unmittelbar an Lenin wenden wollte, wurde von Radek angefahren: „Lassen sie doch jetzt den Alten damit in Frieden. Er hat den Kopf voll mit den großen inneren Entscheidungen, vor denen wir stehen, wir können ihm jetzt nicht mit Ihren deutschen Geschichten kommen.“72 Radek bezog sich damit auf die Entwicklung der innenpolitischen Szene Sowjetrusslands. Trockijs Programm der militärischen Organisation der Arbeit hatte versagt. Das Sowjetregime sah sich mit dem Scherbenhaufen einer gescheiterten Wirtschaftspolitik, katastrophalen Versorgungsschwierigkeiten, Bauern- und Arbeiterrevolten sowie der Kritik aus den eigenen Reihen konfrontiert. Der Streit ging um die innerparteiliche Demokratie und den weiteren Kurs der Innenpolitik. Die „Arbeiteropposition“ um Aleksandr Šljapnikov und Aleksandra Kollontaj forderte wirtschaftspolitische Kontrollbefugnisse, Selbständigkeit der Gewerkschaften sowie für die Partei das Wahlprinzip und freie Diskussion. Aus dieser für die Bol’ševiki brisanten Situation, die sich durch große Bauernaufstände in der Ukraine und im Gouvernement Tambov noch verschärft hatte, sah Lenin als einzigen Ausweg einen radikalen innenpolitischen Kurswechsel: Die Ersetzung des Kriegskommunismus durch eine „Neue Ökonomische Politik (Novaja Ėkonomičeskaja Politika/NEP)“ mit weitreichenden Zugeständnis72 Geyer, S. 265.

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sen an die Bauern und einer teilweisen Rückkehr zu kapitalistischen Wirtschaftsformen. Die Entscheidung darüber sollte auf dem im März bevorstehenden X. Parteitag der RKP(b) gesucht werden. In der Kontroverse um die Gewerkschaftsfrage, die sich zum Angelpunkt der innerparteilichen Auseinandersetzungen entwickelt hatte, bezog Radek Position an Lenins Seite. Hatte er noch ein Jahr zuvor Trockijs Thesen enthusiastisch unterstützt, die Gewerkschaften im Zuge der Militarisierung der Arbeit ausschließlich auf Disziplinierung und Produktionssteigerung zu orientieren, so revidierte er jetzt seine Haltung und vertrat Lenins pragmatischen Standpunkt. „An der Schwelle der großen Aufbauarbeit in Sowjetrussland“ betitelte er einen Aufsatz, in dem er sich zur NEP und der Diskussion über die Rolle der Gewerkschaften äußerte. Der Kapitalismus liege im Sterben, unfähig Aufbauarbeit zu leisten. Nur die proletarische Diktatur in Russland könne die Welt wieder einrenken. Nach der Atempause von Brest-Litovsk und Trockijs Versuch zur Militarisierung der Arbeit, unternehme man nun einen dritten Anlauf zur friedlichen Aufbauarbeit. Es gelte jetzt, die auf den Schlachtfeldern verteidigte Sowjetrepublik durch Arbeit zu sichern. Dabei müssten die Gewerkschaften, wie von Lenin definiert, als „Erzieher der Masse zum Kommunismus“ und als Vermittler zwischen der Sowjetregierung und den sechseinhalb Millionen parteiloser Arbeiter fungieren, das heißt diese Millionen an das System binden. Habe man auf dem kommenden Parteitag die Gewerkschaftsfrage ausgefochten, schloss er optimistisch, „wird die Partei wie ein rocher de bronze dastehen, und die Feinde werden sich an ihr die Zähne ausbeißen.“73 In Vorbereitung der beabsichtigten Politikwende, hielt Radek am 27. Februar 1921 vor den Offizieren der Parteizelle des Generalstabs der Roten Armee einen Lagevortrag74, der die Armeeführung auf die kommenden Ereignisse einstimmen und auf Lenins Linie verpflichten sollte. Die äußere Situation der Räterepublik, so führte er aus, habe sich zwar zum Besseren entwickelt, werde jedoch weiterhin von großer Unsicherheit bestimmt. Sie sei vor allem gekennzeichnet durch den „Sieg über die bewaffnete weißgardistische Gegenrevolution“ sowie das „Anwachsen der revolutionären Bewegung in Deutschland, das sich allerdings“, wie er beschönigend und zugleich einschränkend anmerkte, „in den von uns erwarteten Formen und in langsamem Tempo vollzieht.“ Auch wenn die kapitalistische Welt in einander feindliche Lager gespalten sei, sichere dies noch keineswegs den Frieden: 73 Radek, An der Schwelle der großen Aufbauarbeit in Sowjetrussland, Leipzig 1921, S. 3, S. 15f, S. 26 und S. 30–34. 74 Radek, Die innere und die äußere Lage Sowjetrusslands und die Aufgaben der KPR [RKP(b)]. Vortrag vor der kommunistischen Fraktion des Generalstabes der Roten Armee am 27. Februar 1920), Leipzig 1921. Die im Titel dieser Schrift angegebene und auch in der Literatur generell so zitierte Datierung auf das Jahr 1920 ist offensichtlich falsch und muss 1921 lauten. Die Ausführungen Radeks – etwa über die Bauernfrage, zu Wirtschaftskonzessionen, zur Rolle der Gewerkschaften oder über die Arbeiteropposition – beziehen sich eindeutig auf die Situation vor dem X. Parteitag der RKP(b) im März 1921.

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„[…] besonders an dieser Stelle, im Kreise von Militärpersonen muß man offen sagen: es ist möglich, daß wir demnächst für eine gewisse Zeit, für die Dauer von ein oder zwei Jahren eine Atempause erhalten. Möglich ist aber auch, daß wir bald wieder gezwungen sein werden, zu kämpfen.“

„Die Tatsache, daß wir uns in der Lage einer völligen internationalen Ungewißheit befinden“, betonte er, „ist der Hauptfaktor von dem ausgegangen werden muß bei der Beurteilung der Frage, was weiter geschehen soll […]. Mit Blick auf die Krise Sowjetrusslands und die Forderungen der Arbeiteropposition, stellte er fest, bei der Diskussion um die Fragen des Parteikurses müsse man „nicht vom Standpunkte dieser oder jener Plattform, sondern von dem der Tatsachen“ ausgehen. „Die einfachsten Tatsachen aber sind: ein Land in dem die Bauern die Mehrheit bilden und das von der in Zersetzung befindlichen kapitalistischen Welt umringt ist […].“ Die negativen Erfahrungen der Partei mit Zwangsmaßnahmen gegen die „Bauernmasse“ zeigten, „es ist nicht möglich 15 Millionen Hofbauern zu zwingen, unter der Peitsche zu arbeiten. Man muß den Weg zum Verstande und zum Herzen der Bauern bahnen“, auch wenn ihr Herz oftmals neben ihrem Magen liege Nüchterner Realismus sei auch im Hinblick auf die Frage angebracht, ob Sowjetrussland kapitalistischen Staaten Wirtschaftskonzessionen einräumen solle: „Erwägen wir daher kühl die Lage, ohne den Tatsachen gegenüber die Augen zu verschließen, so müssen wir uns sagen: selbst wenn das europäische Kapital nicht imstande ist, uns mit der Waffe in der Hand zu bekämpfen, müssen wir versuchen, bis zum Ausbruch der Revolution in den wichtigsten Industrieländern oder bis zu dem Zeitpunkt, wo wir imstande sein werden, zum Angriff überzugehen, uns die Möglichkeit zu sichern für den Bezug der von uns benötigten Produktionsmittel durch Erteilung von Konzessionen an das internationale Kapital.“

Vor dem Hintergrund des Streits um die künftige Parteilinie, warb er bei den Offizieren des Generalstabs eindringlich dafür, Lenins Kurs geschlossen und diszipliniert zu folgen: „Genossen, unsere Politik sowohl gegenüber der Bauernschaft als auch gegenüber dem Auslandskapital […] ist eine überaus komplizierte Politik des Lavierens. Sie kann nur dann gelingen, wenn die kommunistische Partei es verstehen wird, diese Politik nicht nur mit unerhörter Energie,[sondern] einmütig und ohne inneren Kampf, endgültig durchzuführen.“

Er hob hervor, zu dieser Politik gebe es keine Alternative und alle, die von anderen Wegen redeten, seien nicht imstande, brauchbare anderweitige Pläne aufzustellen. Nachdem er im Klartext zu den Offizieren gesprochen hatte, schloss er mit pathetischen Bildern. Er sah die Morgenröte des Sozialismus heraufziehen und beschwor seine Zuhörer, in diesen stürmischen Zeiten dazu bereit zu sein, ihr Leben für die Sowjetmacht einzusetzen:

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„Genossen, die Morgendämmerung naht. Ich bin fest überzeugt, daß der entscheidende Kampf im Westen immer näher an uns heranrückt. Gleichzeitig ist jedoch bei hohem Wellengang auch das Schiff in Gefahr […] im Verteidigungskampfe für die Räterepublik […] müßt [ihr] daher wachsam sein und sie bis zum letzten Blutstropfen verteidigen.“75

Radeks dramatischer Appell kam nicht von ungefähr. Die innere Krise bedrohte den Bestand des Regimes und man rechnete mit dem Schlimmsten. Selbst in Moskau kam es zu Tumulten und Betriebe wurden bestreikt. An die Mitglieder des EKKI verteilte man Waffen und Munition. Als Curt Geyer die Frage an Radek richtete, was die Bol’ševiki anfangen würden, wenn auch die Druckerei, welche die Rubelscheine für die Staatskasse druckte, in den Streik treten würde, lautete dessen Antwort: „Wir haben die Panzerwagen, die Artillerie und die lettischen Regimenter.“76 An der Moskauer Kriegsakademie bereitete der Chefpropagandist der Bol’ševiki den Führernachwuchs der Roten Armee psychologisch auf einen möglichen Einsatz gegen die Arbeiterschaft vor. Ein Kursant erzählt: „Karl Radek kam, um uns im Namen des Zentralkomitees der Partei über die Lage aufzuklären […]. Radek, mit blassen Augen, mager, häßlich und klug, sprach drei Stunden lang vor einer atemlos lauschenden Zuhörerschaft. Sein polnischer Akzent war fürchterlich, aber nach der ersten Viertel stunde hatten wir ihn vergessen, so vollständig nahm uns die Aufrichtigkeit und der offene Ernst seiner Erklärung gefangen. Er bemühte sich gar nicht, die außerordentliche Gefährlichkeit der Lage zu verbergen. Der Präsident der Republik, Kalinin war in den Fabriken mit Schmährufen und dem Schlagwort: ,Gebt uns Brot statt Reden!‘ empfangen worden. Bolzen und Schraubenschlüssel wurden nach ihm geworfen. ,Die Partei‘, so führte Radek aus, ,ist die politisch bewußte Vorhut der Arbeiterklasse. Wir stehen jetzt an einem Punkt, da die Arbeiter am Ende ihrer Ausdauer im Ertragen von Härten angelangt, sich weigern, noch weiter einer Vorhut zu folgen, die sie in die Schlacht und zum Opfer führt […]. Sollen wir dem Lärmen der Arbeiter nachgeben, die die Grenze ihrer Geduld erreicht haben, die aber ihr wahres Interesse nicht so verstehen können wie wir? Ihre Gesinnung im Augenblick ist ausgesprochen reaktionär. Aber die Partei hat beschlossen, daß wir nicht nachgeben dürfen, daß wir unseren Willen zum Sieg unseren erschöpften und verzagten Anhängern aufzwingen müssen. Ernste Ereignisse stehen bevor. Ihr müßt bereit sein […]“.77

Als Arbeiterunruhen in Petrograd sich ausweiteten und auf das vorgelagerte Kronstadt übergriffen, spitzte sich die Lage bedrohlich zu. Die Garnison mit 16.000 Marineangehörigen und viele der 50.000 Einwohner dieser größten Seefestung der Sowjetrepublik vereinten sich zu einem Aufstand gegen die bolschewistische Herrschaft, der vom 2.–18. März dauerte. Noch war der Finnische Meerbusen zugefroren und die 75 Ebenda, passim. 76 Geyer, S. 265. 77 Barmine, S. 143.

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meuternde Baltische Flotte nicht manövrierfähig, aber Radek malte den schlimmsten anzunehmenden Fall aus: „Wenn das Meereis aufgeht und die […] Schiffe […] in die Newa einfahren, verlieren wir Petrograd, es wird sofort in heller Rebellion aufbrennen und ein Brückenkopf gegen uns werden. Wenn danach die englische Flotte in die Ostsee einfährt, stürzt das Sowjetregime.“78 Während in Moskau der X. Parteikongress (8.–16. März 1921) zusammentrat, trugen Truppen der Roten Armee unter dem Kommando Tuchačevskijs verlustreiche Angriffe über das Eis des Finnischen Meerbusens vor und schlugen den Aufstand blutig nieder.79 Auf dem Parteitag in Moskau billigten die Delegierten, geängstigt durch das wütende Proletariat und die aufrührerischen Bauern, nach nur knapp viertelstündiger Diskussion den von Lenin vorgeschlagenen einschneidenden Kurswechsel. Die Neue Ökonomische Politik leitete eine neue Etappe in der Entwicklung Sowjetrusslands ein. Radek, der noch vor wenigen Monaten den Kriegskommunismus hymnisch gefeiert hatte, rechtfertigte wendig die Neuorientierung der sowjetischen Wirtschaftspolitik. Dieser Schritt sei notwendig geworden, da der Plan Trockijs vom Vorjahr für den sozialistischen Wiederaufbau nicht den erwarteten Erfolg gezeitigt habe. Er verschwieg, dass die in ideologischer Verblendung durchgeführte überstürzte Verstaatlichung der Produktionsmittel und das Versagen der zentralen Wirtschaftsplanung den ökonomischen Zusammenbruch verursacht hatten. Seiner Lesart zufolge trugen die äußeren Umstände und nicht die Sowjetführung Schuld daran, dass der Wiederaufbau nicht im vorgesehenen „frontalen Angriff“ beginnen konnte. „Der Plan scheiterte daran, daß die Arbeitsarmeen, bevor sie aufgestellt waren, für den Kampf gegen Polen und Wrangel80 herangezogen werden mußten und an der sehr langsamen Zufuhr von Produktionsmitteln aus dem Auslande.“ Er bemühte sich, verständlich zu machen, dass die Bol’ševiki bedingt durch das langsame Tempo der europäischen Revolution und die Realität der Verhältnisse im Agrarland Russland eine Atempause benötigten, in der die NEP die Voraussetzungen für den Wiederaufbau des Landes, den „Kommunistischen Wirtschaftsaufbau“, schaffen müsse: „Rußland ist ein Bauernland, in dem die Arbeiterklasse die Macht erobert hat, um sie zu benutzen als Mittel der Entwicklung des Landes zum Sozialismus. Sie muß mit dieser Entwicklung ebenso mit dem kleinbürgerlichen Charakter des Landes wie mit dem weltpolitischen Kräfteverhältnis rechnen […].“

78 Geyer, S. 277. 79 Auf beiden Seiten fielen während der Kämpfe Tausende. Nach dem Fall von Kronstadt wurden Hunderte von Aufständischen standrechtlich erschossen, danach in Gerichtsverfahren mehr als 2.000 Todesurteile gefällt und fast 6.500 Haftstrafen verhängt. Courtois, S. 130. 80 Vrangel’, Pëtr Nikolaevič, Baron von (1878–1928); russischer General und weißgardistischer Armeeführer, der noch im Sommer 1920 militärische Erfolge gegen die Rote Armee in der Ukraine erzielte.

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Er charakterisierte die Lage in Russland dahingehend, dass es bislang nur gelungen sei, begrenzte gesellschaftliche Veränderungen zu erzielen. Die russische Revolution habe zwar den Adel, nicht aber das Bürgertum liquidieren können: „Gründlich hat sie nur mit den feudalen Klassen und mit den feudalen Überresten aufgeräumt. Das Bürgertum, die bürgerlichen Tendenzen konnte sie nicht ausrotten, denn solange der Kapitalismus in Europa noch herrscht, werden sich diese Tendenzen immer wieder aus der bäuerlichen Wirtschaft heraus restaurieren und sie werden durch die kapitalistische Einkreisung Sowjetrußlands gestärkt.“

Diese Situation könne „nicht so sehr mit den Mitteln des roten Terrors“, als vielmehr durch „wirtschaftliche Mittel“ überwunden werden, wobei die Kommunisten im Westen den sozialistischen Aufbau des Sowjetstaates solidarisch zu unterstützen hätten: „Gelingt es der Sowjetregierung, durch ihre realistische Politik der Anerkennung der Tatsachen, wie sie sind, und ihre Berücksichtigung, Sowjetrußland so weit zu stärken, daß es in den Kämpfen der nächsten Jahre eine aktive Rolle spielen kann, sei es militärisch, sei es durch Ausfuhr von Brot für die industriellen Länder, in denen die proletarische Revolution siegen wird, so wird damit die Frage nach dem Charakter der russischen Revolution endgültig beantwortet. Bisher war die russische Revolution das schwächste Glied der beginnenden sozialistischen Weltumwälzung. Die Vereinigung mit dem starken Strom der proletarischen Revolution in der Welt wird die weitere Entwicklung Sowjetrußlands – als der am meisten militärisch gesicherten Macht der Revolution, als der Macht mit der breitesten landwirtschaftlichen Grundlage in der Richtung des Sozialismus – zu einer strategischen Hauptaufgabe des internationalen Proletariats machen.“81

Unter dem frischen Eindruck des Parteitages stehend, drückte Radek sich am 21. März 1921 noch deutlicher aus. „Die Niederwerfung des Kronstadter Aufstandes und lokaler Bauernaufstände in Sibirien“ sowie der auf dem X. Kongress beschlossene politische Kurswechsel hätten „die westlichen Hoffnungen auf den bevorstehenden Sturz der Sowjetregierung wieder einmal zerstört“. Die RKP(b) wisse, dass sie „keinen Augenblick seit der Oktoberrevolution außerhalb der Gefahrenzone war“ und „ihre gesamte Politik war immer auf der Voraussetzung aufgebaut, daß der Sieg abhängig ist von der Entwicklung der europäischen Revolution.“ Aber: „Indem Sowjet-Russland sich eine neue Atempause im Innern durch Zugeständnisse [der NEP] an die Bauern verschafft, ist es überzeugt, das seine auswärtige Manöverpolitik und die weitere Entwicklung der Weltrevolution ihm erlauben werden, diese Atempause im Interesse des westeuropäischen Proletariats auszunützen.“

81 Radek, Wege der russischen Revolution (1921), S. 58f., S. 66, S. 69f.

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Die Neue Ökonomische Politik Sowjetrusslands – so Radek – dürfe nicht als opportunistische Maßnahme fehlinterpretiert werden, denn: „Der Opportunismus’ der Sowjetregierung ist der größte Dienst, den sie dem europäischen Proletariat leistet. Alle Maßnahmen, die dazu beitragen, daß die Vorderreihen der russischen Arbeiterklasse die Macht in den Händen behalten, sind ein indirekter Nutzen für die europäische Arbeiterklasse, der nicht damit gedient ist, wenn die SowjetRegierung in utopische Versuche zur Durchführung des ,reinen‘ Sozialismus in Rußland verfallen würde, sondern umgekehrt: wenn Sowjet-Rußland ein Kraftzentrum bildet, an dem sich die europäische Revolution emporranken kann, kann Sowjet-Rußland noch so weitgehende Zugeständnisse an die Notwendigkeiten des Tages machen. Ausschlaggebend ist, daß die Avantgarde des Proletariats die Macht in den Händen behält […]“.82

Er kommt zu dem Fazit: „Die Zugeständnisse, die die Kommunistische Partei Rußlands an die kapitalistischen Elemente macht, sind vorübergehende. Der Zug der Zeit geht in Richtung der Organisation der Volkswirtschaft auf kommunistischer Basis. Nur das langsame Tempo der Entwicklung nötigt zu Zugeständnissen an die Vergangenheit.“83

Der Moskauer Parteitag der Bol’ševiki stimmte unter dem Trauma des Kronstadter Aufstandes auch zwei Resolutionen Lenins zu, in denen die Forderungen der „Arbeiteropposition“ als kleinbürgerliche anarcho-syndikalistische Abweichung sowie Bruch mit dem Marxismus und Kommunismus gebrandmarkt und innerparteiliche Opposition als Fraktionsbildung bei Strafe des Parteiausschlusses untersagt wurde. „Jeder, der öffentlich Kritik übt, muß sich der Lage der Partei bewußt sein, die von allen Seiten von Feinden umgeben ist […].“84 Radek unterstützte diese Anträge Lenins zur Straffung der innerparteilichen Disziplin, die die Basis für die künftige Einschüchterung der Mitglieder und Säuberungen der Partei legten und sich bald gegen die beteiligten Genossen selbst richten sollten. In einer für die Partei existenzbedrohenden Lage diktierten auch ihm Zweckmäßigkeitserwägungen den Zwang zur Linientreue. Dennoch gab er in prophetischen Worten seinen Zweifeln Ausdruck: „Wenn ich dieser Resolution zustimme, so fühle ich wohl, daß sie auch gegen uns angewendet werden kann und trotzdem unterstütze ich sie […] das ZK mag in Augenblicken der Gefahr die strengsten Maßnahmen gegen die besten Parteigenossen ergreifen, wenn es das

82 Radek, Der X. Kongress der Kommunistischen Partei Russlands (geschrieben 21. März 1921), Leipzig 1921, S. 10. 83 Ebenda, S. 22. 84 Lenin, Resolution über die Einheit der Partei, zitiert nach Schapiro, S. 231.

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für nötig hält […] mag das ZK sich sogar irren! Das ist weniger gefährlich als die Unentschlossenheit, die man jetzt sieht.“85

Mit seinen Worten traf Radek die Stimmung der Delegierten. Bei der Wahl der Mitglieder des Zentralkomitees der Partei erhielt er nach Lenin die meisten Stimmen.86 Von denen, die ihn gewählt hatten, sollten jedoch nur wenige die kommenden Jahre heil überstehen. Auch er nicht.87 Im Nachhinein hat Radek den Beschluss noch einmal gerechtfertigt und geschrieben, in Gefahrensituationen müssten die Parteimitglieder dazu bereit sein, die innerparteiliche „[…] demokratische Form dem Zwecke der Erhaltung der proletarischen Diktatur unterzuordnen. Der Beschluß des Parteitages, der der vereinigten Zweidrittelmehrheit des Zentralkomitees, der stellvertretenden Mitglieder des Zentralkomitees und der Kontrollkommission der Partei – zusammen 48 Mann – das Recht gibt, jedes Mitglied des Zentralkomitees, das sich nicht seinen Beschlüssen fügt und die Politik der Partei durchkreuzt, aus der Partei auszuschließen, ist Ausdruck des Bewußtseins der Partei, daß das Zentralkomitee in jeder gefährlichen Situation die Leitung der Revolution haben soll und unter keinen Umständen dem österreichischen Kriegsrat ähneln darf, wo der Order die Konterorder folgte und im Resultat eine Disorder entsteht, ein Mangel an Leitung.“88

Um die allen Lehren des Marxismus widersprechende Schwenkung zur NEP durchzusetzen, musste sich Lenin nicht nur der eigenen Opposition, sondern auch der beiden noch bestehenden sozialistischen Parteien der Men’ševiki und der Sozialrevolutionäre entledigen. Ihre Führer waren bereits ins Ausland geflüchtet. Nun setzte die Einführung der NEP der offenen politischen Betätigung dieser Parteien ein Ende, obwohl sie längst das Wirtschaftsprogramm gefordert hatten, das Lenin inaugurierte. Radek löste das Paradoxon vor der Zehnten Allrussischen Parteikonferenz (26. – 28. Mai 1921) auf. Während Lenin nur unwirsch wiederholte, für die Men’ševiki und Sozialrevolutionäre gebe es keinen anderen Platz als das Gefängnis, erklärte er offen, es gehe allein um die Machtfrage. Wenn man die Men’ševiki frei herumlaufen ließe, nachdem jetzt die Kommunisten ihre Politik übernommen hätten, würden sie auch nach politischer Macht verlangen. Und den Sozialrevolutionären, die freie Bauern auf eigenem Land forderten, die Freiheit zuzugestehen, solange die enormen Massen der Bauern den Kommunisten feindlich gegenüberstünden, bedeute Selbstmord.89

85 Protokoll X. Parteitag der RKP(b), Schapiro, S. 232. 86 Die in der Abstimmung führenden CK-Mitglieder waren Lenin mit 479 Stimmen, Radek mit 475 Stimmen, Stalin mit 458 Stimmen, Trockij mit 452 Stimmen, Bucharin mit 447 Stimmen, Zinov’ev mit 423 Stimmen. Tuck, S. 61. 87 Schapiro, S. 232. 88 Radek, a.a.O., S. 19. 89 Protokoll 10. Allrussische Parteikonferenz, S. 66. Schapiro, S. 234.

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Die Nachricht vom Führungswechsel in der VKPD hat Radek wohl erst während des X. Parteitages und auf dem Höhepunkt des Kronstadter Aufstands erreicht. Am 14. März 1921 verfasste er hastig einen Brief an die kommunistischen Führer in der Zentrale der VKPD.90 Unter dem Eindruck der aktuellen Ereignisse ging er darin in Stichworten auf die Situation in Sowjetrussland sowie die Lage in der deutschen Partei ein, um dann das ganze in den Kontext seiner Bedrohungsperzeption zu stellen – einen neuen Krieg mit Polen: „W[erte]. G[enossen]. 1. Lage hier folgende: Notwendigkeit großer Zugeständnisse an Bauern, was wirtschaftlich momentane Stärkung der kapitalistischen Elemente bedeutet. Nach außen Konzessionen. Große Arbeit, Armee kampffähig zu halten […] Frühling und Sommer wird sehr schwer sein. Hilfe vom Ausland zur Hebung Zuversicht, hier in den Massen sehr notwendig. 2. Lage bei Euch in der Partei klar für mich. Levi sucht Fraktion zu bilden unter Losung: Massenpartei oder Sekte. Was Schwindel ist, da er durch seine Politik die Partei auseinandertreibt, während wir durch unsere Politik neue Massen heranziehen können. Niemand hier denkt an mechanische oder überhaupt irgendwelche Spaltung in Deutschland. Es gilt die Gegensätze klar herauszuarbeiten, den linken Flügel geistig führend zu machen. Levi wird schnell abwirtschaften. Es gilt alles zu tun, um [die gleichfalls zurückgetretenen Zentralemitglieder] Däumig, Zetkin mit ihm nicht abwirtschaften zu lassen. 3. Alles hängt von weltpolitischer Situation ab. Wenn sich Riß zwischen Entente und Deutschland vergrößert, es vielleicht zum Krieg mit Polen kommt […]. Eben weil diese Möglichkeit besteht, müßt Ihr alles tun, um die Partei zu mobilisieren. Man kann keine Aktion aus dem Revolver schießen. Wenn Ihr jetzt nicht alles tut, um durch das ununterbrochene Drängen nach Aktion der kommunistischen Masse das Gefühl ihrer Notwendigkeit beizubringen, werdet Ihr in einem großen Moment wieder versagen […]. Falls Krieg kommt, nicht an Frieden, nur Protest, sondern an das Waffenkriegen denken. Dies in aller Eile auf dem Parteitag geschrieben. Alles andere im Artikel. Gruß“91

In dem im Brief angekündigten Artikel „Die Krise in der V.K.P.D.“92 wiederholte und vertiefte Radek die Vorwürfe, die er bereits im Exekutivkomitee der Komintern 90 Goldbach schreibt unter Bezug auf „Unser Weg“ 8/9, 1921, S. 248 f., Radek habe am 14. März 1921 noch keine Ahnung von dem in Berlin vollzogenen Führungswechsel gehabt. Goldbach, S. 89, Anm. 105. Der Brief Radeks vom 14. März spricht inhaltlich allerdings dafür, dass er bereits Kenntnis vom Rücktritt Levis, Zetkins und Däumigs hatte. So interpretiert dies auch Möller (S. 177). Der in dem Brief angekündigte Artikel „Die Krise in der V.K.P.D., in dem Radek auf die personellen Veränderungen eingeht, ist auf den darauffolgenden Tag datiert, den 15. März 1921, sodass Radek spätestens zu diesem Zeitpunkt unterrichtet war. 91 Brief Radeks an Heinrich Brandler, August Thalheimer, Paul Frölich und andere Mitglieder der VKPD-Zentrale, 14. März 1921. Möller, S. 177f. 92 Radek, Die Krise in der V.K.P.D. (datiert 15. März 1921), in: „Die Internationale“ Nr. 3, 1921, S. 71–79; zitiert nach dem Sonderdruck, Leipzig 1921.

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erhoben hatte und die sich gegen die deutsche Parteiführung und insbesondere Paul Levi richteten: „Tatsache ist, daß die parlamentarische Fraktion keine aufweckende revolutionäre Politik treibt. Tatsache ist, daß die Parteipresse keine volkstümliche revolutionäre Agitation treibt, sondern mehr dem Typus der Vereinsorgane entspricht. Tatsache ist, daß die Partei nicht imstande war, sich an die Spitze der Arbeitslosen zu stellen, in ihnen das Gefühl zu erwecken, daß sie ihr Sprachrohr ist. Tatsache ist, daß die Aktion, die auf die Initiative des Vertreters der Exekutive [Radek selbst] durch den Offenen Brief eingeleitet wurde, nicht genügend energisch betrieben, nicht genügend aufrüttelnd polemisch geführt wird. Das sind Beweise, daß die bisherige Parteileitung nicht auf der Höhe stand.“93

Es sei ein Alarmsignal, wenn neben Levi auch bewährte Genossen, wie Clara Zetkin, Ernst Däumig und Adolf Hoffmann ihre Parteiämter niedergelegt hätten. Im Gegensatz zu Levi wären sie „keine hochnäsigen Intellektuellen und keine hysterischen Opernsänger“, sondern „disziplinierte Klassenkämpfer.“ Die „springenden Punkte“ der Parteikrise seien die „opportunistischen Tendenzen, wie sie in der Politik Levis ihren Ausdruck“ fänden. Auf dem Heidelberger Parteitag habe Levi entgegen dem Rat Radeks zur Spaltung getrieben; bei den Kontroversen um KAPD, Antiputschismus, Lumpenproletariat und Livorno handele es sich nicht um „Seitensprünge und Wachstumskrisen eines talentierten Politikers“, sondern um den Opportunismus eines Intellektuellen, dem es an „revolutionärem Empfinden“ und Kontakt zu den Massen mangele.94 Dagegen müsse angekämpft werden, wies er die Genossen an, und „darum ist es ein Fehler, wenn die neuergänzte Parteileitung mit Brandler und Stöcker an der Spitze und wenn Genosse Thalheimer […] die Gegensätze zu verschleiern sucht“, das heißt einen Kompromiss mit Levi und dessen Freunden anstrebe. „Jetzt […] müssen die Gegensätze ausgekämpft werden […].“ Der linke Flügel dürfe sich aber nicht allein darauf beschränken, Levi und dessen Parteigänger zu kritisieren, „sondern durch konkrete Vorschläge, durch energisches Drängen die Revolutionierung der Partei“ fordern, um Levis „Theorie der Aktionslosigkeit“ zu überwinden.95 Da Radek wegen der russischen Krise unabkömmlich war96, hatte Zinov’ev Anfang März an seiner Stelle drei neue Komintern-Beauftragte nach Berlin entsandt. Es handelte sich um Béla Kun, Zögling Radeks und 1919 Führer der ungarischen Räterepublik, dessen Landsmann Josef Pogany97, vormals Kuns Volkskommissar für Verteidigung bzw. Äußeres sowie den Polen Guralski. Während Radek von Moskau 93 Radek, Die Krise in der V.K.P.D., S. 11. 94 Ebenda, S. 3–11. 95 Ebenda, S. 11. 96 Geyer, S. 278. 97 Pogany, Josef alias Peter Pepper (1886–1937); Lehrer und Journalist; einer der Führer der ungarischen Räterepublik; ab 1920 Komintern-Funktionär (1922–1925 in den USA); 1937 verhaftet und hingerichtet.

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aus noch dringend anwies, den linken Flügel der VKPD geistig führend zu machen, drängten die Komintern-Beauftragten in Berlin die deutschen Kommunisten, zur revolutionären Offensive überzugehen und bestanden auf einer raschen gewaltsamen Aktion zum Sturz des bürgerlichen Minderheitskabinetts Fehrenbach98-Simons99. Kun argumentierte: „Rußland befinde sich in einer außerordentlich schwierigen Situation. Es sei dringend erforderlich, daß Rußland durch eine Bewegung im Westen entlastet werde, und aus diesem Grund müsse die deutsche Partei sofort in Aktion treten.“100 Man glaubte zwar nicht, dass es trotz Inflation und innenpolitischer Krise bereits möglich sei, die Macht zu erobern, aber man hoffte durch einen Massenstreik und bewaffnete Aktionen die Weimarer Republik so zu erschüttern, dass ein der sowjetischen Politik förderlicher Regierungswechsel erreicht werden könnte. Am 17.  März 1921 beschloss die von Brandler geführte Zentrale der VKPD zu handeln und entwickelte einen Aufstandsplan. Er sah vor, nach den Osterfeiertagen (27./28.  März) ausgehend vom mitteldeutschen Mansfelder Bergbaurevier, einen bewaffneten Aufstand verbunden mit einem Generalstreik in ganz Deutschland zu inszenieren. Die vorbeugende Besetzung des mitteldeutschen Industriegebiets durch die Sicherheitspolizei am 19. März machte den ursprünglichen Aufstandsplan zunichte und veranlasste die kommunistische Partei noch vor den Osterfeiertagen zum vorzeitigen Losschlagen. Diese sogenannte „Märzaktion“ endete in einem völligen Fiasko. Es kam nicht zum Generalstreik und in den bewaffneten Kämpfen, vor allem um das Leuna-Werk und in Hamburg, fielen etwa 300 Menschen. Am 31. März war der erste rein kommunistische Aufstand in Deutschland durch Polizei und Reichswehr niedergeschlagen. Es gab hunderte von Verhaftungen und Zuchthausurteilen, Tausende verloren ihren Arbeitsplatz. Mehr als die Hälfte der Mitglieder verließen die VKPD, die auf 180.000 Parteigenossen schrumpfte. Die kommunistischen Hochburgen in Mitteldeutschland waren zerschlagen, der Graben zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten sowie Gewerkschaftlern tiefer als je zuvor.101 Marie-Luise Goldbach hat die Frage untersucht, ob Karl Radek bei dem überstürzten Aufstandsversuch seine Hand direkt oder indirekt im Spiel hatte.102 Sie stellt fest, dass die Komintern-Führung zwar seit Monaten auf eine Aktion in Deutschland hindrängte, aber wie auch die übrigen bolschewistischen Führer zu diesem Zeitpunkt bis zum Hals in innerrussischen Problemen und Kalamitäten steckte und von ihnen absorbiert wurde.103 Selbst der emsige Radek beklagte die Arbeitsüberlastung durch den „Frühjahrseisgang in Russland“, das heißt Lenins Kurswechsel und Kron98 Fehrenbach, Konstantin (1852–1926); Zentrumspolitiker und deutscher Reichskanzler 1920– 1921. 99 Simons, Walter (1861–1937); Reichsaußenminister im Kabinett Fehrenbach. 100 Levi, Paul: Zwischen Spartakus und Sozialdemokratie. Schriften, Aufsätze, Reden, Briefe, hrsg. von Charlotte Beradt, Frankfurt/ Main 1969, S. 38. Goldbach, S. 86, Anm. 86. 101 Goldbach, S. 85f. 102 Ebenda, S. 86–91. 103 Ebenda, S. 86f.

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stadt sowie den Parteitag.104 Zinov’ev, der in der Komintern-Spitze allein Bucharins Offensivtheorie anhing, schien überdies zu feige, um ohne die Rückendeckung Lenins einen Alleingang in Deutschland zu wagen. Auch die oben erwähnte Sitzung des EKKI am 22./23. Februar, an der Kun und Guralski vor ihrer Abreise teilnahmen sowie die Briefe Radeks zwischen dem 14. März und dem 7. April bieten keine Anhaltspunkte für einen Aufstandsplan. Ein Geheimauftrag an Kun, einen Umsturz um jeden Preis zu organisieren, ist jedenfalls nicht nachzuweisen. Angeblich war sogar vor seinem Eintreffen in Berlin von „Moskau“ dort ein Chiffretelegramm hinterlegt worden, „das nach Rußland zu senden sei, wenn er beginne Dummheiten zu machen“105. So ist wohl Radek Glauben zu schenken, der Curt Geyer versicherte, „das Präsidium der Komintern habe Béla Kun keine Instruktion zum Losschlagen gegeben, es habe nur seine Anwesenheit in Deutschland gewünscht für den Fall, daß kriegerische Verwicklungen an der Grenze des Reiches eintreten würden.“106 Er wollte damit sagen, dass er wegen der für den 20. März 1921 anberaumten Volksabstimmung in Oberschlesien über die Zugehörigkeit des von der Entente besetzten Landes zu Deutschland oder zu Polen mit bewaffneten Auseinandersetzungen rechnete. Noch ohne konkrete Informationen über den Zusammenbruch des mitteldeutschen Aufstandes, schrieb er am 1. April seinen Berliner Genossen: „Ich fürchte, daß ihr die Aktion um ein paar Wochen zu früh gemacht habt. Ich fürchte, daß ein taktischer Fehler vorliegt, daß ihr nicht abgewartet habt, bis es zu einem Konflikt zwischen Deutschland und Polen gekommen wäre.“107 Die Mission Kuns könnte demnach durchaus darin bestanden haben, einen kommunistischen Aufstand in Deutschland vorzubereiten, jedoch begrenzt auf den Fall „kriegerischer Verwicklungen“ mit Polen und mit dem Ziel einer Entlastungsoffensive für Sowjetrussland, wenn die Kämpfe in einen die Existenz der Bol’ševiki bedrohenden Krieg eskalieren würden. Ein Auftrag, der als ultima ratio den strategischen Vorstellungen Radeks, wie er sie wiederholt seit dem Vereinigungsparteitag und zuletzt im Brief vom 14. März an die deutsche Zentrale geäußert hatte, entsprochen hätte. Vorrangig ging es ihm in jenen Tagen jedoch um die völlige Ausschaltung Levis und entsprechend gab er seine Anweisungen nach Berlin. Es hat deshalb den Anschein, als hätten die Emissäre des EKKI in Berlin – zumindest bezogen auf den Zeitpunkt des Aufstandes – ohne konkrete Vollmachten gehandelt. Dafür spricht, dass Béla Kun, der die Revolte gezündet hatte, im Anschluss daran von Lenin selbst nach Moskau 104 Radek, Die Krise in der V.K.P.D., S. 4. und Radek, Soll die Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands…, S. 4. 105 Goldbach, S. 88, Anm. 96. 106 Geyer, S. 279. 107 Brief Radeks an die Zentrale der VKPD, 1. April 1921. Goldbach, S.  90, Anm. 111. Zu den von Radek antizipierten bewaffneten Auseinandersetzungen kam es im Mai 1921, als polnische Freischärler versuchten, das Ergebnis der Abstimmung (60 % der Oberschlesier hatten für den Verbleib beim Deutschen Reich optiert) mit Waffengewalt zu annullieren. Nachdem deutsche Freikorpskräfte den Polen am 21. Mai eine Niederlage zugefügt hatten, stellten Entente-Truppen am 27. Mai die Ruhe wieder her.

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zurückbeordert und sowohl unter vier Augen als auch vor der versammelten Exekutive als „Dummkopf“ und Phantast abgekanzelt wurde.108 Für Radek war die Märzaktion wohl „nichts anderes als ein Betriebsunfall beim Intrigenspiel der Parteiflügel“.109 Bereits eine Woche nach dem Ende des Aufstands wies er seine deutschen Genossen an, die Wiederaufnahme der Taktik des offenen Briefes in modifizierter Form als „Einheitsfront von unten“ zu erwägen Er schrieb an die VKPD-Zentrale: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß wir jetzt wieder in eine Periode eintreten, wo der Ausbau der Organisation (legal und illegal), […] die Weiterführung der Taktik des offenen Briefes vielleicht in geänderter Form (sich jetzt nicht mehr an die Parteileitungen und die Bürokratie sondern direkt an die gewerkschaftlichen Massen) ausschlaggebend sein wird.“110

Er fügte hinzu: Da „die Niederlage momentan das Minieren des Gegners erschwert“, wäre „das Gewinnen einer nicht offen kommunistischen Gruppe“ sympathisierender harmloser Gewerkschafter und USPD-Mitglieder und ihr Vorschieben für Zwecke der Einheitsfront „sehr nützlich“. Eine Niederlage mache immer „die Anwendung neuer Waffen und Methoden“ erforderlich. Die Grundsatzüberlegung sei die, „um den kommunistischen Kern sammeln wir jetzt leichter die Peripherie, wenn wir Zutreiber haben, die nicht offen als Kommunisten arbeiten.“111 Die gescheiterte Märzaktion brachte allerdings rascher als von Radek erwartet die Isolierung Paul Levis und dessen Parteiausschluss, wobei jener den Bestrebungen seines Widersachers in unerwarteter Weise entgegenkam. Levi, der nicht mehr der Parteiführung angehörte und deshalb ohne Einfluss auf die Ereignisse geblieben war, reagierte auf die fehlgeschlagene Märzaktion mit der Broschüre „Unser Weg. Wider den Putschismus“.112 Darin verurteilte er den Aufstandsversuch als ein völlig anarchisches Unternehmen – „der größte Bakunisten113-Putsch der bisherigen Geschichte“114 – und wies zugleich der Komintern-Exekutive die Mitverantwortung zu. Ohne Béla Kun und die anderen Emissäre namentlich zu erwähnen, schrieb er, von Westeuropa isoliert, versuche die Kommunistische Internationale, die Parteien im Westen durch ein „System der Vertrauensleute“ zu führen. Da „die besten Kräfte“ in Russland unabkömmlich seien, entsende man politisch und menschlich minderqualifizierte Genossen, von denen jeder einzelne zeigen will, wie er „die Sache schmeißt“ und sich profilieren möchte. „So wird Westeuropa und Deutschland zum Versuchsfeld für allerhand Staatsmänner

108 Goldbach, S. 96. 109 Ebenda, S. 91. 110 Brief Radeks an die Zentrale der VKPD, 7. April 1921. Möller, S. 179. 111 Ebenda. 112 Levi, Paul: Unser Weg. Wider den Putschismus (datiert 19. April 1921), Berlin 1921. 113 Bezugnahme auf den Revolutionär und führenden russischen Denker des Anarchismus im 19. Jahrhundert, Michail Aleksandrovič Bakunin (1814–1876). 114 Ebenda, S. 39.

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im Duodezformat […].“ 115 Levi führte diesen Führungsstil der Komintern indirekt ad absurdum, indem er seiner Broschüre einen früheren Artikel Radeks anfügte, worin die Einmischung Moskaus in die Angelegenheiten ausländischer kommunistischer Parteien als kontraproduktiv bewertet und glatt geleugnet wurde116: „Die kommunistische Politik ist keine Anwendung in Moskau erfundener und patentierter Grundsätze […]. Niemals hat die Kommunistische Partei Russlands, weder vor der Gründung der Kommunistischen Internationale noch nach ihr, irgendeinem Genossen Mandate gegeben, in ein bestimmtes Land zu gehen und dort zu bestimmter Zeit die Räterepublik auszurufen […]. Niemals bildete sich die Kommunistische Partei Russlands und die dann in ihren Händen liegende Exekutive der Kommunistischen Internationale ein, sie könne von Moskau aus die konkrete Politik der kommunistischen Parteien im Auslande […] bestimmen […]. Auch die Weltrevolution kann sich nur entwickeln als Bewegung, die vom Proletariat des Landes, nicht von ,Emissären‘ gemacht wird.“117

In der Realität verhielt es sich mit den Beziehungen zwischen dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale und den westeuropäischen Kommunisten allerdings nicht wie von Radek behauptet, sondern so, wie von Levi angeprangert und als schändlicher Effekt des Delegiertensystems verurteilt: „Das ist der direkte und geheime Verkehr dieser Delegierten mit der Moskauer Zentrale […]. Das ist ein System wie die geheime Feme. Sie arbeiten nie mit, immer hinter und häufig gegen die Zentrale des einzelnen Landes. Sie finden in Moskau Glauben, die anderen nicht. Das ist ein System, das alles Vertrauen zu gegenseitiger Arbeit auf beiden Seiten, bei der Exekutive, wie bei den angeschlossenen Parteien, untergraben muß. Zu einer politischen Leitung sind diese Genossen zumeist unverwendbar, auch zu wenig vertraut. So ergibt sich der trostlose Zustand: Eine politische Leitung vom Zentrum fehlt. Das einzige was die Exekutive nach dieser Richtung leistet, sind Aufrufe, die zu spät und Bannstrahlen, die zu früh kommen.“118

Die Vorwürfe Levis gipfelten in der Feststellung, die Exekutive wirke wie „eine über die russischen Grenzen hinaus projizierte Tschreswytschaika, ein unmöglicher Zustand“.119 115 Ebenda, S. 54. 116 Radek, Die Lehren eines Putschversuchs (Die Krise in der Deutsch-Österreichischen Kommunistischen Partei), Berlin 1921; Anhang zu Levi, Unser Weg – Wider den Putschismus, S. 58–64. Der Aufsatz kommentiert den im Keim erstickten kommunistischen Putschversuch vom 15. Juni 1919 in Wien, der von einem angeblichen „Bevollmächtigten der III. Internationale“ inszeniert wurde und bei dem es 20 Tote und 80 Verletzte gab; 100 Teilnehmer wurden verhaftet. 117 Ebenda, S. 59 und S. 61f. 118 Levi, a.a.O., S. 55. 119 Russisch: Črezvyčajka = die Außerordentliche; gemeint ist die Črezvyčajnaja komissija (Außerordentliche Kommission), d.h. die bolschewistische Geheimpolizei „Čeka“.

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Man brauche nicht eine „Parteipolizei“, sondern „politische Führung.“120 Die Quittung für Levis kritischen Vorstoß ließ nicht lange auf sich warten. Am 12. April hatte er seine Broschüre publiziert. „Wegen groben Vertrauensbruchs und schwerer Parteischädigung“ wurde er am 15. April aus der VKPD ausgeschlossen.121 Radek seinerseits wusste noch nichts von der aktuellen Entwicklung im Fall Levi und dessen „Beichte“, als er am 18. April 1921 eine den „Streitfragen in der V.K.P.D.“ gewidmete Broschüre abschloss, in der er auf fast 90 Seiten darlegte, die Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands dürfe keinesfalls eine „zentristische Partei des Wartens“ sein. Sie müsse eine „Massenpartei der revolutionären Aktion“ werden.122 Hatte er Levi in dieser Arbeit noch als einen „Vertreter der rechten Richtung in der Partei“123 behandelt, so änderte er die Tonart abrupt, als er von dessen Flucht an die Öffentlichkeit erfuhr. Er nannte ihn nun einen „direkten Verräter der Arbeiterklasse“124 und verfasste einen Schmäh- und Hetzartikel gegen ihn. Der ursprüngliche Titel dieses „übelsten Pamphlets, das je aus Radekscher Feder floß“ lautete „Der Renegat Levi“. Nachdem Lenin, der Levi schätzte und ihn der Partei erhalten wollte, die Publikation anfangs verhindert hatte, gelangte der Artikel mit dem sachlicheren Titel „Der Fall Levi“ ins Organ des EKKI, „Die Kommunistische Internationale“, und erschien dann als auf den 1. Mai 1921 datiertes „Nachwort“ zur Broschüre Radeks über die VKPD.125 Grünes Licht für die Veröffentlichung wurde offenbar während der Sitzung des EKKI am 29. April 1921 gegeben, an der Lenin, Trockij, Zinov’ev und Bucharin teilnahmen und zusammen mit Radek als Vertreter Sowjetrusslands die Stellungnahme der Komintern zum Parteiausschluss von Paul Levi unterzeichneten: „Nachdem das EKKI Paul Levis Pamphlet Unser Weg wider den Putschismus zur Kenntnis genommen hat, bestätigt es die Entscheidung Paul Levi aus der Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands und folglich auch aus der Dritten Internationale auszuschließen. Selbst wenn Paul Levi mit neun Zehnteln seiner Vorwürfe zur Märzaktion recht hätte, müßte er aus der Partei wegen seiner beispiellosen Verletzung der Disziplin und weil er der Partei unter den obwaltenden Umständen einen Schlag in den Rücken versetzt hat, ausgestoßen werden.“126

120 Ebenda, S. 56f. 121 „Die Rote Fahne“, Nr. 168, 16. April 1921. Goldbach, S. 91. 122 Radek, Soll die Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands eine Massenpartei der revolutionären Aktion oder eine zentristische Partei des Wartens sein? [datiert 18. April 1921]. Mit einem Nachwort des Verfassers [datiert 1. Mai 1921], Hamburg 1921. 123 Ebenda, S. 89. 124 Ebenda, S. 92. 125 Radek, Der Fall Levi, in: „Die Kommunistische Internationale“, Nr. 17, 1921; dann erschienen als „Nachwort“ in: Radek, Soll die V.K.P.D. …, 2. Aufl. 1921, S. 89–119. Goldbach S. 92. 126 Degras, The Communist International, S. 219f. Rückübersetzung aus dem Amerikanischen durch den Verfasser.

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Fußend auf der Resolution des X. Parteitags der RKP(b) zur Parteidisziplin, sprachen die Sowjetführer Levi das Recht zur öffentlichen Kritik von Parteiangelegenheiten ab. Radek ging in seinem Pamphlet gegen Levi allerdings noch weiter und steigerte den Angriff gegen seinen einstigen Kampfgefährten ins persönliche: „Seine Teilnahme an der Leitung der Partei war niemals eine beträchtliche. Der feinfühlige Aesthet, der während der Revolution Zeit und geistige Energie fand, alte Vasen zu sammeln und, sich mit den Problemen der Pyramide Cheobs zu beschäftigen, war gelangweilt wenn es sich darum handelte, tagtäglich an der groben Arbeit in der Parteischmiede teilzunehmen. Dafür aber brachte er in die Zentrale den Geist der Rechthaberei, der Eigenliebe, der ununterbrochenen Gereiztheit hinein […]. [Er] sabotierte […] die Ausnutzung der Brücke, die die Exekutive zwischen der V.K.P.D. und der K.AP.D. gebaut hatte. Und in der italienischen Frage zeigte er, daß er sich auch die Brücke, die er nach links abbrechen wollte, nach rechts zu den Zentrumsleuten [Zentristen] bereithalten wollte.“127

Vor allem, so Radek, erfülle Levi „der Geist des Mißtrauens zur Internationale“.128 Unmittelbar auf die Preisgabe von Parteiinterna durch Levi eingehend und die Märzniederlage im Blick, machte Radek dann einen Exkurs über „die Freiheit der Kritik in der Kommunistischen Partei“. Die Kritik in der Partei diene dazu, „um sich vor dem Kampfe über die Lage zu orientieren, die Kampfmittel zu wählen, oder um nach einer Kampagne […] die gemachten Fehler einzusehen, um sie für die Zukunft zu vermeiden […].“ Allerdings gelte es dabei „drei Bedingungen“ zu beachten, an die die „Freiheit der Kritik in der Kommunistischen Partei“ geknüpft sei: ihren Inhalt, ihren Zeitpunkt und ihre Grenzen: „Unsere Kritik ist […] an die Voraussetzung gebunden, daß man die Grundsätze des Kommunismus anerkennt. Es ist klar, daß wenn jemand plötzlich Zweifel darüber bekommen würde, ob die Demokratie nicht ein besserer Weg zum Sozialismus sei als die Diktatur, oder ob man nicht den Bürgerkrieg vermeiden sollte, eine solche Kritik nichts in der Kommunistischen Partei zu suchen hat. Wer solche Zweifel hat, der möge sich in seinem Kämmerlein mit ihnen auseinandersetzen, und hat er sie nicht überwunden, dann soll er aus der Kommunistischen Partei austreten, denn diese ist eine Gemeinschaft von Menschen, die um die Diktatur des Proletariats kämpfen mit den Mitteln des Bürgerkriegs.“129

Levis Kritik bewege sich nicht im Rahmen dieser Grundsätze. Hinsichtlich seiner revolutionären Handlungsschwäche und Kritik an der Märzaktion bilde sie

127 Radek, Nachwort in: Soll die V.K.P.D. …, S. 105f. 128 Ebenda, S. 106. 129 Ebenda, S. 114.

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„[…] eine Kritik vom Standpunkt des Gegners, vom Standpunkt der zentristischen Auffassungen. Die ganze These Levis läuft […] darauf hinaus, daß die Kommunistische Partei, bevor sie nicht die Mehrheit der Arbeiter hinter sich hat, überhaupt keine revolutionären Aktionen beginnen kann, da sonst diese Aktionen einen Kampf gegen die Mehrheit des Proletariats darstellten. Dies ist der Standpunkt mit dem das Zentrum seine passive Politik verteidigt hat. Diesen Standpunkt hat die Kommunistische Internationale theoretisch wie praktisch abgelehnt. Darum ist die Broschüre Levis ein prinzipieller Verstoß gegen die Grundsätze der Kommunistischen Internationale.“130

Der Grundsatz, dass Kritik nicht dem Gegner, sondern der Kommunistischen Partei dienen müsse, werde von Levi missachtet. Unter Rückgriff auf die Stellungnahme der Komintern kommt Radek zu dem Schluss, selbst wenn neun Zehntel der Vorwürfe Levis richtig wären, bedeute seine Broschüre im Moment des Rückzuges der VKPD nach der Märzniederlage „glatten Verrat an der Partei“.131 Auch als drei Monate später der III. Weltkongress der Komintern analog zur Kommunistischen Partei Russlands eine Resolution zur Parteidisziplin als Grundprinzip verabschiedete, war der Weg zu einer Rehabilitierung des zurückgetretenen deutschen KP-Führers noch nicht endgültig verstellt. Er hatte in Lenin einen mächtigen Fürsprecher gefunden, der eingestand, Levi hätte mit seiner Kritik an der Märzaktion „in vielem dem Wesen der Sache nach recht“.132 Er stellte ihm durch Clara Zetkin unter bestimmten Bedingungen „Begnadigung in Aussicht“, oder wie Levi es formulierte: „Sechs Monate Buße und bei guter Führung [-] Lobpreisung des bolschewistischen Allwesens [-] die Aussicht auf einen Leninschen Ablaß.“133 Erst als Levi sich weigerte einen Canossagang ins moskowitische „Mekka“ anzutreten, meinte Lenin, man solle ihn vergessen und ihm nicht helfen, indem man durch Polemik gegen ihn, für ihn Reklame mache. Der Vorwurf bezog sich auf Karl Radek, der in der „Roten Fahne“ noch immer kräftig gegen Levi vom Leder zog und zur Verärgerung Lenins auch Clara Zetkin in seine Attacken einschloss.134 Dies erfolge „ohne jede Notwendigkeit und zum direkten Schaden der Sache“, kritisierte Lenin den unsachlichen Angriff gegen Rosa Luxemburgs einstige Kampfgefährtin: „Gen[osse] K. Radek ist in 130 Ebenda, S. 115 131 Ebenda, S. 115f. 132 Lenin, Brief an die deutschen Kommunisten vom 14. August 1921, in: Lenin, Werke, Band 32, S. 541. 133 Brief Paul Levis an Rosa Luxemburgs ehemalige Sekretärin Mathilde Jacob vom 5. August 1921. Beradt, S. 57. Dementsprechend hat sich Lenin auch gegenüber Zinov’ev geäußert: „Man muß den Ausschluß [Levis] befristen, meinetwegen auf ein halbes Jahr. Dann gestattet man ihm wieder, um Aufnahme in die Partei zu bitten, und die Kommunistische Internationale empfiehlt, ihn aufzunehmen, wenn er sich im Laufe dieser Frist loyal verhält.“ Brief Lenins an Zinov’ev, 10. Juni 1921. Lenin, Werke, Ergänzungsband 2, S. 330. 134 Radek: „Der III. Weltkongreß über die Märzaktion und die weitere Taktik“, „Die Rote Fahne“, 14. und 15. Juli 1921.

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seinem unangebrachten polemischen Übereifer so weit gegangen, daß er die direkte Unwahrheit sagt.“ Er erweise „mit solchen Methoden Paul Levi einen Dienst“, der den Streit endlos hinziehen wolle und habe „mit seinem Artikel ein ausgezeichnetes Beispiel dafür geliefert, wie man ,von links‘ Paul Levi hilft.“135 Weitaus größere Probleme als die Entfernung Levis aus der deutschen Parteiführung bereitete Moskau die politische Wertung der Märzaktion. In einer ersten Stellungnahme vom 29. April 1921 versicherte die Komintern-Exekutive der VKPD: „Ihr habt richtig gehandelt! Die Arbeiterklasse kann den Sieg [jedoch] nicht mit einem einzigen Schlag erreichen. Ihr habt [dennoch] eine neue Seite in der Geschichte der deutschen Arbeiterklasse aufgeschlagen. Bereitet euch auf neue Kämpfe vor […].“136 Lenins Kurswechsel in Sowjetrussland, verbunden mit der Abkehr von der Theorie der revolutionären Offensive, veranlasste aber rasch eine andere Beurteilung dieses kommunistischen Putschversuchs. Radek voran wurde die Verantwortung der Komintern für die Aktion bestritten. Sie wurde in dem Sinne verurteilt, dass sie falsch geführt worden sei und in eine Verteidigungsaktion umgelogen.137 Bereits Mitte Mai 1921 hatte Radek behauptet, es habe es sich um eine „aktive Defensive“ gehandelt und prägte damit den Begriff der für den Umsturzversuch parteioffiziell werden sollte.138 Auf dem III. Weltkongress der Kommunistischen Internationale vom 22. Juni bis 12. Juli 1921 in Moskau stand das deutsche Geschehen im Zentrum der Diskussionen. Die wesentliche Aufgabe des Kongresses war es, die Konsequenzen aus der Neuen Ökonomischen Politik in Sowjetrussland und der Märzniederlage in Deutschland für die künftige Taktik der Komintern zu ziehen. Radek trug die Hauptlast der Kongressvorbereitungen. Er beschaffte das Material für Trockijs Referat über die Weltlage, in dem dieser aus der Beschreibung der internationalen Situation ableitete, die Weltrevolution sei nicht mehr eine Frage von Monaten, sondern „eine Frage von Jahren“ und schrieb gemeinsam mit Kuusinen139 die Entwürfe für die Resolutionen.140 Er erzählt, „die unmittelbaren Mitarbeiter der Komintern“, er eingeschlossen, hätten vorgehabt, „der deutschen Brüderpartei die aus ihrer Niederlage entstehenden Lehren in möglichst schonender Form beizubringen“, das heißt,

135 Lenin, Brief an die deutschen Kommunisten vom 14. August 1921. Lenin, Werke, Band 32, S. 540f. 136 Degras, The Communist International, S. 218. Rückübersetzung aus dem Amerikanischen durch den Verfasser. 137 Löwenthal, S. 10. 138 Radek, Die Krisis in der deutschen Kommunistischen Partei. – Die internationale Bedeutung der deutschen Ereignisse (datiert Moskau, 17. Mai 1921), in: Die Internationale. Eine Zeitschrift für Theorie und Praxis des Marxismus, Nr. 7, 1921, S. 236–238. Goldbach, S. 93. 139 Kuusinen, Otto Vil’gelmovič (1881–1964); finnischer Kommunist, der Sowjetbürger wurde; 1921–1939 Sekretär des EKKI; später in höchsten Parteifunktionen; 1957–1964 Sekretär des CK der KPdSU(B). 140 Brief Radeks vom 7. April 1921. Goldbach, S. 99f.

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das Versagen der VKPD-Führung nach Möglichkeit vor dem Kongress zu verschleiern. Aber Lenin habe sich quergelegt: „Lenin zwang uns fünfmal unsere Thesen umzuarbeiten. Er zwang uns, in der entschiedensten und brutalsten Form, den deutschen Kommunisten und den Kommunisten aller Länder zu sagen: ,Gewinnt erst die Mehrheit des Proletariats für euch und dann könnt ihr euch die Frage der Machteroberung stellen […].‘“141

Diese lakonische Feststellung trifft genau den Sachverhalt, der Lenin zur Intervention veranlasste. Radek war dazu ausersehen, an Stelle Zinov’evs auf dem Kongress das entscheidende Hauptreferat über die Taktik der Kommunistischen Internationale zu halten und die Kommission zu leiten, die die Thesen über die Taktik der Komintern ausarbeiten und dem Auditorium als Resolution zur Abstimmung vorlegen sollte. Am 1. Juni schickte er seinen Resolutionsentwurf, versehen mit von Thalheimer und Kun vorgeschlagenen Änderungen, an Lenin. Deren Thesenentwurf über die Taktik und Organisation der revolutionären Offensive hatte er beigefügt. Lenin reagierte darauf am 10. Juni mit einem Brief an Zinov’ev, in dem er das Papier Thalheimers und Kuns, mit dem die Märzaktion legitimiert werden sollte, als „politisch grundfalsch“ kritisierte: „Phrasen und linksradikale Spielerei.“ Insbesondere Thalheimer – „der Teufel soll ihn holen“ – müßte man dafür „mit Ruten prügeln.“ Aber auch Radek habe durch seine „eilfertige Nachgiebigkeit“ gegenüber den beiden seine Thesen, die ohnehin „übermäßig lang, verschwommen, ohne politischen Angelpunkt“ gewesen seien, „noch mehr verwässert“ und „ganz und gar verdorben“. Er schwanke und habe durch seine Zugeständnisse den Entwurf völlig „verballhornt“. Typisch sei, dass er die ursprüngliche Formulierung „Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse (für die Prinzipien des Kommunismus)“ korrigiert habe in „Eroberung der sozial entscheidenden Teile der Arbeiterklasse.“ Damit es nicht „zu einem offenen Kampf auf dem Kongreß kommt“, solle Zinov’ev sicherstellen, dass das EKKI noch zuvor Thalheimers und Kuns Thesen zur Märzaktion „als von Grund aus falsch“ ablehnt. Als Grundlage der Taktik-Resolution solle dann Radeks ursprünglicher, unkorrigierter Entwurf herangezogen werden, allerdings auf ein Viertel gekürzt und fokussiert auf folgende Kerngedanken: „Die Mehrheit (der Arbeiterklasse) haben die kommunistischen Parteien noch nirgends erobert: nicht für die organisatorische Führung, aber auch nicht für die Prinzipien des Kommunismus. Das ist die Grundlage des Ganzen. Dieses Fundament der einzig vernünftigen Taktik ,abzuschwächen‘ ist verbrecherischer Leichtsinn. Daraus ergibt sich: Revolutionäre Ausbrüche sind nichtsdestoweniger angesichts der Fülle von Zündstoff in Europa sehr bald möglich; möglich ist – im Ausnahmefall – auch ein leichter Sieg der Arbeiterklasse. Aber die Taktik der Kommunistischen Internationale jetzt auf dieser Möglichkeit aufzubauen ist unsinnig; unsinnig und schädlich ist es zu 141 Radek, Lenin, S. 29. Goldbach, S. 97.

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schreiben und anzunehmen, die Periode der Propaganda sei vorbei, begonnen habe die Periode der Aktionen. Die Kommunistische Internationale muß die Taktik auf folgendem aufbauen: Man muß unentwegt und systematisch um die Mehrheit der Arbeiterklasse, in erster Linie innerhalb der alten Gewerkschaften, ringen […]. Daraus ergibt sich: Die Taktik des ,Offenen Briefes‘ hat überall als verbindlich zu gelten […]. Alle, die nicht verstanden haben, daß diese Taktik des ,Offenen Briefes‘ verbindlich ist, sind spätestens einen Monat nach dem III. Kongreß der Kommunistischen Internationale aus der Kommunistischen Internationale auszuschließen […]. Statt seine Gedanken umherschweifen zu lassen, wie Radek es tut, ist es besser den gesamten Text des ,Offenen Briefes‘ zu übersetzen […] und den Brief als Vorbild und seine Bedeutung genauestens zu erläutern.“142

Trotz Lenins herber Kritik sollte sich die Gewichtsverteilung im Stab der Komintern auf dem III. Weltkongress sehr augenfällig zugunsten Radeks verschieben. Zinov’ev, der Präsident der Komintern und sein Stellvertreter Bucharin hatten sich als „Offensivtheoretiker“ noch bis in die Kongresstage hinein gegen Radeks von Lenin akzeptierte Taktik des „Offenen Briefs“ gesträubt und dadurch bei Lenin an Einfluss verloren. Radek hingegen, als der Schöpfer der neuen Kominternstrategie, hatte eine Schlüsselstellung errungen. Er war auf dem Kongress der meistbeschäftigste Debattenredner und mit Abstand der agilste und schlagfertigste Zwischenrufer zu fast allen Themen143. Er hatte sich allerdings Zinov’ev zum Feind gemacht. Dieser konnte Radek nicht verzeihen, dass er gegen seinen Widerstand und mit Hilfe Lenins und Trockijs die Bestätigung der Politik der Einheitsfront erreicht hatte und wartete auf die Gelegenheit, mit ihm abzurechnen.144 Im großen Thronsaal des Zarenpalastes im Kreml’, zwischen den hohen goldgeschmückten Säulen und unter einem Baldachin aus scharlachrotem Samt, der die sowjetischen Staatszeichen trug, eröffnete Radek am Nachmittag des 30. Juni 1921 mit seinem Referat die Debatte des Weltkongresses zur Taktik der Kommunistischen Internationale.145 Seine Kritik an der Märzaktion enthielt bereits die von Lenin vorgegebenen Hauptpunkte, die in die offiziellen Thesen des Kongresses Eingang finden sollten: Die Notwendigkeit, vor jeder Revolution zunächst die Massen zu erobern – wörtlich: „Genossen, die Hauptaufgabe vor der wir noch stehen, ist die Eroberung der großen Masse des Proletariats für die Ideen des Kommunismus“ –, sowie das Erfordernis einer besseren Parteiorganisation und -disziplin. Er verkündete das Dogma, der Aufstand sei eine Defensivaktion gewesen, bedeutete aber trotz seines Fehlschlagens „einen Schritt vorwärts“. Sorgfältig verbarg er, dass er viele Argumente Levis 142 Lenin: Bemerkung zu den Entwürfen der Thesen über Taktik für den III. Kongreß der Kommunistischen Internationale. Brief an G. Sinowjew [Zinov’ev] vom 10. Juni 1921. Lenin, Werke, Ergänzungsband 2, S. 326ff. 143 Goldbach, S. 99f. 144 Vatlin, S. 16. 145 Radek, „Der Weg der Kommunistischen Internationale“, Referat über die Taktik der Kommunistischen Internationale – gehalten auf dem III. Weltkongreß – Moskau Juli 1921, Hamburg 1921.

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übernommen hatte. So etwa die von ihm noch kurz zuvor zurückgewiesene These, dass eine revolutionäre Aktion erst dann erfolgen dürfe, wenn die Kommunisten die Mehrheit der Arbeiterschaft hinter sich gesammelt hätten. Auch ließ er unerwähnt, dass ohne das Drängen der Exekutive nach stärkerer Aktivität, das seinen Höhepunkt mit der Entsendung Kuns nach Deutschland gefunden hatte, der Putschversuch niemals stattgefunden hätte. Unverkennbar war, dass Radeks Ausführungen eine Aufforderung zum strategischen Rückzug an der revolutionären Front bedeuteten. Da der Niedergang des Kapitalismus unumgänglich sei, so führte er aus, stehe der Kommunismus vor großen Kämpfen. Allerdings verlaufe die Entwicklung nicht geradlinig und auch die Revolution erlebe Schwankungen, habe Höhe- und Tiefpunkte. Wenn die Kommunisten kämpfen und siegen wollten, müssten sie sich auf den Kampf vorbereiten. Zwar könnten organisatorische Vorbereitungen, Agitation und Propaganda revolutionäres Handeln nicht ersetzen, jedoch lägen die Aktionen noch in der Zukunft und bis dahin müssten die Kommunisten die Glocke sein, die die Lebenden zur Schlacht rufe. Das Losungswort des Weltkommunismus müsse lauten: „In erster Linie an die Massen heran, mit allen Mitteln.“ Die Kommunisten müssten die Massen durch Propaganda und Agitation aktiv auf die kommenden Kämpfe vorbereiten und vor allem lernen, eine elastische Politik zu führen146: „Die Vorbereitungsarbeit ist der Epoche der Agitation nicht gegenübergestellt. Wer da sagt wir wollen warten und wie bisher Propaganda und Agitation treiben, dem sagen wir: ,Wartet nicht: wenn ihr morgen große Aktionen führten könnt, desto besser.‘ Die Passivität ist der größte Feind der Organisation, aber der Gegensatz der Passivität ist nicht die Offensive, der Gegensatz zu ihr ist der Kampf in jeder Situation mit den Mitteln, die diese erfordert. Kampf ist revolutionäre Propaganda, Kampf sind illegale Organisationen, Kampf die militärische Schulung des Proletariats, Parteischule, Demonstrationen, Aufstand. In jeder Situation das möglichste herauszuholen, das muß unsere Parole sein.“147

„Unsere taktische Linie“, so Radek, bleibt „auf die Weltrevolution eingestellt“, jedoch sehe die Komintern jetzt „den Weg zur Weltrevolution in der Eroberung der großen Massen.“ Die Frage mit welchem methodischen Ansatz das zu geschehen habe, beantwortete er mit dem ausdrücklichen Hinweis auf das Beispiel des „Offenen Briefes“ der VKPD. Er rief die Kommunisten weltweit dazu auf, mit den Gewerkschaften und den sozialdemokratischen Parteien als den traditionellen Arbeiterorganisationen eine gemeinsame Front im Kampf gegen den Kapitalismus zu bilden. Er schloss mit den Worten: „Wir stehen vor einem historischen Wendepunkt und es gibt keine Kraft – wenigstens sieht man sie nicht – die den Kapitalismus retten könnte. Wir wollen seinen Tod beschleunigen, und das kann nur geschehen, wenn wir die großen Massen geeinigt unter 146 Ebenda, S. 7–66 und Angress, S. 220f. 147 Radek, „Der Weg der Kommunistischen Internationale“, S. 63f.

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das Banner des Kommunismus bringen. Wir sind nur die Wecker, die Organisatoren; zu Grabe wird ihn das Proletariat tragen, das Proletariat, das auch der große Hammer sein wird, der den Nagel in seinen Sarg hineinschlägt.“148

Trotz solcher rhetorischer Paukenschläge, bildete sein Referat ein eindringliches Plädoyer für eine realistische Beurteilung der Situation und eine illusionslose, nüchterne Parteiarbeit, die sich am Vorbild des „Offenen Briefes“ orientieren sollte: „Fordert nicht vom heutigen Tage, was erst der morgige leisten kann, sondern leistet die Arbeit des heutigen Tages.“ Diese Mahnung zog sich wie ein roter Faden durch alle seine Ausführungen.149 Als Lenin auf dem Kongress gegen die Offensivtheorie argumentierte, spielte ihm Radek den Ball zu: Lenin:

„Haben wir etwa in unseren Thesen eine Theorie der revolutionären Offensive entwickelt? Hat etwa Radek oder ein anderer von uns eine solche Dummheit begangen? […] Haben wir denn eine Offensive vorbereitet?“ Zwischenruf Radeks: „Wir haben nicht einmal eine Defensive vorbereitet.“ Lenin: „Jawohl, von Offensive war nur in Zeitungsartikeln die Rede. Diese Theorie, angewandt auf die Märzaktion in Deutschland 1921 war falsch.“150

Radek war der Hauptakteur vor dem internationalen Plenum des Kongresses und diese Rolle war ihm wie auf den Leib geschnitten.151 Lenin, der Regisseur des ganzen, signalisierte seine Zufriedenheit mit ihm. Er lobte Radek vor dem Auditorium und hob hervor, dass dieser gemeinsam mit ihm die Thesen über die Taktik der Kommunistischen Internationale ausgearbeitet habe.152 Radek wiederum saß während einer Rede Lenins in deutscher Sprache mit von der Bühne herabbaumelnden Beinen zu Füßen seines Meisters, warf ihm gelegentlich eine deutsche Vokabel zu und traktierte Genossen mit Schimpf und Spott. Zum Ende des Kongresses wurde er gemeinsam mit Lenin, Trockij, Zinov’ev und Bucharin, als Mitglied mit beschließender Stimme für Sowjetrussland ins EKKI gewählt. Trotz seiner Bedenken wählte ihn das EKKI nach dem Kongress zum Mitglied des Kleinen Büros (ab September Präsidium des EKKI), des eigentlichen Führungsstabs der Komintern.153 Auch wurde er Mitglied 148 Ebenda, S. 66f. 149 Protokoll III. Weltkongreß, 1921, S. 482. Goldbach, S. 98f. 150 Ebenda, S. 495f. 151 Goldbach, S. 99. 152 Lenin: „Rede zur Verteidigung der Taktik der Kommunistischen Internationale“ vom 1. Juli 1921; in: Lenin, Werke, Band 32, S. 496 und S. 499. 153 Die weiteren Mitglieder waren: Zinov’ev (Vorsitzender), Bucharin, Gennari (Italien), Heckert (Deutschland), Kun (Ungarn), Souvarine (Frankreich). Schumacher, S. 266f. Radeks Bedenken bezogen sich auf die Bedingung, wonach alle Mitglieder des Kleinen Büros dem EKKI angehören mussten. Er argumentierte, Elastizität sei insbesondere in der illegalen Arbeit notwendig und die

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des Redaktionsstabs der neugeschaffenen Komintern-Zeitschrift „Internationale Pressekorrespondenz für Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung (Inprekorr)“.154 In Gesprächen mit ausländischen Delegierten während des III. Komintern-Kongresses waren Lenin die in Moskau bestehenden Informationsdefizite über aktuelle Vorgänge in der internationalen Arbeiterbewegung deutlich geworden. Möglicherweise inspiriert durch Radek, sann er auf Abhilfe. Einen Monat nach dem Kongress beauftragte er Zinov’ev, gestützt auf Radek, für die Einrichtung eines Informationsbüros im Ausland zu sorgen, das westliche Zeitungen und Bücher beschaffen und systematisch zu Themen des internationalen Imperialismus und der Arbeiterbewegung auswerten sollte. Er schrieb dem Chef der Komintern, man müsste das Büro legal als Firma – „eine Art Zeitungskorrespondenz“ – in Deutschland unter der Leitung eines Nichtkommunisten organisieren und drei Deutsche finden, die Englisch, Französisch, Italienisch und Tschechisch beherrschen. Radek hätte dafür wohl schon jemanden im Auge. „Als Mitarbeiter dieses Büros (und als publizistische Berater) könnten wir wahrscheinlich (über Radek und mit Radeks Hilfe) 2–3 Dutzend Kommunisten finden, die in allen Ländern der Erde journalistisch tätig sind.“ Deren Aufgabe sei es, laufend kurz gefasste Inhaltsangaben relevanter Zeitungsartikel und Bücher zu liefern. Ferner solle das Büro „eine Zusammenstellung der wichtigsten Zeitungsmeldungen und die Sammlung von Zeitungsausschnitten vornehmen“ und die erarbeiteten Materialien in Form von Bulletins herausgeben. Vor allem mit Hilfe von Radek sollten die Themenkomplexe für die Arbeit des Büros festgelegt werden; beispielsweise: Schattierungen und Streitfragen innerhalb des Kommunismus, in linksradikalen Gruppierungen und in den Gewerkschaften; Wahlergebnisse, um Aufschluss über die Stärke der verschiedenen Richtungen innerhalb der Arbeiterbewegung zu erhalten; Berichte über bedeutende Streiks und „Vorfälle“, wie Demonstrationen, Aktionen, Kundgebungen. „Uns wird das ganze Material unmittelbar für die Volksbildung und für die Agitation und die Propaganda zugute kommen“, unterstrich Lenin und fuhr fort: „Ohne dieses Büro haben wir weder Augen noch Ohren, noch Hände, um an der internationalen Bewegung teilzunehmen – und wir tun das sporadisch, weil wir (was die Information anbelangt) davon abhängig sind, wer in der Nähe, wer gerade etwas gelesen hat, zufällig vorbeigekommen ist, zufällig etwas erzählt hat usw.“

Er schlug vor, eine kleine Kommission – bestehend aus Radek und Trockij – zu bilden, die sich weiter mit der Angelegenheit befassen sollte. Lenins Anregung wurde vom Politbüro akzeptiert und im Präsidium des EKKI besprochen. Ein EntwurfsArbeit des Büros könnte beeinträchtigt werden, wenn Mitglieder im Auslandseinsatz unterwegs seien, wobei er vermutlich auch an künftige eigene Missionen in Deutschland dachte. Degras, The Communist International, S. 271f. 154 „Inprekorr“ erschien ab 1921 mit ihrer deutschen Ausgabe dreimal sowie in französischer und englischer Sprache zweimal wöchentlich. Degras, The Communist International, S. 272.

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papier über „Die Organisierung der Information im EKKI“ ging an Lenin und dann hin und her, um dann – bedingt durch den Rückzug des Sowjetführers von den Alltagsgeschäften wegen seines sich verschlechternden Gesundheitszustands – in der Politbürokratie zu versanden.155 Im Hinblick auf die von Lenin angeschnittenen Themen, verfügte Radek damit im Kreml’ weiterhin über das Informationsmonopol. Er verkörperte gewissermaßen ein Informationsbüro als Ein-Mann-Unternehmen. Besucher in jenen Tagen fanden seine Wohnung „stets vollgestopft mit Büchern und Zeitschriften, die überall auf Betten, Tischen und Stühlen herumlagen, sodaß man sich kaum bewegen konnte.“ Sie waren überwältigt von der „Menge fast ausschließlich ausländischer, kapitalistischer, bürgerlicher Bücher und Zeitungen“ die sie vorfanden, dazu nahezu alle wichtigen europäischen und amerikanischen Zeitschriften. „Sicher hatte Radek die meisten davon gelesen“, schreibt Gustav Hilger. Ein Urteil, das der Journalist George Popoff nachdrücklich bestätigt hat: „Radek liest sie alle. Er ist über alles informiert und erinnert sich an alles, was er gelesen hat.156 Schon kurze Zeit nach der Märzniederlage hatte Radek damit begonnen, die VKPD auf das stark verlangsamte Tempo der Weltrevolution und auf die Notwendigkeit einer Atempause für Sowjetrussland umzustellen. „Die Parole ist folgende“, betonte er auf dem III. Weltkongress: „Zeitgewinnung zur Organisierung des Sieges“.157 Im Hinblick auf die Ausgestaltung der Einheitsfronttaktik interpretierte er die Beschlüsse des Kongresses in einem Brief an die Delegierten des Parteitages der VKPD in Jena (22.–26. August 1921).158 Er sagte seinen Genossen, Deutschland sei zum Versuchsfeld der neuen Kominternstrategie auserkoren worden: „Die V.K.P.D. ist die erste große kommunistische Partei, die außerhalb Rußlands in einer außerordentlich schwierigen Situation die Massen zu sammeln sucht für den Kampf um ihre Befreiung.“ Er führte aus, in dem (von ihm verfassten) Manifest des Gründungsparteitags habe die Kommunistische Partei sich die Aufgabe gestellt, „nicht nur zu agitieren und zu propagieren, sondern alles zu tun, um sich […] an die Spitze von Massenaktionen zu stellen oder selbständig, wo es die Lage erfordert oder erlaubt, Aktionen der proletarischen Massen auszulösen.“ Die Voraussetzung dieser Aktionen sei aber „die Sammlung der Arbeitermassen, die Eroberung ihrer Teile durch die kommunistische Agitation und Propaganda, Organisation und durch Teilaktionen, die die Partei führt; wie es die Geschichte erfordert, offensiv oder defensiv.“159 Die außen- und innenpolitische Situation der Weimarer Republik biete der Partei derzeit genügend Angriffsflächen, um die Massen in Bewegung zu bringen. „Die ausschlaggebende Tatsache für die politische und 155 Lenin, Brief an G. Sinowjew [Zinov’ev] und Auftrag für den Sekretär vom 16. August 1921. Lenin, Werke, Ergänzungsband 2, S. 342–345. 156 Hilger, S. 79 und Popoff, S.165f. 157 Protokoll III. Weltkongreß, 1921. Möller, S. 196. 158 Radek, Brief an den Parteitag der VKPD in Jena, August 1921; publiziert als Broschüre: Radek, Die innere und äußere Lage Deutschlands und die nächsten Aufgaben der V.K.P.D. Offener Brief an den 2. Parteitag der V.K.P.D., Hamburg 1921. 159 Radek, Die innere und äußere Lage Deutschlands …, S. 16ff. und S. 30.

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wirtschaftliche innere Lage Deutschlands“, so Radek, „ist die Kapitulation der deutschen Bourgeoisie vor der Entente“ durch die Unterzeichnung des Versailler Vertrages und die Annahme des sogenannten „Mai-Ultimatums“, in dem die Londoner Konferenz der Alliierten am 5. Mai 1921 gedroht hatte, das Ruhrgebiet zu besetzen, wenn das Deutsche Reich nicht innerhalb von vier Tagen eine Milliarde Goldmark Reparationsschulden bezahlen würde. „Die deutsche Bourgeoisie hat es vorgezogen als Hund zu leben, denn als Held zu sterben“ und „sich verpflichtet, ungeheure Tribute zu zahlen […] auf Kosten der immer mehr ausgemergelten, ausgebeuteten und ausgeplünderten Volksmassen.“ Das Kabinett Wirth160 werde als „eine Regierung der Restauration des deutschen Kapitals“ der Bevölkerung neue drastische Steuerlasten aufbürden, um die Mittel für die Erfüllung des Ultimatums aufzubringen.161 Er urteilte: „Wie die äußere Lage Deutschlands den Versuch des Baues eines Hauses auf einem Sumpf darstellt, so mangelt es der inneren Lage an jeder Stabilität […]. Die Zeichen stehen auf Sturm.“162 Dennoch, so Radek, zeige die gescheiterte Märzaktion, dass die VKPD „nicht voll und nicht ganz das Wesen der von ihr eingeschlagenen Taktik des ,Offenen Briefes‘ verstanden“ hätte. Zwar habe sich der III. Weltkongress der Kommunistischen Internationale hinter die Aktion gestellt und sie „einen Schritt vorwärts“ genannt, da „die Märzkämpfe in den kampfeslustigsten Teilen des Proletariats das Vertrauen zur Partei gestärkt“ hätten. „Aber gleichzeitig hat er es der Partei zu Pflicht gemacht, als ihre Hauptaufgabe die sorgfältige Vorbereitung der Massenaktionen durch Agitation und Organisation des Proletariats mit allen Mitteln anzustreben.“163 Es gelte jetzt, „um die einfachsten proletarischen Bedürfnisse“ zu kämpfen, „eine konkrete Aktion zu führen […] gegen den Steuerraubzug sowie gegen die Niederdrückung der Löhne“ und „mit einem klaren Steueraktionsprogramm aufzutreten.“164 In der Umsetzung der Strategie des „Heran an die Massen“ bestünden deshalb „die nächsten Aufgaben der Partei in – einer breiten agitatorischen und organisatorischen Kampagne von Protestversammlungen und Demonstrationen, „gegen die Abwälzung der Kriegslasten auf „den Rücken der breiten Massen des Proletariats und des proletarischen Kleinbürgertums“ sowie – „der organisatorischen Erfassung dieser Massen durch die Parteiorganisationen der VKPD, die kommunistischen Zellen in den Gewerkschaften“ sowie „durch breite parteilose Organisationen, die die Arbeitermassen umfassen, die zwar nicht kommunistisch, aber bereit sind, gegen die wachsende Verelendung mit allen Mitteln des proletarischen Klassenkampfes anzukämpfen.“165 160 Wirth, Josef (1879–1956); Zentrumspolitiker; bildete nach dem Rücktritt des Kabinetts Fehrenbach am 10. Mai 1921 eine Koalition aus Zentrum, SPD und Deutscher Demokratischer Partei (DDP); Mai 1921 – November 1922 deutscher Reichskanzler. 161 Radek, a.a.O., S. 4–12. 162 Ebenda, S. 13. 163 Ebenda, S. 17–20. 164 Ebenda, S. 20f. 165 Ebenda, S. 2f.

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Angesichts des ideologischen Spagats zwischen dem revolutionären Ziel und dem beabsichtigten Zusammengehen mit dem Erzfeind Sozialdemokratie bei Teilaktionen unterstrich er, dass die Einheitsfronttaktik nicht auf Reform, sondern weiterhin auf die Revolution und die Zertrümmerung des Kapitalismus als Endziel setze: „Die Thesen der Kommunistischen Internationale über die Weltlage, wie auch über die Taktik gehen von der Voraussetzung der steigenden Linie der Revolution aus. Sie gelangen darum zu der Auffassung von der Unmöglichkeit der Reform der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, und sie stellen dem Proletariat als Ziel: nicht Reformen, sondern Sturz der kapitalistischen Gesellschaft. Aus diesem Grunde geißeln sie auch die angeblichen Reformbestrebungen der Sozialdemokraten und Unabhängigen, und sie machen es der Kommunistischen Partei zur Pflicht, den Reform-Betrug der sozialdemokratischen Parteien aufs energischste zu bekämpfen. Die Taktik des ,Offenen Briefes‘ ging keineswegs von der Überzeugung aus, daß wir Kommunisten und die Sozialdemokraten einen großen Teil des Weges gemeinsam gehen werden, sondern sie ging von der Voraussetzung aus, daß die Sozialdemokraten nur unter dem schärfsten Druck der Massen auch nur einen Schritt vorwärts machen können und daß sie uns bei der ersten Gelegenheit verraten werden.“166

In Jena, wo die VKPD ihren ursprünglichen Namen „Kommunistische Partei Deutschlands/KPD“ mit dem Zusatz „Sektion der Kommunistischen Internationale“ wieder aufnahm, hatte man noch Wert auf die scharfe Abgrenzung zwischen Kommunisten und Sozialdemokratie gelegt. Im weiteren Verlauf des Jahres verschwammen die Trennlinien jedoch immer mehr. Im September erhielten bei den Landtagswahlen in Thüringen die drei Linksparteien SPD, USPD und KPD die Mehrheit der Stimmen, woraufhin die Kommunisten sich bereiterklärten, eine SPD-/USPDLandesregierung zu unterstützen, jedoch ohne sich an ihr zu beteiligen. Vor dem Hintergrund der im Herbst aufziehenden Finanzkrise des Reichs, übernahm Anfang Oktober die KPD das Steuerprogramm von SPD und Gewerkschaften, das übrigens mit den von Radek anlässlich des Parteitags noch heftig verrissenen Vorstellungen der Levi-Gruppe identisch war: Abwälzung der Reparationslast auf die Besitzenden durch die Erfassung der Sach- und Goldwerte. Radek versuchte diese Forderungen noch zu überbieten, indem er von Moskau aus seinen Einfluss geltend machte. Die tagespolitischen Bedingungen unter denen die Kommunisten mit ihren feindlichen Brüdern aus den anderen Arbeiterparteien zusammenarbeiten sollten, präzisierte er unter anderem in einem Artikel in der „Roten Fahne“ aus Anlass der Novembersitzung des Zentralausschusses der Kommunistischen Partei167. Er verdeutlichte seinen 166 Ebenda, S. 26f. 167 Radek, Die Aufgaben des Zentralausschusses der Partei, in: „Die Rote Fahne“, 16. November 1921. Geschrieben in Moskau am 7. November 1921. Möller, S. 202ff. Eine Auflistung der diesbezüglichen massiven Einflussversuche Radeks per Brief, über die damaligen deutschen Vertreter im EKKI Pieck und Heckert sowie durch mehrere Zeitungsartikel gibt Goldbach, S.  102, Anm. 42–44.

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Genossen, dass das Programm der Sachwerterfassung nur von einer sozialistischen Regierung realisiert werden könne. Deshalb müssten die Kommunisten eine Arbeiterregierung nicht nur tolerieren, sondern gegebenenfalls auch in sie eintreten168: „Die wichtigste innenpolitische Frage Deutschlands […] ist die Steuerfrage. In den nächsten Monaten soll darum gekämpft werden, ob das Proletariat oder die Bourgeoisie die Kriegskosten zu tragen haben wird […]. Die Kommunistische Partei muß einen klaren Plan aufstellen, wie hundert, hundertfünfzig oder zweihundert Milliarden zusammengerafft werden sollen […]. Der einzige Weg, wenn auch nur der provisorischen Neuordnung der Dinge ist: Ausschaltung der kapitalistischen Anarchie, des Schiebertums, des Parasitentums, indem der Staat die große syndizierte Industrie, die Banken und den Großgrundbesitz unter seine Kontrolle nimmt und zum Miteigentümer wird […]. Kann dies Programm eine bürgerliche Regierung durchführen? Nein. Sie kann es nicht tun […], weil die Verwirklichung eines solchen Steuerprogramms den Beginn der Konfiskation des bürgerlichen Eigentums bedeutet […]. Nun, wenn die Sozialdemokraten und die Unabhängigen wirklich die Erfassung der Goldwerte wollen ... . dann fordert die Losung der Erfassung der Goldwerte den Kampf um die Arbeiterregierung in Deutschland. Eine Arbeiterregierung ist erreichbar auf dem Wege der siegreichen Revolution, die die Organe des bürgerlichen Staates zertrümmert und die Diktatur des Proletariats oktroyiert. Die Herren Sozialdemokraten und Gewerkschaftsbeamten lehnen die Diktatur des Proletariats ab. Wir können von ihnen das, was sie ablehnen, nicht fordern. Nun, dann sollen sie den Weg beschreiten, den sie für den einzigen Weg halten, den demokratischen Weg des Kampfes um ihr eigenes Programm, um die Eroberung der Mehrheit im Reichstag, um die Bildung der Arbeiterregierung auf demokratischem Wege. Wir sind überzeugt, daß auf diesem Wege der Sozialismus nicht erobert werden kann. Aber es ist keinesfalls ausgeschlossen, daß auf diesem Wege ein Schritt vorwärts gemacht wird […]. Wenn die Mehrheits- und Unabhängigen Sozialdemokraten, wenn die Gewerkschaftsführer diesen Weg beschreiten wollen, so können sie sicher sein, daß wir sie dabei auf das energischste unterstützen werden, ohne auch nur für einen Augenblick unsere weitergehenden Ziele aufzugeben.“169

„Der hier entwickelte Plan“, schrieb Radek, „bildet die Konkretisierung der Taktik des ,Offenen Briefes‘, bildet die Durchführung der Losung des III. Weltkongresses: ,Heran an die Massen‘“. Und er hebt hervor: „Hat die Partei eine solche klare Position bezogen, hat sie es verstanden ihren Standpunkt ihren Anhängern beizubringen, so kann sie sehr weitgehende Kompromisse schließen [...].“170 Drei Wochen später mahnte er die Zentrale der KPD: „Man muß geduldig die Frage der Arbeiterregierung verfolgen.“171 Das Konzept einer aus Arbeiterparteien unter Beteiligung der 168 Goldbach, S. 102. 169 Radek, Die Aufgaben des Zentralausschusses der Partei… . Möller, S. 203. 170 Ebenda, S. 204. 171 Radek, Brief an die Zentrale der VKPD vom 6. Dezember 1921. Möller, S. 205.

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Kommunisten gebildeten Koalitionsregierung erläuterte er dann in ausführlicher Form Ende 1921 in der Broschüre „Der nahende Zusammenbruch der deutschen Bourgeoisie und die KPD“, die unter dem Pseudonym Karl Bremer erschien.172 Deutlicher als zuvor, bewertete er darin den parlamentarischen Weg über die Arbeiterregierung als Zwischenstation, um zu einer Räteregierung zu gelangen, als eine realistische Alternative. Insbesondere für Deutschland sei dies eine wahrscheinlichere Variante als Revolution und Bürgerkrieg. Unter diesen Aspekten wäre ein Putsch zur Beseitigung einer Arbeiterregierung für Kommunisten „mehr als ein Verbrechen.“173 Mit einem deutlichen Wink an nationale Kreise behauptete er, eine Arbeiterregierung, auch wenn sie nicht umhinkomme zunächst noch Reparationszahlungen zu leisten, sei auch für die staatliche Fortexistenz Deutschlands unabdingbar.174 Diese Hinwendung zu einem möglichen Bundesgenossen außerhalb des linken Spektrums findet man auch an anderen Stellen seiner Schrift. Breiten Raum widmete er dem neuen Steuerprogramm der KPD, das die Partei von der SPD, den Gewerkschaften und der Levi-Gruppe adaptiert hatte. Es lasse sich nur durch die kommunistische Beteiligung an einer Regierung verwirklichen, wo und wann sich eine Gelegenheit dazu bieten sollte. „Die Kommunistische Partei kann jeder Regierung angehören, die gewillt ist, mit dem Kapitalismus ernst zu kämpfen“, schrieb er. „Wahrlich“, resümiert Angress, „Radek und die KPD waren innerhalb weniger Monate recht weit vom Weg der Revolution abgekommen!“175 Nicht verwunderlich, dass bei dieser „flotten Kehrtwendung“ ein „ahnungsloser Engel von einem Rezensenten“ im theoretischen Zentralorgan der KPD Karl Bremer ad absurdum führte, indem er Karl Radek zitierte. Ein gefundener Leckerbissen für Paul Levi, der in seiner Zeitschrift „Unser Weg“ die Angelegenheit unter der Überschrift „Karl gegen Karl“ ironisch aufs Korn nahm.176 Einer der eifrigsten Verfechter der neuen Parteilinie war Ernst Reuter-Friesland, der – mit Radek 1919 zurück nach Deutschland gekommen – auf dem Parteitag in Jena Generalsekretär der KPD geworden war. Dennoch geriet er rasch mit dem EKKI in Konflikt, als er Anstalten machte, mit Radeks erklärten Todfeinden in der von Levi und anderen Dissidenten unter den kommunistischen Reichstagsabgeordneten gegründeten „Kommunistischen Arbeitsgemeinschaft (KAG) zu kooperieren. Nicht gewillt, sich Radeks Druck zu beugen und seine freizügige Interpretation der Einheitsfronttaktik zu revidieren, wurde er, wie zuvor Paul Levi, im Januar 1922 als rechter Abweichler aus der Partei ausgestoßen. „Abermals hatte Radek als politischer 172 Karl Bremer [Karl Radek], Der nahende Zusammenbruch der deutschen Bourgeoisie und die KPD, Hamburg 1921. Erschienen unter dem gleichen Titel auch in: „Die Kommunistische Internationale“ Nr. 19, 1921, S. 58–71; Vorabdruck des Kapitels über die Arbeiterregierung in: „Die Rote Fahne“ Nr. 579, 18.12.1921, Beilage. Goldbach, S. 102, Anm. 45. 173 Bremer [Radek], a.a.O., S. 28–32. 174 Ebenda, S. 33–35. 175 zitiert nach Angress, S. 244. 176 „Unser Weg“ Nr. 1/2, 1922, S. 48. Goldbach, S. 103.

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Scharfrichter des EKKI in Deutschland agiert und einen der fähigsten, aber unbotmäßigen Führer der KPD abgesägt.“177 Mit seiner Taktik der Anbiederung an die deutsche Sozialdemokratie war Radek der Vorreiter der offiziellen Kominternlinie. Zinov’ev legte Lenin den Entwurf eines auf Radeks Konzept fußenden Thesenpapiers zur Einheitsfronttaktik vor, worauf man am 1. Dezember 1921 in Moskau beschloss, die Einheitsfronttaktik zu internationalisieren. Lenin persönlich verfasste den dementsprechenden Entwurf eines Beschlusses des Politbüros des ZK der RKP(b): „Die von Sinowjew [Zinov’ev], Radek und Bucharin unterbreitete Linie der kommunistischen Parteien der Komintern zu gemeinsamen Aktionen mit den Arbeitern der II. Internationale wird gebilligt. Sie werden beauftragt, diese Linie innerhalb von zwei Tagen in einem Resolutionsentwurf zu präzisieren […].“178

Keine Frage, dass der Entwurf im Politbüro einstimmig angenommen wurde. Im Exekutivkomitee der Komintern war der Thesenentwurf am 4. Dezember 1921 Gegenstand der Diskussion. Das Sitzungsprotokoll hält fest: „Radek unterstrich den Übergangscharakter der neuen Taktik hinsichtlich der Führung der Massen im Kampf um die letzten Ziele der Kommunisten. Wenn wir in Rußland an die Macht gekommen sind, nachdem wir den größten Teil des Proletariats für uns gewonnen haben, so wird dies in anderen Ländern auf andere Art und Weise geschehen. Zunächst werden die Sozialdemokraten gezwungen sein, den Bund mit der Bourgeoisie zu brechen. Wir werden sie entweder von außen unterstützen oder insgesamt mit ihnen gehen; und der Bürgerkrieg, den die Bourgeoisie gegen sie entfesseln wird, wird das kommunistische Bewußtsein der Massen stärken. […] Die allgemeine Linie sieht so aus: Sammlung der Massen unter dem Zeichen der Übergangsforderungen, Bündnis mit den nichtkommunistischen Parteien unter Beibehaltung der Selbständigkeit unserer Partei. Die gesamte Linie muß dem Charakter der Situation entsprechen […] Diese Sache ist von ungeheurer theoretischer und praktischer Bedeutung. Im Grunde genommen gehen wir damit weiter als die Resolution des Kongresses [III. Weltkongreß der Komintern].“179

Weiter merkte Radek an, „dass jeder Kampf, auch jener, der als Kampf um Teilziele beginnt, die Tendenz zur Ausweitung und Vertiefung haben wird und schließlich prinzipielle Fragen des proletarischen Kampfes auf die Tagesordnung setzen wird.“180 Während Zinov’ev diese Ausführungen als mit seinem Verständnis der Einheitsfront 177 Lerner, S. 112. 178 Lenin, Entwurf eines Beschlusses des Politbüros des ZK der KPR(B) über die Einheitsfronttaktik (geschrieben am 1. Dezember 1921); in: Lenin, Werke Ergänzungsband 2, S. 383. 179 Protokoll der EKKI-Sitzung vom 4, Dezember 1921. RGASPI (ehem. RCChDNI) 495/1/43, Bl. 128f.; Watlin [Vatlin], Die Komintern 1919–1921, S. 50. 180 Vatlin, Die Komintern (2009), S. 76.

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übereinstimmend begrüßte, übte Bucharin scharfe Kritik als Radek „die Orientierung auf die unmittelbar bevorstehende Weltrevolution infrage“ stellte.181 Es bestehe die Gefahr, dass ausländische Genossen die von Radek erwähnten Teilforderungen als „Programm dieser neuen Etappe“ missverstehen könnten, und nicht als „taktische Plattform“. Demgegenüber beharrte Radek darauf, dass es sich um „strategische Forderungen“ handele, die „programmatischen Charakter tragen.“ Er betonte: „Wenn wir die nichtkommunistischen Arbeiter in die gemeinsame Front miteinbeziehen wollen, so müssen wir alle unsere theoretischen Thesen einer strengen und vollständigen Überprüfung unterziehen – anderenfalls wird ein unentwirrbares Durcheinander die Folge sein. Wir werden den Arbeitern einfach und offen die Lage der Dinge auseinandersetzen müssen, doch dies wird uns nicht möglich sein, wenn wir eine Politik betreiben, die auf 24 Stunden zugeschnitten ist.“182 Zwei Tage später, am 6. Dezember 1921, teilte Radek den „lieben Genossen“ in der KPD-Zentrale den Sachstand der Einheitsfront-Diskussion in Moskau als Neuigkeit mit: „Wir ventilieren hier [in Moskau] sehr ausführlich die Fragen, ob man die Losung ,Gemeinsame Front‘ internationalisieren kann. Wir haben die Frage im russischen Zentralkomitee besprochen, das sie bejaht hat. Sinowjew [Zinov’ev] hat einen Entwurf geschrieben, den wir einstweilen bearbeiten und detaillieren. Die Exekutive hat die Fragen ausdrücklich provisorisch besprochen und wird zu der Sache Stellung nehmen, sobald die Resolutionsvorschläge vorliegen. Der Grundgedanke ist der, sich an Amsterdam, die 2. und 2½ 183 zu wenden mit einem Vorschlag eine gemeinsame Demonstration international zu organisieren gegen neues Rüsten, für die Annullierung der Kriegsschulden, gegen die Besetzung des Ruhrgebietes, für Anerkennung Sowjetrußlands […]. Der gemeinsame Aufmarsch bringt uns in Fühlung mit den Arbeitermassen, die von uns bisher isoliert waren und wir werden zu diesen Massen sprechen, wie uns der Schnabel gewachsen ist.“184

Auf dem Dezemberplenum der Erweiterten Exekutive am 28. Dezember wurde die Einheitsfronttaktik für die ganze Komintern einstimmig als verbindlich erklärt. Zum Jahresende verfasste Radek den Artikel „Die nächsten Aufgaben der Kommunistischen Internationale“185, der in der Komintern-Zeitschrift „Die Internationale“ erschien. Er schrieb, allein die Ablehnung der Einheitsfront durch die sozialdemokratischen Führer bestätige die Richtigkeit dieser Politik. Habe sie Erfolg, so hätte man Gehör bei den sozialdemokratischen Arbeitern gefunden und ihre Führer nach links gezwungen; schlage sie fehl, seien die sozialdemokratischen Führer bloßgestellt. Die 181 Ebenda. 182 Watlin [Vatlin], Die Komintern 1919–1921, S. 50f. 183 Soll heißen: Die Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale, die II. Internationale und der Internationale Bund Sozialistischer Parteien. 184 Brief Radeks an die Zentrale der KPD vom 6. Dezember 1921. Möller, S. 205f. 185 „Die Internationale“, Jahrgang 1922, S. 2 ff. Inhaltliche Wiedergabe in: Degras, The Communist International, S. 307f.

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neue Taktik korrespondiere mit der veränderten internationalen Lage und begünstige den internationalen Kommunismus im Klassenkampf. Bis 1920 habe man den Angriff als Kampfmethode gewählt, versucht, die Sozialdemokratie zu spalten und die Parole von der Sowjetdiktatur betont. Jetzt stünden konkrete Forderungen nach der Veränderung der Situation der Arbeiterschaft im Vordergrund. Eine explosionsartige Entwicklung der internationalen Lage sei nicht zu erwarten, nur ein langsames Reifen der Revolution. Auf der Tagesordnung stünde nicht der Angriff, sondern das Sammeln der Kräfte für den Kampf, und zwar durch geduldige Arbeit innerhalb der sozialdemokratischen Parteien. Das Ziel sei es, sie entweder zu gewinnen oder zu spalten. Radek mahnte die KPD, „fest im Auge folgendes behalten: Durch die Spaltung haben wir die Avantgarde herausgebildet, sie gestärkt. Jetzt suchen wir durch die Losung der allgemeinen Front die Reserven heranzuziehen.“186 Margarete Buber-Neumann beschreibt das Erstaunen der deutschen Genossen, als sie in der „Internationale“ lasen, „daß die Komintern den Sozialdemokraten die Bruderhand reiche, denselben Sozialdemokraten, die sie bis gestern ,Mistvolk, Bande, Gesindel, Lumpen, Betrüger‘ usw. tituliert hatte.“187 Seit dem Herbst 1921 ergoss sich zudem eine wahre Flut von Artikeln Radeks zu Themen internationaler Politik und deutscher Außenpolitik durch die KPDPresse. Sie sollte die deutschen Kommunisten auf die von Moskau angestrebte enge deutsch-russische Zusammenarbeit vorbereiten188, gleichzeitig aber auch Signale an die Reichsregierung übermitteln. Radek griff das Schlagwort konservativ-nationaler Kreise von der „deutsch-russischen Schicksalsgemeinschaft“ auf, das die sich anbahnenden Kontakte in die Tradition einstiger preußisch-russischer Allianzen einordnete. In der „Roten Fahne“ wies er in einem Leitartikel die KPD an, die künftigen Beziehungen, nicht nur als normal und wichtig zu betrachten, sondern er dramatisierte sie zusätzlich mit dem Hinweis auf Deutschlands „Schicksalsgemeinschaft mit Rußland.“189 Der Wunsch der Bol’ševiki, die Beziehungen zu Deutschland zu reaktivieren und die taktische Hinwendung der Komintern zum feindlichen Bruder Sozialdemokratie werden nur verständlich im Zusammenhang mit dem Kurswechsel Moskaus zur Neuen Ökonomischen Politik (NEP). Das Überleben des Sowjetstaates, verbunden mit dem Nahziel des wirtschaftlichen Wiederaufbaus, erhielt Vorrang vor allen anderen Belangen. Die NEP erforderte zugleich die Entwicklung einer sowjetrussischen Außen- und Handelspolitik, nachdem man sich bislang in der Erwartung der Weltrevolution im Wesentlichen auf Propaganda und Improvisation beschränkt hatte. Um den Jahreswechsel 1919/1920 hatte Radek in Berlin inoffizielle Sondierungsge186 Brief Radeks an die Zentrale der KPD vom 6. Dezember 1921. Möller, S. 206. 187 Buber-Neumann, S. 61. 188 Goldbach, S. 105. 189 Viator [Karl Radek], Deutschland, Sowjetrußland und die Entente, in: „Die Rote Fahne“, 3. Dezember 1921, Morgenausgabe. In der KPD-Zentrale und im Auswärtigen Amt wusste man selbstverständlich, wer sich hinter dem Pseudonym Viator verbarg.

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spräche über eine sowjetisch-deutsche Annäherung geführt. Als der Deutschlandexperte in der Sowjetführung wirkte er nun parallel zu seiner Arbeit in der Komintern vorwiegend über nichtamtliche Kanäle am Ausbau der Beziehungen zwischen Sowjetrussland und der Weimarer Republik mit. Auch in Deutschland war man an einer Wiederherstellung der Beziehungen zu Sowjetrussland interessiert. Die deutsche Industrie drängte auf den Abschluss eines Handelsvertrages mit den Sowjets und konservative deutsche Politiker, Militärs und Diplomaten plädierten für eine aktive Ostpolitik. Der Russlandreferent in der Ostabteilung des Auswärtigen Amtes, Ago von Maltzan, hatte sich gleichsam zum Stabschef dieser Gruppe entwickelt.190 Noch vor Kronstadt und dem X. Parteitag der RKP(b) hatte der deutsche Außenminister Walter Simons im Januar 1921 die Bereitschaft zur Aufnahme von Wirtschaftskontakten mit Moskau signalisiert, als er im Reichstag erklärte: „Der Kommunismus als solcher ist kein Grund, weshalb eine deutsche republikanische und bürgerliche Regierung nicht mit der Sowjetregierung Handel treiben solle.“191 Maltzans Rat folgend, entsandte Simons Ende Januar 1921 Moritz Schlesinger zur Erkundung nach Moskau. Schlesinger war Chef der Reichszentralstelle für Kriegs- und Zivilgefangene. Er hatte das Abkommen mit Russland über die Rückführung der deutschen Kriegsgefangenen vom April 1920192 zustande gebracht und Erfahrung im Umgang mit Sowjetvertretern. Seine alles offen lassende Instruktion lautete: „Sehen Sie zu, was sie erreichen können.“193 Nachdem seine unter der Ägide des Stellvertretenden Außenkommissars Litvinov stehenden Gespräche im Moskauer Narkomindel über eine Ergänzung des Kriegsgefangenenabkommens und eine mögliche Wiederaufnahme der Beziehungen ins Stocken gerieten, suchte er Radek, der erst kürzlich von seinem illegalen Deutschlandaufenthalt zurückgekehrt war194, im Kreml’ auf. Radek bewohnte dort mit seiner Frau eine kleine Dreizimmerwohnung im Kavalerskij-Gebäude, in dem einstmals die Hofbeamten untergebracht waren195 und jetzt „fast alle Regierungsleute wohnten – bis zu acht Familien auf einem Korridor mit gemeinsamer Küche.“196 – „Der Eingang“ zu Radeks Behausung, berich190 Graml, S. 140. 191 Simons in der Reichstagsdebatte am 21. Januar 1921. Krummacher/Lange, Dokument 7, S. 471. 192 Deutsch-russischer Vertrag über die Rückführung der Kriegsgefangenen und Zivilinternierten“ vom 19. April 1920, das erste Abkommen zwischen der Sowjetregierung und der Weimarer Republik. 193 Krummacher/Lange, S. 111. 194 Siehe oben, Anm. 67. 195 Deutscher, Trotzki II, S. 36. 196 Brief Wiedenfelds an seine Frau, 16. Oktober 1921. Wiedenfeld, S. 124. Wiedenfeld (ebenda, S. 123), der das Ehepaar Radek erstmals im Oktober 1921 im Kreml’ besuchte, beschreibt die „äußere Aufmachung“ der Dreizimmerwohnung als „sehr einfach“. Auch Curt Geyer (S. 261) nennt das Domizil Radeks als „nach deutschen Begriffen überaus ärmlich und eng.“ Für die damaligen Moskauer Verhältnisse handelte es sich allerdings um eine „komfortable Dreizimmerwohnung“, wie Hilger (S. 79) schreibt.

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tet Schlesinger, „führte in ein kleines Zimmer, das mit Büchern und Zeitschriften vollgestopft war. Dort traf ich auch Frau Radek, […] die Mitarbeiterin im Zentrewak197 war, also das ganze Gefangenenproblem eingehend kannte.“ In der lebhaften Unterhaltung stellte sich heraus, dass Frau Radek in Łódź eine Schulkameradin von Schlesingers Frau gewesen war. Das Eis war schnell gebrochen. Radek zeigte sich informiert, als Schlesinger auf die in die Sackgasse geratenen Verhandlungen zu sprechen kam. „Er wußte ganz genau, worum es sich handelte“. Er erhob zwar den Vorwurf, der Deutsche klammere sich an „lauter kleine Dinge“ und „lasse die politischen Gesichtspunkte auf die es allein ankomme, völlig außer acht“, veranlasste aber angesichts des drohenden Scheiterns der Gespräche, ad hoc eine nächtliche Besprechung mit Außenkommissar Čičerin. In dieser Unterredung am 13. Februar 1921 versuchte Radek wieder einmal, „den Stier bei den Hörnern zu packen“. Er tat die Differenzen über den von Schlesinger als Vorbedingung für die Aufnahme von Wirtschaftsbeziehungen geforderten Rechtsschutz für deutsche Staatsbürger und ihr Eigentum in Russland als Missverständnisse und Bagatellen ab. „Worauf es jetzt ankomme, sei, daß die deutsche Regierung endlich ihre Versäumnisse nachhole und sich prinzipiell zur Wiederaufnahme der Beziehungen bereit erkläre.“ Er „brachte scharf zum Ausdruck, daß die etappenweise Aufnahme der Beziehungen nur eine Erschwerung bedeute“, notierte Schlesinger. Deutschland werde sich „wohl oder übel im Interesse seiner eigenen Existenz in allernächster Zeit zu einer Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen […] entschließen müssen.“ Unter Bezugnahme auf die von Schlesinger angesprochenen deutschen Eigentumsfragen, meinte er sarkastisch: „Wir wollen über große Politik sprechen und Sie von alten Hosen.“ Mit Blick auf die Pressionen der Entente prognostizierte er, „die Alliierten werden die Deutschen so in die Zange nehmen, daß sie den Weg nach Moskau finden werden“. Schlesinger zeigte sich „peinlich überrascht darüber, daß Herr Radek, der die deutsche Mentalität so ausgezeichnet kenne, überzeugt sei, Deutschland werde bei weiteren Erpressungen der Entente seinen Weg nach Moskau finden, in Antizipation dieser Möglichkeit jedoch darauf verzichten, die Voraussetzungen für die Aufnahme der wirtschaftlichen Beziehungen zu schaffen.“ Teile die Sowjetregierung diese Auffassung, sagte er an Čičerin gewandt, so betrachte er seine Mission als gescheitert und werde abreisen.198 Es sah so aus, als ob Radek mit seinen unverblümten Maximalforderungen den Erfolg der von ihm eigens vermittelten Besprechung torpediert hatte. Das konnte nicht im außenpolitischen Interesse Sowjetrusslands liegen. Am nächsten Tag lenkte Čičerin ein, sandte Viktor Kopp „mit der Friedenspalme“ zu Schlesinger und dieser vermerkte überrascht: Mein festes Auftreten gegenüber Čičerin scheint nicht erfolglos gewesen zu 197 „Zentrewak [Centrevak]“: Sowjetisches „Zentrales Evakuierungsbüro“, mit der Aufgabe, die deutschen Kriegsgefangenen in die Heimat zurückzuführen. Dienststellenleiter war Aleksandr Vladimirovič Eiduk, ein ehemaliger Čekist, „der zahlreiche Menschenleben auf dem Gewissen hatte“. Hilger, S. 79. 198 Schlesinger, S. 191f. und S. 196.

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sein.“ Bis zum 18. Februar 1921 gelang es ihm, nicht nur eine ergänzende Vereinbarung zur Kriegsgefangenenfrage, sondern auch ein Protokoll auszuhandeln, das die Grundlage eines am 6. Mai 1921 abgeschlossenen „Vorläufigen Abkommens über die Erweiterung der Tätigkeit der beiderseitigen Delegationen für Kriegsgefangene“ bildete199, eines Abkommens, das den Ausbau der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Verbindungen zwischen beiden Staaten beschleunigte. Konkret regelte das Mai-Abkommen den Austausch von Vertretern mit konsularischen Befugnissen und bereitete damit die Wiederaufnahme regulärer diplomatischer Beziehungen vor. Um allen Spekulationen und Erwartungen, die sich daran knüpften, den Boden zu entziehen, ernannte die Reichsregierung Professor Kurt Wiedenfeld, einen unpolitischen Wirtschaftswissenschaftler, zum Leiter der deutschen Vertretung in Moskau. Die deutsche Außenpolitik wollte die Bemühungen im Westen zur Lösung der Reparationsfrage nicht durch eine personelle Aufwertung ihrer Aktivität im Osten gefährden. Die Sowjets waren genau gegenteiliger Auffassung. In ihren Augen war die Anhebung des Status der Kriegsgefangenen-Fürsorgestellen in Berlin und Moskau zu Handelskonsulaten ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur vollen diplomatischen Anerkennung Sie nominierten Nikolaj Krestinskij, einen bolschewistischen Spitzenfunktionär, bis vor kurzem noch Erster Sekretär des Zentralkomitees der RKP(b) und nun Volkskommissar für Finanzen, als Geschäftsträger. Berlin jedoch wollte einen so prominenten Bol’ševiki nicht akzeptieren, worauf Moskau prompt beleidigt reagierte und Wiedenfeld die Einreise verweigerte.200 Als es deshalb in Berlin im August 1921 zu einer ernsthaften Krise kam, griff Radek auf Bitte Hilgers, des Leiters der Moskauer Fürsorgestelle für Kriegsgefangene, ein und konnte erfolgreich vermitteln.201 Wiedenfeld wurde im September in Moskau akkreditiert und erhielt, wie schon 1918 die Botschafter Mirbach und Helfferich, Radek von Anfang an als „ständigen Verbindungsmann“ zur Sowjetregierung zugewiesen.202 Krestinskij trat seinen Posten im Oktober in Berlin an. Schon vorher hatte Radek sich in die beginnenden Überlegungen zur Besetzung eines zukünftig möglichen deutschen Botschafterpostens in Moskau eingeschaltet. Zusammen mit dem Stellvertretenden Außenkommissar Karachan erklärte er dem deutschen Journalisten Bernhard Waurick203, der im Mai 1921 in Maltzans Auftrag in dieser Personalfrage in Moskau sondierte, man halte die Entsendung eines Fachmanns alten Stils als am förderlichsten. Beide nannten den letzten kaiserlichen Staatsekretär des Auswärtigen, Konteradmiral von Hintze, mit dem Radek während seiner Haft in Moabit gesprochen hatte, als eine geeignete Persönlichkeit und baten Waurick um entsprechende Mitteilung an das Auswärtige Amt.204 199 Ebenda, S. 193. 200 Krummacher/Lange, S. 118. 201 Goldbach, S. 104, Anm. 57. 202 Wiedenfeld, S. 87. 203 Waurick, Bernhard; Korrespondent des „Berliner Tagblatts“. 204 Brief Wauricks an Hintze vom 19. Mai 1921. Hürtner, S. 114.

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In Deutschland waren damals die Reparationsforderungen der Alliierten das Problem Nummer eins der Reichsregierung. Aufgrund der Artikel 116 und 117 des Versailler Friedens wäre auch Russland berechtigt gewesen, Reparationen zu verlangen. Nachdem die Westmächte die Sowjetrepublik drängten, die zaristischen Vorkriegsschulden anzuerkennen und durch die Geltendmachung von Reparationsforderungen gegenüber Deutschland zu finanzieren, fürchtete man in Berlin, Moskau könne der lockenden Versuchung erliegen, seine Altschulden auf diesem Wege zu begleichen. Die entscheidende Weichenstellung in Richtung auf eine deutsch-russische Annäherung und damit letztlich auf den Vertrag von Rapallo erfolgte im Sommer 1921, als es im Garten der Berliner Reichskanzlei zu einem vertraulichen Gespräch zwischen Reichskanzler Wirth und dem wegen der nach Westen ausgerichteten Erfüllungspolitik des Auswärtigen Amtes praktisch schon kaltgestellten Leiter des Russlandreferats im Auswärtigen Amt, Ago von Maltzan, kam. Der Reichskanzler und Maltzan stimmten bei ihrer Unterhaltung darin überein, dass ein Beitritt Sowjetrusslands zum Versailler Vertrag, unter Inanspruchnahme des Artikels 116 unter allen Umständen verhütet werden müsse. Beide „fanden sich in einer Waffenbrüderschaft, durch die die Versailler Klammer durch einen Ausbruch nach Osten gebrochen werden sollte.“ Unausgesprochen bestand Einverständnis, Reichspräsident Ebert und Außenminister Rosen205 als Protagonisten des Westkurses „bei der Befolgung einer konstruktiven Ostpolitik herauszuhalten“ sowie das Mai-Abkommen „zu einem Vertrage auszubauen, der als Ersatz für einen Friedensvertrag ohne Reparationen, ohne Annexionen und diplomatische Anerkennung geschlossen werden sollte.“206 Wie von Radek im Februar vorausgesagt, hatte sich die deutsche Außenpolitik auf alliierten Druck hin – wenn vorerst auch erst insgeheim – entschlossen, den Weg nach Osten einzuschlagen und mit Moskau begrenzt zusammenzuarbeiten. Radek, der davon nichts gewusst haben kann, betrachtete von Maltzan, der übrigens ein Neffe seines einstigen Berliner Gastgebers von Reibnitz war, zu Recht als die treibende Kraft einer dynamischen Ostpolitik im Auswärtigen Amt. Als Beobachter und Analytiker des politischen Geschehens in Deutschland war ihm nicht verborgen geblieben, dass der adlige Legationsrat seit 1919 engagiert für eine Annäherung an Moskau eintrat. Als Außenminister Rosen den ihm unbequemen Maltzan an die Botschaft in Athen abschieben wollte, sah Radek und mit ihm wohl auch die Sowjetführung, das erhoffte russisch-deutsche Rapprochement gefährdet. „Die deutsch-russischen Beziehungen“, überschrieb Radek einen äußerst respektlosen und polemischen Artikel in der „Pravda“207, in dem er die Reichsregierung bezichtigte, vor der Entente auf dem Bauch zu kriechen. Die deutschen Politiker sollten erkennen, dass eine engere Bezie205 Rosen, Friedrich (1856–1935), Diplomat und Orientalist; Mai bis Oktober 1921 Reichsaußenminister im 1. Kabinett Wirth. 206 Erst 1958 bekanntgewordene Mitteilung Wirths an Schlesinger aus dem Jahre 1955. Krummacher/Lange, Dokument 9, S. 475f. 207 Radek. Die deutsch-sowjetischen Beziehungen, in: „Pravda“, Nr. 232 vom 15. Oktober 1921. Möller, S. 209ff.

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hung zu Russland, die Stellung Deutschlands gegenüber der Entente stärken würde. Die Berliner Außenpolitik packe diese Aufgabe allerdings in einer Weise an, „daß man denken kann, alle Kühe seien wohl [im Zuge der Reparationsleistungen] nach Frankreich ausgeführt, alle Esel jedoch im deutschen Auswärtigen Amt verblieben.“ Süffisant erwähnte er im Zusammenhang Wiederaufbauminister Rathenau und Außenminister Rosen. Der Leiter der Ostabteilung schließlich, Herr Behrendt, „früher Händler und Freund russischer Weißgardisten, […] versteht soviel von der Politik wie die gewesene Kaiserin von China von der Philosophie Kants […].“ Respektvoll erwähnte Radek allein „Baron Maltzan, Spezialist für russische Angelegenheiten“. Allein er habe begonnen, gegenüber Russland „eine reale Politik“ zu führen. Deshalb musste er seinen Posten aufgrund von Intrigen räumen. Die „Bande aus dem Auswärtigen Amt“ habe ihn die Treppe hinuntergeworfen und zum Botschafter in Athen ernannt. Und er zog das Resümee: Die „Herren aus dem Auswärtigen Amt“ fangen an „sich zu benehmen wie ein gewisses Tierchen im Geschirrladen“. Sie werden „selbstverständlich alles machen […], um die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Sowjetrußland zu sabotieren.“208 Der neue deutsche Geschäftsträger in Moskau, Wiedenfeld, der sich klammheimlich über Radeks Ausführungen „köstlich amüsiert“ hatte209, aber doch pflichtgemäß bei Čičerin dagegen Protest einlegen musste, bekam vom Außenkommissar zu hören, „daß der Artikel zwar seinem sachlichen Ziele nach sich mit den Anschauungen der Sowjetregierung decke, daß er aber lediglich eine Privatarbeit von Radek sei.“ Im Übrigen gehöre Radek, der sich gern „göttlicher Grobheit“ bediene weder zur russischen Regierung, noch sei die Parteizeitung „Pravda“ das Organ dieser Regierung.210 Das von Radek beklagte Revirement wurde rückgängig gemacht, als Reichskanzler Wirth in seinem Ende Oktober 1921 neugebildeten Kabinett das Amt des Außenministers selbst übernahm und Maltzan als Leiter der Ostabteilung ins Auswärtige Amt zurückholte. Damit erhielt Maltzan grünes Licht, im Sinne der geheimen Waffenbrüderschaft mit Wirth zu agieren. In einem neuerlichen Leitartikel in der „Pravda“ über „Die deutsch-russischen Beziehungen“211 drückte Radek die deutliche 208 Radek, a.a.O. 209 Wiedenfeld, S. 123. 210 Brief Wiedenfeld, Moskau, 17. Oktober 1921, über seinen Protest bei Čičerin. Goldbach, S. 105. Persönlich nahm Wiedenfeld die ganze Angelegenheit nicht tragisch. Er mokierte sich über von Maltzan, den neuen Leiter der Ostabteilung im Auswärtigen Amt und dessen „kindliche Briefe“, wie aus einem Brief vom 27. Oktober 1921 an seine Frau hervorgeht: „Er [Maltzan] hat wahrhaftig den Artikel Radeks übelgenommen, anstatt äußerlich zu protestieren und innerlich sich köstlich zu amüsieren. Wenn der wüßte, daß Radek seinen Entschuldigungsbesuch bei mir durch eine Ansage zum Tee bei seiner Frau gemacht hat, und daß ich schließlich weiter nichts gesagt habe, als daß ihm seine Feder etwas stark durchgegangen wäre und er damit den russischen Zielen nur schade. Dann sprachen wir noch drei Stunden von etwas anderem […].“ Wiedenfeld, S. 129f. 211 Radek, Die deutsch-russischen Beziehungen, in: „Pravda“ vom 11. November 1921. Möller, S. 212f.

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Befriedigung Moskaus über diese Entwicklung aus. Er forderte „ein schnelles Arbeiten“ im Hinblick auf die Anerkennung Sowjetrusslands und die Herstellung voller diplomatischer Beziehungen. „Es würde sehr nützlich sein,“ formulierte er ironisch, „wenn die deutsche Diplomatie, die jetzt begonnen hat ihren Verstand über die russische Frage ein wenig anzustrengen, nicht vor der Tatsache haltmachen würde, daß wir existieren; auch das Schaf, das vor dem Zaun stehenbleibt, es erkennt die Tatsache an, daß der Zaun existiert.“212 Um gezielt Druck auszuüben, schloss der Artikel mit einem Hinweis auf die denkbare sowjetische Alternative: Die Verständigung zwischen Sowjetrussland und Frankreich auf Kosten Deutschlands unter Ausnutzung des Artikels 116 des Versailler Vertrages.213 Bei Reichskanzler Wirth, Maltzan und Schlesinger rannte Radek mit seiner Mahnung offene Türen ein. An dem Tag, an dem sein Artikel in Moskau erschien, hatte Wirth in Berlin eine Besprechung anberaumt, in der es darum ging, Sowjetrussland durch das Angebot deutscher Wirtschaftshilfe zum Verzicht auf die Inanspruchnahme der Artikel 116 und 117 des Versailler Vertrages zu bewegen. Maltzan schloss sich dabei der von den Moskauer Vertretern Wiedenfeld und Hilger nachdrücklich verfochtenen Auffassung an, der Fortbestand der Sowjetregierung sei nicht mehr zu bezweifeln; nunmehr sei der Zeitpunkt gekommen, normale Beziehungen zur Sowjetregierung herzustellen. Dringend riet er davon ab, sich an einem von Minister Rathenau befürworteten Plan des Westens zu beteiligen, der die Errichtung eines internationalen Syndikats für den Wiederaufbau Russlands vorsah. Moskau fürchte durch die Errichtung eines solchen internationalen Finanz- und Wirtschaftskonsortiums zum Ausbeutungsobjekt der kapitalistischen Staaten zu werden. Es lehne den Syndikatsplan ab und habe Deutschland im Falle einer Beteiligung mit der Anerkennung des Versailler Vertrages gedroht. Schlesinger empfahl dem Kanzler, den künftigen Wirtschaftsverkehr mit Russland nach der Vorkriegsformel „deutsche industrielle Lieferungen gegen russischen Weizen“ abzuwickeln und durch im Sowjetlande noch zu errichtende deutsche Konzessionsbetriebe, Unterstützung zur Mechanisierung der Landwirtschaft und zur Sanierung des Transportwesens zu gewähren. Er erhielt den Auftrag, auf dieser Basis in Moskau zu verhandeln, mit der Weisung, dass jede regierungsseitige finanzielle Beteiligung den sowjetischen Verzicht auf die Ansprüche aus Artikel 116 und 117 des Versailler Friedensvertrages zur Voraussetzung haben müsse.214 Am 12. November 1921 reiste Schlesinger nach Sowjetrussland ab, wo er nach etwa dreiwöchigen Verhandlungen Mitte Dezember die Option für eine deutsche Konzession paraphieren konnte.215 Zu seiner Überraschung nahm an den Ge212 Ebenda, S. 213. 213 Goldbach, S. 107. 214 Schlesinger, S. 271. 215 Die Option erstreckte sich auf den Wiederaufbau der Industrie in Petrograd und die Gestattung des freien Verkaufs deutscher Konsumgüter und landwirtschaftlicher Geräte gegen Getreide innerhalb einer 20 km breiten Zone beiderseits der Bahnlinie Moskau-Ekaterinburg. Schlesinger, S. 276f.

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sprächen, die er im Narkomindel mit Hanecki-Fürstenberg216 führte, auch Radek teil, der allem Anschein nach Lenin über die Verhandlungen auf dem Laufenden hielt. Die sowjetischen Zugeständnisse hätten der Zustimmung Lenins bedurft, betonte Radek einmal „beinahe tobend“ , als sich ihm kurz vor Schlesingers Abreise der ungerechtfertigte Verdacht eines deutschen Doppelspiels mit der Entente aufdrängte.217 Das Motiv des sowjetischen Entgegenkommens war es, den Syndikatsplan der Westmächte zu konterkarieren. „Die Zugeständnisse der Russen waren ungewöhnlich und wurden zweifellos nur gewährt, um noch vor der beabsichtigten Gründung eines internationalen Konsortiums bereits ein deutsches gegenüberstellen zu können“, wertete der Emissär aus Berlin die Verhandlungsergebnisse. Während Schlesinger noch in Moskau verhandelte, traf in der russischen Hauptstadt ein weiterer deutscher Besucher ein, wenngleich nicht mit einem offiziellen Mandat ausgestattet. Der bei den Bol’ševiki seit 1918 wohlgelittene und von Radek im Mai für den künftigen Botschafterposten in Moskau in Vorschlag gebrachte ehemalige Staatssekretär Hintze war, unterstützt vom Auswärtigen Amt, mit einem falschen Pass unter dem Decknamen Hartwig zu Kontaktgesprächen mit der Sowjetführung angereist. Er führte zwischen dem 21. November und 1. Dezember mehrere Unterredungen mit Außenkommissar Čičerin, Kriegskommissar Trockij und Radek.218 Schlesinger, der nur zufällig von Hintzes Anwesenheit erfuhr, mutmaßte, dieser halte sich ohne Wissen des Auswärtigen Amtes auf Anregung Maltzans in Moskau auf, um dessen vorrangiges politisches Ziel an Radek zu übermitteln: Die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen unter vorheriger Bereinigung des Artikels 116 des Versailler Vertrages.219 Hintze hat das aber wohl nicht mit solcher Eindeutigkeit vorgetragen. Er sprach sich zwar prinzipiell für die „Solidarität der Besiegten“ aus und befürwortete wie im Spätsommer 1918 die Zusammenarbeit mit Sowjetrussland, wollte sich aber ohne amtlichen Auftrag nicht weiter festlegen. Radek, der sich sehr um Hintze bemühte und auf ein enges deutsch-russisches Zusammengehen drängte, war darüber sehr enttäuscht. Er hatte sich Hintze als Botschafter nach Moskau gewünscht220, da er von Brockdorff-Rantzau, der in Berlin für diesen Posten gehandelt wurde, „keinen besonders günstigen Eindruck“ hatte, wie er zwei Wochen später am 16. Dezember dem Moskauer Korrespondenten des „Berliner Tagblatts“, Paul Scheffer, anvertraute. In der von Radek gesuchten Unterredung, über die Scheffer unverzüglich Maltzan in Berlin unterrichtete, fragte er den Journalisten über Brockdorff aus und meinte, dessen Friedensvertragspolitik sei „vielfach kindlich“ gewesen. Man habe im nächtlichen Conseil bei Čičerin über 216 Hanecki gehörte 1921–1923 dem Kollegium des Narkomindel als Finanz-und Außenhandelsexperte an. 217 Schlesinger, S. 276f. 218 Hintzes Gespräche mit Radek fanden am 22., 25., 28. und 29. November sowie am 1. Dezember 1921 statt. Hürtner, S. 115. 219 Schlesinger, S. 288. 220 Hürtner, S. 115.

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Nachrichten aus Berlin gesprochen, nach denen es möglich sei, dass Rantzau den Moskauer Posten bekommen solle. „Er [Radek] befürchte, daß Rantzau sich hier entsetzlich langweilen werde, in schlechte Laune geraten könne und zuviel unternehmen werde. Wenn ein Graf und alter Diplomat herkomme, so hebe das allerdings das Ansehen Rußlands als ,diplomatische Macht‘“221 Indem Radek Scheffer von den Überlegungen führender Personen in einem geheimen Conseil erzählte und signalisierte auch Rantzau sei dem Kreml’ genehm, so wusste er, dass seine Informationen an die richtige Adresse gehen würden und Maltzan alles erfahren würde.222 Die sowjetische Führung engagierte sich nicht weiter zugunsten Hintzes. Als 1922 der Vertrag von Rapallo die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen besiegelte, wurde nicht er, sondern wie von Reichspräsident Ebert gefördert und von Maltzan favorisiert, Graf Brockdorff-Rantzau Botschafter in Moskau. Die sowjetische Außenpolitik geriet in Zugzwang, als der alliierte Syndikatsplan gegen Ende des Jahres 1921 konkretere Formen annahm und auch in Deutschland, insbesondere bei Wiederaufbauminister Rathenau, positive Resonanz fand. An die Stelle der gescheiterten Intervention trat in Sowjetrussland nun das Schreckgespenst einer ökonomischen Invasion und die Furcht vor deren sozialen und politischen Konsequenzen.223 Maltzan sagte zu Schlesinger, er habe ein Schreiben Scheffers über eine von Radek erbetene Besprechung erhalten, demzufolge im Kreml’ große Aufregung wegen der Syndikatskonferenz in London herrsche, an der sich Deutschland offiziell beteilige. Er habe Radek daraufhin vorgeschlagen, zur Fortsetzung der Verhandlungen über die Konzession nach Deutschland zu kommen.224 Vermutlich war die Einladung über den Journalisten Waurick, als inoffiziellen Mittelsmann, ergangen. Das Zentralkomitee der RKP(b) erteilte Radek am 29. Dezember 1921 die Vollmacht zu Verhandlungen mit der deutschen Reichsregierung. Er sollte versuchen, noch vor der für das Frühjahr 1922 geplanten Weltwirtschafts- und Reparationskonferenz in Genua eine deutsch-sowjetische Einigung in die Wege zu leiten.225 *** Mit seiner schillernden Persönlichkeit polarisierte Radek die Menschen. Die Urteile über ihn bewegen sich auch Anfang der 1920er Jahre unverändert in Extremen, wobei jedoch die positiven Charakteristiken überwiegen. Obwohl ein politischer Gegner, beschreibt ihn Curt Geyer als „eine faszinierende Persönlichkeit“: Der „geschickte Faiseur des Kominternpräsidiums“ – Zyniker und Pragmatiker zugleich – habe im Gegensatz zu dem flamboyanten Zinov’ev sorglich darauf geachtet, „sich so einfach wie möglich zu benehmen. Manchmal liebte er es, sich das Aussehen und 221 Scheffer an Maltzan, 17. Dezember 1921. Scheffer, Augenzeuge im Staate Lenins, S. 29. 222 Scheffer, a.a.O., S. 30 223 Goldbach, S. 106. 224 Schlesinger, S. 283. 225 Goldbach, S. 108.

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das Air eines verkommenen Bohemiens zu geben. Mit Vorliebe kaute er auf einer gebogenen Tabakspfeife herum, aus der niemals Rauch kam […]. Hinter diesem zweifelhaften Aussehen – so wie der kleine Moritz sich einen Berufsrevolutionär vorstellt – verbarg er seinen sarkastischen Witz, seinen messerscharfen, aber unruhigen Geist, seine Neigung zu Paradoxen.“226 Paul Levi, zum politischen Todfeind geworden, geht mit ihm scharf ins Gericht: „[…] Radek immer der gleiche Lumpenkerl […]“, charakterisiert er dessen Auftreten auf dem III. Weltkongress.227 Er verhöhnte den Deutschlandbeauftragten der Komintern als „derzeitigen deutschen Ordensgeneral“ und „Hinteretappenfrontgeneral“, der mit „Geschwätz“ und „mit ,Enthüllungen‘ der ,Verräter‘ […] die Welt erobern“ wolle.228 Und als Begründung dafür, warum er sich bei den Kontroversen mit Radek oft wortlos zurückgezogen hat, mag sein Satz gelten: „Es gibt einen Grad von Verleumdung, dem gegenüber einem der Mund verschlossen bleibt, wo das Gefühl völliger Macht- und Mutlosigkeit einen beschleicht, wo die Frechheit des Gegners einen wehrlos macht.“229 Dissidenten von geringerem Format als Paul Levi, behandelte Radek allerdings weitaus nachsichtiger. Während des III. KominternKongresses traf er einmal im Vorzimmer Lenins auf einen Delegierten der KAPD, der längere Zeit vergeblich darauf gewartet hatte zu einem Protest vorgelassen zu werden und seiner Verärgerung in einem Brief an den Sowjetführer Luft gemacht hatte. Als er Radek dies beichtete, lachte dieser herzlich darüber. Eine Viertelstunde später wurde dem immer noch Wartenden, vermutlich auf Radeks Intervention hin, ein Handschreiben Lenins ausgehändigt, in dem dieser sich entschuldigte und um schriftliche Vorschläge bat.230 Curt Geyer umreißt das gegenseitige Verhältnis nach dem politischen Bruch mit Radek mit den Worten: „Abgesehen von unseren politischen Differenzen verstanden wir uns ausgezeichnet“.231 Beide verkehrten nach wie vor freundschaftlich. Diplomatische Akteure, wie Moritz Schlesinger, Gustav Hilger und Professor Wiedenfeld, brachten Radek als einem der entschiedensten Förderer beim Ausbau der deutsch-sowjetischen Beziehungen die „größte Achtung und sehr viel persönliche Sympathie“ entgegen.232 Hilger empfand den „Umgang mit Radek „als ungemein reizvoll, weil er seine Meinungen glänzend und originell auszudrücken und höchst umstrittene und heikle politische Probleme mit überraschendem Freimut zu erörtern pflegte.“233 Wiedenfeld war „es geradezu eine Herzerfrischung, wenn der Mann in sei226 Geyer, S. 237. 227 Brief Paul Levis an Rosa Luxemburgs ehemalige Sekretärin Mathilde Jacob vom 27. Juni 1921. Beradt, S. 57. 228 Levi: „Taktische Fragen“ in „Unser Weg“, 1/2, 1922, S. 17–31. Goldbach, S. 101, Anm. 34. 229 Levi: „Die Verschwörung des Catilina“, in:„Nord und Süd“, 52. Jg., Heft 2/8/9. Beradt, S. 146f. 230 Reichenbach, S. 18. 231 Ebenda, S. 282. 232 Goldbach, S. 104. 233 Hilger, S. 79.

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ner Lebendigkeit und Burschikosität durchs Zimmer tobt[e] und dabei in durchaus kräftigen Worten seine Meinung über Inland und Ausland ausdrückt[e].“234 – „Ich nehme ihn so burschikos, wie er nun einmal gern ist, und komme dadurch recht gut mit ihm zurecht“235, hielt er fest. Sie alle waren von Radeks intellektueller Kapazität und seiner großen Schwäche für Deutschland sichtlich beeindruckt. „Radek ist ein glühender Verehrer der deutschen Kultur und in der deutschen Literatur stärkstens belesen“236, staunte Wiedenfeld, nachdem er einen Abend bei dem Ehepaar Radek verbracht hatte. Schlesinger kolportiert, im Gespräch Radeks mit Scheffer hätten „die Geistesblitze der beiden Schriftgewaltigen nur so gefunkelt“ und Radek habe sich als begeisterter Verehrer der deutschen Kultur bekannt.237 Er „fühlte sich durch engste kulturelle Bande an Deutschland gefesselt und sprach Deutsch besser als jede andere fremde Sprache“238, schildert Hilger seinen Eindruck. „Obendrein“ sei „die Bekanntschaft mit ihm in Moskau sehr nützlich“ gewesen, da er in schwierigen Situationen bei Verhandlungen mit der Sowjetregierung half.239 Ein Urteil, das auch Wiedenfeld teilt, wenn er aus der sowjetischen Hauptstadt schreibt, Radek ist „uns hier in jeder Weise behilflich.“240 Er schätzte die Kontakte mit Radek sehr: „[…] bei ihm lernte ich von Rußland und auch von allgemeiner Politik so viel kennen, daß mir die Unterhaltungen bald recht wertvoll geworden sind.“ Im düsteren Moskau genoss auch Radek die Begegnungen mit seinen deutschen Gesprächspartnern. Wiedenfeld registrierte: „Er ist offenbar zufrieden, mit mir frei von der Leber reden zu können. Meine beiden Mitarbeiter, die ich zu der Unterhaltung noch hinzugezogen hatte, kamen aus dem Staunen nicht heraus, was Radek alles auskramte.“241 Dass sich Radek immer wieder erkennbar zu Deutschland und deutschen Problemen hingezogen fühlte, ist ebenso einer besonderen Affinität zu verdanken, wie auf politische Motive zurückzuführen. Sein Wirken demonstrierte die Zweigleisigkeit der sowjetrussischen Politik: Einerseits, korrekte politische Beziehungen und Kooperation und andererseits – wenn opportun – deren Sabotage durch Agitation und Propaganda sowie Unterstützung der kommunistischen Wühlarbeit. „Niemand in Moskau verstand das Instrumentarium dieser zweigleisigen Politik so perfekt und virtuos zu handhaben wie Radek.“242 Ihm war es beschieden, „im Guten wie im Bösen eine wichtige Rolle in den späteren deutsch-sowjetischen Beziehungen zu spielen.“243 Gustav Hilger, der so urteilt, lernte Radek in Moskau gut kennen und einzuschätzen: 234 Brief Wiedenfelds an seine Frau, 27. Oktober 1921; Wiedenfeld, S. 129. 235 Brief Wiedenfelds an seine Frau, 23. Oktober 1921; Wiedenfeld, S. 127. 236 Brief Wiedenfelds an seine Frau, 16. Oktober 1921; Wiedenfeld, S. 123. 237 Schlesinger, S. 273. 238 Hilger, S. 80. 239 Ebenda. 240 Brief Wiedenfelds an seine Frau, 27. Oktober 1921; Wiedenfeld, S. 123. 241 Wiedenfeld, S. 129. 242 Möller, S. 29. 243 Hilger, S. 77.

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„Sprachlich und kulturell stand er Deutschland sehr viel näher als seiner Wahlheimat Rußland. Und obwohl er die russische Sprache nie völlig zu beherrschen lernte und sie mit einem deutlichen polnischen Akzent sprach, brachten ihm seine enge Verbundenheit mit den Massen, sein einnehmender Witz und seine Schlagfertigkeit in Arbeiterversammlungen stets herzlichen und spontanen Beifall ein. Radek war in ganz Moskau für seine rücksichtslose Kritik bekannt, die er an Menschen und Dingen übte, die ihm mißfielen, und für die beißenden Witze, die er über sie machte. Seine bitteren Sarkasmen gingen von Mund zu Mund und nach einiger Zeit wurde ihm zu Recht oder zu Unrecht jeder in Moskau umlaufende Antisowjetwitz zugeschrieben.“244

Letzteres war sicherlich auch einer der Gründe, weshalb Stalin ihn hasste. Vermutlich hat dem Georgier auch die spöttische Antwort missfallen, mit der Radek einige Moralapostel abspeiste, die sich über das promiskuitive Treiben im Moskauer Hotel Lux, dem Domizil der ausländischen Delegierten der Komintern-Kongresse, entrüsteten. Indem er die Gesellschaftsformationen des historischen Materialismus persiflierte, witzelte er über die Eskapaden der Genossen mit den weiblichen KominternAngestellten: „Warum nicht? Es ist der einzige Beitrag, den die Komintern schon jetzt zur Entwicklung der Menschheit leistet: Vom Matriarchat übers Patriarchat zum Sekretariat!“245 Als Beauftragter für Deutschland betrachtete Karl Radek seine Aufgaben in der Komintern, wie auch seine Arbeit als Deutschlandexperte der Sowjetregierung, als Dienst für Sowjetrussland. Insofern gab es für ihn „keinen Widerspruch zwischen der Funktion im Management der Revolution und der im außenpolitischen Brain-Trust Lenins.“246 In seiner Doppelfunktion steuerte er ebenso den Kampf der Revolutionsund Bürgerkriegspartei KPD gegen die deutsche Regierung, wie er als Angehöriger der Sowjetführung und außenpolitischer Publizist seit 1918 für den modus vivendi, die Koexistenz mit Deutschland, eintrat. Wie Lenin begriff Radek Sowjetrussland im Grunde nur als Kraftwerk der Weltrevolution, das in Zeiten revolutionärer Ebbe die revolutionären Bewegungen außerhalb Russlands mit Energie versorgen sollte. Die wirklichen Beziehungen zur Außenwelt, die unter dem Gesetz des permanenten revolutionären Kampfes standen, konnte nach solcher Betrachtungsweise nur eine von den Bol’ševiki gesteuerte Dachorganisation revolutionärer Parteien und Bewegungen wahrnehmen. Im Sinne dieser Vorstellung war die Komintern denn auch als das eigentliche Instrument einer Außenpolitik der Revolution gedacht.247 Nicht von ungefähr waren Komintern und Sowjetstaat von Anfang an durch eine ungeschriebene Personalunion eng miteinander verbunden, und Radek stufte jede Maßnahme, die im Interesse Sowjetrusslands geschah, als „eine Notwendigkeit im Interesse der

244 Ebenda, S. 78. 245 von Mayenburg, S. 176. 246 Möller, S. 33. 247 Graml, S. 35.

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Weltrevolution“ ein.248 Auch als es die Neue Ökonomische Politik (NEP) Lenins erforderlich werden ließ, mit den Mitteln der konventionellen Diplomatie wieder Anschluss an die internationale Politik zu suchen, blieb die Komintern ein zusätzliches Instrument sowjetischer Außenpolitik. „Die Zweigleisigkeit der Sowjetpolitik – Außenpolitik der Sowjetregierung und revolutionäre Politik Lenins – war in Radeks Person verkörpert.“249 Er „genoß das besondere Vertrauen Lenins, der seinen scharfen Geist und seine glänzende Feder schätzte“.250 Im Hinblick auf die Arbeiterbewegung in Deutschland, verließ sich Lenin auf Radeks Urteil.251 Um die Jahreswende 1920/21 war er als Vertreter des EKKI in Deutschland damit befasst, die Kommunistische Partei zu einer schlagkräftigen Hilfstruppe Moskaus zu machen. Das bedeutete zunächst einmal, die durch die Januarkämpfe 1919 geschwächte und durch die Spaltung auf dem Heidelberger Parteitag dezimierte KPD aus der politischen Isolierung zu befreien und zu einer totalitären Massenpartei auszubauen. Als „Genosse Max“ konspirativ vor Ort, beteiligte er sich maßgeblich initiativ an der Spaltung der USPD und der Vereinigung ihres linken Flügels mit der KPD zur VKPD. In der neuformierten Partei leitete er die erste und entscheidende Phase der Bolschewisierung ein, die das Ziel hatte die deutschen Kommunisten für die revolutionären Ziele der Bol’ševiki und die Außenpolitik Sowjetrusslands zu instrumentalisieren. Der Rücktritt und der anschließende Hinauswurf Paul Levis und seiner Freunde war der Wendepunkt in der Geschichte der KPD. Bis Ende 1921 hatte Radek den Ausschluss aller führenden Funktionäre erreicht, die an den Traditionen Rosa Luxemburgs orientiert, eine skeptische Haltung gegenüber der Vormundschaft Moskaus an den Tag legten. Er sorgte dafür, dass jetzt seine Gefolgsleute an die Spitze der Partei kamen. Bis 1923 lenkten Ernst Meyer, Heinrich Brandler und August Thalheimer die Geschicke der KPD. Radek noch aus dem linksradikalen Spektrum der Vorkriegssozialdemokratie freundschaftlich verbunden, vertrauten sie der Moskauer Führung mit einer gewissen naiven Gläubigkeit, waren jedoch nicht nur bloße Werkzeuge Radeks, wie Curt Geyer meint.252 Radek wird die Anekdote über den alten Juden zugeschrieben, dem es gelungen war, in Moskau eine „ewige Arbeit“ zu erhalten. Er musste jeden Morgen auf den höchsten Turm des Kreml’ steigen und gen Westen spähen, um rechtzeitig vom Feuerschein der proletarischen Weltrevolution Meldung zu machen.253 Den Witz, der 248 Auf dem III. Weltkongress der Komintern antwortete Radek auf den Vorwurf, der Abschluss des britisch-sowjetischen Handelsabkommens vom 16. März 1921 bedeute eine Stärkung des Kapitalismus, jede Maßnahme, die im Interesse Sowjetrusslands erforderlich ist, sei auch eine Notwendigkeit im Sinne der Weltrevolution. Degras, The Communist International, S. 225. 249 Geyer, S. 228. 250 Hilger, S. 77. 251 Reichenbach, S. 18. 252 Angress, S. 135; Löwenthal, S. 10; Singer, in: „Die Zeit“ vom 8. Dezember 1972. Vgl. auch Becker: Heinrich Brandler, S. 127f. 253 Vatlin, S. 2.

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die Diskrepanz zwischen der bolschewistischen Theorie und der politischen Realität zynisch aufs Korn nahm, hat Radek angeblich sogar auf sich selbst bezogen und das Warten auf die Weltrevolution ironisch als seine Lebensstellung bezeichnet.254 Wie schon ein Jahr zuvor255, beschäftigte sich Radek wieder mit der Frage, ob Sowjetrussland den Sozialismus aufbauen könne, ohne auf die Weltrevolution zu warten. Er hatte Georg von Vollmars256 Schrift „Über Staatssozialismus“ ausgegraben, in der dieser die volle Verwirklichung sozialistischer Zielsetzungen in einem geschlossenen Nationalstaat für möglich erklärt hatte. Radek interpretierte das dahingehend, dass Sowjetrussland sehr wohl ein sozialistisches, ja kommunistisches System verwirklichen könne, auch wenn es von einer kapitalistischen Welt umgeben sei. Noch vor Stalin griff er damit eine Idee auf, die das Thema „Sozialismus in einem Lande“ zum Inhalt hatte257, ohne dass sich dieser Gedanke in der Politik der Bol’ševiki zunächst materialisierte. In der Zeit revolutionärer Ebbe begann Radek Anfang 1921 eine neue Kampfmethode zu kreieren, die dem Kommunismus durch Propaganda und Zusammenarbeit mit zeitweiligen Bundesgenossen den Weg zur Machtergreifung ebnen sollte. Ihren ersten Niederschlag fanden diese Überlegungen in dem von ihm verfassten „Offenen Brief“, in dem Gewerkschaften, SPD und USPD ein Minimalprogramm zur Kooperation mit der VKPD vorgeschlagen wurde. Dieses Schreiben war der unmittelbare Vorläufer seiner Einheitsfronttaktik, die sich mit Unterstützung Lenins schließlich gegen alle Widerstände in der Komintern durchsetzte. Ihr einfacher Grundgedanke bestand darin, mit den sozialdemokratischen Arbeitern gemeinsam für höhere Löhne, niedrigere Steuern und andere aktuelle Tagesfragen zu kämpfen. Der Hintergedanke war dabei, dass solche Forderungen in einer krisenhaften wirtschaftlichen Situation wenig Aussicht auf Erfolg hatten und dass daher der Kampf um sie zur Durchbrechung der Schranken der Legalität und zu gemeinsamen revolutionären Aktionen von sozialistischen und kommunistischen Arbeitern führen müsse.258 Die Revolution zog Radek auch in Phasen der Flaute immer ins Kalkül. Wenn sich eine Chance zum erfolgreichen Umsturz bot, so galt es seiner Meinung nach für einen Kommunisten, zu handeln: Dadurch unterscheidet sich die revolutionäre Epoche von der friedlichen, daß in ihr oft von einem Tag auf den anderen die Erfahrung der Massen sich in sprunghaften politischen Entwicklungsreihen kristallisiert, daß das, was gestern unmöglich erschien, auf einmal möglich wird. Wer sich in der Situation zum Taxator der Geschichte macht, nicht zum vorwärtsdrängenden Element, der ist Historiker und nicht Politiker. Er kann als His254 Vgl. oben, Kapitel 11, Anm. 104. 255 Vgl. oben, Kapitel 11, Anm. 231 und 232. 256 Vollmar, Georg von (1850–1922); Führer der bayerischen Sozialdemokraten; 1890–1918 MdR, Verfasser der Schrift „Über Staatssozialismus“, Nürnberg 1892. 257 Geyer, S. 238f. 258 Borkenau, Der europäische Kommunismus, S. 45.

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toriker nachher Recht behalten. Er fällt beim historischen Examen – und das ist immer das Tatexamen – durch.“259

Bei seinen Gegnern wurde der Revolutionär Radek fast zur mythischen Gestalt. So wurde etwa behauptet, er habe sich während der Märzaktion 1921 im mitteldeutschen Kampfgebiet aufgehalten.260 Das ist unzutreffend und nach allem was wir wissen, kommt er auch nicht als Drahtzieher des Aufstands in Betracht. Durch seine ständigen Aufforderungen an die deutschen Kommunisten sich in Aktionen zu profilieren, trug er jedoch zweifellos die intellektuelle Mitverantwortung an dem katastrophal gescheiterten Putsch. Dazu beigetragen hat die häufige Ambivalenz und Ambiguität seiner Tiraden und Pamphlete. Lenin hat diese Schwäche Radeks richtig erkannt. „Wir sollten doch aufhören, Broschüren statt Thesen zu schreiben“, lautete ein klar auf Radek bezogener Stoßseufzer, mit dem er einmal die Langatmigkeit und fehlende Eindeutigkeit von dessen Ausführungen beklagte. Und ohne Umschweife bezichtigte er ihn der Verschwommenheit und klagte, jeder lese bei Radek das heraus, was er wolle.261 In der Frage der Taktik der revolutionären Offensive hat Radek im Frühjahr 1921 kurzzeitig eine unklare Haltung eingenommen oder wie Lenin es formulierte, geschwankt, aber dann doch schnell wieder zu seiner Linie des Offenen Briefes zurückgefunden. Zur Zeit des III. Weltkongresses teilte er jedenfalls keineswegs die linke Position Zinov’evs und Bucharins, wie es ihm Trockij später unterstellt hat: „Auf dem III. Kongreß der Komintern haben die damaligen Ultralinken (Sinowjew, Thalheimer, Thälmann262, Bela Kun usw.) die Taktik des Putschismus im Westen vertreten, als den Weg zur Rettung der USSR. Gemeinsam mit Lenin setzte ich [Trockij] ihnen so populär wie möglich auseinander, daß es ihrerseits die beste Hilfe sein würde, wenn sie planmäßig und systematisch ihre Position sichern und sich auf die Eroberung der Macht vorbereiten würden, statt revolutionäre Abenteuer für uns zu improvisieren. Damals war Radek bedauerlicherweise nicht auf seiten Lenins und Trotzkis, sondern auf der Seite von Sinowjew und Bucharin.“263

Das Gegenteil ist richtig. Radek lieferte Trockij nicht nur das Material für dessen Hauptreferat auf dem Kongress, sondern er stand als der eigentliche Schöpfer der 259 Radek, in: „Die Kommunistische Internationale“ Nr. 12, 1920, S.  167 f. Goldbach, S.  61, Anm.13. 260 Reichskommissar für Überwachung der Öffentlichen Ordnung vom 3. Mai 1921: „Märzaktion und nächste Aufgaben“ über ein vermutlich von Radek stammendes und in Halle gefundenes Schreiben des EKKI. Schüddekopf, Linke Leute von rechts, Seite 415, Anm. 1. 261 Brief Lenins an Zinov´ev vom 10. Juni 1921. Lenin, Werke, Ergänzungsband 2, S. 329. 262 Thälmann, Ernst (1886–1944), Transportarbeiter, kommunistischer Politiker; seit 1920 KPDMitglied, 1925–1933 deren Vorsitzender und MdR; ab 1933 im Konzentrationslager; 1944 im KZ Buchenwald erschossen. 263 Trotzki [Trockij], Die permanente Revolution [geschrieben 1929], S. 140.

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neuen Komintern-Strategie ohne Frage auf Lenins Seite. Völlig im Konsens mit Lenin wurde der III. Weltkongress der Komintern für Radek zum politischen Triumph. Von Lenin vorgeschickt, warf er erstmals seine Idee der Einheitsfront mit den Sozialdemokraten in die internationale Debatte. In der Folge wurde das bis dahin rein deutsche Experiment zum wesentlichen Bestandteil der offiziellen kommunistischen Weltstrategie erklärt und den Erfordernissen der Neuen Ökonomischen Politik angepasst.264 Die Kommunistischen Parteien im Westen, alle „Sektionen der Komintern“, sollten den Eintritt Moskaus in die internationale Politik durch klug bemessenen Einsatz in den Parlamenten und Gewerkschaften ihrer Länder erleichtern. Für revolutionäres Abenteurertum und linken Radikalismus sollte in der Kommunistischen Internationale nach der missglückten Märzaktion kein Platz mehr sein.265 Nach dem Kurswechsel zur Neuen Ökonomischen Politik bejahte Radek die Frage eines Journalisten, ob die Kommunistische Partei Russlands sich dadurch wandeln werde: „Gewiß, wir wandeln uns täglich. Als wir als Revolutionäre im Exil in der Schweiz lebten, haben wir uns nie darum gekümmert, ob es regnete, weil wir mit Diskussionen über den Marxismus beschäftigt waren. Und jetzt machen wir uns mehr Sorgen über Regen und Dürre als über die Philosophie […]. Früher fanden wir, ein Bürgerlicher sei nur wert, ausgerottet zu werden; heute überlegen wir uns, ob er ein guter Fabrikdirektor wäre.“266

Flankiert wurde die „Liberalisierung“ des wirtschaftlichen Sektors durch eine rigorose Disziplinierung der RKP(b) und des gesamten politischen Lebens in Sowjetrussland. Ausgelöst wurde diese Entwicklung, die schließlich in der Diktatur Stalins endete, durch den Beschluss des X. Parteitags „Über die Einheit der Partei“. Dessen bis 1924 geheim gehaltene Ziffer 7 über die „Ausmerzung jeglicher Fraktionsbildung“267 bereitete die künftigen Säuberungen vor. Obwohl Radek die Risiken dieser auch für sein Schicksal entscheidenden Weichenstellung voraussah, hat er – wie alle anderen Sowjetführer – dem Verbot der oppositionellen Gruppen innerhalb der Partei nicht nur zugestimmt, sondern sogar noch überzeugend dafür geworben. Die Frage der Machterhaltung war auch ihm zum wichtigsten Problem des Bolschewismus geworden. 264 Angress, S. 259. 265 Kernig, Die Kommunistischen Parteien der Welt, Sp. 20. 266 Michael Farbman, Journalist des Londoner Observer, in seinem Buch: Bolshevism in Retreat, London 1923, S. 303. Fischer, Louis, S. 613. 267 Ziffer 7 der „Resolution des X. Parteitags der KPR(B) über die Einheit der Partei“ lautet: „Um innerhalb der Partei und in der gesamten Sowjetarbeit strenge Disziplin herbeizuführen und die größte Einheit bei der Ausmerzung jeglicher Fraktionsbildung zu erzielen, ermächtigt der Parteitag das Zentralkomitee, in Fällen von Disziplinbruch oder von Wiederaufleben oder Duldung der Fraktionsbildung alle Parteistrafen bis zum Ausschluß aus der Partei und gegenüber Mitgliedern des ZK deren Überführung in den Stand von Kandidaten des ZK, ja als äußerste Maßnahme sogar den Ausschluß aus der Partei in Anwendung zu bringen […].“ Lenin, Werke, Band 32, S. 248.

14.  „Ein wertvoller Genosse“ (1922) Als „Augenzeuge im Staate Lenins“ kam der Journalist Paul Scheffer in Moskau bereits Ende 1921 zu dem treffenden Schluss, nicht die Sowjetregierung, also der Rat der Volkskommissare, sei ausschlaggebend in der sowjetischen Politik, „sondern der innere Kreis des Zentralkomitees der Partei mit Lenin, Bucharin, Trotzki, Radek, Stalin Kamenjew und ihren nächsten Freunden. Sie haben die alles bewegende Initiative, halten die Macht.“1 Gestützt wird diese Beurteilung durch den britischen Botschafter in Berlin, d’Abernon2, der im Oktober 1922 nach einem Gespräch mit einem Mitglied der britischen Handelsmission in Moskau in seinem Tagebuch festhielt: „Lenin hat noch allmächtigen Einfluß; nach ihm kommen Trotzki, Radek und zwei oder drei andere, die in Europa weniger bekannt sind.“3 Radeks Verhandlungspartner im deutschen Auswärtigen Amt, von Maltzan, schilderte Radek zwar als einen „gefährlichen, rücksichtslosen Kerl“ und „niedrigen Charakter“, respektierte aber dessen Klugheit und vertrat die Auffassung, „daß er in der Außenpolitik Moskaus eine große Rolle spielt und seine Meinung durchzusetzen versteht.“4 In der Tat wurden in Moskau wichtige Probleme der Diplomatie von einem kleinen Komitee entschieden, das aus Lenin, Trockij und Kamenev bestand und zu dessen Beratungen Außenkommissar Čičerin und oft auch Radek hinzugezogen wurden.5 Was die Politik gegenüber Deutschland anbelangte, so spielte Radek eine herausragende Rolle in den Bestrebungen Sowjetrusslands, die internationale Isolierung zu durchbrechen und die völkerrechtliche Anerkennung zu erreichen. 1922 galt es vor allem, das unter deutscher Beteiligung geplante internationale Finanzkonsortium (Syndikat) für den Wiederaufbau Russlands zu verhindern. Ein Vorhaben, das Moskau für einen geschickten Schachzug des Westens hielt, um das Sowjetregime nach der gescheiterten militärischen Intervention nun mit ökonomischen Mitteln auszuschalten. Nichts fürchtete Moskau mehr als eine „Einheitsfront“ der kapitalistischen Staaten und so war es bestrebt, Deutschland aus einer solchen Allianz unbedingt herauszuhalten.6 Darauf konzentrierte sich zunächst der diplomatische Auftrag Radeks, der während des ganzen Jahres 1922 zwischen Moskau und Berlin hin und her pendelte, gleichzeitig auf dem zweiten Gleis der sowjetischen Politik aktiv und bemüht, eine Einheitsfront zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten herzustellen. Nach Meinung Radeks zielte der Syndikatsplan darauf ab, Russland die ganze Last der deutschen Reparationen mit aufzubürden, indem es deutsche Waren kaufte 1 Scheffer, „Berliner Tageblatt“ vom 20. Dezember 1921, in: Ders., Augenzeuge im Staate Lenins, S. 75. 2 d’Abernon, Edgar Vincent, Viscount (1857–1941); 1920–1926 britischer Botschafter in Berlin. 3 d’Abernon, Tagebucheintrag vom 28. Oktober 1922; d`Abernon , Band II, S. 146. 4 d’Abernon, Tagebucheintrag über ein Gespräch mit Maltzan am 21. Mai 1923; ebenda, S. 253. 5 Deutscher, Trotzki II, S. 66. 6 Krummacher/Lange, S. 124.

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und den Alliierten im Austausch dafür Rohstoffe liefern sollte. Dies bedeute nichts anderes, als dass Deutschland eine „industrielle Kolonie“ und die Sowjetrepublik eine „agrarische Kolonie“ des Westens werden würde.7 Entsprechend dieser von ihm gemeinsam mit Professor Evgenij Varga8 und Bucharin entwickelten Theorie, behandelte er Anfang Januar, eine Woche bevor er zu Verhandlungen nach Berlin fuhr, das Thema „Deutschland, Sowjetrussland und die Entente“ in der „Pravda“. Er nannte Deutschland eine „Kolonie erster Kategorie“ und Russland eine „zweiten Grades“: „Deutschland wird eine industrielle Kolonie sein, eine Kolonie höherer Kategorie, welche die Herrschaft der Entente in den Kolonien niederen Ranges, befestigen soll.“ Dann bediente er sich in seinem Artikel der diplomatischen Hebelwirkung des Artikels 116 gegenüber Berlin: „Einer der geschicktesten Schritte in diesem diplomatischen Spiel ist der § 116 des Versailler Friedens, welcher Sowjetrußland das Recht auf Entschädigung seiner Verluste von seiten Deutschland zuerkennt. In demselben Augenblick, wo man von Rußland die Anerkennung vieler Dutzend Milliarden Goldrubel als Ententeschuld verlangt, flüstert man ihm ins Ohr: Wir werden deine Lage erleichtern und dir 30 Milliarden Goldmark als Entschädigung für die Verluste zuerkennen, die dir Deutschland zugefügt hat. Du sagst, Deutschland sei nicht in der Lage, die Schuld an Frankreich zu zahlen? Du irrst. Deutschland kann nicht in Gold zahlen, aber es kann zwei bis drei Jahrzehnte für die Entente arbeiten. Ein Teil seines Arbeitsproduktes wird Russland zum Wiederaufbau seiner Eisenbahnen und der Landwirtschaft erhalten. Auf solche Weise will man Russland in eine schwierige Lage bringen. Würde es dem Vorschlag zustimmen, dann würde es ein Teilnehmer der Ausplünderung Deutschlands sein. Wenn es darauf verzichtet, wird es sich in einer schwierigen Lage befinden, denn die Volksmassen werden unter dem Mangel an Maschinen, Pflügen, Transportmitteln usw. zu leiden haben.“9

Das war keineswegs eine eindeutige Absage an das französische Angebot, Russland solle den Artikel 116 in Anspruch nehmen und von Deutschland Reparationen fordern. Es war ein deutlicher Wink an die Reichsregierung, dass Sowjetrussland im Falle eines deutschen Schulterschlusses mit der Entente noch einen Trumpf in der Hand hielt. 7 Carr, Berlin – Moskau, S. 72–74. 8 Varga, Evgenij Samojlovič, bekannt auch als Eugen Varga oder Jenö Varga (1879–1964); ungarischer Revolutionär und sowjetischer Wirtschaftswissenschaftler; 1919 in der ungarischen Räterepublik Béla Kuns Finanzkommissar und Vorsitzender des Wirtschaftsrates; seit 1920 in Sowjetrussland, Mitglied der RKP(b) und bis 1922 Arbeit für die Komintern; publizierte seine politökonomischen Schriften auch unter dem Pseudonym E. Pavlovskij. 9 Radek, Meždunarodnoe obozrenie [Auslandsspiegel], in: „Pravda“ Nr. 2 vom 3. Januar 1922. Deutsche Übersetzung mit dem Titel ,Die Entente – Sowjetrußland und Deutschland‘, in: „Die Rote Fahne“, 29. Januar 1922 (2. Beilage). Zitiert nach: Möller, S. 217f.

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Der Einladung Maltzans zu Verhandlungen im Auswärtigen Amt folgend und mit einem Mandat des Zentralkomitees der RKP(b) ausgestattet, fuhr Radek am 10. Januar 1922 von Moskau ab. Mit ihm zusammen reisten der künftige Sowjetbotschafter Krestinskij, der deutsche Journalist Waurick und eine von Hauptmann Ritter von Niedermayer10 geführte deutsche Kommission, die in Russland vorbereitende Gespräche über ein Engagement der Flugzeugfirma Junkers geführt hatte.11 „Glatt rasiert […] gut gekleidet, die Hornbrille vor den strahlenden Schwärmeraugen. ,Ich habe sogar Bügelfalten in den Hosen: Sie können mit mir also ruhig reden wie mit einem feinen Herrn‘ […]“12, so tauchte Karl Radek Mitte Januar in Berlin auf13. Er führte nicht den eigenen durch die revolutionäre Vergangenheit belasteten Namen, sondern benutzte den Decknamen Konstantin Roemer, unter dem er auch im Auswärtigen Amt auftrat.14 „Er war „in den Ämterkanzleien und Chefbureaux von W8 ein umworbener Gast und, wochenlang, der Löwe der Salons von W10. Die Herren fanden ihn ,fabelhaft interessant‘, die Damen ,einfach entzückend‘. Er war die Januarmode.“15 In der Reichshauptstadt eingetroffen, wünschte er sofort den Chef der Heeresleitung von Seeckt zu sprechen, musste aber zunächst mit Hauptmann Fischer16, dessen früherem Adjutanten und Russlandexperten vorliebnehmen.17 Sogleich empfangen wurde er hingegen im Auswärtigen Amt. Am 16. Januar hatte er seine erste Unterredung mit dem Leiter der Ostabteilung von Maltzan. In diesem Gespräch, so berichtete Maltzan später Schlesinger, habe Radek den starken Mann gespielt und sei erpresserisch aufgetreten. Er habe wissen lassen, bei den mit Frankreich und England geführten sowjetischen Vorbesprechungen habe man sich bereits grundsätzlich darüber verständigt, dass die russischen Vorkriegsschulden gemäß Artikel 116 durch Deutschland aufgebracht werden sollten. Maltzan, der durchschaute, dass Radek den Artikel 116 nur als diplomatisches Druckmittel benutzte, um die deutschen Partner 10 Niedermayer, Oskar Ritter von (1885–1948); Hauptmann und Angehöriger von Seeckts „Sondergruppe R[ussland]“ im Truppenamt, die 1921 beginnend, insgeheim die militärische Zusammenarbeit mit Sowjetrussland vorbereitete. Niedermayer, ab 1931 Professor für Wehrgeographie, war im 2. Weltkrieg Generalmajor der Osttruppen; nach dem 20. Juli 1944 im Widerstand; 1948 gestorben im Gefängnis von Vladimir, östlich Moskau. 11 Neben Niedermayer, der unter dem Decknamen „Neumann“ reiste, gehörten der Kommission an: Major Dr. Wilhelm Schubert (1879–1972; Abschied 1942 als General der Luftwaffe), den Radek bereits in der deutschen Gesandtschaft in Moskau als Bevollmächtigten der OHL und Militärattaché kennengelernt hatte sowie die Junkers-Direktoren Gotthard Sachsenberg (geboren 1891, Jagdflieger im 1. Weltkrieg) und Spalek. 12 Harden, Maximilian, Genua ist die Spindel, in: Zukunft 23, XXX, 4. 3. 1922, S. 245f. Goldbach, S. 109. 13 Maltzan ließ Schlesinger Mitte Januar wissen, Radek sei eingetroffen. Schlesinger, S. 284. 14 Schieder, Die Entstehungsgeschichte des Rapallo-Vertrages, S. 560. 15 Harden, a.a.O. 16 Fischer, Herbert (1882–1939); im 1.Weltkrieg Adjutant Seeckts in der Türkei und nun Leiter der Sondergruppe R[ussland] im Truppenamt; 1938 Abschied als General der Infanterie. 17 Zeidler, S. 59.

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vertragswilliger zu stimmen, trat ihm scharf entgegen, lehnte Verhandlungen unter solchen Voraussetzungen ab und forderte ihn auf, die sowjetischen Verhandlungsziele präzise zu definieren. Daraufhin habe Radek bei den am 17. und 18. Januar mit Reichskanzler Wirth geführten Gesprächen „nun viel billiger gespielt und zahlreiche Vorschläge für das weitere Vorgehen gemacht.“ Moskau wolle allerdings die mit Schlesinger im Dezember 1921 ausgehandelte Konzessionsoption nicht weiter verfolgen, sondern wünsche jetzt einen Warenkredit in Höhe von 300 Millionen Goldmark.18 Radeks „Mission Roemer“ und die Verhandlungen im Auswärtigen Amt sind detailliert untersucht und dargestellt worden19, so dass im folgenden lediglich die wichtigsten Aspekte zusammengefasst wiedergegeben werden. In der Anfangsphase der Gespräche, die bis zum 17. Februar dauerten, traten politische Inhalte noch zurück. Die Frage der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen bezeichnete Radek, wohl nicht ganz aufrichtig, als nicht dringlich. Mit seiner Kreditforderung erweckte er den Anschein, als ob es Sowjetrussland zunächst nur auf die Gewährung wirtschaftlicher und finanzieller Hilfe ankäme.20 So auch in Gesprächen mit am Russlandgeschäft interessierten Wirtschaftskreisen, wie Vertretern des Großindustriellen Hugo Stinnes21, dem Generalbevollmächtigten der Krupp AG Wiedfeld22 und Walter Rathenau. Als sich letzterer, zu diesem Zeitpunkt noch nicht Außenminister, gegen eine Kreditgewährung und für den alliierten Syndikatsplan aussprach, gab Radek ungeniert zu verstehen, dass Sowjetrussland dann gezwungen sei, sich in die Hand der Ententemächte, besonders Frankreichs, zu begeben.23 Viscount d`Abernon, der als Entente-Botschafter in Berlin die „Mission Roemer“ mit Argusaugen verfolgte, registrierte, Radek habe „ununterbrochen Besprechungen mit den deutschen Ministern, Beamten und Parteipolitikern: „Er erzählt allen dieselbe Geschichte: daß Frankreich zu einem Geheimabkommen mit Rußland bereit sei und daß es ihm Handelskredite, […] wirtschaftliche Hilfe beim Wiederaufbau und die Zahlung einer Kriegsentschädigung durch Deutschland auf Grund des Artikels 116 des Versailler Vertrages versprochen habe. Seltsamerweise ist das gar nicht Radeks Politik, sondern die Tschitscherins. Radek lehnt sie im Grunde seines Herzens ab, macht von ihr jedoch aus taktischen Gründen Gebrauch. Er erklärt den deutschen Vertretern; ,So steht es nun – wenn ihr uns nicht in die Arme Frankreichs treiben wollt, macht uns ein Gegenangebot. Gebt uns eine Anleihe und entschließt euch, die vollen diplomatischen Beziehungen mit uns sofort aufzunehmen, noch vor dem Zusammentritt der Genua-Konferenz.“24 18 19 20 21 22 23 24

Schlesinger, S. 284. Schieder, Die Entstehungsgeschichte des Rapallo-Vertrages, S. 545–609. Ebenda, S. 562. Stinnes, Hugo (1870–1924), deutscher Kohle- und Stahlindustrieller. Wiedfeld, Otto (1871–1926); Direktoriumsmitglied der Krupp AG. Schlesinger, S. 286. d’Abernon, Tagebucheintrag vom 28. Januar 1922; d`Abernon, Band II, S. 280f.

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Nachdem es sich herausgestellt hatte, dass die deutschen wirtschaftlichen Möglichkeiten weit hinter Radeks Wünschen zurückblieben, begann er davon zu sprechen, die deutsche Regierung solle ihr „materielles Manko“ durch „politisches Interesse“ ausgleichen. Er stellte nun die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen als „moralischen Ersatz“ in den Vordergrund seiner Bemühungen.25 Als Rathenau am 31. Januar zum Außenminister ernannt wurde, suchte Radek erschrocken Schlesinger auf, um in Erfahrung zu bringen, „ob Rathenau eine definitive Kehrtwendung nach dem Westen machen werde.“26 In dieser Situation hat Radek dann den Artikel 116 als Druckmittel überstrapaziert. Er nahm über einen kommunistischen Mittelsmann Kontakt zur französischen Regierung auf und gab ein unmissverständliches Interview im „Matin“. Auch in der „Roten Fahne“ lancierte er eine ganze Reihe von Meldungen über das russisch-französische Verhältnis. Der Flirt mit Frankreich blieb jedoch erfolglos. Rathenau, der in dem „schmierigen Judenjungen“27 Radek keinen seriösen Verhandlungspartner sah, lehnte es strikt ab, den Sowjets Zugeständnisse im Hinblick auf die deutsche Beteiligung an dem internationalen Wirtschaftskonsortium zu machen.28 Anfang Februar kam schließlich ein Arrangement mit Maltzan zustande. Es handelte sich um ein Fünf-Punkte-Programm, das den sowjetrussischen Verzicht auf Artikel 116 gegen den deutschen Verzicht auf die Beteiligung an dem internationalen Konsortium zum Wiederaufbau Europas beinhaltete und im Wesentlichen den Inhalt des Vertrages von Rapallo vorwegnahm. Radek verweigerte jedoch die Unterschrift unter das Papier, als Rathenau den russischen Verzicht auf Wiedergutmachung lediglich mit einem Gedankenaustausch honorieren wollte, der mit Moskau vor einer deutschen Beteiligung an Unternehmungen des Konsortiums stattfinden sollte.29 Enttäuscht quittierte Radek dies mit der Bemerkung, er habe den Eindruck gewonnen, „daß die deutsche Regierung nach Westen hin zu unfrei sei, um selbständige Entscheidungen nach Osten fassen zu können.“ Radek war mit seiner letztlich am Veto Rathenaus gescheiterten Verhandlungstaktik ein unmittelbarer Erfolg in Berlin versagt geblieben. Dennoch bildete die „Mission Roemer“ die erste Phase der Verhandlungen, die zur „Sensation von Rapallo“ führten und die in ihren inhaltlichen Ergebnissen erstmals den zwei Monate später unterzeichneten Rapallovertrag in seinen Umrissen deutlich werden ließen. Auch auf einem weiteren Sektor scheinen Radeks Gespräche in Berlin zwar kurzfristig ohne Resultat, langfristig aber von Erfolg begleitet gewesen zu sein. Parallel zu den Verhandlungen im Auswärtigen Amt und dem Gespräch mit der deutschen Industrie sondierte er bei der Reichswehr die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit auf rüstungswirtschaftlichem und militärischem Gebiet. Am 10. Februar wurde er von General von Seeckt zu dem bereits bei der Ankunft in Berlin erbetenen Gespräch 25 26 27 28 29

Schieder, a.a.O. Schlesinger, S. 289f. d’ Abernon, Band I, S. 286. Goldbach, S. 111. Schieder, S. 564.

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empfangen. Dabei gab er dem Wunsch nach konkreten militärischen Vereinbarungen Ausdruck. Er schlug vor, mit deutscher Hilfe die russische Rüstungsindustrie aufzubauen und regte Besprechungen der Generalstäbe „über mögliche militärische Lagen“ an. Auch bat er um Ausbildungshilfe für die Rote Armee, deren Neuaufbau man in Moskau große Aufmerksamkeit schenke, und um Überlassung „deutscher Vorschriften und militärischer Literatur zur Förderung des sehr tief stehenden russischen Offizierskorps“. Während Radek in den vorausgegangenen Gesprächen mit Maltzan nur nebenbei erwähnt hatte, die gemeinsame Situation mit Polen bedürfe der Klärung30, wurde er Seeckt gegenüber sehr deutlich. Dringlich seien vor allem Flugzeuglieferungen, da Sowjetrussland beabsichtige, im kommenden Frühjahr [1923] Polen anzugreifen.31 In der Literatur herrscht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass Radek in der Unterredung die Wunschliste des Kriegskommissariats abarbeitete und „gewiß im Auftrage des Kreml’, über eine Mitwirkung Deutschlands bei einem russischen Angriff gegen Polen zu verhandeln“ suchte.32 Für diese Version würde auch sprechen, dass er, im Bewusstsein der Wichtigkeit dieser Mission, sofort bei seiner Ankunft in Berlin darauf drang, mit Seeckt zu sprechen. Demgegenüber relativiert Carr das Ansinnen Radeks, indem er zweifelnd urteilt: „Wenn dies zutrifft, so kann es doch kaum eine ernsthafte Absicht der Sowjetregierung dargestellt haben.“ Radek folgte wohl „lediglich der Einschärfung Lenins, ,die polnische Karte auszuspielen‘.“33 Seeckt sah allerdings keinen Anlass, die Ernsthaftigkeit der Mitteilung „des klugen und gewandten Juden“ infrage zu stellen. Er antwortete ihm ausweichend, die gemeinsamen Ziele Deutschlands und Russlands lägen erst in der Zukunft34 und lehnte ein militärisches Zusammengehen mit Sowjetrussland gegen Polen ab, da dies den sofortigen Krieg mit Frankreich und der Tschechoslowakei zur Folge haben müsste. Jedoch riet er Reichskanzler Wirth, den er über die Unterredung unterrichtete, im Falle eines sowjetischen Angriffs auf Polen zu wohlwollender Neutralität, wie sie Deutschland bereits im russisch-polnischen Krieg von 1920 geübt hatte.35 30 Schieder, Die Entstehungsgeschichte des Rapallo-Vertrages, S. 573. 31 Carsten, S.  144; Köstring, S.  47; Meier-Welcker, S. 322 und S. 326; Rabenau, S. 309, die sich auf die Notizen von Generalleutnant Lieber – „Seeckt als Chef der Heeresleitung“ – im SeecktNachlass des Militärgeschichtlichen Forschungsamts (Freiburg) stützen. 32 Köstring, S. 47; so auch Rabenau, S. 309. 33 Carr, Berlin-Moskau, S. 381. 34 Was Seeckt mit diesem Fernziel meinte, formulierte er in seiner Denkschrift vom 11. September 1922: „Polens Existenz ist unerträglich, ist unvereinbar mit den Lebensbedingungen Deutschlands. Es muß verschwinden und wird verschwinden durch eigene innere Schwäche und durch Russland  – mit unserer Hilfe. Mit Polen fällt eine der stärksten Säulen des Versailler Friedens, die Vormachtstellung Frankreichs. Dieses Ziel zu erreichen, muß einer der festen Richtungspunkte der deutschen Politik sein, weil er ein erreichbarer ist. Erreichbar nur durch Russland oder mit seiner Hilfe. Russland und Deutschland in den Grenzen von 1914 sollte die Grundlage einer Verständigung zwischen beiden sein.“ Zitiert nach Krummacher/Lange, S. 138f. 35 Rabenau, a.a.O.

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Obwohl es bereits seit 1921 zu rüstungswirtschaftlichen und militärischen Sondierungen zwischen Berlin und Moskau gekommen war, hat es den Anschein, dass Radeks Treffen mit Seeckt die politische Weichenstellung in Richtung auf eine künftige Kooperation von Reichswehr und Roter Armee zumindest atmosphärisch positiv beeinflusst und damit beschleunigt hat. Einen Monat danach kam es zum Vertragsabschluss zwischen der Sondergruppe R[ussland] im Reichswehrministerium und den Junkerswerken, die kurz darauf mit dem Bau eines Flugzeugwerks in Fili bei Moskau begannen. Im Laufe des Jahres 1922 fuhren die ersten Reichswehroffiziere zur militärischen Ausbildung nach Russland, der Ausbildungschef der Roten Armee erhielt die Erlaubnis zur Besichtigung der Münchner Infanterieschule und sowjetische Kriegsschiffe liefen zu Besuchen deutsche Ostseehäfen an. Radeks militärischer Erstkontakt in Berlin, Hauptmann Fischer, ging unter dem Decknamen Frank als Vertreter der Sondergruppe R in die sowjetische Hauptstadt, um die Interessen des Reichswehrministeriums wahrzunehmen. Dort befand sich bereits Radeks alter Bekannter Major Schubert, der seinen Abschied genommen hatte und nun die Firma Junkers vertrat. Die guten Beziehungen der Militärs zu Karl Radek bewährten sich, als die Verhandlungen über den Konzessionsvertrag zwischen der Sowjetregierung und Junkers Mitte Oktober ins Stocken gerieten und Fischer „im Interesse des großen Ziels unserer gemeinsamen Arbeit“ Radek erfolgreich einschaltete. Bei dieser Gelegenheit erbat sich Radek bei Fischer ein militärisches Gutachten des Reichswehrministeriums zur Frage der Dardanellenverteidigung, ein Thema, das wegen der zum Jahresende anstehenden Lausanner Meerengenkonferenz für die Sowjetregierung von besonderem Interesse war. Seeckt sagte die sofortige Bearbeitung zu und übernahm selbst den Abschnitt über die Grenzverhältnisse in Thrazien.36 Am 19. Dezember 1922 war Radek wieder in Berlin und traf sich in der Wohnung des Major von Schleicher37 mit Oberst Hasse38, dem Vertreter Seeckts, zu einem militärpolitischen Meinungsaustausch. Im Verlauf des Gesprächs entwickelte er weitgespannte internationale Bündnispläne und sprach von der Möglichkeit eines Zusammengehens von Deutschland, Sowjetrussland, den USA und vielleicht auch China.39 Möglicherweise wurde bei dieser Gelegenheit auch das Thema einer gemeinsamen Offensive gegen Polen angesprochen.40 Aber im Gegensatz zu den Sowjets, die – wie aus Radeks weitreichenden Vorschlägen ablesbar ist – ein militärisches Bündnis anstrebten41, war es der Reichswehrführung vor allem darum zu tun, die Deutschland auferlegten Abrüstungsbestimmungen zu umgehen und „auf russischem Gebiet, un36 Zeidler, S. 56f. und S. 64. Das Gutachten wurde vom Reichswehrministerium Ende November 1922 an Moskaus Lausanne-Delegation übergeben, als diese in Berlin Zwischenstation machte. 37 Schleicher, Kurt von (1882–1934); Militär; 1932 als General der Infanterie aus der Reichswehr ausgeschieden und von Dezember 1932 – Januar 1933 deutscher Reichskanzler; 1934 zusammen mit seiner Frau von den Nationalsozialisten im Verlauf des sogenannten „Röhm-Putsches“ ermordet. 38 Hasse, Otto (1871–1942); Chef des Truppenamtes 1922–1926; Abschied als Generalmajor. 39 Zeidler, S. 65. 40 Pächter, S. 110f. 41 Angress, S. 370.

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beobachtet von der Entente, Erfahrungen in der Entwicklung derjenigen Waffen zu sammeln“, die der Versailler Vertrag verboten hatte.42 Während Radek Anfang des Jahres 1922 in Berlin mit „Industrie- und Bankgebietern, Ministern und Staatssekretären“ verhandelte43, war er bestrebt, seine Tätigkeit als Komintern-Funktionär in der KPD so gut wie möglich zu kaschieren. Die mit seinem Namen gezeichneten Artikel verschwanden aus der „Roten Fahne“ und das Blatt dementierte die Meldung, er habe am 22. und 23. Januar an Sitzungen des Zentralausschusses der Partei teilgenommen, in denen die Grundlagen der kommunistischen Taktik zur Diskussion standen.44 Mit dem Komintern-Funktionär Victor Serge, der sich konspirativ in Berlin aufhielt, wechselte er nur einen kurzen Blick des Einverständnisses, wenn er ihm auf dem Kurfürstendamm begegnete und ging grußlos weiter, um mögliche Beschatter zu täuschen.45 Während der schwelenden Regierungskrise Mitte Februar sagte er auf einer Gesellschaft im Hause Maltzan dem USPD-Politiker Breitscheid46, es komme im Augenblick nur darauf an, das russlandfreundliche Kabinett Wirth zu erhalten: „Er [Radek] erklärte, er könne deshalb keinen Einfluß auf die Kommunisten ausüben, weil er in amtlicher Eigenschaft in Berlin sei und nicht den Eindruck erwecken wolle, als ob er aus irgendwelchen russischen Interessen heraus irgendwie für die Erhaltung des Kabinetts Wirth eintrete. Wäre er Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei, so würde er dafür stimmen, dass bei der entscheidenden Abstimmung die Fraktion nur einen Horchposten im Saal lasse und im übrigen nicht an der Abstimmung teilnehme.“47

Radek nahm jedoch nicht nur an den „einzigartigen Gesellschaften“ des vermögenden Freiherrn von Maltzan teil, die „Gäste von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken“ vereinten.48 Er verkehrte auch in der Zehlendorfer Villa des linksstehenden Historikers Eduard Fuchs49, wo sich ausländische Kommunisten, aber auch „Illegale und Sendboten der Internationale“ als Besucher einfanden.50 Ebenfalls im

42 Köstring, S. 47. 43 Harden, a.a.O., S. 245. 44 Goldbach, S. 110. 45 Serge, Beruf: Revolutionär, S. 184. 46 Breitscheid, Rudolf (1874–1944); SPD- und USPD-Politiker. 47 Harden, a.a.O., S. 246. 48 So beispielsweise den deutschnationalen Ostexperten Prof. Otto Hoetzsch, führende Publizisten der Weimarer Republik, wie Theodor Wolff (1868–1943) und Georg Bernhard (1875–1944), die Sozialdemokraten Rudolf Breitscheid und Otto Wels (1868–1943) sowie später auch die Bol´ševiki Krasin und Čičerin; von Blücher, S. 95. 49 Fuchs, Eduard (1870–1940), Essayist und Historiker; zum Freundeskreis Rosa Luxemburgs, Karl Liebknechts und Franz Mehrings gehörend; 1919 Eintritt in die KPD. 50 Serge, Beruf: Revolutionär, S. 185.

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Januar 1922 traf er Karl Haushofer51, den „Vater der deutschen Geopolitik“. Die Begegnung stand im Zusammenhang mit den unter deutschem Patronat in Berlin stattfindenden russisch-japanischen Gesprächen über die Rückgabe Nordsachalins an Sowjetrussland. Radek nahm daran teil und der Asienexperte Haushofer, der als Vertrauensmann der Japaner hinzugezogen wurde, erinnert sich: „Die Verhandlungen, die zumeist in der damaligen Handelsdelegation der Sowjets stattfanden […], waren sehr interessant, zogen sich in dichten Rauchwolken mit viel Schnaps und auf völlig mit Papirossi-Stummeln verdreckten Boden bis tief in die Nächte hin und waren typisch russisch ,dialektisch‘, d.h. alle Dinge wurden zerredet, und zuletzt war man mit ,Nitschewo‘ auf demselben Fleck und konnte von vorn anfangen.“52

Die Verhandlungen zeitigten kein unmittelbares Ergebnis. Die Rückgabe Sachalins an die Russen erfolgte erst drei Jahre später. Karl Haushofer blieb für Radek jedoch mehr als eine bloße Zufallsbekanntschaft. In Moskau hatte er auf seinem Schreibtisch Haushofers „Geopolitik des Pazifischen Raumes“ liegen. Er regte an, das Buch ins Russische zu übersetzen, was dann ohne die Genehmigung des Autors auch geschah. Es ergaben sich regelmäßige Verbindungen zwischen den beiden. Radek schickte immer wieder Petrograder und Moskauer Gelehrte zu Haushofer nach München und ließ ihm wichtige sowjetische Publikationen zu China, Japan und dem pazifischen Raum zukommen. Haushofer lobte diese Arbeiten und setzte sich dafür ein, daß sie in Deutschland beachtet wurden. Als Rektor der Sun Jat-sen-Universität konnte Radek später sicherlich Nutzen aus Haushofers Schriften zum Fernen Osten und zum Pazifik ziehen.53 Ohne auf wirtschaftlichem oder politischem Gebiet ein Abkommen erreicht zu haben, traf Radek um den 19. Februar 1922 wieder in Moskau ein. Begleitet wurde er von dem späteren Außenhandelskommissar Krasin und dem Präsidenten der Sowjetukraine Rakovskij, die noch zu den Gesprächen hinzugetreten waren. Wiedenfeld, den Maltzan informiert hatte, brachte in Moskau das Ergebnis der „Mission Roemer“ auf den Punkt: „Politisch sieht es im Augenblick nicht besonders gut aus. Radek hat sich schließlich nicht nur im Ton in den Berliner Verhandlungen vergriffen, sondern auch von Anfang an sachlich die Situation falsch eingeschätzt, indem er die Wirkung seiner Drohung mit Frankreich zu hoch genommen hat. Dadurch sind die Verhandlungen so verzögert worden, dass Rathenau Minister werden und eingreifen konnte. Dann ist Radek dem emp51 Haushofer, Karl (1869–1946), Generalmajor, Professor für Geographie, Geopolitiker; der von ihm geprägte Begriff des „Lebensraumes“ wurde von den Nationalsozialisten für ihre Expansionszwecke missbraucht. 52 Jacobsen, Karl Haushofer, Band 1, S. 221. 53 Schlögel, S. 255f.

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findlichen Mann vollends auf die Nerven gefallen, und man kam nicht vorwärts. Auch Rathenau scheint sich einmal stark vergessen zu haben, was dann durch eine Rede des Reichskanzlers im Reichstag wiedergutgemacht werden sollte, wie Radek triumphierend hier überall erzählt“54

„Schlimmer“ sei jedoch, so Wiedenfeld, „daß die hiesigen Gegner Radeks die Sache benutzen, um ihn aus seiner bisher sehr einflußreichen Position zu verdrängen, und daß ihnen dies auch, zu gutem Teil wenigstens, vorläufig gelungen zu sein scheint. Damit haben wir durch Radeks und eigene Fehler eine wichtige Stütze unserer Politik zunächst kaltgestellt bekommen.“55 Zu den Gegnern Radeks, die es für sich auszunutzen versuchten, dass Radek ohne greifbares Ergebnis aus Berlin zurückgekehrt war, zählten neben Zinov’ev in erster Linie die Spitzen des Außenkommissariats: Čičerin und Litvinov. Es hat den Anschein, dass sie einen Teilerfolg verbuchen konnten. Jedenfalls gehörte Radek dann nicht der sowjetischen Regierungsdelegation für den Weltwirtschaftskongress in Genua an. Auch Lenin sah sich offenbar veranlasst, gegenüber dem Politbüro anzumerken, „daß diplomatische Fähigkeiten nicht zu den starken Seiten“ dieses „wertvollen und sehr befähigten Genossen gehören.“56 In Moskau, wandte sich Radek unverzüglich wieder dem „Kampf um die Einheitsfront der Arbeiterklasse“ zu, die – obwohl vom Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) im Dezember 1921 bereits verordnet – in der Komintern keineswegs unumstritten war. Unmittelbar nach seiner Rückkehr in die sowjetrussische Hauptstadt begann dort die I. Erweiterte Tagung des EKKI (24. Februar – 4. März 1922) mit über 100 Vertretern aus 36 Kommunistischen Parteien. Sie diente der Vorbereitung auf den gegen Jahresende anberaumten IV. Weltkongress. Die thematischen Schwerpunkte bildeten die Taktik der Einheitsfront und die Neue Ökonomische Politik. Radek, der wegen seiner gerade erst erfolgten Rückkehr aus Deutschland nicht auf der offiziellen Rednerliste stand, hielt in einem Diskussionsbeitrag ein engagiertes Plädoyer für die Einheitsfronttaktik. Eindringlich wies er darauf hin, dass die „Periode des ersten direkten Kampfes“ – die Revolution – „einstweilen vorüber“ sei: „Der Gegenstand des Kampfes ist jetzt: Achtstundentag oder nicht, höhere Löhne oder nicht […]. Ein Teil der Genossen sagt so: Nur im Kampfe entsteht eine Einheitsfront […]. Natürlich ist es ein Widerspruch, wenn ich heute mit Scheidemann zusammenkomme und morgen in der Presse erkläre, Scheidemann ist ein Verräter. Nun wir werden diesen

54 Wiedenfeld hatte über seinen von Moskau nach Berlin entsandten Legationssekretär einen „sehr ausführlichen mündlichen Bericht“ Maltzans erhalten. Brief Wiedenfelds an seine Frau, 20. März 1922. Wiedenfeld, S. 142. 55 Ebenda. 56 Lenin, Brief an das Politbüro des ZK der KPR(B) [RKP(b)] mit dem Entwurf einer Direktive für Genossen die ins Ausland fahren, 17. März 1922; in: Lenin, Werke, Ergänzungsband 2, S. 427.

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Widerspruch auflösen, und zwar zuungunsten der Scheidemänner durch Aktionen, in denen ihr Verrat den Massen klar wird […].“

Er führte weiter aus, der internationalen Bourgeoisie, die im Zusammenhang mit der in Genua geplanten Weltwirtschaftskonferenz, bald wieder in „neue schwere Kämpfe“ verwickelt sein würde, müsse „die Faust des Proletariats“ entgegengehalten werden. Dazu bedürfe es eines Minimalkonsenses innerhalb der Arbeiterschaft. Die Kommunisten sollten alles daransetzen, „das Minimum, was die Arbeiter im Kampf vereinigt“, auszunutzen. Schließlich gehe es in den bevorstehenden Auseinandersetzungen um „zwei wichtige Objekte: Sowjet-Rußland und die Haut des deutschen Proletariats“. Abschließend rief er seine Genossen dazu auf, ohne ideologische Scheuklappen, lageangepasst flexibel und pragmatisch zu handeln: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Lage in den verschiedenen Ländern eine verschiedene ist. Niemals hat euch die Internationale eine Grammophonplatte gegeben. Das Maß der Durchführbarkeit einer Taktik hängt von der nationalen Lage ab. Die Genossen beschäftigen sich viel zu sehr mit abstrakter Propaganda und Agitation. Sie sind zu besorgt um ihre Tugend und schon Heine sagte: ,Die Mädchen, die nur um ihre Tugend besorgt sind, haben keine anderen Eigenschaften.‘ Mögen die Genossen alle Tugenden haben, aber sie sollen sie nicht hinter Schloß und Riegel mit dem Keuschheitsgürtel bewahren, sondern sollen im Kampf beweisen, dass sie von anderem Metall sind als die nichtkommunistischen Parteien.“57

Konkret ging es Radek dabei um die von ihm angeregte Einheitsfrontoffensive gemeinsam mit der II. Internationale und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien (IASP), die im Februar 1921 in Wien gegründet worden war. Von ihren Freunden als „Wiener Union“ bezeichnet und von den Kommunisten als „Internationale 2½“ verhöhnt, lag ihr politischer Standort zwischen der II. und der III. Internationale. Ihr angeschlossen hatten sich die deutsche USPD, die britische Independent Labour Party, die linkssozialistischen Parteien Frankreichs, Österreichs und die russischen Exil-Men’ševiki. Bei ihrer Gründung hatte Radek die „Internationale 2½“ noch als „ein decoctus historiae, ein Ausscheideprodukt der Weltrevolution“ diffamiert. Sie müsse bekämpft werden, bis sie vom „Sturm der Weltrevolution weggespült“ werden würde.58 Seit Ende 1921 jedoch, erwog man in Moskau ernsthaft die Internationalisierung der Einheitsfront in praktischen Aktionen mit den bisher verunglimpften Exponenten der Sozialistischen Internationale und der Wiener Union. Dem kam der Plan einer Weltkonferenz aller Arbeiterorganisationen entgegen, der auf Anregung Radeks von dem Austromarxisten Friedrich Adler, als 57 Die Taktik der Kommunistischen Internationale gegen die Offensive des Kapitals. Bericht über die Konferenz der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale, Moskau, vom 24. Februar bis 4. März 1922, Hamburg 1922, S. 66–69. Möller, S. 207f. 58 Radek, „Theorie und Praxis der 2½ Internationale“, Hamburg 1921, S. 56.

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einem der Hauptsprecher der Wiener Union, vorgeschlagen wurde.59 Er zielte darauf ab, die Zusammenarbeit zwischen den drei Internationalen enger zu gestalten und zu versuchen, eine Einheitsfront aller Arbeiter herzustellen. Die Komintern griff den Vorschlag auf der erweiterten Sitzung des EKKI am 24. Februar 1922 bereitwillig auf und forderte, auch alle Gewerkschaften einzuladen. Nachdem sich die II. Internationale dem Plan einer sofortigen Weltkonferenz widersetzte, einigte man sich darauf, noch v o r der Genueser Weltwirtschaftskonferenz eine auf die Vertreter der Exekutivkomitees aller drei Internationalen beschränkte Vorkonferenz einzuberufen.60 Da die Weltwirtschaftskonferenz am 10. April 1922 beginnen sollte, wurde das Treffen der Vertreter der drei Internationalen für den 2. April in Berlin anberaumt. Für die Komintern wurden Radek und Bucharin als Hauptsprecher benannt. Radek war auf der I. erweiterten Tagung des Exekutivkomitees der Komintern erneut ins Präsidium des EKKI (das ehemalige Kleine Büro) gewählt worden. In den folgenden Wochen standen seine Aktivitäten ganz im Zeichen der außenpolitischen Projekte in Genua und Berlin; innenpolitisch wurden sie durch die Vorbereitung des für Ende März einberufenen XI. Parteitags der RKP(b) bestimmt. „Genua. Die Einheitsfront des Proletariats und die Kommunistische Internationale“ lautete der Titel einer programmatischen Rede, die er am 9. März 1922 auf der Konferenz der Moskauer Organisation der RKP(b) hielt.61 Darin schlug er von der Analyse der Weltlage ausgehend, den Bogen zur Konferenz von Genua als der Realisierung des Plans der bürgerlichen Welt für einen „Plünderungsfeldzug“ gegen Sowjetrussland und Deutschland. Im Gegensatz zum Sowjetstaat, der zur Koexistenz mit dem Kapitalismus genötigt sei, könne die Kommunistische Internationale als „die Partei des proletarischen Interesses“ dem nicht tatenlos zusehen und sei berufen, durch die Schaffung der „Einheitsfront des Proletariats“ den Abwehrkampf gegen die „Offensive des Weltkapitals“ zu organisieren. Die internationale Situation seit dem Ende des Ersten Weltkrieges charakterisierte er als vom „Bankrott des Völkerbundes“ gekennzeichnet. Unübersehbare Indizien dafür seien der amerikanisch-japanische Kampf in Ostasien um die Vorherrschaft im Pazifik sowie in Europa der anglo-französische Gegensatz fokussiert auf die drei Kriegsverlierer Deutschland, Sowjetrussland und die Türkei. Die Weltlage „ist ein vollkommenes politisches Chaos, eine vollkommene politische Deroute62, und mehr noch: Die Gegensätze sind so, dass die Verständigungskonferenz in Genua zur Kampfkonferenz der entgegengesetzten Interessen wird.“ Verschärft habe sich auch die Wirtschaftslage: „Niemals kannte die Welt eine solche Arbeitslosenkrise wie die, die jetzt die kapitalistische Welt durchzieht.“63 Er kam zu dem Resultat: „Diese 59 Buber-Neumann, S. 62; Fischer, Ruth, Stalin, S. 257. 60 Angress, S. 266. 61 Radek, Genua. Die Einheitsfront des Proletariats und die Kommunistische Internationale. Rede auf der Konferenz der Moskauer Organisation der Kommunistischen Partei Russlands am 9. März 1922, Hamburg 1922. 62 Veralteter militärischer Begriff für “wilde Flucht“. 63 Radek, Genua, a.a.O., S. 36.

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ganze Lage voll politischer, voll ökonomischer Widersprüche drängt nach Lösung. Sie drängt nach Lösung entweder von unten durch die proletarischen Massen oder von oben durch neuen Krieg.“64 Noch würden die Großmächte vor dem Abgrund des Krieges zurückschrecken. Aber ihr „Plan von Genua“ besteht in der „Absicht eines Plünderungsfeldzuges [...] gegen Deutschland und gegen Rußland.“65 Er verkündete dem Auditorium, die Sowjetregierung durchschaue zwar das Vorhaben der Alliierten, Deutschland in „eine industrielle Kolonie“ und Russland in „eine agrarische Kolonie“ zu verwandeln66, werde aber dennoch an der Konferenz teilnehmen: „Wenn Sie jedoch die Chancen der Genueser Konferenz beurteilen wollen, so müssen Sie verstehen: Rußland geht nach Genua nicht mit den Illusionen der deutschen Bourgeoisie, dass der liebe Herrgott per procura Englands seine schützenden Hände über die Sowjetrepublik in Genua ausstrecken wird, sondern es geht mit dem kühlen Bewusstsein, es mit Feinden zu tun zu haben, von denen keiner in diesem Moment Sowjetrußland stützt, aber mit denen Sowjetrußland zu einem modus vivendi kommen muß, wenn es nicht von ihnen abhängig sein will.67 [...] „Sowjetrußland, seine Regierung und seine Massen treiben eine kühle Realpolitik [...]. Die Sowjetregierung weiß, daß die erste Welle der Weltrevolution vorüber ist, und sie weiß, daß die neue Welle erst langsam anwachsen wird. Die Sowjetregierung weiß, daß die russische Volkswirtschaft nicht wiederhergestellt werden kann ohne die Hilfe der europäischen Volkswirtschaft [...]. Darum erklärt die Sowjetregierung: Wir brauchen das Weltkapital, und darum müssen wir ihm das geben, was das Ziel seiner wirtschaftlichen Tätigkeit ist, wir müssen ihm Profit geben.“68

Er erklärte, den kapitalistischen Regierungen sage man ganz offen: „Ihr wolltet uns vernichten, es ist Euch nicht gelungen, und jetzt fragen wir Euch: Wollt Ihr mit unserer Existenz rechnen, wie wir mit der Eurigen? Wir suchen einen modus vivendi mit Euch, solange Ihr existiert.“69 Mit der Frage, „was werden wir den Kapitalisten zugestehen und was werden wir von Ihnen fordern?“, formulierte er die sowjetische Verhandlungsposition: 64 Ebenda, S. 37. Im Zusammenhang beschreibt Radek in einem Exkurs, wie er sich das künftige Kriegsbild vorstellt: „Wie sich die kapitalistischen Staaten für diesen neuen Krieg vorbereiten, möchte ich Ihnen nur an einem Beispiel zeigen. Sie wissen, daß Amerika jetzt das Land ist, das am meisten von Entwaffnung spricht, gegen die großen Armeen kämpft, usw., aus einer vollkommen richtigen Einsicht: daß die großen Armeen in dem nächsten Krieg wahrscheinlich keine Rolle spielen. Der nächste Krieg wird der Krieg der Unterseeboote, der Aeroplane und der technischen Korps auf dem Lande und seine Hauptwaffe wird die chemische Industrie sein“, d.h. der Einsatz von Kampfgasen „vermittelst derer man ausgezeichnet Menschen verbrennen und Städte einäschern kann“. Ebenda. 65 Ebenda, S. 44. 66 Ebenda, S. 47. 67 Ebenda, S. 27. 68 Ebenda, S. 52. 69 Ebenda, S. 53.

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„Wir werden ihnen gegenüber die Verpflichtung übernehmen, die alten Schulden zu bezahlen, wenn sie unsere Regierung anerkennen, wenn sie uns helfen an die Arbeit zu gehen, die allein Werte schaffen kann, mit welchen wir die alten Schulden bezahlen können. […] [Wir werden Ihnen sagen:] Ihr könnt in Rußland Profite einheimsen; sie Euch zu gewähren sind wir bereit, aber wir sind nicht gewillt, die Errungenschaften der Revolution aufzugeben. Nicht Denationalisation, sondern Pacht und Konzession, das ist der Boden, das ist die Grenze unserer Zugeständnisse.“70

Im gleichen Atemzug warnte er den Westen vor ökonomischen Pressionen und Wirtschaftssanktionen gegen den Sowjetstaat. Er drohte der „ineinander feindliche Lager“ zerklüfteten kapitalistischen Welt damit, „[…] daß wir uns mit dem Feind jedes Staates verbünden werden, der uns auszuhungern versuchen wird. Wir werden uns nicht nur mit Beelzebub, sondern auch mit seiner Großmutter verbinden, wenn es sich darum handeln wird, die Rechte für die russische Arbeiterklasse, für die die Rote Armee gehungert und geblutet hat, zu verteidigen.“71

In einem abschließenden Themenkomplex behandelte Radek das Problem „der Aufrichtung der einheitlichen Kampffront des Proletariats, trotz aller Differenzen, die es spalten.“ Unbeschadet der Koexistenzpolitik des Sowjetstaats, werfe Genua als ein neues Versailles die Frage auf: „Soll das internationale Proletariat dem neuen Versailles ebenso ohnmächtig gegenüberstehen, wie es ohnmächtig den Verhandlungen über den Schandfrieden von Versailles im Jahre 1919 gegenüberstand?“72 Im Vergleich zu 1919 habe sich die Lage grundlegend verändert. Die „erste Welle der Weltrevolution“ sei vorüber. Deshalb habe die Kommunistische Internationale „in unermüdlicher Arbeit die revolutionären Elemente der sozialdemokratischen Parteien an sich gezogen, zu separaten kommunistischen Parteien ausgebildet. Sie hat aus ihren Reihen alle abgestoßen, die unfähig waren, eine realistische Politik zu treiben, die unfähig waren zu verstehen, daß angesichts des Verrats der sozialdemokratischen Parteien und der Gewerkschaftsbürokratie, daß angesichts der Tatsache, daß die Mehrheit der Arbeiterklasse diesen Parteien folgt, der Augenblick des Kampfes um die Macht noch nicht gekommen ist.“73

Die gegenwärtige Lage im Klassenkampf sei weltweit dadurch gekennzeichnet, dass sich die Bourgeoisie „auf Kosten der Arbeiterklasse zu retten“ versuche. Man beabsichtige, aus den Knochen der Arbeiter die „Extraprofite“ herausschinden, „die notwendig sind für den Wiederaufbau der kapitalistischen Welt“. Durch Lohnkür70 71 72 73

Ebenda, S. 55f. Ebenda, S. 57. Ebenda, S. 59. Ebenda, S. 64f.

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zungen und Verlängerung der Arbeitszeit in allen Ländern gedenke das Weltkapital aus seiner Krise herauszukommen. „Die Offensive des Weltkapitals, die in allen Ländern begonnen hat und sich immer weiter entwickelt, bedroht die internationale Arbeiterklasse.“ Das stelle die Arbeiterschaft vor die Frage, ob sie sich auf den Lebensstandard der Vorkriegszeit zurückwerfen lassen wolle. Es gehe um ihre sozialen Belange, „das bißchen Milch ihrer Kinder“ und „den Achtstundentag“. Die Komintern könne diesen Tatsachen nicht gleichgültig gegenüberstehen und trage ihnen „als die Partei des proletarischen Interesses“ mit ihrer „geänderten Taktik“, der Taktik der Einheitsfront, Rechnung: „Die Kommunistische Internationale […] kämpft um ihr Programm, um ihre Ideale als Minderheit der Arbeiterklasse. Sie kann diese Ideale nur verwirklichen, indem sie die große Mehrheit der Arbeiterklasse erobert. Sie kann diese Mehrheit nicht erobern durch bloße Propaganda ihrer Ideen. Nur indem sie versteht, sich zur Führerin der Arbeiterklasse in ihren Tageskämpfen zu machen, kann sie die Arbeiterklasse für ihre Ideen gewinnen.“74

Die Ausführungen Radeks stellten den Versuch dar, die sowjetischen Staats- und Wirtschaftsinteressen mit den revolutionären Zielsetzungen der Komintern auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sowie die Beteiligung der Kommunisten an gemeinsamen Aktionen mit den Sozialisten verständlich zu machen und zu rechtfertigen. Die Botschaft war, Koexistenz und Klassenkampf schlössen einander nicht aus, auch wenn die Klassenauseinandersetzung durch die Komintern vorübergehend in Form der Einheitsfronttaktik geführt werde. Als Kampfform sei sie angesichts der akuten Bedrohung durch das internationale Kapital gerechtfertigt, wenn sie sich auf praktische Aktionen auf sozialpolitischem Gebiet und Demonstrationen im außenpolitischen Interesse des Sowjetstaats beschränke – so etwa gegen neues Rüsten, für die Annullierung der Kriegsschulden und für die Anerkennung Sowjetrusslands. Außerhalb solcher gemeinsamen Aktionsfelder müsse es für die Kommunisten jedoch bei der schärfsten verbalen Abgrenzung von der Sozialdemokratie bleiben. Zusammen mit Rakovskij reiste Radek am 19. März 1922 erneut nach Berlin75. Beide bildeten die Vorhut der offiziellen sowjetischen Delegation für Genua76, der Radek dann allerdings nicht angehörte. Er besaß keinerlei Verhandlungsvollmachten mehr und diente nach offiziellen Angaben „als Verbindungsorgan zwischen der russischen Delegation in Genua und der russischen Regierung in Moskau“.77 Ein Vorwand, der verschleiern sollte, dass er sich wieder voll der KPD- und Kominternarbeit zuwandte. Im Vordergrund stand für ihn denn auch zunächst die Leitung der 74 Ebenda, S. 69f. 75 Brief Wiedenfelds an seine Frau, 20. März 1922. Wiedenfeld, S. 142. 76 Der Delegation gehörten an: Außenkommissar Čičerin als Vertreter Lenins (in dessen Funktion als Regierungschef/Vorsitzender des Sovnarkom), sein Stellvertreter Litvinov, Ioffe, Rakovskij, Krasin. 77 Staatssekretär Haniel an Krestinskij, Berlin, 4. Mai 1922. Goldbach, S. 112, Anm. 110.

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Komintern-Delegation auf der Konferenz der drei Internationalen in Berlin.78 Die Priorität, die der Kreml’ dieser neuerlichen Deutschlandmission beimaß, wird dadurch unterstrichen, dass Radek – obwohl ZK-Mitglied – deshalb nicht am XI. Parteitag der RKP(b) in Moskau (27. März–2. April 1922) teilnahm. In Abwesenheit wählte man ihn in Moskau wieder ins Zentralkomitee der Partei. Wie schon zu Anfang des Jahres, wurde er in der Reichshauptstadt wie ein „Stiefsohn Gottes“ bewundert und hofiert.79 Allerdings hatte er sich verpflichten müssen, bei seinem Aufenthalt in Deutschland keinerlei Propaganda zu betreiben.80 So erhielt er keine Redeerlaubnis für eine im Reichstagsgebäude anberaumte Sitzung des Zentralausschusses der KPD.81 Für Maltzan war er ein wichtiger Kontaktmann, als vom 2. bis 4. April die sowjetische Regierungsdelegation für Genua in Berlin Station machte.82 Auf einem Empfang, den Stresemann für die sowjetische Delegation gab83, schlug Radek nationalistische Töne an. Er äußerte sich ganz offen sowohl über den russischen Nationalismus, als auch über die Notwendigkeit „in Deutschland Kommunisten und Rechtsbolschewisten zum endgültigen Kampf gegen den westeuropäischen Kapitalismus zu vereinigen.“84 Ruth Fischers Angaben zufolge ging er sogar noch weiter. Er behauptete, der bevorstehende Kampf gegen die Entente mache eine nationale Front aller Gesellschaftsklassen zwingend notwendig. Die Umwandlung Deutschlands in eine Industriekolonie der Westmächte, wie er sie bereits im Januar themati78 Radek, Avtobiografija, Sp. 168. 79 Schlesinger an Hilger, Berlin, 1. April 1922; Troeltsch, S. 269f. Goldbach, S. 112. 80 Angress, S. 272, Anm. 33. 81 Telegrammwechsel Außenminister Rathenau – Staatssekretär Haniel über die Erteilung der Redeerlaubnis, Berlin/Genua 12./13. Mai 1922. Goldbach, S. 112, Anm. 116. 82 Schieder, Die Entstehungsgeschichte des Rapallovertrages, S. 568–574. 83 Eine zeitgenössische Filmaufnahme zeigt ihn zusammen mit Čičerin und Krestinskij nach dem Empfang beim Verlassen der Villa Rathenaus in Berlin-Grunewald – eine Zigarette rauchend und ganz eleganter Gentleman im Paletot und mit Melone. ARTE-Fernsehdokumentation „Das russische Haus. Die Botschaft Unter den Linden“, gesendet am 21. Februar 2001, 20.45 Uhr. 84 Ernst Troeltsch (Kurzbiographie siehe unten), der an diesem Empfang teilnahm, im „SpektatorBrief“ vom 11. Mai 1922, S. 269ff. Troeltsch bewertete Radeks These, nur Kommunismus und Nationalismus könnten die Weltkrise überwinden und eine neue regulierte Wirtschaft schaffen, ebenso skeptisch wie die anwesenden Großindustriellen. Zu Troeltschs Entsetzen, stimmte Professor Hoetzsch dem hingegen zu. Radek sprach bei dieser Gelegenheit auch mit Graf Reventlow (Kurzbiographie siehe unten). Schüddekopf, Linke Leute von rechts, S. 105; Fischer, R., Stalin, S. 234. Kurzbiographien: Troeltsch, Ernst (1865–1923); evangelischer Theologe, Religions-, Kultur- und Geschichtsphilosoph, einer der einflussreichsten politischen Publizisten der Weimarer Republik, Herausgeber der „Spektator-Briefe“; als Abgeordneter der DDP 1919/20 Parlamentarischer Unterstaatssekretär im Preußischen Kultusministerium; er entwickelte die Vision einer europäischen Kultursynthese, die Deutschland an der Seite der USA in einem kritischen Dialog mit Sowjetrussland stabilisieren sollte. Reventlow, Ernst Graf zu (1869–1943); Kapitänleutnant a.D.; deutschvölkischer Publizist, Schriftsteller und Politiker, der sozialrevolutionäre und nationalbolschewistische Ideen verbreitete; ab 1927 Nationalsozialist.

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siert hatte, würde die deutsche Bourgeoisie fast im gleichen Maße in Mitleidenschaft ziehen, wie die deutsche Arbeiterschaft.85 Daher sei nicht nur die Zusammenarbeit zwischen deutschen Patrioten und Kommunisten geboten, sondern auch die aktive Kooperation zwischen Deutschland und Sowjetrussland gegen Versailles und seine Vollstrecker, die kapitalistischen Ausbeuter des Westens. In diesen Anschauungen Radeks deutete sich bereits der von ihm im Sommer des folgenden Jahres eingeleitete und als „Schlageterlinie“ bezeichnete nationalbolschewistische Kurs der KPD an.86 Nahezu zeitgleich mit dem Berlinaufenthalt der sowjetrussischen Delegation für Genua, fand vom 2. bis 5. April 1922 in einem der Arbeitssäle des Berliner Reichstages die Konferenz der drei internationalen Exekutivkomitees statt. Radek und Bucharin nahmen auf ausdrückliche Weisung Lenins als „Männer, die die Zähne zeigen können“ an der Tagung teil.87 Eine Erklärung, die das EKKI an das Treffen gerichtet hatte, machte deutlich, dass Moskau die Unterstützung der internationalen Sozialdemokratie für Genua gewinnen wollte. Enthalten war der Wunsch nach Anerkennung Sowjetrusslands, Handelsbeziehungen mit dem Westen und Hilfe für den wirtschaftlichen Wiederaufbau. Alle optimistischen Erwartungen der Sowjets an die Konferenz verflogen jedoch, als der Belgier Emile Vandervelde88 im Namen der Sozialistischen Internationale sprach und die Absichten bloßlegte, die Moskau mit der Einheitsfrontpolitik verband: „Ich möchte offen sagen, aus welchen Gründen wir voll Misstrauen und voll Besorgnis sind. In der letzten Zeit sind gewisse Dokumente veröffentlicht worden, die sie alle kennen und die Radek geschrieben hat. Darin finden sich Sätze, die mich unweigerlich an jene Szene aus der Nibelungen Tetralogie erinnern, wo Mime dem Siegfried, während er ihn mit Lobreden und Freundschaftsbezeugungen überhäuft, zugleich seine Absicht verkündet, ihn zu vergiften. Man ruft zur Vereinigung aller auf, man schlägt uns vor, die Einheitsfront herzustellen, aber man verhehlt nicht den Hintergedanken, uns, nachdem man uns umarmt hat, zu erwürgen oder zu vergiften.“89

Vandervelde lehnte es rundweg ab, eine von Radek geforderte gemeinsame Verurteilung des Versailler Vertrages zuzulassen und stellte der Komintern drei Bedingungen für die Teilnahme der II. Internationale an einem Arbeiterweltkongress. Die Kom85 Fischer, R., Stalin, S. 198f. 86 Angress, S. 273. 87 Goldbach, S. 113. 88 Vandervelde, Emile (1866–1938); Rechtsanwalt; Führer der belgischen Sozialdemokraten, mehrmals Minister; sei 1919 Präsident der Sozialistischen Internationale. 89 Zitiert nach: Singer, Deutschland ließ auf sich warten, in: „Die Zeit“, 8. Dezember 1972. Vandervelde bezog sich auf Äußerungen Radeks, in denen er keinen Zweifel daran ließ, wie die Zusammenarbeit von Kommunisten und Sozialdemokraten gemeint war und die er dann auf dem IV. Weltkongress der Komintern nochmals bekräftigte: Man beabsichtige nicht, sich mit den Sozialdemokraten zu vermischen, sondern sie in der Umarmung zu ersticken. Degras, The Communist International, Vol. I, S. 77f. und S. 89.

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munisten müssten aufhören, die sozialdemokratischen Organisationen zu unterwandern, der durch Moskau gestürzten menschewistischen Regierung in Georgien eine rechtliche Behandlung gewähren und die nach dem Bürgerkrieg inhaftierten Führer der Sozialrevolutionäre, denen der Prozess gemacht werden sollte, freilassen. Radek war nicht geneigt öffentlich auf diese Forderungen einzugehen und den Sozialisten irgendwelche Zugeständnisse zu machen. Entsprechend einer eigens aus Anlass seiner Konferenzteilnahme von Lenin formulierten Direktive des Politbüros mit einer Sprachregelung für die Behandlung dieser Themen90, zeigte er sich in Hochform und nutze die Gelegenheit, um die sozialdemokratischen Führer zu diskreditieren. Hinter den Kulissen zeigte er sich jedoch schließlich zu kleineren Kompromissen bereit, um einen offenen Bruch so kurz vor der Weltwirtschaftskonferenz in Genua zu vermeiden. Zusammen mit Bucharin ging er auf zwei Vorbedingungen der II. Internationale und der Wiener Union für gemeinsame Aktionen mit der Komintern ein. Beide sagten zu, dass in dem in Sowjetrussland unmittelbar bevorstehenden Prozess gegen die Sozialrevolutionäre keine Todesurteile verhängt würden und es den beiden Sozialistischen Internationalen erlaubt werde, Prozessbeobachter und Rechtsbeistand für die Angeklagten zu stellen. Die Konferenz verabschiedete zwar noch eine gemeinsame Resolution mit dem Aufruf zu internationalen Demonstrationen für den Achtstundentag, die russische Revolution, die weltweite Wiederherstellung der proletarischen Einheitsfront sowie gegen die Arbeitslosigkeit und die Offensive des Kapitals. Auch gründete sie ein neunköpfiges Organisationskomitee – drei von jeder Internationale –, das weitere internationale Kontakte vorbereiten sollte. Aber in der „Roten Fahne“ schrieb Radek dann, die Kommunisten hätten mit ihren Zugeständnissen nur „ein armseliges Stück Papier“ eingehandelt, „das so etwas wie ein Versprechen der drei Exekutiven enthielt, gemeinsam an einem Tag zu demonstrieren für die einfachsten Forderungen der Arbeiterklasse.“91 In Moskau reagierte Lenin auf Radeks und Bucharins Zugeständnisse auf der Berliner Konferenz ungehalten. „Wir haben zu teuer bezahlt“ schrieb er in einem am 9. April verfassten Artikel. „Unsere Vertreter haben meiner Überzeugung nach falsch gehandelt“, indem sie Konzessionen in der Frage des Verfahrens gegen die Sozialrevolutionäre gemacht hätten. Dies sei als eine „Kapitulation“ vor den „opportunistischen Führern“ der Sozialistischen Internationalen zu bewerten. Aber auch 90 Wortlaut der Weisung: „Alle ins Ausland fahrenden Genossen werden vom Politbüro darauf hingewiesen, daß der gegenwärtige Zeitpunkt einerseits größte Zurückhaltung in Erklärungen und Gesprächen über die Menschewiki und Sozialrevolutionäre erfordert, andererseits jedoch schonungslosesten Kampf und maximalstes Mißtrauen gegen sie (als gegen den gefährlichsten faktischen Helfershelfer der Weißgardisten).“ Lenin, Brief an das Politbüro des ZK der KPR(B) [RKP(b)] mit dem Entwurf einer Direktive für Genossen die ins Ausland fahren, 17. März 1922; in: Lenin, Werke , Ergänzungsband 2, S. 428. 91 Radek, Die Auferstehung, in: „Die Rote Fahne“, 16. April 1922 (Ostersonntag und der Tag von Rapallo). Goldbach, S. 114. Die Massendemonstration von KPD und USPD für die Hauptforderungen der Schlussresolution fand ohne Beteiligung der SPD am 20. April 1922 in Berlin statt. In ganz Deutschland folgten weitere Demonstrationen am 1. Mai 1922.

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wenn „Radek, Bucharin und die anderen Genossen, die die Kommunistische Internationale vertraten, falsch gehandelt haben“, fügte Lenin in versöhnlicherem Ton hinzu, solle das unterzeichnete Abkommen gültig sein. Denn der begangene Fehler sei „nicht sehr groß“ und „auf jeden Fall ist es dem Gen[ossen]. Radek gelungen, wenigstens einem Teil der Arbeiter die Tatsache zu enthüllen, dass sich die II. Internationale geweigert hat, die Losung der Annullierung des Versailler Vertrages unter die Demonstrationslosungen aufzunehmen“.92 Lenin ließ die Zustimmung des Politbüros für die Veröffentlichung des Artikels am 11. April in „den Izvestija“ und in der „Pravda“ einholen. Wohl von Zinov’ev angestachelt, ordnete er an: „Gen[osse]. Radek wird telegrafisch angewiesen, so schnell wie möglich mit den vollständigen Protokollen der Berliner Beratung nach Moskau zu kommen.“93 Am darauffolgenden Tag verzichtete er allerdings auf das mit der Rückbeorderung Radeks beabsichtigte sofortige Scherbengericht gegen diesen und ließ das Politbüro wissen, er „stimme [...] jetzt dafür, Radek nicht herkommen zu lassen, sondern sich darauf zu beschränken, alle ausführlichen Protokolle der Berliner Beratungen anzufordern und zu verlangen, dass sie mit der Diplomatenpost geschickt werden.“94 Offenbar hatte Radeks Stellung in der Sowjetführung aber doch an Gewicht verloren, wie Wiedenfeld, der deutsche Vertreter in Moskau, berichtete: „Vor ein paar Tagen habe ich einmal wieder seit langer Zeit Frau Radek zum Frühstück bei mir gehabt. Sie rief mich an wegen ihrer Ausreise und war, da ihres Mannes Stellung momentan etwas erschüttert ist, offenbar sehr erfreut über meine Einladung.“95 Radek blieb genau zwei Monate in Deutschland.96 Während dieser Zeit hielt er engen Kontakt zur KPD-Führung und war intensiv mit dem Ausbau der Einheitsfronttaktik beschäftigt. In Berlin und auf Reisen in die KPD-Hochburgen Mitteldeutschlands und ins Rheinland97 warb er bei seinen Genossen für die Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie. Er setzte sich für eine „Einheitsfront von oben“ ein, das heißt eine begrenzte Kooperation mit den sozialdemokratischen Führern 92 Lenin, Wir haben zu teuer bezahlt (geschrieben 9. April 1922; veröffentlicht in: „Pravda“ Nr. 81, 11. April 1922), in: Lenin, Werke Band 33, S. 316–319. 93 Lenin, Schreiben (1) an das Politbüro des ZK der KPR(B) mit Beschlußentwürfen (telefonisch diktiert am 9. April 1922), in: Lenin, Werke, Ergänzungsband 2, S. 434 f. 94 Lenin, Schreiben (2) an Genossen Stalin für das Politbüro (telefonisch diktiert am 10. April 1922), in: Lenin, Werke, Ergänzungsband 2, S. 435. 95 Brief Wiedenfelds an seine Frau, 17. April 1922. Wiedenfeld, S. 154. 96 Aufenthalt in Deutschland vom 25. März bis 23. Mai 1923. Am 25. März nahm er gemeinsam mit Maltzan und anderen an einem von Rakovskij gegebenen Frühstück teil. 17. Mai, Telegramm Rathenaus aus Genua, wonach Litvinov zugesagt habe, dass Radek am 23. Mai aus Deutschland nach Moskau abreisen würde. Goldbach, S. 111, Anm. 107 und S. 112, Anm. 111. Die Feststellung von Angress (S. 272), Radek habe sich im Frühjahr 1922 nur zwischen seinen Reisen von Genua nach Moskau und zurück verschiedentlich in Berlin aufgehalten, trifft nicht zu. Eine Anwesenheit Radeks in Genua ist nicht belegbar. 97 Am 7. Mai soll Radek im besetzten Düsseldorf gewesen und danach nach Essen weitergefahren sein. Goldbach, S. 112, Anm. 113.

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sowie – perspektivisch – für die Beteiligung an einer Koalition mit ihnen in einer „Arbeiterregierung“. In der Parteizentrale machte er seinen Einfluss gegen die linke Opposition in der Partei geltend, die sich um Ruth Fischer, Arkadij Maslov und Ernst Thälmann gruppierte,98 die Einheitsfront ablehnte und die Wiederaufnahme einer offensiveren Politik forderte. In Moskau agierte derweil Rosa Radek als Kontaktperson zur deutschen Vertretung. Am „Osterdienstag frühmorgens“ erhielt Wiedenfeld „durch Frau Radek die erste Nachricht, dass in Genua eine Einigung zwischen uns [Deutschland] und den Russen erzielt sei.“99 Am Vortage, dem 16. April 1922, war während der Weltwirtschaftskonferenz von Genua im nahegelegenen Rapallo durch Außenminister Rathenau und Außenkommissar Čičerin ein Abkommen unterzeichnet worden, das auf der Linie der vorbereitenden Verhandlungen Radeks in Berlin fußend, die Grundlage für die künftige engere sowjetrussisch-deutsche Zusammenarbeit bildete. Der Rapallovertrag sah den gegenseitigen Verzicht auf den Ersatz der Kriegskosten nach Artikel 116 des Versailler Vertrages, die Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen und eine Meistbegünstigungsklausel im Wirtschaftsverkehr vor. Das Sonderabkommen trug der Interessenlage der beiden Paria-Nationen von Versailles, Sowjetrussland und Deutschland, Rechnung. Die Sowjets hatten das Einschwenken des Reiches in die antisowjetische Front der Siegermächte verhindert und Berlin die Absicht Frankreichs vereitelt, die russischen Vorkriegsschulden auf Deutschland abzuwälzen. Obwohl die Freundschaft zwischen Deutschland und Russland seit Jahren eine kommunistische Propagandalosung bildete, reagierte die KPD auf den Vertrag zunächst mit einer Mischung von Verblüffung und Verlegenheit. Radek hatte wohl nur einige Führer vorher eingeweiht.100 Der Parteiführung riet er nun, in Betrieben, die am Handel mit Sowjetrussland beteiligt waren, die Aktivität der Kommunisten zunächst zu drosseln.101 Auch war er im sowjetischen außenpolitischen Interesse bemüht, die Störfaktoren im russisch-deutschen Verhältnis möglichst zu minimieren. Adolf Ioffe, russisches Delegationsmitglied für Genua, versicherte in Berlin, Radek setze seinen ganzen Einfluss ein, der KPD einzuschärfen, dass sie sich jetzt ruhig verhalten müsse. Radek befragt, ob das den Tatsachen entspräche, bestätigte dies sofort: „Er habe doch den Leuten [der KPD] klarmachen müssen, warum man Kerls wie Scheidemann jetzt nicht aufhängen könne.“102 Auf Parteiversammlungen forderte er im Hinblick auf Rapallo die Mitglieder zu einer Politik der Mäßigung auf und legte

98 Zusammenfassender Bericht von der Sitzung des Politischen Büros der Zentrale der KPD, 29. April 1933 in Berlin. Goldbach, S. 112, Anm. 114. 99 Brief Wiedenfelds an seine Frau, 23. April 1922. Wiedenfeld, S. 155. 100 Fischer, R., Stalin, S. 192f. 101 Bericht des Preußischen Staatskommissars für die öffentliche Ordnung vom 8. April 1922. Goldbach, S. 112, Anm. 115. 102 Brief von Hans von Raumer (offizieller Beobachter der Deutschen Volkspartei in Genua) an Außenminister Rathenau, 9. Mai 1922. Angress, S. 272, Anm. 33.

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ihnen die Kooperation mit den Sozialdemokraten ans Herz.103 Allerdings gestand er ein, dass der Weg einer i n t e r n a t i o n a l e n Einheitsfront derzeit noch nicht gangbar sei, obwohl er im Prinzip richtig bleibe.104 Radek unternahm maximale Anstrengungen, um gemeinsame Auftritte der drei Internationalen zur Unterstützung der sowjetischen Politik zu organisieren und für die Zusammenarbeit aller Arbeiterparteien außerhalb Russlands zu werben. Zugleich bemühte er sich, das negative Echo zu dämpfen, das der bevorstehende Moskauer Prozess gegen die Sozialrevolutionäre im Westen gefunden hatte. Am 10. Mai schrieb Radek aus Berlin an Dzeržinskij, Kamenev und Trockij und ersuchte sie, eine plakative ideologische Begründung des Verfahrens durch die Komintern zu veranlassen: „Fordert vom EKKI, daß es unverzüglich einen Appell schicken soll, der auf populäre Weise den Sinn des Prozesses erläutert, damit wir diesen Appell am Tage der Eröffnung des Prozesses veröffentlichen können.“ Der Appell der Komintern erschien am 19.  Mai 1921 in der „Pravda“ und verurteilte die Sozialrevolutionäre als eine „bürgerliche Partei, die schon seit einer Reihe von Jahren einen bewaffneten Kampf gegen das Proletariat führt.“105 Die Konferenz der drei Internationalen ging letztlich wie das Hornberger Schießen aus. Als Radek und die beiden anderen Vertreter der Komintern am 23.  Mai 1922 ihren Austritt aus dem auf der Berliner Konferenz ins Leben gerufenen Neuner-Komitee erklärten, war die Konferenz beendet. Radek trat die Rückreise nach Sowjetrussland an. Die Mission, die ihn innerhalb weniger Wochen zum zweiten Mal nach Berlin geführt hatte, war ohne greifbaren Erfolg geblieben. Zur Zeit von Radeks Rückkehr nach Moskau erlitt Lenin am 26. Mai 1922 einen Schlaganfall, der ihn bis zum Oktober 1922 aus dem politischen Leben ausschaltete. Radek, dessen Stellung in der Moskauer Führung durch den scheinbaren Misserfolg seiner beiden Deutschlandmissionen ohnehin geschwächt war, verlor dadurch zumindest vorübergehend die schützende Hand Lenins, der in die Auseinandersetzungen mit Zinov’ev immer wieder vermittelnd eingegriffen hatte. Während Lenins Krankheit lag in Moskau die Führung der Geschäfte praktisch in den Händen von Stalin, als neuberufenem Generalsekretär der Partei, sowie von Zinov’ev und Kamenev. Alle drei verband ihre Furcht und Abneigung gegen Trockij. Als ihr Rivale in der Sowjetführung, verfügte er über herausragende Qualitäten. Von seiner großen Begabung als Redner und seiner unzweifelhaften Brillanz hoben sich Zinov’evs durchsichtige Demagogie, Kamenevs Pedanterie und Stalins Bedeutungslosigkeit er-

103 Radek vor der Vertrauensmännerversammlung [1500 Personen!] der KPD am 28. April in Berlin (Goldbach, S. 112, Anm. 114) und auf einer Parteiversammlung am 10. Mai 1922 in Berlin (Angress, S. 272, Anm. 33). 104 Radek, Das Ergebnis der Konferenz der drei Exekutiven, in: „Inprekorr“, 42, 6. April 1922, S. 337f.; Radek, Der Kampf um die proletarische Einheitsfront, in: „Die Kommunistische Internationale“, 21, 1922, S. 1–7. Goldbach, S. 114. 105 Watlin [Vatlin], Die Komintern 1919–1929, S. 57f.

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kennbar negativ ab.106 Radek, als gebildeter Marxist, unkonventionell in seiner Art, hochbegabt und voller Schwung zeigte hingegen eine starke Anhänglichkeit an Trockij, mit dem er den weiten Horizont der internationalen Erfahrung teilte. Trockij wiederum, empfand für ihn herzliche Zuneigung und bewunderte seine Gaben als brillanter und geistreicher Pamphletist, auch wenn er Radeks impulsiven politischen Improvisationen mit einer gewissen Vorsicht begegnete.107 Noch waren die Weichen für die Nachfolge Lenins nicht gestellt, aber die politischen Divergenzen unter den Sowjetführern sowie ihre persönlichen Sympathien und Antipathien ließen bereits die Bruchlinien im Kampf um sein Erbe ahnen. So wähnte sich der deutsche Journalist Gerhard Heile108 Anfang Juni 1922 „zu interessanter Zeit“ in Moskau. Zwar erfahre man nicht „durch Radeks ,Prawda‘“, was die hohen roten Mauern des Kreml’ bergen, schrieb er, aber „es scheint, als habe schon jetzt der Diadochenkampf […] begonnen.“ – „Lenins Krankheit erzeugt unter den Regierenden [...] eine Nervosität, die sich nach und nach weiteren Kreisen mitteilt.“109 Unsicherheit bestand auch im Hinblick auf die weitere Entwicklung der außenpolitischen Beziehungen. Nach dem für Moskau enttäuschenden Ausgang der internationalen Wirtschaftskonferenz in Genua war die darauffolgende Haager Konferenz (15.  Juni–20. Juli 1922) zwischen den westeuropäischen Staaten und der Sowjetregierung über die Anerkennung der russischen Schulden und der ausländischen Eigentumsrechte in Russland ebenfalls ergebnislos verlaufen.110 Die Westmächte hatten sich nicht bereit gefunden, die Sowjetrepublik als Gegenleistung anzuerkennen und ihrer daniederliegenden Wirtschaft mit größeren Kapitalinvestitionen aufzuhelfen. „Nach Genua und Haag“111 betitelte Radek eine großangelegte Analyse, in der er urteilt, die Verhandlungen hätten „mit einem völligen Bankrott geendet“ und die Frage stellt „Was weiter?“112 Er gibt die Antwort, aufgrund des Misserfolgs der Konferenzen müssten sich die Sowjetbürger bewusst werden, dass man nicht auf westliche Hilfe zählen könnte, sondern dass „die Hauptkräfte des wirtschaftlichen Aufbaus Rußlands aus den eigenen Quellen geschöpft werden müssen, die die russische Landwirtschaft liefern wird [...].“113 Die internationale Situation habe sich in Genua und Haag zum Nachteil Sowjetrusslands festgefahren. Nicht diplomatische 106 Schapiro, S. 288. 107 Deutscher, Trotzki II, S. 202 und S. 204. 108 Dr. Heile, Gerhard; Redakteur der Bremer „Weser-Zeitung“, der sich mit einer deutschen Wirtschaftsdelegation im Juni 1922 in Moskau aufhielt. 109 Heile, S. 61f. und S. 68. 110 In Fortführung der Genueser Verhandlungen hatte die sowjetische Delegation unter dem Stellvertretenden Außenkommissar Litvinov an der Haager Wirtschaftskonferenz vom 29. Juni–18. Juli 1922 teilgenommen. 111 Radek, Nach Genua und Haag, Hamburg 1922 = Kleine Bibliothek der Russischen Korrespondenz, 75/76. 112 Ebenda, S. 68. 113 Ebenda, S. 70f.

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Bemühungen, sondern erst Krieg oder Revolution könnten wieder eine günstigere Konstellation herbeiführen und die Stagnation überwinden: „Der Augenblick für große Abkommen mit den ausländischen Regierungen tritt nur bei einem neuen revolutionären Umschwung im Osten oder Westen oder bei einer Zuspitzung der Beziehungen zwischen den imperialistischen Mächten ein. Die Konsolidierung der Kräfte der chinesischen Revolution, die Zuspitzung der Klassenkrisis in Japan machen Rußland, wenn wir es verstehen eine kampfkräftige Armee zu bewahren, zu dem entscheidenden Element im Fernen Osten: für Japan und für Amerika. Die Verschärfung der Krisis in der mohammedanischen Welt des nahen und mittleren Ostens wird die Bedeutung Sowjet-Rußlands in bezug auf England und Frankreich erhöhen. In der gleichen Richtung würde eine Verschärfung des englisch-französischen Konfliktes wirken. Der Sieg der proletarischen Revolution, wenn auch nur in einem Industrielande, würde den kapitalistischen Mächten die Notwendigkeit beweisen, Abkommen mit der proletarischen Revolution zu suchen.“ 114

Und dann schoss Radek einen vergifteten Pfeil gegen Čičerin, Litvinov und das Außenkommissariat ab, indem er deutlich machte, dass bis zu einem solchen revolutionären Umbruch die offizielle Diplomatie nur einen geringen Teil der sowjetischen außenpolitischen Bemühungen umfassen werde: „Bis zu diesem Umschwung wird die Arbeit der Sowjetdiplomatie […] jedoch keinen großen Umfang annehmen. Erst der Augenblick, in dem neue Umwälzungen in der Welt eintreten, wird sie von neuem beflügeln, Erst dann, wenn sie den Sieg der proletarischen und nationalen Revolutionen oder den Sieg der Roten Armee ausnutzen muß, wird sie sich von neuem in ihrem vollen Umfange entfalten.“115

Das sollte keineswegs den Verzicht auf auswärtige Beziehungen signalisieren, sondern heißen, der wesentlich größere Teil der außenpolitischen Aktivität müsse nach dem diplomatischen Fiasko von Genua und Haag wieder wie zuvor auf inoffizieller Ebene von den Spitzen von Partei und Komintern abgewickelt werden. Dabei dachte Radek wohl nicht nur an die revolutionäre Wühlarbeit, sondern auch an seine letzten Endes doch erfolgreiche diplomatische Berlin-Mission zur Vorbereitung des Vertrages von Rapallo. Das beherrschende innenpolitische Thema in Sowjetrussland im Sommer 1922 war der seit Februar angekündigte große Schauprozess gegen 34 Sozialrevolutionäre116. Die Anklage lautete auf Konterrevolution und terroristische Machenschaf114 Ebenda, S. 71. 115 Ebenda, S. 71f. 116 Die Sozialrevolutionäre (SR) erstrebten im Gegensatz zu den Bol’ševiki über die freie Assoziation von Kleinproduzenten einen bäuerlichen Sozialismus. Im Kampf gegen den Zarismus bedienten sie sich des individuellen Terrors. Nach der Februarrevolution 1917 stärkste Partei in der Konsti-

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ten gegen die Sowjetregierung. Den ehemaligen Koalitionspartnern der Bol’ševiki wurden insbesondere das Attentat auf Lenin am 31. August 1918 und die politische Führung des Bauernaufstands von Tambov im Jahre 1921 vorgeworfen. Auf der II. Erweiterten Tagung des Exekutivkomitees der Komintern (7.–11. Juni 1922) bildeten Zinov’evs „Informationen über den Prozess der Sozialrevolutionäre“ den ersten Punkt der Tagesordnung, noch vor Radeks Referat zur „Berliner Beratung über die Einheitsfront“117, was die Wichtigkeit, welche die Bol’ševiki dem unmittelbar bevorstehenden Verfahren beimaßen, verdeutlichte. Zum Auftakt des Prozesses, der sich über zwei Monate vom 9. Juni bis zum 7. August 1922 hinzog, machte eine Erklärung des Gerichts deutlich, worum es ging. Man habe hier nicht etwa ein Gericht nach bürgerlichem Muster vor sich und wolle nicht verstehen und Verständnis zeigen, sondern die Sowjetrepublik habe dieses Gericht eingesetzt, um ihre Feinde zu vernichten.118 Diese „Gerichtsfarce“119, während der die Behörden Massenkundgebungen für die Verhängung der Todesstrafe gegen die „Terroristen“ inszenierten, wurde von Radek scharfmacherisch publizistisch begleitet.120 Er zog alle Register der Polemik, um die Proteste der internationalen Sozialdemokratie gegen das Tribunal zu kontern. Er schrieb, das „Geheul“ der „Sozialdemokratischen Presse aller Schattierungen“ gegen den Prozess sei unaufrichtig, übergehe sie doch den „weißen Terror“ gegen die Arbeiterschaft in den kapitalistischen Staaten mit Schweigen.121 Als besonders „skurril“ charakterisierte er die Haltung der USPD und seines Erzgegners Paul Levi: „Deutschland war einst das gesegnete Land des besten Bieres und des Marxismus. Der Krieg hat das Bier und den Marxismus in Deutschland gleich hart getroffen; von beiden ist nur die Farbe geblieben. Jetzt, fast vier Jahre nach Ende des Krieges, hat sich die Qualität des deutschen Bieres sehr gehoben, der Marxismus der sozialdemokratischen Parteien ist Kriegsersatz geblieben […].“ tuierenden Versammlung; an der provisorischen Regierung u.a. mit F. A. Kerenskij als Premierminister beteiligt; 1917 verfügten die SR über 400.000 Parteimitglieder, von denen sich eine linke Gruppe abspaltete und mit den Bol’ševiki koalierte. Im Frühjahr 1918 traten die linken SR aus Protest gegen den Frieden von Brest-Litovsk aus der Sowjetregierung aus. Nach dem missglückten Kaplan-Attentat auf Lenin und dem Juliaufstand 1918 wurden sie von den Bol’ševiki verfolgt und aus den Regional- und Lokalsowjets verdrängt. Im Bürgerkrieg kämpften viele SR gegen die Bol’ševiki. 117 Schumacher, S.  269. Zu Radeks Ausführungen hielt Zinov’ev das Koreferat. Auf der Tagung wurde Radek als Mitglied des Präsidiums des EKKI bestätigt. 118 Heile, S. 68. 119 Courtois, S. 144. 120 Fünf Aufsätze von Karl Radek zum Prozess, aus denen nachfolgend zitiert wird, sind enthalten in dem Sammelband: An den Pranger (Zum Prozeß gegen die Sozialrevolutionäre), Hamburg 1922 = Kleine Bibliothek der Russischen Korrespondenz 71–73. 121 Radek, Der historische Sinn des Prozesses gegen die Sozialrevolutionäre, in: An den Pranger, S. 14f.

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Insbesondere „Herr Levi, der Renegat des Kommunismus“ – „dieser Ersatzmarxist, der jetzt wahrscheinlich als Renommiermarxist der U.S.P.D. sein politisches Leben beenden wird“, verbreite in deutschen Zeitungen, die Sowjetregierung habe sich durch ihre Neue Ökonomische Politik in eine kleinbürgerlich geprägte Bauernregierung verwandelt, die Konzessionen an das europäische Kapital machen müsse. Levi behaupte, damit seien die Sozialrevolutionäre zur einzigen noch in Sowjetrussland verbliebenen revolutionären Partei des Proletariats geworden. Ihnen gegenüber spiele die Sowjetregierung nun dieselbe Rolle, die „Thiers122 und Konsorten gegenüber den besiegten Kommunards gespielt haben“ und verfolge sie. „Dieses Brimborium“, so Radek, „wird aufgetischt mit allerhand Zitaten aus dem ,18. Brumaire‘ von Marx, der sich bekanntlich nicht mehr wehren kann.“123 Solchem „gelehrten Blödsinn“ müsse man entgegenhalten, dass die Sozialrevolutionäre Partei nie eine Arbeiterpartei, sondern stets „eine sich in erster Linie auf das Bauerntum stützende kleinbürgerliche Intellektuellenpartei“ gewesen sei, die sich mittlerweile „nicht nur als eine antiproletarische, sondern auch als eine antibäuerliche Partei erwiesen“ habe. Als Kerenskijs Partei, „die die fremde Intervention herbeirief“, wurde sie zur „Partei der nationalen Versklavung Rußlands“ und zur „Dirne der Konterrevolution“, von der sie „auf den Misthaufen der Geschichte geworfen“ worden sei.124 Levi und die sozialdemokratische Presse würden deshalb die Arbeiterschaft verdummen, wenn sie sagen: „,Weil die Sowjetregierung ökonomische Zugeständnisse an das Kapital machen muß, verurteilt sie die Sozialrevolutionäre als die Vertreter des erwachenden Sozialismus der erwachenden Arbeiterklasse‘. Die Wahrheit dagegen ist, ,Weil die Sowjetregierung durch die langsame Entwicklung der Weltrevolution genötigt ist, ökonomische Zugeständnisse an den Kapitalismus zu machen und weil die Arbeiterklasse die Macht erhalten will, weil sie kein Atom der Macht an die russische und an die Weltbourgeoisie abtreten will, muß sie ihr Schwert erheben gegen die Konterrevolutionäre, die unter der Flagge des kleinbürgerlichen Sozialismus marschierend das Tor für die Herrschaft der Bourgeoisie zu öffnen suchen.´“125

Der „historische Sinn des Prozesses der Sozialrevolutionäre“, betonte Radek, sei es jedoch die russische Revolution zu retten und zu verhindern, dass sie so endet wie der Jakobinerterror Babeufs126 und die Pariser Kommune: „[…] darum eben richtet die Sowjetregierung das gezückte Schwert gegen den kleinbürgerlichen Flügel der Konterrevolution, der als Vorposten des kapitalistischen und junkerlichen Flügels die Festung 122 Thiers, Adolphe (1797–1877); konservativer Chef der französischen Exekutive zur Zeit der Pariser Kommune 1871, der die Erhebung der französischen Hauptstadt in einem Blutbad erstickte und dann als Präsident der Französischen Republik die Kommunarden umfassend verfolgen ließ. 123 Radek, Der historische Sinn des Prozesses gegen die Sozialrevolutionäre, a.a.O., S. 16f. 124 Ebenda, S. 18ff. 125 Ebenda, S. 22. 126 Babeuf, Francois Noel (1760–1797); französischer Revolutionär, der erstmals versuchte den radikalen Kommunismus in die Praxis umzusetzen.

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des Weltproletariats in eine Arena eines neuen Bürgerkrieges verwandeln will.“127 Das eigentliche Ziel der Anklage bildeten die zwölf in Russland verbliebenen Führer der Sozialrevolutionären Partei. Bei den übrigen Angeklagten handelte es sich im Wesentlichen um Agenten, die gegen ihre Mitangeklagten aussagen und „ihre Verbrechen bekennen“ sollten.128 Im Verlauf des Verfahrens heizte Radek die Stimmung gegen die Hauptangeklagten an. Die sozialrevolutionären Parteiführer hätten gestanden, „daß ihre Partei die prinzipielle Zulässigkeit des terroristischen Kampfes gegen die Sowjetmacht anerkannt“ habe, die sie als eine „Willkürherrschaft“ ansehe. „Dieses vom Standpunkte der Weltrevolution unerhörte Verbrechen“ versuchten sie vor Gericht zu beschönigen und sich reinzuwaschen. „Die erschrockenen Terroristen“ würden damit beweisen, „daß sie nicht fähig sind für ihre eigene Sache einzustehen.“ Deshalb müsse „das Revolutionäre Tribunal die Terrorangelegenheit bis zum letzten Punkt aufklären und sodann ein den unerhört schweren Verbrechen der S.R.-Partei entsprechendes Urteil fällen.“129 Nachdem es dem sowjetischen Geheimdienst gelungen war, in Paris Archivdokumente zur antibolschewistischen Tätigkeit der von Aleksandr Kerenskij geführten Exil-Partei der S.R. an sich zu bringen und der Moskauer Staatsverlag diese als Broschüre mit dem Titel „Die Arbeit der ausländischen S.R.“ veröffentlichte, triumphierte Radek: „Dieser Stoff wird der letzte Nagel zu dem Sarge dieser schändlichen Partei sein.“130 Er fuhr fort: „Wir haben zwar einstweilen nur einen geringen Teil des in den Händen der Sowjetregierung befindlichen Materials durchgearbeitet, aber auch dieses Material genügt, um die Partei der S.R. als eine Organisation anzusehen, die noch immer Hand in Hand mit fremden Mächten und mit deren Geld Aufstände in Sowjetrußland vorbereitet, Militärspionage betreibt, alles in engem Kontakt mit den Verbündeten. Diese Dokumente berechtigen, ja verpflichten sogar die Sowjetregierung, die Partei der S.R. als eine Organisation für Militärspionage, eine Organisation zur Entfachung von Aufständen zugunsten der Verbündeten, zur Hervorrufung der neuen Intervention zu behandeln. Die Sowjetregierung wird bezüglich der Partei der S.R. so handeln, wie diese es verdient [...].“131

Er schloss mit den Worten, man unterbreite das Material mit den Spionagebeweisen hiermit „den Arbeitern und Führern der 2. und 2½ Internationale“132 und forderte, 127 Radek, a.a.O., S. 26. 128 Courtois, S. 144. 129 Radek, Die erschrockenen Terroristen, in: An den Pranger, S. 39–43. 130 Radek, Neue Enthüllungen über die Partei der Sozialrevolutionäre (Das Pariser Geheimarchiv) [datiert 29. Juli 1922], in: An den Pranger, S.  58. Der Aufsatz erschien mit dem gleichen Titel auch als gesonderte Broschüre, Hamburg 1922. In dieser Broschüre fehlt allerdings der Abschnitt  IV des Aufsatzes, mit einem provokanten Appell Radeks an die beiden Sozialistischen Internationalen. 131 Ebenda, S. 71. 132 Ebenda, S. 72.

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sie müssten „jetzt sofort Stellung nehmen“ und erklären: „Ja wir brechen mit den S.R., die Sowjetregierung hat vollkommen recht, wenn sie sich gegen dieses Gesindel mit allen Mitteln verteidigt.“133 Es erregte internationales Aufsehen; als sich der im Ausland aufhaltende führende sowjetische Schriftsteller und Literaturpapst Maksim Gor’kij134 in einem Brief an den Literaturnobelpreisträger Anatole France135 für die Angeklagten einsetzte und schrieb, der Prozess gegen die Sozialrevolutionäre „habe den zynischen Charakter einer öffentlichen Vorbereitung zur Ermordung von Leuten angenommen, die aufrichtig der Sache der Befreiung des russischen Volkes gedient haben“. Radek reagierte auf die Veröffentlichung des Schreibens mit einer gehässigen Attacke gegen den russischen Dichter. Er warf ihm vor, schon während der Oktoberrevolution „eine außerordentlich schwankende Haltung eingenommen zu haben. Nun sei er zum „Bildungsphilister“ geworden und verfasse konterrevolutionäre Artikel gegen die ihm verhassten ungebildeten russischen Bauern, in denen er „nichts Menschliches“ sehe. Auch nach der Revolution sei „in seinem Hirn die große Angst geblieben vor der Kulturlosigkeit der Arbeiter und der Kulturunfähigkeit der Bauern“. Das sei nicht weiter verwunderlich, denn „er wurzelt im kleinbürgerlichen lumpenproletarischen Milieu. Nur dieses schildert er echt. Wo er Arbeiter zeichnet, wie in seinem Roman ,Mutter‘, gibt er Kitsch [...]“, kritisierte Radek. Seit einigen Monaten sitze Gor’kij nun in Berlin, „umgeben von einer Clique hysterischer Literaten beiderlei Geschlechts“. Er lese keine einzige in Russland erscheinende Zeitung und informiere sich aus der verleumderischen weißgardistischen Auslandspresse. Das Resultat: „Alle seine kleinbürgerlichen Instinkte wachten auf und diktierten ihm seinen Brief.“ Sollte er wieder nach Russland zurückkehren, werde er sich wohl „verlegen lächelnd“ damit entschuldigen, dass er so wenig von Politik verstehe. „Wir werden ihm dann antworten: Schon gut, man muß den Menschen nehmen wie er ist, vor allem wenn er ein Dichter ist. Aber auch der Dichter soll das Recht Unsinn zu schreiben, nicht mißbrauchen [...].“136 Entsprechend der von Radek und Bucharin in Berlin gegebenen Zusage hatten die europäischen Sozialistischen Parteien den belgischen Minister Emile Vandervelde, Theodor Liebknecht (USPD) und Kurt Rosenfeld137 (USPD) als Verteidiger für den Schauprozess entsandt. Bereits bei der Ankunft in Moskau wurden sie auf dem Bahnhofsvorplatz von einer gelenkten „Demonstration mit kochender Volksseele“ empfangen. An mitgeführten Miniaturgalgen hingen Puppen, welche die angeklagten Sozialrevolutionäre darstellen sollten und die Menge rief im Sprech133 Ebenda, S. 74. 134 Gor’kij, Maksim; Pseudonym von Peškov, Aleksej Maksimovič (1868–1936); russischer Schriftsteller. 135 France, Anatole; Pseudonym von Tibaut, Jaques Anatole (1844–1924); französischer Romancier und Literaturnobelpreisträger (1921). 136 Radek, Maxim Gorki und die russische Revolution, in: An den Pranger, S. 75–83. 137 Rosenfeld, Kurt (1877–1943) Jurist und SPD-/USPD-Politiker; 1818/19 preußischer Justizminister; 1920–1932 MdR; als politischer Strafverteidiger engagierte er sich u. a. für Rosa Luxemburg, Kurt Eisner und Georg Ledebour; 1919 war er auch Radeks Anwalt in Berlin.

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chor: „Wann sehen wir euch endlich baumeln“. Theodor Liebknecht wurde mit dem Plakat „Kain, Kain, wo ist dein Bruder Karl?“ begrüßt und Emile Vandervelde auf einem Transparent gefragt, „Wann sehen wir Dich endlich vor dem Revolutionstribunal, königlicher Minister?“138 In dieser Tonlage hielt der Psychoterror gegen sie an, auch bekamen sie die Angeklagten überhaupt nicht zu sehen. Wegen Einschränkung ihrer Handlungsfreiheit legten die Anwälte am 20. Juni das Mandat nieder und reisten unverrichteter Dinge wieder ab. Radek, der den allen rechtsstaatlichen Gepflogenheiten hohnsprechenden Skandal unter Bruch seines Berliner Versprechens zumindest mit inszeniert hatte, wies die daraufhin in Westeuropa einsetzende massive Kritik an der Rechtmäßigkeit des Verfahrens mit zynischer Unverfrorenheit zurück: „Jeder Versuch der Anfechtung des Prozesses vom prozessualen Standpunkt, wie ihn die Führer der 2. und 2½ Internationale unternehmen, ist ein Versuch mit untauglichen Mitteln, ist nur darauf berechnet, die Wirkung der bürgerlichen Greuellegenden zu erhöhen.“139 Die Frage, ob die Angeklagten angesichts der Brüskierung ihrer Anwälte, „die vollkommene Freiheit der Verteidigung“ gehabt hätten, so schrieb er, erübrige sich, denn sie seien schließlich „keine Kinder, sondern erfahrene Politiker, die keinen Tag im Gerichtssaal verweilt hätten, ohne die Möglichkeit, ihre Taten vor den Massen Sowjet-Rußlands zu verteidigen.“140 Auftrumpfend stellte er fest: „Die Sowjetregierung hat den Führern der S.-R. die Freiheit der Verteidigung gewährt, nicht nur weil nach der Periode des offenen Bürgerkrieges das Regime des Terrors, das der Sowjetregierung durch die Interventionen und die konterrevolutionären Anschläge aufgedrängt worden ist, dem Regime der revolutionären Gerichtsbarkeit Platz gemacht hat, sondern auch weil sie durch die Aufrollung der ganzen Geschichte der S.-R., dadurch, dass sie den Führern der S.-R. weitestgehende Verteidigungsmöglichkeiten einräumte, nur gewinnen konnte.“141

Im Prozess war das seit dem 1. Juni 1922 gültige neue sowjetische Strafrecht angewendet worden, dessen Formulierung Lenin persönlich überwacht hatte. Es sollte die Gewaltanwendung gegen politische Gegner auf eine gesetzliche Grundlage stellen und beinhaltete die Wiedereinführung der Todesstrafe. Die Zeit der durch den Bürgerkrieg gerechtfertigten willkürlichen Vernichtungsaktionen war offiziell abgeschlossen. Der Terror war aber, wie von Lenin gefordert, nicht unterbunden, sondern gesetzlich verankert worden142 und, wie Radek es formulierte, zum „Regime 138 Heile, S. 69f. 139 Radek, Das Urteil im Prozeß gegen die Sozialrevolutionäre [datiert 8. August 1922], in: An den Pranger, S. 111. 140 Ebenda. 141 Ebenda, S. 112. 142 Zur Ausarbeitung des neuen Strafgesetzes schrieb Lenin am 15. Mai 1922 an den Volkskommissar für Justiz, Kurskij: „Der Grundsatz der das Wesen und die Berechtigung des Terrors, seine Not-

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der revolutionären Gerichtsbarkeit“ mutiert. Dementsprechend wurden die Führer der Sozialrevolutionären Partei am 7. August wegen ihrer „konterrevolutionären Verbrechen“ zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde allerdings wegen internationaler Proteste, hauptsächlich aber weil man die Verurteilten als Geiseln gegen künftige sozialrevolutionäre Aktivitäten benutzen wollte, nicht vollstreckt.143 Radek beeilte sich, die Verurteilten zu verdammen und die verhängten Todesstrafen zu rechtfertigen. Das Verfahren habe gezeigt, schrieb er, die Angeklagten seien „überführte Häuptlinge einer konterrevolutionären Partei, die in dem großen Befreiungskampfe des russischen und des Weltproletariats mit allen Mitteln auf der Seite der WeltKonterrevolution gekämpft haben.“144 Sie seien „gewöhnliche Meuchelmörder“, die Attentate auf Volodarskij145, Lenin und Trockij zu verantworten hätten. Mit tschechoslowakischen und französischen Geldern versehen, hätten sie Spionage gegen Sowjetrussland betrieben und Aufstände vorbereitet.146 Vor allem ging es ihm jedoch darum, das Aussetzen der Hinrichtungen zu begründen: „Daß das Revolutionstribunal diese bankerotte Clique von Falschspielern zum Tode verurteilt hat, das brauchen wir nicht zu erklären. Kein revolutionärer Arbeiter in der Welt würde es verstehen, wenn das Urteil anders lauten würde als: sie sind schuldig […]. Was den Proletariern zu erklären bleibt, ist die Tatsache, dass das Urteil 24 Stunden nach der Fällung nicht ausgeführt war […]. Nicht das Todesurteil ist zu verteidigen, sondern die Tatsache, dass es nicht vollstreckt wird. Die Sowjetregierung ist eine revolutionäre Regierung. Sie entscheidet nicht auf Grund des toten Buchstabens des Gesetzes, sondern auf Grund des lebendigen revolutionären Zweckes.“147

Mit dem Prozess, so erläuterte er, habe man die Partei der Sozialrevolutionäre nicht nur politisch geschlagen, sondern völlig „zermalmt“. Deshalb könne der Rat der Volkskommissare „den Führern der Partei der S.-R. eine Galgenfrist im wörtlichen wendigkeit und seine Grenzen begründet, muß in aller Offenheit aufgestellt werden und zwar im politischen Sinne, nicht nur in engen juristischen Begriffen. Das Gericht darf den Terror nicht unterbinden; wer dies sagt, belügt sich selbst oder lügt. Der Terror ist auf eine Grundlage zu stellen und auf dieser Grundlage gesetzlich zu verankern, und zwar klar und deutlich, ohne Falschheit und Verschleierung der Wirklichkeit. Die Formulierung muß so offen wie möglich sein, denn nur das Bewußtsein, daß die Revolution ihre Gesetzlichkeit hat, und das Bewußtsein einer Revolution schaffen die Bedingungen für die Anwendung des Rechts.“ Lenin, Polnoe sobranie sočinenij [Gesammelte Werke], tom LIV, Moskva 1975, S. 36f.; zitiert nach: Courtois, S. 145. 143 1924 wurden die Todesurteile in fünfjährige Lagerstrafen umgewandelt. Die Verurteilten kamen jedoch nicht mehr frei und wurden in den 1930er Jahren hingerichtet. Courtois, S. 144. 144 Radek, Das Urteil im Prozeß gegen die Sozialrevolutionäre [datiert 8. August 1922], in: An den Pranger, S. 114. 145 Volodarskij, V.ladimir; Pseudonym von Goldštejn, Moisej Markovič (1891–1918); Führer des Petrograder Sowjets und Volkskommissar; 1918 von einem Sozialrevolutionär erschossen. 146 Radek, a.a.O., S. 114ff. 147 Ebenda, S. 118.

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Sinne des Wortes gewähren“ und „abwarten“, ob Kerenskij und die anderen im Ausland befindlichen Führer, „es wagen werden, noch zu versuchen, die Brandfackel nach Russland zu werfen.“ Und er drohte: In einem solchen Fall und wenn die Verurteilten „[...] die Solidarität mit ihnen [den Exil-Führern] nicht aufgeben, nun dann sollen sie daran glauben, dann sollen sie wissen, daß auch die Langmut […] Grenzen hat. Sollte die Sowjetregierung die Führer der S.-R. zur Besinnung bringen – niemand wird sich mehr freuen als die Sowjetregierung, die im Blutvergießen nur ein Abwehrmittel sieht.“148

In provokantem Ton wandte er sich an die Führer der beiden Sozialistischen Internationalen, denen er in Berlin zugesagt hatte, man werde im Prozess gegen die Sozialrevolutionäre von einer Verhängung der Todesstrafe absehen: „Die Herren von der 2. und 2½ Internationale werden triumphieren, daß ihr Druck die Führer der S.-R. gerettet hat. Sie sollen es tun. Wir aber sagen ihnen mit vollkommener Ruhe in ihr schamloses Gesicht: Verzichtet die Partei der S.-R. nicht auf die Propaganda und Organisation des Bürgerkrieges, der Spionage, des Terrors, so wird kein Geschrei sie retten vor dem strafenden Schwert der Sowjetregierung.“149

Mit dem Moskauer Schauprozess gegen die Sozialrevolutionäre war der von Radek und Friedrich Adler initiierte Versuch, die westlichen sozialistischen Führer zu einer politischen Annäherung an die Kommunistische Internationale zu gewinnen, endgültig gescheitert. Doch Radek gab seine Kampagne für eine internationale Einheitsfront nicht auf.150 Einheitsfront und Arbeiterregierung blieben verbindliche Komintern-Losungen, die in Deutschland nach dem Mord an Außenminister Rathenau (24. Juni 1922) in der Forderung nach einem Republikschutzgesetz die Kommunisten zur vorübergehenden Kooperation mit SPD, USPD und Gewerkschaften veranlassten. Ein Vorgang auf den Komintern-Chef Zinov’ev mit einem vertraulichen Protestbrief an die KPD-Führung unter Ernst Meyer reagierte, in dem er die schwächliche Taktik der Kommunisten rügte: „Man sollte nicht ,Republik! Republik!‘ schreien in einer Situation wie sie [damals] bestand.“ Es hätte den breiten 148 Ebenda, S. 119. In der für Radek typischen Diktion war auch der Aufruf des Exekutivkomitees der Komintern vom 8. August 1922 gehalten, der die Kernaussagen seiner Ausführungen enthielt: „Die revolutionäre Arbeiterregierung muß sich durch die revolutionäre Zweckmäßigkeit leiten lassen. Darum ist das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale solidarisch mit dem Allrussischen Exekutivkomitee der Sowjets, das den Befehl erteilt hat, das Todesurteil nicht zu vollstrecken. Die Sowjetregierung legt die Entscheidung über das Schicksal der Führer der S.R.Partei in die Hände derjenigen ihrer Führer, die sich im Auslande befinden. Sie gibt ihnen die Möglichkeit, durch Einstellung ihrer konterrevolutionären Kämpfe, durch Einstellung des Bürgerkrieges das Leben der Verurteilten zu retten.“ An die Proletarier aller Länder! Ein gerechtes Urteil über die Führer der S.R., in: An den Pranger, S. 137. 149 Ebenda, S. 119f. 150 Fischer, R., Stalin, S. 258.

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Arbeitermassen gezeigt werden müssen, „daß die bürgerliche Republik nicht nur keine Garantie für die Klasseninteressen des Proletariats ist, sondern umgekehrt […] die beste Form der Unterdrückung der Arbeitermassen.“ Er forderte, nicht gemeinsam mit SPD und USPD gemeinsam in ein Horn zu blasen, denn als „conditio sine qua non“ gelte, „die Einheitsfront soll nie, nie, nie die Selbständigkeit unserer Agitation ausschließen.“151 Daraufhin lehnte die KPD, die noch wenige Wochen zuvor ein solches Gesetz gefordert hatte, bei der Abstimmung im Reichstag am 18. Juli das Gesetz zum Schutz der Republik ab. Sie begründete die Änderung ihrer Haltung mit der Behauptung, man habe aus dem Gesetz, das ursprünglich als eine Schutzmaßnahme gegen die Konterrevolution gedacht war, eine Waffe gegen die politische Linke geschmiedet.152 Ende Juli, als das Gesetz in Kraft getreten war, analysierte Radek das Versagen der KPD in der Rathenau-Krise. Das einzige Ergebnis der losen Koalition mit den Arbeiterparteien und Gewerkschaften sei die Annahme des Republikschutzgesetzes gewesen. Von der Macht blieben die Kommunisten jedoch weiterhin ausgeschlossen. In kaum verhüllter Kritik gab er zu verstehen, dass die Einheitsfronttaktik, so wie sie die Partei anpacke, keine Früchte trage. Die Kommunisten müssten ihre Anstrengungen deshalb künftig verdoppeln.153 In Vorbereitung des IV. Kongresses der Komintern tagte am 28. Juni 1922 die vom EKKI eingestzte Programmkommission, der auch Karl Radek angehörte. Der Begründer der Einheitsfronttaktik ergriff als Erster das Wort. Er vertrat die Auffassung, „man brauche kein allumfassendes Programm, dass sich mit theoretischen Zukunftsvisionen befasse, sondern benötige „Thesen über die Methode der Gestaltung unserer konkreten Forderungen in der Übergangsepoche“, also praktikable taktische Rezepte zur Vorbereitung der Weltrevolution durch die kommunistischen Parteien. Am Vorabend des Kongresses startete Radek eine Kampagne in der er seinen Standpunkt propagierte. Er rief dazu auf, die Aufmerksamkeit auf „politische Übergangslosungen“ wie Einheitsfront und Arbeiterregierung zu richten. Er wurde von den Führern der KPD unterstützt, während Bucharin und die „linken Kommunisten weiterhin auf der Position des „revolutionären Maximalismus“ verharrten.154 Auf dem IV. Weltkongress der Komintern155 im Spätherbst 1922 bildeten die unter den Kommunisten umstrittenen Losungen Einheitsfront und Arbeiterregierung die zentralen Themen. Radek und die ihm ergebene KPD-Spitze verfolgten dabei 151 Zinov’ev-Brief an die KPD-Führung [wahrscheinlich] vom 28. Juni 1922 [von Zinov’ev auf dem IV. Weltkongress der Komintern teilweise verlesen]; zitiert nach Angress, S. 279. 152 Angress, S. 278f. 153 Radek, The class struggle in Germany after the Rathenau murder [Der Klassenkampf in Deutschland nach dem Rathenau-Mord], Inprecorr, II, Nr. 62, 28. Juli 1922, S. 465 f. Angress, S. 280f. 154 Vatlin, Die Komintern (2009), S. 103ff. 155 IV.  Weltkongress der Kommunistischen Internationale: Eröffnung am 5. November in Petrograd, Fortsetzung vom 9. November bis 5. Dezember 1922 in Moskau. Auf dem Kongress waren Zinov´ev und Radek die Hauptakteure. Lenin, noch geschwächt von seinem Schlaganfall und schon vom Tode gezeichnet, hielt am 20. November nur eine kurze Rede. Es war sein letzter Auftritt in der Öffentlichkeit.

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die politische Linie der „Einheitsfront von oben“, das heißt sie strebten eine taktisch motivierte zeitweilige Zusammenarbeit mit den sozialdemokratischen Arbeiterführern im Westen an. Demgegenüber plädierten Zinov’ev und der linke Flügel der KPD für ein unmittelbares Zusammengehen allein mit der sozialdemokratischen Mitgliederbasis. Radek, neben Zinove’v einer der beiden Hauptredner des Kongresses, verteidigte seine Position gegenüber der Kritik der „Genossen von der Linken“. Der Wortführerin der linken Berliner Opposition, Ruth Fischer, stimmte er zwar in der Kritik am Verhalten der deutschen Kommunisten in der Rathenau-Krise zu: „Wenn Stimmen in der Partei laut werden, die sagen: Die kommunistische Presse hat zu jedem Ereignis den kommunistischen Standpunkt einzunehmen und nicht der Leiche Rathenaus nachzulaufen und Republik, Republik! zu schreien, so können wir nur erwidern, wir wünschen, daß das nicht die Stimme der Opposition ist, sondern das Bewußtsein der Gesamtpartei […]. Die Partei hat aus Angst vor der Isolierung sich zu sehr an die Sozialdemokraten geklammert.“156

Aber im gleichen Atemzug warf er Ruth Fischer und ihren Freunden vor, durch ihr revolutionäres Ungestüm die Einheitsfrontpolitik in Deutschland zu lähmen und erläuterte in drastischen Worten die Komplexität seiner Politik: „Unsere Einheitsfronttaktik verläuft nicht nach einem Schema […] [und] ist mit den größten Gefahren verbunden. Diese Gefahren bestehen darin: Wir leben in einer Übergangszeit zu einer neuen revolutionären Welle. In dieser Übergangszeit ist bei den breiten Massen […] nicht das Gefühl der Möglichkeit einer revolutionären Aktion da und es entsteht in der Partei sehr leicht eine Zwielicht-Stimmung: Ich will mich nicht allein zeigen; wir Kommunisten können nur Arm in Arm mit Scheidemann unter den Linden spazieren gehen. In dieser Stimmung sind die Parteileitung und die Parteipresse; sie rutschen zu leicht in sozialdemokratische Politik hinein. Diese Gefahr ist vorhanden, und wenn man eine Aktion beginnt, muß man sich nicht nur der Gefahr bewußt sein, daß man Prügel kriegt, wenn man allein auf die Straße geht, sondern man muß sich auch der Gefahr bewußt sein, die darin liegt, daß die Kommunistische Partei unter den Massen verschwindet, daß sie einen Brei mit den Sozialdemokraten bildet […]. Der Weg der Einheitsfront ist ein viel schwierigerer als das, was wir taktisch im Jahre 1919 sagten. Haut alles zusammen! Es ist viel leichter und angenehmer alles zusammenzuhauen. Aber wenn man die Kraft nicht dazu hat und dieser Weg notwendig ist, muß man ihn wandern mit dem Bewußtsein, die Gefahren, die dabei drohen, drohen von rechts, und gleichzeitig mit dem festen Zutrauen, daß dieser Weg nicht uns, sondern der Sozialdemokratie zum Schaden gereicht. Sonst würde die II. Internationale nicht so hysterisch, krampfhaft versuchen, die Brücken zu uns abzubrechen. Wir tun das nicht, und zwar nicht aus dem 156 Aus einem Diskussionsbeitrag Radeks auf dem IV. Kongreß der Komintern, in: Protokoll des Vierten Kongresses der Kommunistischen Internationale, Petrograd/Moskau vom 5. November bis 5. Dezember 1922, Hamburg 1923, S. 95–103. Zitiert nach: Möller, S. 219.

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Willen der Verschmelzung mit den Scheidemännern, sondern aus der Überzeugung heraus, daß wir sie in unserer Umarmung erdrücken würden.“

Radek nahm auch die Gelegenheit wahr, seine Auffassung über die eng mit der Einheitsfront verzahnte Frage einer Arbeiterregierung darzulegen. Er korrigierte Zinov’ev, der die Arbeiterregierung als „ein Pseudonym für die Diktatur des Proletariats“ bezeichnet hatte. Eine solche Definition sei seiner Überzeugung nach, „nicht richtig“, denn die Arbeiterregierung sei „nicht eine historische Notwendigkeit, sondern eine historische Möglichkeit“: „Die Arbeiterregierung ist nicht die Diktatur des Proletariats […]. Sie ist einer der möglichen Übergangspunkte zu der Diktatur des Proletariats […]. Es wäre vollkommen unrichtig, es so darzustellen, daß die Entwicklung der Menschen vom Affen bis zum Volkskommissar obligatorisch durch die Phase der Arbeiterregierung gehen müsse, aber dies Variante ist in der Geschichte möglich […].“157

Am 15. November 1922 nahm Radek vor dem Kongress zur Entwicklung der Weltrevolution Stellung. Er beschrieb den Zustand der Arbeiterklasse und die revolutionären Perspektiven illusionslos.158 Schon kurz zuvor hatte er mit Blickrichtung auf den Kominternkongress die revolutionären Erwartungen gedämpft und geschrieben: „Die Kommunistische Internationale muß gleich Sowjetrußland mit einer langen Dauer der Weltrevolution rechnen. Das bringt vorübergehende Niederlagen und Rückschläge mit sich. Es erfordert im Kampfe die Anwendung aller Mittel, vor allem aber die gründliche Vorbereitung der Kämpfe.“159

Nun erläuterte er den Delegierten, die russische Revolution sei nur „der erste Akt der internationalen Offensive des Proletariats“ gewesen und habe die erste Phase der Weltrevolution gebildet. Gegenwärtig laufe „die Konteroffensive des Kapitals“, gekennzeichnet durch eine „wirtschaftliche Weltkrise“ und den Plan von Versailles, die besiegten Länder mit den Kosten des kapitalistischen Wiederaufbaus zu belasten. Dieser Angriff des Weltkapitals habe „den Höhepunkt keinesfalls überschritten“ und es stelle sich die „Frage der Gegenwehr der Arbeiterklasse“: „Das Charakteristische der Zeit in der wir leben, ist, daß obwohl die Krise des Weltkapitals nicht überwunden ist, daß, obwohl die Machtfrage objektiv immer noch das Zentrum aller 157 Ebenda, S. 220–223. 158 Radek, Die Offensive des Weltkapitals und die Taktik der Kommunistischen Internationale. Zwei Reden gehalten auf dem IV. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale im November 1922, Hamburg 1923. 159 Radek, Die Liquidation des Versailler Friedens, Bericht an den 4. Kongreß der Kommunistischen Internationale, Hamburg 1922 (datiert Moskau, 28. Oktober 1922), S. 72.

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Fragen ist, die breitesten Massen des Proletariats den Glauben daran verloren haben, daß sie in absehbarer Zeit die Macht erobern können. Sie sind in die Verteidigung gedrängt […]. Wenn die Situation so ist, wenn in den breitesten Arbeitermassen die Idee des Kampfes um die Macht momentan nicht nur nicht lebendig ist, sondern durch die ganze Situation zurückgedrängt ist, wenn die große Mehrheit der Arbeiterklasse sich ohnmächtig fühlt, so steht die Eroberung der Macht als momentane aktuelle Aufgabe nicht auf der Tagesordnung. Das ist eine historische Tatsache.“160

Stelle man die herrschende revolutionäre Ebbe in Rechnung, so führte er aus, gelte es zunächst, „eine Plattform zur Mobilisierung der Massen“ zu gewinnen und „[…] in erster Linie den Kampf um die Fragen zu führen, die für die breitesten Arbeitermassen die aktuellsten sind: die Fragen des Lohnes, der Arbeitszeit, der Wohnungsfrage, die Fragen der Abwehr gegen die weiße Gefahr, gegen die Kriegsgefahr und all die Fragen des täglichen Lebens der Arbeiterklasse.“161 Er fuhr fort, es wäre zwar „ein Unsinn zu sagen, jetzt sei gewissermaßen Sauregurkenzeit“, aber die Kommunisten könnten die Gegenoffensive gegen das Kapital „nicht künstlich herbeiführen“.162 Das Vehikel mit dem man das Gesetz des Handelns wieder an sich reißen könne, sei die Arbeitereinheitsfront mit dem politischen Ziel, einer Arbeiterregierung163: Erst „der Moment, in dem sich die Arbeiter zum Kampfe um die Arbeiterregierung, um die Kontrolle der Produktion zusammenfinden, wird den Beginn unserer Gegenoffensive bedeuten [...].“164 In seinem Schlusswort unterstrich er nochmals den wegen der revolutionären Flaute erforderlichen pragmatischen Ansatz der Kominternstrategie: „In der Zeit zwischen zwei großen Kampfperioden ist nichts gefährlicher als dieses Herumreiten auf bloßen Prinzipien. Wir müssen mit den Massen in die praktischen Kämpfe reiten und den Kommunismus nicht für zerbrechliches Porzellan halten. Wir sind noch schwach, und es wäre eine verhängnisvolle Sache, wenn wir das nicht sehen würden. Aber wir können nur stark sein, wenn wir uns sagen, daß wir das tun müssen, was der Tag erfordert. Und der Tag der vor uns steht, erfordert die Zusammenfassung der Massen zum

160 Radek, Die Offensive des Weltkapitals und die Taktik der Kommunistischen Internationale. Zwei Reden gehalten auf dem IV. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale im November 1922, S. 30f. 161 Ebenda, S. 31. 162 Ebenda, S. 43f. 163 Unter dem Einfluss Radeks, formulierte der 8. Parteitag der KPD (Leipzig, Ende Januar 1923): Die Arbeiterregierung „ist weder die Diktatur des Proletariats, noch ein friedlicher parlamentarischer Aufstieg zu ihr. Sie ist ein Versuch der Arbeiterklasse, im Rahmen und vorerst mit den Mitteln der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen, Arbeiterpolitik zu treiben.“ Flechtheim, S. 175. 164 Radek, a.a.O., S. 43.

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Kampf um die nächsten praktischen Ziele, der uns führen wird zum Kampf um die Diktatur des Proletariats.“165

Noch während des Komintern-Kongresses wurden im Beisein Lenins auf einer Besprechung der sogenannten „Fünfergruppe des Zentralkomitees der KPR(B)“166 am 20. November die Unstimmigkeiten zwischen Radek, Bucherin und Zinov’ev ausgeräumt. Die Parteiprogramme innerhalb der Komintern, so lautete die Kompromissformel, müssten flexibel allen unterschiedlichen Aspekten der Einheitsfronttaktik Rechnung tragen: „[…] In den nationalen Programmen muß die Notwendigkeit des Kampfes für die Übergangsforderungen mit aller Klarheit und Entschiedenheit begründet werden, wobei die entsprechenden Vorbehalte über die Abhängigkeit dieser Forderungen von den konkreten Bedingungen der Zeit und des Ortes gemacht werden müssen […]. Die theoretische Grundlage für alle derartigen Übergangs- oder Teilforderungen muß eindeutig in dem allgemeinen Programm angegeben werden, wobei der IV. Kongreß erklärt, daß die Komintern gleichermaßen entschieden die Bestrebungen verurteilt, die Einführung der Teilforderungen in das Programm als Opportunismus darzustellen, wie auch alle Versuche, die grundlegende revolutionäre Aufgabe durch Teilforderungen zu vertuschen oder zu ersetzen.“167

Alle Varianten des taktischen Vorgehens waren somit pauschal abgesegnet und die von Radek entwickelte Einheitsfronttaktik wurde in den offiziell angenommenen Thesen des Kongresses erneut als „mehr denn je Gültigkeit“ besitzend bestätigt. Im Hinblick auf die „Einheitsfront von oben“ wurde erklärt, im Kampf um die „notwendigsten Lebensinteressen“ der breiten Arbeitermassen seien „die Kommunisten sogar bereit, mit den verräterischen Führern der Sozialdemokraten und der Amsterdamer [Gewerkschaftsinternationale] zu unterhandeln.“168 Bereits eine Woche vor dem Kominternkongress hatte Radek die Korrespondenz der Komintern-Politik zur internationalen Lage in einer außenpolitischen Analyse hergestellt.169 Es spreche einiges dafür, urteilte er, dass die noch im Frühjahr erstarrten weltpolitischen Fronten wieder in Bewegung gerieten. Das zur Neige gehende Jahr 1922 lasse „den Beginn der Liquidation des Versailler Friedens“ erkennen. Er165 Radek, a.a.O., S. 61f. 166 Der Fünfergruppe des CK gehörten an: Lenin, Trockij, Zinov’ev, Radek, Bucharin. Lenin, Werke, Band E 2, S. 450. 167 Entwurf einer Resolution des IV. Kongresses der Komintern zur Frage des Programms der Kommunistischen Internationale. Vorschläge, angenommen auf der Beratung der Fünfergruppe des ZK, 20. November 1922, in: Lenin, Werke, Band E 2, S. 450f. 168 Protokoll des Vierten Kongresses der Kommunistischen Internationale, S.  1014. Zitiert nach: Angress, S. 297. 169 Radek, Die Liquidation des Versailler Friedens, Bericht an den 4. Kongreß der Kommunistischen Internationale, Hamburg 1922 (datiert Moskau, 28. Oktober 1922).

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eignisse, wie die Konferenzen von Washington170, Genua und Den Haag sowie die Befreiung der Türkei durch Kemal Pascha, seien Anzeichen dafür, „daß Säule auf Säule des Versailler Friedens einzustürzen beginnen“. Das internationale Kräfteverhältnis ändere sich. „Wirtschaftlich sind die Vereinigten Staaten Amerikas die ausschlaggebende Macht der Welt geworden“. Möglicherweise könnten die wachsenden Konfliktpotentiale zwischen den Großmächten die politischen Gegensätze so verschärfen, „dass ein neuer Weltkrieg entbrennt […], der den endgültigen Sieg der Weltrevolution bedeuten würde“. Aber selbst wenn es nicht zu einer großangelegten kriegerischen, Auseinandersetzung kommen sollte, würde „der Bankerott des Versailler Friedens weder eine Entspannung der Weltlage herbeiführen, noch irgend ein Übereinkommen, das eine friedliche Entwicklung der Völker zu sichern vermöchte, zur Folge haben, sondern neue Kämpfe um die Neuaufteilung der Welt entfachen.“171 Bezogen auf Europa, bedeute das „indessen nichts anderes als die Erzeugung einer neuen Konfiguration der Kräftegruppierungen innerhalb des europäischen Kapitalismus, neuer Möglichkeiten internationaler Konflikte, in denen Deutschland das Objekt und nicht das Subjekt des Kampfes bildet.“ Er charakterisierte Deutschland und Russland als die Opfer von Versailles, wobei er gleichzeitig das russische Interesse am Fortbestehen eines gegen die Entente orientierten deutschen Staates hervorhob: „Das ganze System der Versailler Politik“ war „nicht nur auf der Vernichtung Rußlands als Grossmacht aufgebaut. Die Politik der Erdrosselung Deutschlands, seiner Vernichtung als internationalen Faktors, setzte an sich schon die Vernichtung Rußlands als Großmacht voraus; denn möchte Rußland regiert sein, von wem es wolle, in jedem Falle hätte es ein Interesse an der Existenz Deutschlands [...].“172 Russland habe es jedoch vermocht, sich durch die Revolution und den Sieg im Bürgerkrieg aus der Opferrolle zu befreien. Nicht so Deutschland und Österreich. Beide seien zu „Objekten der Weltpolitik“ geworden. Auch eine „Umgruppierung der Machtverhältnisse“ in nächster Zeit, werde sie „aus dieser Lage nicht befreien können, es sei denn, daß eine proletarische Revolution in Deutschland siege und sie in Machtfaktoren verwandle“. Denn: „Nur der sich Wehrende stellt einen Faktor in der Weltpolitik dar“. Deshalb sei Russland „bereits zu einem Machtfaktor in der Weltpolitik geworden“. Gestützt auf die Rote Armee, habe Sowjetrussland „die Gegensätze des Weltkapitals ausnützend, seiner wirtschaftlichen Schwäche zum Trotz, heute gut ausgebaute Stellungen bezogen, die es immer mehr zu einer der ausschlaggebenden Weltmächte machen.“173 Auf die Rolle der Komintern eingehend, begründete Radek die Kongruenz zwischen Kommunistischer Internationale und Sowjetstaat mit ideologischer Rabulistik. Betrachte man die 170 Internationale Washingtoner Abrüstungskonferenz (November 1921 – Februar 1922). Ergebnis: Das Washingtoner Flottenabkommen vom 6. Februar 1922, das als erster Abrüstungsvertrag der Neuzeit das Wettrüsten zur See beendete. 171 Radek, a.a.O. S. 67ff. 172 A.a.O., S. 21f. 173 A.a.O., S. 68f.

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„internationale Arbeiterklasse“, so werde deutlich, dass allein die Kommunistische Internationale „eine aktive, revolutionäre Weltpolitik“ betreibe „Indem sie fortgesetzt die Arbeitermassen für den Kampf gegen die wirtschaftlichen Folgen des Kriegs mobilisiert, sie für den revolutionären Kampf sammelt, wird sie zum proletarischen Faktor der Weltpolitik. Ihre Unterstützung Sowjetrußlands bildet einen Teil des gewaltigen Kampfes gegen den imperialistischen Krieg, wie gegen den imperialistischen Frieden, des Kampfes für einen proletarischen Wiederaufbau der Welt. In Sowjetrußland besitzt die internationale Arbeiterklasse das staatliche Zentrum ihres revolutionären Kampfes […]. Die Interessen des russischen proletarischen Staates sind die Interessen der zur Staatsgewalt organisierten russischen Arbeiterklasse, der ersten siegreichen Sektion des Weltproletariats, und damit die Interessen des Weltproletariats selbst.“174

Es war nicht nur die „Offensive des Kapitals“, sondern auch der Siegeslauf des Faschismus in Italien, der die Kommunistische Internationale 1922 in ihrer revolutionären Selbstgewissheit traf und in der Änderung ihrer Revolutionsstrategie bestärkte. Die bereits mit dem Aufstieg der italienischen Faschisten 1921 einsetzende Faschismusdiskussion in der Komintern gewann an Intensität, als Mussolini175 nach seinem Marsch auf Rom am 22. Oktober 1922 die Macht ergriffen hatte. Unter dem unmittelbaren Eindruck von Mussolinis Staatsstreich stehend, wurden die auf dem IV. Weltkongress ausgetragenen Diskussionen im Wesentlichen von zwei konträren Positionen geprägt. Lenin, bereits von seiner Krankheit gezeichnet, unterschätzte die Bedeutung des faschistischen Sieges. Er beurteilte den Faschismus als ein transitorisches Phänomen und verglich Mussolinis Schwarzhemden mit den russischen Schwarzhundertschaften der Vorkriegszeit, einer 1905 von der zaristischen Polizei initiierten „Volksbewegung“ antisemitischer und studentenfeindlicher Extremisten.176 Noch ausgeprägter war die verharmlosende Interpretation des Faschismus durch Zinov’ev. Er bewertete Mussolinis Machtergreifung „historisch genommen“ als eine Komödie. Seine Herrschaft werde höchstens einige Monate oder Jahre dauern. Danach werde das Proletariat den Konflikt mit Sicherheit zu seinen Gunsten lösen.177 Für Zinov’ev und seine Anhänger erübrigten sich daher eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der neuen politischen Bewegung, die auch für den Kommunismus zu einer selbstkritischeren Lagebeurteilung hätte führen können. Demgegenüber erkannte Karl Radek, unterstützt von Clara Zetkin und Giulio Aquila178, die epochale Bedeutung der Vor174 A.a.O., S. 71. 175 Mussolini, Benito (1883–1945); ursprünglich Sozialist; 1922–1943 italienischer Regierungschef und Führer der faschistischen Partei (Duce), der sein Amt zur persönlichen Diktatur ausbaute. 176 Luks, S. 39f. 177 Protokoll des IV. Kongresses der Komintern, S. 42. Luks, S. 41. 178 Aquila, Giulio (1896–1943?); in KPD und KPdSU aktiver Kommunist dunkler Herkunft, der lange mit Radek zusammenarbeitete; er war mit Valentina Adler (Tochter des Psychologen Alfred Adler) verheiratet; 1937 in Moskau verhaftet und verschollen.

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gänge in Italien. Sie betonten nachdrücklich, dass der Faschismus eine völlig neue Form der „Gegenrevolution“ darstelle, die von allen früheren scharf unterschieden werden müsse.179 Insbesondere Radek wies darauf hin, wie wichtig es sei, „den Sieg der Fascisten und ihre Wesensart zu verstehen“. Er scheute sich nicht, die Fehldiagnose Zinov’evs zu korrigieren und von einem Waterloo für die Kommunisten zu sprechen: „Ich sehe in dem Siege des Fascismus nicht nur einen mechanischen Sieg der Waffen der Fascisten, sondern ich sehe darin die größte Niederlage, die der Sozialismus und der Kommunismus seit Beginn der Periode der Weltrevolution erlitten haben, eine größere Niederlage als die Sowjet-Ungarns, denn der Sieg des Fascismus ist eine Folge des momentanen geistigen und politischen Bankrotts des italienischen Sozialismus und der italienischen Arbeiterbewegung.“

Radek bemühte sich um eine genaue politische und soziologische Wesensbestimmung des Faschismus, wobei er zu bemerkenswerten Ergebnissen kam. „Die Geburt des Fascismus“, analysierte er, erkläre sich aus der Staats- und Parteikrise Italiens und insbesondere auch aus dem Versagen der dortigen Sozialistischen Partei: „Die bürgerlichen Parteien sind zersetzt, sie haben den Krieg geführt, haben den Staat und die Volkswirtschaft ruiniert, sie haben den Soldaten, den Beamten, den Kleinbürgern nichts mehr zu sagen. Aber die Mussolini, die nationalistischen kleinbürgerlichen Intellektuellen, sie stellen einen neuen Willen zur Macht dar. Die Fascisten kommen mit einem neuen Glauben, sie sagen: Der Sozialismus war nicht imstande etwas Neues zu bringen, wir aber werden zwischen Arbeitern und Kapitalisten vermitteln, wir werden die Kapitalisten zwingen, die Bedürfnisse der Arbeiter zu befriedigen. Aber ihr Arbeiter müßt arbeiten. Ihr müßt die Nation aufbauen.“180

Radek beurteilte den Faschismus als „eine eher kleinbürgerliche Ressentimentbewegung“181, die sich aber letztlich in den Dienst des „Kapitals“ stellen werde: „Die Fascisten stellen das Kleinbürgertum dar, das gestützt durch die Bourgeoisie zur Macht kommt und das genötigt sein wird, nicht das Programm des Kleinbürgertums, sondern des Kapitalismus durchzuführen.“182 Ihm war klar, dass die italienischen Faschisten die gleichen Volksschichten an sich ziehen wollten, in denen die Kommunisten ihr Kräftereservoir sahen und ihre Gefährlichkeit darin bestand, dass es ihnen im Gegensatz zu den Kommunisten gelungen war, Teile der Arbeiterbewe179 Luks, S. 46. 180 Radek, Die Offensive des Weltkapitals und die Taktik der Kommunistischen Internationale. Zwei Reden gehalten auf dem IV. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale im November 1922, S. 21 und S. 24. 181 Möller, S. 224. 182 Radek, a.a.O., S. 26.

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gung und des Mittelstands für sich zu gewinnen.183 Obwohl Radek dem faschistischen Regime große Schwierigkeiten voraussagte184, war er sich bald bewusst, dass es eine „lange Herrschaft des Fascismus“ geben werde, wenn es nicht gelänge, eine neue Revolutionsstrategie zu entwickeln, durch welche die proletarischen und kleinbürgerlichen Massen gegen diese ernste Bedrohung mobilisiert würden.185 Im August 1923 warnte er vor leichtfertigem Optimismus im Hinblick auf einen raschen Sturz des Faschismus: „[…] wenn man von der Zersetzung des Faszismus liest, sind wir russischen Kommunisten in erster Linie geneigt, vorsichtig zu sein. Seit 5 Jahren lesen wir in den bürgerlichen Zeitungen, bald daß Lenin, bald daß Trotzki verhaftet ist, und daß unsere Partei jeden Tag in 10 Stücke zerfällt. Ich glaube nicht, daß der Faszismus morgen zerfällt.“186

Im Unterschied zu der Position der Komintern-Ideologen um Zinov’ev, die den Faschismus sehr vereinfachend lediglich als ein unselbständiges Werkzeug des „Kapitals betrachteten, wurden Radek und seine Anhänger der Komplexität des Phänomens „Faschismus“ besser gerecht, indem sie ihn als autonome rechtsextreme Massenbewegung verstanden, deren Zielsetzungen mit denen des „Großkapitals“ keineswegs identisch seien.187 Aus Anlass des Frankfurter Antifaschistentages im Juli 1923 brachte Radek seine Analyse auf die prägnante Formel: „Der Faschismus ist der Sozialismus kleinbürgerlicher Massen“.188 Diese aus damaliger Sicht realistisch erscheinende Einschätzung des faschistischen Phänomens wird allerdings durch die Ergebnisse der modernen Faschismusforschung partiell revidiert. Sowohl die faschistische als auch die nationalsozialistische Bewegung sprengten den Rahmen einer ausschließlich „kleinbürgerlichen Bewegung“. Ihre soziale Basis war heterogen und nicht nur mittelständisch. Heute werden sowohl die faschistische Partei Italiens als auch die NSDAP als „undemokratische Integrationsparteien“ oder „universale Ersatzparteien“ definiert.189 Die auf dem IV. Weltkongress entsprechend der Linie der Einheitsfront von oben verkündete Bereitschaft der Komintern zu erneuten Kontakten mit den beiden sozialistischen Internationalen und den Gewerkschaften im Westen war ohne Resonanz geblieben. Als die Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale gemeinsam mit der Sozialistischen Internationale und der Wiener Union im Dezember 1922 einen internationalen Friedenskongress nach Den Haag einberief, wurden allein die sow183 Luks, S. 46. 184 Vgl. ebenda, S. 54. 185 Radek, a.a.O. 186 Radek, Die Internationale Lage, das Abflauen der kapitalistischen Offensive und die Aufgaben der kommunistischen Internationale; in: „Die Kommunistische Internationale“, Nr. 27, 15. August 1923, S. 22. Luks, S. 56. 187 Luks, S. 49. 188 Schieder, Wolfgang: Faschismus, in Kernig, Band II, Sp. 455f. 189 Vgl. Luks, S. 223, Anm. 143.

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jetrussischen Gewerkschaften eingeladen, nicht aber die Komintern und die Rote Gewerkschaftsinternationale. Zinov’ev höhnte, die Reformisten hätten sich wohl davor gefürchtet, die Kommunistische Internationale zur Teilnahme aufzufordern. Ungeachtet dessen, reiste Karl Radek als Spitzenfunktionär der Komintern, jedoch in diesem Falle offiziell in seiner Eigenschaft als Angehöriger des Zentralrats der sowjetischen Gewerkschaften, zu dem vom 10.–15. Dezember tagenden Gewerkschaftskongress. „Zum Ende des Jahres 1922 wurde ich als Vorsitzender der russischen Gewerkschaftsdelegation zur Haager Konferenz, die dem Kampf gegen die Kriegsgefahr gewidmet war, entsandt“190, schrieb er in seiner Autobiographie. Zusammen mit den beiden anderen bolschewistischen Delegierten Lozovskij und Rothstein191 trug er in Den Haag ein Vierzehnpunkte-Programm vor, in dem vorgeschlagen wurde, auf nationaler und internationaler Ebene gemeinsame Aktionskomitees zum Kampf gegen die Kriegsgefahr zu schaffen. Radek sprach in konziliantem Ton von der Notwendigkeit, bereits vor einem möglichen Kriegsausbruch wirksame Antikriegsaktionen vorzubereiten. Seine Rede wurde mit Beifall bedacht, obwohl er zum Schluss drohte: „Wir bieten Ihnen unvoreingenommen und furchtlos die Hand zur Freundschaft und Zusammenarbeit. Schlagen Sie das Angebot jedoch aus, so wird sich die zur Freundschaft bereite Hand gegen Sie richten.“192 Als die Delegierten es ablehnten, gemeinsame Aktionskomitees mit den Kommunisten zu bilden, verweigerten die russischen Delegierten im Gegenzug allen vom Kongress verabschiedeten Resolutionen ihre Zustimmung. Zugleich versuchte Radek nun, die Führer der Gewerkschaften und der beiden sozialistischen Internationalen bloßzustellen. Er warf ihnen vor, dass sie nicht wirklich gegen die wachsende Kriegsgefahr kämpfen wollten und die Geschäfte der Bourgeoisie besorgten. Auf der letzten Sitzung des internationalen Gewerkschaftskongresses notierte ein Beobachter: „Radek hielt noch eine boshafte Rede. Hinter der Maske des jungen Liebhabers, die er aufgesetzt hatte, hinter seinen blitzenden Brillengläsern, zeigte sich plötzlich in seinem 193 Gesicht etwas, das zwischen Facta und Wolf ist, und auch etwas von einem Straßenjun194 gen oder von dem ,bösen Buben‘ von Busch nach einem besonders gelungenen Streich. Eine wahre, freche, amüsante und schreckliche Mephistophysiognomie.“195

190 Radek, Avtobiografija, Sp. 168f. 191 Rothstein, Theodore (russisch: Rotštejn, Fёdor Aronovič); sowjetischer Historiker und Diplomat; nach 30 Jahren im englischen Exil (Mitbegründer der britischen KP) 1920 Rückkehr nach Russland; 1921/22 Geschäftsträger Sowjetrusslands im Iran; 1923–1930 Mitglied des Kollegiums des Narkomindel. 192 Degras, The Communist International, S. 450. 193 Facta, Luigi (1861–1930); italienischer Politiker, der 1922 als Ministerpräsident Italiens die Konferenz von Genua leitete. 194 Busch, Wilhelm (1832–1908); deutscher Zeichner, Maler und Dichter, der volkstümliche karikierende Zeichnungen und Verse schuf. 195 Graf Keßler (Tagebucheintrag Haag, 15. Dezember 1922), S. 354.

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Die Bilanz von Den Haag zogen Komintern und Rote Gewerkschaftsinternationale in einem Manifest: „Arbeiter und Arbeiterinnen! […] Der Haager Kongreß hat gezeigt, dass die Führer der Amsterdamer-, der Zweiten und der Zweieinhalb Internationale nicht den Wunsch haben gegen die wachsende Kriegsgefahr zu kämpfen, sondern im Gegenteil alles tun, um den Kampf unmöglich zu machen […]. Die Arbeiter der besiegten kapitalistischen Staaten müssen verstehen, dass die Ketten von Versailles, Trianon und Neuilly nur zerbrochen werden können, wenn sie nicht mit ihrer eigenen Bourgeoisie, sondern mit dem Proletariat der siegreichen Länder zusammengehen. Das gesamte internationale Proletariat muß sich um Sowjetrussland scharen, den einzigen proletarischen Staat, der der räuberischen Politik des internationalen Imperialismus die organisierte Kraft von 150 Millionen Men196 schen entgegensetzt.“

Die Erklärung war das Eingeständnis, dass Radek mit dem neuerlichen Versuch, in Den Haag eine internationale Einheitsfront zu erreichen, Schiffbruch erlitten hatte. Gescheitert war auch der Versuch, mit westlichen Gewerkschaftern und Sozialisten in kommunistisch gesteuerten Aktionskomitees gemeinsame Sache zu machen. Ein Projekt, das erst sehr viel später in den sowjetischen Hilfsorganisationen des Weltkommunismus, wie etwa dem Weltfriedensrat und seinen nationalen Komitees, doch noch Gestalt annehmen sollte. Nach dem Fehlschlag seiner Umarmungsstrategie in Den Haag, empfahl sich Sowjetrussland wieder als der alleinige Anwalt der Interessen des Weltproletariats. *** Auf dem IV. Weltkongress hatte Radek „vehement“ in den Kampf um die ideologische Führerschaft in der Komintern eingegriffen197 und in der Auseinandersetzung mit Bucharin und Zinov’ev die Oberhand behalten. Die Aufgabe der Kommunistischen Internationale, so erklärte er, sei es den Willen zu entfachen, „dessen das Proletariat bedarf, um […] das Geschehen zu beeinflussen, den geschichtlichen Prozeß zu beschleunigen, die Wirklichkeit zu verändern.“198 Was aber, wenn revolutionäre Windstille herrschte und die „Eroberung der Macht als momentane aktuelle Aufgabe nicht auf der Tagesordnung“ stand? Dann war pragmatisches Handeln angesagt. Seitdem die erste Welle der Weltrevolution verebbt war, ging Radek von einer längeren Periode der Koexistenz aus und hatte für einen modus vivendi mit dem Kapitalismus geworben. Die Festigung und Stärkung der jungen Sowjetrepublik als 196 Manifest des EKKI und der Roten Gewerkschaftsinternationale zum Haager Friedenskongreß, 19. Dezember 1922. Degras, The Communist International, S. 452. 197 Vatlin, Die Komintern(2009), S. 103. 198 Radek, Die Liquidation des Versailler Friedens, Bericht an den 4. Kongreß der Kommunistischen Internationale (datiert Moskau, 28. Oktober 1922), Hamburg 1922, S. 22.

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dem staatlichen Zentrum der Weltrevolution stand für ihn im Vordergrund. Die Revolutionierung anderer Länder genoss demgegenüber nachrangige Priorität. Er hatte das Postulat von der Identität der Interessen des sowjetischen Staates und des Weltproletariats aufgestellt. Unter solchen Aspekten müssen seine politische Bemühungen gesehen werden: „[…] wenn schon keine Revolution in Sicht war, hatte man alle Kräfte im Interesse Sowjetrusslands zu organisieren und zu benutzen.“199 Die Kommunistische Internationale musste die sowjetrussische Außenpolitik flankierend unterstützen. Die konzeptionell aus seinem „Offenen Brief“ von 1921 entwickelte Taktik der „Einheitsfront“ und der „Arbeiterregierung“ bildete den originären Beitrag Radeks zur Strategie der Komintern. Unter den Akteuren der Rapallo-Ära wird immer wieder Außenkommissar Čičerin als Schlüsselfigur der sowjetischen Deutschlandpolitik beschrieben. Im Grunde beschränkte sich seine Funktion in der Außenpolitik jedoch auf die eines Sprachrohrs, respektive Prügelknaben, des Politbüros. Das Außenkommissariat war lediglich die „Magd der politischen Entschlüsse“, die im Politbüro fielen. Es war nicht das Narkomindel, sondern die Parteiführung, in der sich die Linie der Sowjetpolitik herausbildete, bestimmt durch Fraktionskämpfe, außenpolitische Überlegungen, innenpolitische Rücksichten und weltrevolutionäre Ideale. Obwohl nicht dem Politbüro angehörend, war Karl Radek zu Beginn der 1920er Jahre der wohl wichtigste Mann in der Deutschlandpolitik des Kreml. Als Mitglied des Zentralkomitees und Kominternführer wirkte er an den Quellen der politischen Willensbildung im Sowjetstaat. Er plante die entscheidenden Schritte der Sowjetpolitik für Deutschland.200 Vorbei am Narkomindel knüpfte er im Auftrag Lenins und Trockijs direkte Beziehungen zur deutschen Reichsregierung und zur Reichswehr. Dabei waren seine Aktivitäten keineswegs vom „Durst nach persönlicher Machtentfaltung“ geprägt. Oscar Blum bescheinigte ihm: „Radek zieht es vor, hinter dem Vorhang zu wirken […]. Andern überläßt er gern den Vortritt, wenn es gilt die Politik nach außen hin zu vertreten. Er will sie machen. Ihm genügt das Bewußtsein, daß er die Karten gemischt hat.“201 Und er mische die Karten „großartig“, fährt Blum fort. „Im Zentralkomitee der Partei, im Vorstand der kommunistischen Internationale, im Kommissariat für Auswärtige Angelegenheiten: überall entfaltet er seine Energie“. Er leiste „Hervorragendes“ in der „Kunst des Manövrierens“, denn: „Seine Politik ist Balancieren auf Messers Schneide.“202 In Deutschland hatte man vielfach Schwierigkeiten damit, Radeks Gewicht in der sowjetischen Außenpolitik und seine unorthodoxe Rolle als Kominternagent und Diplomat richtig einzuschätzen. Auch wenn Maltzan und einige andere Akteure seine Bedeutung erkannten, existierten im Auswärtigen Amt große Verständnisprobleme. „Wissen Sie, mit den Berliner Herren ist ja sehr schwer arbeiten, da ist ja keiner sachlich“, beklagte sich Radek einmal über die Diplomaten 199 Möller, S. 37. 200 Pächter, S. 51f. 201 Blum, S. 8. 202 Ebenda.

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der Wilhelmstraße.203 Für Graf Brockdorff-Rantzau galt er als nicht satisfaktionsfähig, wenngleich dieser von Radeks „ungewöhnlicher Intelligenz“ beeindruckt war.204 Vor seiner Ernennung zum Botschafter in Moskau lehnte Rantzau es ab, mit Radek im Januar 1922 in Berlin zusammenzutreffen.205 Der Grandseigneur der deutschen Diplomatie, der dann am Moskauer Kamin die Nächte mit Čičerin verplauderte, forderte: „Unterhändler wie Radek sind auszuschalten“.206 Auch wenn die diplomatischen Fähigkeiten Radeks nach der ersten Berlin-Mission des Jahres 1922 von Lenin in Abrede gestellt wurden, war er der „Architekt von Rapallo“ und der durch ihn vorbereitete Vertrag ein „diplomatisches und politisches Meisterstück“207 Zugleich ist nicht unplausibel, wenn behauptet wird, er habe mit der Einheitsfrontpolitik als flankierender Maßnahme, die KPD so „ungefährlich wie möglich“ machen wollen, um durch sie die Rapallopolitik nicht stören zu lassen.208 Durch Rapallo war Deutschland aus sowjetischer Sicht zum europäischen Wellenbrecher befürchteter neuer Interventionen der Entente geworden. In Moskau fühlte man sich in dieser Auffassung bestärkt, als die „ersten Fühler“, die Radek im Hinblick auf die Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee ausstreckte, „bei Seeckt auf fruchtbaren Boden“ fielen.209 Zwar bleibt ungeklärt, ob er einen Geheimvorschlag des sowjetrussischen Generalstabs nach Berlin überbrachte210, aber die Ergebnisse des Kontakts sind gründlich erforscht.211 Die Ausbildung deutscher Flugzeugführer und Panzerbesatzungen in Sowjetrussland, die Errichtung des Junkers-Flugzeugwerks bei Moskau und einer Giftgasfabrik an der Volga. Radeks Zufriedenheit und Genugtuung über die militärische Zusammenarbeit ging so weit, dass er später einem deutschen Besucher großspurig erklärte: „Wir haben die Reichswehr in der Tasche.“212 „Radeks odysseischer Geist“ rang mit allen politischen Strömungen der Welt.213 In Berlin erwog er sogar einmal „die Möglichkeiten des Zusammengehens der heterogensten Elemente der ganzen Welt zum Nutzen von Deutschland und Russland“.214 Intellektuelle Unabhängigkeit und analytische Qualität bewies er nach Mussolinis 203 Brief Wiedenfelds an seine Frau vom 27. Juni 1922. Wiedenfeld, S. 170. 204 Rantzau an Maltzan, 9. Dezember 1922. Helbig, S. 132. 205 Rantzau in erster inoffizieller Unterredung mit Čičerin in Berlin am 23. Juni 1922. Helbig, S. 109. 206 Aufzeichnung Rantzau vom 18. Juli 1922. Helbig, S. 113. 207 Möller, S. 33. 208 Kochan, Lionel, Russland und die Weimarer Republik, Düsseldorf 1955, S. 70. Möller, S. 33. 209 von Blücher, S. 153. 210 Fischer, R., Stalin, S. 642. 211 Zuletzt: Zeidler, Manfred, Reichswehr und Rote Armee. Wege und Stationen einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit = Beiträge zur Militärgeschichte, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Band 36, München 1993. 212 Buber-Neumann, Kriegsschauplätze der Weltrevolution, S. 95. 213 Scheffer, Augenzeuge im Staate Lenins, S. 67. 214 Rabenau, S. 319; siehe auch oben, Anm. 39 (Besprechung Radeks mit Hasse).

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Machtergreifung mit seiner ziemlich realistischen Beurteilung des Faschismus. Seine Einschätzung verlor in der Komintern jedoch an Glaubwürdigkeit als ein Jahr später in München der Hitlerputsch kläglich scheiterte. Damit schien sich Zinov’evs bagatellisierende Interpretation des Phänomens zu bestätigen. Die von Radek formulierten Ansätze zu einer Soziologie des Faschismus waren bald vergessen, nachdem er sich wahrscheinlich aus Opportunismus von seiner Analyse löste. Er übernahm Zinov’evs simplifizierende Agententheorie, die den Faschismus als reines Instrument der Bourgeoisie verstand.215 Völlig kompromisslos zeigte sich Radek, wenn es um die Frage der Sicherung der bolschewistischen Herrschaft ging. Er machte sich zum Anwalt des als „Regime der revolutionären Gerichtsbarkeit“ legalisierten bolschewistischen Terrors und verfolgte die Sozialrevolutionäre als politische Gegner geradezu mit Pogromhetze. Den Prozess gegen ihre Führer begleitete er mit Forderungen nach der physischen Auslöschung der Angeklagten. Das sorgfältig inszenierte Verfahren wurde zum Vorbild der späteren Schauprozesse. Man bediente sich der Hilfe von Agenten, die „ihre Verbrechen“ bekannten und gegen die Mitangeklagten aussagen mussten. Gleichzeitig wurde ein Anklageverfahren erprobt, das wie die ineinander verschachtelten russischen Holzpuppen aufgebaut war. Das wesentliche Ergebnis jedoch, war die Kriminalisierung jeglicher Opposition. Ausgehend von dem exakten Tatbestand, dass die Sozialrevolutionäre bereits 1918 Gegner der bolschewistischen Alleinherrschaft waren, wurde der Grundsatz aufgestellt, jede Form von Opposition sei letztlich einer Zusammenarbeit mit der internationalen Bourgeoisie gleichzusetzen.216 Der Eifer Radeks den politischen Gegner zu vernichten, wurde vermutlich noch durch den Wunsch angestachelt, seinen „Fehler“ zu kompensieren, den in Lenins Augen das in Berlin abgegebene Versprechen die Angeklagten zu verschonen, dargestellt hatte. Das Menetekel des Prozesses für sein eigenes Schicksal wird ihm dabei kaum bewusst geworden sein. 1922 verfügte Radek noch über gute Kontakte zu dem von Dzeržinskij geleiteten sowjetischen Terrorapparat, der von Čeka in GPU217 umbenannt worden war. Zusammen mit seinem einstigen Mentor Feliks Edmundovič saß er im Zentralkomitee der RKP(b), gemeinsam hatten sie am Polenfeldzug teilgenommen und Radek setzte sich bei ihm gelegentlich für von der Geheimpolizei festgenommene Personen ein. So etwa im Falle des als „Konterrevolutionär“ verhafteten Auslandskorrespondenten George Popoff.218 Im Untersuchungsapparat der GPU schmollte 215 Schieder, a.a.O., Sp. 456f. 216 Carrère d’Encausse, Hélène, Le Malheur russe, Paris 1988, S. 400. Courtois, S. 144. 217 Die Čeka wurde am 6. Februar 1922 umbenannt in: Gosudarstvennoe Političeskoe Upravlenie (GPU) = Staatliche Politische Verwaltung. Der Name wurde später in O[b’edinennoe] GPU = Vereinte Staatliche Politische Verwaltung geändert. 218 Popoff, George; gebürtiger Russe; 1922 in Moskau als Auslandskorrespondent für europäische und amerikanische Zeitungen tätig; während des IV. Kominternkongresses im November 1922 aufgrund einer Denunziation von der GPU für sechs Tage inhaftiert.

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man daraufhin zwar verärgert über den Genossen Radek, der zu jenen gehöre, „die ihre Nase ungefragt in die Angelegenheiten der Čeka stecken“, aber Radek focht das nicht an. Er bezeichnete Popoffs Verhaftung als „eine sehr große Dummheit“ seitens der GPU.219 Dzeržinskij hat sich noch drastischer über seine Behörde geäußert. Radek und Brandler gegenüber klagte er im Gespräch: „Nur Heilige oder Schurken können in der GPU dienen, aber jetzt laufen mir die Heiligen weg und lassen mich mit den Schurken allein zurück.“ Als Dzeržinskij 1926 starb, gehörte Radek längst der innerparteilichen Opposition gegen Stalin an. Im Kreise politischer Freunde kommentierte er erleichtert, Feliks Edmundovič sei gerade noch „rechtzeitig gestorben“, bevor er auch unser Blut vergießen konnte.220 Freilich hielt ihn das nicht davon ab, einen ehrenden Nachruf221 auf den Organisator des Roten Terrors zu verfassen. In Deutschland wurde Radek keineswegs als Ideologe und Propagandist des Terrors wahrgenommen. Die Vorbehalte gegen ihn speisten sich vielmehr aus seinem Ruf als gefährlicher Revolutionär, den ihm nachgesagten charakterlichen Defiziten und latentem Antisemitismus. „Radek […] bildet in Berlin eine große Gefahr“, erklärte der für die Innere Sicherheit zuständige Reichskommissar Kuenzer222, als der so Verdächtigte im Mai 1922 innerhalb der KPD für Rapallo und Einheitsfront warb. Von Maltzan verbreitete, Radek habe „eine beinahe körperliche Abneigung mit jemandem zu verhandeln, der geradlinig und sauber ist“.223 Der Brite d’Abernon hielt fest: „Jeder der mit Radek in Berührung kommt, betont, daß er außerordentlich klug, wenn auch furchtbar verlogen ist.“224 Karl Haushofer erschien er als „der durchtrieben Ostjude, wie man ihn wohl auf Pfeifenköpfe malt“, ein „grundgescheiter, wenn auch gefährlicher Kopf“.225 Walther Rathenau hat Radek bekanntlich mit dem Etikett vom „schmierigen Kerl“ und „gemeinen Judenjungen“ versehen. Ironie des Schicksals, dass Rathenaus rechtsradikale Mörder dann phantasierten, er habe als „Anhänger des schleichenden Bolschewismus“ seine „Schwester an den Bolschewisten Radek verheiratet“.226

219 Popoff, S.114 und S. 166. 220 Serge, Beruf: Revolutionär, S. 249. 221 Radek, Dzeržinskij (geschrieben im Juli 1926), in: Radek, Portrety i pamflety, S. 40–48. 222 Kuenzer, Hermann (1872–?); badischer Gendarmerie-Oberst a.D.; 1920–1924 Reichskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung. Erklärung Kuenzers in einer Besprechung der Ländervertreter der Staatskommissare und Nachrichtenstellen in Stuttgart am 8. Mai 1922. Po[lizei]. Dir[ektion]. München VI/N. 307/22, in: Bay[erisches] Haupt-St[aats]. Arch[iv]. M.Inn. 71/536. Schüddekopf, Linke Leute von rechts, S. 416, Anm. 1. 223 d’Abernon, Band II (Tagebucheintrag vom 21. Mai 1923), S. 253. 224 Ders., Band I (Tagebucheintrag vom 20. Januar 1922), S. 279. 225 Jacobsen, Hans Adolf, Karl Haushofer, Leben und Werk, Band 1, Boppard am Rhein 1979, S. 222. Schlögel, S. 255. 226 Graf Keßler, Harry, Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk, Berlin-Grunewald 1928, S. 362. Lange, S. 418. Die Schwester Rathenaus war die Frau eines deutschen Bankiers.

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Demgegenüber gewannen Besucher in Moskau ein differenzierteres Bild. Der Journalist Louis Fischer227 sah in Radek den besten Publizisten Russlands, ja vielleicht der Welt.228 „Seine Dreizimmerwohnung“ im Kreml’ „quoll über von Büchern und Manuskripten; sie wirkte mehr wie eine abnorm unordentliche Bibliothek als wie eine menschliche Behausung.“229 Die Räume waren „mannshoch“ mit Zeitungen und Zeitschriften aus aller Welt angefüllt, die Radek in Gegenwart seiner Besucher – kommentierend, scherzend und fluchend – „blitzschnell“ durchsah. „Zu Beginn des Besuches kämpfte er sichtlich mit dem Wunsch, weiterzulesen und zugleich zu reden, aber wenn dann alsbald der Wunsch zu sprechen siegte, war er nicht mehr aufzuhalten“ und riss die Unterhaltung an sich.230 Damals war der Kreml’ nicht so hermetisch abgeriegelt, wie es in späteren Jahren der Fall war und Ausländer konnten mit Radek noch telefonisch einen häuslichen Gesprächstermin vereinbaren. Louis Fischer erzählt: „Wenn ich anrief war manchmal seine Frau am Apparat. Gelegentlich war er selbst am Telefon. Wenn ich sagte: ,Genosse Radek […]‘, antwortete er: ,Genosse Radek ist nicht da.‘ Daraufhin nannte ich meinen Namen und bekam meist einen Termin. Man traf ihn dann mit blutunterlaufenen Augen, ungekämmt und offenbar auch ungewaschen, flach 231 auf dem Bett liegend, von kapitalistischen Zeitungen fast zugedeckt.“

In der Moskauer Öffentlichkeit trat Radek kaum mehr in Erscheinung. Bei der Revolutionsparade auf dem Roten Platz sah man ihn allerdings auf der Tribüne „mit der kleinen Tochter, die die Lebhaftigkeit des väterlichen Geistes mit ihrer ganzen Person geerbt hat“.232 Dem Radek-Klischee entsprach es, wie Moskau-Korrespondenten sein Äußeres schilderten. Für Louis Fischer war er „[…] ein witziger Kobold, ein häßlicher Puck mit dichten, lockigen, unordentlichen, schwarzen Haaren, die immer ungekämmt aussahen, lachenden kurzsichtigen Augen hinter sehr dicken Brillengläsern, hervorstehenden feuchten Lippen, Kotelletten, die unter 233 dem Kinn zusammenwuchsen, und einer bleichen, ungesunden Haut.“

Ein ähnliches Bild zeichnete George Popoff: 227 Fischer, Louis (1896–1970); US-amerikanischer Europa- und Russlandkorrespondent mitausgesprochen prosowjetischer Einstellung und Autor einer Lenin Biographie. 228 Fischer, Louis, S. 382. 229 Meyer-Leviné, S. 372. 230 Fischer, Louis, a.a.O. 231 Ebenda. 232 Scheffer, „Berliner Tagblatt“ vom 19. November 1922, in: ders., Augenzeuge im Staate Lenins, S. 126 f. 233 Fischer, Louis, a.a.O.

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„Radek hat ein sehr ausdrucksvolles Gesicht. Kluge, durchdringende Augen blicken einen durch schwarzgerahmte Brillengläser an. Sein Haar ist stets zerzaust und ungescheitelt. Seine Kleidung ist völlig bolschewistisch: Ein kurzer Schafpelz, graue Militärhosen, Schaftstiefel, ein wollenes Halstuch und auf dem Kopf eine hellbraune Filzmütze mit 234 breitem Schirm, die in Russland jeder kennt.“

Er konnte in Moskau aber auch anders auftreten. Auf einem „großen Empfang“ der deutschen Vertretung erschien Radek einmal so „elegant angezogen, dass ich ihn erst gar nicht erkannt habe“, berichtete Wiedenfeld235. Man vergaß jedoch die äußere Erscheinung, wenn Radek redete. Er schlug alle in seinen Bann: „Keiner versteht es so geschickt wie Radek, die mehr als seltsamen Phänomene des sowjetischen Lebens und der bolschewistischen Politik als völlig unkompliziert und normal darzustellen. Er spricht amüsant, geistreich und überzeugend – wie ein Schauspieler, der das Publikum vergessen läßt, das es sich im Theater befindet. Es fällt oftmals schwer das von den Bolschewiken aufgeführte Stück für die Wirklichkeit zu nehmen, aber Karl Radek, der große Conférencier der sowjetischen Bühne, versteht es vollendet, diese Illusion 236 zu nähren.“

Dem steht das eher negative Urteil von Ernst Troeltsch gegenüber, der nach einem Gespräch mit Radek festhielt: „Er sprach völlig offen und mit den Allüren eines Staatsmanns, der sich solche Offenheit leisten und neue etwas grobe Manieren in die Politik einführen kann […]. Die Persönlichkeit des Herrn Radek zum mindesten wirkt nicht sehr überzeugend.“237 Die wohl einfühlsamste Charakteristik stammte von Leo Matthias, für den Radek der vielleicht interessanteste Mensch der Gegenwart“238 war. Seinen Gesprächseindruck mit Radek gab er wie folgt wieder: „Er ist ein Diplomat. Er schlägt gleich zehn Fliegen mit einer Klappe. Er errät meine Gedanken, bringt das Gespräch gleich auf das Wesentliche, verkürzt es dadurch, sagt mir, daß ich recht habe, gibt also auch seinen eigenen Standpunkt, wickelt alles in einen Grundsatz und macht schließlich noch mir und sich selbst ein Kompliment. Das ist 239 Radek.“

Matthias schilderte Radek als klein. Er habe graue Augen und trage einen Bart, „der Lippe und Kinn freilassend das Gesicht braun und etwas ruppig umrahmt. Er sieht 234 Popoff, S. 166. 235 Brief Wiedenfelds an seine Frau vom 27. Juni 1922. Wiedenfeld, S. 170. 236 Popoff, S. 166. 237 Troeltsch, Ernst: Spektator Briefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918/22, Tübingen 1924, S. 268 f. Möller, S. 15. 238 Matthias, Leo, S. 143. 239 Ebenda, S. 145.

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also gleichzeitig etwas geheimnisvoll aus, aber […] trotzdem offen. – Diesem äußeren Bilde gleicht sein Wesen. Denn er kann seine Empfindungen verstecken – aber wenn er es nicht tut, ist er empfindungsehrlich. Er haßt deshalb die feierliche Geste, denn er ist wie jeder moderne Mensch respektlos.“ Er verfüge über „sämtliche Eigenschaften der modernen Seele“. Alle eingleisigen Naturen würden ihn deshalb ablehnen, denn sie fänden zu seiner Persönlichkeit kein Verhältnis: „Damit tun sie ihm unrecht, denn Radek ist nicht differenziert in dem Sinne, wie die meisten Intellektuellen differenziert sind, nämlich auf Kosten ihres Willens, sondern sein Wille ist ungebrochen und beherrscht die Mannigfaltigkeit seiner Seele souverän. Er benützt diese Mannigfaltigkeit nicht wie der Ästhet, um auf diese Weise tausendfach zu genießen, was der einfache Mensch nur einfach genießt, sondern benutzt sie wie die Spinne 240 ihr Netz. Radek ist also der geborene Diplomat.“

Isaac Deutscher schrieb, Radek „fühlte sich genauso in seinem Element, ob er nun eine diplomatische Intrige spann oder wie ein Maulwurf der Revolution unterirdische Gräben anlegte.“241 In seinem Element fühlt sich aber gemeinhin nur jemand, der es zu beherrschen versteht.242 Kein Zweifel, dass Radek es verstand sein jeweiliges Element zu meistern, auch wenn er zuweilen „etwas von einem Hasardspieler“ an sich hatte.243

240 Ebenda, S. 144 241 Deutscher, Trotzki II, S. 203. 242 Möller, S. 33. 243 Deutscher, a.a.O.

15.  Deutscher Oktober (1923) Vom internationalen Gewerkschaftskongress in Den Haag kommend, hielt sich Radek seit dem 15. Dezember 1922 legal in Deutschland auf, wo er mit großen Unterbrechungen bis Ende 1923 insgesamt mehr als drei Monate zubrachte. Sein erster Aufenthalt im Zusammenhang mit dem Leipziger Parteitag der KPD und dem Ruhrkampf dauerte bis Anfang Februar, wobei er zwischenzeitlich noch eine Reise nach Norwegen antrat. Mitte Mai kam er für vierzehn Tage nach Deutschland, um als Komintern-Beobachter am Hamburger Fusions-Kongress der II. und der „Zweieinhalbten“ Internationale teilzunehmen. Im Oktober begab er sich illegal nach Dresden und dann nach Berlin, um einen in Moskau geplanten kommunistischen Aufstand zu leiten. Als dieser „Deutsche Oktober“, der die KPD an die Macht bringen sollte, scheiterte, kehrte er Anfang Dezember nach Moskau zurück. Es war seine letzte große Mission in Deutschland, dem Land, dem seine Hassliebe galt. Die politischen Aktivitäten des Jahres 1923 fasste er in seiner Autobiographie summarisch zusammen: „Anfang 1923 reiste ich nach Kristiania [seit 1924: Oslo], um die Spaltung der norwegischen Kommunistischen Partei zu verhindern. Nach der Rückkehr nach Deutschland, begab ich mich nach Hamburg als zeitweiliger Beobachter des Kongresses der zwei Internationalen. Ich beteiligte mich an der Organisation der Kampagne aus Anlaß der Wegnahme des Ruhrgebiets und am Leipziger Parteitag der deutschen Genossen. Nach der Rückkehr nach Russland, wurde ich von der Komintern im Oktober zur Mitarbeit bei der Führung eines geplanten Aufstandes [in Deutschland] abkommandiert. Ich traf erst am 22. Oktober ein, nachdem bereits der Rückzug begonnen hatte. Ich billigte diesen Beschluß des [deutschen] ZK.“1

Radek war ursprünglich nach Deutschland gekommen, um in der KPD auf dem für Anfang 1923 anberaumten Parteitag der deutschen Partei die von ihm kreierte Kominterntaktik der Einheitsfront und Arbeiterregierung gegen die linke Opposition unter Ruth Fischer und Arkadij Maslov durchzusetzen. Bereits zu Jahresbeginn unterbrach er jedoch seine diesbezüglichen Aktivitäten für einen Abstecher nach Norwegen vom 4. bis 11. Januar.2 Die einwöchige Reise hatte den Charakter eines Feuerwehreinsatzes, der den drohenden Austritt der marxistischen Norwegischen Arbeiterpartei (Det Norske Arbeiderparti/DNA) – nicht der noch nicht existenten Kommunistischen Partei – aus der Komintern verhindern sollte. Die DNA hatte sich als eine der ersten großen Arbeiterparteien Westeuropas der Kommunistischen Internationale angeschlossen, ein Schritt der unter ihren Führern jedoch umstritten blieb. Sie vertraten mehrheitlich die Auffassung, dass sich die bolschewistischen 1 Radek, Avtobiografija, Sp. 169. 2 Goldbach, S. 120, Anm. 179.

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Methoden nicht auf Norwegen anwenden ließen und verlangten, den Anschluss an Moskau rückgängig zu machen. Der darüber in der norwegischen Partei eskalierende Streit war offensichtlich der Auslöser für Radeks Blitzbesuch in Kristiania. Seine Bemühungen hatten allerdings nicht den gewünschten Erfolg. Auf einem außerordentlichen Parteitag im November 1923 lehnte die Mehrheit der DNA die Einmischung der Komintern in ihre Angelegenheiten ab. Der Anlass für die Kominternanhänger, sich nun abzuspalten und als Kommunistische Partei Norwegens (Norges Kommunistiske Parti/NKP) zu konstituieren.3 Als Radek aus Norwegen wieder nach Deutschland zurückkehrte, war dort eine dramatische Zuspitzung der Situation eingetreten. Wegen ausbleibender deutscher Reparationsleistungen hatten am 11. Januar französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet als Faustpfand genommen und besetzt. Zwei Tage später rief die Regierung Cuno4 zum passiven Widerstand gegen diese „Gewalttat“ auf. Schon Monate zuvor hatte Sowjetrussland zu erkennen gegeben, im Falle einer französischen Ruhrbesetzung seinen Rapallopartner zu unterstützen.5 Hilger schreibt, „Moskau“ habe sich „in den letzten Monaten von 1922 eifrig bemüht […], uns seines Beistandes im Falle einer Ruhrbesetzung zu versichern.“ Trockij hätte sogar am 22. Dezember 1922 Botschafter Graf Rantzau aufgesucht und ein Eingreifen Russlands zugesagt, falls Polen die Situation zur Annexion von Teilen Oberschlesiens auszunutzen versuchte.6 Revolutionäre und staatliche Erfordernisse rückten im Kreml’ bei der Beurteilung der Ruhrkrise vier Aspekte in den Vordergrund: Würde die französisch-belgische Militäraktion eine deutsche Revolution beschleunigen? Begünstigte die deutsche Manövrierunfähigkeit gegenüber Frankreich einen Umsturz? Setzte die Situation im Innern nationalistische Kräfte frei, die aus Hass auf die Entente auch einer Arbeiterregierung Hilfe leisten würden? Und unter dem Blickwinkel der Staatsraison: Gab es die Chance, Deutschland durch die Revolution zu einem zuverlässigen, gleichstrukturierten Bundesgenossen zu machen? Würde eine kommunistische oder eine bürgerliche Reichsregierung dem Sowjetstaat mehr wirtschaftliche Vorteile und größere Sicherheit bringen können?7 Sowjetführung und Komintern beließen es nicht bei Protestnoten gegen die Ruhrbesetzung. Für Radek schien mit der Ruhraktion die Stunde gekommen zu sein, 3 Kernig, Die Kommunistischen Parteien der Welt, Sp. 374. 4 Cuno, Wilhelm (1876–1933); Generaldirektor der Hamburg-Amerika-Linie; parteilos; als Nachfolger Wirths von November 1922 – August 1923 deutscher Reichskanzler. 5 Möglicherweise wurde sogar ein sofortiges militärisches Eingreifen erwogen. Hilger kolportiert – ohne den Wahrheitsgehalt beurteilen zu können – einen Bericht der russischen Zeitung in Reval, „Žizn’ [Leben]“ vom 1. September 1922, nach dem Radek und Karachan, von Trockij unterstützt, im Rat der Volkskommissare angeblich vorgeschlagen hätten, Russland solle sich bereithalten, bei der Besetzung des Ruhrgebiets durch Frankreich dem Reich sogleich mit der Roten Armee zu Hilfe zu kommen, da man es sich nicht leisten könne, auf die kommunistische Revolution in Deutschland zu warten. Hilger, S. 121. 6 Hilger, S. 121f. 7 Grieser, S. 33.

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den Versuch zu unternehmen, die Einheitsfront nach rechts auszubauen und mit Reichswehr und Nationalisten zusammenzugehen. Seit seiner Berliner Schutzhaft hatte er in diese Richtung sondiert und zuletzt 1922 in kleinem Kreise nationalbolschewistische Vorstellungen ins Gespräch gebracht. Nun wurde er der Hauptakteur eines der Reichsregierung von Moskau angebotenen Burgfriedens. Er pfiff die KPDPresse zurück, die mit der Losung „An der Ruhr gegen Poincaré8, an der Spree gegen Cuno“ den Klassenkampf schüren wollte. Er war „strikt gegen jede Ausnutzung der Krise zu revolutionären Zwecken“9 und soll die dafür verantwortlichen Redakteure der „Roten Fahne“ persönlich „gefeuert“ haben.10 Im Gespräch mit Maltzan versprach er feierlich, „daß die Russische Regierung ihren ganzen Einfluß aufbieten würde, um deutsche Kommunisten-Bestrebungen, die auf eine Schwächung des Abwehrkampfes abzielten und eine Unterstützung der französischen Gewaltpolitik zum Ziel hätten, nach Kräften zu verhindern.“11 Als die linke KPD-Opposition um Ruth Fischer auf einem Essener Bezirksparteitag die Errichtung einer Arbeiterrepublik und die Aufstellung einer Roten Armee propagierte, veranlasste er ein Telegramm der Moskauer Kominternführung, in dem mit der Desavouierung eines eventuellen Aufstandes und Boykottanweisungen an die Genossen im Reich gedroht wurde.12 Am 17. Januar 1923 offerierte der Berliner Sowjetbotschafter Krestinskij dem Auswärtigen Amt, durch ein spezielles Radek-Referat auf dem bevorstehenden KPDParteitag in Leipzig die Kommunisten zu einer Einheitsfront mit der Regierung zu bewegen. Maltzan leitete den Vorschlag befürwortend an den Innenminister weiter, der ihn – misstrauisch gegenüber den Absichten der Bol’ševiki – als „inopportun“ zurückwies.13 Abgesehen von einem „Manifest an das Proletariat“ wegen des Ruhrkampfes, stand daraufhin das brennendste aktuelle Problem Deutschlands nicht auf der Tagesordnung des VIII. Parteitags der KPD (28. Januar–1. Februar 1923) in Leipzig. Margarete Buber-Neumann meint dazu, Radek „hatte vor allen Dingen ein Interesse; es mußte vermieden werden, daß auf dem Parteitag irgend etwas von den Plänen Moskaus in bezug auf die kommende Zusammenarbeit mit den Rechten bekannt wurde. So verhinderte er jede Diskussion über […] die Besetzung des Ruhrgebiets, weil dabei von der Parteiführung oder den mehr als 200 anwesenden Delegierten vielleicht eine eindeutige Stellungnahme der Komintern und der Zentrale zu den Ereignissen an der Ruhr verlangt worden wäre.“14 8 Poincaré, Raymond (1860–1934); bewirkte 1923 als französischer Ministerpräsident die Besetzung des Ruhrgebiets. 9 Goldbach, S. 119. 10 „Die Rote Fahne, Nr. 18 vom 23. Januar 1923. Unkorrekte Wiedergabe dieser Begebenheit bei Ruth, Fischer (Stalin, S. 321). Vgl. Goldbach, S. 118f. 11 Aufzeichnung Maltzans über den Besuch Radeks am 26. Mai 1923. Goldbach, S. 145. 12 Fischer, R., Stalin, S. 310ff. 13 Brief Maltzan an Brockdorff-Rantzau vom 9. Februar 1923. Goldbach, S. 118. 14 Buber-Neumann, S. 102.

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So wurde in Leipzig lediglich über die Taktik der Einheitsfront und die Frage der Arbeiterregierung diskutiert. Zur Entscheidung standen die von Radek und der Zentrale ausgearbeiteten Leitsätze zu diesen Themen und der Gegenentwurf der linken Opposition. Letzterer sah die Enteignung der besitzenden Klassen, die Bewaffnung der Arbeiter und die Bildung einer ausschließlich auf die Bajonette des bewaffneten Proletariats gestützten Arbeiterregierung als ersten Schritt zur kommunistischen Machtübernahme vor. Im Gegensatz zu diesem auf militante Aktion drängenden Konzept, betonten die Thesen Radeks und der Zentrale die defensiven Aspekte der Parteitaktik und die Notwendigkeit, den Sozialdemokraten durch Zermürbungstaktik entgegenzutreten. Sie sahen vor, dass die Machtübernahme stufenweise erfolgen und die Position der KPD auf der politischen Bühne durch ständige Kämpfe verbessert werden sollte. Mit großer Mehrheit entschieden sich die Delegierten für die Fortsetzung der Einheitsfrontpolitik. Zum Eklat kam es, als die Parteilinke erklärte, die Neuwahl der Parteiführung zu boykottieren, da die von der Zentrale aufgestellte Kandidatenliste die Vertreter der linken Opposition unberücksichtigt ließ. Radek, dem Ruth Fischer die Verantwortung für die einseitige Auswahl zuschiebt15, forderte daraufhin eine geheime Nachtsitzung, die wahrscheinlich vom 31. Januar auf den 1. Februar stattfand. Er trat auf dieser einzigen Sitzung des Parteitags an der er teilnahm unter dem Decknamen „Arvid“16 auf und bot seinen ganzen Einfluss auf, um eine Parteispaltung zu verhindern und zwischen Zentrale und Opposition zu vermitteln. Auf sein Betreiben hin wurden drei Angehörige der Opposition in die neugewählte KPD-Zentrale aufgenommen. In der Parteiführung wurde Ernst Meyer von dem Radek ergebenen Gespann Heinrich Brandler und August Thalheimer abgelöst.17 Auch Radeks Gefolgsleute, die ehemaligen Spartakisten Pieck, Zetkin, Eberlein, Walcher und Heckert – zu denen noch der einstige Bremer Linksradikale Paul Frölich hinzutrat – verblieben in der Zentrale. Als Radek unmittelbar nach dem Parteitag nach Moskau zurückkehrte, hatte er dafür gesorgt, dass die Schlüsselpositionen in der KPD weiter mit seinen Parteigängern besetzt blieben. „Parteiführung, Opposition und somit auch die Delegierten“ waren „gehorsam den Regieanweisungen Karl Radeks, des Handlangers Moskaus“, gefolgt.18 Die Bolschewisierung der Partei konnte ihren Fortgang nehmen. Auch angesichts der Verschärfung des Ruhrkampfes und dem unveränderten Bestreben der Fischer-Maslov-Opposition den Weg zur Revolution unter Ausnutzung des Konflikts abzukürzen, sah die Kominternführung im Verlauf des Frühjahrs 1923 keinen Anlass ihre Einschätzung der Lage in Deutschland zu ändern. Zwar verurteilte Radek die Haltung der deutschen Bourgeoisie und mokierte sich über Hoffnungen im Reich auf Hilfe durch die Rote Armee: „Die Rote Armee habe keine

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Fischer, R., Stalin, S. 229. Schüddekopf, Linke Leute von rechts, S. 416. Angress, S. 308ff. Buber-Neumann, a.a.O.

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Veranlassung bürgerliche Regierungen zu retten.“19 Der Träger des Widerstandes an der Ruhr sei die Arbeiterschaft: Nur das deutsche Proletariat sei imstande, Deutschlands nationale Unabhängigkeit zu verteidigen.20 Aber er sah keine wirklich revolutionäre Situation in Deutschland gegeben, in dem die durch die Ruhrbesetzung ausgelöste Beschleunigung der Inflation für zusätzlichen sozialen Sprengstoff sorgte. „Die internationale Arbeiterklasse nähert sich dem niedrigsten Punkt, dem Wellental der Revolution“, urteilte er nach vier Monaten Ruhrkampf.21 Die einmal festgelegte Taktik der Einheitsfront wurde von der KPD-Führung in Deutschland fortgesetzt. Um Handlungsfähigkeit zu erlangen, galt es für die Kommunisten zudem, den unverändert starken Einfluss der Sozialdemokraten und der Gewerkschaften in der Arbeiterschaft zu zerstören. Im März hatte Radek dazu folgendes geschrieben: „Auch heute noch ist die Sozialdemokratische Partei die stärkste Partei des deutschen Proletariats. Das mag enttäuschend und beunruhigend klingen, sei aber dennoch eine Tatsache, zu der man auf diese oder jene Weise Stellung nehmen müsse. Man könnte Levis Weg gehen […] oder man könnte gegen die Verräter mit Waffengewalt vorgehen und besiegt werden, wie es der Kommunistischen Partei Deutschlands im März 1921 ergangen war. Man könnte aber auch tatsächlich gegen diesen schändlichen Tatbestand ankämpfen, indem man das Proletariat erzieht und die Arbeitermassen mobilisiert. Erst müsse mühevolle Vorarbeit geleistet werden, ehe den Truppen das Kommando gegeben wird: ,Vorwärts zum Angriff!‘ Ist dieser große Augenblick aber einmal da, so kann die sozialdemokratische Flagge heruntergeholt und zu Fetzen gerissen werden.“22

Am 9. März 1923 traf Lenin ein dritter Schlaganfall. Halbseitig gelähmt und der Sprache beraubt, schied der vom Tode Gezeichnete aus dem politischen Leben aus. Alle Entscheidungen in Moskau blieben in der Schwebe, während jedermann auf das Unvermeidliche wartete. Hinter den Kulissen begannen die Führer der Partei um seine Nachfolge zu intrigieren und zu manövrieren. Als Parteigänger Trockijs leistete Radek diesem publizistische Schützenhilfe. „Lev Trockij, der Organisator des Sieges“23 betitelte er am 14. März einen lobhudelnden Artikel, der dessen Verdienste im Bürgerkrieg rühmte. Zur gleichen Zeit wurde die Stadt Gačina bei Petrograd,

19 Bericht „Kölnische Zeitung vom 10. März 1923 über die Rede Radeks am 23. Februar 1923 zu Ehren der „Ritter des Ordens der Roten Fahne“ im Bol’šoj Theater. Grieser, S. 41, Anm. 44. 20 Doklad to. Radeka o meždunarodnom položenii (Rede des Genossen Radek zur internationale Lage) im Moskauer Gewerkschaftshaus, „Izvestija“ Nr. 36 und „Pravda“ Nr. 36 vom 17. Februar 1923. Grieser, S. 42 f. 21 Radek, Ruhr und Hamburg, in: „Die Kommunistische Internationale“ Nr. 26, 1923, S. 1–5. Goldbach, S. 120. 22 Radek, The crucible of Revolution, in: „Communist Review“, III, Nr. 11, März 1923, S.  533. Angress, S. 339. 23 Radek, Lev Trockij (14. März 1923), in: Portrety i pamflety, S. 29–34.

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wo Trockij 1919 Judeničs24 Armee geschlagen hatte, in Trock umbenannt. Ein erster Versuch des Personenkults um einen Sowjetführer.25 Auf dem XII. Parteitag der Kommunistischen Partei Russlands (17.–25. April 1923), der in Abwesenheit des todkranken Lenin in einer trüben und gespannten Atmosphäre stattfand, wurde Radek erneut ins Zentralkomitee der Partei gewählt. Im Umfeld des Kongresses kam es auf Einladung Zinov’evs in Moskau zu einer Konferenz mit Delegierten der KPD-Zentrale und der Fischer-Maslov-Linksopposition, um die andauernden deutschen Differenzen über die Einheitsfronttaktik zu schlichten. Trockij, Radek, Bucharin und Zinov’ev vertraten das EKKI. Trockij und Radek sahen in Zinov’ev zwar einen latenten politischen Gegner, wollten aber in Anbetracht des offenen Führungsproblems der Bol’ševiki keine ernsthafte Auseinandersetzung um die deutsche Frage riskieren. Radek identifizierte sich mit dem Standpunkt der Brandler-Thalheimer-Zentrale, der ja sein eigener war. Trockij war mit Zinov’ev uneins, der mit der linken Opposition sympathisierte. Um einen offenen Konflikt im eigenen Lager zu vermeiden, war den Sowjetführern jedoch an einem Kompromiss gelegen.26 Die Fischer-Maslov-Gruppe musste versprechen, die radikale Agitation auf ihre eigenen KPD-Bezirke zu beschränken. Sie wurde dafür mit vier Sitzen in der Zentrale entschädigt, wodurch neben anderen Ruth Fischer und Ernst Thälmann in die Führung der Partei aufgenommen wurden. Insgesamt war das Resultat des Treffens jedoch ein Erfolg für Radek, dessen Einheitsfronttaktik abermals als verbindliche politische Kominternlinie bestätigt worden war. Um die Ergebnisse der Schlichtungskonferenz in der deutschen Partei durchzusetzen und auch um den Hamburger Kongress der beiden sozialistischen Internationalen in Hamburg (21.–25. Mai 1923) zu beobachten27, reiste Radek am 7. Mai von Moskau über Riga zu seinem zweiten Deutschlandaufenthalt ab. Als er Mitte Mai in Berlin eintraf, hatten sich zusätzlich zur Ruhrkrise die Ereignisse in Europa überstürzt. Anfang Mai war der französische Marschall Foch28 in Warschau eingetroffen und widmete die meiste Zeit seines Staatsbesuches Truppenbesichtigungen.

24 Judenič, Nikolaj Nikolaevič (1862–1933); russischer General; Führer der weißen Truppen im Ostseeraum. 25 Klausen, S. 5. 26 Angress, S. 346. 27 Auf diesem Kongress erfolgte die Fusion der II. und der „Zweieinhalbten“ Internationale. Die neue Institution nannte sich „Sozialistische Arbeiter-Internationale“ und wählte Friedrich Adler zum Sekretär. Als beratende Versammlung der in ihr zusammengeschlossenen sozialistischen Parteien, von denen viele an der Regierungsverantwortung beteiligt waren, befand sie sich in einer Art Idealkonkurrenz mit dem Völkerbund einerseits, als dessen sozialistisches Pendant sie sich verstand, und andererseits mit der Kommunistischen Internationale, deren demokratisches Gegenstück sie bildete und zu der sie ein von gegenseitiger Animosität geprägtes Rivalitätsverhältnis hatte. Kernig, Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Band V, Sp. 1023f. 28 Foch, Ferdinand (1851–1929); Marschall von Frankreich; alliierter Oberbefehlshaber im 1. Weltkrieg.

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Am 8. Mai forderte der britische Außenminister Lord Curzon29 die Sowjets ultimativ auf, die schamlose Verletzung des englisch-russischen Handelsabkommens durch ihre englandfeindliche Agententätigkeit im Mittleren Osten sofort zu beenden; anderenfalls werde man die Handelsbeziehungen abbrechen. Zwei Tage später wurde der Sowjetdelegierte auf der Meerengenkonferenz in Lausanne, Vaclav Vorovskij, von einem Weißrussen ermordet. Das Schreckgespenst einer englisch-französischpolnischen Koalition gegen die Sowjetunion30 tauchte am Moskauer Horizont auf. „Die auf den Genossen Vorovskij abgegebenen Schüsse erhellen blitzartig die Lage“, schrieb Zinov’ev am 16. Mai in der „Pravda“: „Was die unversöhnlichsten Gruppen des internationalen Imperialismus jetzt planen, ist nichts weniger als ein Angriff auf die russische Revolution. Die Ereignisse an der Ruhr, das Curzon-Ultimatum, die Ermordung des Genossen Vorovskij, General Fochs triumphaler Besuch Polens [...] all das sind Glieder in der gleichen Kette.“31

Im Kreml’ schrillten die Alarmglocken und „es kam für die Sowjetregierung jetzt entscheidend darauf an, Deutschland als den einzigen Partner auf der internationalen Bühne lebens- und aktionsfähig zu erhalten.“32 Gleichzeitig versuchte Radek in dieser vermeintlichen Stunde der Gefahr durch eine große Propagandaaktion im Lande des Rapallopartners ein Klima der Solidarität mit Russland zu erzeugen.33 Der Leichnam des ermordeten Vorovskij, den man auf der Überführung zur Beisetzung in Moskau „zweckmäßigerweise durch Berlin leitete, eignete sich vorzüglich als Revolutionsdrama.“ Unter der Überschrift „Wazlaw Worowskis letzte Fahrt“ verfasste Radek, der den Erschossenen seit der gemeinsamen Tätigkeit im bolschewistischen Auslandsbüro in Stockholm (1917) kannte, einen Nachruf, der schwarzumrandet auf der Titelseite der „Roten Fahne“ am 16. März 1923 erschien. Das „wohl [...] schlimmste Beispiel rührseliger Prosa, das er jemals verfaßt hatte“. Er stellte Vorovskij als „Musterbeispiel aller nur erdenklichen revolutionären Tugenden“ hin. Doch es war in erster Linie nicht der menschliche Aspekt, der Radek an dem Toten interessierte, sondern dessen symbolischer Propagandanutzen: „Wir werden Worowskis Leichnam nach Rußland tragen, und wir werden ihn über Rußland tragen, und wir werden die Massen der Arbeiter und die Massen der Bauern fragen: 29 Curzon, George, Lord (1859–1925); führender britischer Konservativer; 1919–1924 Außenminister. 30 Am 30. Dezember 1922 war der Zusammenschluss der russischen, ukrainischen, transkaukasischen und weißrussischen, Sowjetrepubliken zur „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR)“ erfolgt. 31 Eudin, Xenia Joukoff/Fisher, Harold H., Soviet Russia and the West 1920–1927. A Documentary Survey, Stanford 1957, S. 223. Angress, S. 349. 32 Krummacher/Lange, S. 142. 33 Soweit nicht anders vermerkt, folgt die Darstellung der Vorovskij-Propagandaaktion Angress, S. 351f.

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wollt ihr euch als Parias behandeln lassen? Und wir werden das Proletariat der Welt fragen: Wollt ihr Arbeiter der Welt zulassen, daß die Vertreter des ersten proletarischen Staates Freiwild für jede kapitalistische Kanaille sind? Wir sind um die Antwort nicht bang […].“34

An demselben Abend traf der Eisenbahnwagen mit der Leiche des Ermordeten in Berlin ein. Anlass für eine große kommunistische und prosowjetische Kundgebung. Nebel lag über der Stadt und „eine dichtgedrängte Menge umgab das finstere Stationsgebäude. Ein blumengeschmückter, mit Fahnen bespickter Lastwagen diente Radek als Tribüne. Fackeln umgaben ihn. Seine schrille Stimme verlor sich in der elektrisierten Nacht, aber man konnte seine schmale harte Gestalt deutlich sehen.“35 Er nahm auch an der Trauerfeier vor dem Berliner Schloss teil, wo er ebenfalls eine Ansprache an die Menge hielt und dann mit zwei anderen prominenten Trauergästen, dem stellvertretenden sowjetischen Regierungschef Rykov36 und Sowjetbotschafter Krestinskij hinter dem Sarg herschritt, gefolgt von den Spitzenfunktionären der KPD. Am darauffolgenden Tage veröffentlichte Radek in der „Roten Fahne“ einen weiteren Leitartikel, betitelt „Die proletarische Mauer um Sowjetrußland“.37 Darin dankte er den Berliner Arbeitern dafür, dass sie ihre Solidarität mit Russland an Vorovskijs Bahre unter Beweis gestellt hätten und forderte das Proletariat der Welt auf, gleichfalls zur Sowjetunion zu stehen. Damit hatte dann allerdings seine „einzigartige Fähigkeit, aus einer Leiche das größtmögliche politische Kapital zu schlagen“, ein Ende erreicht und er wandte sich wieder den spezifisch deutschen Problemen zu. Nach Abschluss der Trauerfeierlichkeiten für Vorovskij tagte am 16. und 17. Mai der Zentralausschuss der KPD. Er verabschiedete eine von Radek formulierte, mit der Kominternführung abgestimmte Resolution zur nationalen Frage, die – im Ergebnis der Moskauer Schlichtung – von der linksoppositionellen Fischer-ThälmannMaslov-Gruppe mitgetragen wurde. Der Beschluss sah die Ausweitung der Einheitsfront auf nationalgesinnte Kreise vor:

34 Radek, Wazlaw Worowskis letzte Fahrt, in: „Die Rote Fahne“ , Nr. 109 vom 16. Mai 1923. Angress, S. 351. Unter dem gleichen Titel als Sonderdruck erschienen, Berlin 1923. Angress merkt zu dem Artikel an: „Radeks Bemühungen zu dramatisieren spielten ihm dabei insofern einen Streich, als er Worowski scheinbar zweimal sterben ließ; zumindest ergibt sich dieser Eindruck aus den folgenden Zeilen: ,[…] sogar im Antlitz des Todes verließ ihn nicht dieser Humor, und er reizte das Geschick mit seinem blanken Witz. Als er nach dem Überstehen eines Typhus, von anderen Krankheiten geplagt auf dem Sterbebett lag und ich ihn besuchte, um ihn zum letzten Mal zu sehen […] hauchte er noch den Scherz aus:‘ ,Wollt ihr mich zum Vertreter Sowjetrußlands im Himmel ernennen ?‘“ Ebenda. 35 Serge, Beruf: Revolutionär, S. 190. 36 Rykov, Aleksej Ivanovič (1881–1938); Stellvertretender Vorsitzender des Rats der Volkskommissare und von 1924–1930 Vorsitzender des Rats der Volkskommissare. 37 „Die Rote Fahne“, Nr. 110 vom 17. Mai 1923. Angress, S. 352.

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„Aufgabe der Kommunistischen Partei ist es, den breiten kleinbürgerlichen und intellektuellen nationalistischen Massen die Augen darüber zu öffnen, daß nur die Arbeiterklasse nachdem sie gesiegt hat, imstande sein wird, den deutschen Boden, die Schätze der deutschen Kultur und die Zukunft der deutschen Nation zu verteidigen […] die deutsche Arbeiterklasse an die Macht gelangt, wird imstande sein, die Sympathien der Volksmassen in andern Ländern zu erobern, die es den imperialistischen Mächten erschweren werden, ihre Vernichtungspolitik gegen die deutsche Nation zu Ende zu führen.38„

Von dieser Resolution war es nur noch ein kleiner Schritt bis zu Radeks berühmter Schlageter-Rede, die er vier Wochen später in Moskau hielt. Eine sich ab Mitte Mai ausweitende, von Tumulten und Unruhen begleitete Streikwelle in den Städten des Ruhrgebiets, an der sich die dortigen Kommunisten aktiv beteiligten, brachte die öffentliche Meinung in Deutschland gegen die KPD und gegen die Sowjetunion auf. Gerüchte über subversive sowjetische Einflussnahme auf das Geschehen fanden unter Reichstagsabgeordneten und innerhalb der Regierung Widerhall. Besonders Radek wurde verdächtigt, die Aufruhrbewegung konspirativ zu steuern. Er hatte sich zwischenzeitlich in Hamburg aufgehalten, wo der Fusionskongress der beiden Sozialistischen Internationalen tagte39 und „mit den dortigen Vertretern der englischen Labour-Party wegen der [gespannten] russisch-englischen Beziehungen Fühlung genommen“. Nach Berlin zurückgekehrt, beschwerte er sich am 26. Mai im Auswärtigen Amt bei von Maltzan über die Beschuldigungen, Russland würde „die kommunistischen Gewalttaten in der Ruhr durch Agenten, Provokateure und durch Geld […] unterstützen“. Er könne „im Gegenteil versichern, dass die russischen Sympathien, schon aus eigenem Interesse, im Ruhrkampf auf Seiten der Deutschen Regierung ständen.“ Maltzan kenne doch „seine Ansichten über den Intellekt der deutschen Kommunisten […]. Er, Radek, habe in den letzten acht Tagen mit allen Kräften auf die kommunistischen Parteiführer eingewirkt, um ihnen die Dummheit des jetzigen Vorgehens gegen die Deutsche Regierung vorzuhalten.“ Man würde „ja sehen, dass in einigen Tagen die Kommunistenputsche an der Ruhr abnehmen würden. Er habe insbesondere auch die Chemnitzer Volks-Zeitung, die einen sehr heftigen Artikel vorbereitet habe mit dem Motto ,In der Ruhr ist die schwache Stelle der deutschen Republik, hier müßt ihr sie zu Fall bringen‘, von der Veröffentlichung desselben zurückgehalten.“40 Maltzan war von Radeks Vortrag dermaßen beeindruckt, dass er unter Hinweis auf die Schwierigkeiten, die er hätte, Radeks Ausweisung aus Deutschland zu verhindern, Botschafter Brockdorff-Rantzau in Moskau vorschlug, die Sowjetregierung aufzufordern, Beweise für die seines 38 Zitiert nach: Goldbach, S. 121. 39 In einem Artikel mit der Überschrift „Ohne Segel und Steuer“ zog Radek die Vereinigung der beiden Internationalen ins Lächerliche: „Sie setzten sich an das Ufer der Alster und weinten wie die Juden am Ufer von Babylon; Reaktion überall! Schlechte Zeiten – Nebbich! Wir vertagen die Fragen auf bessere Zeiten!“ „Die Rote Fahne“ , Nr. 119, 27. Mai 1923. Angress, S. 364. 40 Aufzeichnung Maltzans über den Besuch Radeks am 26. Mai 1923. Goldbach, S. 145f.

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Erachtens nach haltlosen Vorwürfe kategorisch vom Auswärtigen Amt zu verlangen. Das Narkomindel dementierte daraufhin gegenüber dem deutschen Botschafter prompt die Anwesenheit von Sowjetagenten im Ruhrgebiet. Auch wenn das nicht der Wahrheit entsprach, so gibt es doch keinerlei Anzeichen dafür, dass Radek oder die KPD-Führung die Ruhrstreiks für revolutionäre Aktionen ausnutzen wollten. Radek als „das Auge der Komintern und hauptsächlicher Berater der deutschen Partei“ konzentrierte sich darauf, die Sowjetunion – wie er es nannte – gegen „ungerechtfertigte“ Vorwürfe der Einmischung im Ruhrgebiet in Schutz zu nehmen und die KPD von Putschaktionen abzuhalten. Brandler und andere Funktionäre der Zentrale gingen lediglich ins Ruhrrevier, um die Streiks zu beenden.41 Als Radek am 1. Juni über Stettin nach Russland zurückreiste, waren die Ruhrstreiks bereits zusammengebrochen Vom 12. bis 23. Juni 1923 tagte in Moskau die Erweiterte Exekutive der Komintern, die bereits einen Tag nach dem Curzon-Ultimatum wegen der von den Bol’ševiki antizipierten Kriegsgefahr nach Moskau einberufen worden war. Das Leitmotiv der Veranstaltung war die Parole „Sowjetrussland ist in Gefahr“. Einen Schwerpunkt der Tagesordnung bildete Radeks Referat über „Die weltpolitische Lage“ am 15. Juni42, das seiner Rede über die „Praktische Weiterführung der Kampagne für die Einheitsfront“ vorausging, in der er erklärte, die kommunistische Propaganda dürfe die nationalistischen Ideale und Zielsetzungen keineswegs vernachlässigen. Die KPD müsse aufhören, als bloße Sekte in der politischen Landschaft Deutschlands zu existieren und sich in eine allumfassende nationale Organisation verwandeln. Nur durch ihre Verbindung mit den nationalgesinnten Massen könne sie zu einem entscheidenden Faktor in der deutschen Politik werden.43 An seinen Bericht auf dem IV. Weltkongress anknüpfend, führte Radek zuvor aus, die Weltlage habe sich in den letzten sechs Monaten insbesondere durch die französische Ruhrbesetzung und die Verschärfung des sowjetisch-britischen Gegensatzes stark verändert. Gleichzeitig würden die Interessengegensätze zwischen Großbritannien und Frankreich sowie zwischen den USA und Japan zunehmen.44 Auf dem IV. Kongress hätte die Komintern ihre „politische Linie auf große Erschütterungen in der Welt eingestellt“ und heute stehe man vor „einer immer schneller vor sich gehenden Zerrüttung Europas.“ Die Brisanz der Situation werde darin deutlich, dass die militärischen Potentiale und Rüstungsbudgets der Großmächte größer als vor dem Ersten Weltkrieg seien. Des41 Angress, S. 357f. Tatsächlich hielten sich jedoch bereits seit dem 7. Februar 1923 Sowjetagenten – wahrscheinlich technische Berater für den militärischen Geheimapparat der Kommunisten – in der französischen Besatzungszone auf. Sie hatten Anweisung, nicht agitatorisch tätig zu werden, um mögliche diplomatische Verwicklungen auszuschließen. Ebenda, S. 358 und S. 360f. 42 Radek, Der Kampf der Kommunistischen Internationale gegen Versailles und gegen die Offensive des Kapitals. Bericht erstattet in der Sitzung der Erweiterten Exekutive der K. I., Moskau 15. Juni 1923, Hamburg 1923. 43 Protokoll der Konferenz der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale, Moskau 12.–23. Juni 1923, Hamburg 1923, S. 148. Luks, S. 62. 44 Radek, a.a.O., S. 5ff.

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halb wäre „die Kriegsgefahr jetzt größer als 1914.“ Damit befände sich auch „die einzige Macht der Revolution, Sowjetrußland, […] in Gefahr“; desgleichen „die deutsche Arbeiterklasse und mit ihr die deutsche Revolution.“ Deutschland bilde gegenwärtig „eine große Kolonie Frankreichs. Man kann diese Kolonie nicht ausbeuten, wenn in ihr Revolution herrscht. Deshalb hat Frankreich ein Interesse daran, die deutsche Revolution niederzuwerfen.“ Somit stehe das deutsche Proletariat „zwischen zwei Feuern: zwischen der deutschen Bourgeoisie und dem französischen Imperialismus.“45 Am darauffolgenden Tage erläuterte er im Schlusswort seiner Rede46 die Absicht der Komintern, in der Ruhrkrise die deutschnationale Trumpfkarte zu spielen. In dem vom „Westkapital“ unterdrückten Deutschland habe die nationalistische Ideologie, wie auch in den Ländern kolonialer Unterdrückung, einen revolutionären Charakter.“ Die starke Betonung der Nation in Deutschland“, so Radek, „ist ein revolutionärer Akt, wie die Betonung der Nation in den Kolonien.“47 Er hob hervor: „Ausschlaggebend in der ganzen Situation ist die Niederlage einer großen industriellen Nation, die zurückgeworfen wurde in die Lage einer Kolonie. Diese Niederlage der deutschen Bourgeoisie zeitigt Folgen von größter revolutionärer Bedeutung […]. Der Nationalismus, der früher ein Mittel war, die bürgerlichen Regierungen zu stärken, ist jetzt ein Mittel, die bestehende kapitalistische Zerrüttung zu steigern.“48

Er erklärte, auch als Gegner jeglichen Nationalismus dürfe man eines nicht übersehen, „nämlich den Unterschied zwischen dem Nationalismus und den revolutionären nationalen Interessen Deutschlands, die sich jetzt mit dem revolutionären nationalen Interesse des Proletariats decken.“ Denn: „Genossen, das was sich deutscher Nationalismus nennt, ist nicht nur Nationalismus, sondern auch eine breite nationale Bewegung von großer revolutionärer Bedeutung. Breite Massen des Kleinbürgertums, die Massen der technischen Intellektuellen, die eine große Rolle in der proletarischen Revolution spielen werden dank der Tatsache, daß sie unter dem bürgerlichen System proletarisiert wurden, alle diese zertretenen, deklassierten, proletarisierten Massen äußern ihr Verhältnis zu dem sie deklassierenden Kapitalismus in Form nationaler Aufbäumung.“49

Nachdem sich der Faschismus diese Protesthaltung politisch zunutze mache, führte er weiter aus, müssten die Kommunisten diesen Massen, die ein „aktives Element der Revolution“ seien, die Augen öffnen:

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Radek, a.a.O., S. 29ff. Radek, Nachwort [zum Referat vom 15. Juni 1923] vom 16. Juni 1923. Möller, S. 241–244. Protokoll der Konferenz der Erweiterten Exekutive ..., a.a.O. Luks, S. 62. Radek, Nachwort, a.a.O. Möller, S. 241. Radek, Nachwort, a.a.O. Möller, S. 243.

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„Wenn wir aber nicht eine bloße oppositionelle Arbeiterpartei sind, sondern eine Arbeiterpartei, die den Kampf um die Macht aufnimmt, so müssen wir den Weg zu diesen Massen finden. Und am besten finden wir ihn, wenn wir nicht Angst vor der Verantwortung haben, sondern sagen, jawohl, nur wir die Arbeiterklasse, können die Nation retten. Und nicht nur die Arbeiterklasse, sondern die große Mehrheit des Volkes soll uns dazu helfen.“50

Es galt das durch den Ruhrkampf ausgelöste Anwachsen der antifranzösischen nationalen Welle in Deutschland zu nutzen, um die KPD aus dem „Zustand der Minderheit“ zu lösen und „den Weg zu den breiten nichtproletarischen, aber proletarisierten Massen zu finden“51. Oder noch besser, die erstrebte Einheitsfront der Arbeiterklasse, zu einer nationalen Einheitsfront aller Deutschen gegen Frankreich zu erweitern. Mit diesen Ausführungen bereitete Radek seine propagandistisch effektvolle Schlageter-Rede52 vor, die er erst gegen Ende der Tagung am 21. Juni vortrug. Sie enthielt ein direktes Bündnisangebot an die deutschen Nationalisten und Rechtsextremisten. Vorausgegangen war ein Bericht Clara Zetkins über den internationalen Faschismus, den sie als einen „außerordentlich gefährlichen und furchtbaren Feind“ gebrandmarkt hatte, doppelt gefährlich, da er zur Zufluchtsstätte der politisch Heimatlosen geworden sei. Diese entwurzelten und enttäuschten Menschen, von denen sich viele verzweifelt dem Faschismus in die Arme geworfen hätten, müssten für den Kommunismus gewonnen oder zumindest als soziale Kräfte neutralisiert werden.53 Radek griff das Stichwort Zetkins auf und bediente sich nun – wie zuvor im Falle Vorovskij – abermals einer Märtyrergestalt, die der Zufall ihm beschert hatte. Es handelte sich um den deutschen Freikorpskämpfer Albert Leo Schlageter54, der während des Ruhrkampfes wegen Sprengstoffanschlägen von französischen Besatzungstruppen am 26. Mai standrechtlich erschossen, zur Ikone der völkischen Propaganda geworden war. Radek begann seine Ausführungen damit, dass er behauptete, er habe Zetkins Rede nur unvollkommen folgen können, weil vor seinem geistigen Auge fortwährend der „Leichnam des deutschen Faschisten“ und „Klassengegners“ Schlageter gestanden habe und er fuhr fort: „Wir wollen seiner gedenken, wo wir politisch zum Faschismus Stellung nehmen […]. Wir sind keine sentimentalen Romantiker, die an der Leiche die Feindschaft vergessen, und keine Diplomaten, die sagen: am Grabe Gutes reden oder schweigen. Schlageter, der mutige Soldat der Konterrevolution, verdient es, von uns, Soldaten der Revolution, 50 Ebenda. 51 Ebenda. 52 Radek, Leo Schlageter, der Wanderer ins Nichts, in: Möller, S. 245–249. 53 Protokoll der Konferenz der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale, Moskau 12.–23. Juni 1923, Hamburg 1923, S. 204–232. Angress, S. 367. 54 Schlageter, Albert Leo (1894–1923), Freikorpskämpfer und nationalsozialistischer Aktivist.

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männlich und ehrlich gewürdigt zu werden. Sein Gesinnungsgenosse Freksa55 hat im Jahre 1920 einen Roman veröffentlicht, in dem er das Leben eines im Kampfe gegen Spartakus gefallenen Offiziers beschrieb. Freksa nannte den Roman: Der Wanderer ins Nichts. Wenn die Kreise der deutschen Faschisten, die ehrlich dem deutschen Volke dienen wollen, den Sinn des Geschicks Schlageters nicht verstehen werden, so ist Schlageter umsonst gefallen, und dann sollen sie auf sein Denkmal schreiben: Der Wanderer ins Nichts.“

Radek skizzierte den Werdegang des Toten. Er habe im Baltikum gegen die Bol’ševiki gekämpft, die Kommunisten als Feinde betrachtet und in der Arbeiterklasse den Pöbel gesehen, der regiert werden muss. Auch wenn er der falschen Sache diente, so folgte er doch der Stimme seines Gewissens und war bereit für seine Überzeugungen zu sterben. Ihm und seinen völkischen Kampfgenossen, unter denen es ebenfalls ehrenhafte und patriotische Menschen gäbe, sei jedoch nicht bewusst gewesen, wie ungeheuerlich sie von der kapitalistischen Bourgeoisie verraten worden seien. Dann kam Radek zum Kern seiner Ausführungen. Er beschwor den Geist von Gneisenau und Scharnhorst, die einst im Freiheitskampf gegen Napoleon Rückhalt in Russland gefunden hatten und stellte die Frage: „Gegen wen wollen die deutschen Völkischen kämpfen: gegen das Ententekapital oder das russische Volk? Mit wem wollen sie sich verbinden? Mit den russischen Arbeitern und Bauern zur gemeinsamen Abschüttelung des Joches des Ententekapitals oder mit dem Ententekapital zur Versklavung des deutschen und russischen Volkes? Schlageter ist tot. Er kann die Frage nicht beantworten. An seinem Grabe haben seine Kampfgenossen die Fortführung seines Kampfes geschworen. Sie müssen antworten: gegen wen, an wessen Seite.“

Schließlich machte er den „nationalistischen und kleinbürgerlichen Massen“ ein unverhülltes Bündnisangebot. Er identifizierte die Ziele der KPD mit den Zielen des gesamten deutschen Volkes. Die KPD und die Kommunistische Internationale habe am Grabe Schlageters folgendes zu sagen: „Will Deutschland imstande sein zu kämpfen, so muß es eine Einheitsfront der Arbeitenden darstellen, so müssen die Kopfarbeiter sich mit den Handarbeitern vereinigen zu einer eisernen Phalanx. Die Lage der Kopfarbeiter erfordert diese Einigung. Nur alte Vorurteile stehen ihr im Wege […]. Wer im Dienste der Schieber und Spekulanten, der Herren von Eisen und Kohle versuchen will, das deutsche Volk zu versklaven, es in Abenteuer zu stürzen, der wird auf den Widerstand der kommunistischen Arbeiter stoßen. Sie werden auf Gewalt mit Gewalt antworten. Wer aus Unverständnis sich mit den Söldlingen des Kapitals verbinden wird, den werden wir mit allen Mitteln bekämpfen. Aber wir glauben, daß die große Mehrheit der national empfindenden Massen nicht in das Lager des Kapitals, sondern in das Lager der Arbeit gehört. Wir wollen und werden zu diesen Massen den Weg suchen und den 55 Freksa, Friedrich (1882–1955); deutschnationaler Schriftsteller und Bewunderer Schlageters.

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Weg finden. Wir werden alles dafür tun, daß Männer wie Schlageter, die bereit waren für eine allgemeine Sache in den Tod zu gehen, nicht Wanderer ins Nichts, sondern Wanderer in eine bessere Zukunft der gesamten Menschheit werden, daß sie ihr heißes, uneigennütziges Blut nicht verspritzen für die Profite der Kohlen- und Eisenbarone, sondern für die Sache des großen arbeitenden deutschen Volkes, das ein Glied ist in der Familie der um ihre Befreiung kämpfenden Völker. Die Kommunistische Partei wird diese Wahrheit den breitesten Massen des deutschen Volkes sagen, denn sie ist nicht die Partei des Kampfes um ein Stückchen Brot allein der industriellen Arbeiter, sie ist die Partei der kämpfenden Proletarier, die um ihre Befreiung kämpfen, um die Befreiung, die identisch ist mit der Freiheit ihres gesamten Volkes, mit der Freiheit alles dessen, was arbeitet, leidet in Deutschland. Schlageter kann nicht mehr diese Wahrheit vernehmen. Wir sind sicher, daß Hunderte Schlageters sie vernehmen und sie verstehen werden.“56

Selbstverständlich stellten diese vor dem Hintergrund der Ruhrkrise an die nationalen Kreise Deutschlands gerichteten Äußerungen keinen politischen Alleingang Radeks dar. Er besaß für seine Ausführungen das schriftliche Einverständnis Zinov’evs57 und Ruth Fischer schreibt, dass Radek durch einen Politbürobeschluss zu der Schlageter-Rede, die er zweifellos selbst verfasst hatte, ermächtigt worden war58. Wie alle Initiativen der Einheitsfrontpolitik verfolgte auch diese Botschaft an das nationalistische Lager in Deutschland zwei Ziele: sie sollte die deutsche Rechte spalten und aus ihren Reihen den Kommunisten neue Anhänger zuführen. Zugleich hatte sie im außenpolitischen Kalkül des Kreml’ ihren Platz. Zu einem Zeitpunkt, wo sich nach den außenpolitischen Ereignissen im Mai in Russland eine Krieg-inSicht-Psychose verbreitete und die Propaganda von einem drohenden „Anschlag auf Sowjetrussland“ sprach, bildete die Schlageter-Rede ein unüberhörbares Signal für eine verstärkte Anlehnung der Sowjetunion an Deutschland. So ist wohl anzunehmen, dass Radek durch sein Bündnisangebot an die Rechtextremisten die Front gegen die aus sowjetischer Sicht auf einen Krieg gegen Sowjetrussland hinsteuernden Siegermächte verstärken wollte.59 Die konkreten gemeinsamen Interessen beider Staaten sah Radek darin, dass man den gleichen kapitalistischen Gegner besäße und über vielversprechende Möglichkeiten des wirtschaftlichen Austausches verfüge. Nicht zufällig hatte sechs Tage zuvor sein Referat über die weltpolitische Lage immer wieder in der Feststellung gegipfelt, „Sowjetrussland ist in Gefahr“ und er hatte das Plenum der Exekutive ausdrücklich darauf hingewiesen, dass „angesichts der großen Erschütterungen in der Welt“, die Agitproparbeit jeder Sektion der Komintern nunmehr mit der außenpolitischen Konstellation koordiniert werden müsse.60 56 Radek, Leo Schlageter, der Wanderer ins Nichts, a.a.O., S. 245f und S. 248f. 57 Fifth congress of the Communist International: Abridged report of meetings held at Moscow June 17th to July 8th, 1924, London o. J., S. 210. Angress, S. 369. 58 Fischer, R., Stalin, S. 332 59 Luks, S. 63. 60 Goldbach, S. 123.

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„Der Schlageter-Kurs war sicher kein Manöver“, urteilt Leonid Luks, „sondern eine konsequente Fortsetzung der taktischen Linie der Komintern“ und kommt zu der Schlussfolgerung: „Er kann in gewisser Hinsicht als eine Übertragung der RapalloPolitik auf die innerdeutsche Ebene bezeichnet werden. Das deutsch-sowjetische Bündnis gegen die Siegermächte sollte durch die Zusammenarbeit der KPD mit den nationalen Kräften eine noch stärkere Grundlage erhalten“.61 Radek und die anderen Verfechter der Einheitsfront mit dem Rechtsextremismus verkannten allerdings, wie prinzipiell und unversöhnlich der Antimarxismus der deutschen Rechten ausgeprägt war. Radek verstand damals noch nicht, dass er sich mit einer Bewegung verbünden wollte, der er in dreifacher Weise verhasst war: als Marxist, als Jude und als führender Vertreter des Sowjetregimes. Ihm war nicht bewusst, dass diese Bewegung gegen all das, was er repräsentierte, bereits damals einen Ausrottungsfeldzug anstrebte und vorbereitete.62 In Radeks Schlageter-Rede ist vieles hineingeheimnisst worden. Valeriu Marcu interpretiert sie phantasievoll sogar als ein heimliches Bekenntnis zum Deutschtum: „Einmal, als er sich mit dem Tuche Germaniens umhüllte, war er sicherlich ehrlich. Seine Stimme verlor den rauhen Ton und wurde weich, singend, wie beim Gesang von der Geliebten. Drei Tränen verzierten die Brille und machten das Glas blind, […] als Radek über den ,Wanderer ins Nichts‘, über Schlageter sprach. Radek ist der Herold vieler Untugenden, die er nicht besitzt. Er meinte durch diese Rede eine geschickte machiavellistische Tat vollbracht zu haben. Der Machiavellismus war jedoch nur eine Ausrede vor sich selbst und vor seinen Freunden. Er empfahl sich bei den Anhängern des Erschossenen mit Worten nationaler Treue, und seinen Gesinnungsgenossen flüsterte er zu: Das, was ich da sage, ist gar nicht wahr und nur mit Kommentar zu verstehen. Das ist Taktik; doch in ihr verbarg sich die Ehrlichkeit, eine Nacktheit, die verschämt mit nervöser Hand den Schleier sucht.“ 63

Ebenfalls überzogen ist Lerners Bewertung, die Ausführungen Radeks hätten „die kommunistische Welt elektrisiert“64. Davon kann keine Rede sein. In der Tradition der nationalen Einheitsfronttaktik stehend, erregten sie im Moskauer Auditorium weder besondere Aufmerksamkeit, noch wurden sie als sensationell empfunden.65 Anders in Deutschland. Hier wurden sie zum Ansatzpunkt des „Schlageter-Kurses“ der KPD, einer nationalen Propagandakampagne der Kommunisten, die Resonanz in rechtsgerichteten Kreisen fand. Die Schlageter-Rede gab den Anstoß zu einer Diskussion der extremen deutschen Rechten über ein Zusammengehen mit den Kom-

61 62 63 64 65

Luks, a.a.O. Luks, S. 66f. Marcu, S. 196f. Lerner, S. 120. Goldbach, S. 121f.

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munisten. Bekannte Exponenten der rechten Szene, wie Moeller van den Bruck66 und Graf Reventlow, den Radek seit 1920 kannte, führten mit ihm und Paul Frölich einen Dialog über nationalkommunistische Alternativen in der „Roten Fahne“ und in rechten Periodika über die zukunftsträchtigen Perspektiven des „Nationalbolschewismus“ mit dem ideologischen Fazit: Nicht die Bol’ševiki im Osten, sondern die Kapitalisten im Westen wollen die deutsche Nation vernichten.67 Vereinzelt kam es zu aufsehenerregenden Gemeinschaftsveranstaltungen von Kommunisten und völkischen Gruppen. Am 13. Juli 1923 äußerte sich Radek vor dem Erweiterten Exekutivkomitee der Kommunistischen Jugendinternationale in Moskau68 zu Motiv und Zweck seiner vier Wochen zuvor gehaltenen Schlageter-Rede, wobei er gleichzeitig ihre bisherige Wirkung in Deutschland einschätzte. Er führte aus, viele Genossen seien „gewiß verwundert“ gewesen, als sie seine Ausführungen gelesen hätten. Keiner solle aber glauben, „daß es sich hier um Sentimente handelt“, denn „bei politischen Entscheidungen spielen Gefühle keine Rolle“, und weiter:

66 Moeller van den Bruck, Arthur (1876–1925); politischer Schriftsteller und ideologischer Verfechter einer konservativ-sozialen Nationalbewegung. Unwesentliches und Falschverstandenes – wie etwa der nicht von ihm geprägte Titel seines Hauptwerkes „Das Dritte Reich“ – wurde von den Nationalsozialisten vereinnahmt, der wesentliche Gehalt seines Denkens jedoch scharf abgelehnt. 67 Dazu ausführlich: Schüddekopf, Linke Leute von rechts, S. 122–129. Ebenda, S. 456 f., Anm. 32, die Zeittafel der Schlageter-Diskussion 1923: –15.6. Vorbereitende Rede Radeks vor der Erweiterten Exekutive in Moskau, –20.6. Radeks Schlageter-Rede, –30.6. Graf Reventlow: „Mit Radek?“ („Der Reichswart“, Nr. 26), Paul Frölich: „Eine Antwort an den Grafen Reventlow“ (Radek, Karl; Frölich, Paul; Reventlow, Graf Ernst; Moeller van den Bruck, Arthur: Broschüre „Kommunismus und nationale Bewegung. Schlageter. Eine Auseinandersetzung, Berlin 1923), –2.7. Moeller van den Bruck: „Der Wanderer ins Nichts“ („Das Gewissen“, Nr. 26), –10.7. Radek: „Dem Gewissen zur Antwort“ („Die Rote Fahne“), –13.7. Rede Radeks vor dem Erweiterten EKKI der Kommunistischen Jugendinternationale in Moskau, –30.7. Moeller van den Bruck: „Wirklichkeit“ („Das Gewissen“), –2.8. Graf Reventlow: „Ein Stück des Weges“ („Die Rote Fahne“), –3.8. Paul Frölich: „Nationale Frage und Revolution“ („Die Rote Fahne“, Beilage), –16.8 Radek: „Kommunismus und deutsche nationalistische Bewegung“ („Die Rote Fahne“), –18.8. Fortsetzung des Radek-Artikels vom 16.8. („Die Rote Fahne“), –28.8. „Die Voraussetzungen des Bündnisses mit Sowjetrußland“ („Die Rote Fahne“), –2.9. Graf Reventlow: „Trennendes“ („Die Rote Fahne“), –26.9. Abbruch des Passiven Widerstandes an der Ruhr. 68 Radek, Das Abflauen der Offensive des Kapitals und die Aufgaben der kommunistischen Internationale. Rede in der Sitzung der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Jugendinternationale, Moskau, 13. Juli 1923, in: Radek, Der Kampf der Kommunistischen Internationale gegen Versailles und gegen die Offensive des Kapitals. Bericht erstattet in der Sitzung der Erweiterten Exekutive der K. I., Moskau 15. Juni 1923, Hamburg 1923, S. 33–77.

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„Ich wollte durch meine Rede, deren persönliche Form die Aufmerksamkeit von Freund und Feind erregen mußte, die Frage aufwerfen von dem Verhalten der deutschen Arbeiterklasse zu den nationalistischen, kleinbürgerlichen Massen. Der Zweck der Rede ist zum Teil erreicht […]. Mein Vorstoß konnte [aber] wahrlich nicht zu den nationalistischen Massen durchdringen. Er hat sich nur in den oberen Kreisen ausgewirkt. Es ist jetzt Aufgabe der Kommunistischen Partei Deutschlands zu diesen Massen Zutritt zu finden.“

Wenn man sich jetzt an diese Massen wende, „so ist es kein Listen mit Ideen, keine schlaue Politik, die fragt: Wer wird den anderen betrügen?“ Das Spiel bestehe darin, dass das deutsche Kleinbürgertum vom Großkapital proletarisiert werde und die Sozialdemokraten „die Fahne der Revolution in den Dreck geworfen“, die Demokratie zur „Vogelscheuche“ gemacht hätten. In den sozialdemokratischen „Novemberleuten“ könnte „das verlumpende Kleinbürgertum“ keinen Helfer im Kampf gegen seine materielle, politische und geistige Not sehen. Es folge deshalb den nationalistischen Parolen der Faschisten. Die Aufgabe der Kommunisten müsse es in dieser Situation sein, der großen Masse des Kleinbürgertums zu verdeutlichen, dass es die KPD ist, die die nationalen Interessen wahrhaft vertritt. Sie ist „die Trägerin der Befreiung des gesamten deutschen Volkes“, die für die „Abschüttelung des Joches des fremden Kapitals“ und die Zerschlagung des Versailler Friedens „mit allen Kräften kämpfen wird“. Er rief dazu auf, vermittels der Taktik der Einheitsfront die verstärkte Mobilisierung der proletarischen Massen zu erreichen. Die Kommunistischen Parteien aller Länder müssten die „Taktik des Suchens nach den Verbündeten, wo sie sind „, praktizieren, die Suche nach Verbündeten „mit denen zusammen wir die nächste Aktion führen werden“, denn ein isolierter Sieg der Kommunisten wäre unmöglich.69 In dieses Konzept fügte sich das Vorhaben der Komintern, abgestimmt mit dem Außenkommissariat, in Moskau besondere Länderkommissionen zur Bekämpfung des Nationalismus zu schaffen, die allerdings ihrem Charakter nach, Instrumente zur Ausnutzung nationalistischer Strömungen für weltrevolutionäre Zwecke waren. Die erste Sitzung zu diesem Projekt, an der auch Stalin teilnahm, fand ebenfalls am 13. Juli 1923 statt. Radek erhielt als Arbeitsgebiet Deutschland und die Tschechoslowakei zugesprochen. Auf einer weiteren Sitzung am 3. August befasste man sich mit der Vorbereitung einer Denkschrift über „Die Entwicklung des Nationalismus und Klerikalismus und die Art ihrer Bekämpfung“. In Bezug auf Deutschland wurden die sozialistischen Inhalte des Programms der NSDAP als Ausdruck „des gesunden Dranges nach einem endgültigen Bruch mit dem alten Regime“ bezeichnet. Der 69 Ebenda, S. 76f. In einem Folgeartikel in der „Roten Fahne“ (Nr. 176 vom 2. August 1923) mit dem Titel „Der nahende Bankrott der deutschen Bourgeoisie und die Aufgaben der KPD“ betonte Radek erneut, es genüge nicht, allein mit den Arbeitern die Revolution zu gewinnen. Es müsse auch das Kleinbürgertum als „Reserven der Arbeiterklasse“ herangezogen werden. Schüddekopf, Linke Leute von rechts, S.  122. Der Artikel wurde bereits am Vortag in Moskau veröffentlicht („Približajuščeesja bankrotstvo germanskoj buržuazii i zadači germanskoj kompartii (datiert Moskau, 29. Juli 1923), Pravda Nr. 171 vom 1. August 1923). Grieser, S. 59.

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zunehmende Antisemitismus sei ein Ergebnis der Agitation russischer Emigranten. Das aufgestellte Arbeitsprogramm lautete: 1. in allen Industriegebieten nationale Bewegungen zu beobachten, 2. die russischen Wirtschaftsformen als vorbildlich hinzustellen, vor allem Arbeitslosen gegenüber, 3. „Alle separatistischen Bewegungen sind zu begünstigen, selbst – zeitweilig – solche unter nationaler Flagge. „Die Autorität der bürgerlich-demokratischen Regierungen müsse mit allen Mitteln untergraben werden. Es seien besondere temporäre Losungen aufzustellen, „die jetzt vielleicht nicht ganz dem Programm entsprechen, aber in Zukunft zu ihm führen.“70 Diese Richtlinien entsprachen inhaltlich völlig dem von Radek in der KPD inszenierten Schlageter-Kurs, der einen nur kurzlebigen Hochsommer der deutschsowjetischen Freundschaft markierte71. Alles in allem gelang es jedoch nicht, die deutsche Rechte zu spalten und Überläufer aus dem nationalistischen Lager zu gewinnen. Besonders bei den antisemitischen Nationalsozialisten stieß die Schlageterlinie auf Ablehnung. Der braune Ideologe Alfred Rosenberg72 attackierte Radeks Schlageterrede als einen „jüdischen Schwindel“73 und der „Völkische Beobachter“, das Parteiblatt der Nazis, diffamierte die den Dialog mit Radek führenden Völkischen als „habsüchtige oder kurzsichtige Verräter und Zuhälter“. Das Blatt warnte die Ortsgruppen der NSDAP vor Kommunisten, die unter der Maske des Vaterlandsfreundes die völkische Bewegung unter die nationalbolschewistische jüdische Führung bringen wollten. Und im „Deutschen Witzblatt“ von Kunze nahm ein Verseschmied mit dem Pseudonym „Totila“ den Schöpfer des Schlageter-Kurses, Radek, aufs Korn: „Das zwar tat mancher schon im Heer der Feinde mit listigem Blick sich Helfer zu gewinnen. Jedoch die ganze völkische Gemeinde als Sowjet-Judas Stütze zu gewinnen, die Frechheit übersteigt doch jedes Maß und nur ein Jude Sobelsohn wagt das.“74

Die Ambivalenz der Einheitsfrontpolitik offenbarte sich auch darin, dass Radek trotz seines Werbens um die deutschen Rechtsradikalen, den Faschismus weiterhin als 70 Bericht „Kommunismus und nationale Bewegung“ aus der sowjetischen Gesandtschaft Reval. Schüddekopf, Linke Leute von rechts, S. 141. 71 Krummacher/Lange, S. 143. 72 Rosenberg, Alfred (1893–1946); Ideologe der NSDAP und Chefredakteur des „Völkischen Beobachter“. 73 Spencer, Arthur, National-Bolshevism, in: „Survey, October 1962. Tuck, S. 71. 74 Schüddekopf, a.a. O., S. 458f., Anm. 61.

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„Todfeind“ attackierte.75 Dennoch machte er sich keine Illusionen über die schwache Stellung der KPD und dachte nicht an irgendwelche aktuelle Kampfaktionen der Partei. „Wir blasen nicht zur Durchbruchsschlacht. Noch hat der Feind die Initiative in den Händen, und wir klopfen erst seine Fronten ab“76, hatte er am 13. Juli in Moskau verkündet. Vermutlich war er bei dieser Erklärung über die Entwicklung der Ereignisse in Deutschland nicht auf dem laufenden, denn bereits am Vortage, dem 12. Juli, hatte „Die Rote Fahne“ die Alarmnachricht gebracht, ein faschistischer Putsch stehe unmittelbar bevor und KPD-Mitglieder, sowie Sozialdemokraten und parteilose Arbeiter dazu aufgerufen, sich auf den Bürgerkrieg vorzubereiten.77 Um die eigene Stärke zu demonstrieren, sollte am Sonntag dem 29. Juli 1923 deutschlandweit ein „Antifaschistentag“ mit Protestkundgebungen und Straßendemonstrationen abgehalten werden, die zugleich als eine Art Heerschau für den Ernstfall gedacht waren.78 Die Brandler-Thalheimer-Führung der KPD dachte aber nicht daran, es bei dieser Gelegenheit auf einen Versuch der Machtergreifung ankommen zu lassen. Die Angehörigen der linken Opposition ausgenommen, waren die Führer der Parteizentrale immer noch feste Anhänger der Einheitsfrontlinie. Dennoch vermittelten die aggressiven Parolen der Partei, wie „Ohne Blut kein Recht“ oder „Die Ausbeuter an den Galgen“ und ihr konfrontatives Verhalten gegenüber der Polizei den Eindruck, sie bereite sich auf einen bewaffneten Aufstand vor. Aus Furcht vor gewalttätigen Zusammenstößen verhängten deshalb die meisten Landesregierungen im Reich für den 29. Juli ein Verbot von Straßendemonstrationen und Veranstaltungen unter freiem Himmel. Durch diesen Schritt brach in der KPD der latente Gegensatz zwischen rechtem und linkem Flügel wieder auf. Die Parteimehrheit war bereit, sich dem Verbot zu fügen, die Linksopposition forderte eine Aktion um jeden Preis. Abermals sah sich die Kominternführung aufgerufen den Streit zu schlichten.79 Ein Vorgang, der den sogenannten „Julikonflikt“ in der sowjetischen Parteiführung auslöste.80 Im Juli 1923 hatten die Parteiführer Trockij, Zinov’ev und Bucharin die sowjetische Hauptstadt verlassen, um ihren Urlaub im Kurort Kislovodsk im Kaukasus zu verbringen. Als Stallwache in Moskau waren Stalin und Radek zurückgeblieben, der Georgier zuständig für die innersowjetischen Angelegenheiten und Radek verantwortlich für Komintern-Fragen. Der Konflikt begann damit, dass Radek sich weigerte, ein von 75 Radek, Der internationale Faschismus und die Kommunistische Internationale, in: Internationale Pressekorrespondenz für Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung (Inprekorr), Nr. 115 vom 9. Juli 1923, S. 1013f.; ders., Der Faschismus, wir und die deutsche Sozialdemokratie, in: Inprekorr Nr. vom 6. Juli 1923, S. 1003f. Goldbach, S. 124. 76 Radek, Das Abflauen der Offensive des Kapitals und die Aufgaben der kommunistischen Internationale, a.a.O., S. 77. 77 Goldbach, a.a.O. 78 Ebenda. 79 Angress, S. 398f.; Goldbach, S. 124. 80 Soweit nicht anders vermerkt, folgt die Darstellung des Julikonflikts Aleksandr Vatlin (S. 4–7), der sich auf die erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion für die Forschung zugänglich gewordenen Dokumente aus dem Besitz Radeks und Zinov’evs stützt.

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Zinov’ev und Bucharin unmittelbar nach Erhalt des KPD-Demonstrationsaufrufs am Urlaubsort verfasstes, die KPD zum „Vorwärtsgehen“ ermunterndes, Glückwunschschreiben telegraphisch an die deutsche Parteizentrale weiterzuleiten. Zinov’ev und Bucharin unterstützten darin die Position der Linksopposition in der KPD und desavouierten Radeks vom CK der RKP(b) gebilligte Komintern-Taktik der nationalen Einheitsfront, die sich besonders auch gegen die Sozialdemokratie richtete. Sie schlugen eine Änderung der Hauptrichtung des Angriffs vor. Die KPD sollte mit ihrem „Antifaschistentag“ einen Schlag gegen die nationalistischen Kräfte in Deutschland führen, um die Sympathien der sozialdemokratischen Arbeiter zu gewinnen. Radek reagierte sehr scharf. Er sandte postwendend ein Telegramm nach Kislovodsk, in dem er kategorisch feststellte: „Es kann nicht zwei leitende Zentren geben – eins in Moskau, das andere im Kaukasus – wenn wir die Berliner nicht irre machen wollen.“ Zugleich warf er Zinov’ev und Bucharin vor, die deutsche Partei in eine „Juli-Niederlage“81 zu treiben. Der folgende Austausch der Standpunkte erbrachte keinen Kompromiss. Radek, der sich als einziges prominentes Mitglied des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale in Moskau aufhielt, bezog sich auf einen von ihm initiierten einstimmigen Beschluss des durch die Urlaubszeit personell stark ausgedünnten EKKI-Präsidiums vom 17. Juli 1923, mit dem seine politische Linie bestätigt wurde. Seine Opponenten meinten hingegen, er bremse böswillig die revolutionäre Energie der deutschen Kommunisten. Radek verteidigte sich: Die Meinungsverschiedenheiten bezögen sich nicht auf das Tempo, sondern auf die Bewertung des Reifegrades. Man müsse nur den günstigsten Augenblick für den „direkten Kampf um die Macht in Deutschland“ abwarten. Auch Stalin schaltete sich in die Diskussion ein. In einem Brief an Zinov’ev und Bucharin brachte er seine Bedenken gegenüber einer voreiligen Aktion zum Ausdruck.82 Radek versuchte ebenso die Unterstützung Trockijs zu gewinnen, der gleichfalls in Kislovodsk weilte, jedoch mit den sich dort aufhaltenden Parteiführern nicht verkehrte. Trockij antwortete Radek ausweichend: „Ihr Telegramm mit der Frage, welcher Ratschlag der KPD im Zusammenhang mit ihrem Auftritt am 29. Juli gegeben werden soll, kann ich nicht beantworten, denn ich habe keine Information.“ Schließlich telegraphierte Radek am 26. Juli im Namen des Präsidiums des EKKI an die KPD, sie möge auf Straßendemonstrationen verzichten. „Wir fürchten Rückschläge“.83 Als das Politbüro sich am 27. Juli mit der Angelegenheit befasste, billigte es Radeks Vorgehen und forderte seine Kontrahenten auf, die bestehenden Meinungsverschiedenheiten durch weiteren Briefwechsel zu klären. Angesichts dieser Entscheidung verfiel Zinov’ev in Kislovodsk in Panik. Er fühlte sich übergangen und stellte sogar die Frage nach seinem Austritt aus dem Politbüro. Selbst ein Meister der 81 „Juli-Niederlage“: parteioffizielle Bezeichnung für den missglückten bolschewistischen Putschversuch in Petrograd gegen die demokratische russische provisorische Regierung Kerenskij im Juli 1917. 82 Goldbach, S. 125. 83 So zitiert bei Zinov’ev, in: Internationale Pressekorrespondenz für Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung (Inprekorr), Nr. 26 vom 25. Februar 1924, S. 286. Goldbach, S. 125.

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politischen Intrige, sah er nun überall Verschwörungen, die sich gegen ihn richteten. Stalins Unterstützung für Radek wertete er als Versuch seine Position in der Komintern zu unterminieren und zu schwächen. Über Radek erbost, schrieb er an Kamenev: „Jetzt braut Karljuscha [Karlchen] eine Intrige […]. Er schreibt uns unverschämte Briefe und verschickt die Kopien an Trockij. Die Bezugnahme Karljuschas auf einen einstimmigen Beschluß des Präsidiums des EKKI ist eine Gaunerei.“ Gegen den Willen der Komintern-Führer Zinov’ev und Bucharin hatte Radek in Übereinstimmung mit Stalin auf eigene Verantwortung gehandelt und die KPD davon abgehalten, die deutschen Rechtsradikalen offen herauszufordern. Der daraufhin überwiegend in Form von geschlossenen Veranstaltungen abgehalten Antifaschistentag verlief ohne wesentliche Zwischenfälle, wenngleich ohne größere öffentliche Resonanz. Die Teilnehmerzahl, die ja als Prüfstein für die Anziehungskraft der Partei auf die Massen dienen sollte, war allerdings keineswegs überwältigend. Und so fiel es wieder einmal Radek zu, „die Karre aus dem Dreck zu ziehen.“84 Am 2. August erschien auf der Titelseite der „Roten Fahne“ seine ausführliche Analyse der politischen Lage mit der Überschrift „Der nahende Bankrott der deutschen Bourgeoisie und die Aufgaben der Kommunistischen Partei Deutschlands“.85 Bereits am 29. Juli verfasst, das heißt zu einem Zeitpunkt als er die Ergebnisse des Antifaschistentags noch gar nicht kennen konnte, wurde in dem Artikel deutlich, dass Radek sich keinen Illusionen über die Situation der KPD hingab. Hinter den üblichen drohenden Tönen und düsteren Prognosen über das künftige Schicksal der Bourgeoisie, der Faschisten und der Sozialdemokratie war seine ernüchternde Kritik kaum zu verkennen. Er schrieb, die Bol’ševiki hätten die Macht mit 70 000 Leuten nur erringen können, weil die russische Bourgeoisie nicht organisiert war und die Bol’ševiki über die Armee verfügten. Wenn man in Deutschland dem russischen Beispiel nacheifern wolle, müsse die KPD nicht 300 000 sondern mindestens eine Million Mitglieder haben. Erneut betonte er die Bedeutung der Einheitsfront. Diese Taktik erfordere eine Verdopplung der Anstrengungen, härtere Arbeit, größeren Schwung. Es sei nicht genug, nur um die Arbeiterschaft zu werben, auch das Kleinbürgertum müsse gewonnen werden. Er schloss mit vorsichtigem Optimismus. Der Augenblick für den Generalangriff sei noch nicht gekommen, aber er rücke immer näher. Die Bourgeoisie, untereinander zerstritten, sei nicht fähig, die kritische Lage vor der die Nation stehe, zu meistern. Die Stärke der Sozialdemokratie schwinde, während die der KPD anwachse. Die strategische Aufgabe der Kommunisten bestehe darin, das weitere Ausreifen der Revolution voranzutreiben. Und diese Revolution würde kommen – zum richtigen Zeitpunkt: „Wir müssen Schlachten schlagen, vor die uns die Geschichte stellt, aber wir müssen dabei noch immer im Auge behalten, daß wir momentan noch schwächer sind. Wir dürfen jetzt nicht nur noch keine Generalschlacht liefern, sondern wir müssen alles vermeiden, was dem Feinde ermöglichen würde, uns teilweise zu schlagen.“ 84 Angress, S. 401, dem auch die nachstehende Darstellung folgt. 85 Siehe oben, Anm. 69.

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Erneut hatte Radek deutlich gemacht, dass eine „Generalschlacht“ nicht auf seiner Tagesordnung stand. Selbst als am 12. August 1923 die russlandfreundliche Regierung Cuno unter bürgerkriegsähnlichen Umständen zurücktrat und sich mit dem neuen Kanzler Stresemann an der Spitze einer Großen Koalition eine Westorientierung der deutschen Politik abzeichnete, signalisierte Radek, dass er eine revolutionäre Entwicklung in Deutschland für eine Katastrophe halten würde. Ihm war bewusst, dass eine von Moskau begünstigte Machtergreifung der deutschen Kommunisten einen Krieg mit den Staaten der Entente zur Folge haben könnte. Gegenüber einem Kollegen Gustav Hilgers äußerte er vertraulich: „Im Falle von radikalen Aufständen in Deutschland wird sich Rußland darauf gefaßt machen müssen, französische Truppen an der Beresina zu sehen. Daher sind wir Kommunisten an einem politisch und wirtschaftlich gefestigten Deutschland interessiert. Theoretisch wäre uns eine deutsche kommunistische Regierung höchst erwünscht, aber sie würde von Frankreich sofort zerschmettert werden. Ich habe meinen Genossen in Deutschland gesagt, sie würden den größten Irrtum begehen, wenn sie einen Angriff auf ihr Land passiv hinnehmen würden, anstatt es bis zum letzten Atemzug zu verteidigen.“86

Im Gegensatz zu Radek und Stalin, die die Möglichkeit einer Revolution in Deutschland zurückhaltend beurteilten, bewerteten die im Kaukasus Urlaub machenden Komintern-Führer den Rücktritt Cunos irrtümlich als Anzeichen eines bevorstehenden Zusammenbruchs der Weimarer Republik. Zinov’ev formulierte seine Thesen über „Die Lage in Deutschland und unsere Aufgaben“. Er instruierte am 15. August Moskau, die KPD solle sich auf eine herannahende revolutionäre Krise einrichten, da „ein neues und entscheidendes Kapitel in der Tätigkeit der Kommunistischen Partei Deutschlands seinen Anfang nimmt“.87 In der darauffolgenden Woche brachen die Parteiführer ihren Urlaub ab und reisten in die Hauptstadt zurück. Am 21. August 1923 versammelte sich das Politbüro der RKP(b) im Kreml’ zur Beratung der deutschen Frage88 und beschloss, einen bewaffneten Aufstand in Deutschland, einen „deutschen Oktober“, vorzubereiten. Als Deutschlandexperte der Komintern hinzugezogen, gab Radek eingangs einen optimistischen Bericht über die rasch anschwellende revolutionäre Woge im Reich. Bislang äußerst skeptisch, hatte er angesichts der krisenhaften Zuspitzung der Situation in Deutschland seine Lagebeurteilung überraschend geändert und zählte nun zu den Befürwortern eines „Deutschen 86 Hilger, S. 123. 87 Carr, Edward Hallet: The Interregnum, 1923–1924, London 1954, S. 201. Angress, S. 427. 88 Basierend auf Boris Bažanov (1900-?), dem damaligen persönlichen Sekretär Stalins und späteren Überläufer (1928), wurde diese Sitzung bisher in der Literatur übereinstimmend auf den 23. August datiert. Gestützt auf die nunmehr zugänglichen sowjetischen Quellen, nennt Vatlin (S. 7) den 21. August 1923 als Termin. Mit Ausnahme des todkranken Lenin nahmen alle Politbüromitglieder sowie Radek, Pjatakov und möglicherweise der Stellvertretende Vorsitzende des Rats der Volkskommissare Aleksandr Dmitrievič Cjurupa (1870–1928) als Angehörige des Zentralkomitees an der Beratung teil. Sofern nicht anders vermerkt, beruht die folgende Darstellung auf Vatlin, S. 7f.

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Oktobers“. Jedoch war er anscheinend nicht mit ganzem Herzen bei seinen Ausführungen. Seine vorsichtigen Stellungnahmen zu den deutschen Problemen in den folgenden Wochen ließen auf gewisse Zweifel im Hinblick auf die Chancen einer erfolgreichen Machtergreifung schließen.89 Die übrigen Teilnehmer der Geheimsitzung versuchten einander in linker Radikalität und Schärfe der Formulierungen zu übertreffen. Trockij äußerte begeistert: „Die deutsche Revolution marschiert […]. Merkt ihr nicht, daß es nur eine Frage von Wochen ist?“90 Alle Diskussionsbeiträge betonten die Notwendigkeit der militärischen Hilfe für die deutschen Genossen. Einig war man sich auch darüber, dass eine politische Zusammenarbeit mit den sozialdemokratischen Führern nicht in Frage komme. Umstritten blieb vorerst lediglich Trockijs Vorschlag, ein konkretes Datum für den Aufstand festzusetzen. Man beschloss, eine von Radek geleitete besondere Kommission für die operative Kontrolle der Ereignisse in Deutschland einzusetzen, die ein Programm zur Unterstützung der KPD ausarbeiten sollte. In der Sowjetpresse wurde eine Kampagne zur Solidarität mit dem deutschen Proletariat gestartet. Die Zeitungen waren voll mit Meldungen über die nahende deutsche Revolution. Eine CK-Direktive vom 28. August wies den Propagandaapparat an, der Bevölkerung den Gedanken der Unausweichlichkeit eines Zusammenstoßes der Sowjetunion mit der Entente nahezubringen.91 Im Zuge der psychologischen Vorbereitung von Partei und Öffentlichkeit hielt Radek im Moskauer Sowjet am selben Tage eine Ansprache, in der er die russischen Arbeiter und Soldaten zur Unterstützung des deutschen Proletariats aufrief. Die Teilnehmer der Sitzung, darunter Vertreter der russischen Gewerkschaften und der Roten Armee, nahmen eine dementsprechende Resolution an.92 „Hände weg von Deutschland“ forderte Radek in den „Izvestija“. Er äußerte sich unmissverständlich darüber, wo die „Friedensliebe“ und „Kompromißbereitschaft“ der Sowjetregierung ihre Grenzen hätte, indem er die Nichteinmischung Frankreichs und der Entente bei einem nationalistischen oder kommunistischen Aufstand in Deutschland forderte. Unter Hinweis auf die Bedeutung der deutschen Mittellage für den Ausgang der alliierten Intervention von 1918 hob er hervor, das Eingreifen der Entente hätte seinerzeit auch deshalb abgewehrt werden können, „weil die Alliierten keinen unmittelbaren Zugang durch Deutschland nach Rußland besaßen […].“93 Die westlichen Regierungen warnte er vor einem Eingreifen im Falle revolutionärer Kämpfe in Deutschland:

89 90 91 92 93

Carr, a.a.O., S. 205. Angress, S. 429. Baschanow [Bažanov], S. 57. Vatlin, S. 10. Angress, S. 448f. „Ruki proč’ ot Germanii [Hände weg von Deutschland]“, Leitartikel Radeks in: „Izvestija“ Nr. 195 vom 31. August 1923. Grieser, S. 64f. „Die Rote Fahne“ (Nr. 203) veröffentlichte den Artikel in deutscher Sprache am 2. September 1923.

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„Die Sowjetdiplopmatie wird alles aufbieten, um jeden den es angeht, den Gedanken einzuflößen, daß es für die kapitalistische Welt am besten sein wird, die Entscheidung über das Schicksal Deutschlands den deutschen Volksmassen zu überlassen und nicht das Schwert in die Waagschale der Geschichte zu werfen, weil nicht nur die kapitalistischen Mächte ein Schwert haben, sondern auch der erste proletarische Staat, Sowjetrußland.“94

Den militärischen Vorbereitungen des „Deutschen Oktober“ wurde besonderes Augenmerk gewidmet. In der Roten Armee wurden eiligst deutsche Sprachkurse eingerichtet und Generalstabskarten der westlich an die Sowjetunion angrenzenden Territorien gedruckt. Komsomolzen ließen sich in Freiwilligenlisten für Deutschland eintragen. Durch den Auslandsnachrichtendienst OMS95 der Komintern sollten mehrere hundert Offiziere der Roten Armee – darunter zahlreiche Nichtrussen – als Berater und Führer der Militäreinheiten der deutschen Kommunisten ins Reich entsandt werden. „Mit diesem Offizierskorps als Mittelpunkt wurde das Gerippe einer regulären Armee geplant […]“. Zur Unterstützung der KPD wurde der sowjetische Bürgerkriegsgeneral Skoblevskij-Rose96 nach Berlin entsandt, um von der sowjetischen Botschaft aus, die militärischen Aufstandsvorbereitungen zu organisieren. Er arbeitete unter dem Namen Hellmuth die Mobilisierungs- und Bewaffnungspläne für die deutschen Kommunisten aus. Die Versorgung mit Waffen bereitete allerdings große Schwierigkeiten. Dafür vorgesehene Gelder wurden vom Parteiapparat einfach verschluckt. Radek berichtete später dem Politbüro, „[...] daß die Mittel für den bewaffneten Aufstand nur zur Hälfte verbraucht wurden, aber ¾ dieser Summe wurde nicht bestimmungsgemäß verbraucht, sondern zum Unterhalt der [KPD]Organisation, die fast keine regulären Mittel erhalten hatte.“97 Verantwortlich für die Waffenkäufe war der Komintern-Emissär Samuel Guralski, ein Pole der unter dem Decknamen August Kleine auftrat. Als Mitarbeiter Radeks war er schon 1920 in Deutschland tätig gewesen. 1921 zählte er zu den Initiatoren der missglückten Märzaktion der KPD. Jetzt sandte er phantasievolle Berichte über angebliche Waffenlager der KPD und Zehntausende bewaffneter deutscher Proletarier nach Moskau.

94 „Die Rote Fahne“, Nr. 203 vom 2. September 1923. Angress, S. 447f. 95 OMS = Otdel Meždunarodnych Svjazej (Abteilung für Internationale Verbindungen). 96 Skoblevskij, Pëtr; geboren in Tambov als der Arbeitersohn Voldemar Rudolfovič Rose (1890– 1939); zaristischer Fähnrich; 1919 Divisionskommandeur der Roten Armee (Rotbannerorden); ab Dezember 1922 als Kominternbeauftragter zur Anleitung der illegalen Arbeit der KPD in Deutschland; 1924 in Berlin verhaftet und 1925 vom Reichsgericht wegen Anstiftung zum Mord und Hochverrat als Peter Skoblewski (alias Goreff) zum Tode verurteilt; 1927 gegen drei in der UdSSR inhaftierte Deutsche ausgetauscht; nach seiner Rückkehr übernahm er wieder hohe Kommandeurstellen (2. Rotbannerorden); 1938 verhaftet und als Opfer der Stalinschen Säuberungen 1939 erschossen. 97 Bericht Radeks aus Berlin an das Politbüro der RKP (b) von Anfang November 1923. Vatlin, S. 22, Anm. 14. Von Rauch (S. 223) beziffert die 1923 an die KPD geflossenen sowjetischen Gelder mit über 1 Million US-Dollar.

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Tatsächlich wurden nur etwa 1.000 Gewehre gekauft.98 Unter Radeks Papieren befindet sich der Brief eines Genossen mit dem Vorschlag, Gewehre mit sowjetischen U-Booten nach Deutschland zu transportieren. Ein Projekt, mit dem sich dann der Große Marinestab befasste und das Trockij vorgelegt werden sollte. Es versandete in den Tiefen der russischen Bürokratie.99 Als Ausgangspunkt für die Revolution wurde Sachsen ausersehen. Dort gab es bereits seit Monaten die mit den Kommunisten kooperierende Landesregierung des linken Sozialdemokraten Erich Zeigner100. Er hatte die Bildung von paramilitärischen Formationen der KPD, sogenannten Proletarischen Hundertschaften101, nicht nur geduldet, sondern sogar unterstützt und schien einer Regierungskoalition mit den Kommunisten nicht abgeneigt. In Moskau verfiel man auf die Idee, die KPD solle in das sächsische Kabinett eintreten und von dieser strategischen Position aus die Basis für einen bewaffneten Aufstand schaffen.102 Der von der Komintern-Exekutive beschlossene „Kriegsplan“ sah laut Radek vor: „Das Proletariat marschiert auf in Sachsen, aus der Verteidigung der Arbeiterregierung heraus, in die wir eintreten; und es wird in Sachsen versuchen, die Staatsgewalt auszunutzen, um sich zu bewaffnen, um in diesem engmaschigen proletarischen Bezirk Mitteldeutschlands einen Wall zu bilden zwischen der Südkonterrevolution in Bayern und dem Nordfaschismus. Gleichzeitig wird die Partei im ganzen Reiche eingreifen und die Massen mobilisieren.“103

Radek äußerte sich auch dazu, wie die Mobilisierung der Massen erreicht werden sollte: Generalstreik als Taktik für das erste Stadium der Revolution. Auch müsse man solche Losungen aufstellen, die einen möglichst großen Teil des Kleinbürger-

98 Vatlin, S. 13. 99 Vatlin, S. 8. 100 Zeigner, Erich (1886–1949); linker Sozialdemokrat; 1923 sächsischer Ministerpräsident. 101 Nach kommunistischer Lesart handelte es sich bei den Proletarischen Hundertschaften um „Einheitsfrontorgane“, die unter Führung der KPD seit Februar 1923 als Selbstschutzformationen aufgestellt wurden. „Infolge der Zuspitzung der politischen Krise im Herbst 1923 und der Vorbereitung der Kommunistischen Partei Deutschlands auf den bewaffneten Aufstand wurden die proletarischen Hundertschaften in zunehmendem Maße militärisch organisiert, bewaffnet und ausgebildet. Sie umfaßten je 80 bis 120 Mann und waren in Züge und Gruppen gegliedert. Im Oktober 1923 bestanden über 800 Hundertschaften mit etwa 150.000 Mann, die vor allem in Sachsen und Thüringen, dem Zentrum des geplanten Aufstandes, konzentriert waren.“ Militärlexikon der Nationalen Volksarmee“, Berlin-Ost 1971. 102 Angress, S. 437. 103 Referat Karl Radeks vor dem Präsidium des Erweiterten Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale zur deutschen Frage am 11. Januar 1924, in: Die Lehren der deutschen Ereignisse. Das Präsidium des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale/Januar 1924, S. 5–23; zitiert nach: Möller, S. 258f.

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tums unter die Fahnen der Revolution ziehen.104 Tatsächlich hatte man den Aufstand in zwei Phasen geplant. Im Gefolge einer Agitations- und Streikwelle sollten die Proletarischen Hundertschaften die Schlüsselstellen der Staatsmacht erobern. Dann sollte der Vormarsch von Sachsen aus nach Berlin und von Thüringen aus nach München erfolgen. Um die Frage der deutschen Revolution in ihren Einzelheiten zu besprechen, berief das Präsidium des EKKI eine Konferenz fünf kommunistischer Parteien ein.105 Zu dieser Tagung wurde eine Delegation der KPD-Führer, mit Heinrich Brandler an der Spitze, nach Moskau beordert, die Anfang September dort eintraf und in Erwartung des Konferenzbeginns wochenlang die Zeit untätig verbrachte. Währenddessen trafen die Sowjetführer ihre Absprachen. Das Politbüro beschloss am 13. September als strategische Reserve für die künftige Revolutionsregierung „in kürzester Zeit zehn Millionen Pud Getreide nach Deutschland zu überbringen“.106 Radek prophezeite in einem Leitartikel der „Pravda“, Reichskanzler Stresemann werde die revolutionären Entwicklung im Reich nicht aufhalten können: „[…] Herr Stresemann sieht den Strom der Weltrevolution dahinrauschen. Er sucht ihn mit Finanzdekreten und Polizeiverordnungen aufzuhalten. Er wird es nicht erreichen können.“107 Als am 26. September 1923 die Regierung Stresemann den passiven Widerstand an der Ruhr abbrach und wegen der chaotischen innenpolitischen Verhältnisse im Reich die vollziehende Gewalt der Reichswehr übertragen wurde, glaubten die Sowjetführer, die revolutionäre Situation sei endlich da und ließen auch auf diplomatischer Ebene jegliche Rücksichtnahme gegenüber dem Rapallo-Partner fallen. Einen Tag nach dem Abbruch des Ruhrkampfes erschien Radek bei Botschafter Brockdorff und überbrachte die seit zwei Monaten ausstehende Antwort auf ein militärpolitisches Angebot, das Cuno noch als Reichskanzler Ende Juli 1923 in Berlin dem Chef der sowjetischen Luftstreitkräfte Rosengol’c108 gemacht hatte. Im Kern bestand es in dem Vorschlag, Moskau solle einem Defensivbündnis gegen Polen zustimmen und als Gegenleistung die deutsche Rüstungshilfe auf mehr als 200 Millionen Goldmark aufgestockt werden, falls dem Reich eine Monopolstellung beim Wiederaufbau der sowjetischen Rüstungsindustrie garantiert werde. In unverhüllter Gereiztheit erklärte Radek dem deutschen Botschafter: 104 Gespräch Radeks mit dem Gesandten der Ukraine Leonid Obolenskij in Warschau im Oktober 1923. Bessedowsky [Besedovskij], S. 164. 105 Beschluss des Präsidiums des EKKI vom 28. August 1923. Vatlin, S. 8. 106 Vatlin, S. 7. 107 „Mirovaja revoljucija i g. Strezeman [Die Weltrevolution und Herr Stresemann]“, Leitartikel Radeks in: „Pravda“ Nr. 206 vom 13. September 1923. Der Artikel erschien am 16. September 1923 auch in der „Roten Fahne“ mit der Überschrift: Die Weltrevolution und Herr Stresemann – „Du sagst es!“ Jesus an Judas beim Nachtmahle. Grieser, S. 67. 108 Rosengol’c, Arkadij Pavlovič, (1889–1938); Schwager Trockijs; 1923 Chef der Hauptverwaltung der sowjetischen Luftstreitkräfte; traf sich während seines Deutschlandbesuches im Sommer 1923 in der Nacht zum 31. Juli in der Berliner Privatwohnung Brockdorffs mit Reichskanzler Cuno.

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„Sie können uns nicht zumuten , daß wir uns für die lumpigen Millionen, die Sie bieten, einseitig politisch binden, und was das Monopol betrifft, das Sie für die deutsche Industrie in Anspruch nehmen, so denken wir nicht entfernt daran, uns darauf einzulassen; im Gegenteil, wir nehmen alles, was wir militärisch brauchen können, wo wir es finden. So haben wir in Frankreich Flugzeuge gekauft und werden auch von England liefern lassen.“109

Die geharnischte Antwort der Sowjetregierung war ein Indiz dafür, dass die Würfel in Moskau endgültig gefallen waren. Von der hinhaltenden Tolerierung Cunos war man zur revolutionären Offensive gegen Stresemann übergangen.110 Als vorgeblicher Sachwalter nationaler Belange konnte die KPD jetzt leicht gegen die vor Frankreich kapitulierende deutsche Regierung agieren und wurde von Moskau energisch zum revolutionären Kampf vorgedrängt. Radek meinte, die Aufgabe des passiven Widerstandes bringe dem Kabinett Stresemann zwar außenpolitisch eine Atempause von einigen Monaten, aber im Innern könnte der Konflikt zwischen Bayern und dem Reich den Kampf des deutschen Proletariats gegen die Regierung beschleunigen.111 Er bezog sich auf den in Bayern am 26. September 1923 durch die Verhängung des Ausnahmezustandes und die Einsetzung des Generalstaatskommissars von Kahr vollzogenen Rechtsruck. Die Regierung Stresemann habe sich mit dem „Umsturz“ in Bayern einverstanden erklärt, da sie zu schwach sei, um gegen die Rechtsextremisten in Bayern direkt vorzugehen. Um aber von Ludendorff und Hitler nicht unter Druck gesetzt zu werden, versuche Berlin gegen die „Faschisten“ die bayerischen Separatisten unter der Führung von Gustav Ritter von Kahr auszuspielen. Zwar sei Kahr ein offener Gegner der demokratischen Reichsregierung, zugleich aber als Separatist ein Gegner der großdeutschen Faschisten vom Typus Ludendorff oder Hitler. Das wolle die Reichsregierung, deren Aufgabe die Wahrung der Reichseinheit sei, ausnutzen. Die Tatsache, dass sie sich auf Separatisten stützen müsse, um die Rechtsextremisten zu bändigen, offenbare ihre Schwäche. Nachdem Berlin keine Einwände gegen die Errichtung der rechten Diktatur Kahrs in Bayern erhoben hätte, könnten nun die sächsischen Arbeiter mit gleichem Recht von der Regierung die Zustimmung zu einer roten Diktatur fordern. Radek bewertete die Ohnmacht der Weimarer Regierung und die inneren Konflikte im „Lager der Gegenrevolution“ als große Chancen für den Erfolg der deutschen Revolution.112 Aber auch angesichts seines Gespürs 109 Walsdorf, Martin: Westorientierung und Ostpolitik. Stresemanns Rußlandpolitik in der LocarnoÄra, Bremen 1971, S. 76f. Zeidler, S. 77f. Vgl. auch Helbig, S. 157 (Aufzeichnung Brockdorffs vom 20. Februar 1924). 110 Zeidler, S. 76ff. und S. 84. 111 „Kapituljacija Germanii i fašistskij perevorot v Bavarii [Die Kapitulation Deutschlands und der faschistische Umsturz in Bayern]“, Leitartikel Radeks in „Pravda“ vom 28. September 1923. Grieser, S. 71. 112 Kapituljacija Germanii i fašistskij perevorot v Bavarii [Die Kapitulation Deutschlands und der faschistische Umsturz in Bayern]“, a.a.O.; zitiert nach Abdruck in „Inprekorr“ Nr. 158 vom 8.Oktober 1923, S. 1351. Luks, S. 74.

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für die unterschiedlichen Zielsetzungen der bürgerlichen und rechtsextremen Gruppierungen unterschätzte Radek die Stärke und Kampfentschlossenheit der Regierung Stresemann. Seine Beurteilung der Kräfteverhältnisse sowie seine allgemeinen Schlussfolgerungen erwiesen sich als unzutreffend, urteilt Leonid Luks und macht darauf aufmerksam: „Auch die Folgen, welche der Konflikt zwischen der Weimarer Regierung und den Rechtsextremisten für das ,rote‘ Mitteldeutschland haben sollte, wurden von Radek falsch prognostiziert. Für die Arbeiterregierungen in Sachsen und in Thüringen sollte dieser Konflikt keineswegs Vorteile, sondern im Gegenteil zusätzliche Gefahren mit sich bringen; denn die Rechtsextremisten bekämpften die Weimarer Regierung mit dem Argument, sie sei handlungsunfähig und unternehme nichts gegen die kommunistische Machteroberung in Mitteldeutschland. Um dieses Argument Ludendorff und Hitler aus der Hand zu nehmen, mußten Stresemann und Seeckt schnell handeln.“113

Am Tage nach der Veröffentlichung seiner Analyse der Ereignisse in Bayern bewertete Radek in der „Pravda“ die Einstellung des Ruhrkampfes als die „Kapitulation der deutschen Bourgeoisie“ und verkündete zugleich, das deutsche Bürgertum sei jetzt dem Untergang geweiht. In der Person Stresemanns habe die ganze deutsche Bourgeoisie ihre Bankrotterklärung abgegeben. Die eigentliche Bedeutung der Vorgänge in Deutschland liege aber darin, dass die deutschen herrschenden Klassen aufgehört hätten, die Hauptfunktion der herrschenden Klassen zu erfüllen – die nationale Einheit und Unabhängigkeit ihres Landes zu sichern. Aus diesem Grunde seien sie zum Tode verurteilt. Er kündigte die Rache des deutschen Volkes an den Siegermächten an und bediente sich dabei des Wortgebrauchs der deutschen Nationalisten: „Herr Clemenceau sagte, es gebe etwa zwanzig Millionen Deutsche mehr als nötig. Bevor aber diese zwanzig Millionen deutsche Proletarier, deutsche Kleinbürger vernichtet werden, werden sie die Grundlage der Welt erschüttern und es steht noch nicht fest, wer vernichtet wird.“ Es sei zwar noch ungewiss, wann die deutsche Revolution komme, aber die Arbeiterklasse werde siegen, wenn sie den Klassenkampf mit dem Kampf um die nationale Befreiung programmatisch zu verbinden wisse.114 Am 1. Oktober ordnete die Komintern telegraphisch den Eintritt von Kommunisten in die linkssozialistischen Landesregierungen von Sachsen und Thüringen sowie die sofortige Bewaffnung von 50.000 bis 60.000 Mann an.115 In der „Pravda“ 113 Luks, S. 74 114 „Kapituljacja germanskoj buržuazii [Die Kapitulation der deutschen Bourgeoisie]“, Leitartikel Radeks in: „Pravda“ Nr. 220 vom 29. September 1923; zitiert nach Grieser, S. 70 und Luks, S. 73. 115 Telegraphisch an die KPD übermittelte Direktive Zinov’evs vom 1. Oktober 1923: „Da wir die Lage so einschätzen, daß der entscheidende Moment nicht später als in vier, fünf, sechs Wochen kommt, so halten wir es für notwendig, jede Position, die unmittelbar nützen kann, sofort zu besetzen. Aufgrund der Lage glauben wir, bei gegebener Lage muß man die Frage unseres Eintretens in die sächsische Regierung praktisch stellen. Unter der Bedingung, daß die ZeignerLeute bereit sind, Sachsen wirklich gegen Bayern und die Faschisten zu verteidigen, müssen wir

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spekulierte Radek darüber, wie sich die Lage entwickeln könnte, sollte Poincaré im Falle einer kommunistischen Erhebung in Deutschland militärisch eingreifen. Im ungünstigsten Fall würde Frankreich dann Süddeutschland besetzen, Polen Ostdeutschland okkupieren und die Tschechoslowakei Mitteldeutschland nehmen. Bei einer deutschen Revolution würde demnach zunächst nur ein rotes Norddeutschland verbleiben, das dann aber auch noch überrannt werden könnte. Hier müsste nach den russischen Erfahrungen von 1918 der Umschwung einsetzen: Die französische Armee werde durch Propaganda zersetzt, denn viele Deutsche beherrschten die französische Sprache; Hunderttausende von Partisanen würden die langen französischen Nachschublinien unterbrechen; die französische Bevölkerung werde bei der nächsten Wahl ihre Stimme der KPF geben und England werde nicht nur nicht helfen, sondern sich über den französischen Misserfolg freuen. Daraus folge, die deutsche Revolution wird siegen und könne sich auch ohne Intervention der Sowjetunion durchsetzen und behaupten.116 Die letzten Entscheidungen über den kommunistischen Umsturzversuch in Deutschland fielen in der Politbürositzung am 4. Oktober. Kurz zuvor hatte Radek an Trockij geschrieben, dass er mit der „Festsetzung des Termins der Revolution“ auf den 9. November einverstanden sei und damit als letzter Sowjetführer in dieser Frage nachgegeben. Trockijs Vorschlag, den bewaffneten Aufstand am 5. Jahrestag der deutschen Revolution von 1918 zu beginnen, war nunmehr allseits akzeptiert. Allerdings warnte Radek davor, in Deutschland die Revolutionserfahrungen der Bol’ševiki blind zu kopieren. Es sei wichtig, den Augenblick zu wählen, „wenn die ungeordnete Bewegung des Proletariats mit dem organisierten Vorgehen der Kampfkräfte der Partei“ zusammenfalle.117 Das Politbüro entschied, die Frage nach dem Brot für Deutschland zu vertagen.118 Den zentralen Punkt des Politbüroschlusses bildete die Entscheidung über die Entsendung einer „Četvërka [Viergespann] von Genossen“ zur operativen Leitung des Aufstands in Deutschland. Die personelle Besetzung dieses Gremiums reflektierte den Fraktionskampf im Politbüro um die Nachfolge Lenins. Eine Nominierung Trockijs, die dieser selbst wünschte und die Brandler – möglicherweise von Radek dazu inspiriert – angeregt hatte, schied aus. Es sollte verhindert werden, dass der Kriegskommissar im Falle einer siegreichen Revolution als unumstrittener Erbe Lenins zurückkehren würde. Andererseits wollte man eintreten. Sofort Bewaffnung von 50.000 bis 60.000 wirklich durchführen, den General Müller [Reichswehrbefehlshaber und Inhaber der vollziehenden Gewalt in Sachsen] ignorieren. Dasselbe in Thüringen.“ Michaelis/Schraepeler, Band V, S. 505. 116 „Imperialističeskaja Francija i perspektivy razvitija Germanii [Das imperialistische Frankreich und die Perspektiven der Entwicklung in Deutschland]“, Leitartikel Radeks, in: „Pravda“ Nr. 222 vom 2. Oktober 1923. Grieser, S. 67f. 117 Brief Radeks an Trockij vom 1. Oktober 1923. Vatlin, S.8. 118 Die im Septemberbeschluss erwähnten 10 Millionen Pud Getreide waren zum Teil bereits nach Deutschland transportiert worden, die Sowjetführung zeigte aber keine Eile mit der Auslieferung an die sächsische Linksregierung Zeigner. Brandler warf deshalb am 14. Oktober der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin „Sabotage der deutschen Revolution“ vor. Vatlin, S. 13.

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das mögliche Fiasko eines Aufstands mit Zinov’ev an der Spitze nicht riskieren, da dessen Führungsschwäche kein Geheimnis war und seine Niederlage eine Stärkung Trockijs bedeutet hätte. Stalinsche Umsicht sprach aus der Begründung, weshalb man keinen dieser ranghöchsten Parteiführer mit der Führung der Revolution vor Ort betrauen könnte: „Das Politbüro ist der Meinung, daß eine Entsendung der Gen[ossen]. Trockij und Zinov’ev nach Deutschland in diesem Augenblick absolut unmöglich ist […]. Eine mögliche Verhaftung der erwähnten Genossen in Deutschland würde der internationalen Politik der UdSSR und der deutschen Revolution unermeßlichen Schaden zufügen.“

Es wurde beschlossen, die Mitglieder der im August mit der Vorbereitung des Aufstandes beauftragten besonderen Kommission als „Četvërka“ nach Deutschland zu entsenden. Die Stellung Radeks in diesem Viergespann als die eines Hauptbevollmächtigten der Komintern verstand sich von selbst. Der zweite Mann im Team war Jurij Pjatakov. Wie Radek ein Anhänger Trockijs, hatte der altgediente Revolutionär und Stellvertretende Vorsitzende des Obersten Volkswirtschaftsrats sich bislang nicht an den Komintern-Aktivitäten beteiligt. Er sollte nun für die Agitation und die Verbindung mit Moskau zuständig sein. Seine Benennung lässt sich nur durch die Fraktionsinteressen des Politbüros erklären. Aus Berlin teilte er bald darauf seine „Hilflosigkeit“ in deutschen Angelegenheiten mit: „Die erste Zeit fühlte ich mich wie ein Fisch auf dem Trockenen.“119 Zur Kontrolle Radeks und Pjatakovs wurde als Kreatur Stalins dem Viergespann zunächst Valerian Kujbyšev120 zugeordnet, die Gründe für seine Ernennung waren jedoch so durchsichtig, dass Zinov’ev sich genötigt sah, diese Entscheidung revidieren zu lassen. Mit ähnlichen Vollmachten wie Kujbyšev versehen, fuhr an seiner Stelle der Volkskommissar für Arbeit, Vasilij Šmidt121, nach Deutschland. Der vierte im Bunde war der Berliner Sowjetbotschafter Krestinskij, der als Parteigänger Trockijs bereits ins diplomatische Exil nach Berlin geschickt worden war. Sieht man von Šmidt ab, befand sich die Leitung des „Deutschen Oktober“ damit in den Händen der engsten Anhänger Trockijs. Mit diesen Personalentscheidungen war es Stalin und Zinov’ev gelungen, die Entsendung Trockijs nach Deutschland zu blockieren und ihn darüberhinaus im innenpolitischen Kampf um die Nachfolge Lenins durch die Entfernung seiner engsten Verbündeten aus Moskau zu isolieren. Noch am Tage der Politbürositzung informierte Zinov’ev die seit Anfang September in Moskau versammelten KPD-Führer und die weiteren Teilnehmer der Komin119 Brief Pjatakovs an Stalin vom 1. November 1923. Vatlin, S.10. 120 Kujbyšev, Valerian Vladimirovič (1888–1935); Altbolschewik; 1922 CK-Mitglied und zusammen mit Molotov persönlicher Gehilfe des neuen Generalsekretärs der Partei, Stalin; 1923 Vorsitzender der Zentralen Parteikontrollkommission. Später als Wirtschaftspolitiker bei Stalin in Ungnade gefallen; 1935 plötzlicher Herztod. 121 Šmidt, Vasilij Vladimirovič (1886–1940); sowjetischer Gewerkschafts- und Wirtschaftsfunktionär; 1918–1928 Volkskommissar für Arbeit.

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tern-Konferenz der fünf Kommunistischen Parteien über die von der Sowjetführung getroffenen aktuellen Entscheidungen. Der KPD-Vorsitzende Heinrich Brandler, anfänglich den sowjetischen Aufstandsplanungen eher skeptisch gegenüberstehend, hatte mittlerweile seine Befürchtungen beiseitegeschoben und sich von dem Optimismus und der Revolutionsbegeisterung der bolschewistischen Führer anstecken lassen. Am 9. oder 10. Oktober reiste er aus der sowjetischen Hauptstadt ab, von Trockij verabschiedet und voller Zuversicht auf das Gelingen der deutschen Oktoberrevolution. Entsprechend der Moskauer Aufstandsplanung traten am 10. Oktober die führenden sächsischen Kommunisten Paul Böttcher122 als Finanzminister und Fritz Heckert als Wirtschaftsminister in die Dresdener Regierung Zeigner ein. Brandler übernahm als Ministerialdirektor die Staatskanzlei und erfuhr von seiner Ernennung noch auf der Rückreise aus einer in Warschau gekauften Zeitung. Ministerpräsident Dr. Erich Zeigner, der sich aus Sorge vor einem Staatsstreich von rechts mit den Kommunisten verbunden hatte, bezeichnete seine neue Regierung stolz als die „Regierung der republikanischen und proletarischen Verteidigung.“123 Er erwies sich als ein im Sinne Lenins „nützlicher Idiot“, der die Verstärkung der „Proletarischen Hundertschaften“ tolerierte, sie der Polizei unterstellte und dadurch unwissentlich die kommunistischen Aufstandsvorbereitungen förderte. In Thüringen gingen die Sozialdemokraten am 16. Oktober ebenfalls eine Koalition mit den Kommunisten ein. Im Regierungsprogramm wurde „die Unterstützung der Maßnahmen zur Abwehr der Reaktion und der Militärdiktatur in engster Verbindung mit der sächsischen sozialdemokratisch-kommunistischen Regierung“ festgeschrieben.124 In Moskau rückte das Thema der deutschen Revolution in den Hintergrund, als sich die Auseinandersetzungen in der Parteispitze verschärften. Die Trojka Stalin, Zinov’ev, Kamenev, die Trockij und seine Anhänger aus der Parteiführung verdrängen wollte, sah sich plötzlich scharfer Kritik ausgesetzt. In einem offenen Brief an das CK warf Trockij den Triumvirn am 8. Oktober vor, sie bauten einen ebenso gigantischen wie schwerfälligen Machtapparat auf, der – so der Hauptanklagepunkt – der Partei nicht diene, sondern sie beherrsche. Dieser Vorstoß gegen die wachsende Bürokratisierung des Parteiapparats löste das Aufbegehren einer linken Oppositionsgruppe in der Partei gegen Stalin aus. 46 prominente Kommunisten, darunter auch Pjatakov, legten am 15. Oktober dem Politbüro eine Erklärung vor, in der sie angesichts der „Wirtschaftskrise in Sowjetrußland“ und der durch die „Fraktionsdiktatur in der Partei“ hervorgerufenen Führungskrise wirkungsvolle Maßnahmen verlangten, die eine freie innerparteiliche Meinungsbildung ermöglichten. Die Politik des Zentralkomitees, hieß es, sei verfehlt und führe das Land und die Partei dem Untergang

122 Böttcher, Paul Herbert (1891–1975), KPD-Redakteur; ab Februar 1921 Chefredakteur der „Roten „Fahne“; im Oktober 1923 Finanzminister in der sächsischen Regierung Zeigner; 1929 Parteiausschluss. 123 Regierungserklärung des Kabinetts Zeigner, in: Michaelis/ Schraepeler, Band V, S. 484. 124 Ebenda, S. 485.

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entgegen. Radek hatte die „Erklärung der Sechsundvierzig“ nicht unterschrieben.125 Aber mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung in Parteiintrigen und Fraktionskämpfen war ihm bewusst, dass die Konfrontation Trockijs mit den Triumvirn den Rahmen einer persönlichen Fehde überstieg. Vom Ausgang des Konflikts hing nicht nur das Schicksal Trockijs und seiner Anhänger ab, sondern auch das des Sowjetregimes. Am 16. Oktober brachte er zur Unterstützung Trockijs einen Brief an das Politbüro zu Papier, der alle anderen Äußerungen der Opposition an Schärfe übertraf: „Die Krise der Partei hätte unter anderen Bedingungen keine tödliche Gefahr für die Partei bedeutet, jetzt aber bedeutet sie eine tödliche Niederlage für Sowjetrußland und die deutsche Revolution“, schrieb er und forderte das Politbüro auf, die innerparteiliche Auseinandersetzung zu beenden, den Ausgleich mit Trockij zu suchen und ihn – da er wieder einmal seinen Rücktritt als Kriegskommissar erklärt hatte – zum Vorsitzenden des Rates der Kriegsindustrie zu ernennen. Ultimativ formulierte er: „Ich erkläre dem Politbüro: Falls es nicht gelingen sollte, den Zwist auf das Politbüro, schlimmstenfalls auf das ZK zu lokalisieren, falls die Gefahr droht, daß er publik wird, so werde ich mich an die führenden Genossen der westeuropäischen kommunistischen Parteien wenden mit der Forderung ihrer sofortigen Einmischung mit dem Ziel, […] diesem Irrsinn ein Ende zu bereiten […]. Falls das russische ZK nicht imstande ist, durch innerparteiliche Disziplin und durch eine Politik der notwendigen Zugeständnisse dem fatalen Konflikt zu entgehen, verzichtet es auf seine führende Rolle in der Komintern. Falls das so ist, haben unsere westeuropäischen Bruderparteien das Recht und die Pflicht, sich einzumischen, ebenso wie die russische Partei sich in ihre Angelegenheiten eingemischt hat. Ich bin überzeugt, daß keines der Mitglieder des ZK mir das Recht absprechen wird, dies zu tun, weil es eine Verneinung der Internationale bedeuten würde.“126

Dieser Brief stellte eine unerhörte Herausforderung des Politbüros dar. Eine Antwort wartete Radek nicht ab. Er machte sich auf den Weg nach Deutschland, um dort auftragsgemäß die Revolution zu organisieren.127 Begleitet wurde er von seiner neuen Geliebten Larisa Rejsner128. Radek hatte die Achtundzwanzigjährige erst kurz 125 Die nachstehenden Ausführungen dieses Abschnitts folgen Vatlin, S. 11f. 126 Zitiert nach Vatlin, S. 11f. 127 Radek hielt sich allerdings noch in Moskau auf, als deutsche Zeitungen Mitte Oktober bereits berichteten, er sei mit sechs Begleitern in Berlin eingetroffen. Botschafter Brockdorff telegraphierte am 16. Oktober 1923 dem Auswärtigen Amt, die Presseberichte seien „aus der Luft gegriffen”. Radek sei noch vor zwei Wochen mit Professor Hoetzsch aus Berlin zusammengetroffen, habe vor einer Woche auf einer Landwirtschaftsausstellung eine lange Rede gehalten und gestern [15. Oktober] persönlich mit Botschaftsbeamten gesprochen. Angress, S. 479, Anm. 55. Auch am 16. Oktober 1923 hielt sich Radek noch in Moskau auf und verfasste den oben erwähnten Brief an das Politbüro. 128 Rejsner, Larisa Michajlovna (1895–1926); russische Revolutionärin, Schriftstellerin und Journalistin; 1923–1926 die Geliebte Radeks. Ihre Schriften (Berichte und Reportagen): „Die Front (1918–1919)“, Thema: Die Kämpfe der Volga-Flottille im Bürgerkrieg; „Afghanistan (1920)“; „Kohle, Eisen und lebendige Menschen (1923)“, Thema: Der Aufbau der Industrie in Sowjet-

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zuvor im September 1923 kennengelernt, als sie ihn mit der Bitte aufgesucht hatte, ihr zu einer Reise nach Deutschland zu verhelfen. Sie wollte als Journalistin über die deutsche Revolution berichten. Die aus einer mit dem Bolschewismus sympathisierenden polnischen Professorenfamilie kommende höhere Tochter, hatte sich nach der Oktoberrevolution in Petrograd den Bol’ševiki angeschlossen, kurze Zeit für Volksbildungskommissar Lunačarskij gearbeitet und sich durch Mut und Tapferkeit auszeichnend, als Politische Kommissarin 1918/19 an den Kämpfen der roten Volga-Kaspisee-Flottille gegen die Weißen teilgenommen. Mit dem Kommandeur der Flottille, Fëdor Raskol’nikov129, verheiratet, folgte sie ihrem Mann nach Kabul, als er 1921 zum Sowjetgesandten in Afghanistan ernannt wurde. Sie verließ ihn, als sein Stern zu sinken begann. 1923 nach Sowjetrussland zurückgekehrt, begann sie, ihre Erlebnisse im Bürgerkrieg und in Afghanistan schriftstellerisch zu verwerten. Die junge, hochbegabte, ehrgeizige und sehr attraktive Frau war eine der fesselndsten Erscheinungen der russischen Revolution und soll Radek im Handstreich erobert haben.130 Nach ihrem frühen Tod hielt Radek in schwärmerischem Ton fest, wie sehr ihn die erste Begegnung mit Larisa und ihr Wunsch nach Deutschland zu gehen, am Vorabend des „Deutschen Oktober“ beeindruckt hatten: „Es war nach dem Cuno-Streik, als auf einmal hunderttausende Proletarier Deutschlands wieder an ihren Ketten zu rütteln begannen. Poincaré stand an der Ruhr, die Mark sauste in den Abgrund, und mit angehaltenem Atem erwartete das russische Proletariat die kommenden Dinge in Deutschland. Larissa wollte dorthin, um mitkämpfend in den Reihen der deutschen Proletarier ihre Kämpfe den russischen Arbeitern näherzubringen. Ihr Vorschlag erfreute mich sehr. Denn wie die deutschen Proleten sich kein Bild von dem machen können, was in Rußland vorgeht, so haben die russischen Arbeiter nur ein schematisches Bild von den Kämpfen des deutschen Proletariats. Ich war überzeugt, daß niemand besser als Larissa imstande sei, die Verbindung zwischen den beiden Proletarier-Armeen herzustellen, denn sie war nicht Künstler-Zuschauer, sondern Kämpfer und Künstler.“131 russland; „Im Lande Hindenburgs (1924)“, Thema: Reportagen aus Deutschland; „Hamburg auf den Barrikaden“, Thema: Der Hamburger Aufstand 1923. Deutsche Erstausgaben: „Oktober“ (ausgewählte Schriften) Berlin 1927 und „Hamburg auf den Barrikaden“, Berlin 1925. Reprint: Larissa Reissner, Oktober, Ausgewählte Schriften, herausgegeben und eingeleitet von Karl Radek, Königstein/Taunus, 1979. 129 Raskol’nikov, Fëdor Fëdorovič, Pseudonym von F. F. Il’in (1892–1939); Altbolschewik; Marineoffizier und Schriftsteller; im Bürgerkrieg Flottenbefehlshaber; 1921–1923 Gesandter in Afghanistan; später Komintern-Funktionär und Sowjetdiplomat; brach 1939 mit Stalin und setzte sich nach Frankreich ab; 1939 Tod unter dubiosen Umständen. 130 Vgl. Meyer-Leviné, S.169f.; Radek, Rejsner, Larisa Michajlovna, [Biographischer Beitrag] in: Dejateli SSSR i Oktojabr’skoj Revoljucii, Sp. 193–197; Reissner [Rejsner], Oktober (Einleitung von Karl Radek), S. XI–S. XXIX; Wassiljewa [Vasileva], Die Legende der Larissa Reissner; in: KremlFrauen, S. 90–96. 131 Radek, Einleitung zu: Reissner, Oktober, S. XXf.

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Weniger blumig formuliert: Larisa sollte aus Deutschland über den dort nach Moskauer Auffassung heranreifenden Bürgerkrieg berichten und nach der in Dresden erwarteten kommunistischen Machtübernahme offiziell als Radeks persönliche Adjutantin und weiblicher „Verbindungsoffizier“ der Komintern zur KPD-Zentrale fungieren.132 Auf der Fahrt nach Deutschland machten Radek und Larisa in Warschau Station. Mit ihnen reiste ein Mitarbeiter des sowjetischen Militärgeheimdienstes. Larisa war mit dem Pass einer spanischen Journalistin versehen worden, obwohl sie kein Wort Spanisch sprach. Sie scherzte darüber und redete den Sowjetgesandten in Polen Obolenskij wegen dessen adliger Abkunft fortwährend mit „Grande“ an.133 Auch Radek benutzte einen falschen Pass und war, wie immer wenn er in geheimer Mission unterwegs war, glattrasiert.134 Er versuchte jedoch keineswegs, seine Anwesenheit in der polnischen Hauptstadt zu verheimlichen. Er habe schon an der Grenze bemerkt, dass er beobachtet werde, meinte er, deshalb sei „eine Geheimhaltung einfach eine Dummheit“. Er zeigte sich ganz offen, traf sich mit polnischen KP-Führern135, spazierte in den Straßen herum, ging ins Theater und besuchte ein bekanntes Restaurant, um das polnische Nationalgericht Flaki [Kutteln] zu essen.136 Fraglich bleibt, ob er während seines Aufenthalts Geheimgespräche mit polnischen Regierungsvertretern geführt hat, in denen er Polen, für den Fall seines Stillhaltens bei einer deutschen Revolution, freie Hand in Ostpreußen angeboten hat.137 Grigorij Besedovskij138, damals Erster Sekretär der Sowjetgesandtschaft in Warschau berichtet, Radek habe erzählt, dass er bereits v o r seiner Abreise mit Wissen des Politbüros eine lange Unterredung mit dem polnischen Gesandten in Moskau hatte, „über die Bedingungen einer ,freundlichen‘ Stellungnahme Polens zur Verbindung SowjetRußlands mit Sowjet-Deutschland über polnisches Gebiet.“ Dabei habe er „sehr vorsichtig“ den Gedanken aufgeworfen, „daß Polen als Lohn für die ,Freundschaft‘ 132 Radek, [Biographischer Beitrag] Rejsner, Larisa Michajlovna, in: Dejateli SSSR i Oktojabr’skoj Revoljucii, Sp. 195. 133 Der Gesandte der Ukraine Leonid Obolenskij entstammte dem gleichnamigen russischen Fürstenhaus; „Grande“ [Erhabenheit] war bis 1931 der Titel auf den der spanische Höchstadel Anspruch hatte. 134 Bessedowsky [Besedovskij], S. 161f. 135 Mutmaßlich hat er bei dieser Gelegenheit seine Minen im innersowjetischen Fraktionskampf gelegt und seine alten polnischen Genossen im Sinne seines Ultimatums an das Politbüro der RKP(b) beeinflusst. Augenscheinlich nicht ohne mittelfristigen Erfolg. Das Plenum des CK der Kommunistischen Partei Polens am 23. Dezember 1923 verurteilte die Bestrebungen, die deutsche Niederlage zur Diskreditierung der Politik der Einheitsfront zu benutzen und betonte gleichzeitig: „Wir lassen die Möglichkeit, daß der Gen[osse]. Trockij außerhalb der Reihen der Führer der RKP und Komintern gerät, nicht zu.“ Vatlin, S. 18. 136 Bessedowsky [Besedovskij], S. 167. 137 Carr, The Interregnum 1923–1924, London 1954, S. 218 f. Lerner, S. 125. 138 Besedovskij, Grigorij (1896–1949?); bolschewistischer Diplomat, Kominternagent und Geheimdienstoffizier; floh als erster bedeutender sowjetischer Überläufer 1929 nach Paris.

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Bewegungsfreiheit in Ostpreußen erhalten könnte.“ Sein Eindruck sei, dass der Pole „angebissen“ hätte und Viktor Kopp demnächst in Warschau weitere Verhandlungen in dieser Richtung führen könnte.139 Es ist nicht auszuschließen, dass das sowjetische Angebot, Polen im Gegenzug zu Transitrechten und zur Anerkennung einer kommunistischen Regierung in Berlin Handlungsfreiheit in Ostpreußen einzuräumen, lediglich ein Köder war, um es von einem schnellen Vorgehen gegen das Reich abzuhalten, bis sich dort die Revolution durchgesetzt hatte.140 Die tatsächliche russische Interessenlage war von Radek bereits Anfang September 1923 beschrieben worden. Unter Bezugnahme auf angeblich bestehende englisch-polnische Pläne, auch unabhängig vom Ausbruch einer Revolution in Deutschland, die deutschen Seehäfen und einen Teil Ostpreußens zu besetzen, hatte er geschrieben, ein polnisches Ostpreußen berühre russische Interessen, weil dadurch die Verbindung zum bürgerlichen und gegebenenfalls auch kommunistischen Deutschland verlorengehen würde.141 Im Gespräch mit Obolenskij, der mit Krestinskij befreundet war, machte Radek aus seinem Herzen keine Mördergrube als er verschiedene ihn bewegende Aspekte des „Deutschen Oktober“ aufgriff. Die Hauptaufgabe, so sagte er, sei es, einen Schlag gegen die Sozialdemokratie zu führen und dann das Kleinbürgertum zu gewinnen: „Die deutsche Sozialdemokratie ist für uns viel gefährlicher als die Nationalisten, da sie uns die Arbeitermassen wegnimmt, ohne die wir in Deutschland die revolutionäre Bewegung nicht in Gang bringen können. Die Nationalisten werden eine positive Rolle spielen. Sie werden große Massen mobilisieren und sie zusammen mit den ersten rotgardistischen Truppen des deutschen Proletariats gegen den ,französischen Imperialismus‘ an den Rhein werfen. Im Verlauf dieses Revolutionskrieges wird es zu einer Linkseinstellung der kleinen deutschen Bourgeoisie kommen. Ihr größter Teil wird schließlich zu uns übergehen, während der kleinere die deutsche ,Vendée‘142 bilden wird. Doch die größere Gefahr liegt nicht in dieser ,Vendée‘, sondern im Einfluß der Sozialdemokraten auf die Arbeitermassen, der uns nicht erlaubt scharfe, innerhalb der Klassen genau durchgearbeitete Richtlinien für die Entwicklung der Revolution zu geben.“143

Er äußerte „schwere Bedenken“ im Hinblick auf die revolutionäre Eignung der KPD. Die Parteileitung könnte sich als zu schwach erweisen, um die wachsende revolutionäre Stimmung im deutschen Proletariat zielorientiert auszunutzen und schlagkräftige Aktionen zu organisieren. Auch habe er den Eindruck, dass man in 139 Bessedowsky [Besedovskij], S. 163. 140 Carr, The Interregnum, a.a.O. 141 „Ugroza intervencii dlja Germanii [Interventionsgefahr für Deutschland]“, Leitartikel Radeks in: „Izvestija“ Nr. 198 vom 4. September 1923. Grieser, S. 65. 142 Vendée: Synonym für Konterrevolution. Während der Französischen Revolution erhob sich 1793–1796 die royalistisch gesinnte Bevölkerung der westfranzösischen Vendée gegen die republikanische Regierung. 143 Bessedowsky [Besedovskij], S. 164f.

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Moskau dazu tendiere, jede Revolution nach dem Muster der russischen zu behandeln und deshalb unfähig sein werde, für Deutschland brauchbare Direktiven zu erteilen. Besondere Kopfschmerzen würde es ihm jedoch bereiten, dass die KPD eines fähigen charismatischen Führers entbehre144: „Die deutschen Arbeiter brauchen Führer wie Liebknecht, gerade wie Liebknecht und nicht wie Rosa Luxemburg mit ihren schwachen Nerven, welche im Jahre 1918 vor dem Massenterror in Rußland Angst bekommen hatte und in ihren Briefen über die Schrecken des russischen Bolschewismus geschrieben hat. Aber Liebknechts erscheinen nicht auf Befehl. Sie werden einmal in zehn Jahren geboren. Die Bourgeoisie fand den für die Revolution allerschmerzlichsten Schlag, indem sie Liebknecht ermordete. Sie raubte der deutschen Revolution ihren angeborenen Führer […]. Das, was wir jetzt in Deutschland an Führern der kommunistischen Partei haben, ist miserabler Schund. Alle diese Brandler, Thalheimer, die reellsten und tüchtigsten Führer taugen gar nichts.“

Mit ahnungsvoller Skepsis fügte er hinzu: „Die ganze Arbeit wird der Bevollmächtigte der Komintern auf seinen eigenen Schultern tragen müssen. Er muß auch die ganze Verantwortung für den Mißerfolg, der fast bestimmt vorauszusehen ist, auf sich nehmen.“145 Noch bevor Radek und Larisa Rejsner von Warschau über Prag nach Dresden weiterreisten, hatte sich die politische Entwicklung in Sachsen unerwartet schnell verschärft.146 Berlin, das die vollziehende Gewalt im Reich seit Ende September Reichswehrminister Gessler147 übertragen hatte, betrachtete das Anwachsen des Linksradikalismus in Mitteldeutschland mit wachsender Sorge. Als die KPD die Parteimitglieder in Sachsen dazu aufrief, sich aller verfügbarer Waffen zu bemächtigen und verkündete, es gehe jetzt ums Ganze, forderte der territorial zuständige Befehlshaber des Wehrkreiskommandos IV, General Müller148, die sächsische Landesregierung ultimativ dazu auf, die Proletarischen Hundertschaften aufzulösen. Ministerpräsident Zeigner wies das Ultimatum zurück, verlangte seinerseits den Rücktritt Gesslers und bezichtigte die Reichswehr antirepublikanischer Umtriebe. Auf diese Herausforderung reagierte die Zentralgewalt mit dem Beschluss der Reichsexekution nach Artikel 48 der Weimarer Verfassung149. Am 20. Oktober ließ General Müller öffentlich ankündigen, er sei beauftragt worden, im Freistaat Sachsen mit 144 Ebenda, S. 165. 145 Ebenda, S. 166. 146 Der nachstehende Absatz folgt der Darstellung von Angress, S. 475ff. 147 Gessler, Otto Karl (1875–1955); Dr. jur., linksliberaler Politiker, Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei; 1920–1928 Reichswehrminister. 148 Müller, Alfred (1866–1925); General und Reichswehrbefehlshaber in Sachsen (Wehrkreiskommando IV). 149 Artikel 48 der Weimarer Verfassung [Maßnahmen bei Störung von Sicherheit und Ordnung]: „Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten […].“

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der Reichswehr einzugreifen, um „verfassungsmäßige und geordnete Verhältnisse wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten“. Damit war der KPD – ähnlich wie im März 1921 – der Termin für den Kampf vorgegeben. Ihr blieb eine Vorbereitungszeit von knapp 24 Stunden. Überstürzt beschloss die Zentrale den Generalstreik und den bewaffneten Aufstand. Sie wollte jedoch nicht wie 1921 im Alleingang handeln, sondern sich der Unterstützung der sozialdemokratischen Arbeiterschaft versichern. Der ursprüngliche Aktionsplan hatte vorgesehen, zu diesem Zweck eine Reichskonferenz der Betriebsräte einzuberufen. Jetzt musste aus Zeitmangel improvisiert werden. Eine aus anderem Anlass für den 21. Oktober in Chemnitz anberaumte Konferenz sächsischer Arbeiterfunktionäre sollte nun dazu benutzt werden, um einen Streikaufruf als das Signal zum Aufstand sanktionieren zu lassen. Diese Absicht misslang gründlich. KPD-Chef Brandler stieß in Chemnitz mit seiner Forderung, sofort den Generalstreik und den bewaffneten Aufstand auszurufen, bei den nichtkommunistischen Teilnehmern auf eisige Ablehnung. Man beschloss eine Sonderkommission zu bilden, die sich weiter mit dem Streikthema befassen sollte. Es handelte sich, wie Thalheimer es ausdrückte, um ein „Begräbnis dritter Klasse“150 für die kommunistischen Umsturzpläne. Da die sächsischen Sozialdemokraten und Gewerkschafter nicht gewillt waren, sich an einem Aufstand gegen die Reichswehr zu beteiligen und die Kommunisten nach den Erfahrungen von 1921 eine isolierte Aktion nicht wagen wollten, beschloss die KPD-Führung – ohne die Ankunft Radeks in Deutschland abzuwarten – das ganze Unternehmen abzublasen. Die Zentrale, so Radek später, habe sich entschieden, „[…] jedem Kampfe auszuweichen, aus der Anschauung heraus, daß die Einheitsfront des Proletariats in diesem Kampfe nicht mehr aufzustellen sei […] und daß in dieser Situation bei den geteilten Kräften des Proletariats und dem Zustand der technischen Vorbereitungen der Aufstand unmöglich sei.“151 Erst am Tage nach der Chemnitzer Konferenz, dem 22. Oktober 1923, traf Radek, aus der Tschechoslowakei kommend, in Dresden ein.152 Er stieg mit Larisa, die seinen Angaben zufolge, schon am Vortage angereist war153, im „Europäischen Hof“ in der Prager Straße ab, dem besten Hotel der Stadt, in dem sich auch der Reichswehrbefehlshaber General Müller mit seinem Führungsstab einquartiert hatte.154 Zu dieser Zeit begannen bereits Reichswehreinheiten mit Musikzügen, wehenden Fahnen und scharf geladenen Waffen in Sachsen einzumarschieren, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. 150 Thalheimer, S. 26. 151 Referat Karl Radeks vor dem Präsidium des Erweiterten Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale zur deutschen Frage am 11. Januar 1924, in: Die Lehren der deutschen Ereignisse, Das Präsidium des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale/Januar 1924, Hamburg 1924, S. 5–23; zitiert nach: Möller, S. 259. 152 Radek, Avtobiografija, Sp. 169. 153 Radek, Vorwort zu Reissner [Rejsner], Oktober, S. XXI. 154 Dirksen, S. 63.

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Möglicherweise bereits telefonisch aus Prag, spätestens aber nach seiner Ankunft in der sächsischen Landeshauptstadt, hatte Radek mit den KPD-Führern Verbindung aufgenommen, um zu hören, was in Chemnitz vorgefallen war. Als man ihm Bericht erstattete, billigte er nachträglich Brandlers Entschluss, auf den bewaffneten Aufstand zu verzichten. Auch soll er ausdrücklich „jegliche weiteren Abenteuer“ verboten haben.155 So kam es dann lediglich in Hamburg wegen einer falschen Kuriermeldung zu einem bewaffneten Arbeiteraufstand, der von Polizeitruppen blutig niedergeschlagen wurde.156 Radek bestand allerdings weiterhin auf der Ausrufung des Generalstreiks und erläuterte seine Haltung wie folgt: „In den Gesprächen mit den Genossen habe ich die Tatsache gutgeheißen, daß sie, nachdem sie nicht imstande waren, die Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Arbeitern aufzustellen, von dem Plan des Aufstandes in Sachsen abgesehen haben. Ich forderte jedoch zur gleichen Zeit von den Genossen, den Streik zu proklamieren. Ich begründete das damit, daß wir, wenn wir auch noch nicht stark genug sind, um allein als Kommunistische Partei den Aufstand gegen die Faschisten durchzuführen, doch stark genug sind, um uns zu wehren und nicht kampflos die Position zu räumen.“

Die KPD-Führer lehnten Radeks Verlangen ab: „[…] wenn wir den Streik proklamieren, so haben wir den bewaffneten Aufstand. Will man nicht den Aufstand, so muß man auf den Streik verzichten.“ In der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober reisten Radek und die kommunistischen Führer aus Sachsen nach Berlin ab, wo man in konspirativen Wohnungen Unterschlupf fand. Über den weiteren Verlauf der Ereignisse berichtet Radek: „Am nächsten Tag [23. Oktober], als die Zentrale sich in Berlin versammelte, kam die Nachricht über [den Aufstand in] Hamburg. Es fand eine neue Sitzung in der Zentrale statt, in der drei Anträge vorlagen. Der eine – von Genossin Ruth Fischer – ging darauf hinaus, für Donnerstag [25. Oktober 1923] den Massenstreik in Berlin zu proklamieren, mit dem Ziel, daß er in 2, 3 Tagen in den bewaffneten Aufstand übergehen sollte. Gleichzeitig sollten Kiel und andere Städte in Bewegung gesetzt werden. Der zweite Antrag lautete, darauf zu verzichten. Mein Antrag ging weiter auf dieselbe Sache: Streik ohne bewaffneten Kampf.“157

Der Kompromissvorschlag Radeks, Streik ohne bewaffneten Kampf, wurde von der Parteileitung erneut abgelehnt. Auch die beiden anderen Anträge fanden keine Mehrheit. Bis zum 26. Oktober diskutierte man ohne Ergebnis über die Frage: „Was machen wir weiter?“ Schließlich einigte man sich auf eine von Radek und den üb155 Angress, S. 481, Anm. 57. 156 Die Straßenkämpfe des Hamburger Aufstands dauerten vom 23. – 25. Oktober 1923. Es waren die einzigen Kampfhandlungen des „Deutschen Oktober“. 157 Referat Karl Radeks am 11. Januar 1924, a.a.O. Möller, S. 259.

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rigen Komintern-Vertretern eingebrachte Resolution.158 Sie sah vor, die KPD durch Agitation, konsequente Einheitsfrontpolitik und effiziente militärische Vorbereitungen für einen neuerlichen Umsturzversuch handlungsfähig zu machen, denn die Ereignisse hätten deutlich gemacht, dass „das Gros der Arbeiter […] noch nicht bereit [sei] zu kämpfen“: „Angesichts dieses Zustandes ist es notwendig, daß die Partei solange als möglich die Genossen vom bewaffneten Kampf zurückhält, um Zeit für die Vorbereitungen zu gewinnen. Sollten jedoch große spontane Kämpfe der Arbeiterklasse ausbrechen, so wird sie die Partei mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen. Die Partei hat auch die Schläge der Konterrevolution zu parieren durch die Mittel des Massenkampfes (Demonstrationen, politische Streiks). Es ist bei diesen Kämpfen möglichst der Waffenkampf zu vermeiden.“159

Angress nimmt dieses Dokument als bemerkenswerten Beleg dafür, dass die KPD aus ihren jüngsten Erfahrungen nichts gelernt hatte.160 Berücksichtigt man jedoch, dass die Linksradikalen in der KPD unverändert auf schnelle Aktion drängten, ist es als ein Aufruf zur Zurückhaltung zu interpretieren. So sprach sich der nach dem Vorbild des bolschewistischen Militärrevolutionskomitees von 1917 gebildete Kriegsrevolutionsrat der KPD für den sofortigen bewaffneten Aufstand aus161, obwohl die kommunistischen Minister in der Regierung Zeigner es nicht vermocht hatten, der KPD die für einen Aufstand erforderlichen Waffen zu verschaffen. Die Partei verfügte in Sachsen lediglich über 800 Gewehre162. Vatlin, der Radeks Berichte an das Moskauer Politbüro ausgewertet hat, stellt fest, Radek habe es große Mühe gekostet, ein sinnloses Blutvergießen zu verhindern. Er habe die KPD in desolatem Zustand vorgefunden und gemeldet, in der deutschen Partei herrsche „vollständiger Wirrwarr“ – die „Mitglieder des ZK liefen wie Schafe herum.“ Gemeinsam mit Pjatakov, der etwas später in Berlin eingetroffen war, versuchte er eine Art revolutionärer Disziplin einzuführen. Der Komintern-Emissär Guralski-Kleine, der für die Waffenbeschaffung verantwortlich war und Phantasieberichte über die Waffenlager der KPD nach Moskau geschickt hatte, wurde seines Postens enthoben.163 Wegen der ungebremsten kommunistischen Umtriebe in Sachsen, forderte am 27. Oktober Reichskanzler Stresemann die Dresdener Regierung zum soforti158 Angeblich wurde die Resolution, welche die Richtlinien für die weitere Parteipolitik festlegte, durch eine von der Zentrale ernannte Siebenerkommission ausgearbeitet (Angress, S. 489). Ton, Inhalt und schlechtes Deutsch des Papiers weisen es jedoch, wie auch von Radek reklamiert, als ein Produkt der Komintern-Vertreter, wenn nicht sogar Radeks selbst, aus (Referat Karl Radeks […] am 11. Januar 1924, a.a.O. Möller, S. 260). 159 Referat Karl Radeks am 11. Januar 1924, a.a.O. Möller, S. 260. 160 Angress, S. 489. 161 Vatlin, S. 13. 162 Referat Karl Radeks am 11. Januar 1924, a.a.O. Möller, S. 259. 163 Vatlin, S. 12f.

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gen Rücktritt auf. „Die Propaganda der Kommunistischen Partei“, schrieb er an Ministerpräsident Zeigner, „hat unter Führung der Ihrem Kabinett angehörenden kommunistischen Mitglieder Formen angenommen, die den gewaltsamen Sturz der Reichsverfassung und ihre Zertrümmerung zum Ziele haben und herbeiführen können.“ Man widersetze sich den Anordnungen General Müllers und hetze zur „Mobilisierung der Massen, zur Aufstellung neuer Hundertschaften, zur Bildung von Aktionsausschüssen“ auf.164 Als Zeigner sich weigerte zurückzutreten, entsandte Stresemann einen Zivilkommissar nach Sachsen, ließ die dortige Linksregierung absetzen und Zeigner verhaften. Radek wies die kommunistischen Minister Böttcher und Heckert an, „nicht kampflos die Position zu räumen“ und einen Streik auszurufen. Der Aufruf der sächsischen Kommunisten, am 30. Oktober einen dreitägigen Proteststreik zu beginnen, wurde aber nur teilweise befolgt und die Aktion nach 24 Stunden von den Gewerkschaften abgebrochen. Radek versuchte noch zu retten, was zu retten war. Die „erste Aufgabe der Partei“ bestehe jetzt darin, „sich nicht von der Oberfläche wegblasen zu lassen“ und, da ihre Zeitungen und Versammlungen verboten worden waren, durch „Straßendemonstrationen“ Präsenz zu zeigen; denn, so lautete sein Fazit: „Daß wir eine große Niederlage – eine vielleicht für längere Zeit entscheidende Niederlage davongetragen haben, war klar. Es drohte die große Gefahr der Panik, der größten Enttäuschung der Masse. Eine Niederlage an und für sich war nicht so gefährlich, wie diese Tatsache. Aus diesem Grunde stellten wir uns die Aufgabe, die zurückflutende Masse zum Stehen zu bringen, die K.P.D. wieder zum Konzentrationspunkt der kämpfenden Masse zu machen und den Kampf wiederaufzunehmen.“165

Seine Bemühungen in Berlin kommunistische Protestaktionen zu organisieren, blieben jedoch vergebens. Der Versuch Straßendemonstrationen von Arbeitslosen zu initiieren, stieß bei den Betroffenen auf völliges Desinteresse und scheiterte im Ansatz. Auch zeigte sich die KPD außerstande, die von ihm geforderten Protestmärsche unter dem Schutz der (mittlerweile verbotenen) bewaffneten Proletarischen Hundertschaften durchzuführen. Obwohl der deutsche Oktober offensichtlich gescheitert war, vermied es Radek noch, die Schwere des Rückschlags offen einzugestehen. Brandler abzulösen, hätte auch ein indirektes Eingeständnis des eigenen Versagens bedeutet. Gemeinsam mit Pjatakov und Brandler verfasste Radek eine Resolution, die mit vorsichtigem Optimismus implizierte, die Revolution sei lediglich aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. In dem Papier wurde behauptet, die Ereignisse in Sachsen stellten einen „faschistischen“ Sieg über die „November-Republik“ dar, wobei unter dem Begriff „Faschisten“ ein breites Spektrum antikommunistischer Kräfte von den Generälen der Reichswehr bis hin zu den Führern der Sozialdemokratie 164 Schreiben Reichskanzler Dr. Stresemanns an den sächsischen Ministerpräsidenten Dr. Zeigner vom 27. Oktober 1923. Michaelis/Schraepeler, Band 5, S. 498f. 165 Referat Karl Radeks am 11. Januar 1924, a.a.O. Möller, S. 261.

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subsummiert wurde. Die Schuld an dieser Entwicklung würden die sozialdemokratischen Führer tragen, die sich geweigert hätten, die Kommunisten in ihrem Kampf gegen die „Militärdiktatur“ zu unterstützen. Die Konsequenz aus diesem Verrat der SPD-Funktionäre sei die Bildung einer Einheitsfront „von unten“. Die KPD müsse sich nun aller Vereinbarungen mit dem sozialdemokratischen Parteiapparat enthalten und sich voll darauf konzentrieren, die in der SPD organisierten Arbeiter für den Endkampf gegen die „faschistische“ Diktatur zu gewinnen. Der „bewaffnete Aufstand“ bleibe auf „der Tagesordnung“, aber – so wurde einschränkend erklärt – man müsse den vorgesehenen Kampf damit beginnen, die Abschaffung des Achtstundentages, die Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne und die Restriktionen des nationalen Ausnahmezustands zu bekämpfen. Auf einer Sitzung der KPD-Zentrale am 3. November wurde die Resolution von den führenden Parteifunktionären mit Mehrheit angenommen und damit die von Radek und Brandler verantwortete bisherige und künftige Politik der Partei gebilligt.166 Mit diesem eindeutig seine Handschrift tragenden Parteibeschluss, versuchte Radek seine Idee der Einheitsfront zu retten und zugleich die eigene politische Karriere gegen Angriffe zu verteidigen. In den folgenden Tagen und Wochen stabilisierte sich die innenpolitische Lage in Deutschland zusehends167 und am 23. November erging das Verbot der KPD (bis 1. März 1924) durch General Seeckt. Angesichts dieser Entwicklung blieben die den ganzen November hindurch anhaltenden Bestrebungen Radeks, die Berliner Parteiorganisation dazu zu bewegen öffentlich Flagge zu zeigen, erfolglos. In einem Brief vom 20. November an die Berliner Bezirksleitung der KPD beschwerte er sich bitterlich darüber, dass Ruth Fischer es am 9. und 13. des Monats unterlassen hatte, Protestdemonstrationen in der Reichshauptstadt zu organisieren. Er forderte sie auf, am 22. einen neuerlichen Versuch zu unternehmen und so viele Arbeiter wie nur möglich in der Stadtmitte zu mobilisieren. Die Demonstration sollte von Störungen im Reichstag begleitet werden. Ruth Fischer antwortete, so kurzfristig sei dies unmöglich darzustellen, versprach aber für den 27. November eine Aktion anzuberaumen. An diesem Tage fand dann auch tatsächlich eine Kundgebung der verbotenen Partei im Berliner Lustgarten statt, zu der sich zwischen 3000 und 4000 Menschen versammelten. Von revolutionärem Schwung der Teilnehmer konnte jedoch keine Rede sein. Sie standen nur auf dem Platz herum, bis die Polizei sie auseinandertrieb. Es war offenkundig, dass selbst die radikalste Parteiorganisation nicht einmal mehr die Energie für eine vergleichsweise bescheidene Aktion aufbringen konnte.168 An das Moskauer Politbüro berichtete Radek, die Führung der KPD sei auf ein 166 Angress, S. 493ff. 167 Die Eckdaten für den weiteren Gang der Ereignisse waren: Die Übertragung der vollziehenden Gewalt im Reich durch das Kabinett Stresemann an den Chef der Heeresleitung General von Seeckt am Abend des 8. November 1923; das Misslingen des Hitlerputsches in München am 9. November 1923; die Beendigung der Inflation durch eine Währungsreform mit Ausgabe der neuen Rentenmark am 6. November 1923. 168 Angress, S. 167f.

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Parteiverbot und die Arbeit in der Illegalität nicht vorbereitet: „Die Parteispitze ist vollständig ratlos, und Arvid [Pjatakovs Pseudonym] und ich sind gezwungen, sie buchstäblich mit Kolbenschlägen zur Besinnung zu bringen.“169 Radek zog auch geheimdienstliche Aktivitäten zur Unterminierung der Weimarer Republik ins Kalkül. Der Residentur des sowjetischen Nachrichtendienstes in Berlin traute er in dieser Hinsicht wenig zu. Obwohl für die Sicherheit der „Četvërka“ verantwortlich, demonstriere das OGPU-Personal nur „Verantwortungslosigkeit und Lügen“. Infolgedessen sei er sogar gezwungen, selbständig konspirative Wohnungen zu suchen, indem er alte Parteiverbindungen nutze. In seinen Berichten bombardierte er Zinov’ev mit Bitten, qualifizierte Experten für geheime Operationen nach Deutschland zu entsenden. Er schlug vor, den stellvertretenden Vorsitzenden der OGPU, Iosif Unšlicht, der sich bereits im September 1923 in Berlin über die Lage informiert hatte, erneut nach Deutschland zu kommandieren und drängte: „Jeder Tag der Verzögerung von Unšlichts Reise, ist ein nicht wiedergutzumachendes Übel, denn er hat ja die Vollmachten, Leute aus unseren anderen Auslandsvertretungen zu dieser Arbeit zu schicken“. Moskau reagierte nicht darauf. Zudem wurde die Tätigkeit des sowjetrussischen Viergespanns durch interne Querelen beeinträchtigt. Radek und Pjatakov misstrauten nicht ohne Grund Stalins Aufpasser Šmidt, der anstelle Kujbyševs gekommen war und verweigerten ihm anfangs die Mitarbeit. Er saß untätig herum und das Politbüro musste seine Vollmachten zweimal bestätigen, bevor er zur Arbeit der Cetvërka zugelassen wurde.170 Das gravierendste Problem – so Radek – sei es jedoch gewesen, sich ein realistisches Bild über die Lage vor Ort zu verschaffen, das als brauchbare Entscheidungsgrundlage hätte dienen können. „Ich lebte konspirativ, nur auf den Verkehr mit den führenden Genossen angewiesen, die selbst keine Möglichkeit hatten, eine direkte Fühlung mit den Volksmassen aufrechtzuerhalten.“171 Die „größte Schwierigkeit der Vertreter der Exekutive“ habe darin bestanden, „[…] da sie aus dem Zeitungsmaterial und aus den Gesprächen mit irgendwelchen 10 Genossen sich die Brocken der Wirklichkeit zu sammeln hatten, die praktische Linie herausbilden mußten.“ Für ihn „ausschlaggebend in der Beurteilung dessen was zu machen war“, sei das Bild gewesen, das er auf Streifzügen durch die Stadt bekam, „nämlich die Sammlung der Arbeitslosen vor den Läden, ein paar Gespräche über das, was sie dachten, die man aufschnappte.“172 Als eigentliches Auge und Ohr Radeks fungierte Larisa Rejsner. Nachdem „der Gang der Ereignisse in Sachsen“ es ihr nicht erlaubt hatte, in Dresden „die Durchführungsaufgaben ihres Auftrages in Angriff zu nehmen“, hielt sie sich in den „schweren Momenten nach der sächsischen Niederlage“ in Berlin auf.173 Unterschlupf fand sie bei dem Ehepaar 169 4. Bericht Radeks an das Politbüro der RKP(b) vom 18. November 1923. Vatlin, S. 15. 170 Vatlin, S. 14. 171 Radek, Vorwort zu Reissner [Rejsner], Oktober, S. XXIf. 172 Referat Karl Radeks […] am 11. Januar 1924, a.a.O. Möller, S. 261. 173 Radek, [Biographischer Beitrag] Rejsner, Larisa Michajlovna, in: Dejateli SSSR i Oktojabr’skoj Revoljucii, Sp. 195.

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Poretsky, das in der Reichshauptstadt für den sowjetischen Militärgeheimdienst arbeitete.174 Als sie vom Aufstand in Hamburg erfuhr, wollte sie sofort dorthin fahren und „knurrte, als sie in Berlin bleiben mußte“, um Informationen über die Stimmung in der Stadt zu sammeln: „Halbe Tage lungerte sie vor den Läden unter den Massen, die für Millionen ein Stück Brot zu kaufen suchten, unter Arbeitslosen, saß in Krankenhäusern bei ausgemergelten Proletarierinnen, die sich dort mit ihrem Kummer stauten […] hatte die Fühlung [mit den Volksmassen]. Ob sie im Tiergarten ein Gespräch mit einem Arbeitslosen anfing, ob sie am 9. November bei einer sozialdemokratischen Totenfeier der deutschen Revolution anwesend war, ob sie an einer kommunistischen Silberhochzeitsfeier teilnahm, sie wußte sich die Herzen der Menschen zu öffnen und brachte immer ein Stück Leben mit […]. Sie kehrte stolz heim von der Demonstration im Lustgarten [am 27. November], wo Berliner Proleten dem General Seeckt und seinen Panzerautos vordemonstrierten, daß die „verbotene“ Kommunistische Partei lebt.175„

In Moskau war das Ausmaß der Niederlage in Deutschland nicht sofort deutlich geworden. Als sich jedoch herauskristallisierte, dass der Oktoberrückzug in Deutschland endgültigen Charakter hatte, versuchte Zinov’ev sich aus Sorge um das eigene politisches Schicksal seiner Mitverantwortung als EKKI-Vorsitzender für das misslungene deutsche Abenteuer zu entziehen. Wie ein Damoklesschwert hing der Vorwurf des „Kapitulantentums“ aus den Tagen der russischen Oktoberrevolution noch über ihm176 und so lag ihm daran, die Schuld am Scheitern des Deutschen Oktobers auf Radek und Brandler abzuwälzen. Zudem hatte er noch eine Rechnung mit Radek offen. Er hatte es nicht verwunden, dass dieser gegen seinen Widerstand und mit Unterstützung Lenins und Trockijs auf dem III. Weltkongress der Komintern die Politik der Einheitsfront als verbindlich für alle europäischen kommunistischen Parteien durchgesetzt hatte. Das Fiasko des Deutschen Oktober verschaffte Zinov’ev die Gelegenheit, mit Radek abzurechnen und gleichzeitig Trockij und dessen Anhängern einen Schlag zu versetzen.177 Anfangs hatte sich Zinov’ev noch mit Radeks und Brandlers Taktik einverstanden erklärt und die Resolution des KPD-Zentralausschusses vom 3. November gebilligt. Nun vollzog er einen Meinungsumschwung. 174 Poretsky, S. 55. 175 Radek, Vorwort zu Reissner [Rejsner], Oktober, S. XXIf. Radek schreibt (ebenda), Larisa Rejsner habe sich erst nach der Demonstration vom 27. November (die übrigens wie oben erwähnt, kaum als ein großer Erfolg bewertet werden kann) nach Hamburg begeben, um Material für ihr späteres Buch „Hamburg auf den Barrikaden [Gamburg na barrikadach]“ zu sammeln. Damit präzisiert er die in seiner Rejsner-Kurzbiographie getroffene allgemeine Aussage, Larisa sei erst nach der Niederwerfung des Aufstandes in der Hansestadt angekommen. Radek, [Biographischer Beitrag] Rejsner, Larisa Michajlovna, in: Dejateli SSSR i Oktojabr’skoj Revoljucii, Sp. 195. 176 Zinov’ev war im Oktober 1917 als ein erklärter Gegner des bewaffneten Putschvorhabens der Bol’ševiki aufgetreten. 177 Angress, S. 499; Vatlin, S. 14–16.

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Radeks These von der Machtergreifung des Faschismus nannte er jetzt „Radeks literarische Drehereien“.178 In einem vertraulichen Brief an die KPD-Führung unterzog er die in Sachsen verfolgte Politik massiver Kritik: „Wir hier in Moskau […] faßten den Eintritt der Kommunisten in die sächsische Regierung nur als ein militärisch-strategisches Manöver auf. Ihr habt ihn in einen politischen Block mit den ,linken‘ Sozialdemokraten umgewandelt, der Euch die Hände band. Wir hielten Euren Eintritt in die sächsische Regierung für einen Weg, um eine Absprungbasis zu gewinnen, von der aus wir die Streitmacht unserer Armeen entfalten würden. Ihr habt die Teilnahme am sächsischen Kabinett in eine banale parlamentarische Koalition mit den Sozialdemokraten verwandelt. Das Resultat war unsere politische Niederlage […].“179

Auch Stalin war zu der Überzeugung gelangt, dass der günstigste Augenblick für den Deutschen Oktober verpasst worden war. Im November schrieb er mehrfach an Pjatakov in Berlin, er solle zurückkehren: „Zur Fortsetzung Ihrer Arbeit in Deutschland verbleiben lediglich Argumente der Ehre.“180 Zusammen mit Zinov’ev begann er mit der linken Opposition in der KPD zu liebäugeln, ein Indiz für Überlegungen zu einer beabsichtigten Umbesetzung der deutschen Parteiführung. Am 9. November versuchte Stalin bei Pjatakov vorzufühlen: „Es stellt sich heraus, daß die Linken in vielem recht hatten. Ich denke sogar, daß es sich lohnen würde, Maslov [der sich zu dieser Zeit als linker Dissident in einer Art Ehrenexil in Moskau aufhielt] ins Spiel zu bringen.“181 Auf Stalins Ansinnen, die „Linken salonfähig zu machen“, reagierten Radek und Pjatakov scharf ablehnend: „Das ZK [die KPD-Zentrale] durch die ,Linke‘ anzuspornen ist das Schlimmste.“ Ein solcher Schritt werde unausweichlich zur Spaltung der KPD führen.182 Den Mitgliedern des Moskauer Politbüros gegenüber rechtfertigte Radek seine Position folgendermaßen: „Die Liquidierung unserer [Einheitsfront-]Taktik in Deutschland ohne Hinweis auf den Sieg des Faschismus in diesem Lande würde eine ,Anerkennung‘ der fehlerhaften Politik der Komintern und der KPD in den letzten drei Jahren bedeuten. Das tun die linken Berliner Schwätzer [gemeint: der linksradikale Flügel der KPD um Ruth Fischer]. Sie können zu ihrer Verteidigung sagen, daß sie immer Gegner einer solchen Taktik gewesen sind. Ihr [gemeint: die Mitglieder des Politbüros] könnt es nicht sagen, denn es würde eure Selbstliquidierung als Führer des Weltproletariats bedeuten.“183

178 Vatlin, S. 16. 179 Zitiert in Angress, S. 501. 180 Vatlin, S. 15. 181 Brief Stalins an Pjatakov vom 9. November 1923. Vatlin, S. 17. 182 Vatlin, S. 15. 183 4. Bericht Radeks an das Politbüro der RKP(b) vom 18. November 1923. Vatlin, S. 15.

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Die Reaktionen Zinov’evs und Stalins hatten Radek und Pjatakov deutlich gemacht, dass die Moskauer Triumvirn die Schuld an der misslungenen deutschen Revolution der Brandler-Thalheimer-Führung der KPD zuschoben – ein Schritt, mit dem beabsichtigt war, sie ebenfalls zu desavouieren. Beide beeilten sich deshalb nicht damit, ruhmlos von der Hauptkampflinie der Weltrevolution zurückzukehren. Ihnen war bewusst, dass ihre Abreise nach Moskau die Anerkennung der Niederlage in Deutschland bedeuten und zugleich eine Säuberung innerhalb der KPD- Spitze auslösen würde. Sie wandten sich an das Politbüro und forderten, „dem besonderen Verhalten Berlin gegenüber, das ein Doppelzentrum schafft“ – also dem Doppelspiel der Triumvirn mit der KPD-Linken – ein Ende zu bereiten. Sie wurden keiner Antwort gewürdigt, jedoch mit einer Flut von Telegrammen bombardiert, in denen ihre sofortige Rückkehr gefordert wurde, „verbunden mit der Aufforderung, alles zu tun, damit dies ohne Konflikte geschieht“. Jedoch erst nachdem Zinov’ev und Stalin am 30. November Radek und den anderen Komintern-Emissären in Berlin bestätigten, dass „eure Entscheidungen bis zur Annahme neuer Beschlüsse in Kraft bleiben“, kehrte das Viergespann Anfang Dezember nach Moskau zurück.184 Ab Mitte Dezember begann die deutsche Frage eine zunehmende Rolle in den innerparteilichen Auseinandersetzungen der RKP(b) zu spielen. Trockij, der die Aussichten des Deutschen Oktober bis zu dessen Scheitern günstig beurteilt hatte185, teilte jetzt die Meinung Zinov’evs und Stalins, dass die deutschen Kommunisten eine einmalige Gelegenheit für die Revolution verpfuscht hätten. Er war aber unterschiedlicher Auffassung im Hinblick auf die sich daraus ergebenden Konsequenzen und nicht gewillt, Brandler und Radek zu Sündenböcken zu erklären. Aus seiner Sicht lag die Ursache der Niederlage nicht in einer falschen Beurteilung der deutschen Situation, sondern in der Schwäche des subjektiven Faktors, das heißt der KPD. Damit entlastete er nicht nur sich selbst, sondern auch Radek und Zinov’ev. Einen Wechsel in der KPD-Führung hielt er dennoch nicht für wünschenswert, da er Brandler schätzte und Fischer und Maslov misstraute. Er suchte nun keine Kompromisse mehr mit der Mehrheit des Politbüros und begann zusammen mit Radek und Pjatakov eine Stellungnahme zum fehlgeschlagenen Deutschen Oktober vorzubereiten.186 Radek preschte präventiv vor. Auf einer Parteiversammlung in Moskau am 12. Dezember erklärte er, dass die meisten deutschen und französischen Kommunisten für Trockij Partei ergreifen würden, sollte sich die Mehrheit des Politbüros gegen diesen wenden. Gleichzeitig verbreitete Radek seine Sicht der deutschen Ereignisse. Zinov’ev verlangte daraufhin von ihm eine schriftliche Erklärung im Zusammenhang damit, dass

184 Vatlin, S. 17. 185 Vgl. Grieser, S. 76ff. 186 Angress, S. 500 f. und Vatlin, S.17.

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„Sie auf einer Versammlung der Genossen der Roten Professur eine öffentliche Anklage gegen das Exekutivkomitee der Komintern und die Mehrheit des Politbüros erhoben haben, daß wir mit unserer Politik das ZK der Kommunistischen Partei Deutschlands zerschlagen haben und überhaupt ernsthaft der deutschen Bewegung schadeten, und weiterhin, daß Gen[osse]. Warski im Namen der polnischen Partei radikale Veränderungen in der Komintern fordert.“187

Die Triumvirn sahen sich herausgefordert. Radek der im Moskauer Machtkonflikt als der zuverlässigste Anhänger Trockijs galt, hatte mit seinen Ausführungen unbeabsichtigt dazu beigetragen, dessen Gegner davon zu überzeugen, dass gehandelt werden musste. Es galt die Führung der KPD auszuwechseln und zu verhindern, dass Trockij weitere Verbündete außerhalb der Sowjetunion an sich zog.188 Zinov’ev und Stalin mussten sich in dieser Absicht noch bestärkt fühlen, als das Plenum des ZK der Kommunistischen Partei Polens am 23. Dezember 1923 die Versuche, die deutsche Niederlage zur Diskreditierung der Politik der Einheitsfront zu benutzen, verurteilte und betonte: „Wir lassen die Möglichkeit, daß Gen[osse] Trockij außerhalb der Reihen der Führer der RKP und der Komintern gerät, nicht zu.“ Radek war ganz offensichtlich unter seinen alten polnischen Genossen im Sinne des im Oktober an das Politbüro gerichteten Ultimatums tätig geworden.189 Am 18. Dezember erörterte man im Politbüro die deutsche Frage und befasste sich mit einem Thesenpapier Zinov’evs, das „Die Lehren der deutschen Revolution“ behandelte. Als Vertreter der KPD-Führung, deren „rechte Fehler“ zur Diskussion standen, waren Wilhelm Pieck und Clara Zetkin, die sich in Moskau aufhielten, zugelassen worden. Radek, der wegen der Abwesenheit Trockijs, die mit ihm gemeinsam erarbeitete Position vortragen musste, wurde von Stalin abgekanzelt. Als Replik auf Radeks Vortrag erinnerte der Generalsekretär der Partei an das Ultimatum vom Oktober: „Sie haben gedroht, die kommunistischen Parteien des Westens gegen die RKP zu mobilisieren. An dem Tage, da Sie das versuchen, fliegen Sie vierkantig aus unserer Delegation in der Komintern.“190 Radek konterte: „Der Standpunkt des Genossen Stalin bedeutet ein Verbot für die Mitglieder der RKP, sich in Existenzfragen 187 Vatlin, S. 18. 188 Angress, S.  501. Thalheimer (S. 11) unterstreicht solche in der Führung der russischen Partei existierenden Befürchtungen. Man habe der Drohung Radeks aufs Wort geglaubt und vor allem Zinov’ev sei deshalb in „Panik“ verfallen. Dabei hätten Radeks Äußerungen jeder Grundlage entbehrt und seien „frei erfunden“ gewesen. Es habe sich lediglich um ein Manöver im innerrussischen Fraktionskampf gehandelt. 189 Vatlin, S. 18. Siehe auch oben, Anm. 135. 190 Brief Radeks an Zinov’ev vom 18. Dezember 1923. Vatlin, S. 18. Nach den Statuten der Komintern, als „einer weltumspannenden Partei des revolutionären Proletariats“, war im Exekutivkomitee die Bildung von nationalen Delegationen einzelner Parteien nicht erlaubt. Dennoch existierte im EKKI eine Delegation der bolschewistischen Partei, die über die Politik der Kommunistischen Internationale bis Ende der 1920er Jahre entschied, als Stalin die Entscheidungsgewalt persönlich übernahm. Vatlin, S. 24, Anm. 37.

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der russischen Partei und der Internationale an die Komintern zu wenden. Das bedeutet eine totale Negierung der Grundlagen der Komintern.“191 In einem nahezu vermessenen und beispiellosen Gegenangriff erklärte Radek dem Politbüro, er sei für seine Tätigkeit in Deutschland ausschließlich dem Weltkongress der Komintern Rechenschaft schuldig – ein Gesichtspunkt, den Zinov’ev, wenngleich widerwillig, im Prinzip anerkennen musste.192 Die Entscheidung des Politbüros gegen Radek fiel in der Sitzung am 27. Dezember 1923. Zinov’evs Thesenpapier wurde als Resolution angenommen. Die Entschließung ließ keinen Zweifel daran, dass die Triumvirn ganz offen auf die linke Opposition in der KPD setzten, Radek dem „Sünder“ Brandler gleichstellten und ihm zudem noch eine verspätete Rüge für die fehlgeschlagene Schlageterpolitik erteilten193: „Die Linie des Genossen Radek ist ganz auf die Unterstützung der rechten Minderheit der KPD-Zentrale ausgerichtet und [versucht] dem linken Parteiflügel jeden Einfluß zu versagen […], während das Politbüro des Zentralkomitees der KPR seine Politik auf die überwiegende Mehrheit der KPD-Zentrale und auf die Zusammenarbeit mit den Linken stützt […]. Die allgemeinen Anschauungen des Genossen Radek über den Verlauf des zukünftigen Kampfes in Deutschland entspringen einer irrigen Einschätzung der Klassenkräfte in Deutschland, nämlich einer opportunistischen Überschätzung der Gegensätze im faschistischen Lager und einem Versuch, die Politik der Arbeiterklasse in Deutschland auf diesen Gegensätzen aufzubauen.“194

Zinov’ev schien die Zeit reif für die endgültig Abrechnung. Ein von Radek, Pjatakov und Trockij vorgelegter Gegenentwurf zur „Resolution über die Lehren des Deutschen Oktober“ blieb ohne Chance auf Gehör. Das Verdikt des Politbüros stand fest. Es lautete, dass Radeks Position „nicht der der Meinung des ZK der RKP entspricht“.195 Seine Tage als Deutschlandexperte der Komintern waren gezählt. *** Zeitzeugen mit zweifelhaftem Erinnerungsvermögen haben den Mythos verbreitet, Radek habe den Großteil des Jahres 1923 in Deutschland verbracht. Rechnet man seine drei Aufenthalte im Reich zusammen, so umfasst der Zeitraum allerdings insgesamt nur etwas über drei Monate. Ruth Fischer führt die Reihe der Legendener191 Vatlin, S. 18. 192 Angress (S. 503) datiert diese ketzerische Bemerkung Radeks auf die Politbürositzung vom 27.  Dezember 1923, macht aber darauf aufmerksam, dass sie auch schon früher gefallen sein könnte. Trifft das zu, so bietet sich die Politbürositzung am 18. Dezember 1923 als Termin an. 193 Angress, S. 503. 194 Carr, The Interregnum, S. 236. Angress, ebenda. 195 Vatlin, S. 19.

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zähler mit der Behauptung an, Radek sei während des ganzen Frühjahrs 1923 in Berlin gewesen: „Die Beziehungen zwischen der deutschen und der russischen Regierung hatten sich während der Besetzung des Ruhrgebiets so freundschaftlich gestaltet, daß Radek sich offiziell in der russischen Botschaft in Berlin, Unter den Linden 7, niederlassen konnte. Hier empfing er ohne jede Beschränkung und Kontrolle Journalisten und Politiker; außerdem hatte er ein Zimmer in dem Gebäude der russischen Handelsvertretung zur Verfügung, das er häufig für seine Unterhaltungen mit Vertretern der Reichswehr in Anspruch nahm. Radek bewegte sich zwischen der Roten Fahne, Friedrichstraße 225, und Unter den Linden so ungeniert, als ginge er von seinen Zimmern im Kreml zur Prawda. Berlin war für ihn in jenen Vorfrühlingstagen des Jahres 1923 wie ein zweites Moskau.“196

Obwohl Radek sich nachweislich nur von Mitte Dezember bis Anfang Februar und dann wieder von Mitte Mai bis Anfang Juni in Berlin aufhielt, hat Ruth Fischers phantasievolle Schilderung vielfach in die Literatur Eingang gefunden.197 So hat Carr diese Angabe unbesehen übernommen und schreibt fälschlicherweise von Radeks fast ununterbrochener Anwesenheit in Berlin in den ersten vier Monaten der Ruhrbesetzung.198 Karl Retzlaw199 will Radek sogar im Juli 1923 in der Berliner Sowjetbotschaft aufgesucht und sich mit ihm über die Schlageter-Rede unterhalten haben.200 Auch Carr spricht von der Anwesenheit Radeks im Juli in Berlin201; Wolfgang Schieder und Emil Belzner meinen, Radek habe ebenfalls im Monat Juli auf dem Frankfurter Antifaschistentag der KPD gesprochen, ja das Hauptreferat gehalten.202 Die Reihe irreführender Darstellungen und Datierungen setzt sich in Berichten über den Deutschen Oktober fort. Karl Kindermann203 fabuliert, bereits im September sei Radek „[…] nach Berlin gereist, um die Lage auszukundschaften. Er habe die öffentliche Meinung ausgeforscht, Kontakte zu den Bossen der Unterwelt aufgenommen und versucht die Zustimmung der Rechten zum Sturz der Republik zu gewinnen. Sein detaillierter Be196 Fischer, R. Stalin, S. 318. 197 Vgl. Angress, S. 349, Anm. 6. 198 Carr, The Interregnum, S. 163. 199 Retzlaw, Karl; geboren als Karl Gröhl (1896–1979); Industriearbeiter; von der SPD über die USPD 1919 zur KPD; im März 1919 Polizeipräsident der Münchner Räterepublik; 1920 im Auftrag Paul Levis Aufbau des illegalen Nachrichtendienstes der KPD und dessen Leiter, getarnt als Geschäftsführer der Verlagsbuchhandlung Carl Hoym – des deutschen Komintern-Verlags; 1933 Bruch mit KPD und Komintern; er wurde „Trotzkist“ und gehörte später wieder der SPD an. 200 Retzlaw, S. 231. 201 Vgl. Angress, S. 400, Anm. 131. 202 Schieder, Wolfgang, Faschismus; in: Kernig, Band II, Sp. 455f.; Belzner, S. 214. 203 Dr. Karl Kindermann, eine der 11 deutschen Geiseln, die von den Sowjets im September 1926 gegen den in Deutschland zum Tode verurteilten General Skoblewskij-Rose ausgetauscht wurden.

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richt über die revolutionäre Situation im Reich sei in Moskau mit größter Zustimmung aufgenommen worden und sein Optimismus habe sich auf die Führer der Komintern und der Roten Armee übertragen.“204

Es war aber nicht Radek, sondern der Stellvertretende Vorsitzende der OGPU Unšlicht, der im September zur Erkundung nach Deutschland aufbrach. Politbürosekretär Bažanov glaubt sich zu erinnern, Radek und die übrigen Mitglieder der CKKommission hätten sich sogleich nach der entscheidenden Politbürositzung Ende August zur illegalen Arbeit nach Deutschland begeben.205 Tatsächlich traf Radek aber erst am 22. Oktober im Reich ein und konnte deshalb auch nicht, wie von Rauch schreibt, hinter den Kulissen der bereits am Vortag geplatzten Chemnitzer Konferenz „fieberhaft“ und „pausenlos“ mit der KPD-Führung und General Skoblevskij-Rose über die Aufstandsvorbereitungen beraten haben.206 Das Scheitern des Deutschen Oktobers machte 1923 zum Schicksalsjahr für Radek. Es leitete den entscheidenden Wendepunkt in seiner Karriere ein. Den Auftakt bildete der Misserfolg seiner Mission in Norwegen, wo es ihm nicht gelungen war, den Führer der Norwegischen Arbeiterpartei (DNA), Martin Tranmael207, der sich Moskau widersetzte, auf Kominternkurs zu bringen, geschweige denn, ihn in seiner Partei zu isolieren oder gar seinen Ausschluss zu erreichen. Tranmael lehnte auch weiterhin die Einmischung der Komintern in die Osloer Parteiangelegenheiten ab, ignorierte die Befehle, nach Moskau zu kommen und driftete schließlich mit seiner großen Arbeiterpartei aus der Kommunistischen Internationale ab. Zinov’ev verbuchte diese Entwicklung auf Radeks Sündenregister. Er habe nicht durchgegriffen, sondern den „Kompromiß mit Tranmael“ gesucht.208 Mit ungleich größerem Erfolg für Moskau agierte Radek 1923 zunächst in der KPD. Die Zügelung der Parteilinken um Ruth Fischer, die Installierung seiner Parteigänger Brandler und Thalheimer als Parteiführer und die damit verbundene Stärkung seiner Linie der Einheitsfront markierten sein Wirken als Kominternbeauftragter. Es diente vor allem der Stützung der sowjetischen Außenpolitik, insbesondere im Hinblick auf ihr deutschlandpolitisches Leitmotiv: zu verhindern, dass das Reich zum Ausgangspunkt einer militärischen Intervention gegen die Sowjetunion werden würde.209 Bereits auf dem III. Weltkongress 1921 hatte Radek als Sprecher der Bol’ševiki die Mitgliedsparteien der Kommunistischen Internationale auf eine längere Phase 204 Kindermann, S. 100. 205 Bažanov, S. 58. 206 von Rauch, S. 224. 207 Tranmael, Martin Olsen (1879–1967); norwegischer Journalist und Politiker; Sozialist und Führer der Norwegischen Arbeiterpartei (DNA). 208 Schlusswort zum Bericht des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale, gehalten am 26. Juni 1924 von G. Sinowjew. V. Kongress der Kommunistischen Internationale (Moskau 1924), S. 220–222. Fischer, R. Stalin, S. 263. 209 Grieser, S. 83.

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der Koexistenz in den internationalen Beziehungen eingestellt. Ohnehin hatte er seit Ende 1919 keinen Zweifel daran gelassen, dass er mit einem Zeitraum von Jahrzehnten oder sogar einem Menschenalter für die Vorbereitung der Revolution rechnete – ein Sachverhalt, der oftmals von seinem revolutionären Pathos und seinen pythischen Zukunftsprognosen überdeckt wurde. Auch angesichts der durch die Ruhrbesetzung ausgelösten Existenzkrise Deutschlands hielt Radek an seiner politischen Linie fest. Die Einheitsfronttaktik bildete sowohl den Rahmen für das vertrauliche Angebot, die deutschen Kommunisten zur Unterstützung der Reichsregierung zu mobilisieren, wie auch für den Schlageterkurs. Wiederholt pfiff er die aktionslüsterne linke Opposition der KPD zurück, so zuletzt beim Frankfurter Antifaschistentag. Unterstützt durch die Brandler-Thalheimer-Führung, konnte er seine Mahnung „laßt Euch nicht provozieren!“ auch vom fernen Moskau aus innerhalb der Kommunistischen Partei Deutschlands durchsetzen.210 Bei der Suche nach politischen Partnern für die Einheitsfront kannte Radek keine ideologischen Hemmungen. Auf einer Kominternveranstaltung erläuterte er den Genossen sein zynisches Einmaleins kommunistischer Bündnispolitik: „[…] gewisse Teile der Kommunistischen Internationale glauben, wenn man Verbündete sagt, schwört man Treue für immer […]. Unter dem Begriff des Bündnisses versteht man [aber], daß es sich um die Zusammenfassung verschiedener Faktoren zur Behandlung konkreter Aufgaben handelt. Wir haben ein Bündnis gehabt mit den rechten Sozialrevolutionären bei den Wahlen im Jahre 1907. Sie sitzen jetzt bei uns in der Lubjanka. Wir haben die Macht zusammen mit den linken Sozialrevolutionären übernommen. Wir haben sie niedergeworfen im Juli 1918 […]. Wir hatten 1905 eine große Masse von Intellektuellen in der Partei. Sie sind davongelaufen nach der Revolution 1905. Sie waren gegen uns im Oktober 1917 und suchten unsere Herrschaft zu sabotieren. Wir haben jetzt Zehntausende von Intellektuellen, die nicht Kommunisten sind, auf die wir uns aber vollkommen verlassen können, sogar unter den früheren zaristischen Offizieren. Wir haben sie erzogen mit allen Mitteln, beginnend mit dem An-die-Wand-stellen, endend mit vollem Vertrauen, wenn sie es verdient haben. Das Verhältnis der Klassen zueinander ist kein Liebesverhältnis, sondern ein Interessenverhältnis. Es gibt Klassen von denen uns ein Abgrund trennt, und solche unter denen wir für die nächsten Kämpfe Verbündete finden können. Wie weit wir sie für längere Zeit mit uns verbinden, wird die Geschichte zeigen.“211

Das Werben der KPD um Verbündete aus Sozialdemokratie und Gewerkschaften, aber auch Radeks Schlageterkurs, erwiesen sich als Fehlschlag. Es gelang weder den Kommunisten neue Verbündete aus den Reihen der deutschen Arbeiterschaft 210 Goldbach, S. 131. 211 Radek, Das Abflauen der Offensive des Kapitals und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale. Rede in der Sitzung der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Jugend-Internationale , Moskau 13. Juli 1923, S. 76f.

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zuzuführen, noch die kleinbürgerlichen Schichten davon zu überzeugen, dass die Kommunisten eine Lösung für ihre Schwierigkeiten bereithielten.212 Im Unterschied zum nationalbolschewistischen Konzept von Laufenberg/Wolffheim, das 1919 ein Bündnis des deutschen Proletariats mit der nationalen Bourgeoisie vorsah, um vereint gegen die siegreichen Ententemächte Krieg führen zu können, implizierte die Schlageterlinie derartige Pläne nicht ernsthaft. Es handelte sich vielmehr um eine Variante des alten Einheitsfrontthemas.213 Ruth Fischers Urteil trifft den Nagel auf den Kopf: „Die Einheitsfront-Politik des Jahres 1922 und die Schlageter-Politik des Jahres 1923 sind zwei Seiten derselben falschen Münze, zwei Versuche der Kommunistischen Partei zum Siege zu verhelfen, indem man die Hauptlast der Aktion einer hinter den Kulissen geschobenen anderen Partei überträgt.“214 Die Kommunisten mussten chancenlos bleiben, wenn sie sich nicht gleichsam an die Sozialdemokraten oder auch die Rechtsradikalen hängten, um diese schließlich in die von ihnen bestimmte Richtung zu drängen.215 Seit Lenins krankheitsbedingtem Ausscheiden aus der Tagespolitik kontrollierte die Troika Stalin, Zinov’ev, Kamenev die bolschewistische Partei und damit den gesamten Sowjetapparat. Stalin als Generalsekretär der Partei, Zinov’ev als Petrograder Parteiführer und Vorsitzender der Komintern sowie Kamenev als Moskauer Parteichef und Lenins Stellvertreter im Rat der Volkskommissare verband die gemeinsame Absicht, Trockij die Nachfolge Lenins zu verbauen. Es war eine Koalition der „alten Garde“ gegen den ehemaligen Menschewisten und Antipoden Lenins, der sich erst 1917 den Bol’ševiki angeschlossen hatte. Als glänzender politischer Kopf, vor allem aber wegen seiner herausragenden Rolle im Bürgerkrieg, hatte er sich als der prominenteste Parteiführer neben Lenin profiliert und schien als dessen Nachfolger prädestiniert.216 Einer seiner glühendsten Anhänger war Radek. Nachdem Lenin ausgefallen war, erblickte er in Trockij „den einzigen schöpferischen Geist großen Kalibers in unseren Reihen“.217 Beide trafen sich in Gemeinsamkeiten ihrer politischen Biographien, ihrem Hang zur Publizistik und ihrer umfassenden Bildung. Wie auch Trockij, war Radek „ein Mann von Format“218. Beide einte dazu die gemeinsame Ablehnung Zinov’evs, den Radek nicht ohne Grund für Misserfolge der Komintern in Westeuropa verantwortlich machte. Vermutlich glaubte er, zum Führer der internationalen kommunistischen Bewegung besser qualifiziert zu sein als der amtierende Vorsitzende des Exekutivkomitees der Komintern. Bei einer Machtübernahme durch 212 Angress, S. 383f. 213 Ebenda, S. 261f. 214 Fischer, R., Stalin, S. 265. 215 Möller, S. 36. 216 Krummacher/Lange, S. 159. 217 Radek in einer „Entscheidung des Präsidiums des EKKI“ vom 5. Juli 1923; zitiert in: Vatlin, S. 4. 218 So urteilt der Münchner Professor für Psychiatrie Oswald Bumke (1877–1950), der 1923 mit anderen deutschen Ärzten an Lenins Krankenbett gerufen worden war und in Moskau in Kontakt mit Radek und Trockij kam. Bumke, S. 111.

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Trockij könnte er sich den Posten Zinov’evs versprochen haben.219 Überraschend und im Alleingang meldete Radek im Frühjahr 1923 den Nachfolgeanspruch des Kriegskommissars an, indem er ihn publizistisch ins Rampenlicht rückte. Fünf Tage nachdem Lenin durch seinen dritten Schlaganfall handlungsunfähig geworden war, erschien eine Ausgabe der Pravda, die dem 25. Gründungstag der Sozial-Demokratischen Arbeiter-Partei Russlands als Vorläuferpartei der RKP(b) gewidmet war. Während, Stalin, Zinov’ev, Bucharin und andere Sowjetführer aus Anlass des Jubiläums in der Parteizeitung Elogen auf den todkranken Lenin verfassten, widmete Radek seinen Beitrag Trockij. Unter der Überschrift „Leon Trockij – der Organisator des Sieges“ pries er in bislang für Lenin reservierten, überschwänglichen Formulierungen das im Bürgerkrieg bewiesene militärische und organisatorisches Genie des Kriegskommissars.220 Der Artikel ließ in Moskau aufhorchen und Gerüchte über einen möglichen bonapartistischen Staatsstreich aufkeimen.221 Er schadete auch seinem Verfasser, der sich dadurch zum Ersatzziel und „Blitzableiter“ für gegen Trockij gerichtete Angriffe gemacht hatte.222 Immerhin wusste Radek sich schlagfertig zu wehren. Als er auf dem XII. Parteitag den Sitzungssaal zusammen mit Trockij betrat – so die Fama – soll Stalin-Anhänger Vorošilov223, der den Vorsitz führte, unter Anspielung auf Trockijs Vornamen „Lev [Löwe]“ höhnisch gerufen haben: „Hier kommt der Löwe mit seinem Schwanz!“ Darauf Radek: „Besser der Schwanz des Löwen als Stalins Arsch!“224 Trockij tat nichts, um seinen Nachfolgeanspruch abzusichern. Er verlor in den vordergründig um Parteiangelegenheiten und innerrussische Probleme geführten Fraktionskämpfen im Sommer und Herbst 1923 immer mehr an Boden. Unter den vierzig Mitgliedern des Zentralkomitees waren ihm nur noch drei politische Freunde geblieben: Radek, Pjatakov und Rakovskij.225 In dieser Situation hätte eine von ihm geführte siegreiche Revolution in Deutschland einen Befreiungsschlag bedeutet. Sie würde ihm eine einzigartige Gelegenheit geboten haben, die Triumvirn völlig in den Schatten zu stellen. Vorstellbar auch, dass die von ihm in Deutschland antizipierte Entwicklung eine neue Periode von Krieg und Revolutionen eingeleitet hätte, in der ihm die Rolle eines Oberbefehlshabers der Streitkräfte der Weltrevolution zugefallen wäre. Offen die Option, ob er dann im Falle eines Sieges nach Moskau zurückgekehrt wäre oder ob er von Berlin aus als Führer der „Vereinigten Staaten von Europa“ – in der Terminologie der Komintern das Staatsgebilde der internationalen Diktatur des Proletariats – fungiert hätte. Ein Szenario, in dem mit der Bildung von 219 Vatlin, S. 4. 220 Radek: „Lev-Trockij – organizator pobedy”, in: „Pravda”, Nr. 58 vom 14. März 1923. 221 Lerner, S. 127. 222 Tuck, S. 87. 223 Vorošilov, Klement Efremovič (1881–1969); sowjetischer Militär; 1923 CK-Mitglied und Unterstützer Stalins; später Mitglied des Politbüros, Kriegskommissar und 1953–1960 Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjet (Staatsoberhaupt). 224 Klausen, S. 5, Lerner, S. 128, Vatlin, S. 4. 225 Deutscher, Trotzki II, S. 111.

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Sowjetrepubliken in den entwickelten europäischen Staaten, Russland wieder an die Peripherie des sozialen Fortschritts gedrängt worden wäre226 und in dem Radek sicherlich eine prominente Rolle zugefallen wäre. Die im Diadochenkampf um die Nachfolge Lenins entstandene und von Zinov’ev erstmals in die Welt gesetzte Idee des Deutschen Oktober trug allerdings nicht der realen Lage Rechnung. Es stellt sich deshalb die Frage, wie Radek als pragmatischer Realpolitiker zu der überraschenden Beurteilung kam, in Deutschland bestehe eine revolutionäre Situation. Er war seit Anfang Juni nicht mehr dort gewesen und es ist unbekannt, welche Informationen ihn im August 1923 veranlassten, über Nacht die langfristig angelegte Einheitsfronttaktik aufzugeben und trotz offenbar vorhandener Skepsis zum Befürworter des bewaffneten Aufstands zu werden.227 Werner Angress nimmt an, Radek sei in der entscheidenden Politbürositzung ganz einfach umgefallen und habe sich von der Euphorie Zinov’evs und Trockijs, die ausnahmsweise einmal einer Meinung waren, überfahren lassen. Er schreibt: „Radek [war] nicht der Mann, der sich offen gegen die allgemein vorherrschende Meinung gestellt hätte, besonders zu einem Zeitpunkt, da sich die bolschewistischen Führer unter dem Schlagschatten von Lenins ernster Erkrankung in einem erbitterten, wenn auch noch gedämpftem Machtkampf befanden. Es ist daher denkbar, daß, sowie Radek erkannt hatte, einen wie großen Eindruck der Cuno-Streik228 vor allem auf Trotzki und Sinowjew gemacht hatte […] er nicht Radek gewesen wäre, wenn er sich ihren Ansichten offen entgegengestellt hätte. Seine Stärke lag in der Mehrdeutigkeit der Auslegung und im vorsichtigen Taktieren, nicht im Frontalangriff und es ist deshalb möglich, daß Radek auf dieser Sitzung das sagte, was den Überzeugungen seiner Zuhörer entsprach, nicht aber seinen eigen stillschweigenden Gesichtspunkten.“ 229

Das Bild Radeks als das einer politischen Wetterfahne oder eines Wetterhahns ist jedoch überholt. Es wurde von Kommunisten in die Welt gesetzt, denen sein Pragmatismus zu weit ging. Er war durchaus kein Konformist und verstand es zu widersprechen, wenn sein Urteil auf abweichenden Einsichten beruhte. Das hat er in der polnischen und deutschen Sozialdemokratie ebenso unter Beweis gestellt, wie in den Reihen der Bol’ševiki. Man erinnere sich der Kontroversen mit Lenin in der Diskussion um den Frieden von Brest-Litovsk und im Sommer 1920, zur Zeit des Vormarsches auf Warschau.230 1923 zeigten sein September-Ultimatum an das Politbüro und im Dezember sein couragiertes Auftreten vor diesem Gremium, dass er 226 Vatlin, S. 9. 227 Goldbach, S. 127. 228 Cuno-Streik: Ein am 12.August 1923 von der KPD in Berlin gegen Reichskanzler Cuno geführter Generalstreik, der den letzten Ausschlag zum Rücktritt der Regierung Cuno am 13. August 1923 gab. 229 Angress, S. 430. 230 Goldbach, S. 131.

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nicht bereit war, seine Überzeugungen ohne weiteres preiszugeben. Die Bol’ševiki hatten zwar mit tatkräftiger Hilfe Radeks die proletarische Solidarität längst in eine nach Moskau führende Einbahnstraße zur Hilfe und Unterstützung des Sowjetsystems verwandelt, aber, wenn auch vermutlich aus politischem Kalkül, sprach aus seinem Ultimatum die Absicht zur Wiederbelebung des traditionellen sozialistischen Prinzips internationaler proletarischer Solidarität.231 Auch damit bot er Zinov’ev und Stalin die Stirn und von opportunistischer Anpassung konnte keine Rede sein. Mit hoher Wahrscheinlichkeit jedoch, sah Radek nach dem Cuno-Streik reale Möglichkeiten für einen Sieg der deutschen Revolution: „Er mag mehr Bedenken und Skepsis gehegt haben als Trockij und Zinovev, die einseitig Optimismus ausstrahlten; aber wenn in seiner Sicht die Risiken die Erfolgschancen überwogen hätten, dann hätte sich dieser kühle Realist und Pragmatiker sicher nicht zur Mitarbeit gewinnen lassen. Er hätte zudem in Brandler, der bis zur Abreise aus Moskau schwerwiegende Bedenken hegte, einen wichtigen Verbündeten finden können.“ 232

Für Radek musste die Frage, welche Konsequenz eine siegreiche Revolution in Deutschland für die Lenin-Nachfolge haben könnte, von herausragender Bedeutung sein. In der konzipierten Weise des Umsturzes über einen Eintritt der Kommunisten in die Landesregierungen, hätte sie die Richtigkeit seiner Politik der Einheitsfront von oben bestätigt und den von Trockij protegierten Brandler-Thalheimer-Flügel der KPD in Deutschland an die Macht gebracht. Der Glanz des Erfolges wäre zudem auch auf Trockij als Kriegskommissar gefallen – sei es, dass es zum Eingreifen der Roten Armee gekommen wäre, sei es, dass sie Gewehr-bei-Fuß stehend, Frankreich und seine Verbündeten von einer Intervention abgeschreckt hätte. Es ist möglich, dass Radek „deshalb in Deutschland alles auf eine Karte setzte, weil er damit eine Entscheidung für Trockij und gegen Zinovev, Stalin und Kamenev herbeiführen konnte.“233 Der von Moskau im optimistischen Glauben an das Bestehen unmittelbarer revolutionärer Chancen dekretierte und letztlich dilettantisch vorbereitete Deutsche Oktober war gescheitert, ehe er überhaupt begonnen hatte. Es kam nicht zu einer bewaffneten Erhebung, da die KPD-Führung unter Heinrich Brandler nach den Erfahrungen der Märzaktion von 1921 nicht noch einmal isoliert kämpfen wollte. Mit der Begründung, „ich mache dieselbe Dummheit nicht zweimal“, blies Brandler nach der Chemnitzer Konferenz, auf der er die unteren sozialdemokratischen Funktionäre nicht aktionsbereit fand, den Aufstand ab.234 Die unmittelbar darauf folgenden Ereignisse fasste er später in aller Kürze zusammen: 231 Vatlin (S. 12) ist der Ansicht, dass es sich sogar um eine „ehrliche Hinwendung“ Radeks zum traditionellen sozialistischen Prinzip internationaler Solidarität gehandelt habe. 232 Goldbach a.a.O. 233 Ebenda, S. 132. 234 Löwenthal, Rußland und die Bolschewisierung der deutschen Kommunisten, S. 10f.

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„Nach der Oktoberkonferenz in Chemnitz war mir klar, daß die Partei zur Rettung der Partei für eine so ungeheure Sache einen Sündenbock in die Welt schicken mußte. Dem Genossen Radek, der als offizieller Vertreter der Komintern zwei Tage später kam, sagte ich persönlich. Ich habe die Geschichte gemacht und das getan, was zur Rettung der Partei unbedingt möglich [nötig?] ist, daß ich aus der Öffentlichkeit herausgehe und Ihr mir die Verantwortung für diese Dinge übertragt. Radek sagte, das ist Unsinn! Gerade im Rückzug wäre es falsch, eine Panikstimmung zu machen. Ich sagte, es ist gut, sprich mit Arvid [Pjatakov] darüber. Dann kam der Zentralausschuß [am 3. November], wo unsere Linie, die wir aufstellten, mit einer Einstimmigkeit vom Zentralausschuß gebilligt wurde, wie niemals, solange ich auf einem Zentralausschuß war. Die Berliner [Ruth Fischer] und die Hamburger Organisation [Ernst Thälmann] war auf diesem Zentralausschuß isoliert. Von Moskau bekam ich einen Brief von Sinowjew, daß er mit unserer Linie vollkommen einverstanden sei und daß es jetzt gelte, im Rückzug keine Panikstimmung hervorzurufen.“235

Als Radek, zur Führung des Deutschen Oktober, vom Kreml’ abkommandiert, in Dresden eintraf, hatte sich die große kommunistische Erhebung in Sachsen und Thüringen bereits als eine „Seifenblase“ erwiesen, die beim ersten Anhauch zerplatzt war.236 Er bewies in dieser Situation, wie auch Brandler, den Mut zur eigenen Verantwortung, indem er dessen Entscheidung nachträglich sanktionierte und die deutschen Kommunisten vor sinnlosem Blutvergießen bewahrte. Von Lenin hatte er die „Kunst des Rückzuges“ gelernt.Statt einer kommunistischen Revolution kam es am 9. November zum Hitlerputsch in München und im Reich übernahm der Chef der Heeresleitung, General von Seeckt, zusammen mit seinen Wehrkreisbefehlshabern, die vollziehende Gewalt.237 Die Tage in Deutschland wurden nicht zur „Sternstunde der politischen Karriere Radeks“, auch wenn er sich mit den Vollmachten des sowjetischen Politbüros ausgestattet, als der eigentliche Führer der KPD fühlte.238 Bei der Umsetzung des Revolutionsplans fehlte ihm auch die entschlossenen Unterstützung und Rückendeckung durch Moskau. Zwar hat es wohl keine bewusste „Sabotage“ des Deutschen Oktober durch die Kremlführer gegeben, aber der Kampf zwischen den potentiellen Erben Lenins raubte der RKP(b) die Fähigkeit, ihre Kräfte auf den Umsturz in Deutschland zu konzentrieren. Militärische „Hilfeleistungen“ in der Dimension, wie sie der Beschluss des Politbüros vom 21. August vorsah, hätten 235 Erklärung Brandlers vor der Zentralen Kontrollkommission der RKP; Protokoll Nr. 2 der Sitzung der ZKK der RKP vom 11. März 1925, in: Becker, S. 142. 236 von Rauch, Geschichte der Sowjetunion, S. 225. 237 Über die Beurteilung der kommunistischen Bedrohung im Herbst 1923 durch General von Seeckt berichtet der spätere Moskauer Botschafter Hans Kroll (S. 34f.), der damals am deutschen Generalkonsulat in Odessa tätig war. Er wurde nach Berlin entsandt, um dem Chef der Heeresleitung über ihm bekanntgewordene kommunistische Vorbereitungen zur Machtübernahme im Reich zu berichten. Als er Seeckt seine Erkenntnisse vortrug, blieb dieser gelassen und meinte, in vierzehn Tagen sei „dieser ganze bolschewistische Spuk“ vorüber. Seeckt behielt recht. 238 Vatlin, S. 12

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allerdings nicht nur die Konfrontation mit Deutschland bedeutet, sondern darüberhinaus zu einem europäischen Krieg führen können. Ironischerweise hat damit der innere Konflikt, der die Führung der bolschewistischen Partei lähmte, die Sowjetunion vor neuen riesigen Opfern auf dem Altar der Weltrevolution bewahrt.239 Radek kompensierte die „deutsche Niederlage“ mit Sarkasmus und machtpolitischem Zynismus. Von ihm stammt der anscheinend unsterbliche Witz, der zuweilen Lenin und manchmal auch Stalin zugesprochen wird: „Der kommunistische Minister Paul Böttcher wollte mit einer „Roten Hundertschaft“ den Hauptbahnhof Dresden besetzen. Davor angekommen, kommandierte er: Halt, erst Bahnsteigkarten kaufen.“240 Als Brockdorff-Rantzau in einem vertraulichen Gespräch Anfang Dezember 1923 den Vorhalt machte, die Sowjetregierung solle offen von der Politik der III. Internationale abrücken, denn es gefährde die deutsch-russischen Beziehungen, wenn Sowjetagenten die Weltrevolution in Deutschland vorbereiten würden, obwohl die KPD außerstande sei das Land zu regieren, antwortete Radek spitz, „soweit er sehen könne, müsse die angebliche Unfähigkeit der deutschen Kommunisten erst noch bewiesen werden, wogegen der politische Bankrott der bürgerlichen Parteien bereits offen zutage läge.“ Im Übrigen werde die Komintern nicht von der Sowjetregierung geleitet und „im Fall einer Inkongruenz ihrer politischen Absichten [würde] er selbst mit der Internationale gehen und seinen Posten im Zentralexekutivkomitee der UdSSR niederlegen“241. Eine freche Unverschämtheit, wenn man vergegenwärtigt, dass er sich im Anschluss an eine Erkundungsmission des stellvertretenden sowjetischen Geheimdienstchefs auf Geheiß des Kreml’ in Begleitung von zwei Angehörigen der Sowjetregierung, darunter ein Minister, und unterstützt vom Sowjetbotschafter in Berlin, illegal nach Deutschland begeben hatte, um die Verfassungsordnung des Rapallopartners Weimarer Republik mit Hilfe von Sowjetagenten und der KPD als Fünfter Kolonne zu stürzen. Bedenken im Hinblick auf außenpolitische Implikationen des Oktoberabenteuers wies er zurück. Brockdorff-Rantzau zitierte ihn mit dem Satz: „Ich bin überzeugt, daß die Sowjetregierung gut mit einer deutschen reaktionären Regierung arbeiten kann. Das ist auch der Wunsch des Generals v. Seeckt, der erklärt habe, man müsse den Kommunisten in Deutschland die Gurgel abdrücken, aber mit der Sowjetregierung zusammengehen.“242 Ebenso wie die Planung des Deutschen Oktobers, war auch die Analyse der Niederlage ein Reflex des innerrussischen Kampfs um die Nachfolge des im Sterben liegenden Lenin. Komintern-Chef Zinov’ev, dem das Fiasko in Deutschland den größten Prestigeverlust gebracht hatte, wollte den erlittenen Rückstand im Rennen um die Macht wettmachen, indem er Radek und Brandler die Schuld zuschob. Ein Schritt mit dem er gleichzeitig seinen Komintern-Konkurrenten Radek ausschal-

239 Ebenda, S. 19. 240 Retzlaw, S. 249. 241 Hilger, S. 126. 242 Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus vom 14. Dezember 1923. Zeidler, S. 85.

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ten und seinem Rivalen Trockij Schaden zufügen konnte.243 Die Komintern war zum Schauplatz der bolschewistischen Fraktionskämpfe geworden. Der von Zinov’ev initiierte Beschluss des sowjetischen Politbüros vom 27. Dezember 1923 signalisierte das Ende der „Radek-Periode“ in der Geschichte der Kommunistischen Partei Deutschlands. In der Folge geriet die Parteiführung in die Hände der ultralinken Elemente mit Ruth Fischer an der Spitze.244 „Radeks Karriere als Manager der Revolution“ wurde beendet“245, auch wenn er dem Vorwurf, er habe die deutsche Revolution durch sein falsches Taktieren und den Befehl zum kampflosen Rückzug verpfuscht, mit machiavellistischen Argumenten zu begegnen versuchte: „Ich halte es nicht für die erste Pflicht des Politikers, wenn er A gesagt hat, immer A zu sagen. Manchmal muß man B, manchmal muß man auch Y sagen, aber manchmal kann man sagen, daß es überhaupt nicht A war.“246

243 Möller, S. 39. 244 Vatlin, S. 19. 245 Möller, a.a.O. 246 Referat Karl Radeks vor dem Präsidium des Erweiterten Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale zur deutschen Frage am 11. Januar 1924, in: Die Lehren der deutschen Ereignisse. Das Präsidium des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale/Januar 1924, Hamburg 1924, S. 5–23. Hamburg; zitiert nach: Möller, S. 262.

16.  Als Sündenbock abgehalftert (1924) Die in Moskau anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen den Triumvirn und Trockij prägten die Szene auf der sich der politische Abstieg Radeks im Jahre 1924 vollzog. Bereits um die Jahreswende verschlechterte sich seine im Fraktionskampf angeschlagene Position weiter, als der erkrankte Trockij den politischen Auseinandersetzungen in Moskau fernblieb und sich schließlich in ein Sanatorium am Schwarzen Meer zurückzog. Er konnte Radek deshalb nicht beistehen, als dieser sich im Januar vor der Komintern für die Oktoberniederlage verantworten musste. Er war auch bei einer darauffolgenden entscheidenden Sitzung des Zentralkomitees abwesend, in der Radek abermals wegen seiner angeblichen Fehler in Deutschland von Zinov’ev gebrandmarkt wurde. Lenins Tod am 21. Januar 1924 verschaffte Radek zwar noch einmal eine Atempause, aber seine einflussreiche Rolle in der Deutschlandpolitik des Kreml’ fand mit dem XIII. Parteitag der RKP(b) im Mai ihr Ende. Er wurde nicht mehr ins Zentralkomitee gewählt, dem er seit 1919 angehört hatte. Einige Wochen später verlor er auch alle Funktionen in der Komintern. Mit größter Mühe gelang es ihm, sein Arbeitszimmer im Gebäude des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale an der Mochovaja zu behalten, wo er dann jeden Tag Stöße von Zeitungen auswertete und sich als politischer Publizist betätigte.1 Dass sich der Wind in Moskau gegen ihn gedreht hatte, gewahrte Radek unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Deutschland an verschiedenen Indizien. Mitte Dezember 1923 als die „Pravda“ eine Trockij und seine Anhänger unterstützende Resolution aus Kiev in ihr Gegenteil verfälscht veröffentlichte, wies die Parteikontrollkommission der RKP(b) den daraufhin von Trockij, Radek und Pjatakov gemeinsam vorgebrachten Protest zurück und tadelte die Beschwerdeführer. Stalins nahezu allmächtig gewordenes Parteisekretariat hatte damit begonnen, die Opposition mundtot zu machen.2 Auch Zinov’ev wurde indirekt über Otto Kuusinen, den Sekretär des Exekutivkomitees der Komintern gegen Radek tätig. Kuusinen stand Radek feindselig gegenüber, seit dieser einmal in einer wichtigen Sitzung seine Rede mit den spöttischen Worten unterbrochen hatte: „Genosse Kuusinen ist so hilflos, daß er nicht wüßte, was tun, wenn mal alle Knöpfe seiner Hose abrissen. Er würde lediglich dastehen und sie mit beiden Händen festhalten.“3 Kuusinen musste Radek nun zu sich nach Hause einbestellen, um „die Ereignisse in Deutschland objektiv zu diskutieren“, was nichts anderes bedeutete, als Munition gegen ihn zu sammeln. In Kuusinens Wohnung traf Radek, der in Begleitung Larisa Rejsners gekommen war, auf die Zinov’ev-Anhänger Ernst Thälmann und Béla Kun. Thälmann war Repräsentant des linken KPD-Flügels um Ruth Fischer und Kun der Deutschlandexperte

1 Vatlin, S. 20. 2 Souvarine, S. 235. 3 Kuusinen, S. 103.

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Zinov’evs. Noch bevor der Hausherr auftauchte, begann man lautstark über die Vorgänge in Deutschland zu streiten: „Radek hatte sich zunächst ruhig verhalten, aber plötzlich nahm er an dem Streit teil, und nun schrien alle drei Männer durcheinander […]. Plötzlich sprang […] [Larisa Rejsner] auf, warf sich zwischen Radek und Thälmann und drohte dem letzteren mit der Faust, wobei sie ihn einen sich auf seine Muskeln verlassenden Idioten nannte und ihm noch andere weniger schmeichelhafte Komplimente an den Kopf warf […]. Plötzlich ging die Dame [Rejsner] auf Thälmann zu, zerrte an seinem Rock und hämmerte mit der Faust auf dessen Brust. Darauf begann ein regelrechter Kampf, und zwar zwischen Radek und […] [Rejsner] auf der einen Seite und Thälmann und Kun auf der anderen. Radek aber war ein schwächlicher Bursche verglichen mit Thälmann, der keinen Zentimeter zurückwich, sondern mit gespreizten Beinen und mit den Händen in den Hosentaschen dastand – das Bild eines echten Hafenarbeiters. Als Kun eben auf Radek losgehen wollte, trat Thälmann plötzlich einen Schritt zurück, ergriff Radek bei den Rockaufschlägen und sagte: „Hör mal Radek, seit wann glaubt ein galizischer Jude, daß er einen ungarischen Juden verprügeln kann?“. Diese Bemerkung brachte alle aus dem Gleichgewicht und machte – nach einem gezwungen klingenden Gelächter – dem Kampf ein Ende.“4

Soweit der Bericht von Kuusinens Ehefrau Aino – Zeugin dieser Auseinandersetzung. Er macht deutlich, in welcher angespannten und desolaten Gemütsverfassung sich die Hauptakteure des Deutschen Oktober befanden. Radek war jedoch weit davon entfernt klein beizugeben. Als der Leiter der Politischen Verwaltung des Revolutionären Kriegsrats und Trockij-Verbündete Vladimir Antonov-Ovseenko wegen politischer Unbotmäßigkeit von seinem Posten entfernt werden sollte, war es allein Radek, der für ihn Partei ergriff. Anlass war ein Brief dieses obersten Politoffiziers der Roten Armee vom 27. Dezember 1923, in dem er sich für einen Untergebenen einsetzte, der nach einem Streit mit Zinov’ev in Ungnade gefallen war. Antonov, der zu den Unterzeichnern des „Briefs der Sechsundvierzig“ gehört hatte, drohte in seinem Schreiben damit, die „übermütig gewordenen Führer zur Ordnung zu rufen“. Als er deshalb von der Parteiführung als Oppositioneller zur Rechenschaft gezogen werden sollte, verteidigte ihn Karl Radek: „In der Resolution über die innerparteiliche Demokratie ist ein Paragraph notwendig, der es den Mitarbeitern der Politverwaltung verbietet, an Diskussionen teilzunehmen. Es wäre etwas anderes, wenn Antonow-Owsejenko den Apparat der Politverwaltung zur Fraktionsarbeit benutzt hätte. Für den unzulässigen Ton des Briefes soll er gemäß der Parteiordnung gerügt werden, es geht aber nicht, drei Fragen auf einen Haufen zusammenzuwerfen. Solange die Untersuchung in der Politverwaltung nicht beendet ist, darf Antonow-Owsejenko nicht entlassen werden.“5 4 Ebenda, S. 82. 5 Antonow-Owsejenko [Antonov-Ovseenko], S. 50f.

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Radeks Einwand war vergebens. Der Chef der Politverwaltung wurde abberufen und ins diplomatische Exil nach China geschickt. Im sowjetischen Politbüro war am 18. und 27. Dezember 1923 mit der Feststellung, dass Radeks politische Haltung nicht der Auffassung der bolschewistischen Parteiführung entspräche, die entscheidende Weichenstellung für sein weiteres politisches Schicksal erfolgt. Das war die Vorgabe für die von Zinov’ev angesetzte Generalabrechnung mit Radek und Brandler im Exekutivkomitee der Komintern vom 11.–19. Januar 1924. Eine „Leichenschau im Komintern-Hauptquartier“ nannte Ruth Fischer diese „Sitzung des Präsidiums der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale zur deutschen Frage“6. Die Hauptbeteiligten an dem Scherbengericht waren auf russischer Seite, neben Radek, Zinov’ev, Bucharin und Pjatnickij7. Trockij fehlte wegen Krankheit. Von deutscher Seite erschien nahezu die gesamte Spitze der KPD, darunter Brandler mit seinen Anhängern Walcher und Clara Zetkin, das sogenannte Zentrum mit Pieck und Remmele sowie die Parteilinken, angeführt von Ruth Fischer und Maslov. Daneben waren einige bulgarische und polnische Kommunisten anwesend, unter ihnen Radeks alter Genosse WarszawskiWarski, der sich bei dieser Gelegenheit vergeblich für ihn einsetzte. Zusammen mit Brandler verteidigte Radek energisch seinen Standpunkt: Die deutschen Arbeiter seien noch nicht revolutionsbereit gewesen und deshalb sei der Oktoberrückzug notwendig und vernünftig gewesen. Radek führte aus, er teile zwar die Auffassung, „daß wir eine große historische Situation verpaßt haben, wie sie selten so günstig vorliegt“, aber als Grund für die Niederlage sehe er „große Schwächen“ der Führung der KPD an, „die mit ihrer Abkunft aus der Sozialdemokratie zusammenhängen“, insbesondere ihre ungenügende revolutionäre Erfahrung: „Die Hauptrolle in der ganzen Geschichte spielte die Tatsache, daß die Partei, die bisher die Kampffront nicht aufmarschieren ließ – als sie sich sagte: Kampf, erklärte, der bestehe darin, daß wir uns zum Losschlagen vorbereiten, und daß sie inzwischen nichts tat. Diese Tatsache war die ausschlaggebende Tatsache für die Niederlage.“

Allerdings, so ergänzte er einschränkend, habe die Kominternführung die sich anbahnende revolutionäre Entwicklung in Deutschland erst sehr spät registriert: „Wir in Moskau orientierten uns, daß es wirklich um ausschlaggebende Dinge in Deutschland geht, erst nach den Augusttagen […]. Würden wir die Dinge im Ernst als 6 Ausführliche Darstellung dieser Sitzung in: Die Lehren der deutschen Ereignisse. Das Präsidium des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale zur deutschen Frage/Januar 1924, Hamburg 1924. Sofern nicht anders vermerkt, folgen die nachstehenden Ausführungen Angress, S. 503–505. 7 Pjatnickij, Iosif Aronovič – Pseudonym von Taršis, Osip Aronovič (1882–1939); Altbol’ševik und Revolutionär, seit 1921 Sekretär der Komintern und seit 1923 Mitglied der Zentralen Parteikontrollkommission der RKP(b).

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auf die Revolution zutreibende wirklich angesehen haben, so hätte auf der Tagesordnung der Erweiterten Exekutive [im Juni 1923] nur eine Frage stehen dürfen, nämlich die Vorbereitung der Massenkämpfe in Deutschland und die Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes […]. Wir haben das nicht getan. Nach den Augustereignissen sahen wir [erst] wohin es geht […]. Wir beschlossen hier: Die Situation ist so ernst, entweder nehmen die Faschisten die Macht oder wir. Wir beschlossen: wir nehmen sie.“

Er rechtfertigte den Schlageterkurs, den das EKKI einstimmig gutgeheißen habe. Es sei um die Eroberung der Massen gegangen und man habe nicht so schnell mit einer zweiten revolutionären Welle gerechnet. Aber man habe sie keineswegs ausgeschlossen, fuhr er fort: „Der 4. Kongreß hatte nicht die Auffassung, daß die Einheitsfrontpolitik der Evolution dienen soll […]. Trotzdem hat er in Westeuropa die Möglichkeit spezieller Situationen ins Auge gefaßt, wo die Ausnutzung sogar einer demokratischen uns in die Hände gefallenen Arbeiterregierung als Sprungbrett für die Kämpfe um die Diktatur sich bieten kann.“

Radek beendete sein Plädoyer mit der Aufforderung, die Kommunisten sollten sich künftig nicht selbst durch ideologische Fesseln den Weg zu einer pragmatischen Politik verbauen: „Und mögen wir tausend Fehler in unserer Anwendung der Einheitsfronttaktik gemacht haben, so sollen wir sie korrigieren“, denn es stelle sich die Frage, ob „wir in Westeuropa zu kommunistischen Diskussionsparteien oder zu kämpfenden Parteien“ werden wollen. Die letzteren müssten sich alle praktischen Möglichkeiten offenlassen. Eine „praktische Linie der Partei“ sei für ihn „tausendmal wichtiger als alle theoretischen Spintisierereien“ mit denen „wir die größte Krise des Kommunismus heraufbeschwören, die darin bestehen wird, daß unsere Theorie den wirklichen Notwendigkeiten der Bewegung nicht entsprechen wird.“ Er schloss mit den Worten: „Die größte Quelle der Krise, die wir hatten, die wir noch haben werden, jahrelang, wenn die Revolution nicht kommen wird, besteht darin: Wir sind die Partei der Diktatur, aber wenn keine revolutionären Wellen schlagen, so kann man für die Diktatur nur Propaganda, Agitation treiben. Und die Masse lebt nicht nur von der Propaganda und Agitation. Vor den kommunistischen Parteien stehen praktische Aufgaben. In denen ist es so schwierig, den Standpunkt des Kommunismus durchzuführen, daß eine große Diskrepanz herrscht zwischen unserem Wollen und unserem Können. Und wenn wir das nicht sehen und auf Grund dieser Diskrepanz unsere Leitungen zu reformistischen stempeln, Genossen, dann werden wir zerfallen […]. Mit einer rein agitatorischen Linie des Kommunismus werden wir herrliche kleine kommunistische Parteien haben. Es wird wieder die Frage stehen: Sekte oder Masse […].“8 8 Referat Karl Radeks vor dem Präsidium des Erweiterten Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale zur deutschen Frage am 11. Januar 1924, in: Die Lehren der deutschen Ereignisse.

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Es war Radeks „Abschiedsrede als Chefplaner der Komintern für Deutschland“9. Als Sprecherin der linken KPD-Opposition erging sich Ruth Fischer anschließend in einer hemmungslosen Tirade gegen ihn, gefolgt von einer ebenso rückhaltlosen Kritik Zinov’evs. Dieser warf Radek sowie Brandler und Thalheimer vor, bei der Verfolgung des taktischen Konzepts der Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten nicht erkannt zu haben, dass die SPD schon längst keine Arbeiterpartei mehr sei, sondern ein „linker Flügel des Faschismus“. Daneben griff er Radek als den wichtigsten Exponenten der Taktik der Zusammenarbeit mit den deutschen Rechtsextremisten an. Radek habe bei seiner Suche nach Nuancen und Unterschieden innerhalb des faschistischen Lagers vergessen, dass auf solche Differenzierungen die Politik der Arbeiterklasse nicht aufgebaut werden könne. Diese Differenzen seien nicht prinzipieller Natur, daher sei eine Politik, die vorwiegend auf der Ausnützung dieser Unterschiede basiere, „opportunistisch“.10 Im Anschluss an die Referate wurde eine Kommission beauftragt, eine offizielle Resolution über die deutsche Oktoberniederlage abzufassen. Ihr gehörten nur KPD-Funktionäre des linken Flügels und des Zentrums sowie Kuusinen als Komintern-Vertreter an. Radek und Brandler blieben von der Arbeit ausgeschlossen. Während die Kommission noch beriet, arbeitete Zinov’ev hinter den Kulissen weiter daran, das Verdammungsurteil gegen Radek noch umfassender zu gestalten. Das gelang ihm auch mit Hilfe des Zentralkomitees, das am 14. und 15. Januar tagte und den gegen Radek gerichteten Beschluss des Politbüros vom 27. Dezember 1923 absegnete: „Genosse Radek vertritt in dieser Frage [der Oktoberniederlage] nicht die Auffassung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Russlands“. Auf der 13. Parteikonferenz, die zur Vorbereitung des kommenden Parteitages zusammentrat und in einer Resolution Trockij und die Opposition verurteilte, hielt Zinov’ev dann am 18. Januar 1924 eine Rede, in der er die auf der Januar-Sitzung des EKKI erhobenen Vorwürfe gegen Radek wiederholte und dessen Mission in Deutschland schonungsloser als je zuvor einer vernichtenden Kritik unterzog. In seinem unnachahmlichen singenden Tonfall rief er, Radek, der „angeblich mehr über diese [deutsche kommunistische] Bewegung gewußt habe als andere und als die größte Autorität über sie gegolten habe“, hätte „mehr Fehler gemacht, als irgendjemand anders“. Er „habe die Partei an ihren Rockschößen festgehalten, als er sie zum Kampf hätte rufen sollen.“ Die Anschuldigungen wurden zum Inhalt einer Resolution, die einmütige Annahme fand. Nur ein Teilnehmer enthielt sich der Stimme, nämlich Karl Radek.11 Zum Ende der Konferenz übertrumpfte Stalin als General-

Das Präsidium des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale/Januar 1924, Hamburg 1924; zitiert nach: Möller, S. 263f. und 267f. 9 Möller, S. 258. 10 Die Lehren der deutschen Ereignisse, a.a.O., S. 70; zitiert nach: Luks, S. 72 und S. 81. 11 Angress, S. 505.

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sekretär der Partei in seinem Schlusswort12 Zinov’ev noch, indem er Radek der Unwahrheit bezichtigte und als unberechenbaren Schwätzer hinstellte. Der Georgier stellte kategorisch fest, Radeks Behauptungen über eine angebliche „Hetze gegen Trotzki“ würden „der Wirklichkeit keineswegs entsprechen“. Dann zerpflückte er in seiner „später so typischen hölzern-arroganten Art eines allwissenden und gestrengen Schulmeisters“13 jüngste widersprüchliche Äußerungen Radeks über das Prinzip der innerparteilichen Demokratie, um daraus spitzfindig abzuleiten, dass es sich bei der oben erwähnten Fürsprache Radeks für Antonov-Ovseenko ebenfalls nur um törichtes Gefasel gehandelt habe: „Es gibt Menschen, denen die Zunge gegeben ist, um ihrer Herr zu sein und um sie in der Gewalt zu haben. Das sind gewöhnliche Menschen. Und es gibt Menschen, die ihrer eigenen Zunge unterliegen und in ihrer Gewalt sind. Das sind ungewöhnliche Menschen. Zu dieser Art ungewöhnlicher Menschen gehört Radek. Ein Mensch, dem die Zunge gegeben ist, nicht um sie in ihrer Gewalt zu haben, sondern um sich von seiner eigenen Zunge beherrschen zu lassen, wird nicht wissen können, wann und was diese Zunge schwatzt. Wenn Sie die Möglichkeit gehabt hätten, die Reden Radeks in verschiedenen Versammlungen zu hören, würden Sie über sein heutiges Auftreten erstaunt sein. In einer der Versammlungen behauptete Radek, die Frage der innerparteilichen Demokratie sei eine belanglose Frage, er, Radek, sei eigentlich gegen die Demokratie […]. In einer anderen Diskussionsversammlung erklärte derselbe Radek, der Demokratie innerhalb der Partei komme keine große Bedeutung zu, die Demokratie innerhalb des ZK hingegen, sei von allergrößter Wichtigkeit […]. Heute aber erklärt derselbe Radek unumwunden, daß die innerparteiliche Demokratie ebenso notwendig sei wie Luft und Wasser, denn ohne Demokratie gäbe es, wie sich herausstellt, keine Möglichkeit, die Partei zu leiten. Welchem von diesen drei Radeks soll man nun glauben – dem ersten, dem zweiten, dem dritten? Wo ist die Garantie dafür, daß Radek beziehungsweise seine Zunge nicht in der nächsten Zukunft neue unerwartete Erklärungen abgeben wird, die alle vorangegangenen Erklärungen widerlegen? Kann man sich auf einen Menschen wie Radek verlassen? Kann man hiernach zum Beispiel der Erklärung Radeks, Boguslawski14 und Antonow seien aus ,fraktionellen Erwägungen‘ bestimmter Funktionen enthoben worden, einen Wert beimessen?“15

Radek, der sich für Trockij und Antonov-Ovseenko vor dem Parteiplenum ins Zeug gelegt hatte, wurde von Stalin prompt dafür abgestraft, als ein unverantwortliches Plappermaul charakterisiert und der Lächerlichkeit preisgegeben. Das durchaus mu12 2. Schlusswort Stalins auf der XIII. Parteikonferenz der KPR(B) [RKP(b)] am 18. Januar 1924, in: J. W. Stalin, Werke, Band 6, Berlin (Ost) 1952, S. 34. 13 Möller, S. 16. 14 Boguslavskij, Michail Solomonovič (1886–1937); sowjetischer Partei- und Staatsfunktionär; als Gegner Stalin 1927 aus der Partei ausgeschlossen. 15 2. Schlußwort Stalins, a.a.O., S. 37f.

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tige Verhalten Radeks, das den Anlass für Stalins bösartige Beschreibung gab, geriet bald in Vergessenheit. Das negative Etikett, das der Georgier ihm anhängte, blieb hingegen haften und prägt – oft zitiert – bis heute das Bild Radeks als das eines unzuverlässigen Menschen, der nicht fähig war, seine Zunge im Zaum zu halten. Am folgenden Tag legte die Komintern-Kommission dem Präsidium des EKKI ihren Resolutionsentwurf vor, „ein Flickwerk wenig überzeugender Erklärungen über die Ursachen der deutschen Oktoberniederlage“. Der Wortlaut dieser „Lehren der deutschen Ereignisse“ enthielt zwar die Kritiken der Radek-Gegner, nicht aber die Argumente Radeks und Brandlers. Obwohl Brandler, Pieck, Zetkin und vier weitere Funktionäre gegen Wortlaut und Geist des Papiers protestierten, wurde der Entwurf schließlich am 21. Januar 1924 einstimmig angenommen – wenige Stunden bevor Lenin starb. Nachdem Radek und Brandler ebenfalls für die Resolution stimmten, konnte dies leicht als Eingeständnis ihrer Schuld gewertet werden.16 Später trat Komintern-Sekretär Otto Kuusinen in der „Pravda“ noch nach, indem er Radek eine „mißlungene Darstellung des ,deutschen Oktober‘“ vorwarf“. Radek habe versucht, in seinen Thesen „die [Brandler-Thalheimer-]Leitung der KPD aus dem Feuer zu nehmen“ und geschrieben: „Hätte die Partei im Oktober zum Aufstand aufgerufen, wie das von den Berliner Genossen [Ruth Fischer, Maslov] vorgeschlagen wurde, so würde sie jetzt mit gebrochenem Genick darniederliegen.“ Trockij und Pjatakov hätten sich dieser „Einschätzung der deutschen Ereignisse“ angeschlossen.17 Das Präsidium des EKKI habe diese Thesen mit Mehrheit abgelehnt. „Zur Grundlage seiner Position nahm das Präsidium die Linie von Sinowjew, die ,rechte Abweichung‘ in der KPD zu überwinden.“18 Als Lenin starb, trat das Dreimännerkollegium Zinov’ev, Kamenev, und Stalin seine Nachfolge an. Petrograd wurde in Leningrad umbenannt und Stalin eröffnete mit einem großen „Schwur“ den Leninkult der kommenden Jahre. „Der Zweck dieses Kultes war allen sofort klar: wenn Lenin Allah war, dann war Stalin sein Prophet.“19 Das Februarplenum des CK der RKP(b) am 3. Februar 1924 überstand Radek ungeschoren. Ohne das ganze Ausmaß der „trostlos-grausamen Zukunft“ der kommenden Stalin-Ära im Detail schon zu erkennen, ahnte er Schlimmes, blieb aber dennoch – wie auch Brandler – zuversichtlich, „mit sachlicher Arbeit, solider Analyse und überzeugenden Argumenten“ innerhalb der Partei weiter Einfluss nehmen zu können.20 Die Hauptakteure des Deutschen Oktobers hielten Verbindung untereinander. Brandler schrieb am 10. Februar an Radek, er habe mit Thalheimer folgende vorläufige Linie verabredet: „1. Warnen, 2. Bereitschaft erklären, sich zu 16 Die Lehren der deutschen Ereignisse, a.a.O., S. 505f. 17 Kuusinen, O. W.: Eine mißlungene Darstellung des ,deutschen Oktober‘, in: „Pravda“ vom 30. November 1924; zitiert nach: Watlin [Vatlin], Die Komintern 1919–1929, S. 85. 18 Die Lehren der deutschen Ereignisse. Die ,deutsche Frage‘ im Präsidium des Exekutivkomitees der Komintern, Moskau 1924, zitiert nach: Watlin [Vatlin], a.a.O. 19 Schapiro, S. 303. 20 Becker, S. 17.

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fügen, 3. Verantwortung ablehnen und warten“. Mit dieser taktischen Marschroute wollten beide den drohenden Parteiausschluss vermeiden, um auf jeden Fall in der KPD weiterarbeiten zu können. Gegenüber Clara Zetkin wurde Brandler noch deutlicher: „Würde ich den Kampf beginnen“, teilte er ihr brieflich am 14. Februar mit, „ich wäre in drei Tagen ausgeschlossen. Ruth [Fischer], Maslow […] arbeiten mit aller Kraft auf meinen Ausschluß hin […]. Als Ausgeschlossener bin ich auch für die Reorganisation der Partei tot, wenn die Zeit und die Möglichkeit dafür gekommen ist.“ Radek, der diesen Brief zur Kenntnis bekam, reagierte darauf am 20. Februar in einem Schreiben an Brandler, Thalheimer und Walcher. Ohne alle Larmoyanz diagnostizierte er darin den Ist-Zustand der Komintern und den noch verbliebenen geringen Handlungsspielraum, den man sich klugerweise erhalten müsse: „Wenn der Zustand nicht aufhört bei dem jede Meinungsdifferenz dazu führt, daß den differierenden Genossen die Gefahr droht, herausgeschmissen zu werden, so wehe der Kommunistischen Internationale, sie wird Fehler auf Fehler machen. Es ist darum die Pflicht eines jeden von uns, wenn Differenzen bestehen, sie klar herauszuarbeiten, aber sich nicht treiben zu lassen zu Schritten, die den Rausschmiß ermöglichen.“21

Zu diesem Zeitpunkt war die Brandler-Gruppe bereits nicht mehr in der KPDFührung vertreten und weder Brandler noch Thalheimer erhielten jemals wieder eine führende Position in der Partei.22 Sie mussten im Juni 1924 ins „Ehrenexil“ nach Moskau, wo sie Mitglieder der RKP(b) wurden. Radek genoss hingegen noch eine gewisse Schonfrist. Er schrieb Kommentare zu Fragen der Außenpolitik in „Pravda“ und „Izvestija“ und war noch immer CK-Mitglied und Angehöriger des Präsidiums des Exekutivkomitees der Komintern. „Nach Lenins Tod war sein politischer Einfluss im Kreml’ zwar geringer geworden, aber er war doch noch vorhanden.“23 So schaltete er sich auf Bitte Gustav Hilgers in Moskau erfolgreich als Vermittler ein, als es Anfang Mai wegen der Verletzung der Exterritorialität der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin durch die deutsche Polizei zu einem schweren Konflikt zwischen der Sowjetunion und Deutschland kam.24 21 Ebenda, S. 16f. 22 Am 19. Februar 1924 war die Wahl einer neuen KPD-Zentrale erfolgt, wodurch die Zahl der Zentralemitglieder vorübergehend auf sieben Funktionäre eingeschränkt wurde, von denen fünf zur Mittelgruppe und zwei zur linken Opposition gehörten. Auf dem IX. Parteitag der KPD in Frankfurt (7.–10. April 1924) gelang es dann den Linken, die Parteiführung an sich zu reißen – ein persönlicher Triumph Ruth Fischers, die sich als eigentliche Führerin durchsetzte, obwohl sie formell die Macht mit Remmele und Thälmann teilte. 23 Hilger, S. 178. 24 Am 3. Mai 1924 hatte die Berliner Politische Polizei auf der Suche nach dem deutschen Kommunisten Hans Botzenhardt, einem flüchtigen Führer des Hamburger Aufstandes, die im Verwaltungsgebäude einer Versicherungsgesellschaft in der Lindenstraße befindlichen Räume der sowjetischen Handelsvertretung durchsucht und mehrere Angestellte verhaftet. Sowjetbotschafter Krestinskij verließ daraufhin unter Protest Berlin, die Sowjets schlossen die Handelsvertretung,

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Mit dem ersten Parteikongress nach Lenins Tod, dem XIII. Parteitag der (RKP(b) vom 23.–31. Mai 1924, war Radeks Karriere als bolschewistischer Spitzenpolitiker beendet. Kurz vor der Eröffnung des Parteitages wurde auf einem außerordentlichen Plenum des CK am 22. Mai den führenden Funktionären der Partei Lenins Brief an den Kongress, in dem er die Führungsqualitäten der CK-Mitglieder beurteilt, einschließlich des Schreibens über die charakterlichen Schwächen Stalins zur Kenntnis gebracht. Die Veranstaltung mit der Verlesung von Lenins sogenanntem „Testament“, in dem er riet, Stalin als Generalsekretär abzusetzen, fand im Sitzungssaal des Allrussischen Zentralexekutivkomitees statt. Zinov’ev und Kamenev führten den Vorsitz. Radek saß zusammen mit dem mittlerweile wieder genesenen Trockij und Pjatakov auf Plätzen in der dritten Reihe des Mittelgangs.25 Trockij berichtet über den Augenblick, als Kamenev das „Testament“ verlas: „Radek, der auf dieser denkwürdigen Sitzung neben mir saß neigte sich zu mir und sagte: ,Jetzt wird man nichts mehr gegen Sie zu unternehmen wagen!‘ […] Ich antwortete Radek: ,Im Gegenteil, jetzt werden sie aufs Ganze gehen wollen und sogar so schnell wie möglich.‘“26 Tatsächlich kamen Zinov’ev und Kamenev Stalin zu Hilfe. Sie setzten sich dafür ein, ihn im Amt zu belassen und Lenins Brief dem Parteitag vorzuenthalten. Lenins Witwe Krupskaja protestierte vergeblich gegen die Unterdrückung des „Testaments“. Durch einfaches Handaufheben stimmte man ab. Mit 40 gegen 10 Stimmen wurde der Antrag angenommen, den letzten Willen Lenins nur handverlesenen Funktionären vertraulich zur Kenntnis zu bringen. Radek, Trockij und Pjatakov hatten vergebens dagegen gestimmt. Stalins Wiederwahl auf dem Parteitag war gesichert.27 Der XIII. Parteitag war von seltener Einmütigkeit geprägt. Angesichts des Schocks, den der Verlust von Lenins Führerschaft bewirkt hatte, verteidigten die Gegner der Triumvirn, insbesondere ihr Exponent Trockij, ihre Positionen nur schwach. Trockij begnügte sich mit einer Loyalitätserklärung:„Dies ist meine Partei, habe sie nun Recht oder Unrecht […] ich weiß, daß man gegen die Partei nicht im Recht sein kann […] denn die Geschichte hat kein anderes Mittel für die Verwirklichung dessen, was Recht ist, geschaffen.“28 Offenbar teilte er, wie alle anderen, Stalins Auffassung, dass „dem Parteiapparat den Krieg erklären […] die Zerstörung der Partei“ bedeute.29 Nachdem Zinov’ev von ihm ein ausdrückliches Schuldbekenntnis verlangte, verschloss er sich jedoch dem von der Krupskaja und Radek gemeinsam erteilten Ratschlag, mit Stalin Frieden zu schließen.30 Trotz seines Vermittlungsverbrachen alle Wirtschaftsverhandlungen ab und stornierten Aufträge für deutsche Firmen. Die Krise zog sich bis zum 29. Juli 1924 hin und wurde durch die Berliner Bestätigung der Exterritorialität der Handelsvertretung sowie die Wiederaufnahme der Verhandlungen über einen Handelsvertrag beendet. 25 Baschanow [Bažanov], S. 89. 26 Trockij, Stalin, Berlin 1952, S. 478. Legters, S. 103. 27 Baschanow [Bažanov], S. 90f.; von Rauch, S. 225. 28 Zitiert nach Schapiro, S. 304. 29 Ebenda. 30 Deutscher, Stalin, S. 299.

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suchs wurde Radek das einzige Opfer unter den Oppositionellen im Zentralkomitee, wenngleich nicht wegen seiner politischen Betätigung in der RKP(b), sondern wegen dem fehlgeschlagenen Deutschen Oktober.31 Von Zwischenrufen unterbrochen, erhielt er Gelegenheit, seine Rolle in Deutschland vor dem Parteitag zu verteidigen. Er begründete seine Rückzugsentscheidung mit dem Argument, ein bewaffneter Aufstand im Herbst 1923 wäre für die KPD selbstmörderisch gewesen. Daraufhin von Manuilskij, der auf seine Nachfolge in der Komintern reflektierte, aber auch von Bucharin als „Rechtsabweichler“ scharf angegriffen, kam eine Resolution zustande, in der es hieß: „Der Dreizehnte Parteitag stimmt mit der Arbeit der Delegation der RKP im Exekutivkomitee der Komintern voll überein und ist völlig solidarisch mit der taktischen Linie des Exekutivkomitees der Komintern. Der Parteitag stellt fest, daß die Rechtsabweichung [in Deutschland] die Genosse Radek – ungeachtet des Beschlusses des ZK der RKP [vom 15. Januar 1924] – verteidigt, nicht der politischen Linie der Kommunistischen Partei Russlands entspricht.“32

Die Resolution wurde von den Delegierten einstimmig angenommen. Radek, der in seiner Rede deutlich gemacht hatte, dass er nicht gewillt war, die Verurteilung seiner Deutschlandpolitik durch Komintern und CK widerspruchslos zu akzeptieren, übte Stimmenthaltung. Zum Abschluss des Parteitages wurde er nicht mehr ins Zentralkomitee wiedergewählt. Die Stufen seines politischen Abstiegs, der einen Monat später mit dem Verlust seiner Ämter in der Komintern den Tiefpunkt erreichte, fasste er in seiner Avtobiografija kommentarlos zusammen: „Nach Russland zurückgekehrt, beteiligte ich mich an den Diskussionen des Jahres 1924 auf Seiten der Partei-Opposition. Auf dem XIII. Parteitag trat ich gegen die sich abzeichnende Änderung der Taktik der Komintern auf. Ich wurde nicht mehr ins Zentralkomitee aufgenommen, dem ich als Mitglied seit 1919 angehört hatte. Auf dem 5. Kongreß der Komintern trat ich gegen den nun eingeschlagenen taktischen Kurs auf und wurde nicht mehr ins Exekutivkomitee der Komintern aufgenommen.“33

Der von Radek zitierte V. Weltkongress der Kommunistischen Internationale fand vom 17. Juni bis 8. Juli 1924 in Moskau statt. Er wurde auf dem Roten Platz „zu Ehren W. I. Lenins“ eröffnet, wobei Radeks Feindin Ruth Fischer als eine Hauptreferentin zum Thema „Leninismus und Komintern“ sprach. Radek stand mit seinem üblichen Referat zur „Weltlage“ nicht mehr auf der offiziellen Rednerliste des 31 Sofern nicht anders vermerkt, folgen die nachstehenden Ausführungen Lerner, S. 129f. 32 Trinadcatyj s’ezd RKP(b), maj 1924 goda. Stenografičeskij otčët [Dreizehnter Parteitag der RKP(b), Mai 1924. Stenographischer Bericht], Moskva 1963. Zitiert nach Lerner, S. 130; Rückübersetzung des Verfassers aus dem Amerikanischen. 33 Radek, Avtobiografija, Sp. 169.

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Kongresses. An seiner Stelle referierte Manuilskij über die „Nationalitäten- und Kolonialfrage“.34 Neu war, dass Deutsch als die bisherige Verkehrssprache der Komintern durch das Russische abgelöst wurde. Vor 1924 wurde die Mehrzahl der Reden in Sitzungen der Kommunistischen Internationale auf Deutsch gehalten und die wenigen fremdsprachlichen ins Deutsche übersetzt. Von den bolschewistischen Führern beherrschten Lenin, Trockij und Radek die deutsche Sprache. Auch Zinov’ev war des Deutschen einigermaßen mächtig, obwohl er es vorzog seine Reden auf Russisch zu halten und zuweilen auf Radek als Übersetzer zurückgriff. Stalin hatte auf dem V. Kongress seinen ersten großen Auftritt vor der Komintern. Er sprach kein Deutsch und so spiegelte der Wechsel der „Amtssprache“ der III. Internationale die Veränderung ihrer Führungsmannschaft wider: Lenin war tot; Stalin und sein Alliierter Zinov’ev befanden sich im Aufstieg; Trockij und Radek standen vor dem politischen Aus.35 In seinem Hauptreferat, dem „Bericht über die Tätigkeit und Taktik der Exekutive“, hielt Zinov’ev Radek abermals die von ihm in Deutschland gemachten „Fehler“ vor. Ihm folgte Ruth Fischer, die in ihrem „Bericht der Politischen Kommission“ ebenfalls massive Anklagen gegen Radek vortrug. „Die junge Frau, die wie mit Posaunen sprach, […] zog über Trotzki, Radek und Brandler her“ und beschimpfte sie als Menschewisten, Opportunisten und „Liquidatoren des revolutionären Prinzips“, die den „Glauben an die deutsche und europäische Revolution verloren hatten.“36 Radek verteidigte sich, indem er zutreffend ausführte, die von ihm verfolgte Einheitsfronttaktik „von oben“ habe sich in völliger Übereinstimmung mit der politischen Linie der Komintern und den Anweisungen Lenins befunden. Er bezichtigte Zinov’ev deshalb der nachträglichen Besserwisserei, enthielt sich aber im Übrigen aller gewohnten Sottisen. Als er geendet hatte, verzeichnete das stenographische Sitzungsprotokoll lediglich „vereinzelten Beifall“.37 Für Karl Radek, der bisher in den Versammlungen der Kommunistischen Internationale stets mit stürmischem Applaus begrüßt und verabschiedet wurde, rührte sich jetzt kaum noch eine Hand. Zinov’ev hatte das letzte Wort. Am 26. Juni verurteilte er in seinem „Schlußwort zum Bericht der Exekutive“ nochmals Radeks politische Fehler. Er verlas ein Sündenregister, das die „zehn Meinungsverschiedenheiten zwischen Radek und uns“ während der vergangenen drei Jahre zusammenfasste: „1. Eine verschiedene Einschätzung des Abfalls Paul Levis auf dem dritten Weltkongreß [1921]. 2. Ein verschiedenes Verhalten zur KAPD […] [, die Radek 1920/21 für die KPD gewinnen wollte].

34 Schumacher, S. 275. 35 Lerner, S. 131. 36 Deutscher, Trotzki II, S. 148. 37 Ebenda.

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3. Der von Radek […] [im] Januar 1921 geschriebene offene Brief an die Gewerkschaften. Einige Genossen – ich und Bucharin – waren dagegen […]. Die Einmischung des Genossen Lenin hat die Sache eingerenkt. 4. Die Frage der Konferenz der drei Internationalen in Berlin [1922]. 5. Die norwegische Frage und der Kompromiß mit Tranmael [1923]. 6. Das Verhalten zur deutschen [KPD-]Linken [1922/23]. ,[…] aber die eine Tendenz war für mich absolut klar: wir müssen, koste es, was es wolle, eine Verständigung mit der Linken finden. 7. Die Frage der Arbeiterregierung [1923]. 8. Die Thesen des Leipziger Parteitags [1923]. 9. Das Steuerprogramm [der KPD, 1923]. 10. Die Fragen auf der Septemberkonferenz (1923) der deutschen Genossen bezüglich der Vorbereitungen für die Machtergreifung in Deutschland.“38

Der V. Kongress der Internationale zementierte die Dominanz der russischen Partei, indem er beschloss die kommunistischen Parteien zu bolschewisieren.39 Das euphorisch aufgenommene Diktum Zinov’evs lautete: „Bolschewisierung ist der unbeugsame Wille zum Kampfe für die Hegemonie des Proletariats, ist der flammende Haß gegen die Bourgeoisie, gegen die konterrevolutionären Führer der Sozialdemokratie. […] Bolschewisierung – das ist die Schaffung einer festgefügten, wie aus einem Stein gehauenen, zentralisierten Organisation, die harmonisch und brüderlich die Differenzen in ihren Reihen austrägt, wie es Lenin gelehrt hat.“40

In den Sektionen der Komintern zunehmend als Mantra nachgebetet, bedeutete das die Übernahme der bolschewistischen Parteikonzeption in ihrer bereits erkennbaren prästalinistischen Fassung.41 An der Einheitsfronttaktik hielt der sogenannte „Bolschewisierungskongreß“ fest. Abgelehnt wurde allerdings ein Bündnis mit den Spitzen der Sozialdemokratie, das als Einheitsfront „von oben“ 1923 in Sachsen und Thüringen versucht worden war. Nunmehr sollte von den Kommunisten die Einheitsfront „von unten“ mit sozialdemokratischen und parteilosen Arbeitern in den Betrieben verwirklicht werden. Als der Kongress endete, wurde Radek nicht mehr ins Exekutivkomitee der Komintern gewählt. Seinen Platz nahm nun sein Konkurrent Manuilskij ein. Gleichzeitig erhielten Ruth Fischer und Ernst Thälmann den Status von Kanditaten des EKKI. Auf der im Anschluss an den V. Weltkongress stattfindenden IV. Erweiterten Tagung des EKKI (12./13. Juli 1924) verlor Radek dann auch seinen Sitz im höchsten 38 Fischer, R., Stalin, S. 263f. 39 Dazu gehörte vor allem, „eiserne bolschewistische Parteidisziplin“ zu üben und als Grundeinheit der Partei die Betriebszelle, statt der bisherigen Wohngebietsorganisation einzuführen. 40 Zitiert nach Becker, S. 19. 41 Ebenda.

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Gremium der Weltrevolutionäre, dem Präsidium des Exekutivkomitees der Komintern; ebenso erging es Trockij. An ihre Stelle rückten D. Z. Manuilskij und I. V. Stalin. Auch Ernst Thälmann wurde jetzt Präsidiumsmitglied. „Vom Jahr 1924 an entschwand Radek aus dem deutschen Kommunismus“42, schreibt Ruth Fischer, die maßgeblich an seinem Sturz mitgewirkt hatte. Allerdings gab es noch ein Nachspiel, in dem er zunächst als Akteur und wie wir später noch sehen werden, auch als Opfer figurierte. Vorausgegangen war, dass die Komintern die in Deutschland abgesetzten KPD-Führer Brandler und Thalheimer zu angeblichen Vorbereitungsarbeiten für den V. Weltkongress nach Moskau gelockt hatte, um ihnen dort nahezulegen, in die RKP(b) einzutreten und als mittlere Funktionäre im Staats- und Kominternapparat zu arbeiten. Beabsichtigt war, sie einerseits vom deutschen Parteigeschehen zu isolieren, sie aber andererseits doch noch für eine mögliche Rückkehr auf die Bühne der KPD zur Verfügung zu halten. Das Verhalten Zinov’evs auf dem V. Weltkongress deutete der deutsche Komintern-Funktionär Josef Eisenberger43 als ein Indiz für die letztgenannte Option: „Was er [Zinov’ev] tut, das tut er mit Berechnung und absoluter Nüchternheit. Er ließ sich deshalb auch nicht von der ungezügelten Empörung stören, die die zarte Behandlung Radeks sowohl wie Brandlers bei der deutschen Linken ausgelöst hat. Unter gar keinen Umständen würde sich Zinov’ev bei den Linken dermaßen ins Wespennest gesetzt haben, wenn er andere, als nur taktische Konzessionen zu machen beabsichtigt hätte.“44

Die „ehrenvolle Verbannung“ Brandlers und Thalheimers sollte vier Jahre dauern. Es war jedoch unmöglich, alle ihre Kontakte zu kontrollieren. Ständiger Gast bei ihnen war Karl Radek45, der von sich behauptete, er habe sich nach dem Verlust seiner führenden Funktionen in der Komintern für die „Linie der vollkommenen Unterwerfung unter die Beschlüsse des 5. Kongresses“ entschieden. Er habe die weitere Entwicklung in der KPD beobachten und abwarten wollen, wie sich die Dinge entwickeln: „Ich sagte mir, einstweilen ist nichts zu tun. Und du willst nicht, daß man dir nachsagt, du hättest sabotiert […]. „ Zugleich habe er seine Aufgabe „natürlich“ darin gesehen, „möglichst viel Informationen zu sammeln, gleichviel wo ich sie hernahm.“46 Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Soweit es ging, erschienen in der Wohnung von Brandler im „Sowjethaus“47 auch Kampfgefährten aus der KPD.48 Es hat dort kritische Diskussionen zwischen Radek, seinem einstigen Adlatus Felix 42 Fischer, R., Stalin, S. 265. 43 Eisenberger, Josef (1891–1938); bayerischer KPD-Funktionär; 1923/24 Sekretär der deutschen Delegation beim EKKI; wurde 1924 Mitglied der RKP(B). 44 Brief Eisenbergers an Heinz Möller vom 5. Juli 1924. Becker, S. 26. 45 Becker, S. 18f. 46 Aussage Radeks in: Protokoll Nr. 2 der Sitzung des ZKK der RKP vom 11. März 1925; in: Becker, S. 127. 47 Offizieller Name für das in Moskau als Gästehaus der Komintern dienende ehemalige „Hotel Lux“. 48 Becker, S. 19.

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Wolf (Werner Rakow), Jakob Walcher, Brandler, Thalheimer, dem EKKI-Funktionär Eisenberger und auch Radeks Jugendfreund Heinz Möller49 gegeben. Die Treffen nahmen unmittelbar nach dem V. Komintern-Kongress ihren Anfang und am 7. November, dem Revolutionsfeiertag, lud Radek die Emigranten zu einem Essen in seine Wohnung im Kreml’ ein. Man sprach über die fragwürdigen Ergebnisse des Weltkongresses, die Situation in der KPD und die politischen Perspektiven, einschließlich einer Rückkehr in die Führung der deutschen Partei. Es blieb nicht nur bei Gesprächen, sondern es gab auch Versuche, Kontakte nach Deutschland aufrechtzuerhalten, um dort organisatorische Netzwerke zu bilden. Von Moskau aus wurde versucht, durch Rundschreiben an Genossen oder Resolutionen in kommunistischen Gewerkschaftskartellen Einfluss zu nehmen. Man benutzte den regulären Postweg, aber auch die OGPU-Kurierverbindung in die sowjetische Botschaft in Berlin. Im Einzelfall fungierte Radeks Freund Möller, der für den sowjetischen Geheimdienst arbeitete, als Kurier.50 Aus einem Brief Brandlers geht hervor, wie gut man über die Situation in der KPD informiert war. Er schreibt am 28. Oktober 1924 an Eisenberger, in Deutschland habe sich „eine Opposition herausgebildet, die mit der Phrasendrescherei von der Bolschewisierung der Partei sich nicht zufrieden gibt, sondern Kampf und konkrete Ziele will“. Und weiter: „In Gotha und Remscheid haben die Ortskartelle, die in unseren Händen sind, konkrete Forderungen aufgestellt, u. a. Abwälzung der Steuerlasten als konkreten Kampf gegen das Dawes-Programm.“51 Wahrscheinlich hat Radek auch Geld gegeben, um oppositionelle Bestrebungen zu finanzieren – so etwa den Druck einer Denkschrift gegen die Fischer-Maslov Zentrale der KPD. Er hat das später abgestritten und behauptet, er habe nur einmal spontan 100 englische Pfund (2.000 Reichsmark) für die Unterstützung aus der Partei ausgeschlossener und in Not geratener Genossen in Bremen gespendet. Bei dieser Gelegenheit soll er weitere Zuwendungen aus seinem bei der Staatsbank deponierten Devisenhonorar versprochen haben, das er jedoch, wie er bedauernd hinzufügte, nicht sofort abheben könne, ohne aufzufallen.52 Als die KPD-Emigranten erwogen, 49 Möller, Heinz, vmtl. Pseudonym; richtiger Name: Moses Grzyb (1897–1941); in Tarnów geboren; seit frühester Jugend mit Karl Radek befreundet; ursprünglich Funktionär im „Bund“, der jüdischen sozialistischen Arbeiterbewegung in Polen; kam 1919 nach Deutschland; wirkte als Mitglied der KPD zuerst in Chemnitz bei Brandler und dann als Redakteur in Berlin; ging 1923 nach Moskau und dann bis 1927 nach China, wo er Pressechef von Tschiang Kai-schek wurde; danach wieder in Deutschland tätig; nach 1933 kehrte er über die Sowjetunion nach China zurück, wo er 1941 auf rotchinesischer Seite im Kampf gegen japanische Truppen fiel. 50 Becker, S. 26f. 51 Brief Brandlers an Eisenberger, Moskau, 28. Oktober 1924. Becker, S. 27. Das Dawes-Programm war der Plan des US-Finanzexperten General Charles Gates Dawes zur Regelung der Reparationszahlungen durch das Deutsche Reich, der im Londoner Abkommen (16. August 1924) von der Reichsregierung angenommen wurde. 52 Aussage Eisenbergers vom 3. Februar 1925; in: „Material über die fraktionellen Treibereien in der KPD“ – von der Deutschen Delegation beim EKKI der ZKK der RKP(b) vorgelegte Anklageschrift gegen Brandler, Thalheimer und Radek; in: Becker, S. 87.

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„parallel mit einem Vorstoß der rechten Fraktion in Deutschland“ eine eigene von Brandler, Thalheimer Radek und Clara Zetkin unterzeichnete Erklärung in Moskau zu veröffentlichen, mahnte Radek zur Vorsicht. Man dürfe es nicht zum politischen Eklat kommen lassen, sondern müsse versuchen, die Angelegenheit mit den bolschewistischen Führern intern zu besprechen. Es ging dabei um die Aufhebung des Parteiausschlusses von 50 deutschen Genossen, die der KPD von Anfang an angehört und sich dem rücksichtslosen Bolschewisierungskurs der Fischer-Maslov-Führung widersetzt hatten. Radek erklärte später, er habe mit „Sinowjew, Stalin, Bucharin, Tomski und anderen“ über die Sache gesprochen und „Zustimmung bei einigen dieser Genossen“ gefunden.53 Die gegen die Transformation der KPD zu einer stalinistischen Apparatepartei gerichteten Aktivitäten Radeks und der KPD-Dissidenten flogen auf, als der mit ihnen kooperierende EKKI-Funktionär Eisenberger sich entschloss, die Fronten zu wechseln. Er verfasste am 7. Dezember 1924 einen denunziatorischen Reuebrief an das ZK der KPD, der Anfang 1925 ein Parteiverfahren gegen Radek und seine deutschen Freunde in Moskau auslösen sollte.54 Im folgenden Kapitel werden wir darauf zurückkommen. Die kommunistische Niederlage in Deutschland und Lenins Tod markierten einen Wendepunkt der sowjetischen Politik. Der weltrevolutionäre Sturmlauf war gescheitert und die neue Lage verlangte neue Wertungen und Maßstäbe, vor allem eine neue Strategie und Taktik. Das Jahr 1924 wurde für die Sowjetunion zum Jahr der politischen und ideologischen Umorientierung.55 Radek hatte an dieser Entwicklung allerdings keinen entscheidenden Anteil mehr. Sein Sturz hatte ihn von den Quellen der Macht abgeschnitten und seiner unmittelbaren politischen Gestaltungsmöglichkeiten beraubt. Von ihm weiter gepflegte Kontakte zu Trockij und den Spitzen der Roten Armee waren nicht zukunftsträchtig. So sah man ihn am 29.  Juli 1924 als Teilnehmer einer Sitzung der „Militärwissenschaftlichen Gesellschaft“ im Kreise Trockijs, Tuchačevskis, Unšlichts und Ioffes, wo im Nachgang zum Deutschen Oktober die Ausarbeitung eines „Statuts des Bürgerkriegs“ thematisiert wurde, das künftig von den Führern kommunistischer Revolutionen als Anleitung zum Handeln benutzt werden sollte.56 Auch hielt er am 10. November 1924 noch einmal seinen traditionellen Jahresvortrag zur Außenpolitik vor dem Generalstabskurs der Roten Armee.57 Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich jedoch schon von Trockij politisch distanziert. Drei Tage zuvor, am 7. November, hatte er Heinz Möller gebeten, Paul Frölich und weiteren Freunden in Deutschland auszurichten, dass er

53 Aussage Radeks in: Protokoll Nr. 3 der Sitzung des ZKK der RKP vom 17. März 1925; in: Becker, S. 134. 54 Becker, S. 26. 55 Krummacher/Lange, S. 160f. 56 Wolkogonow [Vol’kogonov], Trotzki, S. 240f. 57 Thema: „Čto takoe ,Ėra demokratičeskogo pacifizma‘? [Was bedeutet die ,Ära des demokratischen Pazifismus‘?]“, in: Radek, Meždunarodnaja politika [Internationale Politik], tom I, S. 92–134.

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„nach dem Buch Trotzkis nicht mehr mit ihm solidarisiere“.58 Das „Buch Trotzkis“ war die jüngste Veröffentlichung seiner Reden und Schriften aus dem Jahre 1917, die er mit einem langen einleitenden Essay, betitelt „Die Lehren des Oktober“, versehen hatte. In diesem Essay stellte Trockij seine eigene Version der Parteigeschichte und -tradition vor, eine ihn rechtfertigende Interpretation, in der er die Leistungen seiner Opponenten anfocht. Das Hauptthema aber war die Rolle der Führung in einer revolutionären Situation und die Strategie und Taktik des Aufstands. Indirekt unterstellte er Zinov’ev und Kamenev, die bereits 1917 vor dem bewaffneten bolschewistischen Aufstand zurückgeschreckt waren, sie hätten 1923 durch ihr Zögern die Gunst der Stunde für die Revolution in Deutschland verpasst. Mangel an revolutionärem Mut bedeute jedoch Verrat an der Revolution. Das im September 1924 erschienene Buch löste eine geharnischte Reaktion der Triumvirn aus und während des ganzen Herbstes und Winters wurde das politische Leben Russlands völlig von der nun ausbrechenden Kontroverse überschattet. Der Sturm den die „Lehren des Oktober“ heraufbeschworen hatten und die Schmähungen, mit denen die Triumvirn ihn nun überhäuften, machten Trockijs Stellung als Kriegskommissar unhaltbar. Radek konnte mitverfolgen, wie Trockij die Führung des Kriegskommissariats aus den Händen glitt. Seine Ablösung war nur noch eine Frage der Zeit.59 Gegen Ende des Jahres wurde Radek von Stalin bezichtigt, ein subversiver Trotzkist zu sein, ein Versöhnler und „fauler Diplomat“. Obwohl Trockijs Theorie der permanenten Revolution zweifellos „eine Abart des Menschewismus“ darstelle, schrieb der Georgier, sei erstaunlicherweise folgendes feststellen: „In letzter Zeit sind in unserer Presse faule Diplomaten ausgetaucht, die sich bemühen, die Theorie der ,permanenten Revolution‘ als etwas mit dem Leninismus Vereinbares einzuschmuggeln […]. Es ist nicht schwer zu erraten, daß die Hauptperson unter diesen Diplomaten Radek ist. Man höre doch [folgendes Radek-Zitat]: ,Der Krieg hat die Kluft zwischen der Bauernschaft, die den Grund und Boden erkämpfen wollte und nach Frieden strebte, und den kleinbürgerlichen Parteien aufgerissen; der Krieg brachte die Bauernschaft unter die Führung der Arbeiterklasse und ihrer Avantgarde, der Partei der Bolschewiki. Möglich wurde nicht die Diktatur der Arbeiterklasse und der Bauernschaft, sondern die Diktatur der sich auf die Bauernschaft stützenden Arbeiterklasse. Was Rosa Luxemburg und Trotzki im Jahre 1905 gegen Lenin vorbrachten (das heißt die ,permanente Revolution‘. J. St.), erwies sich in Wirklichkeit als zweite Etappe der historischen Entwicklung.‘ Hier ist jedes Wort eine Verdrehung.

58 Aussage Radeks, in: Protokoll Nr. 2 der Sitzung des ZKK der RKP vom 11. März 1925; in: Becker, S. 129. 59 Deutscher, Trotzki II, S. 153–163.

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Tatsache ist, daß während des Krieges ,Die Diktatur der Arbeiterklasse und der Bauernschaft möglich wurde‘. Es ist nicht wahr, daß die Theorie der ,permanenten Revolution‘, die Radek schamhaft verschweigt, im Jahre 1905 von Rosa Luxemburg und Trotzki vorgebracht wurde. In Wirklichkeit wurde diese Theorie von Parvus und Trotzki vorgebracht. Jetzt nach zehn Monaten korrigiert sich Radek und hält es für notwendig, Parvus wegen der ,permanenten Revolution‘ zu schelten. Aber die Gerechtigkeit verlangt von Radek, daß auch der Kompagnon von Parvus, Trotzki, gescholten werde […]. Der ganze Verlauf der Oktoberrevolution, ihre ganze Entwicklung haben den völligen Bankrott der Theorie der ,permanenten Revolution‘, ihre völlige Unvereinbarkeit mit den Grundlagen des Leninismus offenbart und bewiesen […].“

Stalin warf Radek vor, zu versuchen, den ideologischen Konflikt mit Trockij schönfärberisch zu übertünchen, aber, so schloss er: „Mit süßlichen Reden und fauler Diplomatie läßt sich der klaffende Abgrund zwischen der Theorie der ,permanenten Revolution‘ und dem Leninismus nicht verdecken.“60 Mit „Leninismus“ meinte Stalin selbstverständlich seine These vom isolierten Aufbau des Sozialismus in Russland, bei der er sich auf Lenin berief. Demgegenüber besagte Trockijs Theorie, dass die bürgerliche Revolution im Agrarstaat Russland in die sozialistische Revolution übergehen müsse. Die Arbeiter müssten die dumpf-träge Bauernschaft mitreißen und die Diktatur des Proletariats errichten. Der revolutionäre Funke würde dann auch das europäische Pulverfass zur Explosion bringen. So schlösse sich der Kreis der permanenten Revolution: die bürgerliche Revolution würde zur proletarischen, die proletarischnationale zur internationalen. Den Begriff der „Revolution in Permanenz“ hatte Karl Marx geprägt. Trockij entwickelte seine Theorie 1904 bis 1906, vor allem von Parvus-Helphand beeinflusst. Lenin, der die Idee der „permanenten Revolution“ anfangs als „absurd linke Phrase“ abtat und Trockij vorwarf, das revolutionäre Potential der Bauernschaft zu ignorieren, soll nach der Oktoberrevolution eingeräumt haben, 1905 sei Trockij im Recht gewesen und nicht er. Mit seiner simplifizierenden, vergröbernden und teilweise auch verfälschenden Polemik gegen Radek, wollte Stalin nicht allein Radek treffen, sondern vor allem den Hauptwidersacher Trockij ideologisch diskreditieren. Er argumentierte an anderer Stelle demagogisch: „Die ,permanente Revolution‘ Trotzkis ist die Verneinung der Leninschen Theorie der proletarischen Revolution und umgekehrt – die Leninsche Theorie der proletarischen Revolution ist die Verneinung der Theorie der ,permanenten Revolution‘. Unglaube an die Kräfte und Fähigkeiten unserer Revolution, Unglaube an die Kräfte und Fähigkeiten des russischen Proletariats – das ist die Grundlage der Theorie der ,permanenten Revolution‘.“61 60 „Stalin, Die Oktoberrevolution und die Taktik der russischen Kommunisten. Vorwort zu dem Buch: Auf dem Wege zum Oktober“ (geschrieben im Dezember 1924), Moskva 1925; in: Stalin, Werke, Band 6, S. 338 f. 61 Stalin, a.a.O., S. 338.

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Radek hatte Trockij als Heros des Bürgerkriegs einst in der „Pravda“ hymnisch gefeiert62 und auf ihn als den berufenen Nachfolger Lenins gesetzt. Jetzt stellte es sich heraus, dass Trockij weder in der Lage war, sich im Kampf um die Macht zu behaupten, noch Radek als seinen engagiertesten Getreuen zu schützen. Radek war nicht bereit, seinen Kopf für eine verlorene Sache hinzuhalten und er hatte auch nicht das Zeug zum Märtyrer. Warum sollte er für Trockij kämpfen, wenn dieser kaum fähig war, für sich selbst zu kämpfen. Für das Genie Trockijs empfand er zwar unverändert Bewunderung, jedoch gewannen nun seine politischen Überlebensinstinkte die Oberhand. Obwohl er in deutschen Parteiangelegenheiten insgeheim aktiv blieb, zog er sich aus dem russischen Fraktionskampf völlig zurück. Man hatte ihm seine Existenz als Parteijournalist belassen und so konzentrierte er sich darauf, linientreue Pamphlete zu verfassen, in den sowjetischen Printmedien außenpolitische Themen zu analysieren und im Staatsverlag aus dem Fundus seiner Schriften zu publizieren. Bereits im Prozess gegen Boris Savinkov im August 1924 hatte er seine Regimetreue bekundet und sich erneut als Kämpfer gegen die Konterrevolution profiliert. Savinkov, der 1918 die Aufstände der Sozialrevolutionäre gegen die Bol’ševiki angeführt und sich im französischen Exil „antisowjetisch“ betätigt hatte, war von der OGPU in die Sowjetunion zurückgelockt, beim heimlichen Grenzübertritt verhaftet und als Konterrevolutionär vor Gericht gestellt worden. Radek wohnte dem Verfahren vor dem „Militärkollegium des Obersten Tribunals“ als Beobachter und Berichterstatter bei. In einer Ecke des Sitzungssaals hinter dem Richtertisch sitzend, folgte er „mit tiefer Aufmerksamkeit“ der zweitägigen Verhandlung.63 Der Angeklagte wurde am 29. August 1924 zum Tode durch Erschießen verurteilt, jedoch dann wegen eines reuevollen Geständnisses zu zehn Jahren Freiheitsentzug begnadigt.64 Radek schrieb nach dem Schauprozess, er habe der Aussage Savinkovs „nicht ohne Bewegung“ zugehört. „Es nahm uns die innere gesellschaftliche Wahrheit der Erzählung des gefangenen, bankrotten, enttäuschten Gegenrevolutionärs gefangen.“ Savinkov sei nicht nur Sozialrevolutionär, sondern auch Schriftsteller gewesen und gerade seine Romane sprächen dafür, „in ihm nicht so sehr den Kämpfer für das Volk zu sehen, dessen Herz für die leidenden Massen schlägt, als einen Mann, der die Revolution als Sport betreibt.“ Dies gelte auch für seine terroristischen Aktivitäten während der Zarenzeit, wo er im Zweifel darüber war, ob er das Recht hätte, „die Feinde des werktätigen Volkes, die Diener des Zaren zu töten.“ Und dann gab Radek seine ureigensten unbarmherzigen Wertmaßstäbe preis, indem er Savinkov 62 Am 14. Oktober 1922 hatte Radek Trockij neben Lenin gestellt, als er in der „Pravda“ schrieb: „Wenn man den Genossen Lenin den Verstand der Revolution nennen kann, der über die Transmission des Willens regiert, so kann man den Genossen Trotzki als stählernen Willen charakterisieren, der durch den Verstand gezügelt wird.“ Wolkogonow [Vol’kogonov], Trotzki, S. 278. 63 Der Prozeß gegen Sawinkow, S.  2: Wiedergabe eines Fotos mit dem Untertitel „Sawinkow vor Gericht“. 64 Savinkow erlebte das Ende der Haftverbüßung nicht. 1925 kam er im Gefängnis durch einen Fenstersturz zu Tode, wobei es ungeklärt blieb, ob er Selbstmord beging oder – was wahrscheinlicher ist – von OGPU-Mitarbeitern ermordet wurde.

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als Revolutionär disqualifizierte: „Der Kampf für die Befreiung des Volkes ist eine äußerst ernste Angelegenheit. Es ist ein Kampf um Tod und Leben, und für Leute, die voller Zweifel stecken ist dort kein Platz.“ „Das Hauptinteresse an der Beichte Sawinkows“, so schloss Radek, sei jedoch, „daß die Protokolle seiner Aussagen in die Geschichte als ein erstklassiges Dokument der Rolle der russischen Gegenrevolution, als eines Werkzeugs des Weltimperialismus eingehen werden.“ Savinkov selbst, sei die gescheiterte Konterrevolution in Person: „Bedeckt mit dem Blut der russischen Arbeiter und Bauern, befleckt und beschmutzt mit ausländischem Golde, so stand in der Person Sawinkows die russische Gegenrevolution vor dem Gericht der russischen Arbeiter und Bauern […]. Das Oberste Tribunal hatte den stinkenden Leichnam der russischen Gegenrevolution vor sich.“65

Die Polemik mit der Radek aktuelle außenpolitische Themen behandelte, war weniger plump, aber nicht minder deutlich. Als Deutschlandexperte von der KominternPolitik ausgeschlossen, führte er seine spitze Feder jetzt als Anwalt der sowjetischen Staatsinteressen. Bestimmend für die politische Konstellation im Europa des Jahres 1924 waren das Dawes-Programm zur Lösung der verfahrenen Reparationsfrage, der Wandel in Großbritannien, wo im Januar erstmals eine Regierung der Labour-Party unter ihrem gemäßigten Führer Ramsay MacDonald66 die Geschäfte übernahm und in Frankreich der Sturz Poincarés im Mai, dem der Radikalsozialist Herriot67 als Ministerpräsident folgte. Bei dem Dawes-Programm handelte es sich um den Plan des US-Finanzmannes Charles G. Dawes zur Neuregelung der deutschen Reparationszahlungen. Er sah im Kern vor, die deutsche Reparationsschuld durch Kredite amerikanischer Großbanken zu finanzieren. In Moskau weckte das Befürchtungen, Deutschland könne zu einer Kolonie des amerikanischen Monopolkapitals, zu einem „Kolonialland besonderen Typs“ und die Sowjetunion zu einem „agrarischen Anhängsel eines imperialistischen Deutschlands“ werden. Als Deutschland dann auch noch erklärte, es sei bereit, Mitglied des von Lenin als „Räuberhöhle“ verunglimpften Völkerbunds zu werden, geriet die sich abzeichnende deutsche Wendung nach Westen unter schweren diplomatischen und propagandistischen Beschuss Moskaus.68 Der Dawes-Plan war Thema der Londoner Konferenz der Alliierten, die am 16. Juli 1924 begann und zu der am 5. August die deutsche Delegation hinzugezogen wurde. Zum Auftakt der Verhandlungen versuchte Radek dem sowjetischen Leser durch eine Artikelserie mit dem optimistischen Titel „Eine neue Etappe bei der Liquidierung des Versailler 65 Radek, Das was gewesen ist; in: Der Prozeß gegen Sawinkow, S. 70–72. 66 MacDonald, James Ramsay (1866–1937); Mitbegründer der Labour-Party und 1924 britischer Premierminister. 67 Herriot, Edouard (1872–1957); Führer der französischen Radikalsozialisten (Bürgerliche Linke); 1924/25 und 1932 Ministerpräsident und Außenminister Frankreichs. 68 Krummacher/Lange, S. 166.

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Vertrags“ Einblick in die Hintergründe der Konferenz und in die sich 1924 verändernde politische Landschaft Europas zu vermitteln. 1923 habe Frankreich durch die Ruhrbesetzung den Versailler Vertrag zu seinen Gunsten ändern und sich die deutsche Montanindustrie sichern wollen. Das sei gescheitert und jetzt werde der Vertrag durch England und die USA zum Nachteil Frankreichs liquidiert.69 Die französische Politik sei von einem „Geflecht von Tendenzen“ gekennzeichnet. Neben der Großindustrie träten Militärkreise mit ihren Forderungen nach Aufteilung Deutschlands und nach Sicherheit durch die Rheinlandbesetzung auf. Zusätzlich bestehe das Kleinbürgertum auf deutschen Reparationen als Entschädigung für seine Kriegsanleihen an den französischen Staat. Poincaré habe zwar im Ruhrkampf gesiegt und Deutschland musste zum zweiten Mal kapitulieren, aber der Sturz des Franc zwinge den jetzt regierenden kleinbürgerlichen Linken Block – das Kabinett Herriot – vielen Ambitionen des französischen Imperialismus zu entsagen.70 Während des Ruhrkampfes habe England sich nicht einschalten können, da es keinen Alliierten hatte und sich über die amerikanische Position im Unklaren war.71 Mit dem Dawes-Plan solle nun die Abhängigkeit Deutschlands von Frankreich internationalisiert werden. Was aber bewog die USA zur Rückkehr nach Europa? Radek bemühte sich unter Rückgriff auf seine Lagebeurteilung auf dem Kominternkongress von Ende 1922, die Richtigkeit seiner Prognosen über die amerikanische Deutschlandpolitik zu belegen. Er habe auf dem IV. Weltkongress erklärt, das US-Kapital bleibe in der deutschen Frage so lange untätig, bis das Chaos im Reich ein Aufkaufen der deutschen Wirtschaft zu Schleuderpreisen gestatte. Es sei damals nur die Frage gewesen, ob Amerika mit Frankreich oder mit England zusammengehen werde. Jetzt wollten die USA Frankreich nicht verletzen. Sie gäben sich daher als Wohltäter Deutschlands und Frankreichs aus. Deutschland müsse zwar nach dem Dawes-Plan geringere Reparationszahlungen leisten als bisher, da aber die Mark bei der ungünstigen deutschen Zahlungsbilanz vielleicht nie transferiert werden könne, kaufe das ausländische Kapital damit die deutsche Industrie auf.72 Skeptisch äußerte sich Radek zu den Aussichten durch die amerikanische Einmischung eine Verbesserung der Lage Deutschlands zu erwarten. Das Auftreten Amerikas gegen die französischen Überfälle auf Deutschlands habe nichts mit einer Friedenssicherung zu tun. Es bedeute nur, „daß man die USA nicht stören darf, wenn sie zu speisen gedenken“. Erhebe sich die deutsche Arbeiterschaft gegen die amerikanische Ausbeutung, dann werden die USA von Frankreich verlangen, dass es „seine schwarzen Truppen zu ihrer Befriedung entsendet“. Sollte es zum 69 Radek: Novyj ėtap likvidacii Versal’skogo dogovora [Eine neue Etappe bei der Liquidierung des Versailler Vertrages]. I. Ischod bor’by za Rur [Das Ergebnis des Kampfes an der Ruhr]; in: „Pravda“, Nr. 159 vom 16. Juli 1924. Grieser, S. 91. 70 Ders., Novyj ėtap… II. Padenie franka [Der Sturz des Franc]; in: „Pravda“, Nr. 162 vom 18. Juli 1924. Grieser, S. 92. 71 Ders., Novyj ėtap…, III. Politika rabočego pravitel’stva Anglii [Die Politik der Arbeiterregierung Englands]; in: „Pravda“, Nr. 163 vom 19. Juli 1924. Grieser, ebenda. 72 Ders., Novyj ėtap…, IV. Vozvraščenie Ameriki v Evropu [Die Rückkehr Amerikas nach Europa]; in: „Pravda“, Nr. 164 vom 22. Juli 1924. Grieser, ebenda.

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englisch-amerikanischen Konflikt kommen, werde Amerika nicht zögern, Frankreich gegen England einzusetzen.73 Die Sowjetpropaganda sagte als direkte Folge des Dawes-Plans „die Versklavung des deutschen Volkes durch die Weltbörse“ voraus. Solche Parolen hatten das Ziel, Deutschland von einer Annäherung an den Westen zurückzuhalten, die zum Ausgleich der Gegensätze geführt und die Notwendigkeit einer Anlehnung an die Sowjetunion vielleicht überflüssig gemacht hätte.74 Den Führern des Reichs wurden vorgeworfen, „die Politik der chinesischen Mandarine“ zu betreiben, „die seinerzeit zu viel und zu eilig Verträge unterzeichneten, die zur Verwandlung Chinas […] in eine Kolonie des Weltkapitals beitrugen. Wir fürchten, daß die deutschen Mandarine mit ihrer Politik des Kniefalls Deutschland das Schicksal Chinas bereiten.“75 Als am 16. August die Reichsregierung im Londoner Abkommen den Dawes-Plan annahm, beurteilte Radek das Ergebnis der Konferenz pessimistisch. Die deutsche Regierungspresse schreibe zu Recht davon, dass es in London weder Sieger noch Besiegte gab, „denn Deutschland konnte nicht besiegt werden, weil es von Anfang an kapitulierte.“ Die Ursache der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Bourgeoisie sei ihr Kapitalmangel gewesen. Sein negatives Fazit lautete: „Die Londoner Konferenz ist beendet. Deutschland hat als unabhängige Macht, die ihre Wirtschaftspolitik nach eigenen Interessen betreibt, aufgehört zu existieren.“76 Der Dawes-Plan und das Londoner Abkommen bedurften der Ratifizierung durch den Reichstag. Deutschnationale, Völkische und Kommunisten stemmten sich gegen eine Zustimmung durch das Parlament, die allerdings nach dem Umfall der DNVP am 29. August doch noch zustande kam. Am selben Tage stellte Radek in der „Pravda“ die Frage, ob die Entscheidung im deutschen und auch im französischen Parlament nur eine „Komödie von Marionetten des Kapitals“ sei. Er antwortete darauf mit „ja und nein“. Er erwarte von den Deutschnationalen keinen ernsthaften Widerstand. Bereits im ausgehenden Mittelalter hätten sich die „Vorfahren der heutigen Junker“ dem Handelskapital unterworfen; deshalb würden sie sich auch diesmal „ungeachtet aller nationalen Romantik“ dem Finanzkapital unterordnen: „Die Sprache des Goldes geht nicht spurlos an den deutschen Herren Nationalisten vorüber, die immer die größten Verehrer des Goldenen Kalbes waren. Wie immer die deutschen Nationalisten auch prahlen mögen, die deutsche Bourgeoisie macht mit der Londoner und New Yorker Börse ihren Frieden, wie denn vor einigen Tagen die Kölnische Zeitung […] offen erklärt hat, man müsse sich dem Dollar oder dem Bolschewismus 73 Ders., Amerikanskij pacifizm [Amerikanischer Pazifismus]; in: „Izvestija, Nr. 170 vom 26. Juli 1924. Grieser, S. 93. 74 Grieser, S. 94. 75 Vl. Vilenskij, Kolenopreklonennaja Germanija [Das kniefällige Deutschland]; Leitartikel in: „Izvestija“, Nr. 178 vom 6. August 1924. Grieser, S. 94. 76 Radek, Konec londonskoj konferencii [Das Ende der Londoner Konferenz]; 2. Leitartikel in: „Pravda“, Nr. 186 vom 19. August 1924. Grieser, S. 94.

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unterwerfen, etwas Drittes gebe es nicht. Ja, etwas Drittes gibt es nicht, doch vermag der Tanz um das Goldene Kalb die deutschen Junker nicht vor dem Bolschewismus zu retten.“77

Die „Faschisten“ – in diesem Fall Völkische und Nationalsozialisten – kämpften hingegen nur „gegen die Londoner Abmachungen, um ihre Wähler nicht zu verlieren“. Radek bemühte sich die von ihm auf vier bis fünf Millionen geschätzten verarmten kleinbürgerlichen Wähler der „Faschisten“ und der Rechtskonservativen im Kampf gegen den Dawes-Plan auf die Seite der Kommunisten zu ziehen. Eine Neuauflage der Schlageterlinie des Jahres 1923: „Wenn Deutschland zu einer Kolonie wird, dann hat das zur Folge, daß der Kampf des Proletariats für seine Befreiung vom Joch des Kapitalismus gleichzeitig ein Kampf des deutschen Volkes gegen das ausländische Joch wird. Die proletarische Revolution wird einen frischen Kräftezuwachs aus nationalistischen Quellen erhalten […]. Es werden sich alle die zusammenschließen, die nicht wollen, daß das deutsche Volk zum Dung für die Gewinne der Londoner und New Yorker Börse wird.“78

In einem Folgeartikel analysierte Radek „Die außenpolitischen Perspektiven des Londoner Abkommens“. Er hob hervor, dass nach dem Dawes-Plan der deutsche Export vor allem nach Russland gelenkt werden sollte. Die an einer Steigerung der deutschen Ausfuhr interessierten Kreise des Auslands könnten versuchen, die Sowjetunion zur Aufgabe des Außenhandelsmonopols zu zwingen. Er prognostizierte: „Der Dawes-Plan wird zum Ausgangspunkt eines neuen Kampfes zwischen den kapitalistischen Mächten und ihres Druckes auf die Union der Sowjetrepubliken. Berlin wird in noch stärkerem Maße als bisher Zentrum des imperialistischen Kampfes.“79 Aus sowjetischer Sicht gewann der Dawes-Plan noch an Gewicht, als im September 1924 die alliierten Regierungschefs MacDonald und Herriot den Beitritt Deutschlands zum Völkerbund auf die Tagesordnung brachten und befürworteten. Damit schien zum Dawes-Plan der politische Überbau hinzuzukommen, der das Reich der Sowjetunion zu entfremden drohte. Moskaus Besorgnis äußerte sich im Appell an das deutsche Revisionsinteresse am Frieden von Versailles. Die sowjetische Diplomatie versuchte Deutschland durch den Lockvogel Polen vom Eintritt in den Völkerbund abzuhalten. Aus dem Außenkommissariat signalisierte man, „wenn Deutschland weder auf seine Ansprüche auf Oberschlesien noch auf den Korridor verzichte, könnte ein gemeinsamer deutsch-russischer Druck auf Polen ausgeübt

77 Radek, Diktatura finansovogo kapitala i demokratija [Die Diktatur des Finanzkapitals und die Demokratie]; in: „Pravda“, Nr. 195 vom 29. August 1924. Grieser, S. 95. 78 Ebenda, S. 96. 79 Radek, Vnešnepolitičeskie perspekivy londonskogo soglašenija [Die außenpolitischen Perspektiven des Londoner Abkommens]; in: „Pravda“,, Nr. 197 vom 31. August 1924. Grieser, S. 97

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werden.“80 Gleichzeitig betonte Radek allerdings die Bereitschaft der Sowjetregierung, „ihre Aktionen mit jeder Macht zu koordinieren, deren Interessen in diesem oder jenem Moment mit den ihren zusammenfallen“ und machte Frankreich Avancen. Anlässlich der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Paris und Moskau am 28. Oktober 1924 erklärte er, es ergäbe sich „ein großes Feld zu gemeinsamem Vorgehen beider Regierungen“ und Frankreichs Schützling Polen brauche dabei überhaupt kein Hindernis zu sein. Die Sowjetunion habe die Unabhängigkeit Polens niemals angetastet und werde das auch in Zukunft niemals tun.81 Gegen Jahresende verfasste Radek noch einen misstrauischen, mahnenden Artikel zur Versetzung des moskaufreundlichen Staatssekretärs von Maltzan nach Washington. Der „rote Baron“ habe verstanden, dass das Reich nicht nur vollständige Beziehungen zur Sowjetunion aufnehmen, sondern auch die politische und wirtschaftliche Annäherung suchen müsse, um sich aus der Abhängigkeit der Entente zu befreien. Der Canossa-Gang Maltzans nach Washington erhalte seine volle Bedeutung erst durch seinen Nachfolger von Schubert,82 den bisherigen Leiter der angloamerikanischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, der wesentlich am Entwurf und der Durchführung der nach Westen gerichteten Verständigungspolitik Stresemanns beteiligt war. Damit werde nun die leitende Stelle im Ministerium nicht mehr von einem Mann eingenommen, der die Wichtigkeit der Annäherung an Russland begriffen habe, sondern von einem „vulgären Anglophilen“. Radek verband den Personenwechsel mit dem Dawes-Plan: „Man muß vollständig den Kopf verloren haben, um für Kredite mit hohen Zinssätzen oder gar für die Entfremdung wichtiger Teile der deutschen Wirtschaft noch mit politischen Zugeständnissen zu zahlen, die schicksalhaft auf die Zukunft Deutschlands einwirken. Wenn Deutschland seine Verbindung zur SU geschwächt hat, gibt es sich in die Hände des anglo-amerikanischen Kapitals und verkauft seine Zukunft für ein Linsengericht.“

Der Dawes-Plan, so Radek, stehe bisher nur auf dem Papier. In zwei Jahren begännen mit den Zahlungen an die Alliierten neue Schwierigkeiten. Welches Gewicht werde Deutschland dann haben, nachdem es seine Verbindung zu dem „einzigen großen Land“ geschwächt habe, dessen Interessen denen Deutschlands nicht feindlich seien? Neben der Lockung stand bei Radek die kaum verhüllte Drohung. Die Kapitalisten gäben sich sicherlich nicht mit einem Personalwechsel zufrieden, sie erwarteten einen Politikwechsel. Sollte Deutschland jedoch an irgendeinem Manöver teilnehmen, mit dem man beabsichtige, die UdSSR unter Druck zu setzen, so werde 80 Grieser, S. 99 und S. 105. 81 Radek, Priznanie SSSR Francuzskoj respublikoj [Die Anerkennung der UdSSR durch die Französische Republik]; Leitartikel in: „Pravda“, Nr. 247 vom 29. Oktober 1924. Grieser, S. 104. 82 Schubert, Carl von (1882–1947); deutscher Diplomat; 1924 Nachfolger von Maltzans als Staatssekretär im AA.

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diese genügend wirksame Gegenmittel finden. Er warb: Der russische Export von Getreide und Rohstoffen nach Deutschland sei günstiger als der amerikanische, den das Reich nicht mit Industriewaren bezahlen könne. „Die SU bemühte und bemüht sich um eine Annäherung an Deutschland und sie wird zweifelsohne nicht dem Beispiel der deutschen Regierung folgen.“83 Deutschland bildete den Schwerpunkt der außenpolitischen Betrachtungen Radeks. Gleichzeitig beobachtete und analysierte er die internationale Politik unter den Aspekten gesellschaftlicher Veränderungen und möglicher Ansatzpunkte für revolutionäre Entwicklungen. Bereits 1923 hatte er in Moskau mit der Veröffentlichung des Sammelbands „Die auswärtige Politik Sowjetrusslands“84 nachdrücklich an seine außenpolitische Expertise erinnert. Jetzt widmete er sich in seinen Artikeln der von den Bol’ševiki als temporär bewerteten Stabilisierung des kapitalistischen Systems im Westen und der Bedeutung dieses Phänomens für die Perspektiven der Weltrevolution. Nach den sozialdemokratischen Wahlsiegen in Großbritannien und Frankreich, die dort zu einem Linksrutsch und zur Anerkennung der Sowjetunion durch beide Länder geführt hatten, schrieb er, das „Wahlbarometer“ zeige an, dass aufgrund des „Versagens der imperialistisch-konservativen Regierungen“ jetzt mit einem „neuen Faktor“ in der Internationalen Politik zu rechnen sei.85 Er widersprach aber energisch der sozialdemokratischen These, wonach diese Entwicklung in Verbindung mit dem Dawes-Plan und der Aufwertung des Völkerbunds ein Indiz dafür sei, dass in der Welt nunmehr eine Epoche des Friedens und der Demokratie beginnen würde. Anhand von vier außenpolitischen Komplexen untersuchte er den Charakter der Epoche, die er als „Ära der Demokratie und des Pazifismus“ oder „Ära des demokratischen Pazifismus“ bezeichnete. Er „überprüfte“ die „Ergebnisse der Londoner Konferenz der Alliierten betreffs Deutschland“, das heißt die „Reparationsfrage“ und den Dawes-Plan; die Beziehungen Londons zu Moskau, insbesondere 83 Radek, Putešestvie v Vašington [Die Reise nach Washington]; Leitartikel in: „Pravda“, Nr. 287 vom 17. Dezember 1924. Grieser, S. 106f. 84 Radek, Vnešnjaja politika Sovetskoj Rossii, Moskva und Petrograd, 1923. Versehen mit einem Vorwort, enthält der Band die vier großen außenpolitischen Arbeiten Radeks der Jahre 1918–1922 in russischer Sprache: (1) „Brest-Litovsk“ = identisch mit: Radek, „Die auswärtige Politik SowjetRusslands“, Hamburg 1921; geschrieben im September 1918; in Russisch erstveröffentlicht in: Sbornik: Oktjabr’skij perevorot i diktatura proletariata [Sammelwerk: Der Oktober-Umsturz und die Diktatur des Proletariats], Oktober 1918. (2) „Intervencija sojuznikov i pobeda Sovetskij Rossii [Die Intervention der Alliierten und der Sieg Sowjetrusslands]“ = identisch mit: Radek, „Die auswärtige Politik Sowjet-Russlands“, Hamburg 1921; geschrieben im Dezember 1919; deutsche Erstveröffentlichung in der Berliner Ausgabe der „Kommunistischen Internationale“,Nr. 3. (3) „Ot intervencii k torgovomu dogovoru [Von der Intervention zu den Handelsverträgen]“ = identisch mit: Radek, „Die auswärtige Politik Sowjetrusslands“, Hamburg 1921; geschrieben im November 1920; in Russisch erstveröffentlicht in „Krasnaja Nov’“, April 1921. (4) „Posle Genui i Gaagi [Nach Genua und Haag]“ = identisch mit: Radek, „Nach Genua und Haag“, Hamburg 1922; geschrieben im September 1922. 85 Radek, „Barometr vyborov [Das Wahlbarometer]“, in: „Krasnaja Nov’“, Juli 1924. Radek, Meždunarodnaja politika [Internationale Politik], tom I, S. 11–45.

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den noch nicht ratifizierten anglo-sowjetischen Handels- und Kreditvertrag; „Die Frage des Völkerbundes“, dessen Rolle als Garant des Friedens er sehr skeptisch sah und „Die chinesische Frage“, auf die im folgenden noch eingegangen wird. Er kam zu dem Schluss: Die Überprüfung der Ära führt zu der Überzeugung, daß diese Epoche in Wahrheit keine Ära des Pazifismus und der Demokratie ist, sondern sehr viel mehr eine [Ära] der Mitwirkung des anglo-amerikanischen Finanzkapitals an der Ausplünderung Deutschlands, Chinas und Sowjet-Russlands.“86 Er kritisierte die sozialdemokratischen Vorstellungen vom Anbruch einer neuen Epoche als reformistische Illusionen: „Für uns Marxisten besteht kein Zweifel, daß die demokratisch-pazifistische Ära ohne die Weltrevolution nicht anbrechen kann, daß die gegenwärtig herrschenden Klassen weder die internationale Demokratie noch den Weltfrieden erreichen können87. […] Diese Ära, oder um exakter zu sein, dieses geschichtliche Zickzack besitzt eine eindeutig historische Funktion. Diese historische Funktion besteht in der Zertrümmerung der letzten Illusionen, die auf den ersten Blick noch die wesentliche Stütze des Kapitalismus bilden. Die riesigen Arbeitermassen in Europa, selbst in Deutschland, sind davon überzeugt, daß ein besserer Tag heraufzieht, daß die Londoner Konferenz eine Erleichterung ihrer Bürde bedeutet; wenn auch nicht den Sozialismus so doch ein Stück Brot und das Fehlen der Kriegsgefahr […] aber wenn dieses historische Zickzack im Bankrott endet wird dieser Bankrott die unzureichenden bourgeoisen Bemühungen beweisen […]. Und wenn am Ende dieses Zickzack die Massen im Weltmaßstab zur Offensive übergehen werden, zu neuen Schlägen, wird es die Bourgeoisie nicht mit dem Proletariat von 1923 zu tun haben, sondern mit einem Proletariat, das diese Periode [des demokratischen Pazifismus] kennengelernt hat.“88

Als das Labour-Kabinett MacDonald, das gegenüber der Sowjetunion eine konziliante Politik verfolgt hatte, schon nach neun Monaten im Oktober 1924 von den Konservativen abgelöst wurde, widmete Radek der „englischen Arbeiterregierung“ einen längeren wohlwollenden Nachruf89, wohl ahnend, dass es in den Beziehungen zu London, wo sein Freund Rakovskij Botschafter war, bald wieder zu einer Eiszeit kommen werde. Am 20. Oktober weigerte sich die neue englische Regierung, den anglo-sowjetischen Handels- und Kreditvertrag vom August zu ratifizieren. Anlass war ein in der Öffentlichkeit aufgetauchter angeblicher Brief Zinov’evs und Kuu86 Radek, „Čto takoe `Ėra demokratičeskogo pacifizma? [Was bedeutet die Ära des demokratischen Pazifismus?]“. Öffentlicher Vortrag vor der Generalstabsakademie [der Roten Armee] am 30. September 1924; in: Radek, Meždunarodnaja politika [Internationale Politik], tom I, S. 101f. 87 Radek, „Čto takoe `Ėra demokratičeskogo pacifizma?“ [...] ; in: Radek, Meždunarodnaja politika], tom I, Vstuplenie [Vorwort] vom 10. November 1924, S. 94. 88 Radek, „Čto takoe `Ėra demokratičeskogo pacifizma?“ [...]; in: Radek, Meždunarodnaja politika, tom I, S. 132f. 89 Radek, „Devjat’ mesjacev anglijskogo rabočego pravitel’stva [Neun Monate englische Arbeiterregierung]“; in: Radek, Meždunarodnaja politika, tom I, S. 135–170.

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sinens an die Kommunistische Partei Englands mit detaillierten Anweisungen zum bewaffneten Aufstand. Für Radek war die britische Ablehnung ein weiterer Grund, um gegen Jahresende eine negative „Bilanz der ,Ära der Demokratie und des Pazifismus‘“90 zu verfassen und zum Kampf gegen den internationalen Kapitalismus aufzurufen. „Die Ära der Demokratie und des Pazifismus steht vor den Augen der Volksmassen entblößt da“, schrieb er. Sie habe sich als ein Täuschungsmanöver enttarnt, denn während die demokratischen Führer im Westen den Frieden verhießen, würden sie in Wahrheit nur auf das Ausbrechen neuer Konflikte warten. Für die Kommunisten gelte es, dem entgegenzuwirken: „Die Aufgabe der Kommunistischen Partei besteht gegenwärtig nicht nur darin, den Volksmassen anhand von Fakten den gesamten Betrug dieses sogenannten Pazifismus Morgans91 und der II. Internationale aufzuzeigen, sondern auch darin, ihre gesamten Kräfte zu mobilisieren gegen den neuen Angriff den der internationale Kapitalismus auf Osteuropa und Asien vorbereitet.“92

Es war aber weniger die reale kapitalistische Bedrohung Ostasiens, als vielmehr das Interesse der Sowjetunion, das von inneren Wirren zerrissene und regionalen Militärmachthabern beherrschte China in einen Prellbock gegen den japanischen und englischen Imperialismus zu verwandeln. Darüber hinaus wollte man in China die Basis für die Revolutionierung des gesamten asiatischen Raumes schaffen. Nach den Misserfolgen des Kommunismus in Westeuropa vollzog sich in Moskau eine Wendung nach Asien, in der Hoffnung, dort die Weltrevolution zum Erfolg führen zu können. Nachdem man schnell erkannt hatte, dass die 1921 gegründete Kommunistische Partei Chinas mit ihren 100 Mitgliedern nicht in der Lage sein würde, der chinesischen Revolution zum Sieg zu verhelfen, fand man in Sun Jat-sen93, dem Gründer der national-demokratischen Kuomintang und Führer einer Gegenregierung in Kanton, den geeigneten Verbündeten. Ende 1923 sandte die Komintern erstmals sowjetische Berater mit Waffen und Geld nach Südchina. Im Politbüro setzten Stalin und Bucharin die volle Unterstützung Sun Jat-sens durch. Radek schrieb als Auftragsarbeit die Propagandabroschüre „China im Feuer des Krieges“94; ein Plädoyer für die Notwendigkeit der Unterstützung des Befreiungskampfs der chinesischen Nationalrevolutionäre durch die Kommunisten. Auf sowjetisches Drängen kam es 1924 zu einem Bündnis zwischen der Kuomintang und der Kommunistischen Par90 Radek, „Itogi ,ėry demokratii i pacifizma‘ [Die ,Bilanz der Ära der Demokratie und des Pazifismus‘“]“; in: Radek, Meždunarodnaja politika, tom I, S. 179–191. 91 Morgan, John Pierpoint jr. (1867–1943); amerikanischer Industrie- und Finanzmagnat mit großem Einfluss auf den internationalen Finanz- und Kapitalmarkt. Für Kommunisten die Inkarnation des Monopolkapitalismus und eine verhasste Symbolfigur. 92 Radek, „Itogi ,ėry demokratii i pacifizma‘“; in: Radek, Meždunarodnaja politika, tom I, S. 191. 93 Sun Jat-sen; eigentlicher Name Sun Wen (1866–1925); chinesischer Staatsmann; Gründer der Kuomintang (Nationalpartei); trat für die Erneuerung Chinas auf republikanischer Grundlage ein. 94 Radek, Kitaj v ogne vojny [China im Feuer des Krieges], Moskva 1924.

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tei Chinas, das von jeder Seite in der heimlichen Erwartung abgeschlossen wurde, den anderen Partner schlucken zu können. Im Prinzip handelte es sich um die gleiche Politik, die Radek 1923 mit der Einheitsfrontpolitik und der Schlageterlinie in Deutschland versucht hatte. Die Kuomintang wurde nach bolschewistischem Vorbild reorganisiert und ihre Streitkräfte nach dem Vorbild der Roten Armee aufgebaut. Bei Kanton wurde die Whampoa-Militärakademie errichtet, deren Leitung der in Moskau militärisch ausgebildete Tschiang Kai-schek95 übernahm. Als politischer Funktionär wurde ihm der Kommunist Tschu En-lai96 zur Seite gestellt. Von der Ausrichtung der sowjetischen Politik nach Osten war Radek vorerst nur am Rande betroffen. Das sollte sich zwar in den kommenden Monaten ändern, aber noch lag der Schwerpunkt seiner publizistischen Tätigkeit auf der Kommentierung der für die Sowjetunion relevanten politischen Vorgänge im Westen und der Propagierung der sowjetischen Westpolitik. Daneben fand er endlich Zeit dafür, sich um die Übersetzung seiner deutschen Schriften in die russische Sprache zu kümmern und ihre Herausgabe im sowjetischen Staatsverlag vorzubereiten. 1921 hatte er dort bereits einen Teil der 1918/19 in Berlin verfassten Arbeiten unter dem Titel „Na službe germanskoj revoljucii [Im Dienst der deutschen Revolution]“ veröffentlicht. Nun plante er eine dreibändige Gesamtausgabe seiner Schriften mit dem Titel „Germanskaja revoljucija [Die deutsche Revolution]“, von der er zunächst zwei Bände zusammenstellte.97 Seine im ersten Band enthaltenen Arbeiten aus der Zeit 95 Tschiang Kai-schek (1887–1975); chinesischer Politiker und Marschall; 1925 Nachfolger Sun Jatsens als Führer und General der Kuomintang; brach 1927 mit den Kommunisten und der Sowjetunion; ab 1928 Präsident der chinesischen Republik; 1949 von den Kommunisten nach Taiwan vertrieben. 96 Tschu En-lai (1898–1976); Mitbegründer der KP Chinas; 1949–1976 Ministerpräsident und Außenminister der Volksrepublik China. 97 Radek, Germanskaja revoljucija, Moskva 1925: Tom I: „Imperializm, vojna i vozniknovenie Germanskoj Kompartii [Imperialismus, Krieg und Entstehung der deutschen Kommunistischen Partei]“: S. 7–465 = identisch mit: Radek, In den Reihen der deutschen Revolution, 1909–1919. S. 466 ff. = vier im Ersten Weltkrieg von Radek in der Schweizer Emigration verfasste Arbeiten: (1) „Cimmerval’dskaja levaja o zadačach rabočego klassa [Die Zimmerwalder Linke über die Arbeiterklasse]“ = identisch mit: „Internationales Flugblatt (IF)“ Nr. 1 vom November 1915 und enthält den „Vorschlag der Resolution: über Weltkrieg und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ vom 4. September 1915 und den „Vorschlag des Manifests“ der Zimmerwalder Linken vom 4. September 1915. (2) „Vechi revoljucii [Wegmarken der Revolution]“; (3) „Cimmerval’d na rasput’e [Zimmerwald am Scheidewege] = identisch mit: „Zimmerwald am Scheidewege“,in: „Jugend-Internationale“, Nr. 9 vom 1. September 1917, S. 2–4; (4) „Čto značit otkaz ot zaščity otečestva? [Was bedeutet die Ablehnung der Vaterlandsverteidigung?]“ = identisch mit: Broschüre Radeks mit dem gleichen Titel in der Reihe „Sozialistische Jugendbibliothek“ 1915/16. Tom II: „Nojabr’skaja revoljucija v Germanii [Die Novemberrevolution in Deutschland]“ = identisch mit: Radek, Na službe germanskoj revoljucii“ und enthält neben Artikeln der Jahre 1918–1920 folgende nicht in deutscher Sprache publizierte Beiträge: (1) „4-e avgusta 1914 goda [Der 4. August 1914]“, S. 1–54; (2) Kommunističeskaja revoljucija, vojna i mir [Kommunistische Revolution, Krieg und Frieden]“, S. 77–92; (3) „Central’nomy Komitetu Germanskoj Kommunističeskoj

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vor dem I. Weltkrieg und der Schweizer Emigration fasste er unter dem Leitthema „Die Geburt des deutschen Kommunismus und Bolschewismus“98 zusammen. Der zweite Band beschäftigte sich mit der „Schaffung der Kommunistischen Partei Deutschlands.“99 Er enthält eine Sammlung seiner Schriften und Reden im Zusammenhang mit der Gründung der KPD und ihrer Kampfzeit bis 1920. Das Vorwort für jeden Band datierte er symbolträchtig auf den 7. November 1924, den siebenten Jahrestag der russischen Oktoberrevolution. Beide Bände erschienen 1925 in Moskau. Der angekündigte dritte Band, der wohl die Schriften zu seiner mittlerweile diskreditierten Einheitsfrontpolitik umfassen und ein Sach- und Personenregister für das Gesamtwerk enthalten sollte, war politisch inopportun geworden und ging nicht mehr in Druck. Hingegen wurden die wichtigsten seiner Reden, die er in den zurückliegenden Jahren vor den Gremien der Komintern gehalten hatte, 1924 noch in dem offiziellen Sammelwerk zum 5. Jahrestag der Kommunistischen Internationale publiziert.100 Unverändert richtete Radek seine Angriffe gegen die deutsche Sozialdemokratie, getreu seiner These, die sozialdemokratischen Führer trügen die Verantwortung für die Oktoberniederlage der KPD, die er mit dem „Sieg des Faschismus über die Novemberrepublik“ gleichgesetzt hatte. Mit diesen Führern gebe es nur noch einen „Kampf auf Leben und Tod“.101 Selbst der Tod eines politischen Gegners, dem er sich einstmals verbunden gefühlt hatte, war ihm kein Anlass für Pardon und Pietät. Als Parvus-Helphand im Dezember 1924 in Berlin starb, bot ihm das Gelegenheit für einen polemischen Nachruf voller hasserfüllter Verunglimpfungen: „Wie aus den Broschüren ersichtlich ist, die Parvus nach den Verhandlungen von BrestLitovsk herausgab, glaubte er, daß die Bol’ševiki sich auf ein Geschäft mit dem deutschen Imperialismus einlassen würden und daß ihn der Glorienschein eines Mannes umgebe, der es vermocht hatte, einen Kompromißfrieden zustande zu bringen und, daß es ihm glücken würde, eine gewichtige Rolle in der russischen Revolution zu spielen. Das war bereits das Hirngespinst eines politischen Bankrotteurs.



partii [An das Zentralkomitee der Deutschen Kommunistischen Partei]“ = Brief an die KPD-Zentrale vom 9. Januar 1919, S. 93–95; (4) „Germanskaja revoljucija i pol’skij vopros [Die deutsche Revolution und die polnische Frage]“, S. 96–100.; (5) „Uroki graždanskoj vojny v Berline [Die Lehren des Bürgerkriegs in Berlin]“, S. 101–147; (6) „Germanskaja kommunističeskaja partija v dni kappovskoj avantjury [Die deutsche kommunistische Partei in den Tagen des Kapp-Abenteuers]“, geschrieben im Juni 1920 nach dem Kapp-Putsch, S. 275–292. 98 Radek „Roždenie germanskogo kommunizma i bol’ševizm [Die Geburt des deutschen Kommunismus und Bolschewismus]“; in: Germanskaja revoljucija, tom I, S. VII. 99 Radek, „Sozdanie kompartii Germanii [Die Schaffung der Kommunistischen Partei Deutschlands]“; in: Germanskaja revoljucija, tom II, S. III. 100 Pjat’ let Kominterna [Fünf Jahre Komintern], tom I und II, Moskva 1924. 101 Vom Zentralausschuss der KPD am 3. November 1923 angenommene Thesen Radeks, „Der Sieg des Faschismus über die Novemberrepublik“; zitiert nach: Möller, S. 40.

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In den letzten Jahren seines Lebens betätigte Parvus sich nicht mehr in der sozialdemokratischen Bewegung und widmete sich vollkommen seinen Geschäften; seine politische Rolle bestand darin, Einfluß auf Ebert auszuüben. Er gab beträchtliche Gelder an sozialdemokratische Verleger, ohne selbst in Erscheinung zu treten; politisch war er völlig auf den Hund gekommen. Vor ein paar Jahren sagte er einmal: ,Ich bin das Gegenteil von Midas: das Gold, das ich berühre, wird zu Mist.‘“102

Von Parvus schlug Radek schließlich den Bogen zum sozialdemokratischen deutschen Reichspräsidenten Ebert und der Weimarer Republik: Am Ende sei Parvus, der Spekulant, wie ein Symbol für die tiefgreifende Entartung der Sozialistischen Internationale erschienen. Wie sämtliche Politiker der II. Internationale habe er seine Karriere „mit der revolutionären Entscheidung begonnen, den 1. Mai zu feiern, und damit geendet, den mit Blut und Dreck beschmierten Kapitalismus zu unterstützen.“ Das habe sich schon im Gesicht dieses Mannes ausgedrückt, der „als großer revolutionärer Schriftsteller angefangen habe und im Sumpf des Spekulantentums endete, in der Rolle eines Ratgebers Eberts – des Präsidenten der blutbefleckten kapitalistischen Republik, der Republik der Geschäftemacher, der Republik ohne Republikaner, in deren Gefängnissen die besten Söhne der Arbeiterklasse verfaulen.“103 Nach dem Verlust seiner Ämter hatte Radek sein Arbeitszimmer im Gebäude der Komintern behalten dürfen. Das blassgrün gestrichene Haus stand unmittelbar am Kreml’. eine riesige ehemalige Mietskaserne, gegenüber der nun als Garage dienenden zaristischen Offizierreithalle. Zwischen beiden Bauten „eröffnete sich der schönste Blick auf den Kreml’, seine bunteste Mauer, sein schönstes Tor, dann gestaffelt die großen Paläste und die schlanken hohen weißen Türme mit den schwarzgoldenen Kuppeln dahinter:“104 Auch die Wohnung im Kreml’ hatte man ihm nicht genommen und so war er unverändert im Zentrum der Macht präsent. Obwohl er weiterhin ganz offen mit Larisa Rejsner liiert war, lebte er weiter mit seiner Frau in der gemeinsamen Wohnung.105 Er verließ Rosa nicht, der man im Übrigen ein Verhältnis mit ihrem Chef Unšlicht nachsagte.106 In Moskau zerriss man sich über Radeks Privatleben den Mund. Das Gerücht sagte, Larisa hätte Radek nur genommen, weil sie Trockij nicht bekommen konnte.107 Sie war „eine wunderschöne Frau“.108 Trockij nannte sie einen „brennenden Meteor“ am Himmel der Revolution und schwärmte, sie habe einer „olympischen Göttin“ geglichen, eine „Pallas der Revolution“.109 Hin102 Radek, „Parvus“, in: Radek, Portrety i pamflety, S. 131f. Erstveröffentlichung in: „Pravda“ vom 14. Oktober 1924. 103 Radek, Parvus, a.a.O., S. 132. 104 Scheffer, Sieben Jahre Sowjetunion (Bericht über die „Komintern“ von Ende Juni 1924), S. 284. 105 Meyer-Leviné, S. 170. 106 Bessedowsky [Besedovskij] S. 162f. 107 Meyer-Leviné, a.a.O. 108 Ioffe, S. 38. 109 Trockij, My Life, New York 1970, S. 409. Tuck, S. 75.

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gegen hatte Radek „kein besonders sympathisches Aussehen“110, war sogar „eine Art Giftzwerg“.111 Larisa Rejsner konnte wunderbar erzählen112 und war mit russischen Dichtern befreundet. Gleich Radek, verkörperte sie „ein Bündel von Widersprüchen: Sie verstand es Unmoral in einen Erfolg umzumünzen. Osip Mandelstam113 erzählte seiner Frau, wie Larissa eine Party in Szene gesetzt hatte, damit die Agenten der Tscheka die Gäste verhaften konnten. Andererseits brachte sie [im hungernden Petrograd] der kranken Anna Achmatova114 einen Korb mit Lebensmitteln.“115 Gelegentlich gab sie sich zynisch und kaltschnäuzig. Zu Adolf Ioffe sagte sie einmal: „Ich weiß, daß man über mich sagt, ich hätte mit allen Volkskommissaren geschlafen. Aber mein Ehrenwort, nicht mit allen.“116 Nach ihrer Rückkehr aus Deutschland arbeitete sie als Sonderkorrespondentin der Petrograder „Izvestija“, reiste durch Russland und publizierte als Ergebnis das Buch „Kohle, Eisen und lebendige Menschen“. Mit dieser Arbeit, in der sie auf die früher gängigen schwülstigen Metaphern und gekünstelten Vergleiche verzichtete, erreichte ihr Schaffen eine neue Reife. Hinter dieser Wandlung stand Karl Radek.117 Er hatte einmal geäußert, ihm werde in seinem Leben als Revolutionär wohl kaum die Muße dafür bleiben, jene Bücher zu schreiben, die er im Kopf trage“.118 Nun konzentrierte er seinen literarischen Ehrgeiz auf Larisas Arbeiten. Als ihr eifriger Leser und Berater hatte er ihr Herz gewonnen.119 Auf sein Aussehen anspielend, nannte sie Radek zärtlich „mein Äffchen“.120 Ihre missgünstige Partei- und Geschlechtsgenossin Aino Kuusinen mokierte sich noch im Nachhinein darüber. Soviel sie wisse, sei Larisa die einzige Person gewesen, die Radek je liebenswert gefunden habe.121 Lerner nimmt an, Larisa habe Radek nach seinem Sturz zwei Jahre lang davon abgehalten, Trockij zu unterstützen und „den Rest seiner Karriere wegzuwerfen“.122 Sicherlich hat sie dazu beigetragen, Radek in seinem Entschluss zu bestärken, einen Parteiausschluss um jeden Preis zu vermeiden und zweifellos half ihm ihre Liebe, den Gesichtsverlust und die Demütigungen nach der deutschen Oktoberniederlage zu verkraften.123 110 Kuusinen, S. 103. 111 Tuck, S. 76. 112 Ioffe, a.a.O. 113 Mandel’štam, Osip Ėmil’evič (1892–1942); russischer Lyriker. 114 Achmatova, Anna Andreevna (1889–1967); russische Lyrikerin. 115 Wassiljewa [Vasileva], S. 94. 116 Ioffe, S. 38. 117 Wassiljewa [Vasileva] S. 95. 118 Mayer, Gustav, Bericht aus Stockholm über die Vorbereitungen zur internationalen Sozialistenkonferenz, 6. Juni 1917. Lademacher, Band 2, S. 519. 119 Wassiljewa [Vasileva], a.a.O. 120 Alexandrov, Victor [Aleksandrov, Viktor], The Tuchachevsky Affair, S. Englewood Cliffs, N. J., 1963, S. 22, Tuck, S. 76.. 121 Kuusinen, S. 103. 122 Lerner, S. 132. 123 Ebenda.

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*** Schon Ende 1923 identifizierte Josef Eisenberger, der KPD-Referent beim EKKI, „die veränderte politische Kultur innerhalb der kommunistischen Bewegung“ als das „Grundübel“ und die Wurzel für das Scheitern des Deutschen Oktobers.124 Über die Beurteilung der Oktoberereignisse durch die Führer der RKP(b) schrieb er an Brandler: „Bei aller den führenden russischen Genossen gebührenden Anerkennung, sind sie doch – Radek ausgenommen, der ihnen die überlegene Kenntnis Deutschlands voraus hat – die Opfer ihrer Umgebung geworden. Mit anderen Worten: Ihr persönliches Wirken hat sich in den letzten sechs Jahren an eine, dank der Machteroberung, spielende Überwindung aller Hindernisse gewöhnt. Das hat unbedingt abgefärbt auf ihre Urteilskraft den deutschen Ereignissen gegenüber.“125

Mit dem in der Kommunistischen Internationale nach der Oktoberniederlage offen aufgebrochenen Gegensatz zwischen Zinov’ev einerseits sowie Trockij und Radek andererseits, beschäftigte sich Ende Juni 1924 Paul Scheffer aus Anlass des V. Komintern-Kongresses im „Berliner Tagblatt“. Zinov’ev, so argumentierte er, wolle die Weltrevolution mit der Taktik des bewaffneten Aufstandes, bildlich gesprochen, „mit dem Hammer“ durchsetzen, während Trockij und Radek als seine internen Gegner subtilere Methoden vorzögen und gewissermaßen „die Feile“ an den Kapitalismus ansetzten126: „Man könnte sie Universalisten nennen, weil ihnen in Rußland und in der Welt jede Kraft wertvoll erscheint, die sich in den Dienst des Gedankens [der Weltrevolution] stellen läßt. Sie würden in Parlamenten arbeiten, mit den anderen Arbeiterparteien sich verbinden und, wo die Türe sich nicht zerschlagen läßt, durch die engste Spalte sich Eingang verschaffen. Sie halten viel von der genauen Diagnose vor der blutigen Operation, genauer Untersuchung des Feldes.“127

Insbesondere „der gewandte Radek“ stehe bereit, sich an der harten Realität zu erproben, „unerschöpflich an lebendigem Wissen über die Gestalt der großen Politik und Wirtschaft, an Ideen voller Anwendungen, Diagnostiker ersten Ranges“. Vom „bürgerlichen Standpunkt“ aus, sei es aber „eine blamable Naivität“, die Universalisten „freundlicher oder ungefährlicher zu finden als die Radikalen“. Radek werde jetzt „[…] im Streit der Partei“ vorgeworfen, […] er habe den Oktoberaufstand verhindert. Sinowjew weist darauf voller Entrüstung nachträglich hin. Aber das Peinliche ist, daß 124 Becker, S. 14. 125 Brief Josef Eisenbergers an Brandler vom 4. Dezember 1923. Becker, S. 14. 126 Scheffer, Sieben Jahre Sowjetunion, S. 178f. 127 A.a.O., S. 179.

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Radek gewußt haben wird, warum er wartete. Kann er sich nicht mit Recht darauf berufen, daß man ihm erlaubte, zu warten? Für den Dritten, Unerfreuten, ergänzen sich die beiden Gegner allzu vorzüglich!“128

Es war jedoch keineswegs eine Scharade, die auf dem V. Komintern-Kongress aufgeführt wurde. Radek hatte sich ein halbes Jahr lang den ihn verdammenden CKBeschlüssen nicht gebeugt und sich dagegen gewehrt, zum Sündenbock gestempelt zu werden. Im Mai hatte er seinen Sitz im Zentralkomitee der russischen Partei verloren und nun brachte ihn Zinov’ev, assistiert von Ruth Fischer, vor dem nominell höchsten Organ der Kommunistischen Internationale, dem Weltkongress, politisch zur Strecke. Dietrich Möller schildert den letzten Auftritt Radeks vor diesem Gremium außerordentlich bildhaft: „Man pflegte ihn in den Versammlungen der Kommunistischen Internationale mit Beifall zu empfangen und zu verabschieden. Man scheute fürwitzige Zwischenrufe, um sich nicht gleich darauf unter seinen rhetorischen Hieben ducken zu müssen. Man übersah die Lächerlichkeit, in die ihn die Pflicht brachte, ständig die zu weiten Hosen hochzuziehen. Man achtete nicht auf die abrupten Gebärden, die zu schrille Stimme. Denn man mußte ihm zuhören. Im Juni 1924 hatte Radek seinen letzten Auftritt vor der Vollversammlung der Weltrevolutionäre. Diesmal rührte sich keine Hand zum Beifall, man intervenierte frech; die rutschende Hose und der Kampf gegen diese Tücke des Objekts, die Gebärden, die Stimme – alles erinnerte an einen Clown. Man mußte ihm nicht zuhören. Karl Radek war vor seinem letzten Auftritt ein Verurteilter. Man scherte sich nicht um die Frage, ob er wohl auch ein Schuldiger sein mochte. Am 21. Juni 1924 zerrte man Radek von dem Podest der führenden Weltrevolutionäre in den Staub der Abweichler, Opportunisten, Wankelmütigen. Radek – ein Un-Revolutionär. Hin und wieder schrieb er noch einen Artikel in der „Pravda“ und „Izvestija““129

Letzten Endes war es aber nicht die gescheiterte deutsche Revolution, sondern seine Parteinahme im Fraktionskampf für Trockij, die Radeks Sturz herbeiführte. Der deutsche KP-Führer Brandler, der zusammen mit Radek fiel, hat das klar erkannt, wie Eisenberger bezeugt: „Brandler hat es unzählige Male eine politische Eselei Radeks genannt, daß Radek sich in die russische Diskussion eingemischt habe – weil er dadurch Öl ins Feuer gegossen habe. Nach Brandlers Überzeugung hätte sich die Oktoberniederlage v e r s c h m i e r e n lassen, wenn Radek nicht diese Eselei begangen hätte.“130 128 A.a.O., S. 179f. 129 Möller, S. 41. 130 Aussage Eisenbergers, in : Protokoll No. 1 der Sitzung der Z.K.[K.] der RKP. vom 10. März 1925. Becker, S. 113.

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Dennoch bedeutete der Verlust von Amt und Würden nicht das totale Aus für Radek. Er behielt seine Funktionärs-Privilegien und die Erlaubnis, sich publizistisch zu betätigen, wovon er reichlich – und nicht nur gelegentlich – Gebrauch machte. Als Sündenbock abgehalftert, sah er für sich noch drei Handlungsoptionen, die er wie folgt beschrieb: „Ich sage, es gibt 3 Dinge, die man machen kann: 1. eine Fraktion, 2. sich zurückziehen, Bücher schreiben usw., 3. die Parteiarbeit nicht sabotieren. Ich meine damit die Arbeit die die Partei gibt, und nicht ich habe die Arbeit gesucht, nicht ich habe die Ausnutzung der legalen Möglichkeiten gesucht, sondern die zentralen Organe der Partei haben mir meine Arbeit zugewiesen.“131

Er wollte damit ausdrücken, er habe die Entscheidung getroffen, sich dem Verbot der Fraktionsbildung zu unterwerfen und der Trockij-Opposition fernzubleiben. Zugleich signalisierte Radek, dass er nicht daran denke, völlig von der Bildfläche der Politik zu verschwinden und sich in die innere Emigration zurückzuziehen. Er wolle den ihm von der Parteiführung zugestandenen Handlungsspielraum als Journalist linientreu auszunutzen. Paul Scheffer kommentierte Radeks Rückzug in die Sowjetpropaganda mit den Worten, er sauge an dem „Schierlingsbecher“, den ihm Zinov’ev zur Verfügung gestellt habe132. Aber es ist zu fragen, welche plausible Alternative ihm denn sonst geblieben wäre. Immerhin zeigen seine Kontakte zu den Dissidenten der KPD, dass er, bezogen auf die deutschen Kommunisten, durchaus in Kategorien des politischen Widerstands dachte und handelte. Eine Aktivität, die mit einer Parteistrafe sowie dem ausdrücklichen Verbot, sich weiterhin in KPD- und KominternAngelegenheiten einzumischen, im Frühjahr 1925 ihr abruptes Ende finden sollte. Das Motto „die Parteiarbeit nicht sabotieren“ bestimmte demgegenüber Stil und Inhalt seiner Leitartikel, in denen er die „taktischen Kampfaufgaben der sowjetischen Außenpolitik“133 behandelte. Sein zentrales Thema bildete die Agitation gegen den Dawes-Plan, der die deutschen Reparationszahlungen festlegte, Deutschland wirtschaftliche Erleichterungen brachte und ein erstes Anzeichen für ein Entgegenkommen der Siegermächte gegenüber Berlin darstellte. Entsprechend der Absicht der Sowjetführung, Deutschland vom Westen zu isolieren und die russischen Sicherheitsinteressen zu wahren, bewertete Radek das Londoner Abkommen als einen schlauen Schachzug des Westens, mit dem das Reich in eine gegen die Sowjetunion gerichtete kapitalistische Front eingereiht werden sollte. Als Deutschland sich sechs Wochen nach der Annahme des Dawes-Plans bereit erklärte, dem Völkerbund beizutreten, befürchtete der Kreml’, dass der Rapallopartner als Völkerbundmitglied gezwungen sein könnte, an militärischen Sanktionen gegen die Sowjetunion gemäß 131 Aussage Radeks, in: Protokoll No. 2 der Sitzung der ZKK. der RKP. vom 11. März 1925. Becker, S. 135. 132 Scheffer, Sieben Jahre Sowjetunion, S. 363. 133 Radek, in „Izvestija“ Nr. 9, vom 11. Januar 1925. Möller, S. 41.

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der Artikel 16 und 17 der Völkerbundsatzung teilzunehmen oder aber EntenteTruppen das Durchmarschrecht für einen Ostfeldzug gewähren müsse. Im Gegensatz zum üblichen Propagandagetöse über die Formierung eines Anti-Sowjet-Blocks, beurteilte Radek die Entwicklung jedoch erstaunlich nüchtern. In einer deutschlandpolitischen Jahresbilanz schrieb er, 1924 sei ein Jahr fieberhafter Veränderungen gewesen, habe aber zugleich die Stabilisierung gebracht. Deutschland hoffte mit der Unterordnung unter den Dawes-Plan seine außenpolitische Lage zu erleichtern. Ausdruck dieser Erwartungen sei die Note an den Völkerbund gewesen, in der sich die deutsche Regierung für einen Beitritt vorbehaltlich des Artikels 16 aussprach. Der Völkerbund lehne das ab und Berlin folgere: „Wenn man seine Unschuld nicht bewahren kann, soll man wenigstens Kapital daraus schlagen.“ Doch habe das alles keine große reale Bedeutung, denn Frankreich werde keiner zahlenmäßigen Vergrößerung der Reichswehr für Aktionen gegen Sowjetrussland zustimmen, weil „die deutschen Eisenbahnen nicht nur nach Osten […] führen und man […] nicht solche Gewehre konstruieren kann, die nur auf Bolschewisten schießen.“ Er meine daher, dass die „Tugend der deutschen Regierung“ unangetastet bleibe und dass aus ihrem Verkauf kein Kapital herauszuschlagen sei.134 Seiner Meinung nach bestünde keine akute Kriegsgefahr.135 Mit dem Jahr 1924 war das Wirken Radeks auf der Bühne der sowjetischen Politik erst einmal beendet. Der Mann, der im Sommer 1922 manchen noch als ein möglicher Nachfolger Lenins gegolten hatte136, war auf seine Rolle als „demagogischer Agitator“137 zurückgestuft worden. Sicherlich zählte er zu den „bemerkenswertesten Menschen“138 seiner Zeit, wie der ehemalige Kommunist Karl Retzlaw urteilt, der ihn in den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erlebte: „Die Ähnlichkeit Radeks, auch wegen seines Bartes mit den Bildern Puschkins war auffallend und schmeichelte ihm offenbar mehr, als der Vergleich mit Macchiavelli, den er oft zu hören bekam. Ich habe Radek eher mit Pater Joseph139 verglichen, dem Sekretär des Kardinals Richelieu. Radek hatte wie Pater Joseph keine offizielle Funktion, er konnte 134 Radek, Na puti k novoj Antante? III. Germanija pod nažimom doklada ekspertov [Auf dem Weg zu einer neuen Entente? III. Deutschland unter dem Druck des Dawes-Plans]“; in: „Pravda“, Nr. 9 vom 11. Januar 1925. Grieser, S. 111. 135 Radek, „Meždunarodnoe položenie SSSR nakanune novogo goda [Die internationale Situation der UdSSR am Vorabend des neuen Jahres]“; in: „Pravda“ Nr. 1 vom 1. Januar 1925. Grieser, S. 110. 136 Telegramm Botschafter Wiedenfeld an das Auswärtige Amt Berlin vom 27. Juni 1922. Grieser, S. 11, Anm. 9. Möller (S. 11) bemerkt dazu, dass diese Einschätzung nicht gerade für das Urteilsvermögen der Diplomaten spräche. 137 Schüddekopf, Linke Leute von rechts, S. 416, Anm. 1. 138 Retzlaw, S. 231. 139 Der als Pére Joseph bekannte Kapuzinerpater François Leclerc du Tremblay (1577–1638) war der geheime Vertraute, Beichtvater und außenpolitische Berater von Kardinal Richelieu, der „Roten Eminenz“ im Kardinalspurpur. Bei dem Pater handelte es sich um einen hochgelehrten Mann von

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Entscheidungen aushandeln, aber nicht unterschreiben. Er verhandelte mit Staatsmännern, Parteiführern, Wirtschaftsleuten, Journalisten, die durch ihr Interesse an Rußland veranlaßt waren, mit einem Russen zu sprechen, der über alle Fragen informiert war, der auch keinen Dolmetscher benötigte. Wohl alle, die mit Radek gesprochen haben, waren der Meinung, mit dem geistreichsten und bestunterrichteten Mann der Zeit gesprochen zu haben. Pater Joseph hatte das Glück, vor seinem Herrn zu sterben. Radeks Meister, Lenin starb jedoch bald und ließ ihn ohne gefestigte Position in der KPdSU zurück.“140

Karl Radek war weder Russe noch Lenins „Graue Eminenz“, aber – und das sieht Retzlaw zutreffend – ein gesuchter Moskauer Gesprächspartner in der sich zunehmend verschlossener gebenden sowjetrussischen Gesellschaft: „Wer unter den bolschewistischen Führern war außer Radek ständig bereit zu Gesprächen – getrieben wohl auch durch die eigene Neugierde auf andere Argumente und Informationen – , wer wußte sich so gut in scheinbare Distanz zu Ideologie und Regime zu stellen und auf diese Weise Glaubwürdigkeit zu erwecken, wer warf so mit wichtig erscheinenden Hinweisen um sich, wer hielt ein solches Füllhorn voller Anekdoten, und Bonmots, Aperçus und Aphorismen bereit? Der rastlose und bald schwerkranke Lenin? Der strenge und disziplinierte Trotzki? Der wild-revolutionäre und emotionsgeladene Sinowjew? Der gebildete, aber zurückhaltende Kamenew? Stalin?“141

Die katastrophalen Zustände im nachrevolutionären jungen Sowjetrussland versuchte er gar nicht erst zu vertuschen oder schönzufärben. Sie seien charakteristisch für den Prozess der gesellschaftlichen Umwälzung, für den er um Verständnis warb: „Wenn ihre Köchin eine Suppe kocht, so wird sie in fertigem Zustand manierlich serviert, vielleicht nicht nur gut schmecken, sondern auch gut aussehen. Wenn Sie aber vorher immer wieder in die Küche laufen und der Köchin in den Topf gucken, so dürfen Sie sich nicht wundern, wenn Sie eine greuliche, schmierige Brühe zu sehen bekommen.“142

Nicht ohne Sympathie charakterisiert Isaac Deutscher die schillernde Persönlichkeit Radeks: „Viele hielten diesen unruhigen Geist, dem jede Heuchelei zuwider war, diesen Bohemien mit der scharfen Zunge und der Neigung zu zynischen Anspielungen, für einen exzentrischen und selbst anrüchigen Menschen. Er mußte sich allerdings von seinen Gegnern, die seine respektlosen Blicke und seine vernichtenden Schmähschriften fürchteten, scharfem Verstand, der aus dem Hintergrund wirkte und wegen seiner grauen Ordenstracht die „Graue Eminenz“ genannt wurde. 140 Retzlaw, S. 231f. 141 Möller, S. 26. 142 Bumke, S. 111f.

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allerhand Verleumdungen gefallen lassen. Der Charakter des Menschen war bestimmt weit gediegener als es den Anschein haben mochte, obgleich er in den späteren Jahren unter dem Druck des stalinschen Terrors moralisch furchtbar verkam. Sein bohemienhaftes Äußeres und seine zynischen Gesten verbargen eine inbrünstige Gläubigkeit, die er höchst ungern zur Schau trug; und selbst seine bissigen Späße und Spöttereien waren von revolutionärer Leidenschaft durchglüht.“143

Bei aller Vielschichtigkeit der Persönlichkeit Karl Radeks bleibt festzuhalten, dass hohe Intelligenz gepaart mit immensem Geltungsbedürfnis und moralischer Skrupellosigkeit die ihn prägenden Persönlichkeitsmerkmale darstellten. Er war ein hemmungsloser Demagoge, aber kein rücksichtslos-brutaler Tatmensch, der revolutionäre Ziele um jeden Preis durchzusetzen versuchte. Seine stets klare Einsicht in die Lage hemmte sein Handeln144 Er agierte immer rational, auch wenn seine Gegner in RKP(b) und KPD nach der deutschen Oktoberniederlage den Vorwurf erhoben, er habe das von ihm immer beschworene „Tatexamen“ vor der Geschichte nicht bestanden.

143 Deutscher, Trotzki II, S. 203f. 144 Schüddekopf, Linke Leute von rechts, S. 416, Anm. 1.

17.  Schattenexistenz (1925–1926) Seit Ende 1924 begann Stalin in der Partei die These vom „Aufbau des Sozialismus in einem Lande“ schrittweise durchzusetzen und damit Trockij ideologisch zu überspielen. Das bisherige marxistische Dogma, dem Lenin, Trockij und auch Radek anhingen, lautete, dass der gesellschaftliche Umsturz als „permanente Revolution“ von der bürgerlichen zur proletarischen Stufe übergehen und in einer Kettenreaktion die ganze Welt erfassen müsse. Der Sozialismus sei nur im internationalen Maßstab realisierbar. Demgegenüber besagte Stalins neue Theorie, dass die Sowjetunion durch das Ausbleiben der Weltrevolution vorerst keine Hilfe durch Brudernationen erwarten könne. Der Aufbau des Sozialismus müsse aus eigener Kraft bewältigt werden. Diese These war Radek keineswegs fremd. Bereits 1920/21 hatte ihn die Idee beschäftigt, dass Russland den Sozialismus auch für sich allein aufbauen könnte, ohne auf die Weltrevolution zu warten, diesen Gedanken aber nicht ernsthaft weiterverfolgt. Gegen den Widerstand Trockijs, Zinov’evs und Kamenevs billigte im April 1925 die 14. Parteikonferenz (27.–29. April 1925) Stalins Theorie als die neue Generallinie der Partei und erklärte damit die Lehre von der „permanenten Revolution“ zur Häresie. Schon zuvor war der politische Abstieg Trockijs offenbar geworden. Er verblieb zwar noch in Politbüro und Zentralkomitee, hatte aber schon im Januar seine Ämter als Kriegskommissar und Vorsitzender des Revolutionären Kriegsrats niederlegen müssen. Er ließ den inneren Parteikampf ruhen und riet seinen Anhängern: „Wir dürfen in diesem Augenblick nichts unternehmen, wir dürfen in keiner Weise offen hervortreten. Wir sollten lediglich unsere Kontakte pflegen, die Kader der Opposition von 1923 intakt halten und warten, bis sich Sinowjew ausgegeben hat.“1 Das deckte sich mit Radeks Haltung, der sich – nach seinem Hinauswurf aus der Komintern und einer Parteistrafe wegen Fraktionsbildung in der KPD – innenpolitisch bedeckt hielt und auf seine Rolle als Sowjetjournalist zurückgezogen hatte. Um dem Parteiausschluss zu entgehen, vermied er sowohl eine offene Parteinahme für Trockij, als auch Angriffe auf die Kamenev-Zinov’ev-Stalin-Troika. Er demonstrierte politisches Wohlverhalten. In seinen außenpolitischen Zeitungsartikeln, die sich vor allem mit Deutschland und zunehmend auch mit der sowjetischen Fernostpolitik befassten, folgte er der offiziellen Partei- und Kominternlinie. Im Sommer 1925 trug sein Stillhalten Früchte. Er wurde zum Rektor einer neugegründeten Kaderschmiede der Komintern für chinesische Kommunisten ernannt, der Moskauer Sun-Jat-senUniversität, wo er schnell Profil als China-Experte gewann. Anfang 1926 starb überraschend Larisa Rejsner, ein für Radek äußerst schmerzlichen Verlust. Kurz darauf wollte Stalin Radek an sich ziehen und versuchte, Radek in der Komintern rehabilitieren zu lassen. Als diese Bemühungen fehlschlugen, war das nach der emotionalen Erschütterung durch Larisas Tod der entscheidende Anstoß für Radek, seine bislang 1 Serge, Victor, Le Tournant Obscur, Paris 1951, S. 97. Deutscher, Trotzki II, S. 200.

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geübte innerparteiliche Zurückhaltung aufzugeben und sich im wiederauflebenden Fraktionskampf der Bol’ševiki an Trockijs Seite gegen Stalin zu engagieren. Unter den sowjetischen Journalisten nahm Radek am häufigsten zur Deutschlandpolitik Stellung. Seit dem 11. Januar 1925 publizierte er in der Regierungszeitung „Izvestija“ wöchentlich eine „Internationale Rundschau (Meždunarodnoe obozrenie)“, für deren Urteile er „persönlich die Verantwortung“ trage, wie er schrieb. Im Gegensatz zu den Leitartikeln des Blattes, in denen die „taktischen Kampfaufgaben der sowjetischen Außenpolitik“ behandelt würden, verfolge er mit seiner neuen Rubrik keine „taktischen Ziele“, er wolle vielmehr die Veränderungen in den Beziehungen der Staaten in Politik und Wirtschaft erhellen.2 Der bei ihm nunmehr verstärkt zu beobachtende Hang zur Konformität mit den Auffassungen der Mächtigen im Kreml’ legt allerdings nahe, dass seine Wochenübersichten zumindest offiziöse Bewertungen enthalten. Ihre taktische Zielsetzung ist offensichtlich.3 Als in Deutschland am 15. Januar Reichspräsident Ebert den der Deutschen Volkspartei nahestehenden parteilosen Finanzminister Luther4 mit der Neubildung des Kabinetts betraute, argwöhnte Radek, die neue Regierung werde „jedem Druck der Alliierten nachgeben“ und lediglich „freundschaftliche Phrasen“ an die Adresse der Sowjetunion richten.5 Über den weiter amtierenden Reichsaußenminister Stresemann spottete er, nur die russische Nachrichtenagentur „Rosta“ vermöge es, „[…] auf Grund spezieller Informationen zu bezeugen, daß er [Stresemann] einer der hervorragendsten deutschen Diplomaten sei. Andere Sterbliche haben das noch nicht bemerkt. Herr Stresemann wird eine Politik des Nach-allen-Seiten-Manövrierens führen, wobei er sich oft zwischen zwei Stühle setzen wird.“6

Einen Anfang Februar den Alliierten von Stresemann vorgeschlagenen Sicherheitspakt mit Garantie der Rheingrenze tat Radek mit dem Bemerken ab, Deutschland biete damit nichts. Es sei waffenlos und könne Frankreich ohnehin nicht angreifen. Stresemanns Initiative bewiese, „daß die nationalistische deutsche Regierung nicht besser als alle vorangegangenen quasi-demokratischen und quasi-pazifistischen Regierungen […] aus Wasser Suppe kocht.“7 Radek räumte dem Beginn der deutschen Verständigungspolitik nach Westen, die zum Vertragswerk von Locarno führen sollte, anfangs kaum Chancen ein. Als sie bei den Alliierten Resonanz fand, versuchte er, unter Hinweis auf die deutschen Revisionsabsichten im Osten, die polnische Karte 2 „Izvestija“, Nr. 9 vom 11. Januar 1925. Grieser, S. 112, Anm. 17. 3 Vgl. Grieser, ebenda. 4 Luther, Dr. Hans (1879–1962); 1925/26 Reichskanzler einer Koalitionsregierung aus Zentrum, BVP, DVP und DNVP. 5 Radek, „`Novoe´germanskoe pravitelst´vo [Die `neue´ deutsche Regierung]“, in: „Pravda“ Nr. 14 vom 17. Januar 1925. Grieser, S. 112. 6 Radek, „Meżdunarodnoe obozrenie“, in: „Izvestija“ Nr. 15 vom 18. Januar 1925. Grieser, S. 113. 7 Radek, „Meżdunarodnoe obozrenie“, in: „Izvestija“ Nr. 32 vom 8. Februar 1925. Grieser, S. 113.

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zu spielen. Radek forderte eine Neuorientierung der auf die Entente fixierten polnischen Politik, indem er aus einer Warschauer Zeitung zitierte: „Jeder Krieg Polens mit der SU hat die Tendenz, gleichzeitig ein Krieg mit Deutschland zu werden. Aber nicht jeder Krieg mit Deutschland muß unbedingt ein Krieg mit der SU werden.“ Diese Äußerung der „Gazeta Warszawska“, so schrieb er, bilde ein Indiz für die Suche der polnischen Außenpolitik nach einer neuen Orientierung, die Aufmerksamkeit verdiene.8 Er bestritt den Wert einer deutschen Garantie, nur mit friedlichen Mitteln eine Revision seiner in Versailles festgeschriebenen Ostgrenzen anzustreben. Der Wert einer solchen Erklärung hänge davon ab, ob Deutschland sie mit realer Macht unterstützen könne. Die Änderung von Grenzen sei kein Gerichtsprozess, sondern bedinge eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse. Andernfalls bleibe die Erklärung „nur eine Oblate, die den deutschen Nationalisten beim Schlucken des Garantiepaktes helfen soll […]“. Im Übrigen berühre jede Versteinerung der europäischen Grenzen, sei sie auch nur vorübergehend, die Sowjetunion. Die sowjetische Politik entfalte sich nicht in einer Einöde: „Das Deutschland, das gegen den Versailler Vertrag kämpft oder diese Frage offenläßt im Gedanken an Gambettas Losung, nie davon zu sprechen, immer aber daran zu denken9, ist eine Größe. Das Deutschland, das sich für längere Zeit im Rahmen des Versailler Vertrags einrichtet, ist eine andere. Polen als Sprachrohr der Entente ist ein Faktor. Ein Polen, das gute Beziehungen zu seinen Nachbarn sucht, ist ein anderer.“10

Er kam zu dem Schluss, alle sich daraus ergebenden Möglichkeiten verlangten Aufmerksamkeit, seien jedoch noch nicht endgültig reif. In einem großen Folgeartikel zur deutschen Außenpolitik seit 1918 wurde die Tendenz noch deutlicher, Polen als möglichen Ersatzpartner für Deutschland in Erwägung zu ziehen. Radek holte weit aus, um eine eventuelle Preisgabe Deutschlands historisch zu rechtfertigen. Er erläuterte detailliert, die Ursachen der Krise in den deutsch-sowjetischen Beziehungen lägen in der Westwendung der deutschen Bourgeoisie seit 1918. Mit dem Dawes-Plan sei die Annäherung an die angelsächsische Welt und die Abhängigkeit vom angloamerikanischen Kapital vollzogen worden. „Die Wendung [der deutschen Bourgeoisie] nach Westen enthält die Logik, ihre Spitze gegen den Osten zu kehren.“ Im Fazit seiner Ausführungen drohte Radek mit realpolitischen Konsequenzen. Die Politik müsse Politik sein, aber nicht Soziologie oder Philosophie der Geschichte. Ohne die Freundschaft zum deutschen Volk zu ändern und ohne Schwächung der 8 Radek, „Meżdunarodnoe obozrenie“, in: „Izvestija“ Nr. 71 vom 28. März 1925. Grieser, S. 114. 9 Der französische Staatsmann Léon Gambetta (1838–1882) hatte nach der Niederlage seines Landes im Krieg von 1870/71in einer patriotischen Rede die Franzosen zur Wahrung ihrer nationalen Würde aufgerufen und gesagt: „Seien wir die Hüter dieser Würde und sprechen wir niemals so von ihr, als sei sie uns fremd, sondern so, daß man versteht, wir denken immer an sie.“ Diese Rede ist die Quelle der von Radek wiedergegebenen vielzitierten Mahnung. 10 Radek, „Meżdunarodnoe obozrenie“, in: „Izvestija“ Nr. 61 vom 15. März 1925. Grieser, S. 116.

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wirtschaftlichen Beziehungen, ohne eine Verantwortung zu übernehmen, die über das unbedingt Gebotene hinausgehe, müsse die Sowjetunion den wahren Sinn der Ereignisse in der deutschen Außenpolitik beobachten und „auf jede Lage vorbereitet“ sein. Die Sowjetunion habe Deutschland niemals zu einer Verschwörung gegen den Westen gebrauchen wollen, weil sie wusste, dass Deutschlands Lage am Rhein dies nicht erlaube. Auch gegen Deutschland könne sie kein Komplott schmieden, aber sie müsse Garantien für den Frieden an den eigenen Grenzen suchen und vorsorgen für den Fall einer vorübergehenden, möglicherweise gegen die Sowjetunion gerichteten Stabilisierung in Mitteleuropa. Radek als Verfechter eines Zusammengehens mit einem bürgerlichen Deutschland betonte die Möglichkeit, dass Polen notfalls die Rolle Deutschlands übernehmen könnte: „Wir besitzen keinerlei Interessen, die einer solchen Politik entgegenstehen könnten; denn die Außenpolitik jedes Staates hängt nicht nur von seiner inneren Klassenstruktur, sondern auch von der Politik anderer Länder ab.“ Vielleicht führe die deutsche Politik zu internationalen Veränderungen, „die unsererseits eine Berechnung ohne alle Gefühlsbindungen verlangen werden.“11 “Der Stand der deutsch sowjetischen Beziehungen in der Locarno-Periode ließ sich an der sowjetischen Einschätzung Polens wie an einem Barometer ablesen.“12 Radek wechselte den Ton als im April deutsch-sowjetische Gespräche über eine Bekräftigung des Rapallo-Vertrages aufgenommen wurden, die ein Gegengewicht zu den Westverhandlungen bilden sollten. Sollte im Falle einer Grenzrevision der „polnische Korridor“ wieder Deutschland zufallen, belehrte Radek die polnische Presse, so handele es sich nicht um eine „Teilung“ Polens, sondern um eine Grenzänderung.13 Ein Verlust des Korridors bedeute keine Aufteilung, sondern das Ende der „Möglichkeit, die Rolle einer Großmacht zu spielen“. Ohne Zugang zum Meer müsse sich Polen „auf ein Zusammenleben mit Deutschland und Russland“ einstellen. Vor allem bedeute Realpolitik, dass „die Erstarkung Deutschlands im Interesse der Sowjetunion liegt, denn das würde die Konterbilanz gegen die Vergewaltigung durch den angelsächsischen Imperialismus verstärken“.14 Die Zurückhaltung, die Radek im russischen Fraktionskampf übte, erlegte er sich in den Angelegenheiten der Kommunistischen Partei Deutschlands nicht auf. Gemeinsam mit den in Ungnade gefallenen KPD-Führern Brandler und Thalheimer beteiligte er sich nach seinem Sturz weiter an den innerparteilichen Auseinandersetzungen der deutschen Kommunisten. Er versuchte aus Moskau Kontakte zu KPDFunktionären in Deutschland herzustellen, die mit der Diktatur der Fischer-MaslovFührung unzufrieden waren. Als EKKI-Referent Eisenberger sich als Mitwisser dieser

11 Radek, „Meżdunarodnoe obozrenie. Vnešnjaja politika germanii [Die Außenpolitik Deutschlands]“, in: „Izvestija“ Nr. 66 vom 22. März 1925. Grieser, S. 117f. 12 Grieser, S. 115. 13 Radek, „G-n Beneš v Varšave [Herr Benesch in Warschau], in: „Pravda“ Nr. 94 vom 26. April 1925. Grieser, S. 118f. 14 Radek, „Meżdunarodnoe obozrenie, in: „Izvestija“ vom 26. April 1925. Grieser, S. 119.

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Aktivitäten im Dezember 1924 der KPD-Spitze offenbarte15, war dies für Radeks politische Gegner die willkommene Gelegenheit eine politische Intrige gegen die „illegale Radek-Brandler-Fraktion“ zu brauen.16 Gestützt auf Eisenbergers Denunziation, legten die deutschen Vertreter beim Exekutivkomitee der Komintern das Material über Brandlers und Thalheimers angebliche „fraktionellen Treibereien und Disziplinbrüche“ Zinov’ev und Stalin vor. Sie forderten den Ausschluss der Beschuldigten aus der RKP und zugleich „die Ausdehnung des Verfahrens auf den Genossen Radek“: „In einer Besprechung der Genossen Sinowjew und Stalin vom ZK. der RKP. mit der Deutschen Delegation vertreten durch die Genossen Katz17 und Heinz Neumann18, vom 6. Februar 1925 wurde beschlossen, das gesamte Fraktionsmaterial der Z.K.K. [Zentrale Kontroll-Kommission] der RKP. zu überweisen, die unter Hinzuziehung von Vertretern der I.K.K. [Internationalen Kontroll-Kommission der Komintern] und der Zentrale der KPD ein Verfahren gegen die genannten Genossen, soweit sie Mitglieder der RKP sind, einleiten sollen.“19

Am 2. März wurde die ZKK der RKP(b) durch Politbürobeschluss angewiesen, das von der KPD-Zentrale geforderte Parteiverfahren durchzuführen.20 Das in Anspielung auf die späteren Moskauer Schauprozesse in der Literatur als „das erste Tribunal“ bezeichnete Verfahren gegen Radek und die KPD-Dissidenten fand im Zeitraum vom 10.–27. März 1925 statt. An vier Sitzungstagen tagte die Zentrale Kontrollkommission der RKP(b) unter Vorsitz von Sergej Gusev.21 Beteiligt waren auch Vertreter der IKK der Komintern sowie Katz und Neumann als Repräsentanten der KPD15 Vgl. oben, Kapitel 16. 16 Vatlin, S. 20. 17 Katz, Iwan (1889–1956); ultralinker KPD-Funktionär; 1924/25 als Vertreter der Ruth FischerZentrale der KPD beim EKKI in Moskau. 18 Neumann, Heinz (1902–1937); KPD-Funktionär, der zur linken Opposition Ruth Fischers gehörte und sich schon früh Stalin annäherte; 1925 Vertreter der KPD bei der Komintern und einer der aktivsten Streiter für die Bolschewisierung der Partei; 1927 Organisator des Kantoner Aufstands („Henker von Kanton“); wurde mit 26 Jahren (1928) zusammen mit Thälmann und Remmele zum entscheidenden KPD-Führer und zum „Sprachrohr Stalins“ in der Partei; 1932 degradiert und zur Komintern abgeschoben; 1937 in Moskau verhaftet und hingerichtet. Ehemann von Margarete Buber-Neumann. 19 „Material über die fraktionellen Treibereien in der KPD“, Anklageschrift der KPD-Zentrale, Februar (?) 1925; in: Becker, S. 63f. 20 Resolution der ZKK der KPR [RKP(b)] in Sachen der Genossen Brandler, Thalheimer, Radek u.a. vom 27. März 1925; in: Becker, S. 180. 21 Gusev, Sergej Ivanovič – Pseudonym von Jakov Davidovič Drabkin (1874–1933); Politkommissar im Bürgerkrieg; seit 1923 Sekretär der ZKK. Die weiteren Mitglieder der ZKK bzw. der IKK waren: Stučka, Pëtr Ivanovič (1865–1932); Lette; Rechtsanwalt; seit 1924 Mitglied der Internationalen Kontrollkommission der Komintern; Solc, Aron Aleksandrovič (1872–1945); Jurist; Mitglied des Präsidiums der ZKK und der Internationalen Kontrollkommission der Komintern; Peters, Jakov Christoforovič (1886–1942); Lette; Čekist, 1925 als Stellvertretender Vorsitzender der OGPU

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Zentrale. Eisenberger fungierte als Kronzeuge. Den Hauptbeschuldigten Radek, Brandler, Thalheimer und ihren Sympathisanten wurde vom ZKK-Mitglied Stučka vorgehalten: „Die Beschuldigung besteht darin, daß die erwähnten Genossen die Initiatoren einer Fraktionsbildung in der Kommunistischen Partei Deutschlands gewesen seien, daß sie diese Fraktion nicht nur ideell unterstützt und geführt, sondern auch finanziert haben und daß sie den Apparat, der ihnen hier in Rußland, und in Berlin zur Verfügung stand, benutzten, um sich in die Angelegenheiten der deutschen Partei in Art von Fraktionsarbeit einzumischen.“22

Detailliert schilderte Eisenberger die angeblichen Verstöße Radeks und der KPDExilanten gegen die Parteidisziplin, die Treffen in Radeks Wohnung und seine Geldspende für die deutschen Genossen. Er unterstellte den Beschuldigten, sie hätten auf eine innere Krise der Sowjetunion gesetzt, um wieder an die Macht zurückkehren zu können: „Auch Radek hat eine Zeitlang mit wichtiger und geheimnisvoller Miene von unausbleiblichen kommenden Schwierigkeiten auf ökonomischen und finanziellen Gebiete berichtet. Ebenso hat Larisa Reissner Schauermärchen erzählt über die gärende Stimmung am Ural usw, usw. All das floß zusammen in einzige Stimmung der Ankündigung des Niedergangs. All das wurde immer mehr zu einer Arie des Unterganges, auf deren Wellen man sich tragen lassen wollte, zurück an die Führung der deutschen Partei sowohl als auch an die Führung der RKP.“23

Radek bestritt diese Vorwürfe kategorisch und stellte in seiner Antwort auf Eisenbergers Aussage dessen Glaubwürdigkeit als Kronzeuge einer vorgeblichen Verschwörung in Frage: „Die Genossen wissen, daß ich wenig Gemeinsinn habe. Aber wenn wir mit Brandler und Thalheimer, die wir schon manche Dinge gedreht und gegen sie gedreht haben, eine solche Sache aufziehen wollen, würden wir dann [Eisenberger als] einen mir vollkommen unbekannten Menschen an unseren Besprechungen teilnehmen lassen?“24

Er tat Eisenbergers Bericht als „reine Phantasie“ ab, „die aus einer Semmel und etwas Wasser eine Suppe kochen will.“25 Renitent wurde Radek als kompromittierende

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der Stellvertreter Dzeržinskijs)); seit 1923 Mitglied der ZKK. Pjatnickij, der vermutlich heimlicher Sympathisant der Beschuldigten war (Becker, S. 29). Protokoll No.1 der Sitzung der Z.K.[K.] der RKP. vom 10. März 1925; in: Becker, S. 95. Ebenda, S. 116. Protokoll No. 2 der Sitzung des ZKK. der RKP. vom 11. März 1925; in: Becker, S. 129. Ebenda, S. 130.

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Briefe nur in Abschrift, und nicht im Original, als Beweise vorgelegt werden konnten. Den Einwand Stučkas, man befände sich hier „nicht in einem Gerichtshof oder Tribunal“, sondern in einer „Parteiinstanz“, brauche daher keine Originale , und müsse „die Sache kameradschaftlich behandeln“, konterte er forsch mit der Bemerkung, ihm sei, wohlbewusst, dass die Kontrollkommission kein Gericht sei, aber „[…] ein kameradschaftliches Verhältnis ist nicht möglich zwischen uns und Genossen, die Briefe an uns stehlen und diese Briefe dann als Beweis gegen uns vorlegen, auf Grund dieser Beweise Ausschluß fordern und dann mit dem Vorschlag kommen, kameradschaftlich zu verhandeln, das ist sonderbar. Bezüglich der Briefe könne man sich nur auf den Standpunkt stellen: zeigt die Originale26.“

Eisenberger erklärte, dass „alles was Radek, Brandler und Thalheimer zu ihrer Verteidigung vorgebracht haben, ein hundertfacher politischer Meineid ist“.27 Nach Ende der ZKK-Sitzung vom 17. März soll Thalheimer so erbost über den Zeugen der Anklage gewesen sein, dass er ihm einen Faustschlag ins Gesicht versetzte, als dieser ihn abermals der Lüge bezichtigte.28 Dennoch blieb die Beweislage dürftig und die von der ZKK am 27. März verhängte Parteistrafe fiel vergleichsweise mild aus. Die Kommission verkündete in ihrer Resolution, sie wolle den Beschuldigten „die Möglichkeit geben, durch die Tat die Aufrichtigkeit ihrer in der Sitzung der ZKK abgegebenen Erklärung zu beweisen, daß sie keine Fraktionsarbeit betreiben werden […]“ und nahm von einem Parteiausschluss Abstand. Radek, Brandler und Thalheimer erhielten allerdings eine „strenge Rüge“ und eine „Verwarnung […] wegen ihrer systematischen Fraktionsarbeit und schweren Verletzungen der Parteidisziplin.“ Verboten wurde ihnen die Arbeit in der KPD „in irgendwelcher Form“. Bei neuerlicher Einmischung in die Angelegenheiten der deutschen Partei sowie bei Fortführung der Fraktionsarbeit wurde der „unweigerliche“ Ausschluss aus der RKP angedroht. Das Verdikt wurde mit dem längst vollzogenen Hinauswurf aus der Komintern bekräftigt, indem „die Teilnahme der Genossen Brandler, Thalheimer und Radek an der Arbeit der Kommunistischen Internationale“ als „unzulässig“ bezeichnet wurde.29 Nachdem der Vorsitzende Gusev den Beschluss der ZKK verlesen hatte, tat Radek so, als ob er noch Erklärungsbedarf habe und fragte süffisant: 26 Protokoll No. 3 der Sitzung der Zentralen Kontrollkommission der RKP. vom 17.3.1925; in: Becker, S. 154. 27 Ebenda, S. 156. 28 Eisenberger berichtet, dass sich der Vorfall unmittelbar nach Verlassen des Sitzungssaals abspielte: “Ich ging hinter Thalheimer her, der weiter schimpfte und dem ich weiter erwiderte, daß meine Behauptungen durch seine Lügen nicht zu entkräften sind. Darauf wandte sich Thalheimer plötzlich gegen mich und versetzte mir […] einen Faustschlag ins Gesicht mit den Worten: Das sollen Sie dafür bekommen.“ Becker, S. 29. 29 Resolution der ZKK der KPR in Sachen der Genossen Brandler, Thalheimer, Radek u.a. vom 27. März 1925; in: Becker, S. 187.

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„Ich sage, die Beschlüsse der Kontrollkommission sind dazu da, um sie durchzuführen. Aber wenn man sie ausführen soll, muß man sie verstehen. Es ist eine Phrase, wenn gesagt wird, daß uns die Einmischung in die Verhältnisse der deutschen Partei verboten wird. Ich frage: Ist mir die Mitarbeit an der russischen Presse über deutsche Dinge erlaubt? Dürfen in der deutschen Presse Artikel von mir veröffentlicht werden? Darf ich Briefe von deutschen Genossen empfangen, oder bin ich verantwortlich für den Inhalt der Briefe, die die Genossen mir schreiben? „

Solc und Gusev bemühten sich ernsthaft, Radek zu antworten, OGPU-Mann Peters erfasste jedoch sofort, dass Radek die Kommission lediglich provozieren wollte und raunzte: „Ich wundere mich außerordentlich, daß Gen[osse]. Radek diese ganzen Dinge in einen Witz zu verwandeln sucht. Genosse Radek ist lange genug Fraktionär gewesen und weiß, was Fraktionsarbeit bedeutet. Wenn er diese Dinge so aufzieht, ob er in der ,Prawda‘ Artikel über Deutschland veröffentlichen darf, so ist das ein Versuch, diese Sachen in einen Witz zu verwandeln.“30

Radek verstummte. Kurz vor Abschluss des von der Zentralen Kontrollkommission durchgeführten Parteiverfahrens hatten Radek, Brandler und Thalheimer noch versucht, eine politische Entlastungsoffensive zu starten. Sie übersandten dem Politbüro am 23. März 1925 eine gemeinsame Erklärung, in der sie zwar einige Zugeständnisse machten, aber weiter ihren Standpunkt vertraten und sich für die in Deutschland aus der KPD ausgeschlossenen Altkommunisten einsetzten. Differenzen mit Zinov’ev über die Arbeiterregierung aus Sozialdemokraten und Kommunisten 1923 in Sachsen seien „historisch überholt“, schrieben sie und solidarisierten sich mit den jüngsten Thesen des Komintern-Vorsitzenden, wonach „die Bolschewisierung der [kommunistischen] Parteien nur erreicht werden kann durch freie Diskussion […], durch das Regime der Parteidemokratie „ und „Maßregeln […] zur Entfernung aller Folgen der vorangegangenen fraktionellen Kämpfe“. Deshalb forderten sie, sei es nur folgerichtig „den Ausschluss von über 50 Proletariern, die die Kommunistische Partei Deutschlands mit gegründet haben, aufzuheben.“ Sie baten, ihre Erklärung dem Plenum der Erweiterten Exekutive der Komintern übermitteln zu dürfen und schlossen mit dem mahnenden Appell: „Die Begrabung der alten fraktionellen Gegensätze, die Ausbildung der bolschewistischen Linie im Feuer der Selbstkritik auf dem Boden der Parteidemokratie in jeder westeuropäischen Kommunistischen Partei ist die Aufgabe, die gelöst werden kann, wenn die Thesen

30 Protokoll Nr. 4 der Sitzung der Zentralen Kontrollkommission vom 27.3.1925; in: Becker, S. 177f.

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des Gen[ossen]. Sinowjew nicht nur zum Beschluß der Erweiterten Exekutive erhoben, sondern auch durchgeführt werden.“31

Politbüro und Komintern-Führung fühlten sich durch diesen Vorstoß herausgefordert. Die Ende März tagende Erweiterte Exekutive der Kommunistischen Internationale lehnte es ab, die Erklärung überhaupt zur Kenntnis zu nehmen und bezeichnete sie als „ein durchsichtiges, aus dem Arsenal der sozialdemokratischen Führer entlehntes taktisches Manöver“. In einer an die russischen Parteimitglieder Brandler, Radek und Thalheimer gerichteten „Erwiderung der Delegation der KPR [bei der Komintern] im Auftrag des ZK der KPR [RKP(b)]“ hieß es, dass ihre mittlerweile erfolgte Verurteilung wegen angeblicher Fraktionsbildung in der KPD vom EKKIPlenum bestätigt worden sei. Noch einmal wurde der Vorwurf wiederholt, sie hätten 1923 die deutsche Revolution verpfuscht, da sie versucht hätten, „die revolutionäre Taktik der Einheitsfront in die Taktik einer Koalition mit den Sozialdemokraten umzuwandeln“. Mit ihrer „sächsischen Politik“ hätten sie die Einheitsfronttaktik „in eine banale Parlamentskomödie verwandelt“ und politisch bankrott gemacht. Bereits der XIII. Parteitag der RKP(b) hätte „einstimmig erklärt, daß die Politik des Genossen Radek […] mit der wahren Politik der KPR nichts gemein hat.“ Der darauffolgende 5. Komintern-Kongress habe die „menschewistischen Abweichungen“ der drei vor das Parteigericht gestellten Genossen“ aufs schärfste verurteilt“. Aber: „Anstatt ihre politischen Fehler gewissenhaft einzugestehen, haben Radek, Brandler und Thalheimer durch die Erklärung vom 25. März 1925 diesen Fehler noch verschlimmert.“ Ihre Worte könnten „nicht ernst genommen werden“, denn sie hätten sich nicht nur aktiv gegen die auf dem 5. Weltkongress beschlossene Linie der Bolschewisierung der Kommunistischen Parteien gewendet, sondern sich auch in der Frage der „trotzkistischen Abart des Menschewismus“ politisch unaufrichtig verhalten. „Während die gesamte KI den Trotzkismus scharf verurteilte, hat Radek in Rußland den Trotzkismus direkt unterstützt […].“ Im Hinblick auf „die fraktionelle und spalterische Arbeit in der KPD“ sei die Zentrale Kontrollkommission der RKP(b) zu dem Schluss gekommen, „daß Radek, Brandler und Thalheimer den Ausschluß aus der KPR und dadurch auch aus der KI verdient hätten.“32 Dass es nicht dazu kam, lag sowohl an der zwiespältigen Einstellung der russischen Parteigrößen zur deutschen Fischer-Maslov-Führung, als auch an einer ganzen Reihe prominenter Moskauer Fürsprecher. Zu ihnen gehörten Manuilskij, Bucharin und Pjatnickij. Auch „Clara [Zetkin] unternahm verzweifelte Schritte mit Tränen an Sinowjew“.33 Ironischerweise gerieten Ruth Fischer und Arkadij Maslov als die Initiatoren der Intrige gegen Radek im Spätsommer 1925 mit der Komintern-Spitze in Konflikt und wurden gestürzt. Eine Reihe der am Tribunal beteiligten sowjetischen und deutschen Funktionäre verloren später ihre Positionen, wurden aus der Partei ausgeschlossen 31 Erklärung von Brandler, Thalheimer, Radek vom 23. März 1925. Becker, S. 189–191. 32 Erwiderung der Delegation der KPR im Auftrag des ZK der KPR, in: Becker, S. 193f. 33 Becker, S. 29, der sich auf einen Bericht Neumanns und Eisenbergers bezieht.

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und mancher von ihnen kam in den Säuberungen der dreißiger Jahre ums Leben, so etwa Pjatnickij, Neumann und Eisenberger.34 Nach der Verurteilung im Parteitribunal war Radek keineswegs verzweifelt. Es war ihm zwar untersagt worden, sich weiterhin in die Angelegenheiten der KPD einzumischen, aber er blieb Mitarbeiter von „Pravda“ und „Izvestija“ und durfte weiterhin über „Fragen der Außenpolitik und der internationalen Arbeiterbewegung“ schreiben.35 Der Tod des deutschen Reichspräsidenten Friedrich Ebert, der bereits am 28. Februar 1925 verstorben war und die Wahl Hindenburgs zum Nachfolger boten Radek ausgiebig Gelegenheit zur Feder zu greifen und deutsche Themen abzuhandeln. Mit dem Führer der deutschen Sozialdemokratie, der ihn 1911 in der Göppinger Affäre36 gedemütigt hatte, rechnete er in gehässiger Weise ab. Im Nachruf auf „Fritz Ebert“37, den „Steuermann des Schiffes dieser ehemals großen Arbeiterpartei“ SPD, schrieb er, der Verstorbene habe sich aufgrund der von ihm seit 1912 eingenommenen revisionistischen Haltung im 1. Weltkrieg für die imperialistische Politik Deutschlands eingesetzt, nach dem Krieg dafür gesorgt, dass die Macht aus den Händen der Räte wieder in die Hände der Bourgeoisie gelangte und die gegen diesen Verrat aufstehenden Arbeitermassen durch Noske im Januar 1919 blutig niederwerfen lassen. Als Reichspräsident sei er der Erfüllungsgehilfe der Politik der deutschen Bourgeoisie und der Entente gewesen. Durch seinen Revisionismus sei Ebert zum Gegner der Revolution und zum „Schurken“ geworden, aber seine Nachfolger, so schloss Radek, würden gleichfalls Revisionisten sein, da sie bereits von Haus aus „Schurken“ wären.38 Am 26. April 1925 wurde der greise Generalfeldmarschall Hindenburg zum deutschen Reichspräsidenten gewählt. Aus Moskauer Sicht, eine Stärkung der traditionell an einem guten deutsch-russischen Verhältnis interessierten Rechtskreise im Reich. In den „Izvestija“ versicherte Radek, dass Realpolitik es auch erheische, mit der bürgerlichen Regierung Deutschlands zusammenzuarbeiten.39 Bereits zuvor hatte er hervorgehoben, eine Rückkehr zur Monarchie sei in Deutschland nicht zu erwarten40, auch wenn der Sieg Hindenburgs „einen neuen Schritt auf dem Weg zur Restauration der Macht der alten herrschenden Klasse in Deutschland“ bedeute. 34 Ebenda, S. 29f. Heinz Neumann wurde am 26. November 1937 vom Moskauer Militärkollegium zum Tode verurteilt und erschossen; Josef Eisenberger wurde 1937 zu mehrjähriger Lagerhaft verurteilt und verstarb am 8. Februar 1938 im Lager in Magadan an Herzschwäche, Unterernährung, Erfrierungen. 35 Radek, Avtobiografija, Sp. 129. 36 In seinem Nachruf siedelt Radek, die Konfrontation mit Ebert in „Göttingen“ an, was ganz offensichtlich auf einer Verwechslung der Ortsnamen beruht. 37 Radek, „Ebert“, geschrieben am 28. Februar 1925; in: Portrety i pamflety, S. 121–126. 38 Radek, „Ebert“, a.a.O. Das Epigramm, mit dem Radek den Nachruf schließt, lautet: „Ebert wurde ein Schurke aus Reformismus, seine Nachfolger werden Reformisten sein, weil sie Schurken sind.“ Ebenda, S. 126. 39 Radek, „Meżdunarodnoe obozrenie“, in: „Izvestija“ vom 26. März 1925. Grieser, S. 119, Anm. 38. 40 Radek, „Gindenburg [Hindenburg], in: „Pravda“ Nr. 84 vom 12. April 1925. Grieser, S. 119.

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Das „monarchistische Lager der Konterrevolution“, die deutschen Rechtsparteien, hätten ihren Kandidaten nur durchbringen können, weil das „demokratische Lager der Konterrevolution“, Zentrumspartei und SPD, durch die Verweigerung der Kooperation mit den Kommunisten den Sieg Hindenburgs erst ermöglicht hätten.41 Dennoch bewertete Radek im Gegensatz zur Komintern-Führung das Ergebnis der Wahl nicht nur als bloßen Sieg der Konterrevolution.42 Die Wahl sei ein Sieg der Deutschnationalen, „deren Politik gleichzeitig nach West und Ost aktiv sein wird“. Er verneinte die Frage, ob die Präsidentschaft Hindenburgs den Kurs auf einen Revanchekrieg bedeute. Wohl aber, müsse in der deutschen Politik gegenüber der Entente mit mehr nationaler Entschlossenheit gerechnet werden.43 So nüchtern Radek die realpolitischen Aspekte von Hindenburgs Wahlsieg sah, so hasserfüllt maß er den deutschen sozialdemokratischen Gegner an ideologischen Kriterien. Die Führer der SPD galten ihm als Verräter an Revolution und Diktatur des Proletariats, wollten sie doch die gesellschaftliche Machtergreifung mit parlamentarischen Mitteln verwirklichen. Dem Politbüro legte er nahe, eine Neuausrichtung der Kominternlinie gegen den politischen Feind vorzunehmen: „Die seit dem November 1923 immer schärfer sich aufzeigende Stabilität des Kapitalismus im Westen Europas, die die Sozialdemokratie stärkt, macht es notwendig, die gesamte Front der Komintern gegen die Sozialdemokratie in schärfster Weise zu richten [...].“44 Wie er unter dieser Prämisse den „Kampf mit der Feder“ führte, verdeutlichte seine Propagandaschrift „Die Barmat-Sozialdemokratie“45, in der er mit den Mitteln der politischen Schlammschlacht gegen die Führer der SPD und die Sozialistische Internationale hetzte. Den Anlass zu diesem Pamphlet bildete 1925 der Zusammenbruch des Konzerns der Brüder Barmat46, polnisch-jüdischer Einwanderer, die im 1. Weltkrieg von Amsterdam aus, die größten Fettlieferanten der deutschen Kriegswirtschaftsbehörden waren. Nach dem Krieg nach Deutschland übergesiedelt, erwarben sie Beteiligungen an über 60 Industriebetrieben und Privatbanken und wurden Großunternehmer. Sie traten als Sponsoren der SPD, auf und spendeten Ende 1924 für deren Wahlkampf 20 000 Reichsmark. Dank der von ihnen gepflegten politischen und parlamentarischen Beziehungen gelangten sie an Kredite aus öffentlichen Mitteln in Höhe von 35 Millionen Goldmark. Als der Barmat-Konzern zusammenbrach wurden die Brüder angeklagt, ihre Kredite durch Bestechung und 41 Radek, „Pobeda Gindenburga [Der Sieg Hindenburgs]“, in Radek, „Gindenburg“, Moskva, Leningrad 1925, S. 21 (identisch mit Text in: „Pravda“ Nr. 95 vom 28. April 1925; siehe Anm. 43). 42 „Čerez Noske k Gindenburgu [Über Noske zu Hindenburg]“, in: „Pravda“ vom 28. April 1925 und EKKI-Aufruf „Rabočim vsech stran [An die Arbeiter aller Länder]“, in: Radek, „Gindenburg“, a.a.O., S. 24–28. 43 Radek, „Pobeda Gindenburga [Der Sieg Hindenburgs]“, in: „Pravda“ Nr. 95 vom 28. April 1925. 44 Erklärung von Brandler, Thalheimer, Radek vom 23. März 1925. Becker, S. 189. 45 Radek, Die Barmat-Sozialdemokratie, Hamburg 1925. 46 Die vier Brüder Barmat, darunter führend Julius und Henry, stammten aus einer Rabbinerfamilie in der damals zu Russisch-Polen gehörenden Stadt Petrikau (polnisch: Piotrkow) südlich Łódź.

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betrügerische Manipulationen erworben zu haben. Der aufsehenerregende BarmatSkandal war für Radek die willkommene Gelegenheit, ein Bild der „Entartung der deutschen Sozialdemokratie“47 zu zeichnen, die Spitzen der SPD zu verunglimpfen, ein Spiel mit dem Antisemitismus zu betreiben und der KPD einen Seitenhieb zu versetzen. „Moralische Skandale waren stets Vorzeichen eines politischen Zusammenbruchs“ schrieb er, und ein solcher Zusammenbruch bewege sich nun „[…] unaufhaltsam auch auf die deutsche Sozialdemokratie zu. Aber zum Begräbnis ist nicht nur ein Leichnam nötig, sondern auch ein Totengräber und wenn es keinen Totengräber gibt, so zersetzt sich der Leichnam im Freien und verpestet die Luft. Die KPD muß es noch lernen, die Rolle des Totengräbers der Sozialdemokratie zu spielen, das heißt zu verstehen, unter ihrer Fahne die Arbeiter zu sammeln, die vor dem Gestank der deutschen Sozialdemokratie fliehen werden.“48

Er höhnte, derzeit schlage eine „schmutzig-trübe-giftgelbe Welle angeblicher Verleumdung […] an die Mauern der sozialdemokratischen Feste“. Es handele sich um „die Ausschlachtung der Affäre der polnisch-jüdischen-holländisch-deutschen Spekulanten, der Gebrüder Barmat, mit dem Zweck der Beschimpfung solcher Kämpfer der internationalen Sozialdemokratie“, wie Reichspräsident Ebert, Ex-Reichskanzler Bauer, dem SPD-Vorsitzenden Otto Wels und dem SPD-Fraktionsvorsitzenden im Preußischen Landtag Heilmann. Diese Parteigrößen hätten in Holland während des 1. Weltkriegs die Brüder Barmat als Mitglieder der holländischen Sozialdemokratie kennengelernt, und zwar im Büro des Sekretärs der II. Internationale Camille Huysmans, das im Hause der Handelsfirma Barmat residierte. Der holländische Sozialistenführer Troelstra49 habe sie ihnen empfohlen50 und „nachdem sie sich von dem kommerziellen Talent der Brüder Barmat überzeugt hatten, verhalfen ihnen Wels, Bauer und die anderen dazu, ungeachtet ihrer israelitischen Konfession, große Lieferungen in Schweineschmalz für das im Kriege ausgehungerte Deutschland zu erhalten.“51 Führende Sozialdemokraten waren dann „[…] den Gebrüdern Barmat behilflich, den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit und sich selbst nach Deutschland zu verpflanzen […]. Heilmann und Bauer nahmen die Bürde der Mitgliedschaft in Aufsichtsräten der Barmat-Aktiengesellschaften auf sich […]. Sie genossen und erfreuten sich der weitgehendsten Gastfreundschaft des Hauses der Herren Barmat. – Ja, ist denn aber der Sozialismus eine asketische Lehre des Verzichtes auf einen guten Braten, auf gute Weine und dicke Zigarren?“

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Radek, Die Barmat-Sozialdemokratie, S. 5. Ebenda, S. 10. Troelstra, Jelles (1860–1930); niederländischer sozialdemokratischer Politiker und Dichter. Ebenda, S. 40. Ebenda, S. 11–13.

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Für ihr korruptes Verhalten würden sie noch die Quittung erhalten: „Wenn die deutsche Revolution die Scheidemänner und die ganze sozialdemokratische Barmatclique aufknüpfen wird, dann wird sie nicht die Knochen zählen, die jenen vom Tisch der Bourgeoisie zufielen – sie mag ihnen aus Marmor ein Denkmal aufbauen: einen Hund, der uneigennützig die Peitsche des Herrn leckt.“52

Mit den Worten „Es riecht nach Verwesung in der SPD“, griff Radek den ehemaligen Reichskanzler und Vorsitzenden der Generalkommission der Gewerkschaften Gustav Bauer an. Dieser habe nicht nur für das persönliche Wohlergehen Barmats gesorgt, sondern er ließ, angeblich aus humanitären Gründen, „speziell aus der Ukraine seine [Barmats] Onkels und Tanten nachkommen, indem er alle Arons und Rivkes Barmat als Mitglieder einer holländischen Gesandtschaft ausgab“.53 – „Die Entlarvung dieses ,Besten der deutschen Sozialdemokratie‘ – als eines gewöhnlichen Schuftchens, der Bestechungen von Schiebern annimmt –: das ist kein leichter Schlag“54, aber: „Der korrupte Bestechling Bauer stellt ein genau so notwendiges Produkt der Entwicklung der SPD dar, wie der Bluthund Noske.“55 Radek spottete: „Die Herren Sozialdemokraten erhielten aller Wahrscheinlichkeit nach für ihre ungeheuren, den Spekulanten erwiesenen Dienste nicht mehr als eine gutgebratene Gans mit einigen Flaschen Wein, die man gemeinsam auf das Blühen der vaterländischen Industrie trank [...].56 Man ist zu der Hoffnung berechtigt, daß die SPD mit der Zeit ihren Preis besser bewerten und sich sagen wird: Wenn schon aus dem Fettnapf fressen, dann so, daß es den Bart herunterläuft.“57

Er hetzte: „Die Herren Bauer und Konsorten sehen rund um sich den Luxus der Kapitalisten, und nachdem sie einmal den Glauben an den Sozialismus verloren haben, verfallen sie der moralischen Verwesung. Die kapitalistische Losung ,Bereichert euch und freßt!‘ wird zu ihrer Moral.“58 Eine solche Haltung sei in der Sozialdemokratie allerdings nicht neu. Konrad Haenisch, „vor dem Kriege zwar ein Schlappschwanz aber eine ehrliche Haut“, habe sich nach der Novemberrevolution als preußischer Kultusminister gehütet, die Redaktion der von Parvus-Helphand herausgegebenen Zeitschrift „Die Glocke“ niederzulegen:

52 53 54 55 56 57 58

Ebenda, S. 17. Ebenda, S. 19. Ebenda, S. 25. Ebenda, S. 28. Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 23. Ebenda, S. 27.

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„War doch das Gehalt eines Redakteurs der ,Glocke‘ erstens höher als das des preußischen Kultusministers, zweitens sicherer. Die Minister verschwinden in der Revolution wie die Tautropfen in der Sonne, den Redakteurposten aber an der ,Glocke‘ hielt Haenisch für den rocher de bronze, für den Granitblock, auf dem er seine Privat-Kapelle der Zukunft aufbauen konnte.“59

Allein, die führenden SPD-Funktionäre hätten sich nicht nur von Parvus, sondern auch von seinem Kompagnon Sklarz korrumpieren lassen Während zu Parvus immerhin noch alte Parteibeziehungen bestanden, „[...] so verband sie mit Sklarz, dem niemand bekannten Spekulanten, nichts als die Möglichkeit, auf seine Kosten zu fressen und zu saufen. Das Haus von Sklarz in Berlin ward bald – nicht zum politischen Salon der deutschen sozialdemokratischen Führer, es ward zum Absteigequartier und zum Wirtshaus der Führer der deutschen Sozialdemokratie [...]. Herr Noske hatte dort seinen Stab während der Januarkämpfe.“60

Mittlerweile seien sowohl die SPD als auch die Sozialistische Internationale von jüdischen Spekulanten gekauft worden, unterstellte Radek. Man könne getrost von einer „Barmat-Internationale“61 sprechen. Die Frage, wie es dazu kommen konnte, beantwortet er mit von Antisemitismus durchtränkter ideologischen Polemik. Begonnen habe alles im 1. Weltkrieg mit der Übersiedlung von Camille Huysmanns, aus dem besetzten Belgien nach Holland, wo „[...] der Sekretär der II. Internationale sein Zelt aufschlug in den Bureauräumen von Barmat, daß Barmat ohne Entgelt nicht nur die Wohnung, sondern auch die Möbel für die II. Internationale lieferte [...]. Wie kam ein polnischer Jude, Tulpenzwiebelhändler, dazu, solche Geschenke der internationalen Arbeiterbewegung zu machen? Es erklinge das Lied vom braven Mann! Als polnischer Jude hatte Barmat ganz gewiß einen Haß gegen den Zarismus und Sympathien für Deutschland. Alle polnischen Juden waren deutschfreundlich. Erstens, weil sie die deutsche Sprache für ein verschlechtertes ,Jüdisch [Jiddisch]‘ hielten, zweitens, weil sie den polnischen Antisemitismus haßten, drittens, weil sie die russischen Pogrome fürchteten. Alle jüdischen Börsenmakler der Welt, die aus Polen stammten waren im Kriege deutschfreundlich. Viertens wurde die Barmat-Firma während des Krieges aus einem kleinen Tulpenzwiebelhandel dank Deutschland zu einem großen ,Maatschapij‘ [holländisch – maatschappij: Gesellschaft], die Lebensmittel nach Deutschland lieferte. So kriegte auch Barmats Liebe zum deutschen Vaterland eine materielle Grundlage. Barmat und seine Leute wurden auf diese Weise sozusagen zu Exponenten des ,deutschen Gedankens‘ in der Welt. Aus dieser Zeit stammt die Freundschaft der deutschen sozialdemokratischen Führer zu Julius Barmat und den vielen anderen 59 Ebenda, S. 35. 60 Ebenda, S. 36f. 61 Ebenda, S. 29.

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Barmaten weiblichen und männlichen Geschlechts, die der Stammvater nach und nach aus allen Gegenden Polens, Litauens, Wollhyniens nach Amsterdam kommen ließ [...]. Und dort in Amsterdam wurde beim guten jüdischen Fisch und guten Schnäpsen [...] das zärtliche Band geknüpft, das die deutsche Sozialdemokratie zur Vertretung der Barmatfirma machte.“62

Die Frage „Wie kam die deutsche Sozialdemokratie zu Barmat?“ müsse jedoch ideologisch gewichtet werden, betont Radek, und argumentiert: „Sie kam zu Barmat, weil sie zu Hindenburg ging. Eine Partei, die den Kapitalismus unterstützt, die sich den Wiederaufbau des Kapitalismus zur Aufgabe setzt, muß zu den Kapitalisten gelangen [...].63 Und wie die kapitalistische Korruption zum Kapitalismus gehört, so gehört die Korruption zu jeder opportunistischen Partei.“64

Er wurde noch deutlicher und geradezu infam: „Die Korruption der II. Internationale besteht nicht darin, daß von diesem oder jenem Kapitalisten dieser oder jener sozialdemokratische Führer sich bestechen ließ. Die Korruption besteht darin, daß die Sozialdemokratie den Kapitalismus unterstützt [...]. Für uns Kommunisten steht die Frage nicht so: Darf ein Arbeiterführer Geld von einem kapitalistischen Spekulanten nehmen? Dafür verdient er natürlich im Klosett ersäuft zu werden. Die Frage steht für die Arbeiterklasse: Dürfen proletarische Parteien den Kapitalismus unterstützen? Auf diese Sünde gegen die Arbeiterklasse, auf diesen Verrat an ihr steht die Strafe, auf jener Seite der Barrikade erschossen oder an den Galgen gehängt zu werden. Diese Strafe wird nur durch die siegreiche Revolution vollstreckt […]. Wenn die sozialdemokratischen Arbeiter […] sich reinigen von dem Schmutz, mit dem sie die deutsche Sozialdemokratie besudelt hat, werden sie gleichzeitig den Weg öffnen für das Strafgericht der proletarischen Revolution gegen die Partei, die die Ehre des deutschen Proletariats mit den Füßen in den Schmutz und in den Dreck getreten hat.“65

Mit diesen Hetztiraden, die in der KPD Verbreitung fanden, trug Radek dazu bei, das von der äußersten Rechten in Deutschland gepflegte Zerrbild „sozialistisch-jüdischer Korruption“ auch durch die kommunistische Agitation in der Öffentlichkeit zu verfestigen. Er scheute sich nicht, seinen ehemaligen Freund Haenisch zu verunglimpfen und seine Hetze machte selbst vor der integeren Persönlichkeit des Reichspräsidenten Ebert nicht halt. Von der späteren Rehabilitierung Gustav Bauers nahm er keine Notiz. Es galt, den sozialdemokratischen Gegner zu bekämpfen und zu diffamieren, wo immer sich Gelegenheit bot. 62 63 64 65

Ebenda, S. 38–41. Ebenda, S. 43. Ebenda, S. 45. Ebenda, S. 47f.

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Ende Mai schloss Radek die Vorbereitungen für eine in zwei Bänden konzipierte Publikation im Staatsverlag ab, die unter dem Titel „Meždunarodnaja politika [Internationale Politik]“, erscheinen sollte. In seinem Vorwort vom 28. Mai schrieb er: „In diesem Sammelwerk sind meine wichtigsten Artikel enthalten, die sich mit der Analyse der innen- und außenpolitischen Ereignisse des Jahres 1924 befassen“. Der erste Band, der noch 1925 erschien, gibt einen Jahresüberblick über die internationale Politik“.66 Er konzentriert sich in scharfer Kritik auf die – aus Sicht Radeks – von der europäischen Sozialdemokratie und dem amerikanischen Wirtschaftsimperialismus zu verantwortende Stabilisierung des kapitalistischen Systems.67 Wahrscheinlich aus Gründen politischer Opportunität, die ihre Ursache im bolschewistischen Fraktionskampf haben, kam es jedoch nicht mehr zur Herausgabe des ursprünglich vorgesehenen zweiten Bandes. Im Verlauf des Jahres beteiligte Radek sich eifrig weiter an der sowjetischen Pressekampagne gegen den deutschen Westkurs, die im Sommer 1925 ihren Höhepunkt erreichte. Neben der Absicht den Rapallopartner von den Siegermächten zu isolieren, sprach aus der ablehnenden Haltung des ,Kreml‘ vor allem die Sorge, dass Deutschland als Völkerbundmitglied gezwungen sein könnte, an militärischen Sanktionen gegen die Sowjetunion gemäß Artikel 16 und 17 der Völkerbundsatzung teilzunehmen oder Entente-Truppen im Falle eines Angriffs gegen Russland das Durchmarschrecht gewähren zu müssen. Obwohl Stresemann kategorisch erklärte, dass alle sowjetischen Befürchtungen wegen eines Wechsels der deutschen Außenpolitik unbegründet seien und dass Deutschland als Völkerbundmitglied gerade auch die sowjetischen Interessen mitvertreten könnte, zeigte man sich in Moskau von dieser Versicherung unbeeindruckt. Radek stellte in den „Izvestija“ enttäuscht fest, dass der von der Wahl Hindenburgs erwartete Ruck in der deutschen Regierung in Richtung einer entschiedeneren Politik gegenüber der Entente ausgeblieben sei. Daher müsse man auch zu der Behauptung, das Reich könne der Sowjetunion als Mitglied des Völkerbunds „Freundschaftsdienste“ erweisen, sagen, dass „es der Natur der deutschen Politik nach zu urteilen, nicht dem geringsten Zweifel unterliegt, daß die deutsche Diplomatie im Völkerbund Gegenstand des Drucks wäre, nicht aber selbst Druck auf die Entente 66 Radek, Meżdunarodnaja politika, tom pervyj [Internationale Politik, Band I], Predislovie [Vorwort], S. 3. 67 Radek, Meżdunarodnaja politika, tom pervyj [Internationale Politik, Band I], Moskva/Leningrad 1925. Enthalten sind vier Aufsätze und zwei Vortragstexte Radeks: (1). „Barometr vyborov [Das Wahlbarometer], veröffentlicht in der Zeitschrift „Krasnaja Nov’“, Juli 1924; (2) „Doklad Dauesa [Der Dawes-Plan]“, Vortrag in Moskau am 8. November 1924; (3) „Čto takoe ,Ėra demokratičeskogo pacifizma?‘ [Was bedeutet die ,Ära des demokratischen Pazifismus‘]“, öffentlicher Vortrag vor der Generalstabsakademie [der Roten Armee] am 30. September 1924; (4) „Devjat’ mesjacev anglijskogo rabočevo pravitel’stva [Neun Monate englische Arbeiterregierung]“; (5)„Novoje imperialističeskoje nastuplenie na Vostoke [Die neue imperialistische Offensive im Osten]“; (6) „Itogi ,ėry demokratii i pacifizma‘ [Die ,Bilanz der Ära der Demokratie und des Pazifismus‘]“. Zu Inhalten dieser Arbeiten siehe oben, Kapitel 16.

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ausüben würde. Einmal im Völkerbund würde Deutschland sich für verpflichtet halten zu beweisen, wie ,gut‘ und ,zivilisiert‘ es sei.“ Die Rolle, die Deutschland gegenwärtig bei den Verhandlungen über den Garantiepakt spiele, der die Unverletzlichkeit seiner von den Alliierten diktierten Westgrenze festschreiben solle, demonstriere, dass es bereits zum „Spielball in der Hand der Entente-Diplomatie“ geworden sei.68 In seinem Artikel nahm Radek inhaltlich das sowjetische Memorandum vom 2. Juni 1925 vorweg, in dem Moskau prinzipiell einen deutschen Beitritt zum Völkerbund ablehnte und – wegen des anglo-französischen Junktims zwischen Beitritt und Garantievertag – letzteren zu blockieren drohte.69 Als die Alliierten Deutschland am 4. Juni 1925 Abrüstungsvergehen vorwarfen, heizte Radek in der „Pravda“ deutsche Ressentiments gegen die Westmächte an. Deutschland erniedrige sich moralisch, indem es freiwillig den Verzicht auf das Elsass angeboten und darauf die Antwort der Alliierten erhalten habe: „Rüste vollends ab, stehe inmitten einer Welt von Waffen mit dem Sonnenschirm in der Hand, und dann wird von Dir keine Gefahr mehr drohen, dann bist Du schutzlos, und wir brauchen keinen Garantievertrag mehr, dann sind wir bereit, mit Dir über Garantien zu sprechen – über die Garantien Deiner völligen Unterwerfung.“70

Radeks bissige Auslassungen über Stresemanns Politik unterstrichen, wie wichtig Moskau Deutschlands Kurs zwischen Ost und West nahm. Im Juni fuhr er angeblich nach Deutschland und spottete in einem Reisebericht über die Reklame für ein Hühneraugenmittel, das er respektlos mit Stresemanns Politik verglich. Unter Bezugnahme auf den Garantievertrag schrieb er, bis zu seiner Reise sei es ihm unverständlich geblieben, wie ein Stück Papier Deutschland vor Frankreich schützen solle. Man habe geglaubt, 800 000 auf die Brust Deutschlands gerichtete französische Bajonette könnten nur „durch ihnen entgegengehaltene Bajonette“ entfernt und die Rheinlandbesetzung nur „in einer sehr langen und schmerzhaften Operation“ beseitigt werden. Aber als Stresemann die wohltuende Wirkung von Kukirol empfand, habe er wohl eingesehen, dass die erneute Anerkennung des Versailler Vertrags die Schwielen Deutschlands aufweichen und die Franzosen vielleicht in einigen Jahren abziehen würden. Alle Ärzte der internationalen Diplomatie, die sich bisher mit der Herstellung von Giften beschäftigt oder Salz in die Wunden Deutschlands streuten, seien damit beschäftigt, eine „Kukirol“-Lösung herzustellen. Stresemann aber werde einen Platz in der Siegesallee neben den preußischen Heerführern erhalten, denn das deutsche Volk werde ihm ein Denkmal errichten mit der Inschrift: „Doktor der Hühneraugen-Kunst Stresemann-Unblutig“.71 68 Radek, „Meżdunarodnoe obozrenie, in: „Izvestija“ vom 24. Mai 1925. Grieser, S. 121f. 69 Grieser, S. 124. 70 Radek, „Na koleni! [Auf die Knie!]“, in: „Pravda“ Nr. 130 vom 11. Juni 1925. Grieser, S. 126. 71 Radek, „Kukirol’ i garantijnyj dogovor [Kukirol und der Garantievertrag]“, in: „Pravda“ Nr. 165 vom 12. Juli 1925. Grieser, S. 133. Radek flunkerte im September 1925 Rosa Meyer-Leviné vor,

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Scharfe Polemik enthält auch der vermutlich ebenfalls von ihm geschriebene Bericht über die Reichstagsdebatte vom 22. Juli 1925. Darin hieß es, Stresemann sei in der Rolle „eines von Lorbeer umkränzten Politikers“ aufgetreten. „Seht die Franzosen haben die Ruhr verlassen, sang Herr Stresemann und schrieb dieses Verdienst seiner Politik zu.“ Aber die Franzosen seien erst durch die von Stresemann unterstützte Politik Cunos an die Ruhr gekommen, und sie hätten die Ruhr nur verlassen, weil Deutschland kapitulierte. „Das Modell einer Bemäntelung der Wahrheit“ sei jedoch die Rede von Reichskanzler Luther gewesen. Er habe dagegen protestiert, dass Deutschland allein abgerüstet sei. Wenn das bürgerliche Deutschland unter Hindenburg aber eine militärische Großmacht werden wolle, dann verschleiere Luthers Aussage, der Garantiepakt sei ein Akt des Friedens, die Wahrheit. Deutschland könne Gleichberechtigung nur erlangen, wenn „es mit den Siegern kämpft“. In der kapitalistischen Welt gebe es nur gleiche Kraft gleiche Rechte.72 Die Attacken gegen Stresemann und Luther führten zu einer deutsch-sowjetischen Pressefehde, in deren Verlauf Radek versprach, „niemals mehr an den Lorbeer zu erinnern, den Stresemann nicht erhalten wird, und nicht mehr das Verhältnis einiger Staatsmänner Deutschlands zur Wahrheit – nicht zur Wahrheit ,an sich‘, sondern zur Wahrheit bei Reden im Parlament, das bekanntlich der ,Altar der reinen Wahrheit‘ ist – zu charakterisieren. Er entschuldigte sich für seine Schärfe. „Im Pastoren-Ton schreiben hieße aber Samson sein, nachdem ihm Delila die Haare abgeschnitten hat.“73 Von echtem Bedauern Radeks konnte keine Rede sein. Als die Konferenz von Locarno in Sichtweite rückte, spottete er erneut, dass „Stresemann Reichskanzler Luther als Kinderfrau mitbekomme und so in Locarno vor dem Hinfallen behütet werden solle“.74 Während der Konferenz von Locarno (5.–16. Oktober 1925) steigerte sich die sowjetische Pressepropaganda gegen den Beitritt Deutschlands zum Vertragswerk. Die „Pravda“ bezeichnete Locarno als „Instrument zur Versklavung Deutschlands“ und als Symbol seiner Kapitulation. In der Geschichte der deutschen Außenpolitik habe eine Entscheidungsstunde geschlagen. Alles hänge von der Entschlossenheit der deutschen Politiker ab, ihren Fuß nicht in das in Locarno aufgestellte Fangeisen zu setzen.75 Als sich die Paraphierung der Verträge und die damit verbundene Aufsein Kukirol-Artikel hätte für die Firma erhebliche umsatzfördernde Wirkung gehabt und es sei ihm eine Gewinnbeteiligung und ein angemessenes Entgelt für weitere Dienste angeboten worden. Meyer-Leviné nahm das für bare Münze und kolportiert fälschlich, Radek habe in seinem Artikel die friedliche Entwicklung zum Sozialismus mit der unblutigen Entfernung eines Hühnerauges verglichen. Meyer-Leviné, S. 171. 72 Radek, „Debaty v germanskom rejchstage [Die Debatte im deutschen Reichstag]“, in: „Izvestija“ Nr. 168 vom 25. Juli 1925. Grieser, S. 133f. 73 Radek, „Garantijnyj dogovor o vežlivosti [Der Vertrag zur Sicherstellung der Höflichkeit], in: „Izvestija“ Nr. 177 vom 5. August 1925. Grieser, S. 133. 74 Radek, „Meżdunarodnoe obozrenie“, in: „Izvestija“ Nr. 215 vom 20. September 1925. Grieser, S. 134. 75 Grieser, S. 145.

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nahme Deutschlands in den Völkerbund unwiderruflich abzuzeichnen begann und gleichzeitig das deutsch-sowjetische Wirtschaftsabkommen vom 12. Oktober 1925 Moskau die unveränderte Kooperationsbereitschaft seines Rapallopartners zum Ausdruck brachte, signalisierte ein Artikel Radeks eine Änderung der sowjetischen Haltung. Nach einjähriger Agitation gegen Locarno kündigte er am 13. Oktober 1925 in der „Pravda“ erstmals öffentlich an, dass sich die Sowjetunion mit einem deutschen Beitritt abfinden würde, wenn das Reich „in der einen oder anderen Form eine Befreiung von den Verpflichtungen der Art[ikel]. 16 und 17 [der Völkerbundsatzung] aushandelt“. Zwar malte er ausführlich die „unerhört gefährliche Lage“ aus, die entstehe, wenn Deutschland die umstrittenen Artikel anerkenne. Die Sowjetunion „müßte Deutschland von nun an als ihren Feind betrachten und alle notwendigen Gegenmaßnahmen ergreifen“. Eine „halbe Entscheidung“, wie die Befreiung von Artikel 16 und 17 „in der einen oder anderen Form“ belasse aber die Möglichkeit, den begangenen Fehler zu berichtigen, und schaffe nicht eine „Atmosphäre völligen Mißtrauens und offener Feindschaft“.76 Allerdings sei die Unterwerfung Deutschlands unter die Herrschaft des Völkerbunds „ein weiterer Schritt auf dem Wege der Bildung eines gegen die SU und den Osten gerichteten Westmachtkonzerts“.77 Kurz vor der Unterzeichnung der Locarno-Verträge am 1. Dezember 1925 in London nahm Radek seine Pressepolemik gegen Stresemann nochmals auf. Er bezeichnete ihn als „als beinahe unschuldiges Mädchen“, da er im Reichstag erklärt habe, Chamberlain78 habe ihm gegenüber das Bestehen antirussischer Absichten bestritten und von ihm keine gegen die Sowjetunion gerichteten Verpflichtungen verlangt. „Herr Stresemann ist ein Könner in der Kunst, Dementis zusammenzustellen. Er verneint das was niemand behauptet hat, und wirft sich dann in die Pose der gekränkten Unschuld, die im sehr gut ansteht.“ Er sollte sich der Einkreisungspolitik Eduard  VII.79 erinnern, die diesen nicht gehindert habe, freundschaftliche Reden zu halten. Stattdessen lausche Stresemann „in Schäferstündchen voller Zuneigung und mit Tränen in den Augen“ den Äußerungen Chamberlains. Zu dem Appell Stresemanns, die Russen sollten endlich einmal erklären, dass sie mit Europa in Frieden leben wollten, meinte Radek sarkastisch, die „Rolle des gelangweilten Granden“ stehe dem deutschen Außenminister nicht sonderlich. Auch überrasche es, dass ausgerechnet Stresemann, der bisher versichert habe, die Interessen der Sowjetunion im Völkerbund vertreten zu wollen, sich noch vor dem deutschen Beitritt als Sprecher Europas geriere. Es sei derselbe Stresemann, der vor dem Weltkrieg „imperialistische 76 Radek, „Paragrafy 16-j i 17-j [Die Artikel 16 und 17]“, in: „Pravda“ Nr. 234 vom 13. Oktober 1925. Grieser, S. 146 f. 77 Radek, „Garantijnyj dogovor [Der Garantiepakt]“, in: „Izvestija“ vom 22. Oktober 1925. Grieser, S. 150. 78 Chamberlain, Sir Joseph Austen (1863–1937); konservativer britischer Politiker; 1924–1929 Außenminister Großbritanniens. 79 Edward VII. (1841–1910); König von Großbritannien, der an der britisch-französischen Entente von 1904 mitwirkte.

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Agitation“ betrieben und der „wortbrüchigen Politik des deutschen Oberkommandos [gegen Sowjetrussland] nach dem Brester Frieden“ zugestimmt habe.80 Stresemanns Ruf nach der Einheit Europas bei der Unterzeichnung der Locarno-Verträge in London kommentierte Radek ebenfalls mit diffamierenden Geschmacklosigkeiten. In einem „Pravda“-Leitartikel schrieb er: „Mit der Objektivität von Historikern oder von Gaunern“ berichteten Stresemann und Briand81, dass ihre Vorkriegs- und Kriegspolitik einer ganzen Generation das Leben kostete. Wie könne man ihnen, den Schuldigen am Krieg, den Aufbau eines neuen Europa anvertrauen! Sie wollten Europa gegen die USA einen, aber beim Gedanken an die Kredite Amerikas flösse ihnen wie beim Pawlowschen Hund82 „der pazifistische Speichel“. Wegen des Widerstands ihrer Industrien seien sie nicht in der Lage, die Zölle in Europa aufzuheben, obwohl das der einzige Weg zur Gesundung Europas sei. Während England und Frankreich gern ihrer Schulden in Amerika ledig wären, bemühe sich Deutschland im Gegenteil darum, amerikanischer Schuldner zu werden. Stresemann müsse als Deutscher jedoch überall der erste sein. „Spengler83 erfand den Untergang des Abendlandes, Stresemann tut so, als habe er die Einigung des untergehenden Europa erdacht.“ Um dieser Ehre willen sei er bereit, für Engländer und Franzosen „die Kastanien aus dem Feuer zu holen“. Während Briand sich zum Einiger Europas so wenig eigne „wie zum Leiter eines Pensionates für höhere Töchter“, gelte dasselbe für Stresemann in Bezug auf seine Fähigkeit, „Partner der englischen Diplomaten an der Tafel der Weltpolitik zu sein“.84 Stresemann beschwerte sich auf diplomatischem Wege über diesen Artikel. Als vier Monate später der Vertrag von Rapallo am 24. April 1926 durch den Berliner Vertrag zu einem Freundschafts- und Neutralitätsvertrag erweitert wurde, den Stresemann als östliches Gegenstück zu den Locarno-Verträgen konzipiert hatte, stellte Moskau die große Propagandakampagne gegen die Verständigungspolitik der Weimarer Republik ein. Der Ausbau des Rapallo-Verhältnisses machte deutlich, dass Locarno keinen Bruch mit Russland bedeutete und Radek äußerte sich in einem Leitartikel der „Pravda“ ungewöhnlich anerkennend: Der Notenwechsel, der den Vertrag begleite, sei nicht weniger wichtig als dieser selbst, denn Deutschland habe hier gegenüber der Sowjetunion „Verpflichtungen im Angesicht der ganzen Welt auf

80 Radek, „Gospodin Gustav Štreseman – počti nevinnaja devica [Herr Stresemann – ein beinahe unschuldiges Mädchen], in: Pravda Nr. 271 vom 27. November 1925. Grieser, S. 154. 81 Briand, Aristide (1862–1932); französischer Staatsmann; wiederholt Ministerpräsident; 1925– 1933 Außenminister. 82 Anspielung auf die berühmten Hundeversuche, aus denen der russische Arzt Ivan Pavlov (1849– 1930) seine Lehre von den bedingten Reflexen ableitete. 83 Spengler, Oswald (1880–1936); deutscher Geschichtsphilosoph, dessen zweibändiges Hauptwerk den Titel „Der Untergang des Abendlandes“ trägt. 84 Radek, „Ob’edinenie ob’edinnenoj Evropy [Die Einigung des geeinten Europa], in: „Pravda“ Nr. 285 vom 13. Dezember 1925. Grieser, S. 155.

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sich genommen“.85 Noch viel stärker als den Rapallo-Vertrag erklärte er den Berliner Vertrag zum Muster für ähnliche Abmachungen mit anderen „Mächten in Ost und West“. Die „schöpferische Formel der Zusammenarbeit zwischen der SU und einem bürgerlichen Deutschland könne auf alle anderen Länder ausgedehnt werden.“86 Ein indirektes Lob für Außenminister Stresemann, dem er – wenngleich ohne ihn namentlich zu erwähnen – außenpolitische Kompetenz nun nicht mehr absprach. Beim Amtsantritt des vierten Kabinetts Marx am 29. Januar 1927, einer neuerlich durch die DNVP verstärkten bürgerlichen Rechtskoalition aus Zentrum, DVP und BVP, registrierte Radek fortgesetzte restaurative Tendenzen in der deutschen Innenpolitik, da die Regierung von denselben Parteien getragen werde, die vor dem Weltkrieg in Deutschland herrschten. Aber auch wenn sich die Republik dadurch festige und dabei immer weniger demokratisch werde, so sei in ihrer Außenpolitik doch keine Änderung zu erwarten. Wenn die Regierung der Schwerindustriellen und Junker Realpolitik betreibe, müsse sie den russischen Markt und die See- und Geldmacht Englands berücksichtigen. Deutschland werde durch die Regierungsbeteiligung der DNVP nicht daran gehindert, „nach allen Richtungen“ für die Wiederherstellung seiner außenpolitischen Bedeutung zu kämpfen. Zutreffend urteilte er, dass die neue Regierung, der Stresemann wieder als Außenminister angehörte, jede „endgültige Festlegung in einer Richtung vermeiden“ werde, um im entscheidenden Moment Handlungsfreiheit zu besitzen. Er definierte die „deutsche Realpolitik“: Sie „besteht aus einem System von Schritten und Vorwärtsbewegungen im Westen und Osten, deren einziges Ziel ein allmähliches Kräftesammeln ist, und in der Ausnutzung jedes Gegensatzes, um den Versailler Frieden Stück für Stück zu zerstören. Die Beteiligung der Nationalisten an der Regierung wird sogar zur Stärkung der Selbständigkeit der deutschen Politik beitragen.“87 Die der deutschen Außenpolitik gewidmeten Artikel Radeks in der Locarno-Ära konzentrierten sich darauf, die Misserfolge der deutschen Westpolitik herauszustellen, zu einem selbstbewussten Kampf gegen Versailles aufzurufen und zugleich dieses Spiel auf der Tastatur deutscher Ressentiments mit dem untergründigen Grollen einer Annäherung an Polen zu kontrapunktieren.88 Sie ordneten sich nahtlos in die Propagandalinie der Sowjetpresse zur Beeinflussung des deutschen Rapallopartners in dieser Phase der deutsch-sowjetischen Beziehungen ein und wurden in der Tat im Berliner Auswärtigen Amt aufmerksam registriert. Die oftmals starke Geschmacklosigkeiten enthaltenden Artikel belegen aber zugleich Radeks einseitige Auffassung von Publizistik als Waffe im Klassenkampf und machen deutlich, in welch starkem Maße seine Bewertungen von der konkreten Situation abhängig waren, in der die 85 Radek, „Sovetsko-germanskij dogovor [Der sowjetisch-deutsche Vertrag]“, in: „Pravda Nr. 96 vom 27. April 1926. Grieser, S. 162. 86 „Izvestija“ Nr. 96 vom 27. April 1926. Grieser, S. 162. 87 Radek, „Posle ėkonomičeskoj stabilizacii političeskaja restavracija [Nach der wirtschaftlichen Stabilisierung die politische Restauration]“, in: „Izvestija“ Nr. 25 vom 1. Februar 1927. Grieser, S. 177. 88 Grieser S. 163.

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„taktische Kampfaufgabe“ das Beurteilungsraster vorgab.89 Wenden wir uns wieder dem Geschehen des Jahres 1925 zu. Auch angesichts des Vorwurfs seiner Gegner, den Trotzkismus direkt zu unterstützen, hatte Radek seine Kontakte zu Trockij, mit dem er im Kreml’ gewissermaßen „Tür an Tür“ wohnte, keineswegs völlig abgebrochen.90 Dazu arbeitete seine Freundin Larisa Rejsner für den ehemaligen Kriegskommissar, der im Mai dem Obersten Volkswirtschaftsrat zugeteilt worden war und dort drei Kommissionen leitete. „Larisa nimmt an den Arbeiten der Untersuchungskommission Trotzkis teil, in der die Wege zur Besserung der Warenqualität geprüft werden“91, berichtet Radek. Er interessierte sich lebhaft für diese Tätigkeit. Als Rosa Meyer-Leviné ihn im September 1925 in Moskau besuchte, erzählte er ihr sehr angeregt, wie Trockijs Genius spürbar werde, welche Aufgabe man ihm auch stelle. Mit Blick auf die in Deutschland gekauften Schuhe der Besucherin bemerkte er: „Ich muß Sie zu Trotzki bringen. Der prüft jeden einzelnen Stich ganz genau und fragt Sie endlos aus und weiß dann, wie wir solche Prachtstücke selber produzieren können – oder sogar noch viel schönere.“92 Nach seinem Sturz 1924 wurden Radek jegliche Auslandsreisen verweigert.93 Es hat jedoch den Anschein, dass ihm im Sommer 1925 noch einmal ein Deutschlandbesuch genehmigt wurde. Der Anlass war vermutlich die Erkrankung Larisa Rejsners. Sie hatte sich im Bürgerkrieg während des Feldzuges an der Volga mit Malaria infiziert. Die Krankheit war nicht ausgeheilt und als Larisa 1925 einen Rückfall erlitt, wurde sie zur Behandlung nach Deutschland geschickt.94 Es ist anzunehmen, 89 Ebenda, S. 134. 90 Im Winter 1925/26 allerdings, war der Kontakt anscheinend nicht sehr intensiv. Im Trockij-Archiv der Houghton Library an der Harvard-Universität findet sich „praktisch keine Korrespondenz“ zwischen Radek und Trockij aus dieser Zeit. Lerner, S. 137, Anm. 48. 91 Radek, Vorwort, in: Reissner, Larissa [Rejsner, Larisa], Oktober, S. XXVI. Bei der von Radek erwähnten Kommission handelt es sich um das sogenannte „Konzessionskomitee”, einen Ausschuss innerhalb des Volkswirtschaftsrats, der die Produktionskosten in Russland und im Ausland untersuchte und darüber eine vergleichende Studie erarbeitete. Vgl. Deutscher, Trotzki II, S. 207. 92 Meyer-Leviné, S. 170f. Radeks Interesse für Rosa Meyer-Levinés Schuhe kam nicht von ungefähr. Als Vorsitzender des Konzessionskomitees hatte Trockij geäußert: „Wir müssen die Produktionskosten vergleichen, wir müssen feststellen, was ein Paar Schuhe hier und was sie im Ausland kosten, wir müssen die Qualität der Waren vergleichen und die Zeit, die man zu ihrer Herstellung benötigt [...].“ Trotzki, [Trockij] Sočinenija, tom XXI, S. 419f.; zitiert nach: Deutscher, Trotzki II, S. 208. 93 Vatlin, S. 20. 94 Radek, Rejsner, Larisa; in: Dejateli SSSR, Sp. 196. Während ihres Aufenthalts soll Rejsner heimlich die Klinik verlassen haben, um an Demonstrationen der Hamburger Kommunisten teilzunehmen. Auch nutzte sie die Zeit für sozialpolitische Reportagen, die sie 1925 in dem Buch „Im Lande Hindenburgs“ veröffentlichte (ebenda). Die Reiseerlaubnis für Radek liegt durchaus im Bereich des möglichen. Selbst Trockij als Führer der Opposition, erhielt noch 1926 die Genehmigung für einen Auslandsaufenthalt. Er befand sich mit Erlaubnis des Politbüros ab Mitte April 1926 für sechs Wochen inkognito zur Behandlung seiner Fieberkrankheit in einer Berliner Privatklinik, besuchte in dieser Zeit das Baumblütefest in Werder und die Maidemonstration am Alexanderplatz. Deutscher Trotzki II, S. 260.

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dass Radek die Kranke begleitete, als er im Juni angeblich nach Deutschland reiste.95 Offenbar hat er sich während seines Aufenthaltes großer Zurückhaltung befleißigt und sich an die Auflage gehalten, keine Kontakte zur KPD aufzunehmen. Als journalistische Ergebnisse seiner Reise wurden in der Moskauer Presse sein berühmt-berüchtigter Kukirol-Artikel und der Bericht über die Reichstagsdebatte vom 22. Juli veröffentlicht.96 Auch könnte er in inoffizieller diplomatischer Mission unterwegs gewesen sein. In Berlin führte er am 12. Juli ein Gespräch mit dem Direktor der Handelsabteilung im Polnischen Ministerium für Handel und Industrie Tennenbaum, in dem er unter Hinweis auf die Gefahren, die der Sowjetunion durch die angeblich von England betriebene Aufrüstung Deutschlands drohten, einen polnischsowjetischen Nichtangriffspakt vorschlug.97 Im August 1925 wurde Radeks politisches Wohlverhalten belohnt. Man berief ihn zum Rektor der nach dem verstorbenen Gründer der Kuomintang benannten, neugegründeten Moskauer Sun Jat-sen-Universität. Diese „Hochschule für die Ausgebeuteten des Fernen Ostens“ war eine Einrichtung der Komintern, deren Studenten zu Gliedern einer Kette werden sollten, mit der die sowjetische Partei die kommunistischen Parteien Asiens an sich fesseln wollte.98 Mit Schwerpunkt diente sie der Ausbildung junger Chinesen zu Propagandisten und Agitatoren, wobei man bestrebt war, vor allem die Söhne nichtkommunistischer bürgerlicher Politiker und Militärs für das Studium zu gewinnen.99 Einem amerikanischen Journalisten gegenüber bezeichnete Radek seine Kaderschmiede einmal als den Gegenentwurf zu den amerikanischen Missionsschulen in China, deren Einfluss entgegengewirkt werden sollte.100 Unter Radeks Studenten befanden sich die später so prominenten kommunistischen Führer Deng Xiaoping101 und Ho Chi Minh102. Anfangs hatte Radek wohl den Eindruck, man habe ihn auf seinen neuen Posten abgeschoben. Er kommentierte seine Ernennung zum Rektor mit dem Satz: „Ich bin über chinesische Zöpfchen nicht begeistert.“103 Wahrscheinlich ärgerte es ihn auch, 95 Grieser, S. 133. 96 Siehe oben, Anm. 71 und Anm. 72. 97 Rosenfeld, Günter: Die Rapallo-Partner. Die Sowjetunion im Kampf um die friedliche Koexistenz in Deutschland 1922–1933. Habilitations-Schrift an der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin (Ost) 1965, 2 Teile, Maschinenschrift vervielfältigt, S. 186. Grieser, S. 133, Anm. 50. 98 Vgl. Nollau, Internationale, S. 139–146. 99 Buber-Neumann, Kriegsschauplätze der Weltrevolution, S. 194. 100 Roots, John M., The Moscow End of China-Soviet Affairs, in: „Asia“, Juni 1927. Tuck, S. 90. 101 Klausen, S. 6. Deng Xiaoping (1904–1997) wurde einer der führenden Politiker der Volksrepublik China und leitete Ende der 1970er Jahre die wirtschaftliche Öffnung des Landes ein. 102 Fischer, Ruth, Lenin, S. 178f. Ho Chi Minh (1890–1969) war später Vorsitzender der Kommunistischen Partei Vietnams und Staatspräsident des kommunistischen Nordvietnam. Ruth Fischer schreibt (ebenda), er sei einer der bevorzugten Ratgeber Radeks an der Sun Jat-sen-Universität gewesen. 103 Vatlin, S. 20.

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dass ihm in der Person des Stellvertretenden Rektors Pavel Mif104, ein Aufpasser Stalins zugemutet worden war. Dass man ihm erlaubte, Larisa Rejsner als Dozentin für Russische Literatur zu berufen und an seiner Seite arbeiten zu lassen105, dürfte ihn deshalb mit der neuen Aufgabe einigermaßen versöhnt haben, von der Aufbesserung seiner Rubelbezüge einmal ganz abgesehen. Vermutlich hat er sich auch für seinen Freund August Thalheimer eingesetzt, der inzwischen am Moskauer Marx-EngelsInstitut tätig war und nun eine Professur an der Sun Jat-sen Universität erhielt.106 Radek stürzte sich mit der ihm eigenen Energie auf seine akademischen Pflichten, begann die chinesische Sprache zu lernen und entwickelte sich bald zum anerkannten Kenner der politischen Verhältnisse in China.107 China, für das er sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg an der Universität Leipzig interessiert hatte, galt allerdings schon seit einiger Zeit wieder seine Aufmerksamkeit. 1922 hatte er auf dem IV. Weltkongress der Komintern die erstmals teilnehmenden chinesischen Kommunisten vor der Gefahr des Putschismus, der voreiligen revolutionären Aktion, gewarnt. Er sagte ihnen, ihre nächste Aufgabe sei die revolutionäre Vorbereitung und Organisation sowie die Verbindung gegen den europäischen und asiatischen Imperialismus mit den revolutionären bürgerlichen Elementen des Landes, also ein Bündnis mit der Kuomintang.108 Es war im Grunde genommen das gleiche Konzept, das er dann in Deutschland mit der Schlageterlinie verfolgte. Tschiang Kai-schek, der sich 1923 als Stabschef der Kuomintang-Streitkräfte für drei Monate in Moskau aufhielt, gewann den Eindruck, dass Radek zu den sowjetischen Führern jüdischer Herkunft gehörte, die „Dr. Sun [Jat-sen] Respekt und Bewunderung zollten und mit China zusammenzuarbeiten wünschten“. Sie seien „vergleichsweise aufrichtiger in ihrer Freundlichkeit für die Kuomintang“ gewesen, als die Russen.109 Jetzt, im Jahre 1925, fand die Allianz chinesischer Kommunisten und Nationalisten110 noch immer Radeks Beifall. Dieses Bündnis, so schrieb er in der „Pravda“, würde die kleine und schwache KPCh davor bewahren, sich im Putschismus zu vergeuden, wie es die deutsche Partei getan hätte.111 Den am 12. März 104 Mif, Pavel Aleksandrovič – eigentlich Michail A. Fortus (1901–1939); ukrainischer Stalinist, 1925 Prorektor sowie Polit-Stellvertreter Radeks und 1926 dessen Nachfolger an der Sun Jat-sen-Universität. 105 Alexandrov, S.  27; zitiert nach Lerner, S.  134. Alexandrov (ebenda) kolportiert die angebliche Bemerkung Stalins, Radek solle darauf achtgeben, dass ihm Larisa nicht von einem seiner chinesischen Studenten ausgespannt werde. Jung Chang (S. 284) behauptet, das spätere Staatsoberhaupt der Volksrepublik China Liu Shao-chi (1898–1969) habe in den 1920er Jahren in Moskau „eine Liebesaffäre mit Larissa Rejsner gehabt“. 106 Weber, Hermann/Herbst, S. 786. 107 Ebenda. 108 Protokoll des IV. Kongresses der Komintern, S. 630–633. Legters, S. 104. 109 Tschiang Kai-schek, S. 43. 110 Siehe oben, S. 643f. 111 Radek, „Social’no političeskii idei Sun-Jat-Sena [Die sozialpolitischen Ideen Sun Jat-sens]“, in: „Pravda“, Nr. 59 vom 12. März 1925. Lerner, S. 136.

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1925 verstorbenen Sun Jat-sen würdigte er als Führer des chinesischen Volkes, der trotz kleinbürgerlicher Herkunft und ursprünglicher Unterstützung durch die Bourgeoisie, niemals seine überwältigende Anteilnahme am Schicksal der Volksmassen verloren habe. Dies sei ausschlaggebend gewesen, Sun davon zu überzeugen, dass das chinesische Volk nur im Bündnis mit dem internationalen Proletariat seine Rettung finden würde.112 Die Erfolgsmöglichkeit einer von der KPCh geführten proletarischen Revolution beurteilte er allerdings skeptisch. Kurze Zeit nach seiner Ernennung zum Rektor der Sun-Jat-sen-Universität schrieb er: „Gegenwärtig und in naher Zukunft wird das chinesische Proletariat nicht fähig sein, auf sich allein gestellt die Macht zu ergreifen. Sollte es jedoch im Verlauf der revolutionären Kämpfe der kommenden Periode mit dieser Notwendigkeit konfrontiert werden, dann wird es gezwungen sein, unter den gegenwärtigen Umständen zusammen mit dem Kleinbürgertum [in den Städten] die Wirtschaftskraft des Landes in kapitalistischer Manier zu entwickeln.“113

Damit vertrat Radek die offizielle politische Linie des Politbüros. Noch gab es in der bolschewistischen Partei keinen Dissens über die China-Politik. Die Kuomintang wurde als progressive Kraft bewertet und als Wegbereiter für die kommunistische Machtergreifung betrachtet. Neben seinen Aufgaben als Rektor und Journalist, wurde Radek im Verlauf des Jahres 1925 zur Mitarbeit an der „Großen Sowjet-Enzyklopädie“, dem ersten lexikalischen Großprojekt des Sowjetstaates, herangezogen.114 Im Redaktionsstab115, dem neben anderen auch Bucharin, Kujbyšev, Pokrovskij, Larin, Osinskij und Preobraženskij116 angehörten, fungierte er bis 1927 als Experte für die Deutschland betreffenden Beiträge. Er qualifizierte ein von Walter Benjamin117 für die Enzyklopädie verfasstes Exposé des Artikels über Goethe ab. „Da kommt ja auf jeder Seite zehnmal ,Klassenkampf‘ vor“, kritisierte er. Den Einwand, „man könne Goethes […] Wirken, welches in eine Zeit großer Klassenkämpfe falle, nicht entwickeln, ohne dieses Wort zu gebrauchen“, fertigte Radek kurz ab: „Es kommt nur darauf an, daß es an der richtigen Stelle geschieht.“118 Selbstredend wurde Benjamins 112 Radek, „Vošd’ kitajskogo naroda“ [Der Führer des chinesischen Volkes]“, in: „Pravda“, Nr.  60 vom 14. März 1925. Lerner, S. 136. 113 Radek, „Voprosy kitajskoj revoljucii [Fragen der chinesischen Revolution]“, in: „Krasnyj Internacional Profsojuzov [Die Rote Gewerkschaftsinternationale]“, Nr. 10/Oktober 1925, S. 37. Lerner, S. 136. 114 Radek, Avtobiografija, Sp. 123. 115 Chefredakteur war 1924–1941 der Geophysiker und Polarforscher Otto Jul’evič Šmidt (1891– 1956). 116 Preobraženskij, Evgenij A. (1886–1937); führender sowjetischer Wirtschaftstheoretiker der 1920er und 1930er Jahre. 1937 verhaftet und erschossen. 117 Benjamin, Walter (1892–1940); deutscher zeitkritischer Schriftsteller. 118 Benjamin, S. 117f.

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Beitrag daraufhin abgelehnt. Radek ließ es sich nicht nehmen, den Kommentar zum Artikel über Bismarck119 zu schreiben. Darin erhob er den Vorwurf, Bismarck, der „Lieblingsheld der deutschen Bourgeoisie“, habe vor der Geschichte versagt, da er „die Einigung Deutschlands […] von unten auf revolutionärem Wege“ blockierte und dafür sorgte, dass sich „der führende Einfluß des Junkertums auf die Innenpolitik“ festigte. Die von ihm gewollte Beschränkung des deutschen Nationalstaats auf ein preußisch-kleindeutsches Reich unter Ausschluss Deutschösterreichs sei ein großer Fehler gewesen. Denn „sowohl die Kapitulation vor dem Junkertum Deutschlands als auch die nur teilweise Vereinigung Deutschlands“ hätten sich 1918 als der „Ausgangspunkt für die Zerstörung Deutschlands“ erwiesen. „Noch verhängnisvollere Folgen“ habe jedoch ein anderer Schritt Bismarcks gezeitigt, „den die bürgerliche Geschichtsschreibung für eine höhere Offenbarung von Bismarcks Genie in der Außenpolitik hielt, nämlich die Schonung Österreichs im Jahre 1866 und das spätere Bündnis mit ihm.“ Dadurch „verknüpfte er das Schicksal Deutschlands mit dem der österreichisch-ungarischen Lumpenmonarchie“. Die Konsequenz: „In den Weltkrieg rückte Deutschland als Verbündeter einer verwesenden Leiche ein und ging als Besiegter hinaus. Das Werk Bismarcks war nicht durch den Aufstand der deutschen Volksmassen vernichtet worden, sondern durch die Waffen der Entente. Deshalb ist bis heute auch die Grundaufgabe von 1848 – die Vereinigung des deutschen Volkes – nicht gelöst. Deshalb ist bis heute der Einfluß der feudalen Bürokratie und des Militärgeistes nicht überwunden. Deshalb auch kann die deutsche Bourgeoisie – wenigstens auf den Trümmern von Bismarcks Werk – ihm Denkmäler errichten. Aber das siegreiche Proletariat Deutschlands, im Kampf mit Bismarck erwachsen geworden, fegt das vergangene Gerümpel weg.“120

Radek, der durch seinen Aufenthalt im Vorkriegsdeutschland und aus seinen Gesprächen in Berlin wusste, dass dort die Vorstellungen des „Eisernen Kanzlers“ von einem Bündnis mit Russland noch immer virulent waren, ließ diesen Aspekt in seinem Kommentar merkwürdigerweise unberücksichtigt. Wichtiger war es ihm, auf die seiner Auffassung nach verheerenden Folgen von Bismarcks Außen- und Einigungspolitik hinzuweisen.121 Die Botschaft lautete: Noch ist der reaktionäre Geist Bismarcks in Deutschland lebendig, aber er wird durch die proletarische Revolution, die ein kommunistisches Großdeutschland schaffen wird, überwunden werden. Diese optimistische Revolutionsprognose hatte wohl eher deklamatorischen Charakter, denn es sieht so aus, als ob Radek zu dieser Zeit das Geschehen inner119 Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898); preußischer Politiker; Gründer des Deutschen Reiches von 1871; als Reichskanzler bestrebt, Deutschland durch einen geheimen Neutralitätsvertrag (Rückversicherungsvertrag 1887) die Freundschaft Russlands zu erhalten. 120 Radek, „Bismark [Bismarck]“, in: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija, tom 6, Moskva 1927, Sp. 422f; geschrieben vermutlich 1926; auszugsweise deutsche Übersetzung in: Möller, S. 275. 121 Möller, S. 275.

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halb der Kommunistischen Partei Deutschlands nicht mehr sonderlich kümmerte. Rosa Meyer-Leviné, die ihn im September 1925 in Moskau besuchte, traf ihn „sehr niedergeschlagen“ an, „ohne seine frühere Brillanz“ und ohne echtes Interesse an der Stimmung in der KPD, wo „gerade das Regiment Ruth Fischers zusammengebrochen war“.122 Bald darauf kam es zu dramatischen Veränderungen in der sowjetischen Führung. Ende 1925 zerbrach das Triumvirat Stalin, Zinov’ev, Kamenev. Auf dem XIV. Parteitag der Bol’ševiki (18.–31. Dezember 1925) verurteilten die Delegierten mit überwältigender Mehrheit die von der Leningrader Parteiorganisation um Zinov’ev und Kamenev getragene Opposition gegen den Kurs Stalins und bestätigten dessen Programm zur Industrialisierung Russlands, den „Aufbau des Sozialismus in einem Lande“.123 Wenig später entzog man Zinov’ev, dem Führer der „Neuen Opposition“, seine Machtbasis. Er wurde als Parteisekretär von Leningrad abgelöst und durch Sergej Kirov124, einen Gefolgsmann Stalins ersetzt. Kamenev verlor das Amt als Stellvertretender Vorsitzender des Rats der Volkskommissare und wurde zum Handelskommissar degradiert. Radek muss der Fall seines Erzgegners Zinov’ev mit Genugtuung erfüllt haben. Bis heute sind historische Legenden in Umlauf, wonach er sich Anfang 1926 Hoffnungen auf ein politisches Comeback gemacht und ein Zusammengehen Trockijs mit Stalin gegen Zinov’ev befürwortet haben soll.125 Die Realität sah freilich anders aus. Stalin hatte sich an den „Meister der geheimen Aufträge“ erinnert und wollte ihn für sich gewinnen. Unter Umgehung Zinov’evs, der noch immer Komintern-Vorsitzender war, unternahm er den Versuch, Radek in der Kommunistischen Internationale durch Einschaltung der Führung der Kommunistischen Partei Deutschlands rehabilitieren zu lassen. Der Zeitpunkt dafür schien günstig zu sein, da mittlerweile die Radek feindliche Ruth Fischer-Maslov-Führung der KPD als „ultralinks“ abgesetzt und Ernst Thälmann zum Parteivorsitzenden gekürt worden war. Stalins Bemühungen blieben jedoch erfolglos. Am 20. Februar 1926 teilte er Radek mit: „Vor einigen Tagen traf ich auf entscheidenden Widerstand der [deutschen] Delegation [bei der Komintern]. Zwei Gespräche mit ihr ergaben keine positiven Resultate“.126 Als Zinov’ev von den Bemühungen des Georgiers erfuhr, legte er energischen Protest ein. Stalin aber, ließ ihn kühl abblitzen: 122 Meyer-Leviné, S. 170. 123 Gleichzeitig wurde die RKP(b) in All-Unionistische Kommunistische Partei (Bol’ševiki) – Vsesojuznaja Kommunističeskaja Partija (bol’ševikov) – VKP(b) umbenannt und ein neues Parteistatut beschlossen. 124 Kirov (Pseudonym von Kostikov), Sergej Mironovič (1886–1934); 1926–1934 Erster Sekretär der Leningrader Parteiorganisation; ein energischer Organisator und befähigter Redner. 125 Deutscher, Stalin, S. 328; ders. Trotzki II, S. 261; Klausen, S. 6.; Lerner, S. 134; Tuck, S. 90. 126 Vatlin, S. 21. Wahrscheinlich hat Stalin mit Hermann Remmele, seit Herbst 1925 Mitglied des EKKI-Präsidiums und/oder Ottomar Geschke, seit Sommer 1924 Mitglied und Sekretär des EKKI – beide seinerzeit Anhänger Zinov’evs – gesprochen. Remmele wurde im Exil in Moskau 1939 als „Konterrevolutionär“ verhaftet und erschossen. Ottomar Geschke (1882–1957); blieb stets wendig auf der Linie Moskaus, überlebte im 3. Reich das Konzentrationslager, gehörte nach

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„Wie es scheint, denkt Genosse Zinov’ev, daß ich ein Attentat auf seine Vorrangstellung des allein Entscheidenden in der Komintern verübt habe. Wie es scheint, hat Genosse Zinov’ev vergessen, daß wir alle gegen jegliche Führung einer einzigen Person und den Alleinanspruch einer Person sind, unabhängig davon, wer es ist […].“127

Stalins Hoffnungen auf Radek blieben unerfüllt128, aber auch Radeks Erwartungen im Hinblick auf eine neuerliche Karriere in der Komintern hatten sich als Illusion erwiesen. Für Radek wurde die Enttäuschung durch den Tod Larisa Rejsners überschattet. Sie war Anfang 1926 an Typhus erkrankt. „Der von der Malaria untergrabene Organismus hielt nicht stand, und am 9. II. [Februar] 1926129 verschied R[ejsner]. im Kreml’-Krankenhaus.“130 Karl Radek befand sich an der Seite seiner Geliebten, als sie starb: „In den letzten Atemzügen, als sie zum letzten Male das Bewußtsein wiederfand, freute sie sich der Sonne, die durch ihr Fenster mit heißen Strahlen Abschied nahm. Sie sprach davon, wie schön es in der Krim sein würde, wenn sie zur Genesung dorthin fahre, und wie schön es dann sein würde, den von der Krankheit gehetzten Schädel mit neuen Gedanken zu füllen. Sie versprach, um das Leben zu kämpfen, und gab den Kampf erst auf, als sie das Bewußtsein verlor.“131

In einem Nachruf feierte Radek die Verstorbene als leidenschaftliche Künstlerin und Revolutionärin. „Ihre Waffe war ihre Feder“132, schrieb er und schloss den Nekrolog mit den Worten: „Geblieben sind von ihr ein paar schmale Bändchen. Aber die werden so lange leben, wie die Kunde von der ersten proletarischen Revolution. Sie werden verkünden, daß es eine i n t e r n a t i o n a l e R e v o l u t i o n w a r , f ü r O s t u n d W e s t, für Hamburg und Afghanistan nichtweniger als für Leningrad und den Ural.“133

dem 2. Weltkrieg der SED an und war in Staatsfunktionen der DDR tätig, ohne besonders hervorzutreten. 127 Ebenda. Vatlin (ebenda) kommentiert dazu treffend: „Das angeführte Zitat ist charakteristisch für Stalins Stil und offenbart die innere Logik seines Verhaltens, bei dem die Taten ,präzise bis zum Gegenteil‘ seinen Worten entsprachen.“ 128 Vatlin, ebenda. 129 Lerner (S. 141) und Tuck (S. 81) datieren den Tod Rejsners falsch auf „November 1926“. Lerner (S. 140) vermutet, bei ihrer Krankheit könnte es sich um Krebs gehandelt haben. 130 Radek, Rejsner, Larisa Michajlovna, [Biographischer Beitrag] in: Dejateli SSSR i Oktojabr’skoj Revoljucii, Sp. 197. 131 Reissner [Rejsner], Oktober (Einleitung von Karl Radek, geschrieben am 1. Dezember 1926), S. XVIII. 132 Ebenda, S. XXV. 133 Ebenda, S. XXVIIIf. Hervorhebungen durch den Verfasser.

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Radek würdigte Larisa und hob im gleichen Atemzug den weltrevolutionären Charakter der Oktoberrevolution hervor. Eine Absage an den Sozialismus in e i n e m e i n z e l n e n Land. Für ihn verkörperte Stalins Programm die ideologische Essenz jener russischen Selbstbezogenheit, die nun in revolutionärer Selbstgenügsamkeit und nationaler Selbstgefälligkeit ihren Ausdruck fand.134 Dieses Ideal wollte er sich nicht zu eigen machen. *** Nicht mehr Mitglied des Zentralkomitees der bolschewistischen Partei, seiner Funktionen in der Komintern enthoben und durch ein Parteiverfahren diszipliniert, führte Radek bis zum Sommer 1925 ein unauffälliges Schattendasein als außenpolitischer Redakteur135 von „Pravda“, „Izvestija“ und einigen Zeitschriften. Der „Kampf mit der Feder in der Hand“ war sein ursprüngliches Metier und man hatte ihm gestattet, seine propagandistischen Fähigkeiten weiter in den Dienst der Partei zu stellen. Er saß in Moskau fest und durfte in Deutschland nicht mehr politisch tätig werden. Mit seiner der Parteilinie folgenden publizistisch-propagandistischen Aktivität unterstützte er an vorderster Front die Bol’ševiki dabei, in den Köpfen ihrer Anhänger und in der russischen Bevölkerung das ideologisch „richtige“ Bild der Welt zu malen. Man muss jedoch fragen, welche Auswirkungen seine Propaganda in Deutschland hatte. Erprobt als Journalist und Diplomat, aber auch als Revolutionär, Einflussagent, psychologischer Krieger und Komintern-Emissär, war er aus eigener Anschauung mit dem politischen Terrain Deutschlands und den deutschen Befindlichkeiten bestens vertraut. Den außenpolitischen Zielen des Sowjetstaats verpflichtet, versuchte er auf publizistischem Wege nicht nur die Locarnopolitik des Berliner Rapallopartners, sondern auch die deutsche Innenpolitik im sowjetischen Interesse zu beeinflussen. Das Auswärtige Amt stufte ihn als eine offiziöse Stimme des Sowjetstaats ein und deutsche Übersetzungen seiner Moskauer Leitartikel nutzte man an der Wilhelmstraße zumindest zur Hintergrundinformation. In seinen Artikeln und Pamphleten schreckte er jedoch weder vor Provokation, Rufmord, Verleumdung noch einer Instrumentalisierung des Antisemitismus zurück. Das waren für ihn Kampfmittel im Klassenkampf, den er als eine Auseinandersetzung auf Leben und Tod verstand und in dem, seiner Auffassung nach, alle Mittel zulässig waren. Insbesondere galt dies für die niederträchtigen Attacken, die er gegen die Sozialdemokratie richtete. Wie bereits vor der Phase der Einheitsfrontpolitik, bildeten für ihn die Sozialdemokraten den ideologischen Hauptgegner. Er empfahl dem Politbüro, den Kampf der Komintern „in schärfster Weise“ gegen die Sozialdemokratie auszurichten und zeichnete so bereits die drei Jahre später für verbindlich erklärte Generallinie der Kommunistischen Internationale vor. Sie besagte, dass die Sozialdemokratie als Todfeind des Proletariats und der Sowjetunion zu gelten habe. Radek war einer der 134 Vgl. Deutscher, Trotzki II, S. 146 und S. 253. 135 Lerner, S. 132.

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geistigen Väter dieser verhängnisvollen Entscheidung, die die Gefahr des wachsenden Faschismus und Nationalsozialismus ignorierte. Die Sozialisten rückten 1928 wieder zum Hauptfeind der Kommunisten auf und wurden als „Sozialfaschisten“ bekämpft.136 Radek, der in der Vorstellung des deutschen Durchschnittsbürgers „immer mit der Bombe in der Hand“137 erschien, genoss nicht allein in linksorientierten Kreisen der Weimarer Republik Sympathien, sondern fand auch vereinzelt im rechten Spektrum Resonanz. Hans von Hentig138, einer der führenden deutschen Nationalbolschewisten, unterhielt enge Beziehungen zu ihm.139 Kurt Tucholsky140, zum linken politischen Spektrum zählend, glossierte Radek als Finsterling, und wollte damit die „Sowjethetze“ in deutschen Kolportageromanen anprangern: „Kommissar Henderson sah erschüttert auf die junge Gestalt, die da mit Violinseiten gefesselt vor ihm lag. Er dreht die halb Ohnmächtige vorsichtig um – auf dem zarten Rücken leuchtete, von den Schurken mit blauer Farbe eingeritzt, der Satz: ,Hoch die Internationale!‘ Am Boden lag ein seidenes Taschentuch. Der Kommissar pfiff leise durch die Zähne. ,K.R.‘ war das Tuch gezeichnet, und darunter das bekannte Wappen des russischen Kommissars zur Sozialisierung der Frauen und zur Röstung aller Geistlichen. Das Taschentuch gehörte Radek […].“141

Selbstverständlich war Radek „kein Verschwörer“ im herkömmlichen Sinn, und er holte seine Waffen auch „nicht aus den dunklen Stuben der Alchemie, in denen die Gifte gemischt werden“.142 Doch in seiner Argumentation überschritt er oft Grenzen und würdigte den politischen Gegner herab, wenngleich die Polemik ihre eigenen Gesetze hat. Er war ein im ideologischen Freund-Feind-Denken verhafteter, eingefleischter Antidemokrat. Seine polemischen Angriffe zielten mit Vorliebe auf Ebert und Stresemann, die zwei stärksten Stützen der deutschen Demokratie und die bedeutendsten Staatsmänner der Weimarer Republik. Radek, „der unermüdliche Sämann der Revolution“143 half, die Saat der Staats- und Parteiverdrossenheit in Deutschland auszustreuen – im Fall Barmat auch den Judenhass. Damit reihte er sich in die Phalanx der Republikfeinde ein, die – gleichgültig ob sie rechts oder links 136 Nollau, S. 37. 137 Marcu, S. 199. 138 Hentig, Hans von, Dr. jur. (1887–1974); deutscher Kriminologe und Hochschullehrer; 1923 aktiv an der Vorbereitung des „Deutschen Oktober“ beteiligt; floh nach dessen Scheitern nach Russland, schlug dort einen von Lenin angebotenen Posten im Eisenbahnwesen aus und kehrte nach Deutschland zurück. 139 Weber, Hermann/Herbst, S. 786. 140 Tucholsky, Kurt (1890–1935); zeitkritischer deutscher Schriftsteller und Publizist. 141 Tucholsky, Hering ist gut – Schlagsahne ist gut – wie gut… (1930); in: Ders., Gesammelte Werke, Band III, S. 527f. 142 Marcu, a.a.O. 143 Joffe [Ioffe], 135f.

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standen – alle ein gemeinsames Ziel einte: Die Zerstörung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Als sich „das erste Donnergrollen der chinesischen Revolution“144 ankündigte, wurde Radek zum Rektor der Sun Jat-sen-Universität ernannt. Für mehr als zwei Jahre die entscheidende Weichenstellung für sein politisches Schicksal, das nun mit der Entwicklung in China verknüpft wurde. Er war bemüht, sich für die neue Aufgabe eine solide Wissensbasis zu verschaffen und beeindruckte bald durch seine „enormen Kenntnisse“.145 Unter allen Sowjetführern, die glaubten mit Hilfe der marxistisch-leninistischen Doktrin die verwirrenden Ereignisse in China auf einen leicht fasslichen Nenner bringen zu können, war er vielleicht der einzige, der versuchte, China aus seiner Geschichte und Kultur zu verstehen.146 Möglicherweise war es aber „statt Pflichtbewußtsein eher Neugierde auf fremde Menschen, Denkweisen, Revolutionsherde, die ihm den Ruf eintrug, daß er mit Eifer seiner neuen Arbeit nachgehe.“147 Geholfen hat ihm sicherlich seine erstaunliche Adaptionsfähigkeit, wie sie Marcu einmal am Beispiel Persiens beschrieben hat: „Wenn heute Persien auf der politischen Tagesordnung steht, so bestellt er sich eine Bibliothek über Persien und spricht nach drei Tagen so, als ob er diese ganze Bibliothek auswendig wüßte. Sicherlich, er hat die Bücher nicht gelesen, aber er ist ein Journalist, er liest mit der Nase und riecht die notwendigen Zitate. Er hat einen Seiteninstinkt und findet das für die Publizistik Brauchbare auf den ersten Hieb.“148

Unumstritten ist, dass Radek, was die Geisteswissenschaften anbetraf, eine nahezu enzyklopädische Bildung besaß. „Seine literarische, geschichtliche und nationalökonomische Belesenheit setzte jeden Menschen, ob Feind oder Freund in Erstaunen.“149 Er zitierte Clausewitz150, hatte Freud gelesen151 und als erster die Werke Einsteins nach Russland gebracht152. Auch war er immer bestens über die letzten Neuerscheinungen auf dem internationalen Buchmarkt orientiert.153 Er beherrschte zahlreiche 144 Deutscher, Trotzki II, S. 205. 145 Fischer, Louis, The Soviets in World Affairs, Princeton 1951, S. 673; zitiert nach: Legters, S. 104. 146 Brahm, Russische Revolution und Weltrevolution, S. 18. 147 Möller, S. 42. 148 Marcu, a.a.O. 149 Stadtler, S. 60; vgl. auch Blum, S. 87. 150 Hilger, S.  79. Clausewitz, Carl von (1780–1831); preußischer General und Militärtheoretiker; Begründer der modernen Kriegslehre mit dem (später auch von Lenin sehr geschätzten) Hauptwerk „Vom Kriege“. 151 Schurer, Part II, S.  139f. Freud, Siegmund (1856–1939); österreichischer Nervenarzt und Begründer der Psychoanalyse; seine Lehre geriet wegen ihrer starken Betonung der Sexualität in der Sowjetunion bereits in den 1920er Jahren in Acht und Bann. 152 Radek, Nojabr’, S. 162. Einstein, Albert (1871–1955); deutscher Physiker, stellte u.a. die Relativitätstheorie auf. 153 Hilger, S. 79.

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Fremdsprachen. Polnisch, Deutsch und Russisch waren ihm völlig geläufig, Latein und Griechisch hatte er auf dem Humanistischen Gymnasium gelernt. Er sprach und verstand Englisch in ausreichendem Maße und fand sich mit der Unterstützung von Wörterbüchern auch in der schwedischen und finnischen Sprache zurecht. Jetzt begann er Chinesisch zu lernen. Im Herbst 1925 erhielt Radek in Moskau Besuch von Rosa Meyer-Leviné. Sie hatte ihn kurz nach dem 1.Weltkrieg in Berlin kennengelernt und traf nun auf einen der wenigen Bol’ševiki, so schreibt sie, „an denen die Macht keine Spuren hinterlassen hatte; er war noch derselbe kameradschaftliche, unkonventionelle Mensch, den ich von früher kannte.“154 Zweifellos verfügte Radek auch über menschlich sympathische Wesenszüge. Freunde und Gegner lobten seine Großzügigkeit und spontane Hilfsbereitschaft.155 Menschewistische Emigranten berichteten, er habe sie als politisch Verfolgte 1922 in Russland heimlich im Gefängnis besucht und ihnen seine Unterstützung angeboten.156 Eine typische Begebenheit schildert Boris Souvarine, der 1924 aus der Komintern und der RKP(b) ausgeschlossen wurde: „Als ich [...] aus der Partei ausgestoßen wurde, war Radek der einzige, der an meine finanzielle Notlage dachte und, indem er seine Hand in die Tasche steckte, fragte: ,Brauchen Sie kein Geld?‘ Es gelang mir, ohne seine Hilfe zurechtzukommen, aber ich habe diese Geste nie vergessen.“157 Dass Radek auch tiefer menschlicher Bindungen fähig war, zeigte seine Beziehung zu Larisa Rejsner, deren frühen Tod er als schweren Schicksalsschlag empfand.158 Sie war die zweite Gefährtin in seinem Leben, der er eines seiner Bücher widmete. 1919 hatte er seiner Frau Rosa den Band „In den Reihen der deutschen Revolution“ zugeeignet. Jetzt litt sie unter Radeks Liaison mit Larisa und hatte sich stark verändert. „Die schöne stolze Frau […] hatte kein Lächeln mehr auf ihren verkniffenen Lippen, in ihren leeren Augen – das Leben in ihr schien erstorben.“159 Radek schien das nicht weiter zu berühren. Er gedachte mit seiner Aufsatzsammlung „Portrety i pamflety [Portraits und Pamphlete]“ der toten Geliebten: „Dem Andenken an die unvergessene Gefährtin Larisa Michajlovna Rejsner, der Kämpferin und Künderin der proletarischen Revolution, widme ich dieses Buch. Karl Radek. Moskau. Kreml’.160 In Deutschland schrieb Radek-Sympathisant Kurt Tucholsky: „Larissa Reissner: Du bist für Russland zu früh gestorben. So eine wie Dich haben wir nie gehabt. So eine wie Dich möchten wir so gerne haben […]. Wir grüßen Dich, Larissa Reissner. Du bist eine Erfüllung gewesen und eine Sehnsucht. Die Sehnsucht nach einem 154 Meyer-Leviné, S. 169. 155 Vgl. Lerner, S. 175; Reichenbach, S. 18 und Schurer, Part II, S. 139. 156 Lerner (S. 175), dem das von diesen Emigranten berichtet wurde. 157 Drachkovitch, Milorad M./ Lazitch, Branko (eds.), The Comintern, New York 1966, S.  178; zitiert nach: Lerner, S. 175. 158 Hilger, S. 114. 159 Meyer-Leviné, S. 170. 160 Radek, Portrety i pamflety, Moskva 1927, S. 3.

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[…], der aus seinem Wissen eine Waffe macht für uns und die Millionen Stummer, deren Stimmen nicht gehört werden. Ein Landsknecht des Geistes.“161

Larisa starb, bevor Radek und viele ihrer Freunde in die Blutmühle der Stalinschen Säuberungen gerieten. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, was mit ihr geschehen wäre, hätte sie 1937 noch gelebt. Allein ihre Verbindung mit dem „Volksfeind“ Radek hätte dann genügt, um ihr Schicksal zu besiegeln.162 Für Rosa Meyer-Leviné war Radek ein überzeugter Revolutionär, „dessen Fähigkeiten und Kenntnisse sich mühelos mit denen der meisten prominenten [Sowjet-] Führer messen konnten. Er habe jedoch nie die Statur anderer bolschewistischer Größen, wie etwa Zinov’ev oder Bucharin, erreicht. „Er blieb, was er war, der brillante Pamphletist“.163 Seinem widersprüchlichen Charakterbild einen Mosaikstein hinzufügend, urteilt sie, die Neigung zur „Possenreißerei“, habe seine „hohen Qualitäten“ beeinträchtigt. Ein Mensch, der nicht ernsthaft sein konnte und auf den das russische Sprichwort zuträfe: „Für einen guten Witz verkauft er den eigenen Vater“. Im Jahr 1925 eigentlich nur noch eine Witzfigur, ein „Petruška“ – so der russische Name des Kaspers.164 Stalin, der Radek gerne unter Beschuss nahm, um dadurch Trockij zu treffen, rechnete ihn der von ihm als „Saftladen“ verachteten Komintern zu, dieser „sauberen Gesellschaft“165, deren Wortführer vor der Oktoberrevolution mit zu denen gehörten, die im Exil in Charlottenburg oder im Quartier Latin lebten, dort Bier tranken und in Cafés herumsaßen.166 Das bedarf natürlich der Korrektur, gehörte Radek doch zu den unkonventionellen, hochbegabten Persönlichkeiten in der Partei, ausgestattet mit weitem Horizont und international denkend. „Von all diesen Männern war Radek bei weitem der berühmteste, wenn auch nicht der bedeutendste.“167 Der Respektlose, Ironische, Schockierende und Gebildete konnte nicht Partner Stalins sein, allerdings auch kein Konkurrent wie Trockij, Zinov’ev, Kamenjew oder Bucharin.168 Radek hielt sich von den innerparteilichen Auseinandersetzungen des Jahres 1925 fern, selbst als Zinov’ev und Kamenev sich von Stalin lossagten und dessen These vom Sozialismus in einem Land verurteilten. Er unternahm auch nichts, als Stalin die „neue Opposition“ auf dem Parteitag im Dezember zu Fall brachte. Im Kampf Zinov’evs gegen Stalin blieb er passiv. Zinov’ev war sein Erzfeind, wie auch der Trockijs. Radek befolgte Trockijs Parole: „[...] warten, bis sich Zinov’ev ausgegeben hat.“ Radek war überzeugt, dass 161 Tucholsky, Larissa Reissner (1927), in: Ders., Gesammelte Werke, Band II, S. 730. 162 Wassiljewa [Vasileva], S. 96. 163 Meyer-Leviné, S. 372. 164 Ebenda, S. 373. 165 Stalin bezeichnete die Komintern als „lavočka“ (Krivitsky [Krivickij], S. 91), d.h. als „Kramladen“ im Sinne von „Saftladen“, bzw. „sauberer Gesellschaft“. 166 Stalin, Werke, Band IV, S. 320ff. 167 Deutscher, Trotzki II, S. 202. 168 Möller, S. 42.

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die russische Revolution den Prolog zur Weltrevolution gebildet hatte und glaubte unverändert daran, dass trotz anhaltender revolutionärer Windstille, das künftige Schicksal des Sowjetstaats vom Übergreifen der Revolution auf das Ausland abhängen würde. Nach dem Scheitern der Revolution in Deutschland, richteten sich nun seine Hoffnungen auf China.

18.  Opposition, Verbannung, Kapitulation (1926–1929) Auf dem XIV. Parteitag war Stalin zum Mächtigsten der Triumvirn aufgestiegen und hatte seine Rivalen Zinov’ev und Kamenev in die Defensive gedrängt. Trockij und auch Radek hatten diese Entwicklung tatenlos verfolgt. Sie empfanden vermutlich Genugtuung über die Entmachtung ihres Gegners Zinov’ev. Im Frühjahr 1926 gewann dann jedoch unter den „Trotzkisten“ und „Zinov’evisten“ die Furcht vor Stalins Macht die Oberhand. Trockij und Zinov’ev versöhnten sich und sammelten die durch revolutionären Internationalismus und den Hang zur Ideologisierung der Politik geprägten Kräfte der Partei zum Kampf gegen Stalin. Sie schlossen sich zu einem Block zusammen und einigten sich im Juli auf eine gemeinsame politische Plattform – die „Erklärung der Dreizehn“. Radek, der von Anfang an mit der Sache der Opposition sympathisiert hatte, trat gleich nach Trockij in die Reihen dieser „Vereinten Opposition“ und war für drei Jahre einer ihrer wichtigsten Publizisten und Sachverständigen für internationale Beziehungen.1 Obwohl er sich als Rektor der Sun Jat-sen-Universität zunächst nach außen bedeckt gehalten hatte, geriet er Ende September als Oppositioneller auf Stalins Abschussliste. Die Spalten der Parteipresse wurden für ihn gesperrt. Als im April 1927 Tschiang Kai-schek die Kommunistische Partei Chinas in einem Blutbad liquidierte und Radek die verfehlte Chinapolitik Stalins kritisierte, verlor er prompt seinen Posten als Hochschulrektor. Am 7. November 1927, dem 10. Jahrestag der Oktoberrevolution, beteiligte er sich an dem ohnmächtigen Versuch der Opposition gegen die Diktatur des Stalinschen Parteisekretariats zu demonstrieren. Gemeinsam mit den Führern der Opposition, die mittlerweile alle ihre Sitze und Posten in Politbüro, CK und Komintern verloren hatten, wurde Radek im Dezember 1927 vor den XV. Parteitag der VKP(b) zitiert, aus der Partei ausgeschlossen und im Januar 1928 nach Sibirien verbannt. Im Sommer 1929, fünf Monate nachdem Stalin Trockij aus der Sowjetunion in die Türkei hatte abschieben lassen, gab Radek seinen Widerstand auf, brach mit der Opposition und kapitulierte vor Stalin. Die Streitfrage, permanente Revolution oder Aufbau des Sozialismus in einem einzelnen Land, war durch Stalin 1925 zu seinen Gunsten entschieden worden. Nun bildete die Bauernfrage den aktuellen Hintergrund des Machtkampfs, der 1926– 1927 in seine entscheidende Phase trat. Trotz der Neuen Ökonomischen Politik hatte die Unzufriedenheit unter den Bauern bedrohliche Ausmaße angenommen. Sie forderten billige Konsumgüter und höhere Preise für Agrarerzeugnisse, während die Industrie umgekehrt billige Lebensmittel und höhere Preise für ihre Produkte wollte. Für die Interessen der Bauern setzte sich eine sogenannte „rechte“ Gruppe um den führenden Parteitheoretiker Nikolaj Bucharin, den Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare Aleksej Rykov und Gewerkschaftschef Michail Tomskij ein. Ihr stand die von Zinov’ev und Kamenev geführte „Linke“ gegenüber, die für eine 1 Vatlin, S. 21.

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forcierte Industrialisierung plädierte. Nachdem der Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion das erklärte Ziel war, standen jetzt als Optionen zur Entscheidung an: Entweder beschleunigte Industrialisierung und damit Priorität für die Forderungen der Industriearbeiterschaft oder Vorrang für die Landwirtschaft und die Anliegen der Bauern. Stalin schlug sich in dieser Auseinandersetzung auf die Seite der Bauern, die zahlenmäßig die stärkere Gruppe bildeten. Er fürchtete deren Auflehnung. Nachdem es ihm im Bunde mit Zinov’ev gelungen war, seinen Machtrivalen Trockij weitgehend kaltzustellen, verbündete er sich nun mit Bucharin, um Zinov’ev auszuschalten.2 Angesichts dieser Konstellation fanden Trockij und Kamenev während des April-Plenums des CK (6.–9.4.1926) politisch wieder zusammen. Sie traten gemeinsam gegen den Bucharin-Stalin-Kurs auf und forderten eine schnellere Industrialisierung. In der Folge kam es zu einem privaten Versöhnungstreffen von Zinov’ev und Kamenev mit Trockij. Drei Jahre lang hatten die beiden nicht mehr mit Trockij gesprochen, nun schütteten sie ihr Herz bei ihm aus und schwärzten Stalin an. Ab Mitte April befand sich Trockij für sechs Wochen in Deutschland, um sich einer Mandeloperation zu unterziehen und seine Malaria behandeln zu lassen. Wieder zurück in Moskau, ging er daran, die Anhänger der Opposition zu sammeln. Die Führer hielten wechselseitig Besprechungen in ihren Privatwohnungen im Kreml’ ab. Zu diesen Treffen brachte Trockij „den unermüdlichen, beweglichen, über das ganze Universum und besonders Zentraleuropa informierten Karl Radek“ mit.3 Man tagte selbstverständlich auch in Trockijs und Radeks Wohnung. Heimliche Versammlungen wurden aus Furcht vor Stalins Überwachungsapparat in Arbeiterwohnungen, auf Friedhöfen und im Waldgebiet außerhalb Moskaus abgehalten. Zum Mittelpunkt der Opposition wurde Zinov’evs Komintern-Hauptquartier.4 Radek blieb im Machtkampf nicht nur an Trockijs Seite, sondern hatte sich nach dem Bruch zwischen Stalin und Zinov’ev auch mit seinem Gegner Zinov’ev versöhnt. Dies bedeutete das Ende der langjährigen Freundschaft mit den Moskauer KPD-Exilanten Thalheimer und Brandler, die Stalins und Bucharins Politik für richtig hielten und die negativen Erfahrungen mit Zinov’evs selbstherrlichem Führungsstil in der Komintern nicht vergessen konnten.5 In der russischen Parteibasis fanden die Gedanken der Opposition kaum Resonanz. Ihre Vorschläge zu Lohnfragen, zur Steuer- und Industriepolitik machten auf die einfachen Parteimitglieder keinen Eindruck. Sie ließen sich von Stalins Versprechen blenden, Russland in eine „paradiesische sozialistische Oase“ zu verwandeln. 2 3 4 5

Krummacher/Lange, S. 177ff. Serge, Leo Trotzki, S. 177. Deutscher, Trotzki II, S. 266f. Klausen, S.  6. Thalheimers und Brandlers Loyalität gegenüber Stalin und Bucharin blieb nicht unbelohnt. Auf dem VII. Plenum des EKKI (12. Dezember 1926) wurden beide teilweise rehabilitiert. Sie erhielten die Erlaubnis wieder in der Komintern zu arbeiten, da sie auf weitere Fraktionsarbeit verzichtet hätten. Tuck, S. 93f.

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Als Radek später die Gründe für die Niederlage der Oppositionellen analysierte, schrieb er, es sei ein Fehler gewesen, dass sie ihre Aufgabe als Propagandisten angepackt hätten, die sich mit großen, aber abstrakten Ideen befassten. Stattdessen hätten sie als Agitatoren auftreten sollen, für populäre, praktische Ideen werben und Stimmung machen müssen.6 Noch Anfang Juli war die Stimme der Opposition in der Öffentlichkeit jedoch nicht zu vernehmen. Paul Scheffer, Korrespondent des „Berliner Tagblatts“, berichtete aus Moskau: „Die, die für alles Worte fanden, Trotzki, Radek, schweigen in allen Hauptsachen.“7 Selbst nachdem Trockij auf einer gemeinsamen Plenarsitzung von CK und Zentraler Kontrollkommission (14.–23. Juli) mit der „Erklärung der Dreizehn“ das Programm der Vereinigten Opposition vorlegte und damit offen gegen Stalin auftrat, übte Radek noch Zurückhaltung. Viktor Serge berichtet über ein Treffen Oppositioneller Ende Juli 1926 in seiner Wohnung, wo man mit Radek zum Tee zusammengekommen war: „Karl Bernardowitsch kaute zwischen seinen dicken Lippen an seiner Pfeife, seine Augen waren sehr müde, erweckten aber, wie gewöhnlich, den Eindruck einer außerordentlichen Intelligenz, die wegen seiner Spottlust unangenehm wirkte, aber dann kam unter dem spöttischen Witzeerzähler der Mann des Glaubens zum Vorschein. Dem Gedanken, daß die Arbeiteropposition, die schon 1920 und 1921 über die Bürokratisierung der Partei und die Lage der Arbeiterklasse Dinge gesagt hatte, die wir [...] kaum laut zu wiederholen wagten, – dem Gedanken, daß diese Opposition von einst gegen Lenin rechtgehabt habe, widersetzte sich Radek. ,Ein ungesunder Gedanke. Wenn ihr bei ihm bleibt, seid ihr für uns verloren. 1920 war weit und breit kein Thermidor8 in Sicht, Lenin lebte, in Europa schwelte die Revolution [...]‘.“9

Es sei daran erinnert, dass seit 1921 die Bildung parteiinterner Oppositionsgruppen bei Strafe des Parteiausschlusses verboten war. Zusätzlich zum Geheimdienst OGPU setzte das Zentralkomitee motorisierte Schlägertrupps von „Parteiaktivisten“ ein, um die „illegalen Zusammenkünfte“ von Oppositionellen gewaltsam zu sprengen. So fand auch die Teestunde bei Victor Serge ein jähes Ende, als man vor einem Zugriff der OGPU gewarnt wurde: „Um Mitternacht klingelte das Te6 Radeks an Trockij übersandtes Memorandum „Nado dodumat’ do konca“, geschrieben 1928 (ohne Datumsangabe); The Trotsky Archive, Houghton Library, Harvard University; zitiert nach: Deutscher, Trotzki, II, S. 278. 7 Scheffer, Die Parteiführung im Umbruch, „Berliner Tagblatt“ vom 2. Juli 1926; in: Ders.: Augenzeuge im Staate Lenins, S. 233. 8 Der Thermidor (Hitzemonat Juli/August) war der elfte Monat im französischen Revolutionskalender. Am 9. Thermidor (27. Juli) 1794 endete die Schreckensherrschaft Robespierres. Er wurde mit seinen Anhängern gestürzt und hingerichtet. Es folgte der „weiße Terror“ der Royalisten. Seither gilt der Begriff „Thermidor“ als Synonym für das Ende einer Revolution und den blutigen Sieg der Gegenrevolution. 9 Serge, Beruf: Revolutionär, S. 249.

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lephon: ,Zerstreut Euch, los! Sie werden Euch alle schnappen, Messing10 hat schon die Befehle gegeben [...].‘“ Die Versammlung löste sich auf. Und Radek, seine Pfeife von neuem anzündend, meinte: „Sehr Vieles wird neu beginnen. Die Hauptsache ist, dass wir keine Dummheiten machen [...].“11 Er hütete sich davor, den Parteiausschluss zu riskieren und befürchtete wohl noch Schlimmeres. Den Tod seines ehemaligen Mentors, des OGPU-Chefs Dzeržinskij, am 20. Juli 1926 kommentierte er beinahe erleichtert mit den Worten: „Felix ist rechtzeitig gestorben. Er war ein Schematiker. Er hätte nicht gezögert, seine Hände mit unserem Blut zu röten [...].“12 Als Serges Gruppe handstreichartig einen Saal besetzen wollte, um ein „großes Meeting“ mit Zinov’ev und Radek abzuhalten, sagte Zinov’ev im letzten Augenblick ab, erschreckt vor der Verantwortung, und Radek war dann nicht mehr bereit, allein zu sprechen.13 Erst am 26. September gab Radek seine Vorsicht auf. An diesem Tage nahm er gemeinsam mit dem Wirtschaftsexperten und Trockij-Anhänger Ivan Smilga14 an einer Diskussionsveranstaltung in der Kommunistischen Akademie in Moskau teil.15 Im Verlauf einer hitzigen Debatte mit den Parteigängern Stalins widersprach Smilga der These vom isolierten Aufbau des Sozialismus und behauptete, „daß es in einem einzelnen technisch rückständigen Lande“ – wie Russland – „unmöglich ist, den Sozialismus zu errichten.“16 Radek sprang ihm bei, als Zwischenrufer schrien, dass diese von Stalin in die Welt gesetzte Theorie eine „Leninsche Idee“ sei. Er konterte: „Sie haben Lenin schlecht gelesen; wenn Wladimir Iljitsch lebte, würde er sagen, daß dies eine Schtschedrinsche Idee ist. In Schtschedrins ,Pompadouren‘ gibt es einen einzigartigen Pompadour, der den Liberalismus in einem Kreis aufbaut.“17 Radek nahm damit auf den russischen Schriftsteller und Satiriker Michail Saltykov18 Bezug, der unter dem Pseudonym Ščedrin den Roman „Pompadoure und Pompadourinnen“ verfasst hatte. Als Pompadour karikiert er darin den Typus des bornierten und 10 Messing, Stanislav Adamovič (1890–1946); zu dieser Zeit Stellvertretender Vorsitzender der OGPU. 11 Serge, a.a.O., S. 249. 12 Ebenda. 13 Ebenda, S. 248f. 14 Smilga, Ivan Tenisovič (1892–1938); sowjetischer Wirtschaftsfunktionär; 1924–1926 Stellvertretender Vorsitzender GOSPLAN; 1925–1927 Rektor des Plechanov-Instituts für Nationalökonomie; 1927 Direktor der sowj. Fernostbank. 15 Es handelte sich um die Aussprache über einen Vortrag des ehemaligen Landwirtschaftskommissars Vladimir Pavlovič Miljutin (1884–1938), Wirtschaftsexperte und Stellvertretender Vorsitzender der Kommunistischen Akademie; Prenija po dokladu V. Miljutina; in: „Vestnik Kommunističeskoj Akademii [Bote der Kommunistischen Akademie]“, Nr. 17 (1926), S.  278 f. Lerner, S.  140, Anm. 59. 16 Stalin, Werke, Band 8, S. 247. 17 Ebenda, S. 249. 18 Saltykov-Ščedrin, Michail Evgrafovič (1826–1869); sozialkritischer russischer Schriftsteller und Satiriker.

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ignoranten Provinzgewaltigen. Der Held des Buches führt in einem einzelnen Kreis des zaristischen Russland ein liberales Regime ein, das dann von Moskau prompt zerschlagen wird. Radek zog die Parallele: Ebenso wenig, wie man im Zarenreichs „in einem Kreis“ oder sogar „in einer Straße“ den Liberalismus einführen konnte, wäre es möglich, inmitten einer feindlichen kapitalistischen Welt den Sozialismus in einem einzelnen Lande aufbauen. Die unabdingbare Voraussetzung für das Voranschreiten des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft, sei die Zerstörung des internationalen kapitalistischen Systems durch die Revolution.19 Drei Tage nachdem Radek sich vor der Kommunistischen Akademie öffentlich als Gegner Stalins bekannt hatte, exponierte er sich erneut. Gemeinsam mit Trockij, Zinov’ev, Pjatakov, und Sapronov20 besuchte er am 29. September überraschend die Parteizelle einer kleinen Moskauer Fabrik und trat mit den Führern der Opposition als Redner auf. In ihren Ansprachen behandelten die Trotzkisten alle die Themen, „[…] deren Diskussion durch den Parteibeschluß des Vorjahres [d.h. die Verurteilung der „Neuen Opposition“ auf dem XIV. Parteitag] ,verboten‘, einfach verboten ist. Sie forderten durch diesen Handstreich die Majorität der Partei, noch mehr aber die Leiter dieser Majorität zum offenen Kampf heraus. Es lag ein klarer Disziplinbruch vor. Indem die Opposition so ins helle Licht trat, tat sich vor ihr so ein ziemlich dunkler Abgrund auf [...].“21

Für die Stalinisten war mit diesen Aktivitäten das Maß der Opposition voll. Zwar wollten Trockij und die Ex-Triumvirn Zinov’ev und Kamenev den Parteiausschluss vermeiden und distanzierten sich selbstkritisch von der Fraktionsbildung. Aber das Oktoberplenum des Zentralkomitees (23. und 26. Oktober) und die darauffolgende XV. Parteikonferenz der VKP(b) (26. Oktober–3. November) standen dann ganz im Zeichen der Abrechnung Stalins mit der Opposition. Auf der CK-Sitzung wurde Trockij aus dem Politbüro ausgeschlossen, Zinov’ev verlor das Präsidentenamt der Komintern und Kamenev den Status als Kandidat des Politbüros. Während der Parteikonferenz griff Stalin am 1. November Trockij nochmals an und warf ihm vor, er verharre „voll und ganz“ auf „seinen alten Positionen, die eine sozialdemokratische Abweichung in unserer Partei darstellen“.22 Anschließend kam er auf Radek und Smilga zu sprechen und warf sie mit Trockij in einen Topf:

19 Prenija po dokladu V. Miljutina [Diskussion über den Vortrag V. Miljutins]; in: „Vestnik Kommunističeskoj Akademii [Bote der Kommunistischen Akademie]“, Nr. 17 (1926), S.  278f. Lerner, S. 140, Anm. 59. Stalin, a.a.O., S. 248. 20 Sapronov, Timofej Vladimirovič (1887–1939); sowjetischer Partei- und Regierungsfunktionär, prominenter Angehöriger der bolschewistischen Linksopposition; 1923–1927 Parteigänger Trockijs. 21 Scheffer, „Berliner Tagblatt“ vom 28. Oktober 1926; in: Ders.: Sieben Jahre Sowjetunion, S. 104. 22 Stalin: Über die sozialdemokratische Abweichung in unserer Partei, Referat auf der XV. Unionskonferenz der KPdSU(B), 1. November 1926; in: Stalin, Werke, Band 8, S. 247.

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„Und wie ist es nun um die anderen Führer des Oppositionsblocks, zum Beispiel Smilga oder Radek bestellt? Ich denke, sie gehören ebenfalls zu den Führern des Oppositionsblocks. Smilga und Radek – warum sollten sie keine Führer des Oppositionsblocks sein? Wie beurteilen sie den Standpunkt der Partei, den Standpunkt des Leninismus in der Frage des Aufbaus des Sozialismus in unserem Lande?“23

Er kanzelte Smilga wegen seiner Kritik in der Kommunistischen Akademie am 26. September ab und fuhr er fort: „Und da ist noch ein anderer Führer, Radek, der im Verein mit Smilga in der Kommunistischen Akademie auftrat und unsereins dort ,in Grund und Boden‘ stampfte. (Heiterkeit.) Wir verfügen über ein Dokument, das davon zeugt, daß Radek über die Theorie der Errichtung des Sozialismus in unserem Lande höhnte und spottete, daß er sie als die Theorie des Aufbaus des Sozialismus ,in einem Kreis‘ oder sogar ,in einer Straße‘ bezeichnete […].“24

Stalin entrüstete sich darüber, dass Radek die „Leninsche Idee“ vom Aufbau des Sozialismus in einem Land als „Ščedrinsche Idee“ diffamiert hätte: „Kann man diese abgeschmackte, eines Liberalen würdige Verhöhnung der Idee des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande seitens Radeks etwas anderes nennen, als einen vollständigen Bruch mit dem Leninismus? Ist der Oppositionsblock für diese Abgeschmacktheit Radeks verantwortlich? Ohne Zweifel. Warum grenzt er sich denn nicht von ihr ab? Weil der Oppositionsblock gar nicht daran denkt, seine Position der Abkehr vom Leninismus aufzugeben.“25

Damit war Radek öffentlich als antileninistischer Dissident gebrandmarkt. Seine Artikel verschwanden aus der Parteipresse. Auch an eine Rückkehr in die nun von Zinov’evs Nachfolger Bucharin geleitete Komintern, mit der er noch Anfang des Jahres geliebäugelt hatte, war nicht mehr zu denken. Während auf der VII. Erweiterten Tagung des EKKI am 12. Dezember 1926 Brandler und Thalheimer teilweise rehabilitiert wurden und die Erlaubnis erhielten wieder im „Generalstab der Weltrevolution“ mitzuarbeiten, wurde Radek das ausdrücklich verwehrt. „Was den Genossen Radek anbelangt,“ so lautete der Beschluss, „hat diese Entscheidung keine Gültigkeit, da er seine Fraktionsarbeit nicht eingestellt hat.“26 Er blieb allerdings Rektor der Sun Jat-sen Universität und wenngleich die Spalten der Parteipresse für ihn nun gesperrt blieben, konnte er doch noch in eingeschränktem Maße publizistisch tätig sein. Erwähnenswert sind zwei autobiographische Ar23 24 25 26

Ebenda, S. 247f. Ebenda, S. 248f. Ebenda, S. 249. Degras, The Communist International, Vol. II, S. 439.

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beiten, die er 1926 verfasste. In der Zeitschrift „Krasnaja Nov’“ veröffentlichte er unter dem Titel „Nojabr’ [November]“ ein Tagebuch seines Aufenthalts in Berlin von Ende 1918 bis Anfang 1920.27 Darin machte er detaillierte Angaben zu den Gesprächen, die er in seinem „politischen Salon“ mit deutschen Offizieren und Industriellen geführt hatte. 1926 war die sowjetisch-deutsche militärische Zusammenarbeit ein streng gehütetes Geheimnis und Radeks Ausführungen wurden, wohl auch mit Blick auf die im Gang befindliche russisch-französische Annäherung, höheren Orts als Indiskretion bewertet. Dieser Eindruck wurde wahrscheinlich durch die Enthüllung der geheimen Zusammenarbeit zwischen Roter Armee und Reichswehr im Deutschen Reichstag im Dezember 1926 noch verstärkt.28 Als Radek 1927 das Tagebuch als kleine Broschüre herausgab, waren darin die Passagen über seine Berliner Gespräche nicht mehr enthalten.29 Er musste sie sicherlich auf Weisung von oben weglassen. Der russische Historiker Boris Nikolaevskij30 stellt fest, dass Radek einige Jahre später die neuerliche Herausgabe des Tagebuchs sogar untersagt wurde und urteilt: „Er hatte also klar ein Geheimnis ausgeplaudert, das der Öffentlichkeit nicht übergeben werden durfte.“31 Dem bleibt nichts hinzuzufügen. Ebenfalls im Gefängnis in Moabit hatte Radek 1919 seine Jugenderinnerungen zu Papier gebracht, aber bislang nicht veröffentlicht. Er nahm sie jetzt in seinen autobiographischen Beitrag auf, als die russische „Enzyklopädie Granat“ für den zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution die Herausgabe eines Bandes mit den Biographien und Autobiographien von 246 bolschewistischen Führern und Sowjetprominenten

27 Radek, Nojabr’. Iz vospominanij [November. Aus meinen Erinnerungen], in: „Krasnaja Nov’“, no. 10, 1926. Deutsche Übersetzung in: Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 119–166. 28 Am 2. Dezember 1926 hatte der britische „Manchester Guardian“ in einem Bericht die militärische Kooperation zwischen Berlin und Moskau enthüllt. Das bot der SPD-Fraktion im Reichstag Anlass für einen Misstrauensantrag, der mit den Stimmen der SPD, der Kommunisten (!) und der Rechtsparteien am 17. Dezember 1926 angenommen wurde und zum Rücktritt der Regierung Marx führte. Philipp Scheidemann (SPD) hatte den Misstrauensantrag mit den Worten begründet: „Wir wünschen dringend ein gutes Verhältnis zu Rußland, aber dieses Verhältnis muß ehrlich und sauber sein. Es ist es aber nicht, wenn Rußland die Weltrevolution predigt und zugleich die deutsche Reichswehr bewaffnet [...]. Wer es fertigbringt, gleichzeitig mit den Kommunisten und den Offizieren der Reichswehr Bruderküsse auszutauschen, der ist verdächtig [...].“ (Zitiert nach Jung, S. 183). Radek stellte dazu in den „Izvestija“ ungerührt fest, „[...] daß die UdSSR die Dienste ausländischer Techniker nicht ablehnt, wenn es sich darum handelt, ihre Verteidigungsfähigkeit gegen die ausländischen Imperialisten zu stärken.“ (Zitiert nach: Carr, Berlin-Moskau, Deutschland und Rußland, S. 123). 29 Radek, Nemeckij nojabr’(vospominanija) [Deutscher November (Erinnerungen)], Moskva 1927. 30 Nicolaevsky (russisch: Nikolaevskij), Boris Ivanovič (1887–1966); russischer Marxist (Men’ševik) und Historiker; seine Sammlung von Materialien zur Geschichte des Sozialismus und Kommunismus, darunter zahlreiche Unikate, befindet sich heute als „The Nicolaevsky-Collection“ in der Hoover Institution in Palo Alto/Kalifornien, USA. 31 Nicolaevsky, in: „Novyj Žurnal“, Nr. 1, New York 1942, S. 244. Carr, The Bolshevik Revolution, Vol. III, S. 313, Anm. 2. Vgl. auch Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 90f.

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vorbereitete, der dann in drei Teilen 1927–1929 erschien.32 Gespickt mit anekdotischen Details, erzählte Radek in seiner „Avtobiografija“33 über 32 Spalten hinweg seinen abenteuerlichen Lebensweg als Revolutionär und Sowjetpolitiker, der schon als Kind im Alter von zehn Jahren den „Atem der großen revolutionären Bewegung“ verspürte. Als Vierzehnjähriger in Kontakt mit Arbeiterkreisen gekommen, habe er bereits als sechzehnjähriger Gymnasiast den ersten Auftritt als Redner in einer öffentlichen Versammlung absolviert. Indes handelte er seine Zeit in Sowjetrussland mit Rücksicht auf die Diadochenkämpfe um Lenins Erbe und seine angeschlagene Position nur summarisch ab: „Zehn Jahre Arbeit in den Reihen der Russischen Revolution sind vergangen und mir noch so gegenwärtig, daß sie kein zusammenhängendes Bild ergeben. Ich werde mich deshalb auf die Aufzählung der wesentlichen Fakten meiner Arbeit in diesen Jahren beschränken.“34 Aleksandr Solženicyn35 tut diese Edition der Enzyklopädie Granat mit der Bemerkung ab, sie sei „nichts anderes als eine Selbstbeweihräucherung der bolschewistischen Parteiprominenz“.36 Wesentlich differenzierter urteilen die französischen Historiker Georges Haupt und Jean Jaques Marie, wobei sie Radek allerdings vorwerfen, sein Beitrag stünde in eklatantem Gegensatz zu den kurzen und knappgehaltenen Biographien der anderen Führer. Weitschweifig und selbstgefällig verzerre 32 Ėnciklopedičeskij slovar’ Russkogo Bibliografičeskogo Instituta Granat, 7 izd., tom 41, Moskva 1927–29. Dejateli Sojuza Sovetskich Sozialističeskich Respublik i Oktjabr’skoj Revoljucii. Avtobiografii i biografii, čast’ I–III [Enzyklopädisches Wörterbuch. Russisches Bibliographisches Institut Granat, 7. Auflage, Band 41, Moskau 1927–29. Persönlichkeiten der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und der Oktoberrevolution. Autobiographien und Biographien, Teil I–III]; im Folgenden zitiert als „Enzyklopädie Granat“. Sieht man einmal von Radeks umfangreichem autobiographischen Beitrag ab, fällt auf, dass er als einer der bekanntesten und umtriebigsten Bol’ ševiki in den fast 250 weiteren biographischen Beiträgen der Enzyklopädie Granat nur von vier weiteren Autoren erwähnt wird. So schreibt Sokol’nikov-Brilliant, Radek habe der „ersten Emigrantengruppe“ angehört, die nach der Februarrevolution im „plombierten Wagon“ aus der Schweiz nach Russland aufbrach. Von den Mitgliedern der Gruppe nennt er Radek nach Lenin und Zinov’ev an dritter Stelle (čast’ III, Sp. 77). Der Pole Hanecki-Fürstenberg (Ganeckij) berichtet, Radek habe 1917 zusammen mit ihm und Vorovskij in Stockholm das Auslandsbüro des CK organisiert (čast’ I, Sp. 101). Osinskij -Obolenskij erwähnt, im Herbst 1918, als Radek nach Deutschland geschickt wurde, sei er dessen Nachfolger in der CK-Abteilung für Sowjetpropaganda geworden (čast’ II, Sp.  97). Schließlich schreibt Radeks Freund Rakovskij noch, Radek und er hätten 1918 der in Kovno aufgehaltenen bolschewistischen Delegation angehört, die nach Deutschland fahren sollte (čast’ II, Sp. 186). Alle diese Autoren, die im übrigen Radek auch nur für die Zeit vor 1919 erwähnen, waren Angehörige der Opposition, die dann in den stalinschen Säuberungen umkamen. Für die späteren Jahre und in den Beiträgen aller anderen Biographen herrscht über Radek, der zu Lebzeiten Lenins in Partei, Komintern und Sowjetstaat eine führende Rolle gespielt und die Wege vieler dieser Funktionäre gekreuzt hatte, absolutes Stillschweigen. Sicherlich bereits ein Ergebnis stalinscher Zensur und Selbstzensur der Autoren. 33 Radek, Avtobiografija, in: Enzyklopädie Granat, čast’ II, Sp. 138–169. 34 Radek, Avtobiografija, Sp. 167. 35 Solženicyn, Aleksandr Isaevič (1918–2008); regimekritischer russischer Schriftsteller. 36 Solschenizyn [Solženicyn], Der Archipel Gulag, Schlußband, S. 87.

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und schöne er bestimmte Aspekte seiner Vergangenheit oder erfinde sie einfach neu.37 Radeks amerikanischer Biograph Warren Lerner übersieht diesen Aspekt zwar nicht, stellt aber zutreffend fest: „Es überrascht kaum, daß Radeks eigener Beitrag selektiv und zurechtgeschnitten ist, aber er bildet eine interessante Erörterung der prägenden Einflüsse seiner Jugend – zumindest derjenigen, an die er sich erinnern wollte.“38 Für die subjektive Wahrheit und die sehr wahrscheinlich objektive Richtigkeit der Mehrzahl der Angaben Radeks spricht bei aller kritischen Distanz die Tatsache, dass sie sich mit den spärlichen Quellen über seine Jugendjahre decken, vor allem aber, dass viele in der „Avtobiografija“ genannte Personen damals noch lebten und Radek vermutlich nicht eine Richtigstellungen seiner Biographie durch prominente Zeitzeugen riskieren wollte. Zieht man als zusätzlichen Bewertungsmaßstab noch Radeks Berliner Tagebuchaufzeichnungen heran und liest dieses Selbstzeugnis in Verbindung mit den deutschen Akten, so zeigt es sich, wie Otto Ernst Schüddekopf zutreffend schreibt, „[…] daß Radek im wesentlichen ein sachlicher und zuverlässiger Berichterstatter war.“39 Eine Beurteilung, die – wenngleich mit einigen Abstrichen – auch über weite Passagen der „Avtobiografija“ zutreffen dürfte. Es liegt auf der Hand, dass Radek in der Ära der bolschewistischen Fraktionskämpfe mit seiner Autobiographie auch taktische Zwecke verfolgen wollte. So etwa, wenn er darauf verweist, er habe sich bereits mit 19 Jahren für die Bauernfrage interessiert und in einem marxistischen Blatt einen Artikel über die galizische Bauernbewegung veröffentlicht.40 Vermutlich ein Seitenhieb gegen Stalin, der als Neunzehnjähriger noch untätig im Priesterseminar in Tiflis saß. Oder auch wenn er behauptet, zur Zeit der ersten russischen Revolution sei er über die Unterschätzung der revolutionären Rolle der Bauern durch die Bol’ševiki verwundert gewesen.41 Eine Retourkutsche gegen den Generalsekretär der Partei, der ihm Ende 1924 vorgeworfen hatte, die gleichrangige Bedeutung von Arbeitern u n d Bauern in der Revolution zu verkennen.42 Für die Enzyklopädie Granat verfasste Radek auch den biographischen Betrag über die tote Geliebte, Larisa Michajlovna Rejsner.43 Erneut betrauerte er sie als Frau von internationalistischer Prägung und Ikone der Revolution: „Mit ihr verblich an der Schwelle eines großen schöpferischen Lebens eine Kämpferin des Kommunismus, die unmittelbar am Befreiungskampf des Proletariats teilnahm und die berufen war, in künstlerischer Weise ein Bild dieses Kampfes einprägsam zu vermitteln. Mit ihr verstarb eine Kommunistin, die zutiefst mit der russischen Arbeiterklasse verbun37 38 39 40 41 42 43

Haupt/Marie, Makers of the Russian Revolution, S. 21. Lerner, S. 179, Anm. 3. Schüddekopf, Karl Radek in Berlin, S. 91. Radek, Avtobiografija, Sp. 143. Ebenda, Sp. 147. Siehe oben, Kapitel 16, Anm. 60. Radek, Rejsner, Larisa Michajlovna; in: Enzyklopädie Granat, čast’ II, Sp. 193–197.

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den war, es aber wegen ihrer großen kulturellen Bandbreite vermochte, auch mit der revolutionären Bewegung im Osten und im Westen verbunden zu sein. Schließlich verging mit ihr eine zutiefst revolutionäre Frau, die den Typus des neuen Menschen vorausahnen läßt, der in den Wehen der Revolution geboren wurde.“44

Bekanntlich widmete Radek der Verstorbenen auch die 1927 erschienene Aufsatzsammlung „Portrety i pamflety“. Darin enthalten sind seine von 1918 bis 1926 in der Sowjetpresse veröffentlichte Kurzporträts von Sowjetführern, insbesondere auch Nachrufe, polemisch gefärbte Beiträge über ausländische Politiker, politische Pamphlete und Reden.45 Aufschlussreich ist die Reihenfolge der Artikel über die Sowjetführer. Sie ist Programm. Den Reigen der Porträts eröffnet selbstverständlich ein Artikel über Lenin. Dann werden Trockij und die verstorbenen Parteigrößen Sverdlov und Dzeržinskij gewürdigt, gefolgt von einem Nachruf auf Jurij Lutovinov46. Radek hatte diesen Gewerkschaftsfunktionär und Organisator der Metallarbeiter 1920 in Berlin getroffen. Als prominentes Mitglied der Arbeiteropposition hatte man Lutovinov zum Leiter der dortigen sowjetischen Handelsvertretung gemacht, und ihn damit kaltgestellt. Er „[…] streifte mit Radek nachts durch Berlin. Die Cocktails des Kurfürstendamms kratzten ihn im Hals. ,Was erfinden die Bourgeois bloß für Sauereien um sich zu vergiften? Was werde ich tun, wenn ich nach Hause komme? Ich habe es dem Zentralkomitee deutlich genug gesagt: Das Problem der Löhne muß neu untersucht werden. Unsere Metallarbeiter verhungern […].‘“47 44 Ebenda, Sp. 197. 45 Radek, Portrety i pamflety [Porträts und Pamphlete], Moskva/Leningrad 1927. Der erste Teil des Buches („Portrety“) enthält unter anderem die Kurzporträts von Lenin (1923), Lev Trockij (1923), Ja. M. Sverdlov, Dzeržinskij (1926), des Gewerkschaftsfunktionärs Jurij Lutovinov (1924), aber auch des Regimegegners Boris Savinkov (1925); ferner die Porträts von US-Präsident Vil`son [Wilson] (1924), Llojd Džordž [Lloyd George] (1922), Lord Kerzon [Lord Curzon] (1925), Walter Rathenau (1922), Hugo Stinnes (1924), Parvus (1924), Hindenburg (1925), Ebert (1925), Iosif Pilsudskij [Józef Piłsudski] (1926), Sun Jat-sen (1925); abgedruckt sind auch Radeks Polemik gegen Gor’kij (Maksim Gor’kij i russkaja revoljucija [Maksim Gor’kij und die russische Revolution]) sowie die Reden Radeks (“Requiem“ – Rede vor den Kursanten der Akademie der Roten Armee am 24. Oktober 1920; Leo Schlageter, der Wanderer ins Nichts – Rede vor der Erweiterten Exekutive der Komintern am 21. Juni 1923). Im zweiten Teil des Sammelwerks (“Pamflety”) finden sich die Texte von Radeks diplomatischen Noten aus dem Jahr 1918 (Krasnyj terror protiv Belovo [Der rote Terror gegen die Weißen] vom 12. September 1918 und die Note an Präsident Wilson vom 25. Oktober 1918), sowie eine Reihe politischer Pamphlete der Jahre 1918–1926. Im Anhang sind ein die UdSSR lobhudelnder Brief des irischen Dramatikers George Bernard Shaw (1856–1950) und ein ebensolcher Brief des britischen Montanindustriellen Leslie A. Urquhart (1874–1933) vom 1. Januar 1925 wiedergegeben. 46 Lutovinov, Jurij Chrisanfovič (1887–1924); russischer Metallarbeiter; bis 1921 im Präsidium der sowjetischen Metallarbeitergewerkschaft; 1920/21 Mitglied der Arbeiteropposition und danach Leiter der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin; beging im Mai 1924 Selbstmord. 47 Serge, Beruf: Revolutionär, S. 219.

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Lutovinov war ein nicht angepasster, unbequemer Arbeiterfunktionär. Auf dem XII. Parteitag im April 1923 kritisierte er Stalin und forderte mehr Freiheit der Meinungsäußerung innerhalb der Partei. Der Generalsekretär erteilte ihm eine Abfuhr. Lutovinovs „wahrer Demokratismus“, so tadelte er, „wird unsere Partei in einen Diskussionsklub von Menschen verwandeln, in dem ewig geschwatzt und nichts entschieden wird […]. Lutovinovs Weg ist nicht unser Weg.“48 Das kam einem politischen Bannstrahl gleich. Im Jahr darauf verübte Lutovinov Selbstmord. Aus Enttäuschung über „das langsame Voranschreiten des sozialistischen Aufbaus“49, wie es offiziell hieß. In Wahrheit wohl nicht nur aus verzweifeltem Protest gegen die schleppende Industrialisierungspolitik des Politbüros, sondern auch wegen der miserablen sozialen Lage der Arbeiterschaft. Radek widmete Lutovinov, mit dem er noch zwei Tage vor seinem Suizid gesprochen hatte, am 10. Mai 1924 einen Gedenkartikel50, der seine politische Übereinstimmung mit dem Toten signalisierte und in den Appell mündete: „Möge der Tod von Jurij Lutovinov für uns Anlaß sein, offener und klarer über die Schwierigkeiten der Fortentwicklung der Revolution zu sprechen. Brüderliches Gedenken an Jurij Lutovinov!“51 Gleichsam als Plädoyer für die von der Opposition geforderte innerparteiliche Diskussionsfreiheit und rasche Industrialisierung, nahm er den Nachruf in seine „Portrety“ auf. Selbstredend eine Kritik an Stalin, den man im Übrigen unter den porträtierten Sowjetführern vergebens sucht. Kaum ein Zufall, sondern eine Botschaft Radeks. Aus China drangen im Verlauf des Jahres 1926 besorgniserregende Nachrichten über antikommunistische Tendenzen und Aktionen Tschang Kai-scheks nach Moskau. In Kanton, wo die Kommunisten die Führung der Kuomintang an sich gerissen hatten, ließ der Nachfolger Sun Jat-sens am 20. März überraschend mehrere kommunistische Führer als Verschwörer hinrichten. Im Mai sorgte er für die Verabschiedung eines Achtpunkteprogramms zur Entfernung der Kommunisten aus Schlüsselstellen in der Kuomintang und entgegen dem Rat seines Komintern-Beraters Borodin, begann er im Sommer den siegreichen Feldzug gegen die Militärmachthaber in Nordchina. Dennoch hielten das mittlerweile von Stalin beherrschte Politbüro und auch die Komintern an der Zusammenarbeit mit der Kuomintang fest. Auch Radek bewegte sich zunächst auf dieser Linie. Eine Woche nach der Aktion Tschiangs gegen die Kommunisten in Kanton, machte er in einem „Pravda“-Artikel seine unveränderte Unterstützung für die Kuomintang deutlich und ignorierte die aktuellen Vorgän48 Stalin, 2. Schlußwort zum organisatorischen Bericht des ZK vom 19. April [1923]; in: Stalin, Werke, Band 5, S. 193. 49 Lutovinov, Jurij Ch.; in: Enzyklopädie Granat , čast’ I, Sp. 346. Dort heißt es wörtlich: „L. konnte sich nicht mit dem langsamen Voranschreiten des sozialistischen Aufbaus abfinden und verübte im Mai 1924 Selbstmord.“ 50 Radek, „Pamjati Jurija Lutovinova [Zum Gedenken an Jurij Lutovinov]”; in: Portrety i pamflety, S. 49–51. 51 Ebenda, S. 51.

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ge.52 Später rechtfertigte er das damit, dass Tschiang die wahre Natur des Coups schlau verborgen habe, indem er gleichzeitig gegen Kommunisten und rechte Elemente vorgegangen sei.53 Gestützt auf Informationen aus dem Kreis der etwa 1.000 chinesischen Studenten an der Sun Jat-sen Universität und vielleicht auch durch Mitteilungen in China tätiger Komintern-Emissäre, wie etwa seines Freundes Heinz Möller, dem Pressechef Tschiangs, verdichteten sich im Sommer 1926 für Radek die Hinweise auf eine bevorstehende Rechtsschwenkung der Kuomintang. In Absprache mit Trockij und Zinov’ev richtete er einen Brief an das Politbüro, in dem er vorsichtig vor der Entwicklung in China warnte.54 Er bat um die Klärung einer Reihe offener Fragen zur China-Politik, da er seine Aufgaben als Rektor der chinesischen Universität in Übereinstimmung mit der Parteilinie auszuüben wünsche.55 Nachdem diese Anfrage unbeantwortet blieb, sandte er zum Beginn des Studienjahres im September dem Politbüro ein weiteres Schreiben, in dem er erneut Klärungsbedarf anmeldete: „Dies sind die Fragestellungen, die einer Antwort bedürfen: 1. Die Errichtung einer Militärdiktatur durch Tschiang Kai-schek nach dem 20. März 1926 und unsere Haltung gegenüber dieser Diktatur. Die Schwierigkeit dieser Frage liegt in der Tatsache begründet, daß Tschiang Kai-schek der Führer der Kuomintang ist und daß [sein Komintern-Berater] Borodin ihn offiziell unterstützt. Unser hiesiges Auftreten gegen Tschiang Kai-schek hätte deshalb sehr große politische Bedeutung. 2. Das Gegenwirken zur [politischen] Arbeit der Kuomintang unter den Bauern. 3. Die Forderung der Kuomintang an die Kommunisten, ihre Kritik an Sun Jat-sen zu widerrufen. 4. Sollte die Kuomintang unter dem Proletariat [politisch] arbeiten? 5. Wie sollten wir die linken Elemente der Kuomintang unterstützen? 52 Radek, Poraženie narodnoj armii v Kitae [Die Niederlage der Volksarmee in China], „Pravda“ Nr. 69 vom 26. März 1926, S. 2. Lerner, S. 138, Anm. 51. 53 Radek, Denkschrift „Izmena kitajskoj krupnoj buržuazii nacional’nomu dviženiju [Der Verrat des chinesischen Großbürgertums an der Nationalbewegung]“, geschrieben nach der Liquidierung der Kommunisten in Schanghai durch Tschiang-Kai-schek im April 1927. The Nicolaevsky Collection; zitiert nach: Lerner, S. 138; im Folgenden zitiert als „Izmena“. Nicht zu belegen ist Louis Fischers Behauptung, Radek habe bereits nach Kanton aufgehört, auf die Kuomintang zu setzen. Fischer, Louis, China – seen from Moscow; in: „Nation“, CXXV, No. 3256, 20. November 1927, S. 613. Zitiert nach Lerner, S. 138. 54 Lerner, S. 139. 55 Vuyovitch, Vuyo [Vujovič, Vujo]: Rede auf der VIII. Tagung des EKKI (18.- 30. Mai 1927 in Moskau); in: Trotsky [Trockij], Problems of the Chinese Revolution, S. 384f. Nicht auszuschließen ist, dass Radek sich rückversichern wollte, weil er möglicherweise wegen einer Vorlesungsreihe über die revolutionäre Bewegung in Westeuropa Ärger bekommen hatte. Es fällt auf, dass 1926 seine Vorlesungen über dieses Thema nur vier Veranstaltungen umfassten: Radek, Karl: Revoljucionnoe dviženie v Zapadnoj Evrope, Lekcija 1–4, Moskva, Un-t. trudjaščichsja Kitaja im. Sun- Jat-Sena, [Die revolutionäre Bewegung in Westeuropa. Vorlesung 1–4, Moskau, Sun Jat-sen-Universität der Werktätigen Chinas], 1926; Vorlesungstexte im Bestand der Russischen Nationalbibliothek St. Petersburg (vormals Saltykov-Ščedrin-Bibliothek).

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6. Die Frage des halbmenschewistischen Tones des Schlußmanifests des Plenums des Exekutivkomitees der [Kommunistischen] Partei Chinas, in dem es heißt: Wir müssen ein Minimum an Klassenkampf durchführen und wenn die Politik der Kommunistischen Partei als bolschewistisch bezeichnet wird, ist sie nicht eine [alleinige] bolschewistische Angelegenheit, sondern ein Bolschewismus im Interesse der gesamten Nation. Ich betrachte es als meine Pflicht, diese Fragen aufzuwerfen und bitte, mich zur Berichterstattung einzubestellen.“56

Die beiden Briefe sind jedoch nicht allein als taktischer Schachzug der Opposition zu bewerten. Radek hatte tatsächlich Probleme, seinen verdutzten chinesischen Studenten die Position Moskaus zur politischen Situation in China zu erläutern. Er belästigte, die Parteiführung mit der Bitte um Anweisungen auch deshalb, weil er für das Studienjahr 1926/27 an der Sun Jat-sen-Universität eine Vorlesungsreihe über die Geschichte der Revolutionsbewegung in China57 sowie die Veröffentlichung einer Sammlung von Artikeln und Materialien zur chinesischen Revolution58 vorbereitete. Abermals wurde er keiner Antwort gewürdigt. Das Politbüro ging weder auf seine Fragen, noch auf die darin zum Ausdruck kommenden Bedenken ein. Es reagierte mit „absolutem Schweigen“.59 Aus dem Kreis seiner Studenten erhielt Radek während des ganzen Herbstes 1926 Nachrichten über die für die Kommunisten besorgniserregende Lageentwicklung in China. Nachdem ihm Informationen aus dem Politbüro und der Komintern nicht mehr zugänglich waren, beschloss er auf eigene Faust vorzugehen. In seiner Verantwortung als Rektor handelnd, entsandte er den an der Hochschule tätigen Komsomol-Funktionär Sergej Dalin60 nach China mit dem Auftrag, dort vor Ort 56 Vuyovitch, a.a.O., S. 385f. 57 Die Russische Nationalbibliothek St. Petersburg (vormals Saltykov-Ščedrin-Bibliothek) verfügt über die Texte der 17 Vorlesungen: Radek, Karl, Istorija revoljucionnogo dviženija v Kitae. Kurs 1926–27 g. Lekcija 1–17, Moskva, Un-t. trudjaščichsja Kitaja im. Sun-Jat-Sena, 1927 [Geschichte der revolutionären Bewegung in China. Studienjahr 1926–27. Vorlesung 1–17, Moskau, Sun Jatsen-Universität der Werktätigen Chinas, 1927. Lerner (S. 214) verweist auf die Übersetzung der Vorlesungstexte in die chinesische Sprache durch Radeks Studenten, die vermutlich identisch ist mit der Publikation: La-te-k’o [Radek], Chung-kuo ko-ming yün-tung shih [Eine Geschichte der chinesischen revolutionären Bewegung], o.O. 1929. 58 Radek, Voprosy kitajskoj revoljucii (Sbornik statej i materialov) [Fragen der chinesischen Revolution (Sammlung von Artikeln und Materialien)], Moskva/Leningrad 1927. 59 Vuyovitch, a.a.O., S. 386 und Deutscher, Trotzki, S. 310. 60 Dalin, Sergej Alekseevič; Komsomol-Funktionär; China-Experte; Mitarbeiter im Fernöstlichen Sekretariat der Komintern und in der Ostabteilung der Kommunistischen Jugendinternationale; bis Ende 1927 Lehrtätigkeit an der Sun-Jat-sen-Universität, Moskau; 1922, 1924 und 1926/27 zur politischen Arbeit als Jugendfunktionär nach China abkommandiert. Publizierte über China, die Mongolei, Korea und wirtschaftspolitische Themen. Im Zusammenhang mit China sind drei seiner Arbeiten von Interesse: V rjadach kitajskoj revoljucii, s predisl. Karla Radeka [In den Reihen der chinesischen Revolution, mit einem Vorwort von Karl Radek], Moskva 1926; Očerk revoljucii

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die Lage zu sondieren.61 Als das Zentralkomitee von Radeks Aktion erfuhr, erhielt er zwar eine Rüge, aber da Dalin bereits abgereist war, wurde nichts weiter unternommen. Anfang 1927 kam Dalin aus China zurück und schilderte Radek den desolaten Zustand der chinesischen Kommunistischen Partei. Er berichtete ausführlich über die Verfolgung ihrer Mitglieder, die Auflösung linker Arbeiter- und Bauernorganisationen und den sich nach rechts wendenden politischen Kurs der Kuomintang. Radek war alarmiert und zugleich schockiert, als er beim Abgleich der Daten der ihm von Dalin aus China übersandten Briefe feststellen musste, dass sie alle der Postkontrolle durch die OGPU unterzogen und in mindestens einem Fall konfisziert worden waren. Dennoch übte er in Angelegenheiten der China-Politik zunächst weiterhin Parteidisziplin und äußerte keine offene Kritik. Parteiintern griff er allerdings im Januar 1927 die wichtigsten Fragen zur chinesischen Revolution in seinen Vorlesungen an der Moskauer Sverdlov-Universität62 wieder auf.63 In einem im Februar verfassten Artikel äußerte er erstmals seine Unzufriedenheit mit dem erkennbar werdenden Rechtstrend Tschiangs. Er tadelte die Kuomintang milde dafür, dass sie in den von ihr kontrollierten Gebieten nicht mit gesellschaftlichen Reformen beginne und warnte, es sei ein Versäumnis, nicht sofort ein radikales Programm zur Ausrottung sozialer Missstände in Angriff zu nehmen. Er erinnerte Tschiang Kai-scheks Nationalrevolutionäre nachdrücklich an ihre Abhängigkeit von den chinesischen Kommunisten, indem er die wichtige Rolle der kommunistischen Propaganda im siegreichen Nordfeldzug hervorhob und betonte, der kommunistische Bündnispartner sichere der Kuomintang die für sie unerlässliche Unterstützung durch die Arbeiter und Bauern.64 Vor allem aufgrund der von Dalin erhaltenen Informationen gelangte Radek zu der Überzeugung, dass die Vereinte Opposition in ihrem Kampf mit der stalinistischen Parteiführung China zu einem zentralen Thema machen sollte.65 Anfang März brachte er in einem Brief an Trockij seine ernsthafte Besorgnis über den gefährlichen Rechtsruck der Kuomintang in China zum Ausdruck. Die militärischen Erfolge Tschiangs würden die Massen blenden und über den wahren Charakter seiner Politik täuschen. Er schlug vor, die chinesischen Kommunisten sollten mit radikalen Losungen und einem klaren Programm zur Enteignung der Bourgeoisie dagegenhalten.66 In seinem Antwortschreiben äußerte sich Trockij zwar ebenfalls besorgt über v Kitae [Abriss über die Revolution in China], Moskva 1928; Kitajskie Memuary [Chinesische Erinnerungen] 1921–1926, Moskva 1975. 61 Soweit nicht anders vermerkt, folgen die nachstehenden Ausführungen zur Mission Dalin der auf Radeks „Izmena“ (S. 31ff.) gestützten Darstellung durch Lerner, S. 141f. 62 Die Sverdlov-Universität war die Parteihochschule, in der die VKP(b) ihre intellektuelle Elite schulte. 63 Vuyovitch, a.a.O., S. 386. 64 Radek, Novyj ėtap kitajskoj revoljucii [Die neue Etappe der chinesischen Revolution], in: „Novyj Mir [Neue Welt]“, Nr. 3, März 1927, S. 157–159. Lerner, S. 141. 65 Lerner, S. 142. 66 Brief Radeks an Trockij vom 3. März 1927. Lerner, S. 142 und Tuck, S. 92.

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die Lageentwicklung, zog aber Radeks Behauptung in Zweifel, dass die chinesischen Massen zu langsam auf die reaktionäre Politik der Kuomintang reagieren würden. Das hieße, das Ausmaß der öffentlichen Unterstützung für Tschiang überzubewerten, schrieb er. Seiner Ansicht nach, würde die weitere Zusammenarbeit der Kommunisten mit der Kuomintang aber zur „Menschewisierung“ der KPCh führen.67 Es war jedoch nicht die Sozialdemokratisierung der chinesischen Partei, die Radek befürchtete, sondern ihre Vernichtung durch Tschiang Kai-schek. Als Alternative zur Politik Stalins und der Komintern, die entschlossen waren, auf Gedeih und Verderb am Bündnis mit Tschiang festhalten, entwarf Radek ein Konzept, das vorsah mit Tschiang zu brechen und die innerhalb der Kuomintang offenbar werdenden Spaltungstendenzen zugunsten der Kommunisten ausnutzen. Während Tschiang Kaischek sich anschickte, Schanghai zu erobern und in Nanjing die Bildung einer Nationalregierung des von ihm beherrschten rechten Kuomintang-Flügels bevorstand, hatte sich Hankou (heute Teil der Metropole Wuhan) zum Machtzentrum der mit der KPCh paktierenden Kuomintang-Linken entwickelt. Hier etablierte sich eine Revolutionsregierung aus Kuomintang-Linken und Kommunisten, die als Gegenregierung zu Nanjing agierte, jedoch Episode blieb. Am 18. März gab Radek seine bisherige Zurückhaltung auf und stellte sein China-Konzept in einer Rede in der Kommunistischen Akademie zur Diskussion. Seine Zuhörer, die er später als ein „furchteinflößendes Aufgebot von Komintern-Spezialisten und OGPU-Vertretern“ charakterisierte68, konfrontierte er mit der These, dass der Verrat Moskaus und der KPCh durch Tschiang Kai-schek lediglich eine Frage von Wochen, wenn nicht Tagen sei.69 Zwar seien die chinesischen Kommunisten noch immer zu schwach, um auf sich allein gestellt die Macht zu übernehmen. Aber im Bündnis mit dem linken Flügel der Kuomintang könnten sie die Oberhand gewinnen: „Das endgültige Schicksal der chinesischen Revolution wird in Hankau [Wuhan] und nicht in Schanghai entschieden. Für das Fortschreiten der Revolution sind nicht die sofortigen militärische Erfolge entscheidend, sondern der Ausgang des Klassenkampfes innerhalb der nationalrevolutionären Bewegung. Tschiang Kai-scheks Generale erschießen fast überall die Arbeiter und Bauern und machen für den Entscheidungskampf mobil. Die Kuomintang-Linke und die Kommunistische Partei müssen den Mut aufbringen und die erforderlichen Kräfte sammeln, um den rechten Flügel [der Kuomintang] zu verjagen und die Führung der Bewegung zu übernehmen. Um das zu erreichen, müssen die Arbeiter und Bauern sofort bewaffnet, Arbeiter- und Bauern-Abteilungen in der Armee gebildet, die Agrarrevolution durchgeführt, durch Erfüllung der Forderungen der Arbeiter die soziale Frage gelöst werden; vor allem muß die organisatorische Unabhängigkeit der Kommunistischen Partei hergestellt werden, denn diese Unabhängigkeit existiert in

67 Trockij, „Pis’mo Radeku [Brief an Radek], 4. März 1927. Lerner, ebenda und Tuck, ebenda. 68 Radek, „Izmena“, S. 32 f. Lerner, S. 142. 69 Degras, The Communist International, Volume 2, S. 439.

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Wirklichkeit nicht und wir müssen in der nationalrevolutionären Bewegung um einheitliche Geschlossenheit kämpfen.“70

Trockij, der bislang geschwiegen hatte, griff am 31. März 1927 erstmals die chinesische Politik des Politbüros an. Er verurteilte die Strategie Stalins und Bucharins, die aus Rücksicht auf das Bündnis mit der bourgeoisen Kuomintang der KPCh auferlegt hatten, auf die Durchsetzung kommunistischer revolutionärer Ziele zu verzichten. Vom Schema der permanenten Revolution ausgehend und in Analogie zur russischen Revolution vertrat er die These, in China müsse die bürgerliche Phase der Revolution entweder mit dem Aufstand der Arbeiterklasse verschmelzen und in eine proletarische Diktatur münden oder aber scheitern. Radek und andere Oppositionsführer waren von Trockijs Vorstoß völlig überrascht. Sie glaubten nicht, dass in einem Land, das gesellschaftlich noch rückständiger war als Russland, eine proletarische Diktatur errichtet und die Kommunisten die Macht ergreifen könnten. Alle waren sich jedoch einig darüber, dass – wie Trockij es formulierte – „der Kopf des chinesischen Proletariats auf dem Spiel“ stand und die Konfrontation mit der StalinBucharin-Gruppe in der Partei gesucht werden sollte.71 Endlich begann Trockij auch Radeks Befürchtungen zu teilen. Am 5. April, schrieb er, Tschiang Kai-schek bereite einen quasi bonapartistischen oder faschistischen Putsch vor, der nur durch die Bildung von Arbeitersowjets noch verhindert werden könnte.72 Offenbar war man über die aktuellen Vorgänge in China wohlinformiert. Victor Serge, der wie Radek der „internationalen Kommission“ des Moskauer Oppositionszentrums angehörte, schreibt, er selbst sei durch Genossen, die aus China zurückkehrten und durch die Dokumente Radeks über die Absichten Tschiang Kai-scheks „gut unterrichtet“ gewesen: „Wir verfolgten Tag für Tag die Vorbereitung des militärischen Handstreichs [Tschiangs], der unvermeidlich zum Blutbad in den Reihen der Proletarier Schanghais führen mußte. Sinowjew, Trotzki, Radek forderten vom Zentralkomitee die sofortige Änderung der Politik […]. Aber das Politbüro forderte die Unterordnung der kommunistischen Partei [Chinas] unter die Kuomintang.“73

Der Komintern-Vorsitzende Bucharin wischte die Warnungen der Opposition beiseite und bezeichnete Radeks Kassandrarufe als „Panikmache“. Stalin tat sich besonders hervor. Am 6. April, wenige Tage bevor sich die düsteren Prognosen der Opposition bewahrheiteten und Tschiang Kai-schek zum Schlag gegen die Kommunisten in Schanghai ausholte, hielt der Generalsekretär der Partei vor dem Moskauer Parteiaktiv eine Rede im Bol’šoj Theater. Er reagierte auf Radeks Kritik in der Kom70 71 72 73

Vuyovitch, a.a.O., S. 386f. Deutscher, Trotzki II, S. 316–318. Ebenda, S. 319. Serge, Beruf: Revolutionär, S. 243f.

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munistischen Akademie, von der übrigens nur wenige Parteikader, Kominternfunktionäre und chinesische Studenten Kenntnis hatten, indem er seinen Widersacher als ignoranten Revoluzzer herabsetzte: „Die chinesische Revolution unterscheidet sich von der russischen Revolution 1905 durch die Tatsache, daß sie hauptsächlich antiimperialistisch ist. Der wesentliche Irrtum von Genosse Radek besteht darin, nicht zu begreifen, daß die Revolution in China nicht so schnell vonstatten gehen kann, wie er es sich wünscht. Er ist ungeduldig; er hätte es gerne, daß die Ereignisse sich schnell entwickeln; er versteht nicht, daß die Russische Revolution von 1917 viele Schwierigkeiten zu überwinden hatte, obwohl die Imperialisten zu dieser Zeit in zwei Lager gespalten waren, die sich bekämpften; die chinesische Revolution wird noch größere Schwierigkeiten haben, denn die Imperialisten bilden in China eine vereinte Front. Deshalb wird das Entwicklungstempo [der Revolution] langsamer sein. Radek tritt hier mit sehr revolutionären Parolen auf: Brecht mit der KuomintangRechten, verjagt die Rechte – noch einige solcher r-r-revolutionären Parolen und die chinesische Revolution ist verloren. Aus der falschen Einschätzung der internationalen Lage, der chinesischen Revolution und ihres Entwicklungstempos, resultieren all die anderen Fehler Radeks. Die Kuomintang ist ein Block, eine Art von revolutionärem Parlament mit Rechten, Linken und Kommunisten. Warum einen Coup d’État veranstalten? Weshalb die Rechten wegjagen, nachdem wir die Mehrheit haben und die Rechten auf uns hören? Der Bauer benutzt eine alte verbrauchte Schindmähre so lange er sie brauchen kann. Er jagt sie nicht weg. Genauso machen wir es. Erst wenn die Rechte uns nicht mehr von Nutzen ist, werden wir sie wegjagen. Gegenwärtig brauchen wir die Rechte. Sie verfügt über fähige Leute, die immer noch die Armee kommandieren und gegen die Imperialisten führen. Tschiang Kai-schek hat vielleicht keine Sympathien für die Revolution, aber er führt die Armee und kann nichts anderes tun, als sie gegen die Imperialisten einzusetzen. Darüberhinaus verfügen die Leute von der Rechten über Beziehungen zu den Generälen von Tschang Tso-lin74 und verstehen es sehr gut, sie zu demoralisieren und ohne einen einzigen Schlag zu führen, zum Überlaufen mit Sack und Pack auf die Seite der Revolution anzustiften. Auch stehen sie in Verbindung mit reichen Kaufleuten, bei denen sie Geld auftreiben. So müssen sie bis zum Ende ausgenutzt, wie eine Zitrone ausgepreßt und dann weggeworfen werden.“75

Die Blindheit Stalins, der – wie ein Oppositioneller sarkastisch anmerkte – zu denjenigen gehörte, die alles vorhersahen und deren Vorhersagen stets durch die Tatsachen bestätigt wurden76, mussten viele chinesische Kommunisten mit dem Leben 74 Tschang Tso-lin, auch Zhang Zuolin (1873–1928); Militärmachthaber, der in der Mandschurei und in Nordchina herrschte; im Bürgerkrieg der wichtigste Gegner Tschiang Kai-scheks; zuletzt als selbsternannter Großmarschall von China international als Staatschef der Republik China anerkannt; 1928 durch einen Bombenanschlag ums Leben gekommen. 75 Vuyovitch, a.a.O., S. 389f. 76 Ebenda, S. 387.

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bezahlen. Knapp eine Woche nach seiner Rede, deren Veröffentlichung übrigens unterblieb, ergriff die „ausgepreßte Zitrone“ die Macht. Am 12. April marschierte Tschiang Kai-schek in Schanghai ein. Die Kommunisten, die kurz zuvor durch einen Aufstand die Stadt in ihren Besitz gebracht hatten, mussten sie auf Befehl der Komintern an Tschiang übergeben. Der aber verbündete sich mit dem dortigen Großbürgertum und ließ mit Maschinengewehren und Säbeln die Vorstädte „säubern“, wobei mindestens 300 Kommunisten umkamen.77 Anstatt der zutreffenden Lagebeurteilung Radeks nachträglich Anerkennung zu zollen, waren Stalin und Bucharin bemüht, die Ereignisse zu bagatellisieren. Stalin warf Radek und der Opposition erneut vor, den antiimperialistischen Charakter der Kuomintang zu verkennen und machte im Übrigen viel Wesens von angeblicher imperialistischer Kriegsgefahr für die Sowjetunion: „Der Hauptfehler der Opposition (Radek und Co.) besteht darin, daß sie den Charakter der Revolution in China nicht begreift, daß sie nicht begreift, welche Etappe diese Revolution jetzt durchmacht, daß sie nicht begreift, welches die heutige internationale Situation ist, in der sie sich entwickelt.“78 Nachdem man Radek die Möglichkeit genommen hatte, sich in der Sowjetpresse zu äußern und er sich nicht mehr öffentlich artikulieren konnte, legte er seine Auffassung zu den Problemen der chinesischen Revolution und zur Katastrophe von Schanghai in der Denkschrift „Der Verrat des chinesischen Großbürgertums an der Nationalbewegung“79, nieder, die er unter den Führern der Opposition zirkulieren ließ. Darin warf er der Führung der Komintern eine falsche Strategie in China vor. Der grundsätzliche Fehler sei, dass man den Charakter der chinesischen Revolution und die Klassengegensätze im Lande falsch einschätze. Man verkenne sie als eine bürgerlich-demokratische Revolution, die auf die Zerstörung der gesellschaftlichen Feudalstrukturen unter gleichzeitiger Befreiung vom ausländischen Imperialismus ausgerichtet sei. Zwar existierten noch immer beachtliche feudalistische Restelemente, aber es sei unrichtig, dass der Feudalismus die dominierende Gesellschaftsform im Lande darstelle. Die chinesische Revolution sei nicht nur ein nationaler Befreiungskampf, sondern eine Klassenauseinandersetzung von Bauern und Arbeitern gegen ihre Ausbeuter. Die von ihm kritisierte Haltung der Komintern, so fuhr er fort, könne also mitnichten als eine bolschewistische Position verstanden werden, sondern sie wiederhole im Kern die fatale Einschätzung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Russland durch die Men’ševiki im Jahre 1917. Indem er dieser Spur folgte, gelangte Radek zu der Feststellung, dass die für die Konzipierung 77 Jung Chang, S. 67. Andere Autoren, wie beispielsweise Isaac Deutscher (Trotzki II, S. 315), nennen „Zehntausende“ von Opfern. 78 Stalin, Fragen der chinesischen Revolution. Thesen für Propagandisten, gebilligt vom ZK der KPdSU(B), in: „Pravda“ Nr. 90 vom 21. April 192. Stalin, Werke, Band 9, S. 197. 79 Radek, „Izmena kitajskoj krupnoj buržuazii nacional’nomu dviženiju [Der Verrat des chinesischen Großbürgertums an der Nationalbewegung]“; siehe vorhergehende Anm. 53. Die nachstehenden Ausführungen folgen – soweit nicht anders vermerkt – der Darstellung von Lerner (S. 143–146), die sich auf Radeks „Izmena“ (S. 42–57) stützt.

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der Komintern-Politik gegenüber China zuständigen „Experten“ Martynov80 und Rafes81 ehemalige Mitglieder der menschewistischen Partei waren. Martynov hatte zwanzig Jahre lang zum äußersten rechten Flügel der russischen Sozialdemokraten gehört und war erst einige Jahre nach dem Bürgerkrieg in die RKP(b) eingetreten; jetzt war er eine „führende Leuchte“ in der Komintern und hatte noch am Vorabend des Massakers von Schanghai eine Verherrlichung der Kuomintang in der „Pravda“ veröffentlicht.82 Rafes gehörte ursprünglich dem jüdischen „Bund“ an und war über die russische Sozialdemokratie 1919 zur RKP(b) gestoßen. Radek zog daraus den Schluss, dass beide im Herzen Men’ševiki geblieben wären und sich den Bol’ševiki nur angeschlossen hätten, um der Komintern die menschewistische Politik überstülpen zu können. Das eigentliche Ziel der Angriffe Radeks bildete jedoch Bucharin, der als Präsident des EKKI seit Oktober 1926 für die Politik der Komintern in China verantwortlich war. Bucharin habe wegen der wachsenden revolutionären Stimmung der chinesischen Arbeiter und Bauern die Nerven verloren und sei in ideologischer Verwirrtheit unter den Einfluss seines „Experten“ Martynov geraten – des „Johannes des Täufers des Menschewismus“. Das von Bucharin präsentierte „neue Konzept“ für den Kampf in China, das die Bekämpfung des Feudalismus und nicht des Kapitalismus zum Inhalt habe, offenbare, dass er die wirklich gebotene Auseinandersetzung scheue, nämlich den Kampf gegen den von den ausländischen Imperialisten unterstützten Kapitalismus in China. Radek warf Bucharin des Weiteren vor, er habe die Warnsignale ignoriert, mit denen sich Tschiang Kai-scheks Verrat angekündigt habe. Aber auch nach dem vernichtenden Schlag vom 12. April in Schanghai sei nicht alles verloren, schrieb er und wiederholte seine bereits im März in der Kommunistischen Akademie vorgetragenen Empfehlungen: Noch könne die chinesische Revolution gerettet werden. Es sei für die Komintern nicht zu spät, die linke Kuomintang-Regierung von Hankou in ihrem Kampf gegen die Kuomintang-Rechte zu unterstützen. Zugleich sollte zu revolutionärem Handeln ermutigt werden, insbesondere zur Bildung von Sowjets. Die KPCh müsse diese Sowjets auf jeden Fall in Zusammenarbeit mit den Kuomintang-Linken gründen, da diese über eine breitere Machtbasis verfügten. Von Stalin geäußerte Bedenken, dass die Chinesen ein solches Vorgehen als „Sowjetisierung durch Moskau“ auffassen könnten, tat Radek als Wortklauberei ab. Es sei essentiell, dass Sowjets auf lokaler Ebene ins Leben gerufen würden, um den reaktionären Kräften die Macht abzunehmen. Nur so könnten die Kommunisten die örtliche Kontrolle erlangen und erst 80 Martynov, Aleksandr Samojlovič (1865–1935); ursprünglich Men’ševik; 1923 Eintritt in die RKP(b); Mitarbeiter des Marx-Engels-Instituts in Moskau; seit 1924 Redakteur der Zeitschrift „Kommunističeskij Internacional [Die Kommunistische Internationale]“. 81 Rafes, Moisej Grigor’evič (1883–1942); aus der Ukraine stammender Parteifunktionär, Historiker und Publizist; ursprünglich im jüdischen „Bund“ aktiv, später Sozialdemokrat; 1919 Eintritt in die RKP(b); Mitarbeiter der europäischen Sektion des ZK; dann im „Fernöstlichen Büro“ [= Fernöstliches Sekretariat] des EKKI tätig; 1926–27 Einsatz in China, anschließend Tätigkeit in der internationalen Abteilung von TASS. 82 Deutscher, Trotzki II, S. 320.

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dann würde die Regierung in Hankou als Revolutionsregime handlungsfähig werden. Auch wenn Radek dies in seinen Ausführungen explizit abstritt, befand er sich mit dem Vorschlag, auf die Zusammenarbeit mit der Kuomintang-Linken zu setzen, im Widerspruch zu Trockij, der für den vollständigen Rückzug der chinesischen Kommunisten aus der Kuomintang plädierte.83 Trockij hat Radek die positive Einstellung zur Kuomintang übel vermerkt und sie ihm nach drei Jahren aus dem Exil heraus als einen „Schandfleck“ vorgehalten, wobei er Smilga in seine Kritik einbezog: „Radek und Smilga haben die Unterwerfung der chinesischen kommunistischen Partei unter die bürgerliche Kuomintang hartnäckig vertreten, und zwar nicht nur bis zum Staatsstreich Tschiangkaischeks, sondern auch danach […]. Fünfundsiebzig Jahre nach Erscheinen des Kommunistischen Manifests, ein Vierteljahrhundert nach der Gründung der Partei der Bolschewiki, haben diese unglückseligen ,Marxisten‘ es für möglich gehalten, das Verbleiben der Kommunisten im Käfig der Kuomintang zu verteidigen! In seiner Antwort auf meine Anklagen hat Radek schon damals […] mit der Isolierung des Proletariats von der Bauernschaft geschreckt, falls die Kommunistische Partei aus der bürgerlichen Kuomintang austreten würde. Kurz vorher nannte Radek die Kantoner Regierung eine Bauern- und Arbeiterregierung, und half damit Stalin, die Unterwerfung des Proletariats unter die Bourgeoisie zu verschleiern.“84

Stalin betrachtete Radek jedoch keineswegs als seinen Helfer. Einen Monat nach dem Desaster von Schanghai erschien er am 13. Mai 1927 zu einer „Besprechung“ mit den chinesischen Studenten in der Sun Jat-sen-Universität. Der Generalsekretär beantwortete zehn angeblich von den Teilnehmern vorformulierte Fragen, die in Wahrheit Aufhänger waren, um Radeks Denkschrift zu zerpflücken und mit ihm abzurechnen. Seine Stellungnahme zur ersten Frage machte das bereits deutlich: „Erste Frage. ,Warum ist Radeks Behauptung, daß der Kampf der Bauernschaft im chinesischen Dorf nicht so sehr gegen die Überreste des Feudalismus als vielmehr gegen die Bourgeoisie gerichtet sei, falsch? Kann man behaupten, daß in China der Handelskapitalismus herrscht, oder herrschen dort die Überreste des Feudalismus? [...].‘ Radek behauptet tatsächlich etwas Derartiges, wie es in dieser Frage zum Ausdruck gebracht wird. Soweit ich mich erinnere, hat Radek in seinen Ausführungen vor dem Aktiv der Moskauer Organisation das Vorhandensein von Überresten des Feudalismus entweder überhaupt verneint, oder er hat die ernste Bedeutung der Überreste des Feudalismus im chinesischen Dorf nicht anerkannt. Das ist natürlich ein großer Fehler Radeks [...].

83 Radek, „Izmena“, S. 52–57. Lerner, S. 145f. 84 Trotzki, Die permanente Revolution, S. 145f.

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Radeks Fehler besteht darin, daß er diese Eigenart, diese Verflechtung der Herrschaft der feudalen Überreste mit dem Bestehen des Kaufmannskapitals im chinesischen Dorf unter Beibehaltung der mittelalterlich-feudalen Methoden der Ausbeutung und Unterdrückung der Bauernschaft nicht verstanden hat [...].“85

Schon mit der Beantwortung der zweiten Frage, qualifizierte Stalin dann den Rektor der Hochschule für die Werktätigen Chinas vollends ab: „Zweite Frage. ,Inwiefern hat Radek unrecht, wenn er behauptet, daß, da die Marxisten eine Partei mehrerer Klassen nicht anerkennen, die Kuomintang eine kleinbürgerliche Partei sei?‘ [...] Es wäre grundfalsch zu sagen, daß die Kuomintang in Wuhan eine kleinbürgerliche Partei sei, und es dabei bewenden zu lassen. So kann die Kuomintang nur jemand charakterisieren, der weder etwas vom Imperialismus in China noch vom Charakter der chinesischen Revolution begriffen hat [...]. Radeks Fehler – und der Fehler der Opposition überhaupt – besteht darin, daß er die halbkoloniale Stellung Chinas ignoriert, den antiimperialistischen Charakter der chinesischen Revolution nicht sieht und nicht bemerkt, daß die Kuomintang in Wuhan, die Kuomintang ohne rechte Kuomintangleute, das Zentrum des Kampfes der chinesischen werktätigen Massen gegen den Imperialismus ist.“86

Stalin rügte aber nicht nur, dass Radek die Natur der chinesischen Agrargesellschaft und den antiimperialistischen Charakter der chinesischen Revolution nicht begriffen habe. Er lehnte es auch als verfrüht ab, in China nach dem Vorbild der bolschewistischen Revolution Sowjets ins Leben zu rufen. Für einen solchen Schritt sei die Zeit noch nicht reif und überdies würde die Konstituierung von Räten auf dem Höhepunkt einer bürgerlichen Revolution der Regierung in Hankou nur schaden. Wenige Tage nach Stalins Auftritt in der Studentenversammlung verlor Radek sein Amt als Rektor. Nachfolger wurde sein bisheriger Polit-Stellvertreter, der Stalinist Pavel Mif. Am 21. Mai 1927 berichtete Paul Scheffer aus Moskau: „Karl Radek ist nicht mehr Rektor der Sunjatsen-Universität, der er war seit ihrer Gründung vor zwei Jahren und die er entwickelt und betreut hat. Diese Enthebung ist ein interessantes Faktum, und dies umso mehr, als es bisher nicht veröffentlicht worden ist. Darin äußert sich die ganze Kompliziertheit der Lage […]. Radek ist gestürzt worden – es ist ein Sturz – nach dem Redekampf über die Taktik, die in Sachen chinesischer Revolution zu befolgen sei. Er fand in der kommunistischen Akademie statt und setzte sich im Moskauer ,Aktiv‘ der Parteiarbeiter fort. Stalin, Bucharin waren Radeks Gegner [...]. 85 „Eine Besprechung mit den Studenten der Sun-Yat-sen-Universität, 13. Mai 1927; in: Stalin, Die Revolution in China und die Fehler der Opposition, Moskau/Leningrad, 1927; zitiert nach: Stalin, Werke, Band 9, S. 207f. 86 Ebenda; zitiert nach: Stalin, Werke, Band 9, S. 211f.

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Bucharin [behauptete] [...] Radek wolle in China die große russische Revolution von 1917 wiederholen, die Massen auf die Straße bringen und den Bauer vom Felde, und mit einer solchen revolutionären Massenbewegung die Probleme der chinesischen Befreiung und Neuordnung lösen. Dafür sei es zu früh. Man müsse die bürgerlichen revolutionären Elemente mit einbeziehen, in einer Front mit ihnen arbeiten. Also eine nationale und noch nicht soziale Revolution.“87

Und dann teilte Paul Scheffer seine Beobachtung mit, dass sich „nun in Moskau etwas sehr Merkwürdiges, in sich Widersprechendes“ begäbe. „Anschwellend zeigten sich Symptome, ja Beweise, daß die Regierung den Standpunkt der Opposition übernehme.“88 In der Tat waren Stalin und Bucharin nunmehr auf Linkskurs gegangen, denn trotz aller Beschönigungsversuche, bedeutete der Bruch Tschiang Kai-scheks mit Moskau den Übergang von der Revolution zur Konterrevolution in China. Sie wiesen jetzt die chinesischen Kommunisten an, sich eng an die linke Kuomintang in Hankou [Wuhan] anzuschließen. Damit übernahmen sie das Element aus Radeks Konzept, das Trockij nicht billigte, wie er am 24. Mai vor dem EKKI nochmals klarstellte: „Stalin übernimmt die Verantwortung für die Politik der Kuomintang und die WuhanRegierung, was nach seinem Wunsch auch die Internationale tun soll – wie er wiederholt die Verantwortung für die Politik [...] Tschiang Kai-scheks übernommen hat. Wir haben damit nichts zu schaffen [...]. Wir sagen den chinesischen Bauern ohne Umschweife: Die Führer der linken Kuomintang [...] werden Euch unvermeidlicherweise verraten, wenn ihr ihnen folgt [...] anstatt, daß ihr Eure eigenen unabhängigen Sowjets errichtet [...]. Sie werden sich zehnmal mit Tschiang Kai-schek gegen die Arbeiter und Bauern vereinen.“89

Noch während Trockij Stalin warnte, begannen sich seine Prophezeiungen in China zu erfüllen. Die Hankou-Regierung ging daran, die Gewerkschaften zu unterdrücken, Bauernrevolten mit Soldaten niederzuschlagen und Kommunisten zu verfolgen. Meldungen über diese Rückschläge wurden von Bucharin vier Wochen lang in der Sowjetpresse unterdrückt und der Öffentlichkeit verheimlicht. Vor diesem Hintergrund begruben die Oppositionellen ihre internen Streitigkeiten über China. Auch Radek erklärte sich nun mit der Forderung Trockijs einverstanden, dass die Kommunisten die linke Kuomintang verlassen und mit der sofortigen Bildung von Sowjets einen selbständigen Kurs in Richtung Revolution aufnehmen sollten.90 Das 87 Scheffer, Sieben Jahre Sowjetunion, S. 360f. 88 Ebenda, S. 362. 89 Rede Trockijs am 24. Mai 1927 vor dem EKKI. Ders., Problems of the Chinese Revolution, S. 102ff. 90 Evdokimov, Zinov’ev, Radek, Safarov, Trockij, Novyj ėtap kitajskoj revoljucii: ot Čan-Kai-Ši do Van-Čin-Veju [Die neue Etappe der chinesischen Revolution: Von Tschiang Kai-schek zu Wang Tsching-wei], 2. Juli 1927; The Trotsky Archive, Houghton Library, Harvard University (Micro-

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wurde allerdings sehr schnell „witzlos“, als sich die Ereignisse überstürzten und im Juli die linke Kuomintang mit den Kommunisten endgültig brach, die Sowjetberater auswies und sich Tschiang Kai-schek unterwarf. Stalin blieb jetzt nichts anderes übrig, als die chinesischen Kommunisten anzuweisen, ihrerseits mit der Kuomintang zu brechen und er begann eine seiner großen Kehrtwendungen vorzubereiten. Mit einem neuen ultralinken Kurs trieb er die chinesischen Kommunisten gegen Jahresende in den nutzlosen und blutigen Aufstand von Kanton.91 Seit der Ablösung als Rektor der Sun Jat-sen-Universität war Radek von den aktuellen Informationen aus dem Kreis seiner Studenten über die chinesische Revolution abgeschnitten. Seine Rolle als Nachrichtenlieferant und Chinaexperte der Opposition war beendet. Dazu hatte man ihn als Oppositionellen mundtot gemacht. Ihm wurden alle legalen Möglichkeiten versperrt zu publizieren und sich öffentlich oder auch vor Partei-Institutionen zu äußern. In dieser misslichen Situation dachte er jedoch keineswegs daran, aufzugeben. Er begann mit seiner Schreibmaschine vertrauliche Memoranden zu verfassen, die er auf Durchschlagpapier getippt, unter Oppositionellen in Umlauf brachte.92 Im Sommer 1927 kreisten seine Erörterungen um das von Trockij in die politische Diskussion eingebrachte Thema eines Sowjet-Thermidors.93 Ursprünglicher Auslöser der Debatte waren Wortmeldungen am äußersten linken Rand der Opposition. Sie kritisierten das Versagen ihrer Führer, nennenswerte Teile der Partei gegen das Zentralkomitee zu mobilisieren. Sie äußerten, unter Stalins und Bucharins Einfluss sei die VKP(b) ideologisch hoffnungslos versteinert und nicht mehr fähig, unabhängige Ideen aufzunehmen. Deshalb müsse sich die Opposition als eigene Partei konstituieren – ein Gedanke, der schon Anfang der 1920er Jahre in der Arbeiteropposition aufgetaucht war. Jetzt argumentierten die Befürworter einer Abspaltung, die Partei befände sich bereits in einer postthermidorischen Phase und hätte die Revolution verraten. Wie Trockij bezeugt, neigte Radek zeitweilig dieser Auffassung zu94. Für Trockij und die anderen Oppositionsführer war der „Sowjet-Thermidor“ aber noch keine vollzogene Tatsache, sondern lediglich eine mögliche Gefahr, die abgewendet werden musste.95 Seine Sicht der Dinge brachte Radek unter dem Titel „Die thermidorische Gefahr und die Opposition“ zu Papier. Sollte es in Russland zu einem Thermidor kommen, so betonte er, sei es die Pflicht der Opposition die Führung der Massen zu übernehmen, um dadurch „den inter-

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fiche); eine Bleistiftnotiz Trockijs auf der ersten Seite identifiziert Zinov’ev als Verfasser des Dokuments. Zitiert nach Lerner, S. 147. Wang Tsching-wei war der Führer der Regierung der Kuomintang-Linken in Hankou (Wuhan). Deutscher,Trotzki II, S. 324f. Lerner, S. 147. Siehe oben, Anm. 8. Trotzki, Écrits 1928–1940, Band I, Paris 1955, S. 160ff. Deutscher, Trotzki II, S. 283. Deutscher, Trotzki II, S. 283. Trockij verstand unter dem Begriff „Sowjet-Thermidor“ einen „Ruck nach rechts“ in der Partei, der in der Vernichtung des Bolschewismus und der Wiederherstellung des Kapitalismus enden könnte. Demgegenüber sahen linksradikale Bol’ševiki bereits in Stalins Parteibürokraten eine neu entstandene Klasse, die die proletarische Diktatur zerstöre.

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nationalen Charakter unserer Revolution“ zu retten. Gleichzeitig richtete er eine indirekte Drohung an Stalin: „Wer auch immer den internationalen Charakter unserer Revolution schwächt, derjenige ruft auch eine thermidorische Reaktion hervor. Die UdSSR konnte sich nur dank der internationalen Krise des Kapitalismus entwickeln, die durch den Imperialismus und den imperialistischen Krieg entstanden ist. Wir können nur fortfahren, den Sozialismus aufzubauen, wenn es im Westen eine proletarische Revolution gibt. Bis dahin ist es unser vorrangiges Ziel, die Diktatur des Proletariats zu schützen.“96

In einer aus Anlass des August-Plenums des CK verfassten Denkschrift, sprach er das Thema der Parteispaltung an. Nachdem Trockij und die anderen Oppositionsführer auf der CK-Sitzung gedemütigt und verwarnt worden waren, forderte Radek die Opposition dazu auf, initiativreich zu handeln, um die undemokratischen Methoden zu beseitigen, mit denen Stalin seine Kontrolle über die bolschewistische Partei sicherstelle. Er mahnte, die Partei müsse als „leninistische Partei“ agieren, wenn sie ihre Spaltung abwenden wolle. Das bedeute, sie müsse die Rechte der Opposition respektieren, der Opposition erlauben ihr Programm zu präsentieren und dem Ziel der Weltrevolution treu bleiben.97 Unausgesprochen, aber eindeutig ablesbar blieb damit, dass für ihn eine Parteispaltung die unausweichliche Konsequenz für den Fall war, dass die Stalin-Führung sich den Forderungen der Opposition verweigern sollte. Trockij unterstützte die provokanten Thesen Radeks nicht, goss aber Öl ins Feuer als er unter Zugrundelegung eines anderen Szenarios den Führungswechsel seinerseits ansprach. Vor dem Hintergrund wachsender Spannungen mit England und der von Stalin erzeugten Kriegspanik, plädierte er für ein Auswechseln der Führung im Kriegsfall. Er erklärte, wenn der Krieg käme und die Führer der herrschenden Klasse sich ihrer Aufgabe nicht gewachsen zeigten, dann sei es die Pflicht der Opposition, sie zu ersetzen und im Interesse der Verteidigung des Landes die Führung des Krieges zu übernehmen. Im Zusammenhang verwies er auf das Beispiel, das der französische Ministerpräsident Clemenceau als Retter Frankreichs im Ersten Weltkrieg gegeben habe. Die Stalinisten und Bucharinisten werteten die „Clemenceau-Erklärung“ Trockijs als Vorbereitung zum Staatsstreich.98 Ihre Befürchtungen wurden noch verstärkt, als zur gleichen Zeit eine Gruppe von Armeeführern dem Politbüro in einer geheimen Erklärung ihre Solidarität mit der Opposition bekun-

96 Radek, Termidorjanskaja opasnost’ i oppozicija [Die thermidorische Gefahr und die Opposition], S. 7f. The Trotsky Archive, Houghton Library, Harvard University (Microfiche). Lerner, S. 148. 97 Radek, Itogi avgustovskogo plenuma [Die Ergebnisse des Augustplenums], S. 5. The Trotsky Archive, Houghton Library, Harvard University (Microfiche). Lerner, S. 148. 98 Deutscher, Trotzki II, S. 332.

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dete und Kriegskommissar Vorošilov99 der militärischen Inkompetenz bezichtigte.100 Dennoch besaßen die Oppositionellen kein rechtes Vertrauen mehr in die eigene Kraft. Trockij erkannte schon im Juni 1927 ganz richtig, dass die „Ausrottung“ der Opposition durch Stalin nur noch eine Frage der Zeit sei.101 Im Verlauf des Sommers weiter in die Defensive gedrängt und zunehmend kriminalisiert, entschloss sich die Opposition am 7. November, dem zehnten Jahrestag der bolschewistischen Machtergreifung, einen „Appell an die Massen“ zu richten. Geplant waren Auftritte ihrer Anhänger, mit denen in Moskau und in Leningrad im Rahmen der offiziellen Massendemonstrationen die Ideen und Forderungen der Opposition propagiert werden sollten. Stalin war das Vorhaben nicht verborgen geblieben. Die Reihen der Oppositionellen waren mit OGPU-Spitzeln durchsetzt und er wartete nur darauf, seinen Gegnern einen entscheidenden Schlag zu versetzen. Er hatte Anweisung erteilt, jeden Versuch dissidenter Meinungsbekundungen im Keim zu ersticken, was auch geschah: „Am 7. November stürzten sich Aktivistentruppen und Polizeihaufen auf jede Oppositionsgruppe, die ein Spruchbanner entfalten, ein Bild Trotzkis oder Sinowjews mit sich führen oder eine nicht amtlich genehmigte Parole ausrufen wollte. Die Oppositionellen wurden auseinandergejagt, beschimpft und verprügelt.“102 – „Das Proletariat sah desinteressiert und apathisch zu [...].“103

Karl Radek hatte Zinov’ev an diesem Tage nach Leningrad begleitet. Beide voller Hoffnung, in der Stadt, in der Zinov’ev noch vor zehn Monaten als Parteichef amtiert hatte, bei den Massen Zustimmung zu finden. Als sie sich auf dem Kundgebungsplatz am Winterpalais zeigten, verhinderten die Ordnungskräfte, dass sie in Kontakt mit den marschierenden Arbeiterkolonnen kamen. „Die Miliz griff die Männer, die noch knapp vorher an der Macht gewesen waren, ohne großen Einsatz an. Sie drängte Sinowjew, Radek und ihre Gruppe in einen Hof ab“104, wo sie blockiert wurden und erst nach dem Ende der offiziellen Kundgebung wieder Bewegungsfreiheit erhielten. „Gewiß nicht großer Erfolg für die Opposition in ihrem verzweifelten Kampf um Gehör [...]“, kommentierte Paul Scheffer das Geschehen im „Berliner Tagblatt“ und berichtete, wie man die Oppositionellen in den Straßen terrorisierte: 99 Nach dem Tod von Frunze (Trockijs Nachfolger als Kriegskommissar) war Vorošilov 1925–40 Kriegskommissar. 100 Deutscher, Trotzki, S. 337. Isaac Deutscher (ebenda, S. 340) nennt die Kritik an der Inkompetenz Stalins und Vorošilovs „nicht völlig grundlos”; sie habe sich in den ersten Kriegsmonaten des Zweiten Weltkrieges bestätigt. Die Unterzeichner der Solidaritätserklärung, darunter hochrangige Kommandeure wie Muralov, Putna, Jakir, verloren zehn Jahre später bei der großen Säuberung ihr Leben. 101 Brief Trockijs an Ordžonikidze vom 28. Juni 1927. Schapiro, S. 326. 102 Deutscher, Trotzki II, S. 359. 103 Schapiro, S. 327. 104 Serge, Leo Trotzki, S. 191.

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„In Leningrad hat es sehr viele Faustschläge gegeben während der drei Stunden, die Sinowjew und Radek […] festgehalten wurden.“105 Radek und Zinov’ev war noch Vorzugsbehandlung zuteil geworden. Ihr Oppositionsgenosse Smilga, der in Moskau seinen Balkon mit Lenin- und Trockij-Bildern und der Parole „Führt Lenins Testament aus!“ geschmückt hatte, wurde in seiner Wohnung von einem stalinistischen Schlägerkommando überfallen, das die Einrichtung demolierte und ihn aufs übelste zurichtete106 Trockijs Frau, die an einem Demonstrationszug teilnahm, wurde mit Schlägen traktiert, der Oppositionsführer selbst, in seinem Auto beschossen, mit Steinen beworfen und als „Jude“ und „Verräter“ geschmäht. Einzig Radeks ehemaligen Zöglingen, den chinesischen Studenten der Sun Jat-sen Universität, glückte eine Protestaktion. Mit dem offiziellen Moskauer Demonstrationszug marschierend, bildeten sie auf dem Roten Platz vor den Augen der Sowjetführer und der ausländischen Gäste einen langen gewundenen Drachen und warfen mitten auf dem Platz Trockijs Proklamationen in die Luft.107 Der 7. November brachte der Opposition eine vernichtende Niederlage ein. Eine Woche später, am 14. November, wurden auf einer außerordentlichen Sitzung des Zentralkomitees und der Zentralen Parteikontrollkommission Trockij und Zinov’ev wegen der Anstiftung zu konterrevolutionären Demonstrationen aus der Partei ausgeschlossen. Kamenev, Smilga, Evdokimov108, Rakovskij, Muralov109 und weitere oppositionelle Spitzenfunktionäre verloren ihre Mitgliedschaft im CK und in der Zentralen Kontrollkommission. Bei der Bekanntgabe dieser „Ergebnisse“ des CKPlenums notierte Paul Scheffer: „Radek ist bereits ganz ohne Amt. Es bestehen wenig Zweifel, daß er ganz aus der Partei ausgeschlossen wird.“110 Zwei Tage danach, am 16. November, wurden alle Oppositionsführer, darunter auch Radek, der seinen CK-Sitz längst verloren hatte, aus ihren Wohnungen im Kreml’ geworfen. Die Auf105 „Berliner Tagblatt“ vom 16. November 1927, in: Scheffer, Augenzeuge im Staate Lenins, S. 293. 106 Deutscher, Trotzki, S. 361. Führer des Schlägertrupps war der Stalinist und Geheimdienst-Mitarbeiter Manfred (ursprünglich: Moses) Stern (1896–1954); ein rumänischer Jude, der als österreichischer Soldat 1916 in russische Kriegsgefangenschaft gekommen war; er schloss sich den Bol’ševiki an und wurde Offizier der Roten Armee. 1923 war er Militärberater beim Hamburger Aufstand. 1925 trat Stern als Belastungszeuge im Parteiverfahren gegen Radek, Brandler und Thalheimer auf. Er denunzierte die „Radek-Clique“, sie habe technisch und finanziell der KPDOpposition geholfen. Als „General Emilio Kleber“ war Stern 1936 Kommandeur internationaler Brigaden im spanischen Bürgerkrieg. Ironischerweise kam er später als „Trotzkist“ im Gulag um. Weber, Hermann, Deutsche Kommunisten, S. 784. 107 Deutscher, Trotzki II, S. 361. 108 Evdokimov, Grigorij Efsemeevič (1884–1936), oppositioneller Parteifunktionär und Anhänger Zinov’evs; 1936 im Prozess gegen Zinov’ev und Kamenev als „Trotzkist“ angeklagt und hingerichtet. 109 Muralov, Nikolaj Ivanovič (1877–1937); Altbol’ševik und Armeekommandeur; Befehlshaber des Militärbezirks Moskau; wegen seiner Verdienste im Bürgerkrieg von Trockij, dessen Anhänger er war, als „furchtloser Marschall der Revolution“ bezeichnet; 1937 im Radek-Prozess zum Tode verurteilt und erschossen. 110 Scheffer, Sieben Jahre Sowjetunion (15. November 1927); S. 135.

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forderung auszuziehen erging mit der bürokratischen Begründung, dass allein die Mitglieder des Zentralkomitees das Recht hätten, im Kreml’ zu wohnen. Trockij hatte sich bereits am 7. November aus dem Kreml’ entfernt, um dem demütigenden Hinauswurf zu entgehen. Zinov’ev zog aus seiner Wohnung aus und nahm lediglich die Totenmaske Lenins mit, die er zu Hause unter einem Glassturz aufbewahrt hatte. Kamenev, ein Mittvierziger, der fast über Nacht weiße Haare bekommen hatte, verließ den Kreml’ zusammen mit Sokol’nikov. Victor Serge, der diesen Exodus überliefert hat, traf am 17. November im Kreml’ auch auf Karl Radek: „[...] er war dabei, inmitten einer Sintflut von Büchern, die bunt durcheinander auf dem Teppich lagen, verstreute Papiere zu ordnen und zu vernichten. ,Ich verramsche das alles‘, sagte er zu mir, ,und ich haue ab. Was sind wir doch für Idioten gewesen! Wir haben keinen Heller, und wir hätten uns einen hübschen Kriegsschatz zurücklegen können! Jetzt bringt uns der Geldmangel um. Mit unserer berühmten revolutionären Ehrlichkeit sind wir nichts weiter als miese Intellektuelle voller Skrupel [...].‘“111

Übergangslos kam er auf die traurige Sensation des Tages zu sprechen. Am Vorabend hatte Adolf Ioffe, der ebenfalls im Kreml’ wohnte, Selbstmord begangen. Der ehemalige Sowjetbotschafter in Berlin war von seinem letzten diplomatischen Auslandsposten in Tokio schwerkrank nach Moskau zurückgekehrt und zum Stellvertreter Trockijs im Konzessionskomitee ernannt worden. Von Stalin kleinlich schikaniert, politisch enttäuscht, bettlägerig und von Schmerzen gepeinigt, setzte er mit einer Kugel durch den Kopf seinem Leben ein Ende. Radek berichtete seinem Besucher: „Heute Nacht hat sich Joffe umgebracht, er hat ein politisches Testament hinterlassen, das an Leo Davidowitsch [Trockij] adressiert ist und das die GPU natürlich auch entwendet hat. Aber ich war noch rechtzeitig gekommen und habe ihnen einen hübschen Skandal im Ausland präpariert, wenn sie es nicht zurückgeben [...].“112

Radek bezog sich damit auf Ioffes Abschiedsbrief, den Isaac Deutscher als „ein einzigartiges menschliches und politisches Dokument und eine Prinzipienerklärung revolutionärer Moral“ beschreibt. Darin erklärte er seinen Freitod als Protesthandlung gegen den Ausschluss Trockijs und Zinov’evs sowie gegen die Gleichgültigkeit mit der die Partei darauf reagiert habe. Hinter dem von Radek „im Ausland präparierten Skandal“ verbarg sich, dass er dem Korrespondenten des „Berliner Tagblatts“, Paul Scheffer, die Information über Ioffes Suizid und die Existenz eines an Trockij gerichteten Abschiedsbriefs hatte zukommen lassen. Scheffer hat dann diesen Sachverhalt publik gemacht, so dass das Zentralkomitee sich veranlasst sah, dem Adressaten Trockij eine Kopie des Briefs zu übergeben. Radek demonstrierte damit in der 111 Serge, Beruf: Revolutionär, S. 255f. 112 Ebenda, S. 256.

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Stunde der Niederlage seine Loyalität zu Trockij. Serge gegenüber beklagte er aber gleichzeitig den Bruch Trockijs mit der Linksopposition113 um Sapronov und Vladimir Smirnov114. Diese sogenannte „Gruppe der Fünfzehn“ war der Auffassung, man befände sich bereits im Sowjet-Thermidor und „die Diktatur des Proletariats habe einem bürokratischen Polizeiregime Platz gemacht“. Zu Serge meinte er: „Die übertreiben ein wenig, aber vielleicht haben sie gar nicht so ganz Unrecht, meinen Sie nicht auch?“ Abschiedsnehmend fragte Radek seinen Besucher, „Wollen Sie Bücher? [...] Das bleibt alles liegen [...].“ Serge nahm sich zur Erinnerung einen kleinen, in rotes Leder gebundenen Goethe-Band mit, den „West-östlichen Diwan“.115 „Auf Befehl des ZK“ wurde Radek mit anderen Oppositionellen vor den XV. Parteitag der VKP(b) zitiert, der vom 2.–19. Dezember 1927 in Moskau stattfand. Unter den 1600 Delegierten, vor denen Bucharin die Opposition anklagte, die Bildung einer zweiten Partei vorzubereiten, befand sich kein einziger Dissident. Der Parteitag sollte die Oppositionellen als menschewistische, das heißt sozialdemokratische Abweichler brandmarken und ihren Ausschluss aus der VKP(b) beschließen beziehungsweise bestätigen. Die Opposition stand „nun auf dem tarpejischen Felsen vor dem Sturz ins Meer der Parteilosen“. Um den Verlust der Parteimitgliedschaft zu vermeiden, entschlossen sich die „Zinov’evisten“, zu kapitulieren: „Man will uns aus der Partei hinauswerfen; wir müssen um jeden Preis drinbleiben. Der Ausschluß ist der politische Tod, er bedeutet Deportation, die Unmöglichkeit einzugreifen, wenn die nächste Krise des Regimes einsetzt [...]. Außerhalb der Partei kann nichts geschehen. Demütigungen haben nichts zu bedeuten“116

Zinov’ev und Kamenev verurteilten ihre bisherigen Ansichten coram publico als „falsch und antileninistisch“, aber trotz ihrer reumütigen Bekenntnisse wurde ihnen die Wiederaufnahme in die Partei verweigert. Trockij war dem Kongress ferngeblieben und seine Anhänger, die man vorgeladen hatte, waren nicht bereit, sich zu unterwerfen. Radek erklärte dem Parteitag, er akzeptiere zwar die „absolute Notwendigkeit“, das kommunistische Einparteiensystem zu erhalten, werde aber keine Parteibeschlüsse hinnehmen, die er für falsch halte. Gemeinsam mit Rakovskij und 113 Es handelte sich um die sogenannten „Demokratischen Zentristen“, kurz „Dezisten“ genannt. Von dem Wirtschaftler N. Osinskij und dem Vorsitzenden des Sowjets des Gebiets Moskau T. V. Sapronov angeführt, hatten sie sich 1919 als dauerhafte Linksopposition gegen die Parteibürokratie formiert und forderten die Anwendung demokratischer Methoden innerhalb der Partei- und Staatsführung. 114 Smirnov, Vladimir Michajlovč (1857–1937); sowjetischer Partei-und Staatsfunktionär; nach der Revolution Erster Vorsitzender der Staatsbank und dann führender Wirtschaftsfunktionär; als Linksoppositioneller 1928 verhaftet, vermutlich nicht mehr freigekommen und 1937 verstorben oder exekutiert. 115 Serge, Beruf: Revolutionär, S. 256. 116 Scheffer, „Berliner Tagblatt“ vom 13. Dezember 1927; in: Sieben Jahre Sowjetunion, S. 135 und S. 260.

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Muralov gab er unter den höhnischen Zwischenrufen der Delegierten am 10. Dezember eine Erklärung ab, in der es hieß: „Unsere Ansichten nicht innerhalb der Partei zu vertreten, würde in unseren Augen auf einen Widerruf dieser Ansichten hinauslaufen; [damit] würden wir unsere elementarste Pflicht gegenüber der Partei und Arbeiterklasse verletzen.“117 Am Rande des Parteikongresses wurde Radek Zeuge der Demütigung Stalins durch einen hohen Offizier der Roten Armee, den mit der Opposition sympathisierenden Divisionskommandeur Dmitrij Šmidt.118 In seine silberverzierte Kosakenuniform gekleidet, den Krummsäbel an der Seite, traf der Kavallerist in Begleitung Radeks beim Verlassen des Kreml’ auf Stalin. Empört über das Vorgehen des Generalsekretärs gegen die Opposition machte der Militär seinem Ärger lautstark Luft: „Schmidt trat auf ihn [Stalin] zu, und halb im Scherz, halb im Ernst, beschimpfte er ihn , wie es nur ein alter Soldat zustandebringen kann – das heißt in Ausdrücken, die man gehört haben muß, um sie zu glauben. Als er fertig war, machte er eine Geste, als ob er den Säbel ziehen wollte, und sagte dem Generalsekretär der Partei, daß er ihm eines Tages die Ohren abschneiden werde. Stalin hörte zu, ohne ein Wort zu sagen, aber sein Gesicht war totenbleich und seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepreßt.“119

Radeks Genugtuung über die Standpauke, die Šmidt Stalin verpasste, war nur ein schwacher Trost für ihn und von kurzer Dauer. Am 18. Dezember 1927 wurde er gemeinsam mit 74 führenden Mitgliedern der Opposition aus der Partei ausgeschlossen, darunter Pjatakov, Rakovskij, Smilga, Muralov, Preobraženskij. Noch bevor das Jahr zu Ende ging, bereitete Stalin die Deportation der Dissidenten vor. Das Zentralkomitee bot den führenden Trotzkisten pro-forma bescheidene Verwaltungsposten in abgelegenen Winkeln des Sowjetreichs an, um ihrer Verbannung den Anschein der Freiwilligkeit zu geben. Anfang Januar 1928 kam es zwischen Radek und Rakovskij als den Beauftragten der Opposition und dem Verhandlungsführer des CK Ordžonikidze120 zu einem „phantastischen Gefeilsche“ über diese Vorschläge. Radek und Rakovskij protestierten gegen die geplante Abschiebung Trockijs nach Astrachan, da dieser dem feuchtheißem Klima der Hafenstadt am Kaspischen Meer gesundheitlich nicht gewachsen wäre. Noch während die Gespräche liefen, 117 Zitiert nach: Deutscher, Trotzki II, S. 370. 118 Šmidt (eigentl. Gutman), Dmitrij Arkad’evič (1896–1937); Kommandeur der 7. Kavalleriedivision, Samara und zuletzt der 8. motorisierten Brigade im Militärbezirk Kiev; 1924–1929 Mitglied des Allukrainischen Zentralexekutivkomitees der Partei. 119 Barmine, S. 137. Damals entschied sich Stalin dafür, Šmidts Beleidigungen als unter seiner Würde zu ignorieren, aber im Zuge der Säuberungen wurde Šmidt 1936 verhaftet, zum Tode verurteilt und 1937 hingerichtet. Ebenda. 120 Ordžonikidze, Grigorij Konstantinovič (1886–1937, Selbstmord); georgischer Altbol’ševik, der 1920/21 Georgien und Armenien im Auftrag Stalins in den bolschewistischen Machtbereich eingegliedert hatte; CK-Mitglied; seit 1926 Vorsitzender der Zentralen Parteikontrollkommission; in den 1930er Jahren Politbüromitglied und Volkskommissar für die Schwerindustrie.

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erhielten Radek und die Spitzen der Opposition am 4. Januar von der OGPU ihre Deportationsbefehle wegen konterrevolutionärer Verbrechen nach Paragraph 58 des Strafgesetzbuchs der RSFSR. Ein Foto zeigt die Oppositionsführer vor dem Abtransport. Radek sitzt in Lederjacke und neuen Filzstiefeln, kryptisch lächelnd mit geschlossenen Augen neben Trockij. Die Gruppe gleicht eher einer Jagdgesellschaft, als Männern auf dem Weg in die Verbannung.121 Am 10. Januar trat Radek die Reise ins westsibirische Tobol’sk an, die übrigen Dissidenten wurden nach verschiedenen anderen Orten in Sibirien und Sowjetasien in Marsch gesetzt. Trockij verbannte man nach Alma Ata in Kazachstan. Er musste Moskau am 16. Januar verlassen. Alle aus Moskau Ausgewiesenen befanden sich bereits auf dem Weg in ihre Verbannungsorte, als die Sowjetpresse am 18. Januar die „Abreise der 30 aktivsten Mitglieder der Opposition aus Moskau“ bekanntgab.122 Tobol’sk war seit dem 17. Jahrhundert ein traditioneller russischer Verbannungsort. Die pittoreske Kleinstadt mit 18.000 Einwohnern im Gebiet Tjumen verfügte sogar über ein Museum, in dem sich – für Radek von Interesse – eine Bibliothek befand. Dennoch war ihm der Ort seines Exils „ein Provinznest ohne Industrie, […] ohne Arbeiter“, das er sich freilich im nachhinein schönredete: „In Tobolsk, einem Nest hoch im Norden, 300 Kilometer von der Eisenbahn, ohne Fabriken, sah ich wenig von der Revolution, bis ich eines Tages in eine Versammlung von Lehrern, Eltern und Kindern kam. Die Lehrer und Eltern plapperten revolutionäres Kauderwelsch nach, die Kinder hatten revolutionäre Gedanken. Ein Dienstmädchen, frühere Halbanalphabetin, las das Gesetzbuch, um sich für das Amt des öffentlichen Anklägers vorzubereiten. Und es sammelten sich um sie die Weiber, um über Recht und Unrecht erneut zu beraten. Tief hat der Pflug der Revolution das Land umgeackert, sogar in den entferntesten, faulsten Nestern hat er Furchen gezogen.“ 123

Nicht lange nach seiner Ankunft in Westsibirien schrieb Radek an Trockij. Er berichtete über sein Leben als Verbannter, stellte Vermutungen über zukünftige Entwicklungen an und sprach Trockij Mut zu. Er erwähnte auch, dass man ihm den Zugang zu Zeitungen und Büchern gewährt habe.124 Es war der erste Brief, den Trockij in Alma Ata erhielt.125 Er antwortete Radek Ende Februar: 121 Foto: „Führer der linken Opposition vor ihrem Abtransport in die Verbannung“. Rogowin [Rogovin], S. 37. 122 Zusammengefasst nach: Deutscher, a.a. O., S. 374; Lerner, S. 150; Schapiro, S. 328; Scheffer, a.a.O., S. 128f. 123 Radek, Boris Pilnjaks Stellung in der sowjetrussischen Literatur (geschrieben im August 1930), in: Pilnjak, Die Wolga fällt ins Kaspische Meer, S. Xf. 124 Radeks Brief vom Februar 1928 an Trockij; The Trotsky Archive, Houghton Library, Harvard University (Microfiche). Lerner, S. 150. 125 Wolkogonow [Volkogonov], Trotzki, S. 310. Tuck (S. 95) zitiert ein Telegramm Radeks an Trockij vom 15. April 1928 („AM WELL BORED LETTER FOLLOWS GREET EVERYONE“. The Trotsky Archive, Houghton Library, Harvard University, 1312) als das erste Lebenszeichen Radeks

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„Lieber Karl Bernhardowitsch! Da ich weiß, daß Sie Handschriften nicht lieben, schreibe ich Ihnen auf der Maschine. Wir haben uns niedergelassen. Ich erinnere mich an die weisen Worte Sergejs126: ,Kein Bündnis – weder mit Josif [Stalin] noch mit Grigori [Sinowjew]. Josif wird dich betrügen, Grigori wird fortlaufen.‘ Ich übersetze für das Marx-Engels-Institut das Buch ,Herr Vogt‘ von Marx [...]. Bin noch nicht auf der Jagd gewesen. Sermuks127 ist nicht bei mir; man hat ihn verhaftet und fortgebracht. Ich rate Ihnen vernünftig zu leben, um sich zu erhalten. Um jeden Preis. Wir werden noch gebraucht [...]. Ihr Trotzki“128 27. Februar 1928

Radek korrespondierte intensiv mit Trockij und den anderen deportierten Oppositionellen, er verfasste Memoranden und begann an einer großangelegten LeninBiographie zu arbeiten, deren erster Band das Leben und die politischen Aktivitäten des Sowjetführers bis zum Ersten Weltkrieg umfassen sollte. Er veranschlagte für diese Arbeit etwa ein Jahr, ein Indiz dafür, dass er mit einem längeren Aufenthalt in Sibirien rechnete.129 Im Mai oder Juni 1928 wurde Radek aus Tobol’sk ins 750 km ostwärts gelegene Tomsk verlegt.130 Mit etwa 100.000 Einwohnern war Tomsk das Verwaltungszentrum des gleichnamigen Gebiets sowie ein kulturelles Zentrum mit der ältesten Universität Sibiriens und einem Technikum. An der Trasse der Transsibirischen Eisenbahn und der Mündung des Tom in den Ob gelegen, war die Stadt Verkehrsknotenpunkt und Umschlagplatz für den Transport sibirischer Rohstoffe in das europäische Russland. Hier kam Radek auch wieder in unmittelbaren Kontakt mit Smilga, der ins nahegelegene Narym deportiert worden war. Später galt Radek vielen als der typische Renegat. Aleksandr Vatlin urteilt: „Radek war […] einer der ersten ,Trotzkisten‘, der vor Stalin kapitulierte“.131 Zunächst war der Verbannte jedoch noch äußerst militant gestimmt und zeigte keinerlei Bereitschaft, sich Stalin zu unterwerfen. Unter dem Eindruck der Kapitulation Zinov’evs und Kamenevs auf dem XV. Parteitag und ihres in der „Pravda“ am 27. Januar 1928 veröffentlichten Widerrufs sowie des bald danach im Februar erfolgten Bruchs von aus Tobol’sk, aber Radek hatte wohl doch schon früher von dort an Trockij geschrieben (vgl. oben, Anm. 124). 126 Trockijs Sohn Sergej Sedov (1906–1938). 127 Sermuks, Nikolaj M.; Kommandant von Trockijs legendärem Zug im Bürgerkrieg und der langjährige Sekretär Trockijs; mit ihm nach Alma Ata verbannt, dort verhaftet und 1928 nach Sibirien verbannt. 128 Brief Trockijs an Radek vom 27. Februar 1928; in: Wolkogonow [Volkogonov], Trotzki, S. 310. 129 Radek, Brief an Preobraženskij in Ural’sk vom 5. Mai 1928; The Trotsky Archive, Houghton Library, Harvard University (Microfiche). Lerner, S.  150. Es ist fraglich, ob Radek die LeninBiographie jemals fertiggestellt hat. Das Manuskript ist verschollen. 130 Der letzte nachweisbare Brief Radeks aus Tobol’sk (an Preobraženskij) trägt das Datum 10. Mai 1928; sein Memorandum an den VI. Kongress der Kommunistischen Internationale wurde im Juni 1928 in Tomsk verfasst. 131 Vatlin, S. 21.

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Pjatakov und Antonov-Ovseenko mit Trockij, schrieb er: „Ich lehne die Auffassung Zinov’evs und Pjatakovs ebenso ab, wie die Dostojevskijs132. Sie haben ihren eigenen Überzeugungen Gewalt angetan und widerrufen – man kann der Arbeiterklasse nicht mit Lügen helfen.“133 Begründet hatten die Kapitulanten ihren Abfall von der Opposition mit der sich anbahnenden politischen Kursänderung Stalins nach links. Wegen der sich im Lande ausbreitenden Hungersnot ging der „Freund der Bauern“ seit Anfang 1928 rigoros gegen die „Kulaken“ vor. Gleichzeitig führte er eine Kampagne gegen die die Privatwirtschaft begünstigende Neue Ökonomische Politik. Dazu begann er Front gegen Bucharin, Rykov und Tomskij zu machen, die als sogenannte Rechtsopposition die Fortsetzung der NEP befürworteten. Radek verfolgte diese Entwicklung mit Interesse, aber seiner Meinung nach, hatten die Überläufer aus den Reihen der Opposition, allen voran Zinov’ev, den neuen „Linkskurs“ nur als willkommenen Vorwand benutzt, um ihre Lage zu verbessern. Ein aufrichtiger Oppositioneller würde sich niemals zu solchem Handeln erniedrigen.134 Obwohl sich Radek zu Trockij bekannte, dachte er auch in der Verbannung keineswegs daran, dessen politische Positionen in ihrer Gesamtheit unkritisch zu übernehmen. Als im Frühjahr 1928 in der Opposition über den gescheiterten Aufstand der chinesischen Kommunisten in Kanton diskutiert wurde und in Moskau das Februarplenum des EKKI135 für China den „Kurs auf den bewaffneten Aufstand und die Sowjets“ proklamierte, schloss sich Radek der Kritik Preobraženskijs an der Theorie der permanenten Revolution an. Preobraženskij, einer der führenden sowjetischen Wirtschaftstheoretiker, der nach Ural’sk deportiert worden war, vertrat die Auffassung, die Theorie der permanenten Revolution habe in China versagt und man müsse sich in diesem Punkt von Trockij trennen. Da die chinesische Revolution gescheitert sei, lohne es sich im Übrigen nicht mehr, wegen China noch weiter mit den Stalinisten zu hadern. Radek wählte für seine Kritik einen anderen Ansatz, kam jedoch zum gleichen Ergebnis. Bis zum Frühjahr 1927 hatte er den Gedanken der permanenten Revolution aus ganzem Herzen verteidigt, dann jedoch aufgrund der Entwicklung in China seine Auffassung modifiziert. Er erkannte noch an, dass Trockij 1906 den Gang der russischen Revolution korrekter als Lenin prognostiziert hatte, doch behauptete er, man könne daraus nicht ableiten, dass das Schema der permanenten Revolution stets auch für andere Länder Gültigkeit besitze. Das Beispiel der Kuomintang-KP-Regierung in Hankou [Wuhan] vor Augen, 132 Dostoevskij, Fëdor Michajlovič (1821–1881); russischer Schriftsteller, der als ursprünglicher atheistischer sozialistischer Schwarmgeist zur Religion fand. 133 Radek, Brief aus Tobol’sk an Ženja [Evgenij Preobraženskij?] vom 10. Mai 1928; The Trotsky Archive, Houghton Library, Harvard University. Deutscher, Trotzki II, S. 402 und Tuck, S. 159. 134 Radek, Brief an Preobraženskij in Ural’sk vom 5. Mai 1928; The Trotsky Archive, Houghton Library, Harvard University (Microfiche). Lerner, S. 150. 135 IX. Tagung des EKKI, 9. – 25. Februar 1928 in Moskau. Im Mittelpunkt standen die chinesische Frage und die Vorbereitung des VI. Weltkongresses.

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behauptete er, in China sei Lenins „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ vorzuziehen, um die Lücke zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Revolution auszufüllen. Diese Beurteilung wiederholte er nun. Isaac Deutscher schreibt, dass Trockij von Radeks Kritik überrascht worden sei136, aber das war wohl kaum der Fall. Trockij, der Radeks Position in der Frage der chinesischen Revolution seit längerem kannte, hat darin wohl eher einen Loyalitätsbruch gesehen. Befremdet zeigte sich Trockij allerdings darüber, dass Radek die ultralinke Februarresolution des EKKI vorbehaltlos unterstützte, die er als „ein Muster des widerwärtigsten und verantwortungslosesten Abenteurertums“ betrachtete. Später zog er aus Radeks Verhalten den Schluss, dieser habe schon frühzeitig einen Anlass zur Kapitulation gesucht.137 Mit dem Linksschwenk Stalins begannen die Realisierung der auf dem XV. Parteitag beschlossenen Kollektivierung der Landwirtschaft und eine Politik der beschleunigten Industrialisierung näher zu rücken. Es war das Programm der Opposition, das Stalin nun plagiierte und verwirklichen wollte. Der Gedanke, dass diese große Umwälzung, gewissermaßen eine „zweite Revolution“, ohne ihre Mitwirkung vollzogen werden könnte, verunsicherte die Verbannten. Ihre Verwirrung wuchs, als Trockij den fortschrittlichen Charakter der Maßnahmen Stalins begrüßte und betonte, es sei die Pflicht der Opposition, sie zu unterstützen. Er erläuterte aber nicht, wie man Stalin gleichzeitig unterstützen und bekämpfen sollte., da er wohl selber kein Rezept dafür hatte. Ganz besonders angetan von Stalins rigorosem Vorgehen gegen die Bauern und seinen Notstandsmaßnahmen auf dem Land zeigte sich Preobraženskij. Ein solcher Ansatz entsprach seinem Modell einer „Neuen Ökonomie“138, das auch ein erzwungenes Industrialisierungstempo befürwortete und mit dem „Sozialismus in einem einzelnen Land“ keineswegs unvereinbar war. Er meinte, es sei jetzt die Pflicht der Opposition, zu handeln. Sie solle um die offizielle Genehmigung einer Konferenz ihrer Mitglieder nachsuchen, auf der die Annäherung an die stalinistische Parteifraktion diskutiert und ein mögliches Bündnis mit Stalin gegen die Parteirechten um Bucharin ins Auge gefasst werden könnte. Preobraženskijs Ideen wurde von Trockij entschieden verworfen – der Kerkermeister und der Gefangene seien keine Verbündeten. Die in der Verbannung lebenden Oppositionellen, die den Vorschlag im Mai diskutierten, erteilten Preobraženskij ebenfalls eine Abfuhr und lehnten das Ansinnen rundheraus ab. Auch Radek schien gegen diesen Gedanken zu sein und kritisierte noch im Mai 1928 Preobraženskijs versöhnlerische Haltung.139 Dennoch begann die Saat dieser Ideen kaum einen Monat später in seinem Kopf aufzugehen und er wurde der erste Oppositionsführer, der unter ihren Einfluss geriet. Seine Wi136 Radek, a.a.O. 137 Deutscher, Trotzki II, S. 405ff. und Trotzki, Die permanente Revolution, S. 146. Falls nicht anders vermerkt,orientieren sich die folgenden drei Absätze an: Deutscher, ebenda, S. 394–404. 138 Preobraženskij, Novaja ėkonomika [Die Neue Ökonomie], tom I, čast’ 1, Moskva 1926. 139 Radeks Brief an Preobraženskij vom 25. Mai 1928. Deutscher,Trotzki II, S. 402.

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derstandskraft gegen den Stalinismus bröckelte erkennbar ab, obwohl es noch ein Jahr dauern sollte, bis sie völlig erlahmte und er kapitulierte. Radek machte sich Preobraženskijs These zu Eigen, wonach die von Stalin mit terroristischen Maßnahmen vorangetriebene Kollektivierung der Landwirtschaft und die Zerschlagung der NEP-Privatwirtschaft revolutionären Charakter hätten, da sie auf die Abschaffung des Privateigentums zielten. Es sei „die objektive Kraft“ des vergesellschafteten Eigentums, die den Impuls für Russlands künftige sozialistische Umgestaltung liefern würde. Radek kam zu der Erkenntnis, die Stalinisten hätten sich als würdiger erwiesen, als es sich die Opposition vorgestellt hätte. Das könne man ohne jede Selbstentwertung zugeben, denn bei dem neuen Vormarsch zum Sozialismus stünde die Opposition als Ideengeber der Stalinschen Politik in der vordersten Reihe, während die Stalinisten die Nachhut bildeten. Beim Konflikt mit ihnen habe es sich nicht um einen Zusammenstoß feindlicher Klasseninteressen gehandelt, denn Avantgarde und Nachhut gehörten dem gleichen Lager an. Nun sei die Zeit gekommen, den Bruch zu heilen. Der Gedanke einer Versöhnung mit den Stalinisten mache zwar viele Trockij-Anhänger bestürzt, aber, so bemerkte Radek, eine solche Umgruppierung würde nicht seltsamer sein, als frühere Umbildungen innerparteilicher Bündnisse. „Es gab eine Zeit, in der wir glaubten, daß Stalin ein guter Revolutionär und Sinowjew ein hoffnungsloser Fall war. Dann änderten sich die Dinge – sie können sich wieder einmal ändern.“ In einem Brief vom Juni 1928 an den verbannten Oppositionellen Ter-Vaganjan140 relativierte Radek die Rolle Stalins in seinen „breiten“ Überlegungen für eine Blockbildung mit den Stalinisten: „Das von Stalin geführte Zentrum hat die Initiative der Reformen in seine Hände genommen […]. Es ist nicht auszuschließen, dass das Zentrum nicht in der Lage sein wird, einfach vor ihnen [den Rechten] zu kapitulieren, dass es vor die Wahl gestellt, Neo-NÖP oder Kampf, gezwungen sein wird, unsere Hilfe zu suchen. Dann werden wir nicht im Kampf gegen das Zentrum, sondern mit seiner Unterstützung in die Partei zurückkehren. Ob dann Stalin an der Spitze des Zentrums stehen wird oder ein anderer, das ist nicht von entscheidender Bedeutung […]. Während ein Block mit den Rechten ausgeschlossen ist – mit dem Zentrum ist er historisch möglich.“141

Der nach Südarmenien verschickte Bürgerkriegsheld Ivan Smirnov entgegnete ihm darauf:

140 Ter-Vaganjan, Vagaršak Arutjunovič (1893–1936); mehrfach aus der Partei ausgeschlossener publizistisch tätiger Trockij-Anhänger; im 1. Schauprozess 1936 zum Tode verurteilt und hingerichtet. 141 Minuvšee [Vergangenes], Istoričeskij al’manach [Historischer Almanach] 7, Moskva 1992, S. 310f. Rogowin [Rogovin], S. 82.

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„Was für einen Block mit ihnen soll es denn geben können? [...] Du irrst Dich hier, die Geschichte kennt keinen Fall, dass politische Funktionäre, die die Interessen ein und derselben Gruppen vertreten, einander ins Gefängnis und in die Verbannung schicken [...]. Es gibt einen Weg in die Partei – den Weg Sinowjews, Pjatakovs [...] , der niederträchtig ist, denn er beruht auf einem Betrug an der Partei und der Arbeiterklasse. Diesen Weg habe ich seinerzeit vorausgesehen und mit Billigung der oben Genannten folgendermaßen beschrieben: ,Man kann sein Leben aufrechterhalten, um den Preis, dass der Sinn des Lebens verloren geht.‘“142

Auch Trockij warnte in Briefen an seine Gesinnungsgenossen vor dem von Radek vorgeschlagenen Zusammengehen der linken Opposition mit Stalin. Ein solcher Schritt würde ganz sicher in eine prinzipienlose Kapitulation der Oppositionellen und ihre Unterstützung für den abenteuerlichen ultralinken Zickzackkurs Stalins umschlagen.143 Man muss Isaac Deutscher zustimmen, der schreibt, dass es zu einfach wäre, Radeks Verhalten lediglich seiner flüchtigen Sinnesart oder einem Mangel an Mut zuzuschreiben. Es war die ohnmächtige Situation des nach Sibirien Verbannten, die ihn deprimierte: „Er hatte das Gefühl, als ob er aus dem Leben selbst verbannt worden wäre. Sein Realitätsbewußtsein war ins Wanken geraten. Waren alle die Jahre, die er an Lenins Seite als geschätzter Genosse und Ratgeber verbracht hatte, während derer er mitgeholfen hatte, die Angelegenheiten einer weltweiten Bewegung zu lenken, nur ein Traum gewesen?“144

Auch andere Deportierte empfanden ähnliches. Ivan Smirnov schrieb an Radek: „Du, mein lieber Karljuscha, leidest darunter, daß wir uns außerhalb der Partei befinden. Auch für mich und für alle anderen ist das ein wirklicher Schmerz. Am Anfang hatte ich Alpträume. Es kam vor, daß ich nachts aufwachte und nicht glauben konnte, daß ich ein Deportierter war, ich, der ich für die Partei seit dem Jahre 1899 gearbeitet habe, ohne auch nur einen einzigen Tag der Unterbrechung [...].“145

Es war also nicht nur die deprimierende Lage in der sie sich befanden, sondern auch der Verlust der Parteimitgliedschaft, der Radek und seinen Freunden zu schaffen machte. Nach ihrem Selbstverständnis betrachteten sie sich als die wahren Hüter der „Oktobererrungenschaften“ und des Marxismus-Leninismus, den die Stalinisten und 142 Ebenda, S. 301. Rogowin [Rogovin], S. 82. 143 Rogowin [Rogovin], ebenda. 144 Deutscher, Trotzki II, S. 403. 145 Zitiert nach: Deutscher, ebenda; der 1928 (ohne genaues Datum) geschriebene Brief befindet sich in: The Trotsky Archive, Houghton Library, Harvard University.

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Bucharinisten verwässert und entstellt hatten. Jetzt sahen sie, dass die Opposition, fast zur Sekte geschrumpft, handlungsunfähig ins Abseits geraten war und Partei und Staat, mit denen sie sich identifiziert hatten, fernstand. „Ich kann nicht glauben“, schrieb Radek Mitte Juli an Sosnovskij146, „daß Lenins gesamtes revolutionäres Werk nur 5.000 Kommunisten in ganz Rußland zurückgelassen haben sollte.“147 Im Sommer 1928 kam es zu neuen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Oppositionsführern, ausgelöst durch die aktuelle Frage, wie man die Position der Opposition in einer an den VI. Kongress der Komintern (17. Juli–1. September) gerichteten Erklärung inhaltlich formulieren sollte. Man beabsichtigte das im Parteistatut verbriefte Recht in Anspruch zu nehmen, an den Kongress gegen den Ausschluss aus der russischen Partei zu appellieren. Trockij verband das mit scharfer Kritik an der Politik der Komintern und einer Erläuterung der Ziele der Opposition. Als er im Sommer Kopien seiner Botschaft in die Verbannungsorte versandte und die Deportierten aufforderte, sich hinter seine Erklärungen zu stellen, hatten Radek und Preobraženskij bereits eigene Botschaften abgefasst. Preobraženskij äußerte versöhnlerisch, dass „viele dieser Unterschiede [zwischen Stalinisten und Trotzkisten] infolge des Wandels in der Politik der Komintern verschwunden“ seien, weil die Internationale, die der russischen Partei folgte, ebenfalls „nach links abgeschwenkt“ sei. Radek, der seine Erklärung bereits nach Moskau abgeschickt hatte, vertrat die gleiche Meinung und schrieb:„Wenn die Geschichte zeigt, daß einige der Parteiführer, mit denen wir gestern die Schwerter kreuzten, besser als die von ihnen verteidigten Gesichtspunkte sind, dann wird das niemand zu größerer Befriedigung gereichen als uns.“148 Die Tatsache, dass Trockij und Radek zwei höchst unterschiedliche Botschaften an den Kongress gerichtet hatten, musste der Sache der Opposition schaden. Als Trockij davon Kenntnis bekam, forderte er die Verbannten telegraphisch dazu auf, sich öffentlich von Radek zu distanzieren, was auch geschah. Voller Empörung sandten sie entsprechende Erklärungen nach Moskau. Schließlich informierte Radek selbst den Kongress, dass er seine Erklärung zurückziehe und sich mit Trockij völlig einig wisse. Seinen faux pas entschuldigte er mit der Begründung, wegen der schwierigen Postverbindung habe ihn die Kritik Trockijs an der Komintern zu spät erreicht. Trockij nahm die Entschuldigung an und damit war die Angelegenheit vorderhand 146 Sosnovskij, Lev Semënovič (1886–1937); russischer Revolutionär, Journalist; in verschiedenen Partei- und Staatsfunktionen tätig; 1925–1927 im Landwirtschaftskommissariat eingesetzt; 1927 Parteiausschluss als „Trotzkist“; 1935 wieder in die Partei aufgenommen, 1936 erneut Parteiausschluss und Verhaftung; 1937 wegen parteifeindlicher Tätigkeit zum Tode verurteilt und hingerichtet. 147 Brief Radeks an Sosnovskij vom 14. Juli 1928. Deutscher, a.a.O., S 403f. 148 Radek, Memorandum an den Kongreß, geschrieben in Tomsk im Juni 1928; The Trotsky Archive, Houghton Library, Harvard University. Deutscher, a.a.O., S.  408. Deutscher (a.a.O., S.  486, Anm. 29) merkt dazu an: „Trotzki muß den hier zitierten Absatz ,psychoanalytisch‘ gelesen haben, da er in Radeks Satz ,mit dem wir gestern die Schwerter kreuzten‘, das Wort ,gestern‘ mit rotem Bleistift unterstrich.“

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erledigt, zumal Radek ihm versicherte, dass „keiner von uns [Radek, Preobraženskij] den Widerruf seiner Ansichten in Vorschlag bringt. Ein solcher Widerruf wäre umso lächerlicher, da die Prüfung durch die Geschichte in glänzender Weise ihre Richtigkeit erwiesen hat.“149 Er fuhr fort, Zinov’ev und Kamenev zu schmähen: „Zinov’ev und Kamenev haben bitteschön widerrufen, um der Partei zu helfen, aber tatsächlich ist das einzige wozu sie mutig genug sind, Artikel gegen die Opposition zu schreiben. Nur das steckt hinter ihrem Verhalten. Ihre Haltung wird davon bestimmt, daß der Büßer gehalten ist, seine Reue zu beweisen.“150 Dennoch registrierte Trockij voller Vorahnung in der psychischen Disposition und in den Argumenten Radeks und Preobraženskijs Impulse, die sie zur Kapitulation prädestinierten. Bestrebt die Reihen der Opposition geschlossen zu halten, räumte er ein, dass an ihrer Interpretation von Stalins linkem Kurs etwas Wahres sei, aber er warnte sie, nicht vorschnelle Folgerungen zu ziehen. Sie sollten die Perspektive einer Versöhnung mit Stalin nicht übertreiben.151 Am 13. Juli schrieb er in einem Brief an Rakovskij in Astrachan, dass Radek und Preobraženskij der Vorstellung huldigten, dass die stalinistische Fraktion, nachdem sie eine Linkswendung genommen hatte, nur noch einen „rechten Schwanz“ [von Bucharinisten] besaß, und man ihr zureden sollte, diesen abzustoßen. Selbst wenn das stimmte, meinte Trockij, würde es wenig helfen, denn „ein Affe, dem man den Schwanz abschneidet, ist noch kein menschliches Wesen.“152 Andere Angehörige der Opposition beurteilten Radeks Verhalten schärfer. Lev Sosnovskij, Journalist und „unversöhnlicher Trotzkist“, hatte einem Genossen, der die Opposition verließ und kapitulierte, einem alten jüdischen Beerdigungsbrauch folgend, nachgerufen „[...] wisse, daß du tot bist!“ Er betrachtete Radeks Entwicklung voller Misstrauen und fragte sich, ob er Radek nicht ebenfalls für moralisch tot erklären und ihm diese Worte ins Ohr schreien sollte.153 Im Juli erhielten Radeks Hoffnungen auf Stalin einen Dämpfer. Es war offenbar geworden, dass die Gewaltmaßnahmen zur Behebung der „Brotkrise“ und gegen die drohende Hungersnot nicht griffen. Die Bauernschaft befand sich in Aufruhr und die Getreideablieferungen waren drastisch zurückgegangen. Das Zentralkomitee sah sich genötigt, die Notstandsmaßnahmen gegen die Kulaken aufzuheben und den Brotpreis zu erhöhen. Das bedeutete einen Sieg der Bucharin-Fraktion über die Stalinisten, der die Industriearbeiter traf und im Interesse der wohlhabenden Bauern war. Es kam zu einer vorübergehenden Unterbrechung des Moskauer Linkskurses, der von der Mehrzahl der Deportierten als Anfang vom politischen Ende Stalins 149 Brief Radeks an Trockij vom 24. Juni 1928. Tuck, S. 159. 150 Von Trockij 1937 vor der Dewey-Kommission zitierter Brief Radeks an das abtrünnige Mitglied der Opposition Vardin vom 3. Juli 1928. Tuck, S. 159. Vardin (Pseudonym von Mgeladze), I. V. (1890–1943, im Straflager verstorben); Angehöriger der bolschewistischen Linksopposition; 1927 Parteiausschluss und Verbannung als „Trotzkist“. 151 Deutscher, a.a.O., S. 414. 152 Brief Trockijs an Rakovskij vom 13. Juli 1928; The Trotsky Archive, Houghton Library, Harvard University. Deutscher, a.a.O., S. 487, Anm. 52. 153 Deutscher, a.a.O., S. 412.

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missdeutet wurde. „Wo bleibt Stalins linker Kurs?“ fragten sie triumphierend Radek und Preobraženskij. „Das ganze war ein misslungener Versuch, aber er genügte euch, um unsere alten und wohldurchdachten Ideen über Bord zu werfen und uns eine Versöhnung mit Stalin einzureden!“154 Radek reagierte im August mit einem glühenden Bekenntnis zur Sache der Opposition.155, aber im September begann er Trockij vorsichtig zu kritisieren. In einer fünfseitigen Denkschrift, die er breit verteilte, warf er ihm vor, wichtige Faktoren im Kampf gegen Stalin zu ignorieren, so etwa die Verbindung zu den Arbeitermassen und den abnehmenden Lebensstandard in der Sowjetunion.156 Noch enthielt er sich aber jeglicher Fundamentalkritik. Im Spätsommer signalisierte Stalin der Opposition, dass er den linken Kurs wieder einschlagen wollte, den Bruch mit Bucharin vorhabe und für ein Bündnis mit Trockij bereit sei. Trockij ging darauf nicht ein und ignorierte auch Avancen Bucharins für eine Allianz gegen Stalin. Radek und Preobraženskij sahen sich durch die Entwicklung bestätigt. Stalin setzte den linken Kurs fort. Als er im Juli Bucharin und den Kulaken nachgegeben hatte, war das nicht sein letztes Wort gewesen. Drei der autoritativsten Oppositionsführer im Exil, Smilga, Serebrjakov157 und Ivan Smirnov schlossen sich nun den beiden „Versöhnlern“ an. Radek brachte die Situation zynisch auf den Punkt, indem er in einem Brief an seine Freunde das Dilemma, in dem sich die Verbannten befanden, als die Wahl „zwischen zwei Formen des politischen Selbstmords“ beschrieb. Die eine bestehe darin, von der Partei abgeschnitten zu bleiben. Die Alternative sei, in die Partei wieder einzutreten, nachdem man seinen Überzeugungen abgeschworen habe. Er, der bisher immer Durchhalteparolen an die Opposition ausgegeben hatte, übte nun plötzlich Kritik an den scharfen Angriffen Trockijs auf Zinov’ev, Kamenev und die übrigen Kapitulanten. „Es ist lächerlich zu glauben“, schrieb er, „daß sie nur aus Feigheit kapituliert haben. Die Tatsache, daß Gruppe um Gruppe heute gegen die Kapitulation spricht und morgen zum Kapitulieren bereit ist und daß sich das oft wiederholt hat, beweist, daß wir hier vor einem Zusammenprall von Grundsätzen stehen und es sich nicht lediglich um die Furcht vor Repressalien handelt.“158 Man kann aus diesen Zeilen auch den Umkehrschluss 154 Deutscher, a.a.O., S. 409f. 155 Radeks Brief vom August 1928 an das Mitglied der Opposition Dingel’štedt. Tuck, S. 160. Deutscher, a.a.O., S. 412f. Dingel’štedt, Fëdor N. (1890–1938); Soziologiestudent, seit 1910 Bol’ševik; 1917 als Agitator in der Baltischen Flotte hervorgetreten; als „Trotzkist“ nach Vorkuta verbannt; 1938 dort erschossen. 156 Radek, Nado dodumat’ do konca [Nicht zu Ende gedacht], geschrieben im September 1928. The Trotsky Archive, Houghton Library, Harvard University, Microfiche 2441, S. 2. Lerner, S. 151. 157 Serebrjakov, Leonid Petrovič (1888–1937); Altbol’ševik; im Bürgerkrieg Chef der Polithauptverwaltung der Roten Armee, danach leitende Funktionen im Fernmelde- und Verkehrswesen; 1927 Parteiausschluss als „Trotzkist“, 1929 Kapitulation und 1930 Wiederaufnahme; 1937 im Schauprozess gegen Radek zum Tode verurteilt und hingerichtet. 158 Rundbrief Radeks vom 16. Sepember 1928 an seine Genossen, mit dem Titel „Neskol’ko zamečanij [Ein paar Bemerkungen]“. The Trotsky Archive, Houghton Library, Harvard University (Microfiche). Deutscher, a.a.O., S. 430 und Lerner, S. 151.

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ziehen und darin ein bemerkenswertes Geständnis Radeks sehen: „Auch aus Feigheit und aus Furcht vor Repressalien“ erwog er, zu kapitulieren.159 Während Radek die Motive der Kapitulanten verteidigte, ließ er unter seinen Genossen eine 25-seitige Abhandlung zirkulieren, in der er Trockijs Anschauungen über die Weltrevolution in Frage stellte und die Theorie der permanenten Revolution zu widerlegen suchte. Er behauptete, falls Lenin noch am Leben wäre, würde er ebenfalls die These vom Sozialismus in einem einzelnen Lande verfechten.160 Radek sandte diese Arbeit jedoch nicht an Trockij, der sie aus zweiter Hand aus Moskau erhielt.161 Überrascht von Radeks Thesen, verfasste Trockij als Antwort darauf im Oktober 1928 eine umfangreiche historisch-theoretische Verteidigung seiner Konzeption, die grundlegende Schrift „Permanentnaja revoljucija [Die permanente Revolution]“. Unter Betonung des „erzwungenen Charakters dieser Arbeit“, beurteilte er darin Radeks politischen Standort und sein persönliches Verhältnis zu ihm: „[...] für einen engeren Kreis von Menschen, der selbständig, nicht auf Befehl zu denken fähig ist und der den Marxismus gewissenhaft studiert, ist die Arbeit Radeks gefährlicher als die offizielle Literatur – so wie Opportunismus in der Politik um so gefährlicher ist, je verschleierter er auftritt und je größeres persönliches Ansehen ihn deckt. Radek ist einer meiner nächsten politischen Freunde. Das ist durch die Ereignisse der jüngsten Periode genügend besiegelt worden. In den letzten Monaten haben verschiedene Genossen mit Besorgnis Radeks Entwicklung verfolgt, die ihn vom äußersten linken Flügel der Opposition auf ihren rechten Flügel geschoben hat. Wir, die nächsten Freunde Radeks, wissen, daß seine glänzenden politischen und literarischen Fähigkeiten, die sich mit einer seltenen Impulsivität und Sensibilität vereinigen, Eigenschaften sind, die unter Bedingungen kollektiver Arbeit sicher eine wertvolle Quelle für Initiative und Kritik darstellen, unter den Bedingungen der Isoliertheit aber auch ganz andere Früchte tragen können. Die jüngste Arbeit Radeks – in Verbindung mit seinen ihr vorausgegangenen Handlungen – führt zu der Erkenntnis, daß Radek den Kompaß verloren hat, oder aber, daß sein Kompaß sich unter der Einwirkung einer anhaltenden magnetischen Störung befindet. Radeks Arbeit ist keinesfalls eine episodische Exkursion in die Vergangenheit; nein, es ist eine nicht genügend durchdachte, aber darum nicht weniger schädliche Unterstützung des offiziellen Kurses [Stalins] [...].“162

Das „Beunruhigendste in symptomatischer Hinsicht“, kritisierte Trockij die Ausführungen Radeks, seien seine „etwas verschleierten Avancen an die Adresse der Theorie des Sozialismus in einem Lande.“ Konkret handele es sich um „die Frage nach 159 Möller, S. 44. 160 Radek, Razvitie i značenie lozunga proletarskoj diktatury [Die Fortentwicklung und die Bedeutung der Losung der proletarischen Diktatur], geschrieben im September 1928. The Trotsky Archive, Houghton Library, Harvard University, Microfiche, S. 4–29. Lerner, S. 151. 161 Deutscher, a.a.O., S. 432. 162 Trotzki, Die permanente Revolution, S. 43.

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der revolutionären Hilfe von außen“ für die Sowjetrepublik. Lenin habe bis zuletzt mehrfach darauf hingewiesen, dass das Überleben des Sowjetstaates vom Erfolg der Revolution im Westen abhänge. Die Gegensätze zwischen dem „Arbeiterstaat“ und der „bürgerlichen Welt“ seien unversöhnlich. „Eines von beiden muß zugrunde gehen!“ Das sei noch immer gültig und das Fazit laute: „Den Arbeiterstaat vor den tödlichen Gefahren, nicht nur den militärischen, sondern auch den ökonomischen zu bewahren, das vermag nur die siegreiche Entwicklung der Revolution im Westen.“ Er habe deshalb seinen Augen nicht getraut, schreibt Trockij, als er bei Radek folgende Passage las: „Lenin hat den Begriff dieses Zusammenhanges zwischen der Aufrechterhaltung der sozialistischen Diktatur in Rußland und der Hilfe des westeuropäischen Proletariats nicht durch die übermäßig zugespitzte Formulierung Trotzkis verschärft, nämlich, daß es eine staatliche Hilfe, d. h. die Hilfe des bereits siegreichen westeuropäischen Proletariats sein müsse.“

Diese Zeilen würden zeigen, schlussfolgerte Trockij, dass Radek vom „Marxismus zum Pazifismus“ geraten sei. Es handele sich um „nichts weiter als eine verlegene Wiedergabe der stalinschen Banalitäten, über die wir uns stets so gründlich lustig gemacht haben.“163 Trockij urteilte: „Radek ist mein Freund, aber die Wahrheit ist mir teurer“,164 Er bedauerte die „Verwandlung Radeks aus einem Paulus der permanenten Revolution in deren Saulus“165, der „mit seiner oberflächlichen, schlampigen und gedankenlosen Kritik“ dem „stalinistischen, nationalen Sozialismus“ helfe. „Er hat den Kompaß verloren und ist in einen fremden Strom geraten, der ihn zu ganz anderen Ufern bringen kann“166, warnte er. Dennoch glaubte Trockij noch immer nicht an die ernsthafte Absicht Radeks zu kapitulieren. Er vertraute auf dessen europäischmarxistische Prägung, Intellekt und Sinn für Humor, die ihm das „byzantinische“ Ritual des Widerrufs unmöglich machen würden. Seine Korrespondenz mit Radek bekam zwar einen bitteren Ton und setzte zeitweilig ganz aus, aber er nahm ihn in Schutz und führte sein Verhalten auf eine „depressive Stimmung“ zurück.167 Radek selbst dementierte den Verdacht entschieden, er wolle sich von der Opposition trennen. Am 16. Dezember 1928 schrieb er dem „Trotzkisten“ Ivan Vračov168: „Das Entrüstungsgeschrei wird mich nicht daran hindern, meine Plicht zu tun. Und wer auch immer aufgrund der Kritik fortfährt davon zu plappern, daß ich mich darauf 163 Ebenda, S. 135ff. Kursivierung im Radek-Zitat durch Trockij. 164 Ebenda, S. 44. 165 Ebenda, S. 57. 166 Ebenda, S. 144. 167 Deutscher, a.a.O., S. 431f. 168 Vračov, Ivan Jakovlevič (1898- nach 1995); Altbol’ševik; 1927 Parteiausschluss und Verbannung als „Trotzkist“; 1937 erneut deportiert; 1949–1956 Lagerhaft aus politischen Gründen; 1956 rehabilitiert.

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vorbereite, mir die Ansichten Pjatakovs [der im Februar 1928 kapituliert hatte] zu eigen zu machen, der beweist nur sein geistiges Manko.“169 Für Radek war, bei allen Kontroversen, Trockij immer noch der verehrte und respektierte Führer der Opposition. Seine Gefühle für ihn drückte ein Protestbrief an das Zentralkomitee aus, den er im Namen der Opposition absandte, als er von der Verschlechterung des Gesundheitszustands des Malariakranken erfuhr: „An das ZK der VKP(b)170. Genossen! Nachdem ich von der Krankheit des Genossen L. D. Trotzki erfahren habe, habe ich mich mit der Forderung an das ZK der VKP(b) gewandt, den Genossen Trotzki an einen Ort zu überführen, wo die Möglichkeit seiner Behandlung gegeben ist. Sie haben uns aus der Partei ausgeschlossen und als Konterrevolutionäre verbannt, ohne in Betracht zu ziehen, daß die Älteren von uns ein Vierteljahrhundert für den Kommunismus kämpfen [...]. Jene zu verbannen, die gegen die Kulaken kämpften, das ist entweder Wahnsinn oder eine bewußte Hilfe für die Kulaken [...]. Der revolutionäre Bolschewik, der keine schlechtere Vergangenheit hat als sie selbst, muß von 30 Rubel im Monat sein Dasein bestreiten. Die Geschichte mit der Erkrankung des Genossen Trotzki bringt das Faß zum Überlaufen. Darum muß die Frage nach der Aufhebung der Verbannung der Bolschewiki-Leninisten mit dem Genossen Trotzki an der Spitze aufgeworfen werden. Tun Sie dies bald, damit wir, die wir den Genossen Trotzki an allen Fronten des Bürgerkriegs sahen, nicht die Schande erleben, unsere Stimme für seine Rettung erheben zu müssen. Wir haben zwar kein Parteibuch mehr, sondern einen Ausweis mit dem Siegel der GPU und der Anschuldigung des § 58171. Tomsk, 25. 9. 1928 K. Radek.“172

Radek besaß also noch Energie und Mut genug, um gegen die bedrückenden Lebensumstände Trockijs in Alma Ata zu protestieren. Als eine Reaktion aus Moskau ausblieb, legte er am 25. Oktober nach: „Trotzkis Krankheit hat unsere Geduld erschöpft. Wir können nicht ruhig mitansehen, wie die Malaria die Kraft eines Kämpfers erschöpft, der sein Leben lang der Arbeiterklasse diente und das Schwert der Oktoberrevolution war. Wenn die Beschäftigung mit fraktionellen Interessen in Ihnen jede Erinnerung an einen gemeinsamen revolutionären Kampf ausgelöscht hat, dann lassen Sie doch die Vernunft und die klaren Tatsachen sprechen. Die Gefahren, gegen die die Sowjetrepublik kämpft, türmen sich [...]. Nur jene, die nicht 169 Von Trockij 1937 vor der Dewey-Kommission zitierter Brief Radeks an Ivan Vračov vom 16. Dezember 1928. Tuck, S. 160. 170 VKP(b) = Vsesojuznaja Kommunističeskaja Partija (bol’ševikov) [Allunionistische Kommunistische Partei (Bol’ševiki)]. 171 § 58 des Strafgesetzbuchs der RSFSR vom 1. Oktober 1926: „Konterrevolutionäre Verbrechen“. 172 Wolkogonow [Volkogonov], Trotzki, S. 310f.

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verstehen, wessen es bedarf, um diesen Gefahren entgegenzutreten, können angesichts des langsamen Todes jenes Kämpferherzens, das in der Brust des Genossen L.D. Trotzki schlägt, gleichgültig bleiben. Aber jene unter Ihnen – und ich bin überzeugt, daß es nicht wenige sind – ,die mit Furcht daran denken, was der nächste Tag bringen kann [...], müssen sagen: Genug dieses unmenschlichen Spiels mit der Gesundheit und dem Leben des Genossen Trotzki.“173

Stalin, der durch die Überwachungsmaßnahmen der OGPU über die Vorgänge innerhalb der Opposition wohlunterrichtet war, hatte bald erkannt, dass die Verbannung ihrer Führer das Problem des „Trotzkismus“ nicht aus der Welt geschafft hatte. Im Bestreben, seinen Rivalen Trockij endgültig politisch zu isolieren, übermittelte er Ende 1928 ausgewählten Oppositionellen – darunter auch Radek und Preobraženskij – verlockende Angebote. Seine Abgesandten versprachen den Verbannten die Rehabilitierung und „schwärmten von der großen, fruchtbaren und ehrenvollen Arbeit, die sie noch immer für die Partei und den Sozialismus leisten könnten“. Gleichzeitig war Stalin entschlossen, Trockij als Hindernis seiner Bemühungen aus dem Weg zu räumen.174 Im Januar 1929 ließ er ihn in die Türkei ausweisen und den Ausweisungsbeschluss in der Nacht vom 10. auf 11. Februar durch die OGPU vollziehen. Mit diesem Schritt war die Opposition enthauptet worden und Stalins Taktik, die Dissidenten mit Terror und schmeichlerischer Umwerbung zu spalten und zu demoralisieren, zeigte Wirkung. Seine stärkste Waffe war jedoch der linke Kurs, der im April 1929 von der 16. Parteikonferenz abgesegnet wurde. Bucharin und Rykov wurden als Rechtsabweichler verurteilt, der erste Fünfjahresplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft gebilligt und in einem aufrüttelnden Appell dazu aufgerufen, die Industrialisierung und die Kollektivierung zu beschleunigen. Das war das Programm Trockijs. Auch wenn Stalin es nun als sein eigenes ausgab, hatte er damit den Dissidenten den Wind aus den Segeln genommen. Keine drei Monate nach der Abschiebung Trockijs war die Opposition in voller Auflösung begriffen und die Versöhnler gaben den Ton an.175 Preobraženskij richtete einen Appell „An alle Genossen der Opposition“. Er schrieb: „Im Kampf gegen das Zentralkomitee haben wir unsere Pflicht getan“, aber jetzt sei es die Pflicht der Opposition, der Partei näherzukommen und dann wieder in sie zurückzukehren, um dem Sozialismus zu dienen und „Schulter an Schulter“ den Linkskurs durchzusetzen. Freilich würde die Kapitulation nicht einfach werden, denn: „Wenn wir Wiederaufnahme finden, wird ein jeder von uns die Mitgliedskarte zurückerhalten, wie man ein schweres Kreuz entgegennimmt.“176 173 Brief Radeks an das Zentralkomitee vom 25. Oktober 1928. The Trotsky Archive, Houghton Library, Harvard University, 2835; Tuck, S. 97. Abgedruckt in „The Militant“ vom 1. Januar 1929; zitiert in: Deutscher a.a.O, S. 432f. 174 Deutscher, a.a.O., S. 436f. 175 Deutscher, Trotzki III, S. 72f 176 Deutscher, a.a.O., S. 76f.

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Im Mai wurde Preobraženskij als Sprecher der Verbannten zu Gesprächen mit der Zentralen Parteikontrollkommission nach Moskau beordert. Er versuchte bei Ordžonikidze und Jaroslavskij177, den beiden Beauftragten Stalins, akzeptable Bedingungen für die Rehabilitierung der Dissidenten auszuhandeln. Stalins Ziel war es hingegen, die Oppositionellen durch langwieriges und hartnäckiges Verhandeln zu zermürben, um sie zur Aufgabe ihrer Forderungen und zur bedingungslosen Kapitulation zu bewegen. Ende Mai zitierte ein Artikel Jaroslavskijs in den „Izvestija“ einen Brief Radeks, in dem dieser aufgrund der Ergebnisse der 16. Parteikonferenz seine Bereitschaft zur Kapitulation und zur Mitwirkung am Aufbau des Sozialismus in einem Land ankündigte.178 Vierzehn Tage später, Mitte Juni, reisten Radek und Smilga von OGPU-Personal eskortiert nach Moskau, um sich Preobraženskij anzuschließen. Als ihr Zug an einer kleinen sibirischen Bahnstation Aufenthalt hatte, trafen sie zufällig auf eine Gruppe verbannter Oppositioneller. Smilga war krank und musste in seinem Abteil bleiben. Radek jedoch, suchte das Gespräch mit ihnen. Er informierte sie über den Zweck seiner Reise und führte eine Reihe von Argumenten für seine Kapitulation an: Die Hungersnot im Lande, die Unzufriedenheit der Arbeiter, die Gefahr von Bauernaufständen, die Streitigkeiten im Zentralkomitee, wo Bucharin-Anhänger und Stalinisten gegenseitige Verhaftungspläne schmiedeten. Er meinte, die Situation sei so ernst wie 1919, als Denikin179 vor den Toren Moskaus stand und Judenič180 Petrograd bedrohte. Sie müssten sich alle um die Partei scharen. – „Zu welchen Bedingungen?“, fragten seine Zuhörer. Würde er in Moskau verlangen, dass die Deportierten vom Paragraph 58 des Strafgesetzbuchs, vom Stigma der Konterrevolution reingewaschen werden würden? „Nein“, erwiderte Radek, wer in der Opposition verharre, verdiene das Stigma und er schrie: „Wir selbst haben uns ins Exil und ins Gefängnis gejagt.“ – Als man von ihm wissen wollte, ob er in Moskau fordern würde, dass Trockij zurückgeholt werde, hörten die Umstehenden zu ihrem Erstaunen die folgende Antwort: „Ich habe endgültig mit Lev Dawidovič gebrochen – wir sind jetzt politische Feinde. Mit dem Mitarbeiter von Lord Beaverbrooks Zeitungen habe ich nichts gemein.“ Die Heftigkeit der Antwort verriet sein Schuldgefühl. Er schimpfte über radikale Stalingegner unter den Oppositionellen, wie Dingel’štedt, und behauptete, sie hätten nichts Bolschewistisches an sich und sich aus rein antisowjetischer Gesinnung den „Trotzkisten“ angeschlossen. Nochmals appellierte er an seine Gesprächspartner: „Die letzte Parteikonferenz hat un177 Jaroslavskij, Emel’jan Michajlovič; Pseudonym von Minej Izraelevič Gubel’man (1878–1943); Altbol’ševik, Trockij-Gegner und Stalinist; Mitglied des Präsidiums und Sekretär der Zentralen Kontrollkommission (ZKK) der Partei; militanter Atheist, „Zerstörer der russisch-orthodoxen Kirche“, 1922–1929 Leiter des „Gottlosenverbandes“. 178 Artikel Jaroslavskijs in den „Izvestija“, Nr. 121 vom 30. Mai 1929, S. 2. Lerner, S. 152. 179 Denikin, Anton Antonovič (1872–1947); russischer General; führte mit seiner „weißen“ Freiwilligenarmee im Bürgerkrieg vom Nordkaukasus aus einen Vorstoß gegen die Bol’ševiki in Richtung Charkov-Orel. 180 Judenič, Nikolaj Nikolaevič (1862–1933); russischer General; sein gescheiterter Angriff auf Petrograd beendete im Bürgerkrieg die Offensive der „Weißen“.

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sere Plattform angenommen, die sich glänzend bewährt hat. Was können Sie noch gegen die Partei haben?“ Radeks OGPU-Bewacher gaben die Antwort: Während er noch diskutierte, wurde er von ihnen angebrüllt, dass sie es nicht zulassen würden, dass er g e g e n die Verbannung Trockijs agitiere und man schubste ihn mit Stößen und Fußtritten ins Eisenbahncoupé zurück. Radek brach in hysterisches Gelächter aus: „Ha, ha, ha! Ich und gegen Trockijs Verbannung agitieren! Ha, ha, ha!“ Dann versuchte er sich kläglich zu entschuldigen: „Ich versuche nur, diese Genossen zur Rückkehr in die Partei zu bewegen“, aber die Wachtposten wollten nicht einmal zuhören und trieben ihn weiter in den Zug hinein.181 In Moskau feilschten Radek und Smilga noch einen Monat lang mit der Zentralen Kontrollkommission um ihre Rückkehr in die Partei. Im Juli traf Radek erstmals seit dem XV. Parteitag wieder mit Stalin zusammen, erfuhr den Preis für die Rehabilitierung und entschied sich, ihn zu bezahlen.182 Zusammen mit Smilga kündigte er Trockij die Solidarität schriftlich auf und bekundete gleichzeitig Stalin seine Loyalität. „An die Zentrale Kontrollkommission der VKP(b), Wir, die Unterzeichnenden, erklären hiermit unser Einverständnis mit der politischen Generallinie der Partei und unseren Bruch mit der Opposition [...]. Mit Trotzkis Theorie der permanenten Revolution haben wir nichts gemein [...]. Wir nehmen unsere Unterschriften unter den Fraktionsdokumenten zurück und bitten um Wiederaufnahme in die Partei [...]. Radek, Smilga.“183

Am 13. Juli 1929 gab die „Pravda“ die Erklärung über den Bruch Radeks mit Trockij und seine uneingeschränkte Zustimmung zu Stalins Kurs zusammen mit den Widerrufen von 400 anderen Deportierten bekannt.184 Trockij vermochte die erste Nach181 „Psichologičeskaja podopleka kapitulanstva [Der psychologische Hintergrund des Kapitulantentums]“, in: „Bjulleten Opposicii [Bulletin der Opposition]“, Nr. 6 vom Oktober 1929, S.  25. The Trotsky Archive, Houghton Library, Harvard University; zitiert nach Deutscher, Trotzki III, S. 79f. 182 Lerner, S. 154. Einer Anekdote zufolge soll Stalin bei dieser Gelegenheit gesagt haben: „Genosse Radek, wir sind zwar erfreut Sie wieder in der Partei zu haben, aber Sie müssen künftig mit ihren gegen mich gerichteten Witzen und Sticheleien aufhören. Sie sollten nicht vergessen, daß ich nicht nur der Generalsekretär der Partei, sondern auch der Führer der Weltrevolution bin.“ Radek, so wird unterstellt, konnte auch dieses Mal seine Spottlust nicht bremsen und erwiderte: „Das ist Ihr Witz, Genosse Stalin, nicht meiner.“ Diese Geschichte ist sicherlich frei erfunden, denn Radek wird wohl kaum den Drang verspürt haben, Stalin durch sarkastische Bemerkungen zu brüskieren und wieder in Sibirien zu landen. Lerner, ebenda. 183 Wolkogonow [Volkogonov], Trotzki, S. 311. 184 „Zajavlenie v CKK byvšich rukovoditelej trockistskoj oppozicii tt. Y. Preobraženskogo, K. Radeka i I. Smilgi o razryve s oppoziciej [In der ZKK abgegebene Erklärung der ehemaligen Führer der trotzkistischen Opposition, der Genossen Y. Preobraženskij, K. Radek und I. Smilga, über den Bruch mit der Opposition]“, in: „Pravda“, Nr. 158 vom 13. Juli 1929, S. 3.

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richt von Radeks Kapitulation kaum zu glauben. Er schrieb Radeks Verhalten seinem impulsiven Charakter, der Isolierung und dem Mangel an moralischer Unterstützung seitens seiner Genossen zu. Nachdem „Radek ein Vierteljahrhundert marxistischer Tätigkeit hinter sich hatte“, bezweifelte Trockij, dass dieser mit dem Stalinismus wirklich seinen Frieden machen würde: „Er ist zu sehr Marxist dafür und vor allem denkt er zu international.“ Als er dann aber den Widerruf Radeks in der „Pravda“ vor Augen hatte, äußerte er, dass dieser viel tiefer gefallen sei, als er vermutet habe. Dennoch nahm er an, das Arrangement Radeks mit Stalin sei nur temporärer Natur; er habe in der Partei häufig zwischen rechts und links geschwankt, und würde bald gemeinsame Sache mit Bucharin machen.185 Eine Fehlbeurteilung, wie sich bald herausstellte. *** Siebeneinhalb Jahre später erklärte Radek bei seinem Schauprozess im Januar 1937: „Während des Parteikampfes im Jahre 1923 schloß ich mich der trotzkistischen Opposition an und gehörte ihr und ihrer Führung bis zum Zeitpunkt meiner Verbannung im Januar 1928 an. In der Verbannung verharrte ich auf dem Standpunkt Trotzkis bis zum Zeitpunkt der Einreichung meiner [Reue-]Erklärung an das ZK der KPdSU(B) im Juli 1929.“186

1923 war das Jahr, in dem er sich in den einsetzenden Diadochenkämpfen um Lenins Nachfolge mit seinem Artikel „Lev Trockij – der Organisator des Sieges“ öffentlich auf die Seite des damaligen Kriegskommissars geschlagen hatte. Als er im Sommer 1929 vor Stalin kapitulierte, hatte er länger als viele andere Trockij die Treue gehalten.187 Trockij hatte Radek in dieser Zeit als Freund betrachtet. Der große Spötter und Satiriker gefiel ihm und er fühlte sich durch dessen Beobachtungen und Gedanken angeregt.188 Auch hatte Radek ihm gegenüber geäußert, er habe vor, eine Broschüre zur Verteidigung der permanenten Revolution zu schreiben. Dazu kam es jedoch nie. 1928 übte Radek im Gegenteil Kritik an Trockijs Revolutionstheorie. Dennoch beeilte sich Trockij nicht damit, „über Radek ein Kreuz zu machen.“ Er sah in ihm einen ebenbürtigen politischen Gegner, dem er den Weg zum Rückzug offenlassen wollte.189 Er beantwortete Radeks Kritik mit dem Buch „Die permanente Re185 Ebenda. 186 Prozessbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums (Vormittagssitzung vom 24. Januar 1937), S. 90. 187 Wolkogonow [Volkogonov], S. 309. Als letzter Oppositionsführer kapitulierte Christian Rakovskij 1934. 188 Deutscher, Trotzki II, S. 204. 189 Trotzki, Die permanente Revolution (Vorwort zur deutschen Ausgabe, geschrieben 29.  März 1930), S. 38.

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volution“, eine der grundlegenden Schriften des internationalen Sozialismus. Andere Kritiker, wie Thalheimer oder Thälmann, hat Trockij ignoriert. Ihre ganze Literatur zu diesem Thema bewege sich auf einem so „jämmerlichen Niveau“, stellte er sarkastisch fest, „daß sie nicht einmal Anlaß zu einer kritischen Antwort bietet.“190 Das Programm der Opposition beinhaltete im Kern die Forderung nach einer rascheren Industrialisierung. Sie wies den Gedanken eines autarken Sozialismus als unvereinbar mit der leninistischen Tradition und der marxistischen Lehre zurück und lehnte dementsprechend den „Sozialismus in einem einzelnen Land“ ab. Zugleich warf sie die Fragen der Bevorzugung der Bauern vor den Arbeitern und der innerparteilichen Demokratie auf. Für die Wahrnehmung demokratischer Rechte a u ß e r h a l b der Partei hat sie sich zu keiner Zeit eingesetzt. Die Oppositionellen haben also mitnichten Pläne für den Sturz des bolschewistischen Systems in Russland geschmiedet, wie später behauptet wurde. Sie besaßen aber „die Fähigkeit, selbständig zu denken, den Mut verantwortungsvolle politische Entscheidungen zu treffen, die Bereitschaft an Dingen zu zweifeln, an denen kein Zweifel erlaubt war.“ Ihre Schwäche bestand darin, dass sie der Partei keine klaren und attraktiven politischen Alternativen zum Kurs Stalins anbieten konnten. Sie verkündeten zwar „globale radikale Ideen und Losungen, hatten aber kein Konzept, sie auf nationaler Ebene umzusetzen.“ Mit anderen Worten: „Trotzkij und seine Mitstreiter hatten nur vage Vorstellungen, was zu tun war. Sie wußten nur, was nicht getan werden durfte.“191 Da sie das Prinzip der disziplinierten kommunistischen Einheitspartei verinnerlicht hatten, blieben sie machtlos, als sie von Stalin mit dem Vorwurf parteispalterischer, konterrevolutionärer Absichten konfrontiert wurden und durch ihren Parteiausschluss jeglichen politischen Einfluss verloren. Die Führer der Opposition waren einander nicht nur durch politische Übereinstimmung, sondern auch durch persönliche Freundschaft verbunden und bildeten einen engen Kreis um Trockij. Zu ihnen zählten einige der bedeutendsten Köpfe und Persönlichkeiten der Bol’ševiki, die an politischer Kompetenz und revolutionärer Erfahrung den in der Partei tonangebenden Stalinisten weit überlegen waren. Von all diesen Männern war Radek bei weitem der berühmteste, wenn auch nicht der bedeutendste.192 Er gehörte zu denjenigen, die dafür plädierten, alle Register zu ziehen. 1927 hatte er darauf gedrängt, die Stalinisten energischer anzugreifen, an die parteilosen Facharbeiter zu appellieren und sich zum Anwalt ihre Forderungen zu machen, anstatt sich mit „Gesten der Ehrenrettung“ und akademischen Theorien zu begnügen. Er schreckte zeitweilig nicht einmal vor der Idee einer neuen Partei zurück und war für die Aufnahme der Dezisten, die eine neue Partei wollten, in die Reihen der Opposition. Seine militante Stimmung hielt auch noch nach der Deportation an.193 190 Ebenda, S. 20. 191 Wolkogonow [Volkogonov], Trotzki, S. 311ff. 192 Deutscher, Trotzki II, S. 202. 193 A.a.O., S. 401f.

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Zu den Führern der Opposition gehörten auffallend viele Bol’ševiki jüdischer Herkunft: Radek, Trockij, Zinov’ev, Kamenev, Solkol’nikov. Isaac Deutscher hat sie treffend charakterisiert: „Obgleich sie gründlich ,assimiliert‘ und russifiziert waren und der mosaischen wie jeder anderen Religion und dem Zionismus feindlich gegenüberstanden, waren sie doch durch jenes ,Jüdische‘ ausgezeichnet, das die Quintessenz der städtischen Lebensweise mit all ihrer Modernität, Fortschrittlichkeit, Rastlosigkeit und Einseitigkeit ausmacht. […] die Bolschewiki jüdischer Herkunft waren am wenigsten von allen geneigt, das bäuerliche Rußland in seiner Primitivität und Barbarei zu idealisieren und den einheimischen Bauernkarren im ,Schneckentempo‘ hinter sich herzuziehen. Sie waren in einem gewissen Sinn die ,wurzellosen Kosmopoliten‘, über die Stalin im Alter einst die Schale seines Grimms ergießen sollte. Das Ideal des ,Sozialismus in einem einzelnen Land‘ war nicht für sie bestimmt.“194

Der Nationalist und Judenhasser Stalin benutzte den jüdischen Hintergrund der Oppositionsführer, um der Agitation gegen seine innerparteilichen Gegner eine antisemitische Note zu geben. Er ließ die Parteimitglieder mit der Behauptung aufhetzen, es sei kaum ein Zufall, dass an der Spitze der Opposition landfremde Juden stünden, die den echten russischen Sozialismus verfälschten.195 Mit einer abstoßenden Satire tat sich der Schriftsteller Sergej Malaškin besonders hervor. Der negative Held seiner 1926 veröffentlichten Erzählung „Der Mond von der rechten Seite“, die Witzfigur Izajk Čužačok – zu Deutsch „Itzig Fremdlein“ –, prahlt in lächerlich übertriebenem jiddischen Slang damit, ein „kleiner Trockij“ zu sein.196 Die Instrumentalisierung antijüdischer Vorurteile durch Stalin im Kampf gegen die Opposition veranlasste Radek zu dem spöttischen Seitenhieb, der Unterschied zwischen Moses und Stalin bestünde darin, dass Moses die Juden aus Ägypten geführt habe, der Generalsekretär sie jedoch aus dem Politbüro und der Kommunistischen Partei.197 Radek zeigte keine Neigung, seine Ironie gegenüber Stalin zu zügeln. Als der Generalsekretär mit großem Gefolge am Rande einer internationalen Konferenz in Moskau Radek amüsant plaudernd im Kreise einiger Gäste erblickte, fragte er nach, ob Radek die neuesten Anekdoten über ihn, Stalin, erzähle. Radek verkündete unter dem Gelächter der Umstehenden, man habe über die bevorstehende Machtübernahme durch die Opposition gesprochen und Funktionen neu verteilt; für Stalin sei der Posten des Rektors einer noch zu gründenden jüdischen Universität reserviert. Jeder Zuhörer schien die Vieldeutigkeit der Bemerkung zu erfassen, nur der Paladin des Generalsekretärs,

194 A.a.O., S. 254. 195 A.a.O., S. 252f. 196 Malaškin, Sergej Ivanovič (1888–1988): Luna s pravoj storony, ili Neobyknovennaja ljubov’ [Der Mond von der rechten Seite oder eine ungewöhnliche Liebe], Moskva 1926. 197 Nevada, Joseph: Trotsky and the Jews, Philadelphia 1971, S. 268; zitiert nach Tuck, S. 94.

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der getreue Molotov, intervenierte ernsthaft, der Genosse Stalin sei doch kein Jude. Radek: „Bin ich Chinese?“198 Radek, der einstmals Lenins „Deutscher“ gewesen war, fungierte als Rektor der Sun Jat-sen-Universität de facto als der „Chinese“ der Opposition199 Es ist „eine der Legenden des Vulgärtrotzkismus“, dass die Opposition von Anfang an „Stalins und Bucharins Verrat an der chinesischen Revolution“ entgegengewirkt hätte. Die Ereignisse in China haben bis 1926 kaum eine Rolle in der russischen Parteikontroverse gespielt.200 Erst im Frühjahr 1927 flackerte der innere Parteikampf wieder auf. Nun sollte die chinesische Frage bis zum Ausschluss der Oppositionellen aus der Partei im Mittelpunkt der Kontroverse stehen und es war Radek, der sie auf die Tagesordnung brachte. Als er mit seinen Nachfragen zur Chinapolitik im Kreml’ auf eine Mauer des Schweigens stieß, entschloss er sich, angesichts der Zuspitzung der Situation in China, an die Parteiöffentlichkeit zu gehen und brachte Trockij dazu, das Thema im März 1927 endlich aufzugreifen. Von seinem Schreibtisch in Moskau aus vermochte Radek allerdings keinen unmittelbaren Einfluss auf Politbüro und Komintern, geschweige denn auf die viele tausend Kilometer entfernte Revolution in China, zu nehmen. Er versuchte das komplizierte Geschehen mit Hilfe der marxistisch-leninistischen Doktrin auf einen leicht fasslichen Nenner zu bringen. Das führte zur ideologischen Kontroverse mit Trockij, der ihm noch aus seinem türkischen Exil vorwarf: „[...] obwohl im Schlepptau der Opposition, hat Radek doch das Wichtigste an der chinesischen Revolution verschlafen, denn er verteidigte die Unterwerfung der Kommunistischen Partei unter die bürgerliche Kuomintang [...]“. Schlimmer noch in den Augen Trockijs war, dass das „antimarxistische“ Revolutionsrezept der „StalinRadek“ nicht nur für China, sondern auch „für Indien und alle Länder des Ostens die veränderte, aber nicht verbesserte Wiederholung des Kuomintang-Experiments“ darstelle.201 Die von Trockij monierte Strategie war praktisch eine Neuauflage von Radeks deutscher Einheitsfronttaktik mit der Suche nach Verbündeten, wo immer sie auch stehen mochten. Kontinuität in Radeks politischem Konzept also, auch bei seiner Wendung nach Asien. In der sowjetischen Europapolitik sollte es dann 1935 in der Variante der „Volksfront“ wiederauferstehen. „Genosse Radek betrachtete es als seine Pflicht, diese Fragen [zu China] öffentlich zu stellen“, verteidigte einer seiner Sympathisanten vor der Komintern im Mai 1927 Radeks Engagement gegen die China-Politik Stalins und Bucharins.202 Radek hatte aus Überzeugung einen Bruch der Parteidisziplin begangen, der zu seiner Ent198 Möller (S. 42), dem Erich Wollenberg diese Episode am 4. September 1971 geschildert hat. 199 Tuck, S. 92. 200 Deutscher, Trotzki II, S. 310. 201 Trotzki, Die permanente Revolution (Epilog, geschrieben 1930), S. 147. 202 Es handelte sich um den Vertreter der jugoslawischen KP bei der Komintern und Sekretär der Jugendinternationale Vujo Vujovič, einen Anhänger Zinov´evs, der in einer Rede auf der VIII. Tagung des EKKI (18.–30. Mai 1927 in Moskau) als einziger Radek in Schutz nahm. Vuyovitch, a.a.O., S. 386. Stalin quittierte das damit, dass er ihm eine untergeordnete Stelle in einer entfernten russischen Provinz anweisen ließ. Deutscher, Trotzki II, S. 346.

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lassung als Universitätsrektor führte. Über seine Ablösung kursierte bald ein Witz, der unterstellte, man habe ihn vom Rektor zum Lektor der chinesischen Universität degradiert: „Stalin rief Radek an und sagte ihm, daß er als Rektor abgesetzt sei, daß er aber vorläufig als Lektor weiterarbeiten solle. Radek habe geantwortet: ,Das macht mir nichts aus, da die Chinesen das R nicht aussprechen können, haben sie schon immer Lektor zu mir gesagt.‘“203 Das könnte von Radek selbst erfunden sein. In Wahrheit dürfte er sich über den Verlust seiner Stellung wohl kaum amüsiert haben, hatte er doch dadurch den letzten Rest an politischem Einfluss und alle soziale Sicherheit verloren. Als er dann noch seine Wohnung im Kreml’ räumen musste, äußerte er spontan, er werde „alles verramschen“ und „abhauen“. Ein zeitgenössisches biographisches Lexikon enthält denn auch die Behauptung, er hätte nach seinem Parteiausschluss einen Fluchtversuch unternommen: „Er versuchte darauf bis Ende Dezember 1927 ins Ausland zu gehen, wurde aber von der ,Tscheka‘ an der Grenze festgehalten und dann [...] in Verbannung geschickt.“204 Es muss sich um die Wiedergabe eines falschen Gerüchts handeln, denn eine solche Reaktion ist für jemanden, der alle Brücken zum internationalen Sozialismus hinter sich verbrannt hatte und glaubte, die Partei werde ihn noch brauchen, nicht plausibel. Auch war Radek, den man am 18. Dezember 1927 aus der Partei ausgeschlossen hatte, noch Anfang Januar 1928 einer der beiden von der Opposition delegierten Gesprächspartner für die Verhandlungen mit der Zentralen Parteikontrollkommission, was bei einem vorausgegangenen Fluchtintermezzo wohl nicht in Frage gekommen wäre. Als Radek Ende 1927 gemeinsam mit 75 führenden Mitgliedern der Opposition aus der Partei ausgestoßen und kurz darauf nach Sibirien verbannt wurde, mögen ihn solche Gefühle bewegt haben, wie sie damals Paul Scheffer den Deportierten zuschrieb: „Dies ist vor der Geschichte das außerordentlichste Phänomen, das die russische Revolution hervorgebracht hat. Es handelt sich um Personen, die die Revolution geschürt und dann geführt haben wie wenige andere. Die aus ihr eben den Staat emporgerissen haben, der sie jetzt in die Wüste schickt. Einige von ihnen standen in den entscheidenden Jahren Lenin am nächsten […]. All diesen Männern muß es ein unheimliches Gefühl sein, nahe zum Wahnsinn: die größte und durchdringendste aller Revolutionen vorbereitet, geführt und ihr gedient zu haben, mit keinem anderen Effekt für die eigene Person, als hätten sie sie bekämpft, oder noch schlimmer: mit keiner anderen Wirkung, als wenn das alte Regime sich behauptet hätte.“205

203 Retzlaw, S. 295. 204 Wininger, Große jüdische Nationalbiographie, Band 5, Cernăuţi 1930. Saur, Jüdisches Biographisches Archiv, Mikrofiche Nr. 536, Feld 257f. 205 Scheffer, Artikel „Trotzkis Verbannung“ im „Berliner Tageblatt“ vom 6. Januar 1928, in: Ders., Augenzeuge im Staate Lenins, S. 308f.

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Im Frühjahr 1928 begannen erste Massenverhaftungen von „Trotzkisten“ durch die OGPU. Hunderte wurden im Moskauer Butyrka-Gefängnis inhaftiert.206 Gegen Ende des Jahres waren 6000–8000 linke Oppositionelle eingesperrt oder deportiert worden.207 Die Führer der Opposition erfuhren jedoch zunächst eine relativ glimpfliche Behandlung, wie Victor Serge berichtet: „Gefängnisse und Deportationen waren von Anfang an brüderlich. Die örtlichen Behörden sahen die Verurteilten ankommen, die hervorragende Aktive und gestern noch Teilhaber der Macht gewesen waren, und fragten sich, ob sie nicht außerdem die Männer der Macht von morgen seien. Radek drohte dem Chef der G.P.U. von Tomsk: ,Warten Sie ein bißchen, bis ich kapituliere und ich werde Sie einiges erleben lassen!‘“208

Nachdem Trockij Anfang 1929 in die Türkei ausgewiesen worden war, änderte sich die Behandlung der Dissidenten. Stalins Terror gegen die Deportierten war allerdings selektiv. Die zur Aufgabe der oppositionellen Haltung bereiten Versöhnler, wie Radek, wurden verschont. Jene unter den Verbannten, die nicht kapitulieren wollten, kamen in Gefängnisse und erfuhren härteste Behandlung. In dunklen, feuchten, im sibirischen Winter ungeheizten Zellen zusammengepfercht, wurden sie auf fast ungenießbare Hungerrationen gesetzt. Man entzog ihnen die Lektüre, das Licht und die Möglichkeit mit ihren Angehörigen Verbindung aufzunehmen. Man beraubte sie aller Rechte, die selbst im zaristischen Russland den politischen Gefangenen eingeräumt worden waren und die auch der Sowjetstaat seinen Gegnern seit Ende des Bürgerkriegs wieder zugestanden hatte. Im Zuchthaus von Tobol’sk dahinvegetierende Trotzkisten verglichen bereits im März 1929 ihr Leben mit den in Dostoevskijs „Aufzeichnungen aus einem Totenhause“ beschriebenen menschenunwürdigen Zuständen.209 Trockij griff Radek und die Versöhnler deshalb aus seinem türkischen Exil an: „Sie erklären, daß die Differenzen zwischen Stalin und der Opposition fast verschwunden sind. Wie erklären sie dann den wütenden Charakter der Repressalien? Wenn die Stalinisten ohne das Vorhandensein der unversöhnlichsten und tiefsten Differenzen Bolschewisten verbannen und die Katorga [das Zuchthaus] über sie verhängen, dann tun sie das aus rein bürokratischem Banditentum. So sieht die stalinistische Politik aus, wenn man sie vom Standpunkt Radeks aus betrachtet. Wie wagen es dann er und seine Freunde, ihre Stimmen für eine Einigung mit politischen Banditen zu erheben?“210 206 Andrew/Mitrokhin [Mitrochin], S. 52. 207 Serge, Beruf: Revolutionär (S. 283) nennt für 1928/29 zwischen 5000 und 8000 Verhaftungen; Deutscher, Trotzki II (S. 436), spricht von 6000–8000 inhaftierten und deportierten Linksoppositionellen bis Ende 1928. 208 Serge, a.a.O. 209 Deutscher, Trotzki III, S. 72f. 210 Trotzki, Écrits 1928–1940, Band I, Paris 1955, S. 157ff. Deutscher, Trotzki III, S. 81.

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Radek hat wahrscheinlich auch kapituliert, weil er die Katorga fürchtete. Er war kein Held, sondern ein politischer Mensch, der überdies das Schicksal des Ausgestoßenen nicht zu ertragen vermochte. Er war seinem Wesen nach Westeuropäer und ein Bohemien geselliger Natur, gewohnt, sich in Metropolen zu tummeln und im Rampenlicht der Politik zu stehen. Mehr als fünfundzwanzig Jahre lang hatte er berühmte Zentralkomitees und große Redaktionen durch seine Ansichten und seinen Witz in seinen Bann gezogen. Über zehn Jahre hinweg war er eine der Leuchten der Bol’ševiki und der Komintern gewesen. Im trostlosen Sibirien musste er den Mut verlieren, deprimiert und schließlich gebrochen werden.211 Das führt zu einem weitaus prosaischeren Beweggrund, nämlich dem verständlichen Wunsch, aus den miserablen Lebensumständen der Verbannung auszubrechen und in die Reihen der Moskauer Nomenklatura zurückzukehren, um die der Sowjetelite „zustehenden“ Privilegien wiederzuerlangen. Krestinskijs Frau hat das sehr treffend mit den Worten formuliert: „Man muß die Opposition sein lassen, man muß von seinem Leben Gebrauch machen.“212 Dem Bündel von Motiven, das Radek dazu bewegt haben mag, seinen Widerstand gegen Stalin aufzugeben, fügte Rosa Meyer-Leviné noch einen zusätzlichen Aspekt hinzu. Sie will aus „zuverlässiger Parteiquelle“ gehört haben, „er sei von einem inneren Leiden, das sein Augenlicht unmittelbar in Mitleidenschaft zog, stark angegriffen“ gewesen. „Ein längeres Exil unter ungünstigen Klimabedingungen“ hätte für ihn „die Gefahr der völligen Erblindung“ bedeutet.213 Als Anlass für seine Kapitulation nannte Radek freilich keinen der vorerwähnten Gründe, sondern ein politisches Erweckungserlebnis über das er zwei Versionen verbreitete. Parteiintern erzählte er die Geschichte von einem ehemaligen weißgardistischen General, den er in der Verbannung kennengelernt habe. Der arbeite jetzt als Kutscher und habe zu ihm gesagt, in der Verbannung seien sie nun beide gleich: Weißgardist und Bol’ševik. Da sei es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen und er habe das ganze Ausmaß seines Verrats an der Partei erkannt und bereut. Eine entschärfte Version gab er außerhalb der Parteikreise zum Besten. In der Verbannung habe er sich oft mit einem alten Men’ševik unterhalten, der ihm einmal bei einer hitzigen Diskussion über die Revolution gesagt habe, sie beide – Men’ševik und Bol’ševik – habe man einander gleichgemacht. Er – Radek – habe darauf erwidert, sie seien wohl beide Verbannte, aber dennoch bliebe der eine Men’ševik und der andere Bol’ševik.214 In Wahrheit waren es die Übereinstimmung mit dem Linkskurs Stalins und der Einfluss Preobraženskijs, die den politischen Haltungswandel Radeks ausgelöst haben. Völlig verwandelt, predigte er mit dem ganzen Scharfsinn und Witz, über den er verfügte, seit dem Frühsommer 1928 die Versöhnung mit Stalin.215 Seine allmähliche Kapitulation hatte Signalwirkung für die Mehrzahl der 211 Deutscher, Trotzki II, S. 402; Möller, S. 44. 212 Rogowin [Rogovin], S. 126. 213 Meyer-Leviné, S. 292. 214 Möller, S. 45, der sich auf eine Mitteilung Erich Wollenbergs bezieht. 215 Deutscher, Trotzki II, S. 402.

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Linksoppositionellen, insbesondere nachdem die 16. Parteikonferenz im April 1929 bestätigte, dass Stalin seinen Linkskurs ernst meinte. Es erwies sich, dass Radek und Preobraženskij in diesem Punkt einen besseren Blick für die Realität gehabt hatten als Trockij.216 Radek, der zynisch erklärt hatte, die Deportierten hätten nur die Wahl zwischen zwei Formen des politischen Selbstmords – entweder aus der Partei ausgestoßen, in Sibirien zu versauern oder als Renegaten in die Partei zurückzukehren – entschied sich sehenden Auges für die zweite Variante des von ihm beschriebenen politischen Suizids. Vermutlich sogar ohne allzu schlechtes Gewissen, zieht man in Betracht, was er einmal gegenüber Fritz Brupbacher geäußert hatte. Als der Schweizer Anarchist ihn 1921 in Moskau besuchte, brachte er die Rede auf Michail Bakunin. Dieser russische Revolutionär und Theoretiker des Anarchismus war während der europäischen Revolution von 1848/49 wegen seiner Teilnahme am Aufstand in Dresden inhaftiert, zum Tode verurteilt und an Russland ausgeliefert worden. Nach sechs Jahren Einzelhaft schrieb er ein opportunistisches Reuebekenntnis – „Michail Bakunins Beichte“ –, das zur Umwandlung der Haftstrafe in Verbannung führte. Er wurde nach Sibirien deportiert, von wo ihm die Flucht ins Ausland gelang. Radek versicherte Brupbacher, Bakunin habe „absolut richtig gehandelt, daß er als Gefangener des Zaren Nikolaus I.217 in seiner ,Beichte‘ den Ergebenen und Reuigen geheuchelt [habe], da er nur so Aussicht hatte, befreit zu werden.“218 Es war wohl keine völlige Falschaussage als Radek im Schauprozess von 1937 gestand, er habe 1929 trotz seines Widerrufs bei der Rückkehr in die Partei noch einen gewissen Teil seiner trotzkistischen Ansichten beibehalten: „Wenn ich also das Fazit meiner Rückkehr in die Partei ziehe, so muß ich gestehen, daß, da sie nicht auf der vollen Übereinstimmung meiner Ansichten mit denen der Partei begründet war, darin Elemente des Verschweigens und der Doppelzüngigkeit enthalten waren […].“219 Von seinen „Gedankenverbrechen“ ließ sich Radek allerdings nichts anmerken. Seine Ausbrüche gegen Trockij erregten selbst unter alten Stalinisten Widerwillen220 und der Angegriffene selbst meinte, er fühle sich durch Radeks geistige Entwicklung „sehr stark an die ,Evolution‘ eines Menschen erinnert, der aus der sechsten Etage hinunterstürzt.“221 Radek in seiner Skrupellosigkeit schien das nicht weiter zu irritieren. Sein ethischer Nihilismus offenbarte sich, als er wieder rehabilitiert, im Beisein Preobraženskijs eines Tages von seiner deutschen Genossin Rosa Meyer-Leviné an die moralische Verpflichtung der Bol’ševiki gegenüber den deutschen Kommunisten erinnert wurde. Während Preobraženskij keinen Kommentar abgab, reagierte Radek 216 Deutscher, Trotzki III, S. 73. 217 Nikolaj I. Pavlovič (1796–1855); 1825–1855 russischer Zar. 218 Brupbacher, S. 261. 219 Prozessbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums (Vormittagssitzung vom 24. Januar 1937), S. 90. 220 Deutscher, Trotzki III, S. 88. 221 Trotzki, Die permanente Revolution (Einleitung, geschrieben 30. November 1930), S. 38.

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darauf mit Spott: „Da sitzen die [deutschen] Genossen auf dem Hintern und warten darauf, daß das mächtige Rußland ihnen zu Hilfe kommt!“ Von seiner aufgebrachten Gesprächspartnerin darauf hingewiesen, dass ohne die Unterstützung Moskaus die deutsche Partei „rettungslos verloren“ sei und mit den Worten gemahnt, „Es ist eure Verantwortung, denkt daran, was die Geschichte von euch sagen wird“, entgegnete Radek mit einem Schulterzucken: „Wen kümmert schon die Geschichte, wir alle werden dann tot sein.“222

222 Meyer-Leviné, S. 293f.

19.  Stalins Lohnschreiber (1929–1931) In der Sowjetunion war der Beginn der 1930er Jahre durch die Verwirklichung von zwei gigantischen Projekten Stalins geprägt: der radikalen Zwangskollektivierung von etwa 115 Millionen Bauern und der Industrialisierung des Landes während des ersten Fünfjahresplanes. Es existierte praktisch niemand mehr, der zu dieser Politik des allmächtigen Generalsekretärs und Führers eine Alternative anbieten konnte oder es auch nur wagte, sie vorzuschlagen. Das war die politische Szene, die Radek nach seiner Rückkehr aus Sibirien vorfand und in der er sich – 1930 wieder in die Partei aufgenommen1 – als Journalist betätigte. Er erhielt eine erste bescheidene, temporäre politische Aufgabe zugewiesen, als man ihn im Sommer 1930 in die Kommission der Komintern für die Leitung des V. Kongresses der Gewerkschaftsinternationale (Profintern) berief.2 Die Kritiker Radeks sahen seine Funktion auf die eines Lohnschreibers für die sowjetische Presse reduziert. Trockij, für den er als Freund erledigt war, betrachtete ihn als „tote Seele“, von der er nur noch voller Verachtung sprach.3 Radek trete nun als „Epigone der Epigonen“ auf, schrieb er. Man müsse in ihm den „Vertreter einer gewissen Kollektivfirma“ sehen – nämlich der Stalin-Clique im Kreml’ – „deren nicht vollberechtigte Mitgliedschaft Radek sich um den Preis der Lossagung vom Marxismus erkauft hat.“4 Besucher aus Deutschland, die Radek von früher kannten und nach seinem Widerruf mit ihm in Moskau sprachen, hatten das Gefühl, er sei ein gebrochener Mann. Zwar schien er immer noch „sprühend vor Witz und Energie“5 und kommentierte wohlinformiert, „witzig und ironisch“ die politischen Ereignisse6, aber seine Gesprächspartner fanden ihn doch „ein bißchen gedrückt“7, wenn nicht sogar „verbittert“8. Gustav Hilger hielt fest, Radek „machte [...] auf mich den Eindruck eines Mannes, der den letzten Rest an Selbstvertrauen verloren hatte. Am meisten überraschte mich jedoch die Art, wie er jetzt über Stalin sprach. Er machte nicht den geringsten Hehl daraus, daß Stalins völliger Sieg über all seine Gegner einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht und Zweifel und Unsicherheit in ihm geweckt hatte.“9 Hilger fand die innere Wandlung Radeks glaubwürdig, auch wenn dieser intern im1 Lunačarskij u.a., Siluety, S. 447. 2 Ken, S. 147. 3 Trotsky [Trockij], „A Wretched Document“, in: „Opposition Bulletin“, December 1929, S. 198. Tuck, S. 101. 4 Trotzki [Trockij], Die permanente Revolution, Einleitung (geschrieben: 30. November 1930), S. 38. 5 Meyer-Leviné, S. 292. 6 Retzlaw, S. 295. 7 Meyer-Leviné, a.a.O. 8 Retzlaw, a.a.O. 9 Hilger, S. 78.

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mer noch zu sarkastischer Kritik an der Sowjetführung neigte und der Protagonist regimekritischer Witze war.10 Wie grundlegend falsch Radek die Lage Russlands, Stalin und seine eigene Situation beurteilte, geht aus einem Gespräch hervor, dass er 1930 mit Fritz Sternberg11 führte. Er äußerte optimistisch, dass eine Demokratisierung und Liberalisierung des innerparteilichen Lebens in Sicht sei, da die russische Revolution über eine viel breitere soziale Basis als die französische verfüge. Radek erklärte: „[...] die französische Revolution habe alle ihre führenden Männer getötet; und wenn Männer wie Trotzki, wie Kamenew und Sinowjew, wie Bucharin und Preobraschenskij in der Zeit der französischen Revolution gelebt und gegen die führende Gruppe ähnliche Dinge getan hätten wie diese Bolschewiken gegen Stalin – dann wären sie längst getötet worden. Die große Überlegenheit der russischen Revolution gegenüber der französischen dokumentiere sich aber gerade darin, daß von den führenden Bolschewiken niemand von Stalin getötet worden sei. Trotzki sei gezwungen worden ins Exil zu gehen nach der Türkei, aber er lebe noch. Kamenew und Sinowjew hätten ihre alten Positionen verloren – aber sie lebten in Moskau. Das gleiche gelte für Bucharin, für Smilga; Preobraschenskij und er selbst, Radek, wären eine Zeitlang nach Sibirien verbannt worden, aber jetzt seien sie zurück in Moskau, zwar nicht in ihren alten Positionen, aber doch wieder in der Partei.“12

Radek muss von seinen Argumenten so überzeugt gewesen sein, dass er sie – wenn auch in ironisch-burschikosen Formulierungen – des Öfteren wiederholt hat. Zu Erich Wollenberg13 sagte er: „Es sei ein bemerkenswerter Unterschied zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Revolution. Stünde man während der bürgerlichen Revolution in der Opposition, würde man einen Kopf kürzer gemacht, doch ohne Kopf ließe sich keine Politik machen, obwohl die Politik meist ohne Kopf gemacht werde. Opposition in der proletarischen Revolution würde – wie man an seinem Beispiel sehen könne – Verschickung nach Sibirien mit sich bringen und sei durchaus lehrreich, lernte man doch Landstriche und Leute kennen, die man andernfalls kaum kennengelernt hätte. Und wenn es dann doch zu langweilig geworden sei, unterschriebe man einen Fetzen Papier und käme wieder zurück.“14 10 So erzählte man sich, Komintern-Sekretär Manuilskij habe Radek nach der Rückkehr aus der sibirischen Verbannung gefragt: „Nun, Genosse Radek, ist es möglich den Sozialismus in einem einzelnen Lande aufzubauen, oder etwa nicht?“ – „Gewiß doch“, soll Radek geantwortet und hinzugefügt haben: „Aber Gott helfe diesem Land.“ Poretsky, S. 185f. 11 Sternberg, Fritz (1895–1963); deutscher Sozialwissenschaftler und führender marxistischer Wirtschaftstheoretiker. 12 Sternberg, S. 100. 13 Wollenberg, Erich (1892–1973); deutscher Kommunist; Redakteur; in den 1920er Jahren in der UdSSR Brigadekommandeur der Roten Armee; nach Parteiausschluss 1933 und abenteuerlicher Flucht vor der Gestapo nach Marokko lebte er zuletzt als freier Journalist in München. 14 Möller, S. 48.

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Noch 1934, als er in einer großen Eloge Stalin als den „Baumeister der sozialistischen Gesellschaft“ gefeiert hatte und man ihm giftig vorwarf: „Es ist so lange nicht her, daß du über Stalin etwas ganz anderes gesagt hast! Wie ist dies zu verstehen?“, erwiderte er: „Wenn solche Menschen wie ich, Oppositionelle, in der Zeit Robespierres gelebt hätten, so wären wir bereits einen Kopf kürzer.“15 Es sollte allerdings nur noch wenige Jahre dauern, bis er durch Stalin sein Leben verlor. Aber das konnte Radek nicht wissen. Oder vielleicht doch? Bucharin hatte bereits im Juli 1928 Stalins wahres Gesicht erkannt und über ihn vertraulich geäußert: „Er ist ein prinzipienloser Intrigant, der alles seinem Machthunger unterordnet [...]. Er hat uns Zugeständnisse gemacht, um uns besser die Kehle durchschneiden zu können [...] er kennt nur die Rache und den Dolch im Rücken [...]. Er wird uns alle umbringen [...]. Das ist ein neuer Dschingis-Chan, der uns erwürgen wird.“16

Schon bald nach seiner Rückkehr aus der Verbannung bot die sogenannte BljumkinAffäre17 Radek die Gelegenheit, Stalin seine Loyalität zu zeigen. Jakov Grigorevič Bljumkin, der 1918 in Moskau den deutschen Botschafter Graf Mirbach ermordet hatte und sich dank Trockijs Hilfe rehabilitieren konnte, war 1920 mit Radek zum Kongress der Völker des Ostens nach Baku gereist. Er bewunderte Radek, hatte sich mit ihm angefreundet und als Čekist Karriere gemacht. Nachdem Radek aus Tomsk wieder nach Moskau zurückgekehrt war, tauchte Bljumkin überraschend bei ihm auf. Er war inzwischen Mitarbeiter der Auslandsabteilung der OGPU und arbeitete als Resident des sowjetischen Auslandsnachrichtendienstes im Nahen Osten. Als ein Sympathisant der Opposition hatte er während einer Dienstreise Trockij heimlich am 16. April 1929 in Konstantinopel aufgesucht und überbrachte nun eine Botschaft von ihm an seine Anhänger in Russland. Sie war in allgemeinen Formulierungen abgefasst und zum Teil so banal, dass man fragen muss, warum Bljumkin das Risiko einer Beförderung überhaupt auf sich nahm. Trockij prognostizierte Stalin für den Herbst große Schwierigkeiten und meinte, spätestens dann würden diejenigen Oppositionellen, die kapituliert hatten, die Nutzlosigkeit ihrer Unterwerfung einsehen. Er appellierte an seine Gefolgsleute auszuharren und kündigte an, er werde Radek publizistisch angreifen. Zugleich wies er Radeks wiederholte Beschuldigungen zurück, er wolle eine neue Partei gründen und bekräftigte, dass die Opposition Teil der alten Partei bleiben müsse. Ausführlich ging er auf seine Bemühungen ein,

15 Wolkogonow [Vol’kogonov], Stalin, S. 286. 16 Löwy, A. G., Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Bucharin – Vision des Kommunismus. Zürich 1969, S. 354; zitiert nach: Leonhard, Wolfgang, Am Vorabend einer neuen Revolution, S. 30. 17 Die zusammenfassende Darstellung der Bljumkin-Affäre stützt sich auf: Agabekov, S.  221; Andrew/Mitrokhin, S. 53; Deutscher, Trotzki III, S. 90ff.; Lerner, S. 155 f.; Orlow, A., S. 231ff.; Poretsky, S. 146f.; Serge, Beruf: Revolutionär, S. 286ff.; Tuck, S. 101ff.; Wolkogonow [Volkogonov], Trotzki, S. 349.

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eine internationale Opposition zu organisieren.18 In der ganzen Botschaft war nichts enthalten, was er nicht schon zuvor gesagt hatte oder bald veröffentlichen sollte und allem Anschein nach, hat er seinem Besucher auch keine konspirativen mündlichen Instruktionen erteilt. Zurück in Moskau, suchte Bljumkin Radek auf, von dem er meinte, er sei im Herzen noch ein Oppositioneller und ein „ehrlicher unbestechlicher Revolutionär“ geblieben. Wahrscheinlich wollte er versuchen, zwischen Radek und Trockij zu vermitteln und mit dessen Botschaft aus dem Exil eine neuerliche politische Annäherung zwischen beiden in die Wege leiten. Radek war über Bljumkins Besuch bestürzt, um so mehr, als der OGPU-Mann ihm mitteilte, er habe den Eindruck bereits unter Verdacht zu stehen und überwacht zu werden. Über seine Reaktion liegen kontroverse Berichte vor: – Der NKVD-Überläufer General Aleksandr Orlov19 behauptet, Radek habe, nachdem Bljumkin ihn verlassen hatte, eilends Stalin im Kreml’ aufgesucht und informiert. Der Generalsekretär habe daraufhin Jagoda20 benachrichtigt, der veranlasste, dass eine Mitarbeiterin der Auslandsabteilung der OGPU auf Bljumkin als agent provocateur angesetzt wurde.21 – Victor Serge berichtet, Radek hätte Bljumkin, der sich bereits entdeckt glaubte, geraten, sich zu retten, indem er die Angelegenheit sofort dem Vorsitzenden der Zentralen Parteikontrollkommission Ordžonikidze beichtete und ein Treffen mit diesem Vertrauten Stalins vermittelt.22 – Dmitrij Volkogonov schreibt, Radek habe seinen Gast bestürmt, sich der OGPU selbst auszuliefern und seinen Kontakt mit Trockij zu offenbaren. Nachdem Bljumkin gegangen war, habe Radek sofort Jagoda angerufen, ihm Mitteilung über den abendlichen Besuch gemacht und das Päckchen mit der Botschaft Trockijs ungeöffnet der OGPU ausgehändigt.23 Über die Verhaftung Bljumkins sind ebenfalls unterschiedliche Versionen in Umlauf: – Bljumkins Kontaktaufnahme zu Trockij sei dem sowjetischen Geheimdienst möglicherweise durch einen Agenten in dessen Umgebung bereits bekannt geworden, bevor er Radek aufsuchte. Um die Sache abzuklären, hätten Jagoda oder 18 Der Text der Botschaft (undatiert) befindet sich in: The Trotsky Archive, Houghton Library, Harvard University; zitiert nach: Deutscher, Trotzki III, S. 92. 19 Orlov, Aleksandr Michajlovič, Pseudonym von Fel’bing, Lejba Lazarevič (1895–1973); führender Mitarbeiter im sowjetischen Auslandsgeheimdienst; 1938 in die USA übergelaufen, schützte er sich vor der Rache des NKVD, dadurch, dass er keine operativen nachrichtendienstlichen Informationen preisgab. 20 Jagoda, Genrich Georgevič (1891–1938); seit 1924 Stellvertretender Vorsitzender der GPU/ OGPU, der wegen Arbeitsüberlastung und Krankheit der Geheimdienstchefs Dzeržinskij und Menžinskij deren Amtsgeschäfte praktisch selbständig führte; 1934–1936 Volkskommissar für Innere Angelegenheiten (NKVD) der UdSSR. 21 Orlow, Alexander [Orlov, Aleksandr], S. 230f. 22 Serge, Beruf: Revolutionär, S. 288. 23 Wolkogonow [Volkogonov], Trotzki, S. 349.

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Trilisser24 eine „Honigfalle“ für Bljumkin arrangiert, das heißt, die attraktive OGPU-Mitarbeiterin „Liza“ – Elizaveta Julevna Gorskaja-Zarubin25 – auf ihn angesetzt, um ihn in eine Liebesbeziehung zu verwickeln und auszuhorchen. Ihr offenbarte er sich und als sie ihn an Trilisser verriet, wurde er verhaftet.26 – Nach dreiwöchiger ergebnisloser Observation befahl Jagoda, Bljumkin zum Schein auf eine Auslandsmission zu kommandieren und ließ ihn auf dem Weg zum Bahnhof verhaften.27 – Bljumkin wurde nach dem Besuch bei Radek auf der Straße festgenommen, noch bevor er den Termin bei Ordžonikidze wahrnehmen konnte.28 Die Verhaftung Bljumkins erfolgte Mitte Oktober 1929. In einem Geheimverfahren wurde er durch das Kollegium der OGPU am 3. November als Verräter an der proletarischen Sache zum Tode verurteilt und erschossen.29 Er starb mit dem Ruf: „Es lebe Trockij!“ Es steht fest, dass Radek seinerzeit tatsächlich ein Schreiben Trockijs von Bljumkin ausgehändigt bekam. Radek hat das selbst bestätigt, als er 1936 kurz vor seiner eigenen Verhaftung Bucharin bat, Stalin daran zu erinnern, dass er den einzigen Brief von Trockij, den er 1929 über Bljumkin erhalten hätte, unverzüglich an die OGPU weitergeleitet habe.30 Allerdings hat es sich dabei nicht um einen an ihn persönlich gerichteten Brief Trockijs gehandelt.31 Elisabeth Poretsky32 meint, Radek hätte keine andere Wahl gehabt, als Bljumkin zu denunzieren, nachdem er wusste, dass dieser bereits anderen von Trockijs Botschaft erzählt hatte. Nur so hätte er seine eigene Haut retten können. Folgt man Victor Serges Version, so war Radeks Rolle eher kläglich als unheilvoll. Allerdings wurde weithin geglaubt, Radek habe seinen Freund verraten, um Stalin von der Aufrichtigkeit seines Widerrufs zu überzeugen. „Radek verstand schnell“, schreibt Orlov, „daß Bljumkin sich ihm ausgeliefert hatte. Er sah darin eine seltene Möglichkeit, Stalin seine Ergebenheit zu beweisen und so mit einem Schlag die Position wiederzuerlangen, die er früher einmal in der Partei

24 Trilisser, Meer; Pseudonym: Moskvin, Michail Abramovič (1883–1940); Leiter der Auslandsabteilung der OGPU und bis 1937 Sekretär der Komintern. 25 Auch unter dem Namen Lisa Rosenberg auftretende Ehefrau des Berliner OGPU-/NKVD-Residenten „Vasja“ Zarubin. 26 Agabekov, S. 221f.; Andrew/Mitrokhin, S. 53. 27 Orlow, Alexander [Orlov, Aleksandr], S. 232f. 28 Serge, Beruf: Revolutionär, S. 288. 29 Hedeler, Chronik, S. 563f. 30 Bucharina, S. 369. 31 Elisabeth Poretsky (S. 147) berichtet, Trockijs Sohn Leon Sedov habe ihr gesagt, ein Brief Trockijs an Karl Radek habe nicht existiert. 32 Poretsky, Elisabeth; Ehefrau des polnischen NKVD-Agenten Nathan Poretsky, Deckname: Ignatij Raiss bzw. Ignaz Reiss (1899–1937); er brach im Juli 1937 mit Stalin und wurde kurz darauf vom NKVD in der Schweiz ermordet.

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eingenommen hatte.“33 Bljumkins Hinrichtung blieb nicht geheim. Es war das erste Mal, dass ein Bol’ševik wegen seines Engagements für die Opposition erschossen worden war. Den vermeintlichen „Judas“ Radek traf der Hass und die Verachtung seiner alten Genossen. Orlov mutmaßt, ihr feindseliges Verhalten habe ihn noch mehr in Stalins Lager getrieben und schlussfolgert: „So verwandelte der Diktator Radek in einen gehorsamen Sklaven.“34 Trockij bezichtigte Radek, für die Hinrichtung Bljumkins verantwortlich zu sein. Er schrieb, der unmittelbare Grund für den Tod dieses Revolutionärs, der sich durch seine Hingabe und seinen Mut auszeichnete, liegt in zwei Gegebenheiten: dem ihm eigenen idealistischen Vertrauen in seine Mitmenschen und der völligen Verkommenheit des Mannes, der ihn denunzierte.35 Es ist jedoch fraglich, ob Radek gewusst haben kann, was sein Verhalten auslösen würde, da bisher noch nie ein Parteimitglied wegen seiner Verbindung zu Trockij hingerichtet worden war. Auch war Bljumkin keineswegs das Unschuldslamm, zu dem ihn Trockij und seine Anhänger stilisiert haben. Der Mann mit „dem stolzen Profil eines Kriegers in Israel“, der Texte des persischen Dichters Firdausi36 deklamieren konnte37 und den Isaac Deutscher als naiven romantischen Idealisten beschreibt, der seiner Sache mit grenzenloser Hingabe diente und selbst ein Stück von einem Dichter in sich hatte38, war nicht nur der Mörder Mirbachs, sondern ein brutaler und gewalttätiger Čekist, der mindestens in einem Fall als Auftragsmörder ins Ausland entsandt wurde und dessen Grausamkeit gegenüber politischen Gefangenen sprichwörtlich war.39 Radek hingegen, war wohl nicht so verworfen, wie seine Gegner behaupteten. Selbst Trockij kamen später Zweifel an seiner Schuld und er deutete an, dass Radek wohl unverantwortlich und töricht, aber in gutem Glauben gehandelt habe. Er urteilte: „Blumkins Unglück war, daß er Radek vertraute und daß Radek Stalin vertraut hat.“40 Welchen Anteil Radek auch immer am tödlichen Ausgang der Affäre Bljumkin gehabt haben mag, in der Folge machte er erneut Karriere in seinem Metier als Journalist. Nach der Rückkehr aus Tomsk hatte er an der „Moskauer Rundschau“, einer offiziösen deutschsprachigen Wochenzeitung, gearbeitet.41 Am 15. April 1930 erteilte 33 Orlow, Alexander [Orlov, Aleksandr], S. 231. 34 Ebenda, S. 233. 35 Trockij, Kak i za čto Stalin rasstreljal Bljumkina? [Wie und weshalb Stalin Bljumkin erschießen ließ], in: „Bjulleten Oppozicii“, Nr. 9, Februar/März 1930, S. 9–11. Lerner, S. 155; zitiert nach: Tuck, S. 101. 36 Firdausi, Abu ’l-Kasim Mansur (um 934–1020); größter epischer Dichter der Perser. 37 Serge, Beruf: Revolutionär, S. 287. 38 Deutscher, Trotzki III, S. 90. 39 Tuck, S. 102. So musste beispielsweise der Dichter Osip Mandel’štam bei Čeka-Chef Dzeržinskij intervenieren, um einen Freund davor zu bewahren, von Bljumkin umgebracht zu werden. Ebenda. 40 Deutscher, Trotzki III, S. 95. 41 Herlitz, Hrsg., Jüdisches Lexikon, Band 4, 1., Berlin 1930. Saur, Jüdisches Biographisches Archiv, Mikrofiche Nr. 536, Feld 249. Die seit 1929 erscheinende „Moskauer Rundschau“, die sich insbesondere mit Angelegenheiten des deutsch-russischen Verhältnisses befasste, war ein Sprachrohr des

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das Politbüro dem „Genossen Radek“ die Genehmigung zur Übersiedlung nach Moskau, wo er sich – vermutlich in der Wohnung seiner Frau – längst wieder aufhielt. Der Beschluss, in dem er als „Genosse“ bezeichnet wird, bestätigt zugleich, dass er zu diesem Zeitpunkt wieder Parteimitglied und offiziell rehabilitiert war.42 Wieder in die Partei aufgenommen, erlaubte man ihm für die führenden sowjetischen Zeitungen zu schreiben. In den „Izvestija“, die Bucharin jetzt als Chefredakteur leitete, begannen seine Leitartikel bereits ab Januar 1930 erneut aufzutauchen.43 Als sich im Mai wegen des Europa-Memorandum Briands44 und der vorzeitigen Räumung des besetzten Rheinlands durch die alliierten Truppen45 das sowjetische Interesse verstärkt auf die außenpolitische Orientierung Deutschlands richtete, meldete sich Radek als Kommentator zurück. Die Rheinlandräumung bewertete er in den „Izvestija“ als ein Ereignis, das für Deutschland kaum lageverändernd sei. Zwar begrüße die Sowjetunion diesen Schritt, da die Besetzung den nationalen Stolz des deutschen Volkes verletzt habe. Aber „die Befreiung der Rheinlande“ stelle keinen Sieg des Reichs über Versailles dar. Die deutsche Bourgeoisie werde bald merken, dass sie weder bei der Revision der Ostgrenze noch bei der Abrüstung Fortschritte erzielen könne. Radek kam auf die Frage des „polnischen Korridors“46 zu sprechen und zeigte Verständnis für die deutsche Haltung im Korridorstreit mit Polen. Es gehe dabei nicht nur um den Verlust einiger zehntausend Deutscher. So etwas lasse sich in ethnisch gemischten Gebieten nicht vermeiden. Entscheidend sei vielmehr, dass der Korridor das Reich militärisch schwäche und Berlin der Gefahr eines polnischen Angriffs aussetze. Da Deutschland im Kriegsfall im Westen sowieso auf die Weser zurückgehen müsse, bedinge der Berlin bedrohende polnische Festungsgürtel an der Weichsel, dass ein großer kapitalistischer Staat in der Mitte Europas völlig schwach und zur strategischen Defensive gezwungen sei. Aus diesem Grunde müsse man der Außenkommissariats, das auch der Geldgeber des Blattes war. Als Herausgeber fungierte nominell der Sozialist Otto Pohl (1872–1941), ein ehemaliger Prager Journalist und österreichischer ExDiplomat. 42 Protokoll der Politbürositzung des CK der VKP(b) No. 123 vom 15. April 1930. Ken, S. 144. 43 So beispielsweise Nachrufe auf George Clemenceau (Januar 1930] und Fritjof Nansen (Mai 1930). Nachdruck in: Portrety i pamflety, tom 2 (1934): Žorž Klemanso, S.  298–312; Velikij putešestvennik, kotoryj ne došel do Novoj zemli [Der große Reisende, der nicht bis Novaja Zemlja kam], S. 236–243. 44 Am 17. Mai 1930 legte der französische Außenminister Briand den Mitgliedstaaten des Völkerbundes seinen Pan-Europa-Plan vor, der den Locarno-Vertrag zu einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem und einem vereinten Europa weiterentwickeln sollte. Deutschland brachte den Plan, der international kaum zur Kenntnis genommen wurde, am 15. Juli 1930 mit der Forderung nach Abrüstung oder völliger Rüstungsgleichheit als Vorbedingung, zu Fall. 45 Bis zum 30. Juni 1930, das heißt fünf Jahre früher als im Versailler Vertrag vorgesehen, hatten die alliierten Truppen das besetzte Rheinland geräumt. 46 Um Polen einen Zugang zum Meer zu verschaffen, musste Deutschland 1920 ohne Volksabstimmung einen 30 – 90 km breiten Gebietsstreifen in Westpreußen und der Provinz Posen abtreten, der den neugegründeten polnischen Staat mit der Ostsee verband. Durch diesen „polnischen Korridor“ wurden Ostpreußen und die freie Stadt Danzig vom deutschen Kernland abgetrennt.

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deutschen Bourgeoisie zugestehen, dass sie an die „Änderung ihrer militärischen Existenzbedingungen denken“ müsse, wenn sie ihre Weltstellung zurückgewinnen wolle. Allerdings sei es „undenkbar“, ein solches Vorhaben mit friedlichen Mitteln zu realisieren. Denn Frankreich werde seinen polnischen Vasallen stützen, weil es seine Versailler Eroberungen nur dann bewahren könne, wenn Deutschland auch weiterhin die Fähigkeit zum „strategischen Angriff“ genommen werde. Deshalb werde es Deutschland auch unter dem „lärmenden Gerede von der bolschewistischen Gefahr“ nicht erreichen, dass Frankreich seiner Forderung nach einer größeren Armee zustimme. Aber Deutschland dürfe sein Heil auch nicht in militärischen Bündnissen suchen. Denn wenn Versailles auf den Schlachtfeldern beseitigt werde, würde Deutschland als der schwächere Teil einer der Weltkoalitionen lediglich seine Abhängigkeit vertauschen. Es verbleibe deshalb nur eine Option: „Der einzige Weg zur wirklichen Beseitigung des Versailler Vertrages und zur wirklichen Befreiung Deutschlands von seiner Abhängigkeit ist der Weg des Kampfes gegen alle Kräfte des Weltimperialismus.“ Damit ließ Radek seiner Aufforderung zur Abkehr Deutschlands von westlichen Allianzen die verhüllte Empfehlung folgen, den Weg der Revolution zu gehen. Ein Rat, den er jedoch sogleich wieder ad absurdum führte, indem er feststellte, dass die deutsche Bourgeoisie diesen Weg nicht gegangen sei und auch nicht gehen konnte. Er beschränkte sich deshalb darauf, die deutsche Missstimmung über Versailles weiter zu schüren, um zu versuchen, eine Verständigung mit dem Westen zu hintertreiben und Einfluss auf die noch ausstehende deutsche Entscheidung über das Briand-Memorandum zu nehmen. Auf die Rheinlandbefreiung gemünzt, polemisierte er, sie sei nicht der Beginn der Befreiung Deutschlands von den Versailler Ketten. „Diese Ketten bleiben an Deutschlands Händen in Form eines Tributs, den das Volk in den nächsten Generationen zahlen muß. Diese Ketten sind das Verbot einer Vereinigung des deutschen Volkes. Diese Ketten bedeuten, in einer Welt wachsender Rüstungen zur Waffenlosigkeit verurteilt zu sein.“47 Bald darauf reihte sich Radek in die Phalanx der sowjetischen Kritiker am BriandPlan ein. Moskau hatte deutlich gemacht, dass ihm schon aus strategischen Gründen eine deutsch-französische Annäherung höchst unerwünscht war. Die sowjetische Presse hatte Verdächtigungen gestreut, dass mit dem Pan-Europa Plan eine europäische Kontinentalmacht auf den Spuren Napoleons errichtet werden sollte. Als eine dritte Macht neben England und Amerika agierend, könnte sie eine europäische Armee gegen die Sowjetunion marschieren lassen.48 Warnungen, dass die Weimarer Republik in einem Pan-Europa nur eine untergeordnete und nicht gleichberechtigte Rolle spielen könnte, verlieh Radek mit einer Analyse der außenpolitischen Konstellation geschickt Nachdruck. Der Utopie der „Vereinigten Staaten von Europa“ stellte er in den „Izvestija“ die Realität der „Entzweiten Staaten Europas“ gegenüber. Obwohl Frankreich vor allem den Zusammenschluss mit Deutschland suche, so 47 Radek, Osvoboždenie Rejnskoj Provincii [Die Befreiung der Rheinprovinz], in „Izvestija, Nr. 138 vom 21. Mai 1930. Grieser, S. 218ff. 48 Grieser, S. 213ff.

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schrieb er, sei zu bezweifeln, ob das Reich als Kompensation das von ihm angestrebte Recht auf Aufrüstung und das verlorengegangene Gebiet des polnischen Korridors erhalten werde. Frankreich besitze mit Polen bereits eine „Geliebte“, die jede seiner Aktionen eifersüchtig überwache und angesichts der französisch-italienischen Spannungen erwäge die polnische Presse bereits, ob ein Konflikt zwischen Frankreich und Mussolinis Italien nicht dazu führen könne, dass beide Staaten um deutscher Unterstützung willen den polnischen Standpunkt in der Korridorfrage opfern würden. Indem er die polnischen Befürchtungen unterstützte und Deutschland gleichzeitig vor einer Ausnutzung der französisch-italienischen Spannungen warnte, versuchte Radek, eine deutsch-französische Verständigung zu durchkreuzen. Frankreich wolle Deutschland doch nur gegen Italien, England und die USA ausspielen. Zudem sei das deutsch-polnische Grenzproblem nicht durch diplomatische Verhandlungen ohne kriegerische Begleitumstände zu lösen. Deutschland sollte sich an Italien ein Beispiel nehmen, das sich nicht in antiamerikanische Kombinationen einbeziehen lasse. Wenn es das nicht bedenke, nähme es automatisch an gegen die Sowjetunion gerichteten Machinationen teil.49 Für Lenins einstigen Deutschlandexperten, der seit August 1930 wieder dem Redaktionskollegium der „Izvestija“ angehörte50, bildete die Behandlung deutscher Themen einen Schwerpunkt der journalistischen Arbeit. Als bei den Reichstagswahlen im September 1930 den Nationalsozialisten mit dem Aufstieg zur zweitstärksten Partei der politische Durchbruch gelang und die KPD mit 23 neu hinzugewonnen Mandaten die Zahl ihrer Reichstagsabgeordneten auf 77 steigerte und drittstärkste Fraktion wurde, schrieb Radek in der „Inprekorr“: Ein solches Ergebnis der Reichstagswahlen habe niemand erwartet. Die Zahl der Stimmen für den Faschismus sei von 0,8 Millionen auf 6 Millionen angewachsen. Die Geschichte der politischen Kämpfe kenne nichts dergleichen, insbesondere in einem solchen Land wie Deutschland, wo jede neue Partei große Schwierigkeiten habe, einen gleichberechtigten Platz neben den alten Parteien zu erobern. Die nunmehr zweitstärkste deutsche Partei sei eine Partei ohne Geschichte, die plötzlich im politischen Leben Deutschlands entstanden sei. Ihr Aufstieg lasse sich mit dem Entstehen einer Insel im Meer vergleichen, die sich infolge des Wirkens vulkanischer Kräfte erhoben habe. Radek, der 1923 beträchtliches zur Analyse von Faschismus und Nationalsozialismus beigetragen hatte, erweckte jetzt den Eindruck, er halte die NSDAP des Jahres 1930 für ein politisches Phänomen, das sich von der Partei des Jahres 1923 grundlegend unterscheide und rief die Kommunisten zu aufmerksamer Analyse des Nationalsozialismus auf.51 In der sowjetischen Inlandspropaganda beschwor Radek

49 Radek, Razedinenniye štaty Evropy [Die entzweiten Staaten Europas], in: „Izvestija“, Nr. 191 vom 13. Juli 1930. 50 Ken, S. 147. 51 Radek, Die Bilanz der Reichstagswahlen; in: „Inprekorr“ Nr. 81 vom 26. September 1930, S. 1997ff.; zitiert nach: Luks, S. 143f.

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andererseits die Gefahr eines faschistischen Putsches in Deutschland52 und würdigte mit einem plumpen Propagandamachwerk die Bedeutung des „Sieges der deutschen Kommunisten“ für die russischen Arbeiter.53 Er schrieb, der Sieg der Arbeiterklasse in Deutschland hänge davon ab, ob die KPD in der Lage sei, sich neue Reserven aus den Reihen der Sozialdemokraten und der vom Faschismus enttäuschten Volksmassen zu erschließen. Gelinge das, so gehe der Wahlsieg der Nationalsozialisten nur dem kommenden „großen Sieg der Kommunistischen Partei“ voraus. Immerhin habe die KPD schon jetzt 1.300.000 Stimmen hinzugewonnen und damit die Zahl ihrer Wähler auf viereinhalb Millionen erhöhen können. „Das ist ein großer Sieg der KPD.“ Für die sowjetischen Arbeiter zeige dieser Sieg, wie fest die Arbeiterklasse in ihrem Kampf über die Grenzen hinweg verbunden ist. „Unser Kampf war ein nicht geringer Teil ihres Kampfes und ihres Sieges. Möge unser Sieg im dritten Jahr des Fünfjahresplanes ihren Sieg über den Kapitalismus beschleunigen.“54 Mit phrasenhaften Losungen stellte Radek den Wahlerfolg der deutschen Kommunisten in den Dienst der sowjetischen Propaganda für Stalins Fünfjahresplan und deklarierte dessen Erfüllung zur internationalistischen Pflicht. Angesichts der Stimmengewinne der NSDAP war es zwischen Frankreich und Deutschland zu einer deutlichen Abkühlung der Beziehungen gekommen. Im November 1930 lehnte Poincaré, der zu dieser Zeit ohne Portefeuille war, alle deutschen Forderungen nach einer Revision des Versailler Vertrages ab. Radek nahm sich des Themas an. Mit gegen Versailles gerichteten Argumenten äußerte er Verständnis für den deutschen Standpunkt. Dass Frankreich nicht abrüsten wolle und eine Revision von Versailles ausschließe, dürfte nur diejenigen deutschen Politiker überraschen, die in der „Sphäre politischer Illusionen“ lebten. England habe die Illusion genährt, Frankreich werde mit der Zeit auf die härtesten Bedingungen von Versailles verzichten. Damit wollte die Londoner Politik bewirken, dass Deutschland freiwillig nach Locarno ging und die Konsolidierung der deutsch-sowjetischen Beziehungen vernachlässigte. Reichsaußenminister Curtius55 spreche im Hinblick auf die französische Weigerung abzurüsten, mit Recht von einer Existenzkrise des Völkerbunds. Seine Äußerung, eine Nichterörterung der Revisionsfrage schließe alle Wege zur friedlichen Lösung von Streitfragen aus, „entspricht völlig der Wirklichkeit“. Radek warnte vor einer Unterschätzung der deutschen Erregung über Versailles und unterstrich die Möglichkeit, dass die Angelsachsen sich der deutschen Revisionsbestrebungen annähmen und die deutsch-sowjetischen Beziehungen an Wert gewönnen. „Man kann nicht im 20. Jahrhundert im Herzen Europas eines der kultiviertesten Völker der Welt in Fesseln halten und ihm sagen: ,Trage sie friedlich, denn Deine 52 Radek, Opasnost’ fašistkogo perevorota v Germanii [Die Gefahr eines faschistischen Umsturzes in Deutschland], Moskva 1930. 53 Radek, Pobeda germanskich kommunistov i zadači sovetskogo proletariata [Der Sieg der deutschen Kommunisten und die Aufgaben des sowjetischen Proletariats], Moskva 1930. 54 Ebenda, S. 11 und S. 15. 55 Curtius, Julius (1877–1948); 1931/32 deutscher Reichsaußenminister im 2. Kabinett Brüning.

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rechtsgültige Unterschrift steht darunter‘. Wenn Frankreich diese Notwendigkeit nicht einsieht, wird es die Geschichte dazu zwingen.“56 Selbstverständlich schrieb Radek seine Artikel als Anwalt sowjetischer Interessen. Worum es ihm ging, machte ein weiterer Beitrag deutlich: „[…] Frankreich möchte in essentiellen Fragen keine Zugeständnisse machen“ und macht seine Wirtschaftshilfe von politischen Zugeständnissen abhängig. „Damit Frankreich seinen Geldbeutel öffnet, soll Deutschland fest und deutlich auf die Forderung nach Revision der polnischen Grenze und auf die Vergrößerung seiner Rüstung verzichten und sich der Anti-Sowjet-Front anschließen.“57 Das galt es zu verhindern und aus seiner Sicht, war die französische Furcht vor einer deutschen Wiederaufrüstung weiterhin die beste Versicherung gegen eine deutsch-französische Annäherung, die sich gegen die Sowjetunion richten musste.58 Im Übrigen betrachtete er die Welt durch die Brille der stalinistischen Ideologie. Die Titel seiner Publikationen sprechen für sich. „Präsident Hoover59 ,rettet‘ Europa. Die Weltwirtschaftskrise, die Widersprüche des Imperialismus und die Vorbereitung des Kampfes gegen die UdSSR“60 nannte er eine Schrift, mit der er das HooverMoratorium negativ kommentierte, sowjetische Bedrohungsängste artikulierte und dabei ignorierte, dass das Moratorium das Ende der deutschen Reparationszahlungen einleitete.61 Reichskanzler Brüning62, einen erklärten Gegner der Novemberrevolution, nahm er in einem Artikel wegen seiner unpopulären Maßnahmen zur Überwindung der Wirtschafts- und Finanzkrise aufs Korn. Unter Anspielung auf die ungewöhnliche lange Studienzeit Brünings, der bis zur Promotion elf Jahre an verschiedenen Hochschulen verbracht und im Ersten Weltkrieg als Leutnant eine Maschinengewehrscharfschützen-Kompanie geführt hatte, versah er den Beitrag mit 56 Radek, Der deutsche Verteidiger der Unschuld des französischen Imperialismus (Übersetzung des AA: PA, IV Ru, Po 12, Bd. 5), in: „Izvestija vom 14. November 1930, und ders.: Obostrenie franko-germanskich otnošenij [Die Verschärfung der französisch-deutschen Beziehungen], in: „Izvestija“ Nr. 327 vom 28. November 1930. Grieser, S. 222f. 57 Radek, Diplomatičeskie manevry Francii [Diplomatische Manöver Frankreichs], in: Izvestija, Nr. 38 vom 8. Februar 1931. Grieser, S. 227. 58 Vgl. Grieser, ebenda. 59 Hoover, Herbert Clark (1874–1964); 1929–1933 republikanischer Präsident der USA. 60 Radek, Prezident Guber „spasaet“ Evropu. Mirovoj ekonomičeskij krizis, protivorečija imperializma i podgotovka bor’by protiv SSSR [Präsident Hoover „rettet“ Europa. Die Weltwirtschaftskrise, die Widersprüche des Imperialismus und die Vorbereitung des Kampfes gegen die UdSSR], Moskva/Leningrad, 1931. 61 Um die internationalen Finanzprobleme zu lindern und die durch den Abzug amerikanischer Kredite verursachte deutsche Bankenkrise zu mildern hatte der amerikanische Präsident Hoover ein Moratorium angeregt, das die Einstellung sämtlicher Reparationsleistungen für die Dauer eines Jahres vorsah. Es wurde am 11. August 1931 in London unterzeichnet und führte schließlich zur Streichung der deutschen Reparationen 62 Brüning, Heinrich (1855–1970); Führer der Zentrumsfraktion im deutschen Reichstag; 1931– 1932 deutscher Reichskanzler; er versuchte die schwere Wirtschaftskrise mit Notverordnungen zu bekämpfen, konnte aber das Anwachsen der radikalen Parteien nicht verhindern.

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der Überschrift: „Brüning – Wissenschaft und Maschinengewehr“.63 Über den von der SPD tolerierten deutschen Regierungschef schrieb er polemisch: „,Dies ist der beste Reichskanzler seit Bismarck‘ – diese Einschätzung äußerte Oldenburg von Januschau64, der alte Junker, der Zechkumpan des Kronprinzen, der in der Vorkriegszeit durch seine Erklärung berühmt wurde, daß man für die Auseinanderjagung des Parlaments nur einen Leutnant und 10 Soldaten brauche.“ Wer aber ist dieser Brüning, der für den alten preußischen Junker der ideale Reichskanzler ist? Die deutschen Sozialfaschisten [die Sozialdemokraten] ordnen sich ihm unter, um nicht vor Hitler kuschen zu müssen. Aber die revolutionären Arbeiter kennen die einfache Antwort: Brüning, das ist Arbeitslosigkeit und Sozialabbau, das ist die Steigerung der Unterdrückungsmaßnahmen gegen die revolutionäre Bewegung, das sind neue Steuern und diktatorische Dekrete.65 Brüning das ist der typische Vertreter der deutschen Bourgeoisie und der Steigbügelhalter des Faschismus.66 Auf dem Gebiet der sowjetischen Innenpolitik erwies sich Radek als gelehriger Schüler seines neuen Herrn. Im Sommer 1930 ordnete Stalin Säuberungskampagnen in der Verwaltung an, um mit der „Rechten“ um Regierungschef Rykov Schluss zu machen67 und die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik auf klassenfeindliche „Schädlinge“ und Saboteure zu lenken. Die Schuldbekenntnisse der „Schädlinge“ wollte Stalin auch zur Erpressung und Einschüchterung ehemaliger Oppositioneller und schwankender Politbüromitglieder nutzen. Auf seine Weisung hin verhaftete die OGPU renommierte parteilose Spezialisten, die wichtige Funktionen in der Staatsplankommission (GOSPLAN), in der Staatsbank und in den Volkskommissariaten für Finanzen, Handel und Landwirtschaft ausübten. Der Geheimdienst erfand drei antisowjetische Untergrundparteien, denen die Festgenommenen zugeordnet wurden. Die erste dieser willkürlich konstruierten Organisationen war die sogenannte „Industriepartei (Prompartija)“ in die Ingenieure, Wissenschaftler und Planungsspezialisten mit Professor Ramzin68 und A. A. Fedotov69 als prominenteste Vertreter eingereiht wurden. Das zweite Konstrukt war die „Werktätige Bauernpartei (TKP)“, die bekannte Wirtschaftsspezialisten aus den Volkskommissariaten für Finanzen und Landwirtschaft umfasste, 63 Radek, Brjuning – nauka i pulemet, (geschrieben im April 1931); Nachdruck in: Portrety i pamflety, tom 2 (1934), S. 331–334. 64 Oldenburg-Januschau, Elard von (1855–1937); konservativer preußischer Rittergutsbesitzer, der als Reichstagsabgeordneter 1910 die Redewendung prägte, „Der Kaiser kann durch einen Leutnant und zehn Mann den Reichstag nach Hause schicken.“ 65 Radek, a.a.O., S. 331. 66 Ebenda, S. 342. 67 Am 19. Dezember 1930 wurde Rykov von Molotov als Vorsitzender des Rates der Volkskommissare abgelöst. 68 Ramzin, Leonid Konstantinovič (1887–1948); Professor, Direktor des Moskauer Instituts für Wärmetechnik, Mitglied der Staatlichen Planungskommission und des Obersten Rates für Volkswirtschaft; 1935 aus der Haft entlassen; 1943 Stalinpreisträger. 69 Fedotov, A. A., 1930 einer der Angeklagten im Prozess gegen die „Industriepartei“.

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darunter Professor Kondratev70, den Schöpfer der berühmten „Kondratjew-Zyklen“. Die dritte „Partei“, das „Unionsbüro der Men’ševiki“, bestand aus ehemaligen Sozialdemokraten, die in Wirtschafts- und Wissenschaftseinrichtungen arbeiteten, darunter Professor Groman71, einer der bekanntesten Wirtschaftsstatistiker der Staatsplankommission (GOSPLAN) und der Revolutionshistoriker Suchanov.72 Stalin verlangte von der OGPU nicht nur die Verbindung dieser „Parteien“ zu Emigrantenorganisationen offenzulegen, sondern insbesondere in die Aussagen Ramzins die Frage der Intervention aufzunehmen, die angeblich von ausländischen Staaten und der weißen Emigration für 1930 geplant war. In der Anklageschrift gegen die „Industriepartei“ hieß es, sie sei eine Spionage- und Diversionsorganisation, die westlichen Staaten, insbesondere Frankreich, bei der Vorbereitung einer Intervention Hilfe geleistet habe. Zum Kopf der „Industriepartei“ wurde Professor Ramzin erklärt. Den Intentionen Stalins folgend, hatte Radek die angebliche Bedrohungskulisse durch eine Intervention schon zuvor propagiert.73 Jetzt begleitete er das Verfahren gegen die „Industriepartei“ mit einem publizistischen Rundumschlag gegen die konterrevolutionären und kapitalistischen Feinde der Sowjetunion. Als der Staatsverlag vor Prozessbeginn die Anklageschrift veröffentlichte, verfasste Radek das Vorwort dazu.74 Er behauptete, die traurigen Überbleibsel der alten konterrevolutionären Parteien in Russland – die Kadetten, die Sozialrevolutionäre, die Men’ševiki – alle Handlanger, Liebediener und ehemaligen Generäle des Kapitalismus, hätten sich verschworen, den Aufbau des Sozialismus zu liquidieren, den Fortschritt der Sowjetwirtschaft aufzuhalten und eine Hungersnot auszulösen. Hinter ihnen stünden „die wohlbekannten Kräfte der Intervention“. Aber „die Wachsamkeit der Arbeiterklasse und das wachsame Auge des Wächters der Revolution, der O.G.PU.“, hätten die Spionage- und Diversionsaktivität der Konterrevolutionäre im Ansatz verhindert 70 Kondratev, Nikolaj D. (1892–1938); russischer Wirtschaftswissenschaftler; 1920–1928 Leiter des Konjunkturinstituts beim Volkskommissariat für Finanzen. 1929 scharf angegriffen, wurde er 1930 verhaftet. Opfer des Stalinschen Terrors. 71 Groman, Vladimir Gustavovič (1974–1937); russischer Sozialdemokrat; 1923–1928 Wirtschaftsstatistiker in der Staatsplankommission (GOSPLAN); 1931 im Prozess gegen das „Unionsbüro der Men’ševiki“ angeklagt und im Gefängnis umgekommen. 72 Suchanov, Nikolaj Nikolaevič; Pseudonym von N. N. Himmer bzw. Gimmer (1882–1937); ehemaliger Men’ševik; Autor einer siebenbändigen Geschichte der russischen Revolution; Mitarbeiter an Gor’kijs Zeitschrift „Novaja Žizn’“ [Neues Leben]; 1931 im Men´ševikiprozess zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt; Opfer des Terrors. 73 So schrieb Radek beispielsweise im Juli 1930 über Kriegsvorbereitungen gegen die UdSSR („Mirovaja literatura i podgotovka vojny protiv SSSR [Die Weltliteratur und die Kriegsvorbereitungen gegen die die UdSSR]“; Nachdruck in: Portrety i pamflety, tom 2 (1934), S.  253–268) und in den „Izvestija“ vom 30. und 31. Oktober sowie vom 1. November 1930 veröffentlichte er Artikel über die Weltkrise und die Gefahr einer Intervention (Degras, Calendar of Soviet Documemts on Foreign Policy 1917–1941, S. 163). 74 Radek, Preface [Vorwort], (vermutlich geschrieben im November 1930), in: A Blow at Intervention. Final Indictment [Ein Schlag gegen die Intervention. Anklageschrift (vom 10. November 1930)], Moskva/Leningrad 1931, S. 3–26.

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und sie hinter Gefängnisgitter gebracht. Sie würden bald vor dem Revolutionsgericht stehen, um sich für ihre Verbrechen zu verantworten und ihre verdiente Strafe zu erhalten.75 Dann entwarf Radek das Interventionsszenario. Bekanntlich hätten die kapitalistischen Staaten, insbesondere Frankreich, ihre 1920 gescheiterten Interventionspläne nicht aufgegeben. Während die Imperialisten gegenwärtig eine Intervention an der Westflanke der UdSSR vorbereiteten und dazu die Nachbarn der Sowjetunion vorschicken wollten, ermutigten sie gleichzeitig den Faschismus in Polen, Lettland und Rumänien. Der finnische, polnische und der französische Generalstab träfen gemeinsame Kriegsvorbereitungen an der russischen Westgrenze. Gleichzeitig solle China einen erheblichen Teil der russischen Streitkräfte in Fernost binden.76 Als Agenten des französischen Imperialismus würden die russischen Konterrevolutionäre Hilfestellung bei diesen Interventionsplanungen leisten. Schon mit den 1928 im Šachty-Prozess77 abgeurteilten Ingenieuren und Technikern aus dem Donbass-Revier sei die Sabotage am wirtschaftlichen Aufbau durch sowjetfeindliche Spezialisten offenbar geworden. Jetzt hätten ehemalige Men’ševiki, wie Groman, Mitglieder der „Werktätigen Bauernpartei“, wie Kondratev, sowie Ramzin und Konsorten von der „Industriepartei“ den Fünfjahresplan sabotiert. Sie alle seien Agenten Frankreichs und Helfershelfer des französischen Imperialismus, die untereinander in Verbindung stünden. Jedoch seien die Pläne der Ramzins fehlgeschlagen. Mit der Verhaftung der Verschwörer sei ihr Vorhaben offengelegt worden.78 Jetzt wüssten die Menschen in der Sowjetunion „[…], daß der Weltkapitalismus sein Schwert gegen sie gezogen hat; daß das Schwert bereits über ihren Köpfen hängt. Aus dieser Tatsache ziehen die Menschen die offensichtlichen Konsequenzen: erstens und vor allem, schlagen sie gnadenlos auf die Kräfte der Konterrevolution ein, die diese Waffe gegen die Sowjetrepublik erhoben haben.“79

Als weitere Konsequenz – so Radek – müsse das Vertrauen, das man bisher den Loyalitätsbekundungen der parteilosen Fachleute entgegengebracht habe, durch hundertfach größere Wachsamkeit ersetzt werden. Vor allem werde jeder Arbeiter erkennen, dass der Fünfjahresplan nun in einer auf vier Jahre verkürzten Zeitspanne erfüllt werden muss, um die Gefahr der Intervention zu bannen und „unseren Feinden zu zeigen, daß sie bereits zu spät kommen“.80 Von der Wachsamkeits- und Planerfüllungspropaganda leitete Radek auf das Verhältnis der Sowjetunion zur Weltrevo75 Ebenda, S. 3f. 76 Ebenda, S. 15f. 77 Gerichtsverfahren vor dem Obersten Gericht der UdSSR in Moskau (18. Mai–6. Juli 1928) gegen 53 Angehörige der „technischen Intelligenz“ wegen angeblicher sowjetfeindlicher Tätigkeit. Der Prozess, der mit fünf Todesurteilen und hohen Freiheitsstrafen endete, markierte den scharfen innenpolitischen Kurswechsel gegenüber den „Spezialisten“ auch im Wirtschaftsbereich. 78 Radek, Preface, a.a.O., S. 16–22. 79 Ebenda, S. 23. 80 Ebenda, S. 24.

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lution über. Während nach Lenins Auffassung das Schicksal des Sowjetstaates von der Weltrevolution abhing, war nach Stalins Auslegung – passend zur These vom isolierten Aufbau des Sozialismus – die Entwicklung der Weltrevolution unmittelbar mit der weiteren Stärkung des Machtpotentials der Sowjetunion verbunden. Die Beziehung der Sowjetunion zur Weltrevolution war damit ins genaue Gegenteil verkehrt worden. Radek hatte sich dieser stalinistischen Interpretation bereits in seiner Schrift zum Wahlsieg der deutschen Kommunisten im September 1930 bedient. Jetzt schmückte er sie im Sinne der Stalinschen Idee aus, dass die Arbeiterklasse Europas die die Sowjetunion als ihr „eigenes Kind“ ansehen müsse, verpflichtet sei, den Sowjetstaat „zu verteidigen und wenn nötig, für ihn zu kämpfen“.81 Er richtete seinen Blick auf das internationale Proletariat: „Die Arbeiter in allen Ländern werden die Gefahr erkennen, in der sich die erste Republik der Arbeit, die erste Republik die es unternimmt, den Sozialismus aufzubauen, befand und befindet. Sie werden das Fortschreiten unserer Siege mit dem Enthusiasmus verfolgen, den diese Siege verdienen. Sie werden verstehen, daß diese Siege – die in Wahrheit auch ihre Siege sind – bedroht sind, daß der Weltimperialismus die dreizehnjährige Arbeit von Millionen Russen zermalmen möchte; Arbeit, die doch der Welt zeigt, daß der Sozialismus möglich ist und verwirklicht werden kann. Die Arbeiter aller Länder müssen sich zur Verteidigung der Sowjetrepubliken zusammenscharen; ihre Solidarität bekunden: und die Imperialisten sollten wissen, daß eine Intervention gegen die UdSSR den Beginn des Bürgerkriegs in den Ländern des Kapitalismus bedeutet.“82

Der Prozess gegen die von Radek bereits vorverurteilten Angeklagten der „Industriepartei“ fand vom 25. November–7. Dezember 1930 vor dem Obersten Gericht der UdSSR statt. Die Hauptanklagepunkte – konterrevolutionäre Verbindungen ins Ausland zum Zweck der Interventionsvorbereitung, Unterstützung von Vorkehrungen der internationalen Bourgeoisie zum Sturz des Sowjetsystems und Spionage – beruhten auf den „Geständnissen“ Ramzins, des angeblichen Mitglieds des Zentralkomitees der „Prompartija“. Von den acht Angeklagten, Ramzin eingeschlossen, wurden fünf zum Tod durch Erschießen verurteilt, wobei dann das Urteil auf zehn Jahre Gefängnishaft abgeändert wurde.83 „Ramzin ist eine Jammergestalt“, höhnte Radek nach Beendigung des Prozesses in einem Pamphlet, das er „Porträts von Schädlingen“ betitelte und mit dem er abermals den von Stalin erdachten Mythos von Verschwörung und Sabotage verbreitete.84 81 Stalin, Rede auf dem 14. Parteitag der KPdSU(B), 18. Dezember 1925, in: Ders., Werke, Band 7, S. 247. 82 Radek, Preface, a.a.O., S. 24. 83 Rogowin [Rogovin], S. 217ff. Die Verurteilten arbeiteten unter Haftbedingungen in ihren Berufen und wurden später amnestiert. 84 Radek, Portrety vreditelej (L. K. Ramzin i A. A. Fedotov) [Porträts von Schädlingen (L. K. Ramzin und A. A. Fedotov)], (geschrieben im Dezember 1930), Moskva 1931; Nachdruck in: Portrety i

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Derselben Propagandalinie folgte seine Schrift „Weltmenschewismus und Intervention gegen die UdSSR“ mit der er das Verfahren gegen das angebliche „Unionsbüro der Men’ševiki“ im März 1931 abhandelte.85 Den Angeklagten wurde vorgeworfen, sie hätten sich verschworen, um den Fünfjahresplan zu sabotieren und den Kapitalismus in der Sowjetunion wieder einzuführen. Radek bot der Prozess mit seinen erfundenen Beschuldigungen gegen ehemalige russische Sozialdemokraten Anlass, die internationale Sozialdemokratie in verschiedenen Essays zu diskreditieren und einzelne ihrer Führer polemisch als sowjetfeindliche „Arbeiterverräter“ darzustellen – so Karl Kautsky, der sich scharf gegen die Oktoberrevolution in Russland gewandt hatte86, Rudolf Hilferding, einen der führenden theoretischen Köpfe der SPD87, Otto Bauer, den prägenden Ideologen des Austromarxismus88 und den bereits 1925 verstorben Friedrich Ebert.89 Dem Karl Kautsky diffamierenden Aufsatz legte Radek das Szenario einer von ihm erfundenen Sondersitzung des Obersten Gerichts der UdSSR am 6. März 1931 zugrunde, in dem er den greisen sozialdemokratischen Theoretiker als fiktiven Zeugen im Men’ševikiprozess auftreten ließ: Am Arm gestützt, wird der hinfällige, in einen Schal eingemummte „Zeuge, Bürger Kautsky“ in den Gerichtssaal geführt. Bevor der Vorsitzende mit der Vernehmung beginnt, verliest er ein soeben aus Berlin eingetroffenes Telegramm:

pamflety, tom 2 (1934): Leonid Konstantinovič Ramzin, S. 207–217; Grechopadenie A. A. Fedotova, ili bor´ba dvuch mirov [Der Sündenfall A. A. Fedotovs oder der Kampf zweier Welten], S. 218–230. Zitat nach diesem Nachdruck, S. 216. 85 Radek, Mirovoj men’ševizm i intervencija protiv SSSR [Weltmenschewismus und Intervention gegen die UdSSR] Moskva/Leningrad 1931. Der Prozess fand vom 1.–9. März 1931 in Moskau statt. Den Angeklagten, darunter Groman und Suchanov, wurden Untergrundtätigkeit und konspirative Verbindungen zur Emigrantenführung der Men’ševiki unter Rafael Abramovič Abramovič (eigentlich: R. A. Rein) (1880–1963) vorgeworfen. Sie erhielten langjährige Haftstrafen und fielen 1937 dem Terror Stalins zum Opfer. Die Aussage im Prozess, Abramovič sei heimlich in die UdSSR zurückgekehrt, um die Verschwörung der Men’ševiki gegen die Sowjetunion zu leiten, stellte sich als Lüge heraus, da er zu dieser Zeit an einer Tagung der Internationale in Brüssel teilnahm. Alle Angeklagten waren politisch nicht mehr aktiv und im Sinne der Anklage unschuldig. 86 Radek, Svidetel´skie pokazanija Karla Kautskogo [Die Zeugenaussage Karl Kautskys], (geschrieben im März 1931); Nachdruck in: Portrety i pamflety, tom 2 (1934), S. 458–467. 87 Hilferding, Rudolf (1877–1941); deutscher sozialdemokratischer Politiker (Reichsfinanzminister), Wirtschaftswissenschaftler, marxistischer Theoretiker und Publizist österreichischer Herkunft. Radek, Gospodin Rudol’f Gilferding i SSSR [Herr Rudolf Hilferding und die UdSSR]; Nachdruck in: Portrety i pamflety, tom 2 (1934), S. 468–475. 88 Bauer, Otto (1881–1938); österreichischer Sozialist (stellvertretender Vorsitzender der SDAP), Wortführer des Austromarxismus. Radek, Otto Bauer zaščiščaet sovetskie respubliki [Otto Bauer verteidigt die Sowjetrepublik], (geschrieben im März 1931); Nachdruck in: Portrety i pamflety, tom 2 (1934), S. 476ff. 89 Radek, Svidetel´ Fridrich Ebert [Der Zeuge Friedrich Ebert], (geschrieben im Juli 1931); Nachdruck in: Portrety i pamflety, tom 2 (1934), S. 444–457.

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„Der Berliner „Vorwärts“ druckt eine sensationelle Nachricht unter der Schlagzeile: ,Entführung Karl Kautskys durch die Bolschewiken‘. Unser hochbetagter und ehrwürdiger Führer wollte am Abend des 3. März von einer Versammlung nach Hause zurückkehren, auf der eine Protestresolution gegen die bolschewistischen Greueltaten des Gerichts in Moskau verabschiedet wurde. Aber zu Hause kam er nicht an. Nach Polizeiangaben soll er in der Straße, in der er wohnt, gesehen worden sein, wie er alle Hausnummern der Reihe nach betrachtete. Erschüttert von dem Moskauer Prozeß, hatte unser hochbetagter Führer offenbar vergessen, wo er wohnte. Auf dem Fuße folgten ihm zwei Unbekannte, mit denen er dann in ein nicht weit entfernt stehendes Automobil stieg. Seitdem hat man ihn nicht mehr gesehen […]. Man glaubt, er wurde von Tschekisten nach Moskau entführt […] auch wenn die deutschen Kommunisten behaupteten, er sei an seinem eigenen Geifer ertrunken, den er gegen die Bolschewiken verspritzt [...].“90

Gefragt, was er von dem telegraphischen Bericht halte, weist Kautsky den Verdacht einer Entführung zurück und betont, er habe sich freiwillig eingefunden, um dem Gerichtshof den Standpunkt der Sozialdemokratie und der II. Internationale zu noch offenen Fragen zu erläutern. Weit ausholend erklärte er, dass er 1917 für eine Koalition der russischen Sozialdemokraten [Men’ševiki] mit der Bourgeoisie plädiert habe und nicht mit der Revolution und dem Bolschewismus einverstanden gewesen sei, denn „wir sahen bereits die sich ergebenden Konsequenzen“. Radek lässt Kautsky seine ablehnende Haltung ausführlich begründen, wobei er Zitate aus dessen Buch „Der Bolschewismus in der Sackgasse“91 zur Zeugenaussage montiert. Kautskys Hauptthesen sind: „Die Bol’ševiki ruinieren die Industrie, die Kollektivierung kann nicht gelingen, der Zusammenbruch [des Sowjetregimes] ist unvermeidlich.“ Allerdings drohe keine Konterrevolution und es bestünde auch nicht – wie von der Sowjetführung behauptet – die Gefahr einer Intervention92. Im weiteren Verlauf der Gerichtssitzung versuchte Radek den Vorwurf der hinterhältigen Sowjetfeindlichkeit der deutschen Sozialdemokratie zu untermauern, indem er den Chefankläger fragen lässt: „Ist Ihnen bekannt, Bürger Kautsky, daß Ihre Sozialdemokratische Partei 1918 mit der Wegnahme der Ukraine durch die kaiserlichen Truppen einverstanden war, daß Scheidemann im selben Jahr den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrussland vorschlug, um dadurch die Interventionspolitik der Entente zu unterstützen und auf diese Weise bessere Friedensbedingungen zu erreichen?“93

90 Radek, Svidetel’skie pokazanija Karla Kautskogo, a.a.O., S. 458f. 91 Kautsky, Karl, Der Bolschewismus in der Sackgasse [russische Ausgabe: Bol’ševizm v tupike], Berlin 1931. 92 Radek, a.a. O., S. 460–466. 93 Ebenda, S. 467.

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Kautsky beantwortet diese Frage mit dem Satz: „Nein, davon habe ich nichts gehört, das sind alles Lügen.“ Der Ankläger bohrt weiter und fragt, ob der Zeuge dann vielleicht im Buch seines ehemaligen Parteigenossen Winnig94 gelesen habe, wie dieser als deutscher Generalbevollmächtigter für die baltischen Länder, die Wegnahme des Baltikums mit dem Segen der sozialdemokratischen Reichsregierung organisiert habe? Darauf Kautsky: „Winnig war da bereits kein Sozialdemokrat mehr. Er verleumdete die Partei.“ Der Ankläger fasst nach und fragt ironisch, „Bürger Kautsky, Sie haben uns noch nicht verraten warum in der Zeit der Novemberrevolution „ – während der Kautsky Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt war – „keine diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrussland aufgenommen und die Arbeiter- und Soldatenräte zerschlagen wurden. Sie haben stattdessen gefordert, daß die Entente die Bol’ševiki unverzüglich vernichten solle.“ Kautsky weiß nichts mehr zu antworten. Er „hustet“ nur noch „und gibt einige unverständliche Laute von sich“, worauf der Ankläger feststellt: „Mir reichen die Aussagen des Zeugen Kautsky und ich habe keine weiteren Fragen an ihn.“ Abschließend erhält der Angeklagte Suchanov Gelegenheit, sich zu Kautskys Ausführungen zu äußern. Mit pfiffiger Miene tut er kund, dass alles was der Zeuge gesagt habe, den grundsätzlichen sozialdemokratischen Auffassungen und der Ideologie der II. Internationale entsprechen würde.95 Das Feindbild der von den Stalinisten als „Sozialfaschisten“ verunglimpften Sozialdemokraten schärfte Radek auch, indem er die Geistererscheinung des toten Friedrich Ebert in einem Pamphlet als den Hauptzeugen der II. Internationale für die an den westlichen Interventionsvorbereitungen angeblich so „unschuldigen russischen Men’ševiki“ beschwor.96 Wer könnte daran zweifeln, fragte Radek sarkastisch, dass Ebert – der Führer der deutschen Sozialdemokratie und Erbe Bebels – imstande sei, die Hand aufs Herz zu legen und zu bezeugen, dass „die russischen Menschewiken – Blut vom Blute und Fleisch vom Fleische der heutigen Sozialdemokratie – „unfähig wären, bei der Vorbereitung einer Intervention heimlich Hilfe zu leisten und gleichzeitig zu behaupten, dass sie gegen eine Intervention seien. Es sei daran erinnert, schrieb Radek, dass „die Sozialdemokratie mit Herrn Ebert an der Spitze“ mitverantwortlich war für den Ersten Weltkrieg: Vier Jahren blutigen Gemetzels und des Verderbens für Millionen von Arbeitern auf dem Schlachtfeld sowie für Millionen von Kindern, denen Milch und Nahrung fehlten. Ebert habe nicht nur den Brester Frieden gerechtfertigt, sondern auch die deutsche Revolution verraten.97 Als 94 Winnig, August (1878–1956); deutscher Gewerkschafter; Ende 1918 Generalbevollmächtigter für die von deutschen Truppen besetzten baltischen Länder; er plädierte für die Gründung eines deutschen Oststaates – „Herzogtum Baltikum“ und förderte die Aufstellung von deutschen Kampfverbänden; in der Weimarer Republik verlor er wegen der Beteiligung am Kapp-Putsch sein Amt als Oberpräsident von Ostpreußen und wurde aus der SPD ausgeschlossen. Das Buch auf das Radek Bezug nimmt, ist Winnigs 1921 erschienene biographische Schrift „Am Anfang der deutschen Ostpolitik“, in der er von seiner Tätigkeit im Baltikum berichtet. 95 Radek, a.a.O., S. 467. 96 Radek, Svidetel’ Fridrich Ebert, a.a.O., S. 444. 97 Ebenda, S. 447f.

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Beleg dafür zitierte Radek das kurz zuvor veröffentlichte stenographische Protokoll des berühmten Telefongesprächs, das Ebert als Vorsitzender des Rats der Volksbeauftragten mit General Groener98 am Abend des 10. November 1918 geführt hatte.99 Beide waren Gegner der Revolution und des Bolschewismus und hatten sich in dem Telefonat auf die enge Zusammenarbeit der neuen Regierung mit der Armee geeinigt, „um die Ausbreitung des terroristischen Bolschewismus in Deutschland zu verhindern“. Damit war die entscheidende Weichenstellung für das Scheitern der Revolution vollzogen worden. Für Radek neuerlicher Ansporn, seinen verstorbenen Erzfeind Ebert zu schmähen: „Friedrich Ebert, war der Führer der deutschen Sozialdemokratie, der eine neue Epoche eröffnete, die Epoche des Verrats der Arbeiterklasse im Interesse der Bourgeoisie, der heimtückischen, schurkischen Vorbereitungen des Angriffs auf die revolutionären Arbeiter im Interesse des Kapitals […]. Der Schatten Friedrich Eberts spricht mit lauter Stimme: ,Zu diesen [im Menschewisten-Prozeß angeklagten] Verbrechen sind die internationale Sozialdemokratie und ihre Geschöpfe, die russischen Men’ševiki – nicht fähig.‘ Hamlet mag zweifeln, ob er die Stimme seines ermordeten Vaters hört. Das internationale Proletariat ist kein Hamlet und die Geschöpfe Friedrich Eberts werden mit ihrem Eintrag im Buch der Geschichte keine Zweifel hervorrufen. Diese Geschöpfe bezeugen: ,Die russischen Men’ševiki sabotieren den Aufbau des Sozialismus mit Schädlingsarbeit, haben die Intervention heimtückisch vorbereitet, bekamen Geld von den Agenten des faschistischen Imperialismus – sie sind Blut vom Blute, Fleisch vom Fleische der Ebertschen Sozialdemokratie; das heißt: Sozialisten ihren Worten nach, Erretter des Kapitals ihren Taten nach, das heißt, Demokraten ihren Worten nach, im Dienste der blutigen Konterrevolution ihren Taten nach. Alle die kleinen Dans100 und Abramovičs sind die Kinder des Helden der II. Internationale – Friedrich Ebert.“101

Radek spuckte jedoch nicht nur Gift und Galle. Wenn er einem Publikum im Westen den sowjetischen Standpunkt plausibel machen sollte, fand er in seinen Beiträgen zu seiner früheren Eloquenz und nahezu literarischen Qualität zurück, die ihn früher als „Meister des politischen Feuilletons“102 ausgezeichnet hatte. Typisch dafür war seine kritische Auseinandersetzung mit dem russischen Schriftsteller Bo-

98 Groener, Wilhelm (1867–1937); 1918/19 Nachfolger von General Erich Ludendorff als Generalquartiermeister in der deutschen Obersten Heeresleitung. In der Weimarer Republik mehrfach Minister (Verkehr, Inneres, Reichswehr). 99 Volkmann, Erich Otto, Revolution über Deutschland, Oldenburg 1930. Radek bezieht sich in seinem Aufsatz (S. 445–450) ausdrücklich auf diese Quelle. 100 Dan, Fëdor Il´ič (1871–1949); zusammen mit Rafael Abramovič Führer der russischen ExilMen’ševiki. 101 Radek, a.a.O., S. 457. 102 Just, Die Presse der Sowjetunion, in: „Osteuropa“, 1. Jg. 1925/26, Heft 10, S. 571.

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ris Pil’njak103. Dieser war in Moskau wegen der angeblich in seinem Roman „Die Wolga fällt ins Kaspische Meer [Volga vpadaet v Kaspijskoe more]“ enthaltenen rechten, bürgerlichen Tendenzen offiziell gerügt worden Das Buch würde nicht dem sich verschärfenden Klassenkampf in der Literatur Rechnung tragen. Insbesondere giftete man sich darüber, dass Pil’njak die 1929 von der Zensur in Russland verbotene Novelle „Mahagoni [Krasnoe derevo]“ im Ausland publiziert und sie jetzt auch noch als ein eigenes Kapitel in seinen Roman aufgenommen hatte. Nachdem die Angelegenheit in der deutschen Kulturszene Aufsehen erregt hatte, befasste sich Radek damit. In einem speziell auf das deutsche Publikum zugeschnittenen Vorwort zu Pil’njaks 1930 in Berlin veröffentlichten Roman104, schrieb er: „Die bürgerliche Presse vergießt Tränen über die schrecklichen Schicksale der Sowjetliteratur. Wurde denn nicht beim hellen Tage öffentlich der Romanschriftsteller Pilnjak gestäupt wegen eines angeblich konterrevolutionären Romans? Ich lese nicht den „Osservatore Romano“. Wahrscheinlich hat auch der Heilige Vater Tränen über die Geschichte der Freiheit in Sowjetrußland im allgemeinen und die des Schriftstellers Pilnjak im besonderen vergossen. Nun, die Gerechtigkeit fordert, daß man den Standpunkt des Landes kennt, dessen Ereignisse man beurteilt. Wir Sowjetmenschen sind der Meinung, daß die Freiheit, d.h. die gleichen Entwicklungsbedingungen für alles, was Menschenantlitz trägt, erst zu erkämpfen ist. Damit die Menschheit frei sich entwickeln könne, muß sie befreit werden von Not, Elend, Ausbeutung eines Menschen durch den anderen. Darum bekämpfen wir alles, was der Ausbeutung eines Menschen durch den anderen dient […]. So erlauben wir auch keine Agitation, Propaganda des Kapitalismus. Und wir sind der Überzeugung, daß die Literatur, Roman wie Poesie, ein wichtiges Mittel zur Beeinflussung der Volksmassen ist. Wir sind der Meinung, daß auch ein großes Kunstwerk wie Gift wirken kann […]. Niemals haben wir die ,Freiheit der Kunst‘ versprochen, wie wir die Freiheit des Waffenschmuggels, des Kokainhandels niemandem versprochen haben, so sind wir wilde Sowjetmenschen, die keine Kunst an sich, und darum keine Kunstfreiheit anerkennen. Das Verbot eines Kunstwerks, mag es noch so herrlich sein, ist bei uns Barbaren selbstverständlich, wenn es der Revolution schädlich ist. Die deutsche bürgerliche Presse verurteilt diesen Standpunkt und beweint die Geschicke der blauen Blume unter dem kalten russischen Himmel. Sie ist für die Freiheit. Natürlich.“105

103 Pil’njak, Boris Andreevič; Pseudonym für Vogau (Wogau), B. A. (1894–1938); expressionistischer russischer Schriftsteller wolgadeutscher Herkunft. 104 Radek, Boris Pilnjaks Stellung in der sowjetrussischen Literatur (geschrieben im August 1930); Vorwort in: Pilnjak, Boris, Die Wolga fällt ins Kaspische Meer (Neuer Deutscher Verlag, Berlin W8 – Willi Münzenberg GmbH.), Berlin 1930, S. V – XXIII. 105 Ebenda, S. Vf.

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Aber, so stellte Radek fest, „die deutschen Freiheitsmänner nehmen sich selbst nicht ernst“. Das Reichsgericht habe Larisa Rejsners Buch „Hamburg auf den Barrikaden“, nicht nur verboten, sondern auch dessen Verbrennung angeordnet. „Was für ein Fortschritt, daß nicht die Verfasserin, sondern nur die Kunstfreiheit auf dem Scheiterhaufen in Flammen aufging.“ Die deutsche Zensur verbiete auch russische Filme und stecke deutsche Dichter ins Gefängnis, „wenn sie nicht Völkerhaß, sondern Klassenhaß singen“. Damit nehme die deutsche Republik „praktisch denselben Standpunkt der Kunst gegenüber“ ein, „wie wir wilden [Sowjet-]Menschen“. Allerdings unterwerfe sie „die Freiheit der Kunst, nicht der Freiheit der Menschenbefreiung, sondern der der Menschenausbeutung […]. Warum also die Heuchelei und die Entrüstung?“106 Nach diesem Extemporale über den „Klassencharakter der Kunst“, wandte Radek sich Pil’njak zu. An dessen Werk müsse man kritisieren, dass darin die Erfolge bei der revolutionären Umgestaltung der Sowjetunion „hinter der Karikierung der Mißstände“ im Lande verschwinden. Das sei zu einseitig gesehen: „Der Dreck des alten Rußland reicht uns nicht nur zu den Knöcheln, sondern manchmal bleiben unsere Stiefel darin stecken. Und trotzdem geht es vorwärts. Wir fegen ihn aus, wir trocknen die Wege, indem wir alle Mißstände an die große Glocke hängen, indem wir ihre Gründe untersuchen, die Massen zum Kampf gegen sie mobilisieren.“107

Pil’njak beschreibe in seiner Novelle „Mahagoni“ ein verkommenes Provinznest, in dem die wenigen Kommunisten sich dem Suff ergeben haben und die zugewanderten Beamten vom Kommunismus leben. Aber das was er so grotesk schildere – Intrige, Cliquenwirtschaft, Mangel an Initiative – „gibt es in Rußland nicht bloß an einem Orte. Die Parteipresse schildert nicht nur solche, sondern zehnmal schlechtere Verhältnisse […] Korruption, Amtsmißbrauch, Veruntreuungen. Warum also soviel Entrüstung wegen der Beschreibung Pilnjaks? Weil er nichts anderes sah“ – nicht, dass neues Leben im alten Schutt keimt: „Und was das Wichtigste! Moskau, Leningrad, das Donezbecken, Baku sind leider nicht ganz Rußland. Aber noch weniger wahr wäre es, die faulen Nester, wo nur ein geschärftes Auge die Furchen des Revolutionspfluges entdecken kann, für Sowjetrußland zu halten. Denn die Großstädte, die Industriezentren, die neuen Fabriken, die Elektrizitätswerke sind der große Traktor, der das ganze Rußland aus dem alten Dreck herauszieht. Das Fehlen der Proportionen macht das Buch Pilnjaks zum Buche ohne Revolution. Und wenn man das Land der Revolution ohne Revolution schildert, so wirkt man gegen die Revolution.“108

106 Ebenda, S.VII. 107 Ebenda, S. IXf. 108 Ebenda, S. Xf.

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Dann kam Radek auf das Buch „Die Wolga fällt ins Kaspische Meer“ zu sprechen. Darin beschreibe der Autor den Bau eines Staudammes für ein Flussumleitungsprojekt, „aber trotz der Schilderung dieser Aufbauarbeit entpuppt er sich als Mitläufer.“ Denn er gebe zwar die ingenieurtechnischen Abläufe korrekt wieder, übersehe aber, dass eine revolutionäre Regierung den „Beschluß über die Änderung des Laufes der Flüsse […] aus ihrer Beurteilung der Klassennotwendigkeiten, [...] heraus „ fasse. Um wiederzugeben, wie die Arbeitermassen „die große Arbeit“ leisten, „muß man nicht nur den Observationspunkt richtig wählen, sondern sich auch die Lehre vom Verhältnis der Klassen und ihren Lebensnotwendigkeiten aneignen“. Unter diesem Aspekt ermangele Pil’njak das Verständnis für das Wesen der Kunst. Sie habe Klassencharakter und müsse die Weltanschauung des Künstlers widerspiegeln, sonst sei er nur ein Mitläufer und nicht Mitkämpfer in der großen Klassenauseinandersetzung109: „Der Mitläufer kann die Aufgaben des Künstlers nicht erfüllen [...] ebenso kann er nicht der große Schilderer und Dichter des großen Kampfes sein, der jetzt in der Welt tobt [...]. Einzelne weitblickende Elemente der Mitläufer können solche Schwankungen überwinden, wenn sie sich zum Standpunkt entwickeln, der die Zweifel an dem endgültigen Sieg des Proletariats ausschließt, zum Kommunismus als einzigen historischen Ausweg der Menschheit. Dieser Standpunkt ist der Marxismus-Leninismus. Wird sich Pilnjak zu ihm durchringen, dann werden auch seine Schwankungen aufhören, die auf die Länge hin sein großes Talent hindern, ja zermürben. Denn ohne festes Weltbild gibt es zwar Ästheten, aber keine großen Künstler. Pilnjak steht am Scheidewege. Möge er wählen.“110

Pil’njak, der begabteste Schüler Maksim Gor’kijs, war 1929 wegen seiner Novelle „Mahagoni“ aus dem Schriftstellerverband RAPP111 ausgeschlossen worden. Jetzt versuchte er sich mit seinem Roman wieder als linientreuer Autor in die Reihen der sowjetischen Literaten einzufügen. Für die Stalinisten im Schriftstellerverband war er aber noch nicht linientreu genug. Und so kann Radeks Essay, bei aller Kritik, auch als ein Appell in zweifacher Hinsicht gedeutet werden: als Aufforderung an den Verband, Pil’njak noch eine Chance zu geben und als Rat an den Autor, „mach’ es wie ich und krieche zu Kreuze“. Letzteres um so plausibler, als Radek noch wenige Jahre zuvor Pil’njak heimlich zu einem aufsehenerregenden Angriff gegen Stalin inspiriert hatte112 und sich ihm deshalb vielleicht noch verpflichtet fühlte. 109 Ebenda, S. XXIf. 110 Ebenda, S. XXIII. 111 Russische Assoziation Proletarischer Schriftsteller. 112 Am 31. Oktober 1925 starb Kriegskommissar Michail Frunze während einer auf Befehl Stalins durchgeführten Magenoperation an Herzversagen. Es war ein medizinischer Mord. Stalin hatte ihn mit einer doppelten Dosis Chloroform aus dem Weg räumen lassen. 1926 machte der Schriftsteller Boris Pil´’njak die Ermordung Frunzes in verschlüsselter Form zum Sujet seiner Erzählung „Die Geschichte vom nie erlöschenden Mond [Povest´ onegopašennoj lune].“ Darin tritt Frunze als „Armeechef Gavrilov“ auf und Stalin als der Mann mit dem „geraden Rücken“ und „wichtigs-

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Im Frühjahr 1931 erhielt Radek den Auftrag des Politbüros, zusammen mit dem Leiter der CK-Abteilung für Agitation und Propaganda, dem ehemaligen Chefredakteur der „Izvestija“ Steckij, eine Propagandakampagne gegen die „Lügenpropaganda der bürgerlichen Presse über die Zwangsarbeit in der UdSSR“ aufzuziehen.113 In der Folge entstand sein Aufsatz „Kapitalistische Sklaverei und sozialistische Organisation der Arbeit“, der zum Zweck der Gegenpropaganda gegen die „Verleumdungen“ des Westens als Broschüre international verbreitet wurde. Das besondere Augenmerk Stalins galt jedoch der „historischen Front“. Die Verbreitung falscher Versionen über die Geschichte des Bolschewismus und der Oktoberrevolution war eines der wichtigsten ideologischen Mittel zur Festigung des Stalinismus.114 Im Februar 1931 veröffentlichte Radek eine Laudatio auf Kriegskommissar Vorošilov, der seinen 50. Geburtstag beging.115 Auftragsarbeit oder nicht – auf jeden Fall ein Artikel mit dem Radek sich als Unterstützer der stalinistischen Geschichtsfälscher hergab. Hatte Radek einst Trockij als den „Organisator des Sieges im Bürgerkrieg“ verherrlicht, so pries er jetzt dessen Nachfolger Vorošilov als den Prototyp des „bolschewistischen Kriegers“. Er lobhudelte einen engen Vertrauten Stalins, der im Bürgerkrieg die Verteidigung von Caricyn, dem späteren Stalingrad, geleitetet hatte und vom Metallarbeiter zum Kriegskommissar aufgestiegen war. Vorošilov, der noch Marschall der Sowjetunion und Staatsoberhaupt werden sollte, hatte sich bei der Propagandakampagne zum 50. Geburtstag Stalins im Dezember 1929 mit seinem Beitrag „Stalin und die Rote Armee“ durch die beispiellose Falschdarstellung der militärischen Verdienste Stalins hervorgetan. Er behauptete, alle Siege im Bürgerkrieg seien Stalin zu verdanken, denn er war „der einzige Mensch, den das Zentralkomitee immer wieder von einer Front an die andere versetzte, wobei es die gefährlichsten und für die Revolution bedrohlichsten Stellen auswählte.“116 Mit seinem Lobgesang auf Vorošilov beweihräucherte Radek wider besseres Wissen einen Geschichtsklitterer und Speichelecker, der zum zweiten Mann in der Partei aufgestiegen war. Damit besiegelte Radek abermals seinen Bruch mit Trockij. Er schwenkte ohne Skrupel auf die Position Stalins ein, als dieser im Oktober 1931 beschloss, selbst als ter der drei Parteiführer“. Der „Armeechef“ geht auf Weisung des „Wichtigsten“ zur Operation und stirbt an einer Überdosis Chloroform. Der Abdruck der Erzählung im Maiheft 1926 der Zeitschrift „Krasnaja Nov’“ wurde zu einer politischen Sensation, obwohl die Ausgabe daraufhin sofort verboten und beschlagnahmt wurde. Einem Parteigenossen, der sich über die in seinen Augen verleumderische Kurzgeschichte erregte, nannte Pil´njak als seine Quelle Karl Radek – der habe ihm die Details über den Tod Frunzes mitgeteilt. Als der Empörte daraufhin Radek Vorwürfe machte und ihn fragte, „Karl[j]uscha, warum hast du das getan?, erhielt er zur Antwort: “Weißt du, im Kampf [der Linksopposition gegen Stalin] sind alle Mittel recht.“ Antonow-Owssejenko [Antonov-Ovseenko], S. 55f. 113 Protokoll der Politbürositzung des CK der VKP(b) No. 5 vom 15. Februar 1931. Ken, S. 147. 114 Rogowin, S. 279. 115 Radek, Bol’ševistkoe voinstvo [Der bolschewistische Krieger], (geschrieben im Februar 1931); Nachdruck in: Portrety i pamflety, tom 2 (1934), S. 32–39. 116 Rogowin, S. 146f.

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Historiker des Marxismus und der internationalen Arbeiterbewegung aufzutreten. In einem Leserbrief über „Einige Fragen der Geschichte des Bolschewismus“ an die Redaktion der Zeitschrift „Proletarskaja revoljucija [Proletarische Revolution]“117 protestierte der Diktator energisch gegen die Veröffentlichung eines „Diskussionsartikels“ von A. Sluckij118 zu den innerparteilichen Auseinandersetzungen in der deutschen Vorkriegs-Sozialdemokratie.119 Sluckij hatte geschrieben, dass Lenin seinerzeit weder gegen Kautsky gekämpft noch die deutsche Linke zur Spaltung der SPD aufgerufen habe. Das bedeutete für Stalin, die Frage, „ob Lenin ein echter Bolschewik war oder nicht, zum Gegenstand einer Diskussion zu machen.“120 Die Meinungsverschiedenheiten Lenins mit Rosa Luxemburg und seine kritische Bewertung ihrer Junius-Broschüre im Oktober 1916 bewiesen nach Auffassung Stalins zur Genüge, dass Lenin bereits vor den Ersten Weltkrieg den Bruch der deutschen Linken mit der Sozialdemokratie wollte: „Ist es nicht klar, daß Sluzki hier manövriert und versucht mit seinem verlogenen Vorwurf gegen Lenin und die Bolschewiki die wirklichen Mängel in der Stellung der Linken in Deutschland zu bemänteln? Ist es nicht klar, daß die Bolschewiki die Linken in Deutschland, die immer wieder zwischen Bolschewismus und Menschewismus schwankten, nicht ohne ernste Vorbehalte, nicht ohne ernste Kritik an ihren Fehlern unterstützen konnten, wenn sie an der Arbeiterklasse und ihrer Revolution nicht Verrat üben wollten? Gaunerische Manöver muß man brandmarken, nicht aber zum Gegenstand einer Diskussion machen.“121

Zugleich forderte Stalin dazu auf, Schluss zu machen mit dem „faulen [...] Liberalismus gegenüber dem Trotzkismus, auch wenn dieser geschlagen ist und sich maskiert.“ Trockij und die „Trotzkisten“ seien nicht als ideologische Gegenspieler zu betrachten, sondern als der schlimmste politische Feind, „ein Vortrupp der konterrevolutionären Bourgeoisie, die den Kampf führt gegen den Kommunismus, gegen die Sowjetmacht, gegen den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR“.122 Er zog die Schlussfolgerung, die Redaktion der „Proletarskaja revoljucija“ dürfe die „Schmugglertätigkeit solcher ,Historiker‘“ wie Sluckij nicht unterstützen:

117 Stalin, Über einige Fragen der Geschichte des Bolschewismus, in: Stalin, Werke, Band 13, S. 76– 91. 118 A. Sluckij, Die Bolschewiki über die deutsche Sozialdemokratie in der Periode ihrer Vorkriegskrise; in:„Proletarskaja revoljucija“, Nr. 6, 1930. Aus den Memoiren („Marschroute eines Lebens“, München 1981) der russischen Historikerin und Schriftstellerin Evgenija Semënova Ginzburg (1904–1977) geht hervor, dass Sluckij diesen Artikel mit dem Leben bezahlen musste. 119 Stalin a.a.O., S. 76. 120 Ebenda, S. 80. 121 Ebenda. 122 Ebenda, S. 88f.

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„Meines Erachtens besteht die Aufgabe der Redaktion darin, die Behandlung der Fragen der Geschichte des Bolschewismus auf die gebührende Höhe zu bringen, das Studium der Geschichte der Partei in wissenschaftliche, bolschewistische Bahnen zu lenken, sich mit gesteigerter Aufmerksamkeit gegen die trotzkistischen und alle sonstigen Fälscher der Geschichte unserer Partei zu wenden und ihnen systematisch die Masken herunterzureißen.“123

Damit schrieb Stalin den Historikern vor, wie sie zu arbeiten hatten. An erster Stelle stand die Umschreibung der Parteigeschichte mit dem Verbot, die Rolle Trockijs objektiv darzustellen. Gleichzeitig musste die Unfehlbarkeit Lenins und die Existenz von zwei Führern der Partei hervorgehoben werden. Rosa Luxemburg und die deutschen Linkssozialisten wurden als Feinde des Leninismus klassifiziert. Der Brief markierte den Beginn der ideologischen Autokratie Stalins und hatte Signalwirkung.124 Er eröffnete die Verfolgung vieler sowjetischer Historiker, die die Rolle Stalins bei der Entwicklung des Bolschewismus nicht genügend beleuchtet hatten.125 Rosa Meyer-Leviné schrieb, Radek habe ihr erzählt, dass Stalin eigentlich ganz zufällig auf den Artikel Sluckijs gestoßen sei: „Stalin befand sich gerade zur Erholung im Kaukasus. Weil er mehr Zeit hatte als sonst, geriet ihm der fatale Artikel [Sluckijs] in die Hände. Er erkundigte sich: ,Wer ist Sluzki?‘ – ,Und sie standen alle da und wußten sich keinen Rat, was sie antworten sollten‘, [...] ,sollten sie Sluzki nun preisen oder sollten sie ihn verdammen?‘“126

Radek gab diese Episode ohne weiteren Kommentar zum Besten, berichtet MeyerLeviné und sie urteilt: „Für ihn war es schon selbstverständlich, daß niemand es wagte eine Meinung zu haben, die der Meinung Stalins nicht entsprach [...].“127 Für den einstigen Schüler Rosa Luxemburgs und ehemaligen Anhänger Trockijs gab der Brief Stalins die künftige ideologische Marschrichtung vor. Er geißelte sich wegen seines früheren „Luxemburgismus“ und „Trotzkismus“ und „beeilte sich alle Arten von eingebildeten Irrtümern [...] anzuerkennen, die unschuldigsten Wahrheiten zu widerrufen, und auch die unbestreitbarsten“.128 Als man ihn voller Erstaunen fragte, weshalb er sich so eilfertig sogar von „seiner alten Freundin“ Rosa Luxemburg distanziert habe, rechtfertigte er sich mit den Worten: „Es war eine historische Notwendigkeit.“129 *** 123 Ebenda, S. 91. 124 Heller/Nekrich, S. 523. 125 Rogowin, S. 283. 126 Meyer-Leviné, S. 306. 127 Ebenda. 128 Souvarine, Stalin, S. 484. 129 Meyer-Leviné, S. 373.

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Nach seiner Verbannung zurück in Moskau, konnte Radek wieder als politischer Kommentator in sowjetischen Zeitungen publizieren, ohne jedoch mit seiner Arbeit noch Einfluss auf die sowjetische Politik und die Komintern zu gewinnen130 Die Palette seiner Themen erweiterte sich um staatstragende gesellschaftspolitische Aspekte, die dem von Stalin für den innerstaatlichen Bereich verordneten „Vormarsch des Sozialismus auf der ganzen Linie“ Rechnung trugen. Sie erstreckte sich auch auf das Gebiet der „sozialistischen Kultur“, die Literatur- und Theaterkritik eingeschlossen. Was er einst intelligent formuliert hatte, geriet nunmehr oft simpel und grobschlächtig; versprühte er ehemals Witz und Ironie, so erging er sich jetzt in ätzender Bösartigkeit. Er verdrehte Fakten, um sie der von Stalin vorgegebenen Linie von Politik und Propaganda anzupassen.131 Bei dem, was er schrieb, handelte es sich um Auftragsarbeiten. Selbst Stalin rief hin und wieder in der Redaktion der „Izvestija“ an und bestellte „vernichtende“ Artikel.132 Radek trat als Journalist wieder in Erscheinung, als die Partei gerade ein neues Presseprogramm, einhergehend mit einer Reorganisation der Pressezuständigkeiten im Sekretariat des Zentralkomitees, beschlossen hatte. Überlegungen die sowjetische Presse wie früher durch eine selbständige Presseabteilung des CK führen zu lassen, hatte man verworfen und die Pressearbeit der neugeschaffenen CK-Abteilung für Agitation und Massenkampagnen unterstellt.133 CK-Sekretär Kaganovič134, äußerte sich über die neuen Aufgaben der Presse wie folgt: „Die Zeitung muß die Massen belehren. Sie muß die Massen organisieren nicht nur durch allgemeine Agitations- und Propagandartikel, sondern durch die Beleuchtung lebendigen Lebens, lebendiger Tatsachen, positiver lokaler Erfolge. Das ist viel schwerer als einige scharfe Bemerkungen über diesen oder jenen Bürokraten oder Saboteur zu schreiben […]. Deshalb brauchen wir auf allen Gebieten – auf dem der Industrialisierung wie dem der Kollektivierung und des Kampfes mit den Kulaken, sowie schließlich der allgemeinen Beleuchtung des Parteilebens – mehr lebendige Tatsachen. Natürlich sollen die Zeitungen nicht in Kleinigkeiten stecken bleiben, sondern durch sie allgemein aufklären, Folgerungen ziehen und die Hunderttausende ihrer Leserschaft belehren. Es wurde deshalb bei den Erörterungen im Zentralkomitee nicht für richtig befunden, die Presseabteilung als Sonderabteilung abzutrennen, da die Presse zumeist Organisator der Massen, 130 Torke, S. 261. 131 Möller, S. 45. 132 Bucharina, S. 29. 133 Die im Sekretariat des Zentralkomitees bestehende selbständige „Abteilung für Presse“ wurde 1928 der „ZK-Abteilung für Agitation und Propaganda (Agitprop)“ als Unterabteilung unterstellt. 1930 wurde die Agitprop-Abteilung in zwei Abteilungen aufgeteilt: Die „ZK-Abteilung für Agitation und Massenkampagnen“,der die Unterabteilung Presse unterstellt blieb und die „ZKAbteilung für Kultur und Propaganda“. 1934 wurden beide zur „ZK-Abteilung für Kultur und Propaganda des Leninismus“ zusammengefasst. Schapiro, S. 634. 134 Kaganovič, Lazar Moiseevič; Pseudonym von L. M. Kogan (1893–1991); Politbüromitglied, 1928–1939 CK-Sekretär, enger Mitarbeiter Stalins.

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Kulturinstrument, Propagandawaffe, selbstverständlich nebenher auch Waffe der politischen Agitation ist. Nach dieser Richtung wird die Presse mit der Abteilung für Agitation und Massenkampagnen verbunden bleiben.“135

Das Presseprogramm der Partei steckte den journalistischen Aktionsradius Radeks ab. Publizistik als Waffe! Das traf sich mit dem, was Radek einstmals von Leo Jogiches gelernt hatte und entsprach seinem Verständnis von Journalismus als dem „Kampf mit der Feder“. Bereitwillig half er mit, das Presseprogramm der Partei umzusetzen, die Menschen in der Sowjetunion durch Zeitungartikel ideologisch zu „organisieren“ und so „mit dem papierenen Band an das Ganze zu fesseln.“136 Seine Arbeiten waren gleichzeitig Beweise der Servilität, in der Hoffnung Stalin Vertrauen einflößen zu können.137 Dieser Gedanke wird auch bestimmend für sein Verhalten in der Affäre Bljumkin gewesen sein, wobei er den Tod seines Freundes wohl kaum vorausgesehen hat. Bljumkins Erschießung war nicht nur der erste, sondern bis 1934 auch der letzte Fall, in dem ein Oppositioneller physisch vernichtet wurde.138 Während Radek meinte, ein formales Reuebekenntnis auf einem „Fetzen Papier“ sei ausreichend, um seinen früheren Status in der Partei zurückzugewinnen, ließ Stalin durchblicken, dass er mit Radek und der Opposition noch keineswegs fertig war. Als Maksim Gor’kij 1930 Stalin den Vorschlag machte, Radek die Leitung seiner Zeitschrift „Za rubežom [Jenseits der Grenze]“ und anderer publizistischer Projekte zu übertragen, antwortete der Diktator unmissverständlich: „[...], daß wir keine dieser Unternehmungen der Führung Radeks oder eines seiner Freunde überlassen dürfen. Es handelt sich nicht um die guten Absichten Radeks oder seine Gewissenhaftigkeit. Es handelt sich um die Logik des Fraktionskampfes139, von dem er und seine Freunde sich noch nicht völlig losgesagt haben (es sind einige wichtige Meinungsverschiedenheiten geblieben, die zum Kampf treiben werden). Die Geschichte unserer Partei (und nicht nur unserer Partei) lehrt, daß die Logik der Dinge stärker ist, als die Logik der Absichten der Menschen. Es wird richtiger sein, wenn wir die Führung dieser Unternehmungen politisch standhaften Genossen übertragen, Radek aber und seine Freunde als Mitarbeiter heranziehen. Das wird richtiger sein.“140

Die Kapitulation Radeks und sein Reuebekenntnis waren jedoch keineswegs nur Heuchelei. Wie viele andere Zweifelnde, Schwankende oder direkte Gegner Stalins glaubte auch er zu Beginn der 1930er Jahre, dass sich das Land trotz aller Fehler, Misserfolge und Verbrechen vorwärts bewege, man deshalb alle anderen Gedanken 135 „Pravda“ vom 24. Januar 1930. Just, Die Presse der Sowjetunion, Berlin 1931, S. 69. 136 Just, Die Presse der Sowjetunion, Berlin 1931, S. 69. 137 Vgl. Souvarine, Stalin, S. 472. 138 Rogowin, S. 96. 139 Hervorhebung durch den Verfasser. 140 Brief Stalins an Gor’kij vom 17. Januar 1930. Rühle, S. 36 und Ken, S. 143f.

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wegschieben und unter Stalins Führung arbeiten müsse.141 Zur VKP(b), selbst wenn sie von Stalin geführt wurde, sah Radek keine politische Alternative. Zu Erich Wollenberg sagte er, „wenn er sich gar von der Partei Stalins lösen wollte, könne es doch kein ,Zurück für uns Bolschewiki‘ geben.“142 Ein „Zurück“ zu Trockij oder, noch unwahrscheinlicher, zur Sozialdemokratie hätte für ihn den Abschied von der großen Bühne der Macht bedeutet, auf die ihn die Entscheidung für Lenin und die Bol’ševiki gebracht hatte.143 Um im Dunstkreis der Macht angesiedelt zu bleiben, bog er nicht allein trickreich die Wahrheit zurecht, sondern log auch ganz ungeniert für die Machthaber. Ein typisches Beispiel dafür bildeten seine verleumderischdenunziatorischen Suaden gegen die Angeklagten im Verfahren gegen die „Industriepartei“. Ihm muss bewusst gewesen sein, dass es sich bei den Vorwürfen gegen Ramzin und die Mitangeklagten um Fälschungen handelte. Für andere Altbol’ševiki, wie seinen Freund Sokol’nikov, war das eindeutig. Er kommentierte das Verfahren mit den Worten: „Ein Polizeiprozeß, sie sind unschuldig.“144 Dasselbe gilt für Radeks schamlose Verdrehungen der Wahrheit bei der Kommentierung des Prozesses gegen das angebliche „Unionsbüro der Men’ševiki“. Seine fiktive „Zeugenaussage Karl Kautskys“ erscheint in der Retrospektive als Vorübung en miniature für das von ihm zumindest mitverfasste Drehbuch des Anfang 1937 stattfindenden Schauprozesses, in dem er selbst auf der Anklagebank saß. Dennoch greift das vielzitierte Urteil des ehemaligen Komintern-Funktionärs Franz Borkenau145 wohl zu kurz, der Radeks Verhalten a l l e i n auf notorische Charakterlosigkeit und intellektuelle Feigheit zurückführte: „The one thing this brilliant man lacked was charakter, that deep-rooted moral balance which draws an undefinable line between what is right and what is wrong. Radek was too clever to be either heroic or consistent.“146 Radek hatte zu den Parteiführern gezählt, die sich früher durch Kühnheit und Unabhängigkeit ihrer Äußerungen ausgezeichnet hatten und die nunmehr nicht mehr wagten, auch nur ein einziges kritisches Wort über die Politik Stalins zu sagen. Trockij folgend, zählt Isaac Deutscher Radek zu den „toten Seelen“, den geistig gebrochenen Männern der Opposition, die nun mit Stalin in einem Boot saßen und deren Selbsterniedrigung das Lösegeld war, das sie dem Kapitän des Schiffes entrichten mussten, um weiter mitfahren zu dürfen.147 Vermutlich traf auf Radek zu, was man über die ehemaligen Oppositionsführer in Trockijs New Yorker „Bulletin“ lesen konnte: „Man müsste meinen, sie hätten nichts zu verlieren als ihre Ketten, 141 Vgl. Rogowin, S. 287, der sich auf eine von Trockij wiedergegebene Äußerung Barmines bezieht. Trotsky, Stalin, New York 1946, S. 262. 142 Möller, S. 46. 143 Ebenda. 144 Rogowin, S. 221f. 145 Borkenau, Franz (1900–1957); österreichischer Historiker und Soziologe; 1921–1928 Studentenfunktionär in KPD und Komintern; 1928 Bruch mit Stalin, 1929 Ausschluss aus der KPD. 146 Borkenau, World Communism, New York, 1939, S. 164. Lerner, S. 175. 147 Vgl. Deutscher, Stalin, S. 374f.

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Erniedrigung und Ohnmacht. Aber vielleicht ist ihnen nur ganz und gar der Atem ausgegangen und ihre Seele ist leer?“148 Radek war ein talentierter und gewandter Journalist, der sich – im Gegensatz zu Stalins Gefolge – in der Welt außerhalb Russlands auskannte.149 Eigenschaften, die der Diktator durchaus zu nutzen wusste. Er begann Radek wegen seiner seltenen Welt-, Menschen- und Personenkenntnis als Mitarbeiter auf dem Gebiet der politischen Publizistik zunehmend heranzuziehen. Trockij konstatierte Ende 1931 süffisant: „Radek […] beginnt wieder eine ,Rolle‘ zu spielen [...]. Er glaubt ganz ernsthaft an seine neue Stellung als ,Stalins persönlicher Freund‘ [...]. In jedem Gespräch versucht er mit aller Macht den Eindruck zu erwecken, daß er mit Stalin auf überaus vertrautem Fuß steht. ,Gestern als ich Tee mit Stalin getrunken habe, usw.‘.“150

Auch Geltungsbedürfnis und Eitelkeit waren Triebfedern des „neuen“ systemkonformen Radek. Mit seinen „messerscharfen sarkastischen Artikeln“ hatte er sich vormals den Ruf als „genialer Publizist“ und Meister des politischen Feuilletons sowie der kritischen politischen Analyse erworben. Ein „Beherrscher des Wortes bis zu geradezu lyrischer Feinheit“ und ein „Stilist von heroischem Schwung.“ Obwohl Radek seit 1930 wieder Prominenz als „typische bolschewistische Journalistengestalt“ erlangt hatte, fehlte seinen Arbeiten jetzt die frühere Brillanz. Der alte Schwung seiner Gedanken und seiner Feder schienen gebrochen.151

148 „Bjulleten oppozicii“, Nr. 29–30, New York 1932, S. 12. Rogowin, S. 285. 149 Lerner, S. 145. 150 „Bulletin of the Opposition“, Nr. 25–26, November-December 1931. Tuck, S. 104. 151 So die Feststellung von Artur W. Just (1896–1955), Journalist und Osteuropaexperte, der von 1926–1937 Korrespondent der „Kölnischen Zeitung“ in Moskau war. Just, Die Presse der Sowjetunion, Berlin 1931, S. 127f.

20.  Stalins Starjournalist und Agent (1932–1933) Im Jahre 1932 wurde Radek zum Leiter des Büros für Internationale Information (BMI)“ beim Zentralkomitee der Partei ernannt.1 Von Stalin persönlich ins Leben gerufen, besaß es von 1932–1934 den Charakter einer ihm unmittelbar unterstellten nachrichtendienstlichen Task Force mit außenpolitischem Aufgabenspektrum. Als Leiter des BMI stand Radek in engem Kontakt mit Stalin. Er erhielt einen Dauerausweis zum Betreten des Kreml’, erschien oft in Stalins Büro und sogar in dessen Landhaus.2 Gelegentlich wurde er zu Politbüroberatungen hinzugezogen. Er avancierte zum außenpolitischen Berater des Diktators3 und hatte ihm täglich den Auslandspressespiegel zusammenzustellen. Er schrieb weiterhin für die führenden Blätter der Sowjetpresse und die Außenpolitik bildete seine journalistische Domäne. Daneben verfasste er literaturpolitische Artikel. Er stieg zum sowjetischen Starjour1 Lunačarskij, Siluety, S. 447. Das „Büro für Internationale Information beim CK der VKP(b) [Bjuro Meždunarodnoj Informacii CK VKP(b) – BMI] bestand von 1932–1936. Auf Grund der Geheimniskrämerei über die Organisation der Sowjetspitze herrschte über die Funktion des BMI und Radeks Rolle als Leiter des BMI lange Unklarheit. Nach Legters (S. 108, S. 110) war Radek als außenpolitischer Berater der „Leiter des Informationsbüros“ und damit – was unrichtig ist – Leiter „des persönlichen Sekretariats Stalins”. Barmine (S. 372–374) umreißt die Aufgabenstellung Radeks, indem er schreibt, Radek habe in der „Geheimabteilung“ des CK, die er fälschlich als „Stalins Privatsekretariat“ einstuft, als einer der „Privatsekretäre“ Stalins die „Abteilung für Internationale Politik und Presse“ geleitet. Kriwitsky (S. 17) bezeichnet Radek ganz zutreffend als den „Leiter des Nachrichtenbüros des ZK der Partei”; in der englischen Ausgabe seines Buches noch präziser: ”Radek, then director of the information bureau of the Central Committee of the CP”. Die offizielle Bezeichnung der Funktion Radeks wurde erstmals 1991 in einer Veröffentlichung des Moskauer Verlages für politische Literatur (Politizdat) genannt, die unter dem Titel „Lunačarskij, […] Siluety“ auch biographische Daten Radeks enthält (S. 447). In dieser von Mitarbeitern des Instituts für Marxismus-Leninismus beim CK der KPdSU zusammengestellten Aufsatzsammlung wird Radeks Funktion, korrekt, wie folgt angegeben: „1932 po 1936 g. – zavedujuščij bjuro meždunarodnoj informacii CK VKP [1932 – 1936: Leiter des Büros für Internationale Information beim CK der VKP(b)]”. Erst 2003 konnte Oleg Ken – u.a. gestützt auf Dokumente des RGASPI und des Archivs des Außenministeriums der Russischen Föderation (AVPRF) – die Geschichte des BMI und Einzelheiten zu Radeks Tätigkeit als Leiter dieser Dienststelle im Detail darstellen. Über ihre nachrichtendienstliche Bedeutung gab es bisher nur Mutmaßungen. Von Val’tr Krivickij wussten wir, dass Radek in seiner Funktion Kontakte zum sowjetischen Geheimdienst und Zugang zu Erkenntnissen der nachrichtendienstlichen Auslandsaufklärung hatte. Die Annahme Borys Lewitzkyjs (S. 248), Radek habe seit Ende der 1920er Jahre ein Informationskomitee“ beim CK geleitet, das als Steuerungs- und Kontrollorgan der sowjetischen Sicherheitsdienste fungierte, ist aber ebenso unzutreffend wie seine Behauptung, Stalins Sekretär Aleksandr Nikolaevič Poskrëbyšev (1891–1966) wäre der Nachfolger Radeks in dieser Funktion geworden. Ebenso falsch ist die Behauptung, im Mai 1938 wäre Maksim Litvinov nach seinem Rücktritt als Außenkommissar Radek als Leiter des BMI nachgefolgt (Barmine, S. 374). Das BMI wurde schon im September 1936 aufgelöst. 2 Orlow [Orlov], A., S. 234. 3 Barmine, S. 261; Orlow [Orlov], A., S. 235.

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nalisten auf, durfte mit westlichen Diplomaten und Journalisten verkehren und ins Ausland reisen. Von Stalin mit den Privilegien eines hochrangigen Parteifunktionärs korrumpiert, bezog Radek im neuerbauten Moskauer „Regierungswohnhaus“ eine Atelierwohnung und erhielt eine Datscha vor den Toren der Hauptstadt zugewiesen. Allem Anschein nach war er zum treuen Diener des sowjetischen „Führers“ und Diktators mutiert. Zu Beginn der 1930er Jahre baute Stalin seinen Einfluss auf die Außenpolitik der UdSSR aus, indem er von ihm kontrollierte außenpolitische Kommissionen des Politbüros etablierte. Zusätzlich wollte er sich durch ein vom Partei- und Staatsapparat unabhängiges und ihm persönlich unterstelltes Stabselement für die Beschaffung und Analyse außenpolitisch relevanter Informationen eine breitere außenpolitische Beurteilungsbasis verschaffen. Er misstraute den Beurteilungen des Außenkommissariats und den Analysen der Geheimdienste, wobei er letztere im Hinblick auf ihre politischen Einschätzungen für inkompetent erachtete. Er wünschte, sich auf eine von Sachkunde, politischer Urteilsfähigkeit und strategischem Weitblick getragene „second opinion“ abzustützen und gegebenenfalls unter Umgehung des Außenkommissariats auf geheimen Kanälen mit persönlichen Emissären in die Außenpolitik eingreifen zu können. Am 1. April 1932 ordnete er die Einrichtung eines „Büros für Internationale Information beim CK der VKP(b)“ unter Leitung des „Genossen Radek“ an.4 Mitte Mai bestätigte die Parteiführung widerspruchslos die Vorschläge Radeks und des CK-Abteilungsleiters für Agitation und Propaganda Steckij für den Auftrag und die organisatorische Ausgestaltung des Büros. Das BMI sollte alle beim CK der VKP(b) von staatlichen- und Parteidienststellen eingehenden Auslandsinformationen erhalten und diese durch eine eigene offene Informationsgewinnung aus der Presse und anderen Publikationen sowie durch die Gesprächsaufklärung und Abschöpfung ausländischer Diplomaten, Politiker, Wirtschaftler und Militärs ergänzen. Zum Zweck der Nachrichtengewinnung wurden direkte Kontakte mit Ausländern ausdrücklich gestattet. „Eigene Korrespondenten“ waren ermächtigt, vorliegende Informationen im Ausland zu verifizieren und das BMI besaß das Recht, bei den ihm zuarbeitenden Dienststellen zusätzliche „Erläuterungen“ und „Ausarbeitungen“ zu Fragen von Interesse einzufordern. Die Auswerte-Ergebnisse des BMI sollten zur täglichen Unterrichtung des CK Verwendung finden und darüber hinaus dem Sekretariat, d.h. Stalin, Anregungen für Weisungen geben, welche Themen die Tagespresse behandeln sollte. Als aktuelle Schwerpunktthemen für die Informationsgewinnung und die Analyse wurden zunächst festgelegt: Die bilateralen Beziehungen der UdSSR mit Polen und Deutschland, die politischen Absichten der Staaten Mitteleuropas in Bezug auf die UdSSR und die Rolle Frankreichs als Akteur, das Verhältnis der USA zu Japan und Japans zur UdSSR. Die Ausnahmestellung des im Verborgenen tätigen BMI wurde in der unmittelbaren Unterstellung unter Stalin deutlich, der nicht nur über die Auswahl der Mitarbeiter entschied, sondern sich auch die Genehmigung ihrer Auslandsreisen persön4 Vgl. Ken, S. 135–142.

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lich vorbehielt. Der konspirative Charakter des Büros wurde dadurch unterstrichen, dass seine Angehörigen ihre Zugehörigkeit zum BMI verheimlichen mussten und getarnt als Korrespondenten der Auslandsabteilung der „Izvestija“ auftraten. So blieb Radek Angehöriger des Redaktionskollegiums der „Izvestija“, obwohl er ab Juli 1932 keine Bezüge mehr von dort erhielt. Auch die Auslandsreisen der „Korrespondenten“ wurden über Tarnkonten abgerechnet, die angeblich dem Auslandsressort der Regierungszeitung gehörten. Es wurde angeordnet, dass die „Auslandskorrespondenten“ nur beobachten und berichten sollten. Sie waren angewiesen, „keinerlei operative Aufgaben auszuführen, sich nicht in die Arbeit der sowjetischen Auslandseinrichtungen einzumischen und keinerlei Direktiven [zu] geben.“5 Zu Mitabeitern Radeks wurden vorwiegend bisherige Redaktionsangehörige der „Izvestija“ bestimmt, die überwiegend polnischer Herkunft waren und die er zum Teil noch aus seiner Zeit in der polnischen Sozialdemokratie bzw. bei der Komintern kannte.6 Anfang 1932, also noch bevor Radek der Leiter des BMI wurde, genehmigte Stalin ihm die erste Auslandsreise seit seiner Verbannung. Er gehörte der sowjetischen Delegation zur Genfer Abrüstungskonferenz des Völkerbundes an7, einer internationalen diplomatischen Großveranstaltung, die 4000 Teilnehmern aus 64 Staaten eine Verhandlungsplattform über Fragen der Sicherheit und des Rüstungsabbaus bot. Die Sowjetunion brachte sich mit Abrüstungsinitiativen aktiv ein und stellte im Präsidium der Konferenz einen der Vizepräsidenten. Radek verbrachte den Februar und März im vorfrühlingshaften Genf und begleitete das Geschehen nach außen hin journalistisch.8 Obwohl er in der sowjetischen Delegation nur eine unbedeutende Rolle spielte, wurde er ständig von zwei OGPU-Aufpassern überwacht. Er verursachte einige Aufregung als es ihm einmal gelang seine Bewacher abzuschütteln, indem er in einen Diplomatenwagen zustieg, in dem seine Begleiter keinen Platz mehr fanden. Sie folgten ihm in einem zweiten Fahrzeug, schockiert von dem Gedanken, was er in ihrer Abwesenheit wohl alles anstellen könnte.9 Der Vorfall zeitigte für Radek keine sichtbaren Konsequenzen. Spätfolgen hatte jedoch die Begegnung mit 5 Vgl. Ken, S. 148–150. 6 Es handelte sich um: J. Podol’skij (Gehilfe des Leiters der Pressestelle des NKID); Boris Il’íč Kantorovič (1891-?, Teilnehmer am Gründungskongress der Komintern, Referent in der OstAbteilung des NKID); Stanislav Lapinskij (ehemaliger Führer der PPS-Linken und mit Radek aus der Zeit des Exils in der Schweiz bekannt); Stepnjak (bulgarischer Kommunist); Jaques Sadoul (ehemaliger französischer Offizier, der als Kommunist am Gründungskongress der Komintern teilnahm und seither für die KI arbeitete); Stefan Raevskij (gebürtiger Pole; 1885-?, sowjetischer Korrespondent in Berlin und Warschau und wie Radek Angehöriger des Redaktionskollegiums der „Izvestija“). Ken, S. 149. 7 Die Konferenz dauerte mit Unterbrechungen vom 2. Februar 1932 bis 11. Juni 1934 und brachte keine greifbaren Ergebnisse. 8 Radek, Slomannyj meč [Das zerbrochene Schwert], geschrieben im März 1932 in Genf. Nachdruck in: Portrety i pamflety, tom 2 (1934), S. 279–288. 9 Mitteilung eines nichtsowjetischen Teilnehmers der Genfer Konferenz an Lerner. Lerner, S. 157 u. S. 209, Anm. 15.

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einem alten Bekannten in Genf, dem TASS-Korrespondenten V. G. Romm10. Fünf Jahre danach belastete Radek in seinem Prozess ihn und sich mit der Falschaussage, Romm habe ihm in den Konferenztagen einen Brief von Trockij zugesteckt.11 Ob im Sommer 1932 noch eine zweite Auslandsreise Radeks nach Amsterdam zum „Weltkongreß gegen den imperialistischen Krieg“ zustande gekommen ist, bleibt indessen unklar. Dieser Kongress der Weltfriedensbewegung mit dem Schriftsteller Romain Rolland als Gallionsfigur sollte am 27. August beginnen und Radek plante die Teilnahme. Als er in Moskau auf einem diplomatischen Empfang dem deutschen Militärattaché General Köstring12 begegnete, schimpfte er darüber, dass Deutschland ihm die Durchreise zum „Sozialistenkongreß in Amsterdam“ verweigert habe. Der Offizier entgegnete ihm, er möge sich beruhigen, die Genehmigung würde schon noch eintreffen. Von Interesse ist, was Köstring weiter berichtet. Da man in der deutschen Botschaft von Radek gewusst habe, „daß er das Ohr Stalins hatte“, habe er (Köstring) im Verlauf der Unterhaltung reklamiert, dass auch die deutsche Seite seit vielen Wochen vergeblich auf eine russische Antwort auf die Einladung sowjetischer Offiziere zu den Herbstmanövern der Reichswehr warten würde. Daraufhin sei er noch in derselben Nacht um 24.00 Uhr in den sowjetischen Generalstab gebeten worden, wo man ihm die Teilnahme von zwölf hohen Offizieren der Roten Armee anbot.13 Radeks Wort als Leiter des BMI hatte in Moskau offenbar wieder Gewicht erlangt. In seiner neuen Funktion brach er im August 1932 zusammen mit seinem Mitarbeiter Lapinskij zu einer Geheim-Mission nach Berlin auf, um die „Positionen der politischen Kreise Deutschlands“ zu sondieren.14 Wie in seinem Auftrag vorgesehen, konzentrierte sich das BMI in den ersten achtzehn Monaten seiner Tätigkeit auf die politischen und militärstrategischen Aspekte des Dreiecksverhältnisses Moskau – Warschau – Berlin. Im Hinblick auf Polen interessierte in Moskau die Frage, ob das Land im Falle einer deutschen Aggression die Funktion eines Schutzwalls für die Sowjetunion übernehmen könnte. Als Marschall Piłsudski im Verlauf des Jahres 1932 auf der „Presseschiene“ über seine Vertrauten Ignacy Matuszewski15 und den Chefredakteur der „Gazeta Polska“ Boguslaw Miedziński16 signalisieren ließ, Polen sei zu einer Annäherung an die UdSSR bereit, reagierten Radek und die aus Polen stammenden Mitarbeiter des BMI mit einer Offensive der Freundschaft. Bei mehreren Besuchen in der Moskauer polni10 Romm, V. G.; sowjetischer Journalist, u. a. TASS-Korrespondent in Paris und Genf; mit Radek seit 1922 bekannt; 1926–1927 Anhänger Trockijs. 11 Prozessbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 149ff. 12 Köstring, Ernst August (1876–1953); 1941 als General der Kavallerie aus der deutschen Wehrmacht ausgeschieden; 1931–1933 und 1935–1941 deutscher Militärattaché in Moskau. 13 Teske, S. 68 f. 14 Ken, S. 151. 15 Matuszewski, Ignacy (1891–1946): Publizist, Politiker und Diplomat; 1932–1936 außenpolitischer Redakteur der „Gazeta Polska“. 16 Miedziński, Boguslaw (1891–1972); polnischer Oberst, Journalist und Politiker (Sejm-Vizemarschall, d.h. stellvertretender Parlamentspräsident); 1931–1938 Chefredakteur der „Gazeta Polska“.

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schen Gesandtschaft priesen sie den polnischen Freiheitswillen und bekundeten, die Unabhängigkeit Polens müsse geschützt werden. Sie betonten, Stalin teile ihre Ansichten und schlugen Direktkontakte unter Umgehung des Außenkommissariats vor. Radek und sein Mitarbeiter Raevskij versicherten mehrfach, sie würden Stalin oft sehen und man könnte sich über sie direkt an ihn wenden. Radeks wichtigster Gesprächspartner war der polnische Militärattaché Major Jan Kowalewski17, dem die Akkreditierung vom NKID entzogen wurde, als ihn das OGPU als japanischen „Konteragenten“ verdächtigte – ein erster Hinweis auf das sich aufladende Konfliktpotential zwischen BMI und NKID/OGPU. Als polnischer Kontaktmann Radeks fungierte daraufhin Jan Berson18, der Korrespondent der Polnischen Telegrafenagentur in Moskau. Nach der Machtergreifung Hitlers verlautete am 27. März 1933 in der „Gazeta Polska“, Polen sei bereit mit der UdSSR und der kleinen Entente zum Erhalt der Stabilität in Mittel- und Osteuropa zusammenzuarbeiten. Vermutlich inspiriert durch seinen Freund Radek gab der Sowjetgesandte in Warschau AntonovOvseenko dem Chefredakteur des Blattes Miedziński zu verstehen, dass man jetzt die inoffiziellen Kontakte auf höherer Ebene fortsetzen könne. Daraufhin besuchte Miedziński Ende April/Anfang Mai 1933 Moskau und bot Radek die Herstellung eines „Arbeitskontakts“ an. Er überbrachte die Zusage des Marschalls, Polen werde sich nicht mit Deutschland gegen die Sowjetunion verbünden. Dies sei ein zentraler Punkt des polnischen Staatsverständnisses. Wenn man das in Moskau begreife, sei der Weg zu besseren Beziehungen offen. Er lehnte es allerdings ab, Stalin aufzusuchen und lud statt dessen Radek zu einem Meinungsaustausch nach Warschau ein.19 Stalin, der es bedauerte Miedziński nicht begegnet zu sein, erteilte Radek die Genehmigung, jederzeit nach Polen reisen zu dürfen. Radek, der Jan Berson davon unterrichtete, fügte zweifellos im Auftrag Stalins drohend hinzu, bezogen auf das „ukrainische Problem“ werde jegliche polnische Aktivität auf diesem Gebiet von der UdSSR als bewusste oder unbewusste Erfüllung der deutschen Pläne im Osten bewertet werden. Am 28. Juni wurde Radek von den Mitgliedern des Politbüro-Komitees für außenpolitische Angelegenheiten (Stalin, Molotov, Kaganovič) für seinen Besuch in Warschau instruiert. Wahrscheinlich wurde er angewiesen, freundschaftlich, aber bezogen auf die polnische Außenpolitik ultimativ, zu agieren. Eine Woche darauf fuhr er in seine alte Heimat mit dem sensitiven diplomatischen Auftrag, den polnischen Staatschef Piłsudski von der Kooperation mit Deutschland abzuhalten und zur Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zu bewegen. Vom 6. bis 22. Juli 1933 hielt er sich in Polen auf und wurde dort als persönlicher Emissär Stalins mit aller

17 Kowalewski, Jan (1892–1965); Chef der Nachrichten-Abteilung im polnischen Generalstab und Experte für Kryptologie; im Anschluss an die Verwendung als Militärattaché in Japan 1929–1933 polnischer Militärattaché in Moskau. 18 Berson, Jan (1903–1946); Journalist, 1932–1935 Korrespondent der Polnischen Telegrafenagentur in Moskau. 19 Ken, S. 153–157.

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Ehrerbietung wahrgenommen.20 Vor der Aufnahme der Gespräche unternahm er eine Reise durch Pommern und Schlesien und besuchte Krakau und seine Mutter in Tarnów. Das erste Wiedersehen mit ihr nach fast 30 Jahren und auch das letzte. Die Wiederbegegnung mit dem Land seiner Geburt ließ ihn nicht unbeeindruckt und weckte Emotionen und Erinnerungen. 30 Jahre später berichtete Miedziński über die erstaunlichen Veränderungen, die er an Radek wahrnahm: „Ich hatte den bestimmten Eindruck, dass seine Reise durch Polen, und möglicherweise insbesondere die Atmosphäre der alten Mauern Krakaus ihren Eindruck auf Radek gemacht haben; das war nicht mehr derselbe Mensch wie in Moskau; es schien, dass alles Polnische in seinem Wesen an die Oberfläche gekommen war. Ich denke, dass er damals ehrlich und mit gutem Willen über die Möglichkeit einer Entspannung und Annäherung in unseren Beziehungen nachdachte.“21

Offiziell deklarierte man seinen Aufenthalt in der polnischen Hauptstadt als Gegenbesuch zur Moskau-Visite des Chefredakteurs der regierungsamtlichen „Gazeta Polska“ im Frühling 1932. „Rein zufällig“ fiel Radeks Anwesenheit zeitweilig mit dem Aufenthalt sowjetischer Fliegerhelden zusammen, die, von russischen Luftwaffengeneralen begleitet, angeblich den Moskaubesuch polnischer Fliegerasse erwiderten. Eine perfekte Tarnung der wahren Besuchsgründe Radeks und der Militärs, wie der amerikanische Geschäftsträger in Warschau nach Washington berichtete.22 Während des Aufenthalts in Warschau hatte Radek zahlreiche Treffen mit Politikern, Militärs und Journalisten. Er führte Gespräche mit Außenminister Beck und dessen Stellvertreter. Auf Spaziergängen mit Miedziński in den Parks von Wilanów und Lazienki erörterte er mögliche Varianten und Optionen der polnischen Außenpolitik unter dem Aspekt der militärischen Bedrohung durch das Deutsche Reich. Polen könnte von Deutschland vor die Wahl gestellt werden, entweder mit Hitler gemeinsam gegen die UdSSR vorzugehen oder das erste Opfer des deutschen Dranges nach Osten zu werden, zumindest aber genötigt werden, den Deutschen die Benutzung des polnischen Korridors zu gestatten. Er schlug vor, mit der UdSSR militärisch zu kooperieren. Da Polen den Schutz seiner Westgrenze durch die Rote Armee kategorisch ausschließe, könnte Moskau Militärhilfe in Form von Waffen, Ausrüstung und Treibstoff leisten und seine Streitkräfte nahe der Grenze zu Ostpreußen konzentrieren. Man sollte doch diese Möglichkeiten bilateral auf Generalstabsebene diskutieren. Miedziński ließ ihn wissen, diese Vorschläge seien noch verfrüht, 20 Komet, Abraham, Zu der geschichte fun jidn in Torne [Zur Geschichte der Juden in Tarnów], in: Torne, Kijum un churbn fun a jidischer schtot [Tarnow, Leben und Tod einer jüdischen Stadt], Tel Aviv 1954. Lerner, S. 175. 21 Boguslaw Miedziński, „Popioły są jescze gorące. Polska polityka zagraniczna w okresie przedwojennym“, Wiadmości, (Łondyn), 26.10.1952; zitiert nach: Ken, S. 160. 22 DA (U.S. Department of State), MS (Microfiche) Nr. 760C 61/657, 24 July 1933, p. 2. Tuck, S. 105.

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vereinbarte aber mit ihm, die inoffiziellen Kontakte fortzuführen und über diesen Kanal Verbindung aufzunehmen, falls sich in den offiziellen Beziehungen Probleme ergeben sollten. Nach Moskau zurückgekehrt, beurteilte Radek die politische Haltung Warschaus gegenüber Moskau positiv und sprach von einer Wende hin zu einer ehrlichen Zusammenarbeit mit der UdSSR. Zwar sei der weitere Weg nicht frei von Risiken, aber es bestünde eine reale Chance zu einer weiteren Annäherung, auch wenn dies ein langwieriger Prozess voller Widersprüche sein dürfte. Am 29. Juli wurde Radek zur Berichterstattung im Kreml’ im Büro des Generalsekretärs empfangen, wo ihn Stalin, Molotov und Vorošilov erwarten. Als er Stalins Büro nach einer Stunde verließ, wurde der Stellvertretende Außenkommissar Krestinskij einbestellt und die sowjetische Polen-Politik erhielt eine neue Ausrichtung23: „Wir müssen die Annäherung mit Polen forcieren, um Polen zu zwingen, eine eindeutige Position zu beziehen und die gegen uns gerichteten Verhandlungen mit Deutschland abzubrechen. Es wird uns leichter fallen mit Polen zu einer Einigung zu kommen, als Deutschland. Daher werden unsere Schritte in dieser Richtung bald erfolgreich werden.“24

Radek, dem bei seinen Gesprächen die Kenntnis der polnischen Mentalität und der Person Marschall Piłsudskis zunutze kam, war es gelungen, den Weg für eine kurzzeitige Annäherung Polens an die Sowjetunion freizumachen.25 Damit standen Radek und das BMI im Zenit ihres Erfolges, eines Erfolges, der sich nicht wiederholte und die Gegenkräfte in NKID und Geheimdiensten mobilisierte. Im Herbst 1933 versuchte Radek vergebens gegen eine sowjetisch-französische Annäherung zu intervenieren, die seiner Auffassung nach der Zusammenarbeit Moskaus mit Polen zuwider lief: „Der Weg nach Warschau führt nicht über Paris, sondern nur über Warschau.“ Auch war es ihm nicht möglich, die direkten vertraulichen Kontakte, die er mit Miedziński und Beck vereinbart hatte, aufrechtzuerhalten. Gegen Ende des Jahres 1933 verschärfte sich im NKID der Widerstand gegen die unkontrollierbaren außenpolitischen Alleingänge Radeks, wobei jedoch fraglich ist, ob man zu diesem Zeitpunkt bereits Kenntnis davon hatte, dass Hitler im November Piłsudski einen gegenseitigen Nichtangriffspakt angeboten hatte, dessen Unterzeichnung der Marschall erwog. Als Politikberater und Leiter des BMI in unmittelbarem Kontakt mit Stalin tätig, war Radek sehr zum Verdruss des NKID 1932/33 die Rolle eines „quasi-diplomatischen Sprachrohrs“ des Generalsekretärs der VKP(b) zugewachsen. Seine Äußerun23 Ken, S. 158–162. 24 Brief Krestinskijs an den Gesandten Antonov-Ovseenko in Warschau vom 4. August 1933. Ken, S. 162. 25 Lerner, S. 157. Vgl. dazu auch Radeks Presseartikel über die polnisch-sowjetischen Beziehungen vom 29. August, 6. September und 8. September 1933. Nachdruck in Podgotovka bor’by, S. 99ff., S. 104ff., S. 107ff.

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gen zur sowjetischen Außenpolitik verdienen Beachtung, insbesondere seine Artikel in der sowjetischen Presse über das im politischen Umbruch befindliche Deutschland, die durch die Invasion Japans in der Mandschurei dramatisch veränderte Lage in Fernost sowie das damit zusammenhängende Thema der Anerkennung der Sowjetunion durch die USA. Radek, der vormals den Faschismus als eine kleinbürgerliche Ressentimentbewegung eingeordnet und als den „Sozialismus kleinbürgerlicher Massen“ definiert hatte, kommentierte die Auflösung der Weimarer Republik und den Aufstieg Hitlers Anfang 1932 zunächst noch anhand dieser These.26 Durch die Bourgeoisie gestützt, wollten die von ihm als Faschisten bezeichneten Nationalsozialisten zur Macht gelangen, würden dann aber nicht das Programm des Kleinbürgertums, sondern das des Kapitalismus durchführen. Was die Sozialdemokratie anging, hatte er sich das Dogma Stalins vom „Sozialfaschismus“ zu Eigen gemacht: Faschismus und Sozialdemokratie seien keine Antipoden, sondern Zwillingsbrüder. Über das Phänomen Hitler schrieb er: „Die kleinbürgerliche Schicht Deutschlands hat ihre demokratischen Illusionen zwar nicht völlig verloren, starrt aber wie hypnotisiert auf das Anwachsen der nationalsozialistischen Bewegung, starrt wie hypnotisiert auf den Führer der deutschen Faschisten Hitler, der mit manischer Stimme unaufhörlich und monoton wiederholt, daß er der auserwählte Retter Deutschlands ist und es durch das Meer des faschistischen Terrors in das gelobte Dritte Reich führen wird. Die Reden Hitlers enthalten keine wirtschaftlichen oder politischen Analysen. Sie enthalten kein konkretes Programm. In ihrer verworrenen Vortragsweise sind sie ein Muster an provinzieller Rhetorik. Und dennoch lauscht das bürgerliche Deutschland diesen Reden mit angehaltenem Atem. Millionen von Kleinbürgern applaudieren ihnen in Hysterie […]. Die politischen Schreiber aller Blätter versuchen das Geheimnis zu enträtseln: Worin liegt die Anziehungskraft Hitlers, wie erklärt sich seine Wirkung? Die Erklärung läßt sich leicht finden, wenn man sich gründlich mit dem Lebenslauf Hitlers beschäftigt und ihn nicht isoliert von der deutschen Geschichte der letzten 20 Jahre, sondern als Teil dieser Geschichte betrachtet.“27

Radek schilderte Hitlers Werdegang zum Führer der Nationalsozialisten als „die Geburt eines kleinbürgerlichen Helden“. Er habe sich in Bayern, dem Hort der deutschen Reaktion, von General Ludendorff, Kardinal Faulhaber28 und Hugo Stinnes für deren separatistische Verschwörung einspannen lassen und sei nach seinem ge-

26 Radek, Gitler [Hitler], geschrieben im Januar 1932; Nachdruck in: Portrety i pamflety, tom 2 (1934), S. 344–367. 27 Ebenda, S. 344. 28 Faulhaber, Michael von (1869–1952); Erzbischof von München und Freising; 1921 Kardinal; Monarchist und Gegner der Nationalsozialisten.

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scheiterten Putsch vom 9. November 1923 vom Großkapital zunächst fallengelassen worden29: „Dieser Abschluß der ersten Periode der Entwicklung des Nationalsozialismus erhellt völlig den Charakter der nationalsozialistischen Bewegung. Gestützt auf die kleinbürgerlichen Massen hatte sie keinerlei selbständigen Einfluß. Sie war ein Spielball in den Händen der separatistischen Reaktion des Großkapitals und zerplatzte wie eine Seifenblase in dem Moment, als die Großkapitalisten ihrer nicht mehr bedurften.“30

Erst als verurteilter Putschist habe Hitler dann im Gefängnis sein 25-Punkte-Programm formuliert, mit dem er an die nationalistischen Instinkte des Kleinbürgertums appellierte und in dem er mit dem Propagandabegriff der „Zinsknechtschaft“ einen Volltreffer landete. Seine Wahlerfolge von 1924 bis 1928 ließen ihn für die Großindustriellen und Großgrundbesitzer wieder interessant werden, so dass sie ihn schließlich finanzierten. Inzwischen hätten die Nationalsozialisten als „Söldlinge des Monopolkapitals“, ihre sozialistischen Ziele aufgegeben, strebten nicht mehr die Enteignung der monopolistischen Großbourgeoisie an und täten nichts, um die Ausbeutung der Arbeitermassen durch den wieder hochgekommenen neuen deutschen Kapitalismus zu verhindern. Hitler und seine Nationalsozialisten verkündeten als ihre Ziele die Liquidierung des deutschen parlamentarischen Systems, die Errichtung der Diktatur ihrer Partei und die Verwirklichung ihres „Programms der Errichtung des ,Dritten Reichs‘“. Aber die faschistischen Organisatoren fürchteten die sozialdemokratische Konkurrenz, denn der Monopolkapitalismus benutze die Sozialdemokratie mit ihren „sozialfaschistischen“ Führern u n d die Nationalsozialisten für die Durchführung seiner Politik. Er stütze sich auf beide ab und trete je nach Bedarf Hand in Hand mit ihnen den Arbeitern entgegen. Hitler nutze das aus, um auf legalem Wege, unterstützt von der Bourgeoisie und dem Großkapital, an die Macht zu kommen. Das müsse verhindert werden.31 Aber, so bemerkte Radek einschränkend und unter prophylaktischer Schuldzuweisung an die Adresse der Sozialdemokratie: „Die Widerstandskraft, die die deutschen Arbeiter den faschistischen Mordgesellen entgegensetzen können, wird davon abhängen, in welchem Maße die sozialdemokratischen Arbeiter sich vom Einfluß ihrer sozialfaschistischen Führung befreien können.“32 Als Ende Mai 1932 die Regierung Brüning gestürzt und Anfang Juni durch von Papens33 „Kabinett der Barone“ ersetzt wurde, befleißigte sich Radek deutlicher Zurückhaltung. Im Oktober 1931 hatte er noch angemerkt: „Der Kampf der Regierung

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Radek, a.a.O., S. 349 ff. Ebenda, S. 351. Ebenda, S. 351–361. Ebenda, S. 366. Papen, Franz von (1879–1969); 1932 deutscher Reichskanzler; 1933/34 Vizekanzler.

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Brüning mit Hitler und Hugenberg34 ist nicht der Kampf der bürgerlichen Demokratie gegen den Faschismus, sondern die Auseinandersetzung um unterschiedliche Methoden zur Schaffung eines faschistischen Deutschlands […].“35 Diese Fehlbeurteilung Brünings als Wegbereiter des Faschismus ließ er so stehen. Über von Papen äußerte er sich erst, als dieser auf internationalem Parkett sowjetische Interessen tangierte. Auf der Konferenz von Lausanne (16. Juni–9. Juli 1932), die im Ergebnis die deutsche Reparationsfrage löste und als Spätfolge die Anerkennung der militärischen Gleichberechtigung Deutschlands erbrachte, hatte der neue Reichskanzler als vertrauensbildende Maßnahme den Austausch deutscher und französischer Generalstabsoffiziere vorgeschlagen. Ein Schritt, den Moskau als gefährliche Absicht zur Verlagerung der deutschen Gleichgewichtspolitik und als Schritt zur Westorientierung interpretierten musste und der Befürchtungen auslöste, Deutschland wolle sich mit Frankreich auf Kosten der Sowjetunion einigen. Als Frankreich sich dem Projekt verweigerte, bemühte sich Radek in den „Izvestija“ Papens Misserfolg hervorzuheben. Die deutsche Delegation in Lausanne habe fälschlicherweise angenommen, dass Frankreich isoliert sei und es nur „der goldenen Pille“ einer Militärkonvention bedürfe, um das Ende der Reparationen zu erreichen. Deutschland müsse jedoch weitere Zahlungen leisten, die damit auch Reparationen blieben.36 Als die Konferenz dann mit einer endgültigen Regelung der Reparationsfrage endete, sah Radek im Militärpotential Frankreichs den Garanten dafür, dass die Deutschland knebelnden Bestimmungen des Versailler Vertrages weiter in Kraft bleiben würden. Die französische Armee sei noch nicht „bankrott“. Deswegen bleibe das Versailler System in Kraft, wenn es auch stark erschüttert und die Reparationen vermindert worden seien.37 Nach den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932, deren Ergebnis Reichskanzler Franz von Papen eine Mehrheitsbildung unmöglich machte und bei denen die KPD stark hinzugewonnen hatte, kommentierte Radek: Verbände sich Papen mit Hitler, dann würden die Massen noch mehr zum revolutionären Proletariat, das heißt zur KPD, abwandern. Er rechnete mit einem starken Selbstbehauptungswillen Papens und hielt Meldungen über einen Zerfall der NSDAP, die sich jetzt zur stärksten Partei entwickelt hatte, für verfrüht. Dem deutschen Volk prophezeite er für die kommenden Monate großes Leid, denn jeder politischen Richtung der Bourgeoisie fehle es an Männern, die nicht nur mutige Husarenstückchen, sondern entschlos-

34 Hugenberg, Alfred (1865–1951); Leiter des Hugenberg-(Medien-)Konzerns und Vorsitzender der rechten Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). 35 Kochan, Louis, Russia and the Weimar Republic, Cambridge 1954, S. 175; zitiert nach Legters, S.112. Übersetzung durch den Verfasser. 36 Radek, V poiskach vychoda iz tupika (Meždunarodnoe obozrenie) [Auf der Suche nach dem Ausweg aus der Sackgasse (Internationale Rundschau)]; in: „Izvestija“, Nr. 186 vom 7. Juli 1932. Grieser, S. 236. 37 Radek, Konec reparacii? (Meždunarodnoe obozrenie) [Ende der Reparationen? (Internationale Rundschau)]; in: „Izvestija“, Nr. 197 vom 15. Juli 1932. Grieser, S. 237.

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sene Taten vollbringen könnten.38. Reichswehrminister General von Schleicher sei der wichtigste Mann im Kabinett. Mit ihm erhebe sich die Reichswehr zur Verkörperung des Staates.39 Auch angesichts der andauernden Staatskrise in Deutschland, glaubte Radek noch im September 1932 nicht an eine Regierungsbeteiligung der NSDAP. Die Bourgeoisie brauche noch die SPD und die Gewerkschaften als Reserve im Kampf gegen den Kommunismus. Aber alles hänge davon ab, ob das auf zwölf Monate angelegte Wirtschaftsprogramm Papens, mit dem er im Reichstag gescheitert sei, in Form von Notverordnungen durchgesetzt werden und so die Krise beenden könne.40 Intern zeigte sich Radek allerdings seit längerem vom Sieg Hitlers überzeugt. Der Publizist Ernst Niekisch41, der bereits im Herbst 1931 in Moskau mit Karl Radek sprach, registrierte voller Verblüffung, dass dieser schon damals fest mit dem Kommen Hitlers rechnete und meinte, Stalin werde sich wohl mit ihm vertragen.42 Tatsächlich sah man in der Sowjetführung einer nationalsozialistischen Machtübernahme gefasst entgegen. Da man meinte, der Weg zu einem Sowjetdeutschland müsse über eine faschistische Interimsphase führen, glaubte man Hitler in der Rolle eines Schrittmachers des Kommunismus.43 Nach seiner Machtergreifung am 30. Januar 1933 wurde im Kreml’ die Auffassung vertreten, die Herrschaft des Faschismus in Deutschland werde nur von kurzer Dauer sein. Hitlers Rechtsdiktatur sei der sichere Vorbote einer nahenden Revolution.44 Radek warnte allerdings die Kommunistische Partei Deutschlands vor „putschistischen“ Aktionen gegen Hitler. Die 38 Radek, Ischod germanskich vyborov [Ergebnis der deutschen Wahlen]; in: „Izvestija“, Nr. 212 vom 2. August 1932. Grieser, S. 238. 39 Radek, Političeskij krizis v Germanii [Die politische Krise in Deutschland]; in: „Izvestija“, Nr. 225 vom 15. August 1932. Radeks Einschätzung bestätigte sich, als am 3. Dezember 1932 General von Schleicher Papen als Reichskanzler folgte. Nach dem Misstrauen, das Moskau der westlichen Orientierung Papens entgegengebracht hatte, glaubte man sich nun auf die alte russlandfreundliche Disposition der Reichswehr verlassen zu können. Vgl. von Rauch, S. 351. 40 Radek, Novyj ėtap političeskogo krizisa v Germanii [Eine neue Etappe der politische Krise in Deutschland]; in: „Izvestija“, Nr. 257 vom 16. September 1932. Grieser, S. 238. 41 Niekisch, Ernst (1889–1967); deutscher Publizist, der nationalbolschewistische Positionen vertrat; nach dem Zweiten Weltkrieg Eintritt in KPD und SED; Soziologieprofessor an der Ostberliner Humboldt-Universität und Abgeordneter der DDR-Volkskammer; nach dem 17. Juni 1953 Rückzug aus der Politik. 42 Brief Ernst Niekischs vom 15.Juni 1957 an Schüddekopf. Schüddekopf, Linke Leute von rechts, S. 387. In seinen Memoiren (Gewagtes Leben, Köln und Berlin 1958, S. 217) schildert Niekisch die Begegnung mit Radek bei seinem Moskau-Besuch 1931 wie folgt: ”Einen der Nachmittage verbrachte ich bei Radek. Es entwickelte sich ein eingehendes politisches Gespräch. Radek war ein guter Prophet. Er sah den Sieg Hitlers voraus und meinte, die friedliebende Sowjetunion werde sich notfalls auch mit Hitlerdeutschland vertragen. Freilich halte er Hitler und die Nazis überhaupt für politisch viel zu dumm, um die Chance ermessen zu können, die eine deutsch-russische Zusammenarbeit in sich begreifen würde.“ 43 von Rauch, S. 351. 44 Hilger, S. 242.

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KPD hatte nach den Reichstagswahlen Anfang November 1932 mit 100 Mandaten zwar so viele Abgeordnete in den Reichstag entsenden können, wie nie zuvor, war aber dennoch weit davon entfernt, einen entscheidenden Machtfaktor darzustellen. Im Hinblick auf die für Anfang März 1933 neu ausgeschriebenen Reichstagswahlen forderte Radek die Partei dazu auf, stillzuhalten und auf den prokommunistischen Solidarisierungseffekt nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen in der Arbeiterschaft zu setzen. Mitte Februar 1933 veröffentlichte er einen Kommentar, in dem es hieß: „Die deutsche Kommunistische Partei hat es nicht vermocht, eine Mehrheit des Proletariats für sich zu gewinnen. In einem Land mit einem hohen Organisationsgrad der Volksmassen ohne eine Mehrheit des Proletariats in den Kampf um die Macht zu gehen, bedeutet ein Abenteuer zu unternehmen – um so mehr, als die Krise die große Masse des Kleinbürgertums aus ihrem Schlummer und ihrer politischen Indifferenz geweckt und sie ins Lager des Faschismus getrieben hat. Zwar könnte Hitler in der Lage sein, die legale Organisation der Kommunistischen Partei zu zerstören. Aber jeder Schlag gegen sie wird helfen, die Arbeitermassen für ihre Unterstützung zu mobilisieren. Eine Partei, die sechs Millionen Stimmen erhält und tief mit der Geschichte der deutschen Arbeiterklasse verbunden ist, kann nicht aus dem Buch der Geschichte getilgt werden. Das kann nicht durch Verwaltungsanordnungen, die sie für illegal erklären, erreicht werden; das kann nicht durch blutigen Terror geschehen, es sei denn, der Terror würde sich gegen die ganze Arbeiterklasse richten.“45

Der von Radek beschworene nationalsozialistische Terror zur Zerschlagung der Gewerkschaften und zur Ausschaltung der deutschen Linksparteien KPD und SPD setzte nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 voll ein. Bei den Reichstagswahlen am 5. März erzielte die NSDAP einen Zuwachs von 10 Prozent, erhielt 288 Reichstagsmandate, verfehlte aber die absolute Mehrheit. Die KPD blieb mit noch 81 Mandaten nach der SPD die drittstärkste Partei, jedoch zwei Tage nach der Wahl wurde ihre Zentrale geschlossen und am Ende des Monats die Partei verboten. Dennoch versicherte Radek seinen Lesern im März in den „Izvestija“, die Nationalsozialisten hätten nur einen Pyrrhussieg errungen46. Auch nach Hitlers Ermächtigungsgesetz, das die parlamentarische Kontrolle beseitigte und angesichts der Gleichschaltungsmaßnahmen im Reich, hielt Radek an seiner falschen Lagebeurteilung fest. Den von Hitler mit nationalistischem Pomp zelebrierten „Tag von Potsdam“ (21. März) und die lodernden Feuer der Bücherverbrennung durch NaziAnhänger (10. Mai) vor Augen, zog er im Mai eine erste Bilanz des Hitlerregimes.47 45 Artikel Radeks in: „Bol’ševik“ vom 15. Februar 1933; zitiert in: Beloff, M., The Foreign Policy of Soviet Russia, Band 1, 1929–1936, S. 67. Legters, S. 113. 46 Hilger S. 243. 47 Radek, Padenie dollara i vocarenie Gitlera [Der Sturz des Dollars und der Regierungsantritt Hitlers], geschrieben im Mai 1933. Nachdruck in: Portrety i pamflety, tom 2 (1934), S. 368–380.

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Er modifizierte seine bisherige Definition des Faschismus, indem er zwar noch dessen kleinbürgerliche Basis erwähnte, ihn aber nun als die „Diktatur des Monopolkapitals“ charakterisierte. Ein Vorgriff auf die ein halbes Jahr später von der Komintern als verbindlich verkündete Begriffserklärung des Faschismus.48 Er bestritt jedoch, dass der Regierungsantritt Hitlers den definitiven Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland bedeuten würde: „Drei Monate ist der deutsche Faschismus an der Macht. ,Die nationale Revolution‘ hat gesiegt, verkündet die bürgerliche Presse. ,Nicht nationale Revolution, sondern nationalsozialistische‘, erwidert Göring49 auf den faschistischen Betriebsgewerkschaftsversammlungen und biedert sich den Arbeitern und Lumpenproletariern [Angestellten] an, die von der faschistischen Partei aufgelesen worden sind. Eine schöne Revolution, von der sich die Fabrikbesitzer herabgesetzte Reallöhne, die Beseitigung der Sozialversicherung und die Abschaffung der Gewerkschaften erwarten! Eine schöne Revolution, die nach Meinung der Gutsbesitzer, die Tagelöhner kirremachen und kleinkriegen soll! Der Faschismus ist die Diktatur des Monopolkapitals, das es versteht, sich die Unterstützung des gesamten Kleinbürgertums zu verschaffen, das nicht durchschaut, daß die faschistische Fahne die des alten Herrn ist! Eine schöne Revolution in Großdeutschland, die alle fortschrittlichen Werke der deutschen Literatur verbrennt und solche in der Qualität des deutschvölkischen Philosophen und Dummschwätzers [Alfred] Rosenberg hinterläßt. ,Unglücklich das Volk, das seine Propheten verfolgt‘, schrieb einst der große polnische Dichter Mickiewicz. Das Volk, das seine Bibliotheken verbrennt, vermag nicht zu siegen.“50

Mit diesem Dichterwort leitete Radek zu der Frage über, ob die Machtübernahme durch Hitler den endgültigen Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland darstelle. Bereits die Niederlage der Deutschen im Ersten Weltkrieg hätte gezeigt, dass ihren Führern „jegliche Fähigkeiten zu einer realistischen Beurteilung der Weltlage“ fehlen würden. Im Grunde eine Folge ihrer falschen Philosophie – der Negierung von Hegels51

48 Das XIII. Plenum des Exekutivkomitees der Komintern (28. November – 12. Dezember 1933 in Moskau) verkündete 1933 eine Definition des Faschismus, die bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion gültig blieb: „Der Faschismus ist die offene terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals”. Damit wurde zwar der terroristische Charakter der faschistischen Herrschaft zutreffend definiert, aber zugleich überbetont, um den ausbleibenden Zusammenbruch des Faschismus und den Übergang zur antifaschistischen Volksfrontpolitik 1934/35 zu rechtfertigen, mit dem die Frontstellung gegen die Sozialdemokratie aufgegeben wurde. Schieder, Wolfgang, Faschismus; in: Kernig, Band II, Sp. 457f. 49 Göring, Hermann (1893–1946); führender nationalsozialistischer Politiker; 1932/33 Präsident des Deutschen Reichstags; 1933 preußischer Ministerpräsident. 50 Radek, a.a.O., S. 377f. 51 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831); deutscher Philosoph, dessen dialektische Methode prägend auf Karl Marx wirkte.

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Dialektik zugunsten von Kants52 Transzendentalphilosophie. Das treffe auch auf die Nationalsozialisten zu: „Der deutsche Faschismus kann versuchen, die Arbeiterklasse und die kommunistische Partei zu zerschlagen soviel er will und der ,Hydra der Revolution‘ den Kopf abschlagen – er wird immer wieder nachwachsen; er [der deutsche Faschismus] kehrt dem Antlitz der Geschichte den Rücken zu. Er zäumt das Pferd vom Schwanz her auf. Und deshalb kann er nicht nur nicht siegen, sondern er beschleunigt den Untergang der deutschen Bourgeoisie.“ 53

Die „faschistische Diktatur“ – so Radek – gleiche „eisernen Reifen“, mit denen die deutsche Bourgeoisie versuche, „das berstende Fäßchen des deutschen Kapitalismus“ zusammenzuhalten. Diese „faschistischen Reifen“ würden aber nur so lange halten, bis die in dem Fässchen anschwellenden Widersprüche zur Explosion kommen. Die „historische Bedeutung des deutschen Faschismus ist es, die Arbeiterklasse [...] in Ketten zu schlagen“, damit die deutsche Bourgeoisie von dem „Kampffeld für eine Neuaufteilung der Welt“ 54 nicht von den arbeitenden Massen verjagt werden könne. Aber, wenn die Arbeiterklasse sich gegen die faschistische Diktatur zusammenschließe, werde sie diese „unausbleiblich [...] in ihrer Gesamtheit niederwerfen. Denn dann kann sie niemand daran hindern zu siegen“, zumal auch die vom Faschismus enttäuschten „kleinbürgerlichen Massen“ sich ihr anschließen würden. „Das deutsche Volk wird seine Bourgeoisie auch ohne Krieg besiegen“, beharrte Radek auf seiner bisherigen Fehlbeurteilung. Er schloss seine Ausführungen mit einer düsteren Prognose, indem er an den von den Nationalsozialisten als Helden verehrten Friedrich den Großen55 erinnerte, der im Siebenjährigen Krieg Gift in der Tasche mit sich führte, um im Falle einer Niederlage davon Gebrauch zu machen. Friedrich habe nicht dazu greifen müssen, da er es mit seiner Politik geschickt verstand, die Widersprüche zwischen England und Frankreich auszunutzen. Die deutschen Faschisten wollten sich hingegen „die Widersprüche zwischen der sterbenden kapitalistischen Welt und dem neugeborenen Sozialismus, der den Kapitalismus ablösen wird“, zunutze machen, aber: „Im Unterschied zu Friedrich dem Großen, werden sie das Gift nehmen müssen.“56 Es sollte freilich noch zwölf Jahre dauern, bis sich Radeks Prophezeiung erfüllte. Mit dem in seiner 100-Tage-Bilanz der Regierung Hitler verwendeten Begriff „Kampffeld für eine Neuaufteilung der Welt“ hatte Radek Bezug auf die von Stalin in den 1920er Jahren geprägte These vom „Kampf um die Neuaufteilung der Welt“ genommen. Sie basierte auf Lenins Gesetz von der Disproportionalität der Ent52 Kant, Immanuel (1724–1804); deutscher Philosoph; Begründer der kritischen oder Transzendentalphilosophie. 53 Radek, a.a.O., S. 378. 54 Hervorhebung durch den Verfasser. 55 Friedrich II., „der Große“ (1712–1786); König von Preußen. 56 Radek, a.a.O., S. 379.

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wicklung der kapitalistischen Länder in der Periode des Imperialismus als Ursache für die Unvermeidbarkeit von Kriegen. Nach Stalins Auffassung bedeutete Lenins Gesetz „die sprunghafte Entwicklung der einen Länder im Vergleich mit anderen, die schnelle Verdrängung der einen Länder vom Weltmarkt durch die anderen, periodische Neuaufteilungen der bereits aufgeteilten Welt vermittels kriegerischer Konflikte und Kriegskatastrophen57 [...]“, aber gleichzeitig auch „die Möglichkeit des Sieges des Sozialismus in einzelnen Ländern [...]“.58 Erläuternd hatte Stalin hinzugefügt: „Der imperialistische Weltkrieg war der erste Versuch, die bereits aufgeteilte Welt neu aufzuteilen. Diesen Versuch mußte der Kapitalismus mit dem Sieg der Revolution in Rußland und mit der Untergrabung der Grundlagen des Imperialismus in den kolonialen und abhängigen Ländern bezahlen. Es erübrigt sich zu sagen, daß auf den ersten Versuch der Neuaufteilung ein zweiter Versuch folgen muß, wozu im Lager der Imperialisten schon Vorbereitungen getroffen werden. Man kann kaum daran zweifeln, daß der zweite Versuch der Neuaufteilung dem Weltkapitalismus viel teurer zu stehen kommen wird, als der erste.“59

In seinen außenpolitischen Analysen begann Radek sich nun verstärkt an diesem Dogma zu orientieren, insbesondere auch in seinen Kommentaren zum Verhältnis der Sowjetunion zu Hitlerdeutschland. Obwohl das innenpolitische Vorgehen der Nationalsozialisten gegen die KPD für eine offen moskaufeindliche Politik sprach, schlugen Hitler und Göring aus taktischen Gründen außenpolitisch zunächst noch versöhnliche Töne gegenüber der Sowjetunion an. Sie erklärten, dass die deutsche Russlandpolitik unverändert fortgesetzt werde. Am 5. Mai 1933 wurde der Berliner Vertrag von 1926 anstandslos verlängert und der Sowjetunion wurde ein Finanzkredit in Höhe von 140 Millionen Reichsmark gewährt. Dennoch war man in Moskau alarmiert. In der Parteizeitung „Pravda“ vom 10. Mai 1933 äußerte sich Radek im Hinblick auf die von Deutschland angestrebte Revision des Versailler Vertrages in einem programmatischen Artikel zu den außenpolitischen Zielen des Dritten Reiches.60 Er ordnete sie den von Stalin unterstellten Absichten des Imperialismus für eine Neuaufteilung der Welt zu und verband sie mit der Vision eines furchtbaren Krieges: „Der Weg zu der Revision des räuberischen, qualvollen Versailler Vertrages geht über einen neuen Weltkrieg. Alle Versuche der interessierten Staaten, die Sache so hinzustellen, als handele es sich um die friedliche Neugestaltung der Verträge, können in keinem Falle 57 Hervorhebung durch den Verfasser. 58 Stalin, Werke, Band 9, S. 93ff. 59 Ebenda 60 Radek, Revizija Versal’skogo dogorova [Die Revision des Versailler Vertrages], in: „Pravda“ Nr. 127 vom 10. Mai 1933, S. 2; wiedergegeben im Wortlaut der Übersetzung in den Akten des Auswärtigen Amtes, in: Möller, S. 269–279.

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täuschen [...]. Das Wort ,Revision‘ ist nur ein anderer Name für einen neuen Weltkrieg. Es ist daher kein Wunder, daß eine der Hauptforderungen der Revisionsanhänger die Forderung nach dem Recht auf Rüstungen ist, die der Versailler Vertrag ihnen verbietet. Die Diskussion über die Revision ist die Nebelwand, hinter der der Imperialismus den allerfurchtbarsten, den allergrausamsten Krieg vorbereitet, den das menschliche Gehirn sich ausdenken kann, einen Krieg, vor dem alle Schrecknisse des imperialistischen Krieges von 1914 bis 1918 verblassen.“61

Die „imperialistischen Mächte“ – führte Radek aus – wollten „in dem Weltenbrande eines neuen imperialistischen Krieges eine Neueinteilung dieser Welt vornehmen“ und in vielen dieser Länder bildeten sich „Gruppen, die an Plänen arbeiten, wie man wohl die Neueinteilung der Welt mit einem Kriege gegen die Sowjetunion beginnen könnte“. Wollte man beispielsweise Polen zu einem Krieg gegen die UdSSR aufstacheln, „so wäre es leichter, ihm auf Kosten der ukrainischen Kompensationen, die aber erst errungen werden müßten, den Verzicht auf das Küstengebiet aufzuhalsen und dadurch dem deutschen Faschismus den Ausweg aus der [durch den polnischen Korridor] geschaffenen Lage ermöglichen“. Aber genau diese „Suche nach einer Revision des Versailler Vertrages im Wege der Wiederherstellung des Brester Friedens in verschlechterter Auflage – das ist das Programm der Außenpolitik des deutschen Faschismus.“ Radek waren die ersten vorsichtigen Fühler der neuen Reichsregierung nach Warschau nicht entgangen. Er drohte: „Die Brester Zeiten sind vorüber, und jeder Versuch einer ,Revision‘ des Versailler Vertrags auf Kosten der Sowjetunion würde die Existenz derjenigen kapitalistischen Kräfte in Frage stellen, die ein solches Programm zu verwirklichen trachteten.“ Den „Kriegsvorbereitungen der Imperialisten“ für den „Kampf um die Neuaufteilung der Welt“ stellte Radek plakativ eine maßgebende Rolle der UdSSR bei den Bemühungen um die Erhaltung des Weltfriedens gegenüber.62 Er folgte Stalins Stereotyp von der Sowjetunion als „Bollwerk und Bannerträger des Friedens“ und behauptete: „Das Proletariat der Sowjetunion ist der Führer des Weltproletariats in seinem Kampf um den Frieden [...]. Der Arbeiter- und Bauernstaat ist im Kampf um den Frieden geboren und [...] ist auch in der internationalen Arena stets mit großer Konsequenz als Kämpfer für den Frieden aufgetreten, [...] weil [...] der Frieden die beste Voraussetzung für den Sieg des Sozialismus im Weltmaßstabe ist [...].63 Die kapitalistische Welt ist nicht imstande, weder auf friedlichem noch auf militärischem Wege eine einzige Frage zu lösen, die zu lösen der Menschheit obliegt. Die Sowjetunion hat mit der Durchführung des Fünfjahresplanes und der Kollektivierung mit der Tat bewiesen, daß sie imstande ist, die Grundprobleme der Menschheit durch den Aufbau des Sozialismus zu lösen.“64 61 62 63 64

Ebenda, S. 269. Ebenda, S. 270f. Ebenda, S. 270. Ebenda, S. 272.

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Sollte die Sowjetunion jedoch militärisch bedroht werden, erklärte Radek und legte die Friedensschalmei wieder beiseite, so könnte das nur die Weltrevolution befördern, in der die UdSSR die Führungsrolle zu übernehmen gedächte: „Wenn der Weltkapitalismus einen Anschlag gegen die Sowjetunion plant, um seinen Untergang hinauszuschieben, um den Blutregen auf sozialistische Felder abzulenken, so wird das Sowjetproletariat vor die Aufgabe gestellt, das Weltproletariat in den Kampf um die Lösung derjenigen Aufgaben zu führen, die der Weltkapitalismus nicht zu lösen verstanden hat und nie verstehen wird. Dann würde das Sowjetproletariat dem Weltproletariat und den kolonialen Völkern sagen: Revision? Gut! Wennschon – dennschon!“65

Dieser eindeutig auf das sowjetisch-deutsche Verhältnis gemünzte Artikel Radeks kündigte eine Umorientierung der sowjetischen Außenpolitik an. Moskau, das bisher den Versailler Vertrag als ein Instrument imperialistischer Unterdrückung und kapitalistischer Ausbeutung abgelehnt hatte, gab nun diesen „ideologischen Eckstein der sowjetischen Außenpolitik“66 preis. Derselbe Radek, der über mehr als ein Jahrzehnt hinweg vehement die Versailler Friedensordnung publizistisch bekämpft und deren Revision gefordert hatte, erklärte jetzt diesen „Revisionismus“ für kriegstreiberisch.67 Auch wenn das deutsche Auswärtige Amt und Wirtschaftskreise für eine Weiterführung der Politik der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion eintraten, war aus dem Rapallopartner ein potentieller Gegner geworden. In der NSDAP und ihrer Propaganda wurde unverändert der antibolschewistische Kurs der „Kampfzeit“ der Partei weitergeführt. Die NS-Ideologen sprachen von der Gewinnung von „Lebensraum im Osten“ auf der „Straße der einstigen Ordensritter“. Vor diesem Hintergrund äußerte sich Radek im Regierungsorgan „Izvestija“ Anfang August 1933 erneut zu den sowjetisch-deutschen Beziehungen68, wobei er zunächst Hitlers Friedensbeteuerungen registrierte: „Wir halten die Erklärung des Reichskanzlers Hitler, daß ein Krieg die schreckliche Lage, in der sich die ganze Welt befindet, nicht nur nicht besser, sondern noch viel schlimmer machen werde, für richtig.“69 Betrachte man jedoch die abenteuerlichen Pläne des NS-Ideologen und Chefs des „Außenpolitischen Amtes“ der NSDAP Alfred Rosenberg für eine „Besetzung der Territorien im Osten Europas“ und „eines Kreuzzuges gegen die Sowjetunion“, so stimme das skeptisch. „Diejenigen aber, die solche Pläne schmieden, hätten absolut keinen Grund zu kla65 Ebenda. 66 Hilger, S. 248. 67 Zeidler, S. 286f. 68 Radek, in: „Izvestija“ vom 6. August 1933; wiedergegeben im Wortlaut der Übersetzung in den Akten des Auswärtigen Amtes, in: Möller, S. 273f. Weitere Artikel Radeks zu den sowjetisch-deutschen Beziehungen in: „Izvestija“ vom 9. August, 3. Oktober und zum Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund) in „Izvestija“ vom 16. Oktober, 26. November 1933; Nachdruck in: Podgotovka bor’by za novyj peredel mira [Die Vorbereitung des Kampfes für die Neuaufteilung der Welt], künftig zitiert als „Podgotovka bor’by , S. 59ff. und S. 65ff. 69 Ebenda, S. 273.

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gen, wenn die Sowjetunion die entsprechenden Gegenmaßnahmen treffen würde“. Seit Lenins Zeiten habe sich die UdSSR das Recht vorbehalten, „gegen diejenigen, die zu einem Überfall rüsten, beliebige Pakte abzuschließen“.70 Denn: „Man kann von der Sowjetdiplomatie nicht verlangen, daß sie zwischen ihren grundsätzlichen Gegnern, die an Krieg gegen die Sowjetunion denken, und denjenigen, die aus diesen oder jenen Erwägungen heraus im gegebenen historischen Stadium Frieden mit der Sowjetunion wollen, keinen Unterschied mache.“71 Er signalisierte damit, dass die sowjetischen Verhandlungen über einen Nichtangriffspakt mit Frankreich und das im Entstehen begriffene Ostpaktsystem der UdSSR mit Finnland, den baltischen Staaten und Polen sich durchaus gegen Deutschland richten könnten. Moskau sah seine Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen auch durch die Expansionspolitik Japans bedroht. Ende 1931 hatten japanische Truppen China angegriffen und die Mandschurei besetzt. Sie standen damit an der Grenze der Sowjetunion im Fernen Osten. Anfang 1932 erfolgte die Proklamierung der Unabhängigkeit des okkupierten Gebiets von China und seine Konstituierung als japanischer Satellitenstaat „Republik Mandschukuo“. Eine von Lord Lytton72 geleitete Untersuchungskommission des Völkerbunds warf Tokio völkerrechtswidriges Vorgehen in der Mandschurei vor, aber die einzige Konsequenz war, dass Japan daraufhin den Austritt aus der Weltorganisation erklärte. Angesichts der von Japan ausgehenden Gefahr, bemühte sich Moskau um eine Annäherung an die USA. Radek, der im BMI neben seiner Leitungsaufgabe die Funktion eines „Sonderkorrespondenten für Japan und China“ innehatte73, artikulierte in seinen Artikeln die sowjetische Besorgnis über die aggressive Politik Japans.74 Er verband dies mit der Absicht, den amerikanisch-japanischen Gegensatz im Pazifik zugunsten der UdSSR auszunutzen und dem Wunsch des Kreml’ nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Washington Nachdruck zu verleihen. Er kommentierte die amerikanische Außenpolitik wohlwollend, obwohl die USA lediglich vor einer Anerkennung der japanischen Eroberungen in China warnten und darauf verzichtet hatten, einen Wirtschaftsboykott gegen Tokio zu verhängen. Als Außenminister Stimson75 die Nichtanerkennung Mandschukuos zur außenpoli70 Ebenda, S. 274. 71 Ebenda. 72 Lord Victor Bulwer-Lytton, 2. Earl of Lytton; britischer Diplomat; Vorsitzender der Kommission des Völkerbundes, die den chinesisch-japanischen Streit um die Mandschurei untersuchte und in ihrem Abschlussbericht, dem sogenannten Lytton-Report vom September 1932, die Okkupation der Mandschurei als rechtswidrig und das Mandschukuo-Regime als illegitim verurteilte. 73 Ken, S. 149. 74 Radek, „Doklad komissii Littona [Der Bericht der Lytton-Kommission]”, Moskva 1932; es handelt sich bei dieser Broschüre um den Nachdruck eines Radek-Artikels in der „Izvestija“ vom 13. Oktober 1932, der auszugsweise auch im „Manchester Guardian“ vom 14. Oktober 1932 abgedruckt und auch in der „New York Times“ vom 16. Oktober 1932 zitiert wurde. 75 Stimson, Henry Lewis (1867–1950); 1929–1931 US-Außenminister (Secretary of State) unter Präsident Hoover.

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tischen Doktrin erhob, begrüßte Radek das als die wirkungsvollste Maßnahme, die bislang ergriffen worden sei, um Druck auf Japan auszuüben und gleichzeitig die Gefahr eines Krieges zu verringern.76 Einige Wochen später gab er in einem Artikel in den „Izvestija“ dem Wunsch nach Annäherung an die USA erneut Ausdruck und wies im Zusammenhang damit auf das Recht der Sowjetunion hin, nach zeitweiligen Verbündeten zu suchen, wenn die Gefahr eines Krieges bestünde.77 Im Juli 1932 versuchte er mit dem Artikel „The War in the Far East“ in der renommierten außenpolitischen US-Zeitschrift „Foreign Affairs“ die öffentliche Meinung in den USA unmittelbar zu beeinflussen.78 Er bezeichnete die Sowjetunion und die USA als die beiden Mächte, die vorrangig an einer Zügelung der japanischen Ambitionen interessiert seien. Russland werde mit jeder Macht zusammenarbeiten, die eine friedliche Entwicklung im Fernen Osten wünsche. Er schrieb: „Die Haltung der Vereinigten Staaten gegenüber der Sowjetunion, die sich darauf beschränkt, die Vorteile einer wirtschaftlichen und politischen Annäherung den Überlegungen beschränkter Politiker zu opfern, die nach Schauergeschichten für den Hausgebrauch suchen, ist ein Beispiel des vollkommenen Fehlens an Voraussicht und Entschlossenheit in der Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Die Japaner lachen über die Drohungen der amerikanischen Presse. Sie verweisen darauf, daß die Vereinigten Staaten nicht einmal fähig sind die Entscheidung zu treffen, normale Beziehungen mit der Sowjetunion wiederherzustellen, und was noch schlimmer ist, die durch den amerikanischen Einfluß verhinderte Herstellung normaler Beziehungen zwischen China und der Sowjetunion bedeutet, das Spiel Japans zu spielen.“79

Bereits seit Anfang der 1930er Jahre hatten sich in den USA die Stimmen gemehrt, die für eine diplomatische Anerkennung der Sowjetunion und die Normalisierung der Wirtschaftsbeziehungen zu Moskau plädierten. Sie kamen vorwiegend aus dem Lager der Demokratischen Partei, die mit Präsident Roosevelt80 1932 die Regierung übernahm. Ein Gespräch mit dessen Gesandten William Bullitt81, der Europa besuchte und Radek versicherte, dass Roosevelt normale Beziehungen herzustellen wünsche, stimmte Radek optimistisch.82 Er schrieb, die USA seien aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, ihre Politik des Isolationismus aufzugeben, und dies 76 Browder, R., The Origins of Soviet-American Diplomacy, Princeton 1953, S. 56. Legters, S. 110. 77 Ebenda, S. 63 f. Legters, S. 110. 78 Radek, The War in the Far East [Der Krieg im Fernen Osten], in: „Foreign Affairs“, July 1932. 79 Radek, ebenda; zitiert nach: Legters, S. 110f. Übersetzung durch den Verfasser. 80 Roosevelt, Franklin Delanoe (1882–1945); US-Politiker, Demokrat; 1933–1945 Präsident der USA. 81 Bullitt, William (1891–1967); US-amerikanischer Diplomat; nach der Anerkennung der UdSSR durch die USA 1933 Botschafter in Moskau. 82 Legters, S. 111. Radek erwähnt seine Begegnungen mit Bullitt, den er bereits 1918 als Sondergesandten Präsident Wilsons getroffen hatte, in seinem Artikel „Amerika ,otkryvaet‘ SSSR [Amerika ,entdeckt‘ die UdSSR], in: „Izvestija“ vom 19. November 1933; Nachdruck in: Podgotovka bor’by, S. 149.

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könne die mannigfaltigsten Folgen für die Beziehungen der „imperialistischen Staaten“ zur UdSSR haben.83 Er bezeichnete eine Anerkennung der Sowjetunion durch die USA als einen wirksamen „Schritt gegen den Krieg“.84 Seine Erwartungen erfüllten sich, als die Vereinigten Staaten im November 1933 die Sowjetunion völkerrechtlich anerkannten. Radek triumphierte, „Amerika ,entdeckt‘ die UdSSR“, und nannte Präsident Roosevelts Außenpolitik „intelligent und weitsichtig“.85 Lobend erwähnte er Vertreter der Anerkennungslobby in den USA, wie William Bullitt, Senator Borah86, Walter Duranty87 sowie seine langjährigen Bekannten Louis Fischer und Colonel Raymond Robins. Es sei sehr verdienstvoll gewesen, dass sie in der amerikanischen Öffentlichkeit meinungsbildend gewirkt und für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur UdSSR geworben hätten.88 Solche schmeichelhaften Formulierungen dienten sicherlich auch dazu, Radek die Wege eines für Ende 1933 geplanten Besuchs in den USA zu ebnen, der dann allerdings aus unbekanntem Grund nicht erfolgte.89 Stalin hatte verkündet, die Sowjetunion sei an friedlichen Beziehungen mit allen Staaten interessiert und erklärt: „Die Grundlage der Politik unserer Regierung, unserer Außenpolitik, ist die Idee des Friedens. Der Kampf für den Frieden, der Kampf gegen neue Kriege, die Entlarvung aller derjenigen Schritte, die zur Vorbereitung eines neuen Krieges unternommen werden, die Entlarvung von Schritten, die mit der Flagge des Pazifismus Kriegsvorbereitungen in der Praxis verdecken, das ist unsere Aufgabe.“90

Zum Ende des Jahres 1933 verfasste Radek einen an die Adresse der USA und des Westens gerichteten Artikel, der Stalins Vorgaben umsetzte und grundlegende Ausführungen zur auswärtigen Politik des Sowjetstaates zum Inhalt hatte. Er wurde Anfang 1934 in der US-Zeitschrift „Foreign Affairs“ mit dem Titel „Die Grundlagen der sowjetischen Außenpolitik“ veröffentlicht.91 Über dreizehn Seiten hinweg propagierte Radek Stalins These, das grundsätzliche Ziel der sowjetischen Außenpo83 84 85 86

Browder, a.a.O., S. 89. Legters, S. 111. „New York Times“ vom 1. November 1933. Ebenda, S. 198. Legters, ebenda. Borah, William Edgar (1865–1940); US-Senator (Republikaner); 1925–1933 Vorsitzender des Senate Foreign Relations Committee; Isolationist und Gegner des Völkerbunds, der sich aber für die Anerkennung der Sowjetunion durch die USA einsetzte. 87 Duranty, Walter (1884–1957); aus Liverpool stammender amerikanischer Journalist und Pulitzerpreisträger, dessen stalinfreundliche Berichterstattung in den 1930er Jahren Aufsehen erregte. 88 Radek, „Amerika ,otkryvaet‘ SSSR [Amerika ,entdeckt‘ die UdSSR]“, in: „Izvestija“ vom 19. November 1933; Nachdruck in: Podgotovka bor’by, S. 149ff. 89 Vgl. oben, S. 177. 90 Stalin, Werke, Band 7, S. 257. 91 Radek, The Bases of Soviet Foreign Policy [Die Grundlagen der sowjetischen Außenpolitik], in: „Foreign Affairs”, XII, No. 2 (Januar 1934), S. 199ff. In Russisch unter dem Titel „Osnovy vnešnej

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litik sei die Erhaltung des Weltfriedens. In einer an der außenpolitischen Theorie des Marxismus-Leninismus orientierten Darstellung analysierte er die Entwicklung des Kapitalismus von der bürgerlichen Revolution im 17. Jahrhundert bis hin zur Ausbeutung der Kolonialgebiete durch den Imperialismus im 20. Jahrhundert, um nachzuweisen, dass die Außenpolitik eines Staates von seiner Klassennatur und den konkreten historischen Bedingungen abhänge. Dementsprechend wäre auch der Sowjetstaat in seiner auswärtigen Politik keineswegs doktrinär festgelegt, sondern durchaus flexibel. Die bei bürgerlichen Autoren übliche Gleichsetzung der sowjetischen Außenpolitik mit der des zaristischen Russland sei falsch. Während die Zaren die Hände fortwährend nach den Dardanellen ausgestreckt hätten, erhebe die Sowjetunion keinen Anspruch auf die Meerengen und habe einen Freundschaftsvertrag mit der Türkei abgeschlossen. Anders als Zar Nikolaus [II.] und seine Vorgänger hätten Lenin und Stalin auch die territoriale Integrität Polens, Finnlands und der baltischen Staaten anerkannt, denn das Ziel der sowjetischen Diplomatie sei der Frieden. Die UdSSR habe überhaupt keine Veranlassung, andere Länder anzugreifen oder zu unterminieren. Vor allem, weil sie – „um mit Lenin zu sprechen – ,über alles verfügt was notwendig ist, um eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen‘“ und für den Aufbau des Sozialismus Frieden brauche. Aus diesem Grunde sei Moskau auch gewillt, mit allen Staaten zu verhandeln, die an der Verhütung eines Krieges interessiert wären. Zwar lehne man jegliche Form des Imperialismus und alle Bestrebungen zur Ausplünderung fremder Länder ab, sei aber dennoch gewillt, mit jeder imperialistischen Macht, deren Politik zur Sicherheit der Sowjetunion beitrage, zeitweilige Abkommen zu schließen. In seinem Artikel versäumte Radek es nicht, auch auf das Schreckgespenst der kapitalistischen Welt, die Weltrevolution, einzugehen. Glattzüngig erklärte er, dass Stalins Politik des „Sozialismus in einem Lande“ auf der Überzeugung des Sowjetführers beruhe, dass die Vollendung der Weltrevolution nicht das Ergebnis von Gewaltanwendung sein werde. Die künftigen sozialen Veränderungen im Westen würden vielmehr aus dem Wunsch der Arbeiter resultieren, freiwillig der Gesellschaft nachzueifern, die sich in Russland im Aufbau befinde. Nachdrücklich unterstrich er den Friedenswillen der UdSSR: „Das Ziel der sowjetischen Außenpolitik ist es, den Boden des ersten proletarischen Staates vor der verbrecherischen Torheit eines neuen Krieges zu bewahren. Für dieses Anliegen hat die Sowjetunion mit größter Entschiedenheit und Festigkeit sechzehn Jahre lang gekämpft. Die Verteidigung des Friedens und der Neutralität der Sowjetunion gegen alle Versuche sie in den Strudel eines neuen Weltkrieges zu ziehen, steht im Mittelpunkt der sowjetischen Außenpolitik. Die Sowjetunion verfolgt eine Politik des Friedens, weil der Friede die beste Voraussetzung für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft darstellt.“92 politiki Sovetskogo Sojuza [Die Grundlagen der Außenpolitik der Sowjetunion], datiert 1. Januar 1934; in: Podgotovka bor’by, S. 17ff. 92 Radek, ebenda; Gunther, S. 456; Legters, S. 111; Lerner, S. 158; Tuck, S. 106f.

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Der Artikel war darauf gerichtet, das westliche Misstrauen gegen die Bol’ševiki zu zerstreuen und einzuschläfern. Radeks amerikanischer Biograph Jim Tuck vertritt die Auffassung, der Aufsatz habe diesen Zweck erreicht. Er sei im Westen begierig aufgenommen worden. Auch habe er zu der Zeit, als Stalin im Ausland noch keineswegs als Ungeheuer galt, wesentlich zu einem positiven Bild des sowjetischen Diktators im Westen beigetragen.93 Karl Radek engagierte sich für Stalin jedoch nicht nur in dessen Geheimdiplomatie und an der außenpolitischen Propagandafront Er wurde auch in der sowjetischen Literaturpolitik tätig. Bereits 1929 hatte Stalin behauptet, der Klassenkampf in der Literatur verschärfe sich und gefordert, die Kräfte an der „Literaturfront“ müssten so platziert werden, dass der Krieg gegen den „Klassenfeind“ gewonnen werden kann.94 Radek gehörte zu den Spitzenfunktionären, die in der Literaturpolitik tätig wurden. 1930 hatte er mit dem Aufsatz „Die Weltliteratur und die Kriegsvorbereitungen gegen die UdSSR“ ein literaturpolitisches Bedrohungsszenario verfasst95 und war seither als linientreuer Literatur-, Theater- und Filmkritiker aktiv. Der von Stalin geschätzte Maksim Gor’kij, dessen Werk jetzt als literarischer Wertmaßstab galt, wurde von Radek als der „Dichter des sozialistischen Aufbaus“96 gelobt. Auch habe er ein vorbildlich realistisches Bild vom „Tod des russischen Kapitalismus“ in seinem Theaterstück „Egor Bulyčev und andere“97 gezeichnet. Zu Lenins Lebzeiten hatte Radek Gor’kij noch als „Bildungsphilister“ und „Kleinbürger“ beschimpft.98 Im April 1932 war durch einen CK-Beschluss über die Reorganisation der Literatur- und Kunstorganisationen die „Methode des sozialistischen Realismus“ zur Richtschnur erklärt worden.99 Sie sollte zwar erst 1934 auf dem 1. Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller als die verbindliche ästhetische Doktrin proklamiert werden, wurde jedoch bereits vorher als literarisches Vorbild propagiert. Radek agierte auch hier als Vorreiter. Durch Stalin persönlich genehmigt, konnte 1933 der 93 Tuck, S. 107. 94 Brief Stalins an die Russische Assoziation Proletarischer Schriftsteller (RAPP) vom 28. Februar 1929; zitiert nach: Rogowin, S, 273. 95 Radek, Mirovaja literatura i podgotovka vojny protiv SSSR [Die Weltliteratur und die Kriegsvorbereitungen gegen die UdSSR]; geschrieben im Juni 1930. Nachdruck in: Portrety i pamflety, tom 2 (1934), S. 253–268. 96 Radek, Poet strojaščegosja socializma [Der Dichter des sozialistischen Aufbaus]; geschrieben im Januar 1932. Nachdruck in: Portrety i pamflety, tom 2 (1934), S. 145–149. 97 Radek, Smert’ russkogo kapitalizma ili „Egor Bulyčev i drugie“ [Der Tod des russischen Kapitalismus oder „Egor Bulyčev und andere”]; geschrieben im September 1932. Nachdruck in: Portrety i pamflety, tom 2 (1934), S. 168–173. 98 Vgl. oben, Kapitel 14. 99 CK-Beschluss „O perestrojke literaturno-chudožestvennych organizacij [Über den Umbau der Literatur- und Kunstorganisationen]“ vom 23. April 1932, der die Auflösung der bestehenden Schriftsteller- und Künstlervereinigungen und ihre Zusammenfassung zu jeweils einem einzigen Verband vorsah; für die Schriftsteller wurde das der „Sowjetische Schriftstellerverband [Sojuz sovetskich pisatelej]“.

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Schriftsteller Michail Šolochov100 das Buch „Neuland unterm Pflug“ als den dritten Band seines großen Romanwerks „Der stille Don“ veröffentlichen – von Radek prompt als das „Heldenlied der Kollektivierung“ besprochen101. Dabei blieb unerwähnt, dass die mit einer Terrorwelle gegen die Bauern verbundene Zwangskollektivierung – neben einer großen Dürre – die Hauptursache einer in weiten Teilen der Sowjetunion 1932/33 auftretenden Hungersnot furchtbaren Ausmaßes war. Eine Hungerkatastrophe, die von Moskau völlig totgeschwiegen wurde und die Trockij im Exil 1932 zu der Äußerung veranlasste, die Moskauer Führung behaupte zwar, man sei in die Periode des Sozialismus eingetreten, aber es gäbe in der UdSSR keine Milch für die Kinder. Radek entgegnete ihm darauf im „Berliner Tagblatt“ zynisch „Milch ist ein Produkt der Kühe und nicht des Sozialismus“, was Trockij zum Vergleich Radeks mit Marie-Antoinette greifen ließ.102 Nach sowjetischer Auffassung sollte mit der Kultur der Mensch selbst grundlegend verändert werden. Die Aufgabe einer zu schaffenden neuen sozialistischen Kultur, die als Sammelbegriff für Literatur, Kunst, Musik, Theater und auch die Wissenschaft, verstanden wurde, war die kommunistische Erziehung aller Werktätigen. Unter diesem ideologischen Aspekt kommentierte Radek die Bücherverbrennung durch die Nationalsozialisten am 10. Mai 1933 in Berlin: Der Platz zwischen der Berliner Oper und der Humboldt-Universität, an der Fichte103 seine ,Reden an die deutsche Nation‘ gerichtet habe und Alexander und Wilhelm Humboldt104 gelehrt hätten, sei zum Schauplatz einer Bücherverbrennung durch Studenten in SAUniformen mit Fackeln in den Händen geworden. Sie verbrannten die Werke von Marx, Lenin und Stalin. Die faschistische Jugend vernichtete die Werke der dekadenten bürgerlich-demokratischen Hochkultur, die Bücher von Zweig105, Mann106, Döblin107, Remarque, Freud. Die Bücherverbrennung signalisiere jedoch nicht den Untergang der Kultur schlechthin, sondern nur den Untergang der bürgerlichen Kultur. Für die Menschen in der Sowjetunion bedeute das, dass sie das Banner der sozialistischen Kultur höher halten müssen, dass die Männer der Wissenschaft sich 100 Šolochov, Michail Aleksandrovič (1905–1984); sowjetischer Schriftsteller; 1965 Nobelpreis für Literatur. 101 Radek, Ėpos kollektivizacii [Das Heldenlied der Kollektivierung], geschrieben im Januar 1933. Nachdruck in: Portrety i pamflety, tom 2 (1934), S. 150–158. 102 Trotsky [Trockij], The Revolution betrayed, S. 61; zitiert nach Tuck, S. 104. Der Vergleich mit der in der französischen Revolution enthaupteten Königin Marie Antoinette (1750–1793) bezieht sich auf den ihr zugeschriebenen Satz, mit dem sie auf die Forderungen hungernder Bauern nach Brot reagierte: „Wenn die Leute kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen.“ 103 Fichte, Johann Gottlieb (1762–1814); deutscher Philosoph. 104 Humboldt, Alexander Freiherr von (1769–1859); deutscher Naturforscher. Humboldt, Wilhelm Freiherr von (1767–1835); deutscher Gelehrter und Staatsmann; Bruder von Alexander v. Humboldt. 105 Zweig, Stefan (1881–1842); deutscher Schriftsteller. 106 Mann, Thomas (1875–1955); deutscher Schriftsteller. 107 Döblin, Alfred (1878–1957); deutscher Schriftsteller.

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zusammenschließen müssen zu der Klassenaufgabe, den Sozialismus aufzubauen, weil er die alleinige Grundlage ist, aus der die große Menschheitskultur erwachsen könne.108 Apodiktisch erklärte Radek: „Unsere Kultur ist die marxistische Kultur“ und die „sowjetische Kultur“ ist „die Kultur des sich entwickelnden Sozialismus“.109 Er stellte nicht in Frage, dass in der sozialistischen Gesellschaft die Ausdrucksform von Literatur und Kunst nur der sozialistische Realismus sein könne, den man später als die Realisierung der „Forderung nach wahrheitsgetreuer Darstellung der Wirklichkeit in ihrer aufsteigenden Entwicklung“110 definierte. Die Frage, ob das, was Radek nun äußerte, auch seiner eigenen Überzeugung entsprach oder ob er Stalin ausschließlich nach dem Mund redete, ist angesichts seines komplexen und schillernden Charakters nicht einfach zu beantworten. Mehr als ein Jahrzehnt vorher hatte ein sowjetischer Genosse, der Radek durchaus freundlich gesinnt war, festgestellt, man müsse ihm nicht jedes Wort glauben. Er fügte hinzu, er sei überzeugt, dass Radek selbst nicht jedes Wort glaube, das er schreibe oder spreche. Man müsse ihm das aber nachsehen, denn er sei „unser bester Propagandist für den Westen“.111 Jetzt hatte Radek den Kotau vor Stalin gemacht und sollte ihn noch oft wiederholen. Er gehörte zu den ehemaligen Oppositionellen, die sich durch die Kette ihrer ständigen Reuebekenntnisse und die Bekundungen ihrer Treue zur „Generallinie“ der Partei in das Regime der Heuchelei verwickelt hatten, das sich in der VKP(b) herausgebildet hatte und sie unerbittlich immer weiter abgleiten ließ.112 Dass er gewissenlos für Stalin log, haben wir im vorhergehenden Kapitel erwähnt. Martemjan Rjutin113, ein kritischer Bol’ševik, der Stalin im Gegensatz zu Radek 108 Radek, Vyše znamja socialističeskoj kultury [Höher das Banner der sozialistischen Kultur], geschrieben im Mai 1933. Nachdruck in: Portrety i pamflety, tom 2 (1934), S. 231–235. 109 Radek, Kul’tura rożdajuščegosja socializma [Die Kultur des sich entwickelnden Sozialismus], geschrieben im November 1933. Nachdruck in: Portrety i pamflety, tom 2 (1934), S.  123–134; Zitat, S. 131. 110 Grundlagen des Marxismus-Leninismus, Übersetzung aus dem Russischen, Berlin (Ost) 1959, S. 712. 111 Vgl. oben, Kapitel 12. 112 Rogowin, S. 286f. 113 Rjutin, Martemjan Nikitič (1890–1937); 1924–1928 Sekretär einer Kreisleitung der Partei in Moskau; wegen Kritik an der Kollektivierung von Stalin persönlich gemaßregelt; 1930 Parteiausschluss und Verhaftung; 1931 nach Haftentlassung als Ökonom bei „Sojuzelektro“ tätig. Er verfasste im Frühjahr 1932 das programmatische 200-Seiten-Dokument „Stalin und die Krise der proletarischen Diktatur”, das als Manifest unter Parteimitgliedern kursierte und unter dem Namen „Rjutin Plattform“ bekannt wurde. Darin bezeichnete er Stalin als den „bösen Geist der russischen Revolution”, dessen Rachsucht und Machtgier das Regime an den Rand des Abgrunds gebracht hätten. Um die Sache des Kommunismus zu retten, müsse man ”diese Clique mit Gewalt beseitigen”. Mit dreizehn gleichgesinnten Stalingegnern gründete Rjutin im August den „Bund der Marxisten und Leninisten”, um Altbolschewiken zum Untergrundkampf gegen die Stalinisten zu sammeln. Von Denunzianten an das Zentralkomitee der Partei verraten, flog die Organisation, die zu diesem Zeitpunkt 24 Mitglieder umfasste, nach drei Wochen auf. Stalin hatte die Schärfe des Angriffs außer Fassung gebracht. Er forderte die Erschießung Rjutins, konnte sie aber im

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Widerstand leistete, warf ihm 1932 vor, er betreibe „eine verabscheuungswürdige Schmeichelei gegenüber Stalin“114 und gehöre zu denen, die nach ihrer Kapitulation zu treuen Dienern des ,Führers‘ und Diktators geworden“115 seien. Tatsächlich hatte Radek alle Brücken zur Opposition abgebrochen. Er wurde von den weniger korrupten Oppositionellen verachtet. In der Partei sah man ihn jetzt mehr als unberechenbaren, unzuverlässigen und zynischen Schwätzer, denn als ernstzunehmende politische Gestalt, auch wenn niemand seine journalistischen Qualitäten bezweifelte.116 Man verübelte ihm auch, dass er Spaß daran hatte, von ihm selbst erdachte zweideutige und manchmal vulgäre Witze zu erzählen.117 Bereits vor seiner Verbannung hatte er sich nicht geniert, „antisowjetische Witze“ zu kolportieren, wie die Internationale Kontrollkommission (IKK) der Komintern in ihren Kaderakten vermerkte.118 „Alle Anekdoten aus dieser Zeit“, erinnert sich Nadežda Ioffe119, stammten von ihm oder wurden ihm zugeschrieben.120 Für den sowjetischen Normalbürger war es lebensgefährlich, solche politischen Witze weiterzuerzählen. Selbst Kinder, die dabei ertappt wurden, erhielten hohe Haftstrafen. Einer dieser in ganz Russland verbreiteten Witze nahm „die große Liebe des Volkes“ zu Stalin treffend aufs Korn: „Einem Fischer, der einen Fremden während eines Sturms aus dem tobenden Schwarzen Meer geborgen und vor dem Ertrinkungstod bewahrt hatte, bedeutete der Gerettete, er würde ihm aus Dankbarkeit jeden Wunsch erfüllen, sei er auch noch so groß. Verwundert fragte der Fischer, wer denn der Mann wäre. Als er erfuhr, daß es Stalin sei, stürzte der Retter auf die Knie, rang die Hände und flehte den Geretteten an: „Dann, ja dann habe ich nur einen einzigen Wunsch: Verrate niemandem, daß ich Dich gerettet habe, denn sonst schlagen die Leute mich tot!“121

Auch andere in den 1930er Jahren kursierende politische Witze könnten gut und gern auf das Konto Radeks gehen: Politbüro nicht durchsetzen. Im Oktober wurde Rjutin durch das Kollegium der OGPU zu zehn Jahren Einzelhaft, die übrigen zu kürzeren Gefängnis- und Verbannungsstrafen verurteilt. 1936 wurde in der Haft die Anklage gegen Rjutin auf konterrevolutionäre terroristische Tätigkeit erweitert. Anfang 1937 wurde er zum Tode verurteilt und erschossen. Auch seine Gesinnungsgenossen überlebten den Terror nicht. Rogowin S. 296–325. 114 Reabilitacija. Političeskie processy 30–50-ch godov , Moskva 1991, S. 337. Rogowin, S. 314. 115 Reabilitacija, S. 389. Rogowin, S. 313. 116 Vgl. Conquest, S. 18. 117 Serge, Leo Trotzki, S. 155. 118 Vatlin, Kaderpolitik und Säuberungen in der Komintern; in: Weber, Hermann/Mählert (Hrsg.), Terror, S. 80. 119 Ioffe, Nadežda A. (1906–1999); Tochter des sowjetischen Diplomaten Adolf Ioffe (1927 Selbstmord); als Opfer des stalinistischen Terrors zweimal zu Lagerhaft verurteilt; lebte zuletzt in New York. 120 Ioffe, S. 136. 121 Albrecht, S. 520.

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– Zur Zeit der Verfolgung der technischen Intelligenz und des Prozesses gegen die „Industriepartei“ berichtet ein Familienvater über seine Kinder: „Meine Frau und ich haben drei Söhne, der eine ist Ingenieur, der andere Professor für Bakteriologie und der dritte ist auch in Sibirien.“ – Fürchterlicher Lärm drang aus Stalins Arbeitszimmer. Er brüllte jemanden lautstark an. Als es nach einer Viertelstunde wieder ruhig wurde, lugte der vor der Tür stehende Wachtposten vorsichtig in den Raum, um zu sehen, wen Stalin so zusammengestaucht hatte; aber außer Stalin war niemand anwesend. Schüchtern fragte der Posten, wo denn der Genosse geblieben sei, den Stalin soeben abgekanzelt habe? Stalin antwortete: „Ach, das waren nur meine täglichen fünfzehn Minuten Selbstkritik.“ – Eines Tages hoppelte eine Kaninchenschar aus der Sowjetunion über die Grenze nach Polen. Die Kaninchen erklärten dem überraschten polnischen Grenzbeamten den Grund für ihre Flucht: „Die GPU hat angeordnet, alle Giraffen in Russland zu verhaften.“ Der Zöllner staunte: „Aber ihr seid doch gar keine Giraffen“ und erhielt zur Antwort: „Ja schon, aber versuchen Sie doch mal, das der GPU zu beweisen!“122

Die in solchen Witzen enthaltene politische Kritik trägt Merkmale des weltberühmten jüdischen Witzes, der für Jahrhunderte die einzige Waffe eines ansonsten waffenund wehrlosen Volkes war. Denkt man an Radeks Herkunft als polnischer Jude, liegt der Gedanke nahe, dass er möglicherweise einem tradierten Verhaltensmuster folgte, um seine innere Distanz zum Stalin-Regime zu artikulieren. Die These, der Witz der Juden sei identisch mit ihrem Mut, trotz allem weiterzuleben123, bietet einen weiteren Deutungsansatz, erinnert man sich daran, was Radek einmal über seinen Willen zu überleben an Alfons Paquet geschrieben hatte: „[…] ich liebe das Leben leidenschaftlich wegen seines Sinns, der selbst im rohen Kampf steckt. Drum will ich leben und werde alles tun, um mich zu wehren.“124 Radek wagte es noch immer, eine Lippe zu riskieren. 1933 ließ Stalin den in Moskau im Exil lebenden polnischen KPFunktionär Jerzy Sochacki125 unter der falschen Anschuldigung, Spionage für Polen betrieben zu haben, erschießen. Radek, der davon hörte, solidarisierte sich spontan mit dem Opfer: „Wenn Sochacki ein Spion war, dann bin ich auch einer!“126 Obwohl über Radek noch die Gnadensonne Stalins leuchtete und er als Leiter des BMI über ungewöhnliche Freiheiten verfügte, verschwieg er seine herausgehobene Stellung im unmittelbaren Umfeld des Generalsekretärs gegenüber den deutschen Kommunisten, die ihn zu dieser Zeit besuchten. Er ließ im Gespräch mit ihnen sogar gewisse Vorbehalte gegen das Stalinregime erkennen: 122 Gunther, S. 456. 123 Aus dem Vorwort des Verlags, zu: Landmann, Salcia, Jüdische Witze, München 1963. 124 Brief Radeks an Paquet vom 11. März 1919. Paquet, Der Geist der russischen Revolution, S. IX. 125 Czeszesko-Sochacki, Jerzy (1892–1933); aus der sozialistischen Bewegung Polens kommender, polnischer kommunistischer Publizist und Parteifunktionär. Mitglied des Moskauer Parteikomitees der polnischen Exil-KP. 126 Poretsky, S. 33f.

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Im Januar 1933 besuchte Rosa Meyer-Leviné Radek. Er wohnte mit Frau und Tochter127 in einer Atelierwohnung in der obersten Etage des 1931 fertiggestellten „Dom pravitel’stva“, dem Regierungswohnhaus an der Moskva schräg gegenüber dem Kreml’, von dessen Terrasse man fast die ganze Stadt überblicken konnte. Die Duftwolken der benachbarten Schokoladenfabrik „Roter Oktober „ hüllten den Gebäudekomplex ein, der als „Luxuskaserne“ für die Sowjetnomenklatura galt. Aber in diesem „Bonzenbunker“ standen zu jener Zeit die Aufzüge häufiger als sie fuhren, weder Warmwasserversorgung noch Heizung funktionierten und prominente Gäste aus dem Westen beschwerten sich über Wanzen im Bett.128 Radek ließ Meyer-Leviné persönlich ein. Liebevoll hielt er ein kleines Haustier im Arm und begrüßte seine Besucherin mit der gewohnten Clownerie. „Ich darf Ihnen meinen besten Freund vorstellen. Mit ihm kann ich alles besprechen, was ich möchte. Ich kann ihm unbesehen vertrauen, denn er wird mich nie verraten.“ Meyer-Leviné erzählte Radek von der verzweifelten Situation der KPD und drängte ihn Stalin aufzusuchen, der doch sein Freund wäre, und ihm zu berichten. Er antwortete: „Das kann ich nicht. Ich habe nicht den geringsten Einfluß. Sie sind im Irrtum.“ Auch die Bitte, ihr eine Audienz bei Stalin zu verschaffen, schlug er ab. „Auch das ist unmöglich. Ich kann nichts tun, es liegt nicht in meiner Macht.“ Die Besucherin hatte verstanden: „Nein er konnte nicht […]. Für ihn war es schon gefährlich, Kontakt mit einem Menschen zu haben, der der Partei, und das hieß Stalin, kritisch gegenüberstand […]. Als letztes Bild der Erinnerung an Radek nahm ich das Bild eines zerbrochenen Menschen mit, der sein Innerstes nur noch dem Tierchen in seinem Arm enthüllen durfte.“129

Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand, am Nachmittag des 27. oder 28. Februar 1933, führte der KPD-Funktionär Karl Retzlaw ein mehr als dreistündiges Gespräch mit Karl Radek in dessen Wohnung. Er informierte ihn über die Entwicklung in Deutschland und – woran der Besuchte besonderes Interesse zeigte – die verzweifelte Situation der von den Nationalsozialisten verfolgten und in die Illegalität abgedrängten KPD. Radek reagierte auf Retzlaws Schilderungen „dramatisch“: „Er stand am Fenster und drohte mit der Faust zum Hause der Kommunistischen Internationale hinüber: ,Dort sitzen die Schuldigen, die alles so weit haben kommen lassen‘. Dann nach einer kurzen Pause: ,Und Stalin ist der Hauptschuldige.‘“

127 1932 besuchte Radeks Tochter Sonja die „110. Schule“ in Moskau, eine „Schule chemischer Orientierung”, in die viele Kinder hoher Funktionäre gingen. Sacharov, S. 53. Erich Wollenberg, der Anfang der 1930er Jahre Radek in dessen Wohnung besuchte, sah dort ein etwa dreijähriges Mädchen, das am Boden spielte. Radek stellte es als seine Tochter vor. Die Mutter lernte Wollenberg nicht kennen. Rosa wird es wohl nicht gewesen sein. Möller, S. 28. 128 Meyer-Leviné, S. 374; Retzlaw, S. 314; Film von Fischer, Stefan: „Der Bonzenbunker”, Produktion des Saarländischen Rundfunks (SR), 1998, gesendet von 3sat am 6. April 1998. 129 Meyer-Leviné, S. 373ff.

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Derselbe Radek, der in seinen Artikeln, vom „Pyrrhussieg“ der Nationalsozialisten sprach und den Sieg der Arbeiterklasse über die faschistische Diktatur prophezeite, äußerte sich in der privaten Unterhaltung mit Retzlaw voller Pessimismus und Resignation. Er glaube, dass in Deutschland nun Kommunisten und Linke „zu Hunderttausenden erschlagen werden und daß unsere Generation sich nicht mehr gegen die Nazis erheben könnte.“ Auch die Hoffnungen der sozialdemokratischen Führer auf die Reichswehr seien „unsinnig“, denn „solange Hitler den Offizieren ihre Existenz als Kaste garantiere, stünden sie zu Hitler.“ Er sagte, „das einzig richtige wäre jetzt, möglichst viele Funktionäre und Mitglieder aus Deutschland zu retten“, denn die „illegale Arbeit“ im Deutschen Reich sei „vorerst wirkungslos und würde niemals die Opfer rechtfertigen“. Er schlug Retzlaw vor, in Moskau zu bleiben – er würde ihm helfen, Fuß zu fassen. Während des langen Gesprächs klingelte wohl ein Dutzend Mal das Telefon und einige Male war Stalin, auf den Radek gerade noch geschimpft hatte, der Anrufer. „In seinem Büro kann ich Stalin nicht mehr sprechen“, sagte Radek zu Retzlaw, und versäumte nicht hinzuzufügen, „aber er ruft mich täglich an.“130 *** Karl Radek, Architekt der Rapallopolitik, Schöpfer des Kurses der Einheitsfront und Verfechter des Zusammengehens mit den deutschen Nationalisten, blieb es offiziell verwehrt, die sowjetische Außenpolitik der Stalinära kreativ mitzugestalten. Er agierte jedoch als Leiter von Stalins Büro für Internationale Information im Verborgenen und versuchte als Berater und Agent des Generalsekretärs Einfluss auf die Gestaltung der sowjetischen Aussenbeziehungen zu nehmen. Während er die zeitweilige Annäherung Polens an die UdSSR vorübergehend erfolgreich mit in die Wege leitete, war er im Hinblick auf Deutschland nur noch der „Souffleur jener unglückseligen Politik Stalins gegenüber Sozialdemokratie und dem Nationalsozialismus.“131 Auch sein Wirken als außenpolitischer Journalist muss vor dem Hintergrund seiner Tätigkeit für das BMI bewertet werden. Er ermunterte vor Hitlers Machtantritt Berlin zu einer selbstbewussten Revisionspolitik. Sein Ratschlag war, Deutschland solle mit der Sowjetunion gehen und militärisch erstarken, wenn es erfolgreich Westpolitik betreiben wolle und sich keinesfalls auf Verträge und Gleichberechtigungszusicherungen verlassen.132 Bei ihm, wie auch bei anderen sowjetischen Politikern und Journalisten, basierte die Unterstützung der deutschen Revisionsforderungen selbstverständlich nicht so sehr auf ehrlicher Überzeugung, sondern war vor allem als Instrument zur Beeinflussung der deutschen Öffentlichkeit gedacht – als Propaganda aus der Einsicht heraus, dass man ein Volk auf seine nationalen Anliegen hin ansprechen muss, wenn man es im

130 Retzlaw, S. 314f. 131 Möller, S. 40. 132 Grieser, S. 242.

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Interesse der eigenen Politik manipulieren will.133 Mit nationalistisch-prodeutschen Parolen, wie Radek sie formulierte, wollte Moskau die Regierungen Brüning, Papen und Schleicher in scharfem Gegensatz zu Versailles und damit zu den Westmächten halten.134 Das scheiterte an der Kurzlebigkeit dieser Kabinette. Nach der Machtübernahme durch Hitler wurden die nationalsozialistischen Ambitionen in Richtung Osteuropa schnell erkennbar. Hatte Radek am 22. März 1933 im Regierungsblatt „Izvestija“ noch gefragt, „Wohin geht Deutschland“ und unter Anspielung auf die von den Naziführern schon vor 1933 bekundeten Absichten zur Landnahme im Osten geschrieben, es sei Sache der Reichsregierung durch ihre Politik zu beweisen, dass sie keine Verantwortung für die frühere literarische Produktion ihrer Mitglieder trage135, so stellte er bald darauf klar, dass die Sicherheitsinteressen Berlins und Moskaus sich gegeneinander zu richten begannen. Mit seinem „Pravda“-Artikel „Die Revision des Versailler Vertrages“ vom 10. Mai 1933 gab er, der seit 1922 gegen Versailles agitiert und deutschen Revisionswünschen das Wort geredet hatte, das Signal zu einer Umorientierung der sowjetischen Außenpolitik, die dann ein halbes Jahr später vollzogen werden sollte. Zunächst trat nur eine deutliche Veränderung des Tons ein. Als Gustav Hilger einige Monate nach der Machtergreifung von Radek wissen wollte, warum er sich neuerdings über die Frage des polnischen Korridors, die Stellung von Danzig und die Ungerechtigkeit der Aufteilung Oberschlesiens gänzlich ausschweige, fragte dieser nur kurz zurück: „Warum soll ich in Hitlers Horn tuten, warum sollte ich, nachdem sich so vieles geändert hat, Propaganda für die Deutschen machen?“136 Die außenpolitischen Analysen Radeks begannen nun um zwei von Stalin vorgegebene ideologische Fixpunkte zu kreisen: Hier, die friedliebende Sowjetunion und dort, die mit den Vorbereitungen für einen neuen Weltkrieg befassten imperialistischen Staaten. Er warf propagandistische Nebelkerzen im Westen, indem er sich in den „Foreign Affairs“ über die angebliche Friedenspolitik der Sowjetunion verbreitete und Stalin als „Friedensfürsten“ beschrieb. Radek, der sich selbst als „Soldat der Revolution“ und „Offizier“ im Weltbürgerkrieg sah, der „unermüdliche Sämann der Revolution“137, den man in Russland mit der Brandfackel in der Hand abgebildet hatte138, der mit der Roten Armee auf Warschau marschiert war und der als Emissär Moskaus die deutsche Oktoberrevolution in Szene setzen wollte, verkündete nun scheinheilig, die Weltrevolution habe man ad acta gelegt. Die Sowjetunion verfolge 133 Ebenda, S. 245f. 134 Ebenda, S. 239. 135 Radek, „Wohin geht Deutschland?“, in: „Izvestija“ vom 22. März 1933. Krummacher/Lange, S. 269. 136 Hilger, S. 248f. 137 Ioffe, S. 135. 138 Eine russische Karikatur aus den 1920er Jahren zeigt Radek, wie er mit der Brandfackel der Revolution in der Hand und einer schäbigen Aktentasche unter dem Arm über Häuser und Plätze hinweg gen Westen schreitet. Der dazugehörige Text zitiert den ersten Satz des Kommunistischen Manifests: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.“ Ioffe, S. 136. Wiedergabe der Karikatur in: Schurer, Part I.

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seit ihrer Gründung ausschließlich friedliche Absichten, denn der Friede sei die beste Voraussetzung für den Aufbau des Sozialismus. Als Radek das schrieb, hatte Stalin bereits ein gigantisches Aufrüstungsprogramm befohlen, das die Rote Armee zur grossangelegten strategischen Offensive befähigen sollte.139 Auch wenn keine konkreten Angriffspläne existierten entsprach es dem ideologisierten Kriegsbild des Kreml’, wenn Radek genüsslich den britischen General Fuller140 zitierte, der prognostiziert hatte, ein künftiger Weltkrieg werde mit dem umfassenden Sieg des Bolschewismus in Europa enden.141 Was von Radeks Beteuerungen der Friedfertigkeit des Sowjetstaates zu halten war, wurde sechs Jahre später offenbar, als Stalin Polen mit Hitler teilte, Finnland angriff, die baltischen Staaten mit dem Ziel der Annexion militärisch besetzte sowie Bessarabien und die Nordbukowina annektierte. Radek hat Stalins Angriffskriege nicht mehr erlebt. Er war auch weder Schöpfer noch Ausführender der sowjetischen Außenpolitik der 1930er Jahre. Aber mit seinen geheimen Missionen im Auftrag Stalins und mit seinen außenpolitischen Analysen als Leiter des BMI nahm er Einfluss auf die Entscheidungen des Generalsekretärs. Auch seine Artikel in der Presse fanden außerhalb Russlands oft größere Beachtung als alle vollmundigen Erklärungen der Sowjetregierung.142 Sie wurden generell als die Wiedergabe der wahren Auffassung des Kreml’und damit als glaubhafte Aussagen über den außenpolitischen Kurs Moskaus aufgefasst. Allein deshalb war er „für Stalin mehr wert als ganze Scharen seiner eigenen Scribenten.“143

139 Der deutsch-polnische Historiker Bogdan Musial vertritt die These, dass der Kreml´ 1929 mit der Weltwirtschaftskrise den Zeitpunkt zum Marsch nach Westen gekommen sah, aber wegen der geringen Kampfkraft der Roten Armee davon Abstand nahm. Auf dieses Ziel ausgerichtet, hätte Stalin einen Angriffskrieg vorbereitet. Der Fünfjahresplan von 1932 sah die Produktion von 62.000 Panzern und 60.000 Flugzeugen vor und Marschall Tuchačevskij entwickelte eine offensive Militärdoktrin. Musial, Bogdan, Kampfplatz Deutschland – Stalins Kriegspläne gegen den Westen, Berlin 2008. 140 Fuller, James Frederick Charles (1878–1966), englischer Generalmajor und Stabschef der Panzertruppen, profilierte sich als Theoretiker des Panzerkrieges, Stratege und Militärhistoriker. 141 Radek beruft sich auf Fullers Buch „The Dragons Teeth“ (1932) in dem Artikel “Vo imja čego? [In wessen Namen?], geschrieben im August 1932; Nachdruck in: Portrety i pamflety, tom 2 (1934), S. 272. 142 Lerner, S. 157. 143 Deutscher, Trotzki III, S. 80f.

21.  Gallionsfigur des Stalinismus (1934–1936) In den Jahren 1934–1936 stieg Radeks Stern anscheinend noch einmal hoch. Er hatte auch ohne Befehl begriffen, was er schreiben musste und zwar unabhängig von seiner eigenen Überzeugung.1 Er pries Stalin als großes und einmaliges Genie, das die Menschheit verändert habe. Seine Publikationen überschwemmten die Sowjetunion. In den Medien des Auslands wurde er zum meistzitierten Kommentator für sowjetische Angelegenheiten.2 Stalin zog die „Leuchte der bolschewistischen Publizistik“3 zu verschiedenen Sonderaufträgen heran. Er benutzte ihn für Geheimkontakte zu Vertretern des Hitlerregimes.4 Im August 1934 ließ er ihn als einen der Hauptredner vor dem internationalen Auditorium des Ersten sowjetischen Schriftstellerkongresses auftreten, um die Literaten auf die neue Kulturpolitik des sozialistischen Realismus einzuschwören. Doch hinter dieser Fassade verborgen, hatte der Abstieg Radeks bereits begonnen. Nach dem Misserfolg der Politik der Annäherung Moskaus an Polen, waren die Kompetenzen von Radeks Büro für Internationale Information im Mai 1934 drastisch beschnitten worden5 und er hatte den unmittelbaren Zugang zu Stalin verloren. Bis zu seiner Verhaftung im September 1936 konnte er Stalin nur noch zweimal in seinem Kabinett aufsuchen.6 Von 1935 bis 1936 beteiligte Stalin ihn zwar noch maßgeblich an der Ausarbeitung der neuen sowjetischen Verfassung, aber auch während der Generalsekretär die Abrechnung mit den ehemaligen Oppositionellen bereits vorbereitete, hatte man in der Öffentlichkeit den Eindruck, Radek sei voll rehabilitiert. Am Neujahrstag 1934, knapp vier Wochen vor dem XVII. Parteitag der VKP(b), erschien in der „Pravda“ ein 12.000 Wörter umfassender Artikel Radeks, der „gleichsam die Schablone“ schnitt, „die von nun an zum Ruhme Stalins benutzt wurde“.7 Der Aufsatz trug den Titel „Der Baumeister der sozialistischen Gesellschaft“8 und las 1 2 3 4

5 6 7 8

Sinkó, S. 416. Tuck, S. 197. von Rauch, S. 277. Gnedin, E[vgenij], Iz istorii otnošenij meždu SSSR i fašistkoj Germaniej. Dokumenty i sovremennye kommentarii [Aus der Geschichte der Beziehungen zwischen der UdSSR und dem faschistischen Deutschland. Dokumente und zeitgenössische Kommentare], N’ju Jork [New York] 1977, S. 22. Ken, S. 170. A.a.O., S. 171. Möller, S. 276. Radek, Zodčij socialističeskogo obščestva [Der Baumeister der sozialistischen Gesellschaft], in: „Pravda“ Nr. 1 vom 1. Januar 1934, S. 3–4; als Broschüre: Radek, Zodčij socialističeskogo obščestva. Lekcija 9 iz kursa istorii pobedy socializma pročit. v 1967 g. v škole mežduplanetarnych soobščenij v pjatidesjatuju godovščinu Oktjabr’skoj revoljucii [Der Baumeister der sozialistischen Gesellschaft. Neunte Vorlesung aus der Vortragsreihe „Geschichte des Sieges des Sozialismus”, gehalten im Jahre 1967 anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Oktoberrevolution in der Schule für Inter- Plane-

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sich, „wie die Lobpreisung des Messias.“9 Radek hatte die „Hymne auf Stalin“10 in das futuristische Szenario einer Schule für sowjetische Kosmonauten verlegt und ihr die Form einer Vorlesung gegeben, die dort nach dem internationalen Sieg des Sozialismus aus Anlass des fünfzigsten Jahrestages der Oktoberrevolution im Jahre 1967 gehalten wird. Ein Kunstgriff, der es Stalin erlaubte, sich im Spiegel der Geschichte zu betrachten. Zu Beginn von Radeks fiktiver „9. Vorlesung aus der Vortragsreihe ,Geschichte des Sieges des Sozialismus‘“ spricht der Vortragende die Studenten mit der Anrede „sotvorcy“ an – als „Erschaffer“ bzw. „Schöpfer“ des Sozialismus – eine Bezeichnung – so wird fabuliert – die 1967 das Wort „Genossen“ ersetzt habe. Eingangs verweist der Instrukteur auf die vorhergehende Lektion, in der vom Tode Lenins und vom Schwur Stalins an der Bahre des Verstorbenen die Rede war: „Noch tönte die Luft von den wie aus Granit gemeißelten Worten des Eides, den Stalin der Generalsekretär der Partei, im Großen Theater abgelegt hatte, Worte, die bedeuteten, daß die Partei Lenins Vermächtnis vom Kampf gegen den Kapitalismus die Treue wahren, daß sie diesen Kampf gestützt auf die Solidarität des internationalen Proletariats, gestützt auf das Bündnis der Arbeiter und Bauern, bis zum siegreichen Ende führen werde, die Diktatur des Proletariats festigend und die Einheit der Leninschen Reihen wie ihren Augapfel hütend.“11

Der Redner befasst sich dann „mit den ersten zehn auf Lenins Tod folgenden Jahren [...] ,in deren Verlauf das Proletariat der UdSSR und seine Leninsche Partei unter Stalins Führung das Fundament der sozialistischen Wirtschaft aufgebaut und sich für den großen internationalen Kampf gewappnet hat, die später den endgültigen Sieg des Sozialismus festigen sollten.“ Heute, 1967, ein halbes Jahrhundert nach diesem „Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte“, erscheine diese „große geschichtliche Heldentat“ als etwas Selbstverständliches. Das sei jedoch „ein grundlegender Irrtum, der beseitigt werden“ müsse, wenn man „die ganze Größe der Stalin-Periode, der Periode des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft“ und „die geschichtliche Größe von Lenins Nachfolger, von Joseph Wissarionowitsch Stalin, verstehen“ wolle. „Stalin war der Vollstrecker des Leninschen Vermächtnisses.“ In dieser Eigenschaft mussten er und die Partei „selbständig Entscheidungen fällen, die den Leninschen an Kühnheit nicht nachstehen, sie mußten selbständig Lenins Lehre entwickeln, wie Lenin die Marxsche Lehre entwickelt hat.“12 Im Folgenden erklärt der Vortragende tarverkehr], Moskva/Leningrad 1934; zitiert nach dem Nachdruck in: Portrety i pamflety, tom 2 (1934), S. 5–31, unter Verwendung der Übersetzung ins Deutsche, in: Möller, S. 276–284. 9 Wolkogonow (Vol’kokonov), Stalin, S. 12. 10 Ebenda. 11 Radek, Zodčij socialističeskogo obščestva [Der Baumeister der sozialistischen Gesellschaft]; in: Portrety i pamflety, tom 2 (1934), S. 5 f. 12 Ebenda, S. 7.

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unter Verwendung von Lenin-Zitaten, der Sowjetführer habe gewissermaßen noch auf dem Sterbebett die These vom isolierten Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion entwickelt.13 Ein Gedanke, der jedoch von Trockij, Radek, Zinov’ev und Kamenev abgelehnt worden sei. Durch den Mund des Vortragenden ließ Radek massive Selbstkritik und Kritik üben: „Für Radek, der aus dem Lager der Luxemburgianer kam, schien der Aufbau des Sozialismus in einem Lande ein ebenso lächerlicher Gedanke wie die von dem berühmten russischen Satiriker Saltykow-Schtschedrin verspottete Idee der Einführung des Liberalismus in irgendeinem Kreis des zaristischen Rußland durch einen guten Gouverneur. Er ging dabei von einer schematischen Auffassung des Internationalismus der Arbeiterbewegung aus, und zwar von der Auffassung, daß deren Kampftruppen in den einzelnen Staaten nicht imstande seien, die Kernfragen der proletarischen Revolution selbständig zu lösen, da sie im Vergleich zum internationalen Kapital viel zu schwach seien. Ebenso wie bei Schtschedrin der Zarismus den provinziellen Herd des Liberalismus zerstört hat, wird das internationale Kapital den sozialistischen Herd in der UdSSR unweigerlich zerstören, wenn die internationale Revolution nicht heranreift, dachte Radek. Aber selbst Sinowjew und Kamenew, die sich für Lenins Testamentsvollstrecker hielten, obwohl sie in den entscheidenden Oktobertagen gegen ihn gekämpft hatten, begriffen nicht, daß die Möglichkeit den Sozialismus in einem Lande aufzubauen, den archimedischen Punkt im strategischen Plane Lenins darstellt. Der Kerngedanke Lenins schien ihnen ein Eigengewächs Stalins zu sein [...].“14

Tatsächlich aber, so erläutert der Redner, habe Stalin „Lenins Lehre von der Ungleichmäßigkeit der Entwicklung des Kapitalismus als Voraussetzung der Lehre von der Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande ausgearbeitet und weiterentwickelt.“ 15 – jener Mann, der „wie sonst niemand von Lenins Schülern ein Ebenbild der Leninschen Partei, Fleisch von ihrem Fleische, Blut von ihrem Blute wurde.“ Stalin habe sich auch als Kriegsheld bewährt. Er habe „das Schwert geschmiedet im Feuer der Revolution“16, wo man ihn „häufiger in der Feuerlinie des Kampfes“ gesehen habe, als im „Stabsquartier der Revolution“ und wo sich seine endgültige Entwicklung als Führer der Revolution vollendet habe.17 Aus Kämpfen hervorgegangen, sei er ein Praktiker des Marxismus-Leninismus geworden: „Gerade deshalb war Stalin nicht nur imstande den Marxismus und Leninismus bei der Lösung der neuen kolossalen Aufgaben anzuwenden, die auf ökonomischem Gebiet (Industrialisierung und Kollektivierung) vor dem Proletariat auftauchten, nicht nur im13 14 15 16 17

Ebenda, S. 8 f. Ebenda, S. 9. Ebenda, S. 12. Ebenda, S. 13. Ebenda, S. 17.

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stande die verwickeltsten diplomatischen Manöver zu leiten oder den Bruderparteien wohlüberlegten Rat zu erteilen, nicht nur imstande die Entwicklungstendenzen des Kriegswesens vorauszuahnen, sondern auch fähig, bei der Entscheidung über die von unserer Philosophie und Literatur einzuschlagenden Richtung die Initiative zu ergreifen. In seinen Händen erwies sich der Marxismus-Leninismus […] als Mittel zur Führung in den größten revolutionären Kämpfen. In diesem unerschrockenen und gleichzeitig vorsichtigen Führertum hat Stalin sich als der größte Theoretiker und Politiker des Proletariats erwiesen.“18

Er hat sich als der einzige Führer der Revolution herauskristallisiert, „der imstande war, Lenin zu ersetzen“19 schrieb Radek und weiter: „Der Führer des Proletariats bildet sich im Ringen um die Kampflinie der Partei, um die Organisierung ihrer kommenden Schlachten aus. Und Stalin, der auch zu Lebzeiten Lenins zu den Ersten der Parteiführung gehörte, wurde auf Grund des jahrelangen innerparteilichen Kampfes, der von größter prinzipieller Bedeutung war, ihr anerkannter und geliebter Führer [...]. Stalin hat gesiegt, weil er den weiteren Gang der Weltgeschichte, den weiteren Zerfall des Imperialismus und die grandiose Entwicklung der Kräfte des Proletariats richtig vorausgesehen und weil er die gewaltige Stärke der Leninschen Partei richtig eingeschätzt hat. Der Sieg des Leninschen ZK mit Stalin an der Spitze war die Voraussetzung für den Aufbau des Fundaments des Sozialismus [...].“20

Radek beendete die Eloge auf Stalin, indem er dem Vortragenden einen historischen Rückblick auf die 1. Mai-Parade des Jahres 1933, die Stalin gemeinsam mit seinen engsten Getreuen auf dem Lenin-Mausoleum abgenommen hatte, in den Mund legte: „Auf dem Mausoleum Lenins, umgeben von seinen nächsten Kampfgefährten – Molotov, Kaganovič, Vorošilov, Kalinin, Ordžonikidze – stand Stalin in seinem grauen Soldatenmantel. Seine ruhigen Augen blickten gedankenvoll auf die Hunderttausende von Proletariern, die mit festem Schritt an Lenins Sarkophag vorbeizogen – die Vorhut der künftigen Sieger über die kapitalistische Welt. Er wußte, daß er den Eid erfüllt hatte, den er zehn Jahre zuvor an Lenins Bahre abgelegt hatte. Und das wußten alle Arbeiter der UdSSR, und das wußte das gesamte revolutionäre Proletariat der Welt. Der ruhigen und unbesiegbaren Gestalt unseres Führers, schlugen Wellen der Liebe und des Vertrauens aus den vorbeimarschierenden Massen entgegen, Wellen der Zuversicht, daß dort auf dem Mausoleum Lenins der Stab der kommenden siegreichen Weltrevolution Aufstellung genommen hatte.“21 18 19 20 21

Ebenda, S. 18 f. Ebenda, S. 19. Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 31.

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Der „Baumeister“, der sich von den üblichen stereotypen Huldigungen, die man dem „Führer“ bisher dargebracht hatte, frappant unterschied und Stalins krankhafter Eitelkeit sowie seinen Bemühungen um Geschichtsklitterung voll entgegenkam, muss diesem außerordentlich gefallen haben. Er ließ ihn in einer Auflage von 225.000 Exemplaren als Broschüre verbreiten und befahl, dass er von jeder Parteizelle überall im Lande sorgfältig studiert werden sollte.22 Kommunisten im Westen hingegen bereitete die Interpretation des Aufsatzes Probleme. In der Vorbemerkung zu der in einem roten Londoner Verlag erschienenen englischen Übersetzung heißt es, dass der durchschnittliche britische Leser Gefahr laufe, Radeks Arbeit über Stalin zunächst als ein Stück Heldenverehrung zu betrachten und sich damit als völlig blind gegenüber Radeks wahrer Absicht erweisen könnte. Der an Radek gerichtete Vorwurf der „Speichelleckerei“ sei aber falsch und beweise nur die tückische Manier in der die gutgedrillte kapitalistische Presse das Eingeständnis seines vorangegangenen politischen Irrtums behandele, denn „das aufrichtige Lob eines großen Mannes“ wäre nicht Heldenverehrung, sondern „das genaue Gegenteil „davon.23 In der Beurteilung des „Baumeister“-Artikels scheiden sich die Geister. Für einige Autoren hat Radek sich damit erniedrigt. Sie sehen darin ein Dokument seines Abstiegs als Publizist und Politiker.24 Andere deuten die schwülstige Prosa, die streckenweise Stalins bombastisch-liturgischen Stil imitiert, als einen Versuch, das enorme Ego Stalins zufriedenzustellen und ihn gleichzeitig parodistisch zu verspotten.25 Jim Tuck vertritt die These, Radek habe Stalin absichtsvoll als einen Übermenschen dargestellt, um sich insgeheim über ihn lustig zu machen und wegen seiner bescheidenen Fähigkeiten als marxistischer Theoretiker, seiner mediokren Rolle in Revolution und Bürgerkrieg und der desaströsen Kollektivierungspolitik bloßzustellen. Zu seinem eigenen Vergnügen und zur Belustigung seiner Freunde habe Radek mit einer meisterhaften Satire, die Stalin für bare Münze nahm, diesen hinters Licht geführt.26 Zweifel an einer solchen Interpretation sind angebracht. Schon Lenin hatte die mangelnde Eindeutigkeit der Arbeiten Radeks beklagt und geäußert, jeder könne daraus das herauslesen, was er wolle, und wenn Radek wirklich „ein Stalinist aus Furcht“27 war, wie Tuck meint, dann ist es wenig wahrscheinlich, dass er es gewagt haben könnte, Stalin lächerlich zu machen und mit dem „Baumeister“ Kopf und Kragen zu riskieren. Im Gegenteil: Auch unter vier Augen äußerte er sich nunmehr in eindeutig lobhudelnden Formulierungen über den Georgier. Ein Gebaren im privaten Gespräch, das sogar der sowjetophile amerikanische Journalist Louis Fischer als „geschmacklos“ empfand. Auch forderte Radek, dass man Stalin jetzt „Starik“ statt wie bisher „Chozjain“ nennen solle, also den „Alten“ und nicht mehr wie bisher, den 22 23 24 25 26 27

Carmichael, S. 94. Einleitung zu: Radek, Portraits and Pamphlets, S. 1. Tuck, S. 109. Wolkogonow [Vol´kogonov], Stalin, S. 12; Möller, S. 276. Lerner, S. 160. Tuck, S. 110–120. Ebenda, S. 113.

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„Boss“ oder den „Herrn im Hause“.28 Mit der Bezeichnung „der Alte“ hatte Radek einstmals sein verehrtes Vorbild Lenin apostrophiert und es spricht Bände, dass er sie nun auf Stalin übertrug. Radeks byzantinischer Aufsatz hatte programmatischen Charakter. Er förderte die Legendenbildung um Stalin und half ganz entscheidend dabei, die Schleusen für den künftigen exzessiven Personenkult um den „großen Führer“ zu öffnen. Es handelte sich um eine Auftragsarbeit für die „Pravda“, mit der die Parteimitglieder auf den kommenden XVII. Parteitag der VKP(b) eingestimmt werden sollten, den sogenannten „Parteitag der Sieger“, der Stalin und seine Politik mit Ovationen zu feiern hatte, mit Ritualen der Selbstbeglückwünschung und widerlichen Lobhudeleien. Nicht auszuschließen, dass Radek mit der „orgiastischen Lobpreisung“29 Stalins die Wiederaufnahme ins Zentralkomitee bei der Neubesetzung der obersten Parteigremien auf dem Parteitag erkaufen wollte. Falls zutreffend, eine Fehlspekulation, wie sich schnell herausstellte. Der XVII. Parteitag fand vom 26. Januar bis 17. Februar 1934 in Moskau statt. Die 1.966 Delegierten, von denen in den nächsten fünf Jahren 1.108 hingerichtet wurden, nahmen den Erfolgsbericht Stalins zum ersten Fünfjahresplan entgegen. Die Sowjetunion, verkündete er, habe sich aus den Fesseln der Rückständigkeit befreit und vom Agrarland zum Industriestaat gewandelt. Voller Begeisterung bestätigte das Auditorium den zweiten Fünfjahresplan für die Jahre 1933–1937. Radek zählte zu den prominenten ehemaligen Oppositionellen30, denen erlaubt wurde, vor dem Parteitag aufzutreten und zu sprechen. Kaum von Zwischenrufen unterbrochen, gestand er wie alle anderen seine vergangenen Fehler ein und bewahrte dabei doch eine gewisse Würde. Seine Selbstkritik wurde gnädig aufgenommen und es gelang ihm mehrmals, die Lacher auf seine Seite zu ziehen. Sein ritueller Hinweis auf die Größe der Führerschaft Stalins erhielt am Schluss der Rede Applaus.31 Anders als Bucharin und Pjatakov wurde er am Ende des Parteitages jedoch nicht wieder ins CK aufgenommen und bekam nicht einmal den Status eines CK-Kandidaten zugebilligt. Wenige Wochen vor dem Parteitag war eine Umorientierung der sowjetischen Außenpolitik eingeleitet worden. Am 19. Dezember 1933 hatte das Politbüro angesichts bedrohlicher Entwicklungen in Europa und Fernost beschlossen, den Beitritt zum Völkerbund anzustreben und die UdSSR durch eine Politik regionaler kollektiver Sicherheitspakte vor möglichen Aggressoren zu schützen. Außenkommissar Litvinov hatte daraufhin am 29. Dezember 1933 in einer scharfen Rede die friedensbedrohende Politik Deutschlands kritisiert und eine deutliche Verschlechterung der deutsch-sowjetischen Beziehungen festgestellt. Die UdSSR habe nun die Wahl 28 Fischer, Louis, Men and Politics, London 1941, S. 293f; Legters, S. 108. Fischer meint allerdings, dass Radek nicht aus eigenem Antrieb die Verwendung des Begriffs „Starik“ einforderte, sondern damit „ganz offensichtlich“ einem Wunsch Stalins nachkam. Aber auch das spricht für seine gebrochene Persönlichkeit. 29 Medvedev, Roy, Let History Judge, S. 148; Tuck, S. 110. 30 Neben anderen: Bucharin, Zinov’ev, Kamenev, Preobraženskij, Pjatakov. 31 Klausen, S. 7; Schapiro, S. 421.

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zwischen Deutschland und Frankreich und nach Lage der Dinge müsse die Entscheidung zugunsten Frankreichs ausfallen. Auch Radek hatte sich intern zu Wort gemeldet. Im Gespräch mit einem deutschen Pressevertreter hatte er in den ersten Tagen des Jahres 1934 erklärt: „Glauben Sie nicht, dass bereits etwas entschieden wäre [...] wir werden nichts tun, was uns für längere Zeit festlegen könnte. Nichts wird geschehen, was uns für immer die Wege zu einer Politik mit Deutschland verbauen würde. [...] Sie wissen doch, was Litwinow vorstellt. Über ihm steht ein harter und mit festem Willen ausgerüsteter, vorsichtiger und misstrauischer Mann. Stalin weiss nicht woran er mit Deutschland ist. Er ist unsicher. Das konnte nicht anders sein, – wir konnten den Nazi nicht anders als mit Mistrauen begegnen. Wir wissen aber, dass Versailles nicht mehr existiert. Sie müssen uns nicht für so dumm halten, dass wir dem Rad der Weltgeschichte in die Speichen fallen. Wir wissen etwas von den deutschen Rüstungsmöglichkeiten.“32

Am 26. Januar 1934 referierte Stalin auf dem XVII. Parteitag über die durch den Machtantritt Hitlers veränderte weltpolitische Situation. Die Welt gehe einem neuen imperialistischen Krieg entgegen, sagte er, und dem müsse die Sowjetunion voll Rechnung tragen: „Unsere Außenpolitik ist klar. Sie ist eine Politik der Erhaltung des Friedens und der Verstärkung der Handelsbeziehungen mit allen Ländern. Die UdSSR denkt nicht daran irgend jemand zu bedrohen, und erst recht nicht, irgend jemand zu überfallen. Wir sind für den Frieden und verteidigen die Sache des Friedens. Aber wir fürchten keine Drohungen und sind bereit, auf einen Schlag der Kriegsbrandstifter mit einem Gegenschlag zu antworten. Wer den Frieden will und sachliche Beziehungen mit uns anstrebt, wird stets bei uns Unterstützung finden. Diejenigen aber, die versuchen sollten, unser Land zu überfallen, wird eine vernichtende Abfuhr zuteil werden, damit ihnen in Zukunft die Lust vergehe, ihre Schweineschnauze in unseren Sowjetgarten zu stecken.“33

In seinem Rechenschaftsbericht bestritt Stalin allerdings, dass die Sowjetunion ihre Politik gegenüber Berlin wegen Hitler geändert habe. „Selbstverständlich sind wir von der Bildung einer faschistischen Regierung in Deutschland alles andere als entzückt“. Aber der Faschismus sei nicht das eigentliche Problem. So unterhalte man beispielsweise beste Beziehungen zum faschistischen Italien. Auch könne „keine Rede davon sein, daß wir unsere Grundhaltung gegenüber dem Versailler Vertrag geändert haben.“

32 Der Botschafter in Moskau R. Nadolny an das Auswärtige Amt, Moskau 10.1.1934. Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918–1945, Serie C: 1933–1937, Bd. I,1: 14. Oktober 1933 bis 31. Januar 1934, Göttingen 1973, S. 325–326; zitiert nach: Ken, S. 169. 33 Stalin, Werke, Band 13, S. 272.

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Man sei aber dagegen, „daß die Welt wegen dieses Vertrages in den Abgrund eines zweiten Krieges gerissen“ werde.34 Am 24. Januar 1934, demselben Tag an dem Stalin das erklärte, schlossen Hitler und Piłsudski einen Nichtangriffspakt ab, der die eigentliche Wende in den sowjetisch-deutschen Beziehungen auslöste. Aus sowjetischer Sicht hatte sich Deutschland damit im Sinne des antibolschewistischen Amtes Rosenberg für Polen und gegen die UdSSR entschieden. Moskau fühlte sich von Polen betrogen. Nach Radeks Meinung hoffte Hitler, durch die Unterstützung der polnischen Begehrlichkeit nach der Ukraine, den Korridor zurückzugewinnen.35 Daneben boten sich ihm – so Radek – zwei weitere außenpolitische Optionen: Zum einen eine Allianz mit Frankreich, die sich gegen die Sowjetunion richten musste und zum anderen eine ebenfalls antisowjetische und gleichzeitig antifranzösische Verbindung mit England und Italien.36 Der neuen außenpolitischen Linie Moskaus entsprechend, die den bisherigen außenpolitischen Kurs gegenüber Deutschland anscheinend völlig umkehrte, wurde in der sowjetischen Presse eine Kampagne gegen die aggressiven Ansprüche des Nationalsozialismus und für das Konzept der kollektiven Sicherheit geführt. Das Ziel dieser Propaganda war es, „den Frieden von Versailles weiß zu waschen“, auf eine Annäherung an Frankreich hinzuwirken und das Ganze ideologisch zu rechtfertigen, aber gleichzeitig auch „die Tür für ein Abkommen mit Deutschland immer noch offen zu halten“.37 Leiter dieser Kampagne wurde Karl Radek: „Stalin holte sich einen glänzenden Journalisten, der den Boden für einen solchen politischen Saltomortale ebnen sollte [...]. Nur einen Mann gab es in der Sowjet-Union, der dieses publizistische Kunststück gleichermaßen wirksam für den heimischen wie für den auswärtigen Gebrauch fertigbringen konnte. Das war Karl Radek, [...].“38

Der Leiter des BMI, dessen Aktivitäten in Stalins Geheimdiplomatie gegenüber Polen mit einem Misserfolg geendet hatten, warf sich nun mit Elan auf die neue Aufgabe. Val’tr Krivickij39, Offizier in der Hauptverwaltung für Aufklärung des Ge34 Zitiert nach Deutscher, Stalin, S. 441. 35 Bereits 1933 hatte Radek als Leiter des BMI sich in zwei von ihm verfassten Referaten mit dieser Thematik ausführlich auseinandergesetzt: „Der Kanpf um die Revision des Versailler Vertrages und die Veränderungen der polnischen Aussenpolitik“ (16.05.1933) und „Die wirtschaftliche und strategische Bedeutung des polnischen Korridors“ (26.05.1933). Ken, S 157. 36 Dallin, David J., Russia and postwar Europe, New Haven 1948, S. 64. Von Rauch, S. 352. 37 Krivitsky [Krivickij], S. 25f. 38 Ebenda. 39 Krivickij, Val’tr Germanovič., eigentlich Ginzberg, Samuel (1899–1941); General der Roten Armee und leitender Mitarbeiter des sowjetischen militärischen Nachrichtendienstes GRU (Glavnoe razvedyvatel´noe upravlenie – Hauptverwaltung für Aufklärung) des Generalstabs; Resident der GRU in Westeuropa; 1937 nach Frankreich übergelaufen und 1941 in Washington DC/USA vom NKVD ermordet.

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neralstabs, der im Frühling des Jahres 1934 Radek häufig in dessen Dienstzimmer im Zentralkomitee der VKP(b) aufsuchte, erinnert sich, dass dieser „täglich mit Stalin Besprechungen führte. Mitunter mußte er mehrmals am Tag in Stalins Räume hinüberlaufen. Jeder Satz, den er schrieb, wurde von Stalin persönlich überprüft. Die Artikel waren in jeder Hinsicht Radeks und Stalins gemeinsame Arbeit“. Sie wurden weithin als der Beginn eines Umschwenkens der UdSSR von Deutschland hin zu Frankreich und der kleinen Entente verstanden und begrüßt. „,Der deutsche Faschismus und der japanische Imperialismus‘, schrieb Radek, ,stehen in einem Kampf für die Neuverteilung der Welt – in einem Kampf, der sich gegen die Sowjet-Union, gegen Frankreich, Polen, die Tschechoslowakei, Rumänien und die Baltischen Staaten richtet, gegen China und die Vereinigten Staaten von Amerika. Und der britische Imperialismus möchte diesen Kampf gern ausschliesslich gegen die Sowjetunion lenken.‘“40 Solche Äußerungen trügen jedoch vornehmlich propagandistischen Charakter, deutete Radek gegenüber Krivickij an und erklärte ihm mit zynischer Offenheit: „Nur Narren mögen sich vorstellen, wir könnten jemals mit Deutschland brechen, Was ich hier schreibe ist die eine Seite – die Wirklichkeit ist etwas ganz anderes. Niemand kann uns geben, was uns Deutschland gegeben hat. Ein Bruch mit Deutschland ist einfach unmöglich!“41 Radek erwähnte die guten Beziehungen Moskaus zur Reichswehr und zu deutschen Wirtschaftsführern. Diese beiden Machtfaktoren seien die „Pfeiler der deutsch-russischen Beziehungen“ und Hitler würde sich gewiss nicht gegen die Reichswehrführung wenden, die das Zusammengehen mit Russland begünstige oder den Degen mit den deutschen Wirtschaftskreisen kreuzen, die mit Russland großartige Geschäfte machten. Er wurde noch deutlicher: „Idioten nannte er alle die, welche da glaubten, die Verfolgung von Kommunisten und Sozialisten durch die Nazis könne für Sowjet-Russland ein Grund sein, sich gegen Deutschland zu wenden. Richtig – Die Kommunistische Partei Deutschlands war vernichtet, der Führer Thälmann im Gefängnis, tausende ihrer Mitglieder stöhnten in den Konzentrationslägern. Aber das war die eine Seite. Es war etwas ganz anderes die Lebensbelange Sowjet-Russlands zu vertreten. Diese Belange verlangten gebieterisch, dass die Politik der Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich fortgeführt werde.“42

Diese Krivickij überraschenden Äußerungen Radeks, bei denen dieser sich wohl nicht nur auf die militärische Zusammenarbeit, sondern auch auf die große technische und wirtschaftliche Hilfe Deutschlands während des ersten Fünfjahresplanes bezog43, hatten einen realen Hintergrund. Ebenso wie Stalins Politik gegegenüber Polen wurde auch seine Deutschlandpolitik auf zwei Kanälen betrieben. Der offene 40 Krivitsky [Krivickij], S. 26. 41 Ebenda. 42 Krivitsky [Krivickij], S. 27. 43 Heller/Nekrich, Band II, S. 13.

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Kanal lief über Außenkommissar Litvinov. Der geheime Weg führte über das BMI. 1933 hatten geheime Gespräche zwischen Beauftragten Stalins und Kontaktleuten der Hitlerregierung begonnen, wie aus den veröffentlichten Dokumenten des deutschen Auswärtigen Amtes hervorgeht.44 Der sowjetische Diplomat Evgenij Gnedin45 stapelt tief, wenn er schreibt, er glaube, dass Stalins Mittelsmann, den der deusche Botschaftsrat von Twardowski46 in seinen Berichten aus Moskau als „unseren sowjetischen Freund“ bezeichnete, Karl Radek war.47 Gnedin war selbst Mitarbeiter des Büros für Internationale Information48 und wusste mit einiger Sicherheit über Radeks Aktivitäten Bescheid. Auch die guten Beziehungen, die Radek zu Legationsrat Gustav Hilger von der deutschen Botschaft unterhielt und die Kontakte zu Militärattaché Köstring passen in den Rahmen seines Auftrages zur Informationsbeschaffung und zu seiner Rolle als Einflussagent. So ist es durchaus glaubhaft, wenn Antonov-Ovseenko, der Sohn des Sowjetbotschafters in Warschau, unter Berufung auf Gnedin schreibt, Karl Radek sei „einer der Geheimagenten des Generalsekretärs“ gewesen, der von Stalin persönlich den Auftrag erhalten habe, lange vor Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes (1939) „geheime Kontakte mit den Vertrauten Hitlers“ aufzunehmen.49 In dieses Bild passt auch, was Rudolf Nadolny50, 1933/34 deutscher Botschafter in Moskau, nach Berlin berichtete. Er teilte mit, dass Marschall Tuchačevskij und einige Mitglieder der Regierung nicht mit Litvinov übereinstimmten und lieber mit Deutschland als mit England und Frankreich zusammengehen würden. Russische Stabsoffiziere suchten den deutschen Militärattaché auf und schwelgten in Erinnerungen an die zwanziger Jahre, „die Zeit der deutsch-russischen Waffenbrüderschaft“. Solche Signale der Kooperationsbereitschaft wären in Stalins Terrorstaat sicherlich selbstmörderisch gewesen, wären sie nicht von höchster Stelle angeordnet worden.51 Nach der „polnischen Niederlage“ Radeks verlor das Büro für Internationale Information“, das vom Aussenkommissariat von Anfang an eifersüchtig mit ver44 Heller/Nekrich, Band I, S. 300. 45 Gnedin, Evgenij Aleksandrovič (1898–1983); Sohn von Parvus-Helphand; 1904 von seiner Mutter aus Westeuropa nach Russland gebracht; er war als Journalist Mitarbeiter des BMI und danach sowjetischer Diplomat (u.a. 1935 erster Sekretär der Sowjetbotschaft in Berlin und danach Leiter der Presseabteilung des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten); 1939 verhaftet und zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt; 1949 Verbannung nach Kazachstan; 1955 Rückkehr nach Moskau. 46 Twardowski, Fritz von (1890–1970); deutscher Diplomat; 1922- 1933 in Moskau eingesetzt; danach Pressesprecher von Reichsaußenminister Ribbentrop. 47 Gnedin, a.a.O. 48 Ken, S. 176. 49 Antonow-Owssejenko [Antonov-Ovseenko], S. 315. 50 Nadolny, Rudolf (1873–1953); deutscher Diplomat; 1933/34 für acht Monate Botschafter in Moskau; Radek war ihm „von Brest-Litowsk und anderen Gelegenheiten her bekannt.“ Nadolny, S. 152. 51 Pächter, S. 138.

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deckten Mitteln bekämpft und als illegitime Konkurrenz betrachtet worden war, seinen Sonderstatus und wurde in seiner Existenz nahezu zur Bedeutungslosigkeit herabgestuft. Mitte Mai 1934 erging ein Beschluss des Politbüros, der es dem CK unterstellte und ihm von den vier Hauptaufgaben lediglich noch den Auftrag zur Informationsaufbereitung und -zusammenfassung von internationalem Pressematerial für das CK der VKP(b) beließ. Als ständige Mitarbeiter verblieben Radek noch zwei Gehilfen und Bürohilfskräfte.52 Dennoch wollte Stalin auf die Expertise Radeks in deutschen und auch in polnischen Angelegenheiten nicht verzichten. Er zog ihn gelegentlich zu Konferenzen des Politbüros hinzu. Etwa als es im Sommer 1934 in einer „besonderen Sitzung“ darum ging, vor dem Hintergrund der sowjetfeindlichen Politik Hitlers, die Haltung des Kreml’ gegenüber Polen zu erörtern. Dabei vertrat Radek wie auch Litvinov und der Vertreter des Kriegskommissariats die Auffassung, man könne Polen immer noch dazu bewegen, Sowjetrussland die Hand zu reichen.53 Auf Geheiß Stalins, nahm Radek auch an der außerordentlichen Sitzung teil, die in der Nacht des 30. Juni 1934 einberufen wurde, nachdem die Nachricht vom sogenannten „Röhm54-Putsch“ in Moskau eingetroffen war. Als Nichtmitglieder des Politbüros waren neben Radek Außenkommissar Litvinov und zwei hochrangige Geheimdienstleute anwesend.55 Hitler hatte in einer „Nacht der langen Messer“ die SA-Führung und eine Reihe von Regimegegnern blutig ausschalten lassen und man erörterte die Auswirkungen dieser Aktion auf die sowjetische Außenpolitik. Stalin fasste das Ergebnis der Diskussion folgendermaßen zusammen: „Die Ereignisse in Deutschland zeigen keineswegs den Zusammenbruch des Nazi-Regimes an. Im Gegenteil, sie müssen zu einer Konsolidierung des Regimes und zu einer Stärkung Hitlers führen.“56 Stalin war nun fest davon überzeugt, dass Hitler fest im Sattel saß und er suchte sich mit ihm zu verständigen. Zwei Wochen später, am 15. Juli, signalisierte Radek in einem „Izvestija“-Artikel diese Absicht, indem er aus Stalins Parteitagsrede vom Januar zitierte. Nachdem er zunächst die deutsche Außenpolitik kritisiert und Berlin „das Schreckgespenst einer Einschwenkung Moskaus in die Reihe der Versailler 52 Ken, S. 170f. 53 Krivitsky [Krivickij], S. 28. Ein „Izvestija“-Artikel Radeks vom 14. August 1934 über die sowjetisch-polnischen Beziehungen ist wahrscheinlich im Ergebnis der erwähnten Politbürositzung verfasst worden. 54 Röhm, Ernst (1887–1934); deutscher Offizier und Politiker; seit 1931 Stabschef der SA; 1934 wegen angeblichen Putschvorbereitungen auf Befehl Hitlers ermordet. 55 Es handelte sich um General Berzin, den Chef der GRU (siehe oben, Anm. 35) und den Chef des OGPU-Auslandsnachrichtendienstes Artuzov. Krivitsky [Krivickij], ebenda. Biographische Angaben: Berzin, Jan Karlovič, eigentlich Kjuzis, Peteris (1889–1938); Gründungsmitglied der Komintern, Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung des Generalstabs; 1937 verhaftet und 1938 hingerichtet. Artuzov (eigentlich Frauči), Artur Christianovič (1891–1937); 1930–1935 Leiter der Auslandsabteilung der OGPU/des NKVD; dann bis zu seiner Verhaftung 1937 im Generalstab der Roten Armee tätig. 56 Mitteilung von General Berzin an Krivickij. Krivitsky [Krivickij], S. 17.

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Mächte“ vor Augen geführt hatte, schloss er mit den Worten Stalins: „Dennoch besteht kein Grund, warum das fascistische Deutschland und Sowjet-Russland nicht miteinander auskommen sollten, sind doch auch das fascistische Italien und die Sowjet-Union gute Freunde.“57 Gustav Hilger gegenüber bedauerte Radek wiederholt die schwindende Zusammenarbeit mit Deutschland und betonte, „daß der Weg zu einer deutsch-russischen Freundschaft nie endgültig verbaut werden könne.“ Dabei gab er zu bedenken: „Stalin sei vorsichtig und sehr mißtrauisch und man dürfe von ihm nicht verlangen, daß er dem Verfasser des Buches „Mein Kampf“, das er in russischer Übersetzung von Anfang bis Ende gelesen habe, Vertrauen entgegenbringe.“58 Zu deutschen Besuchern äußerte Radek sich jedoch erstaunlich anerkennend über die organisatorische Potenz und das Mobilisierungspotential des Nationalsozialismus. Bei einem Gespräch, das er im August 1934 auf seiner „Datscha“ bei Moskau in Gegenwart von Bucharin mit dem jungen Königsberger Dozenten Theodor Oberländer59 und dem deutschen Presseattaché Baum führte, gab er seiner Bewunderung für das Organisationstalent der Nationalsozialisten und die Begeisterung der deutschen Jugend Ausdruck: „In den Gesichtern der deutschen Studenten, die im braunen Hemd dahinmarschieren“, rief er aus, „erkenne ich die gleiche Hingabe, die einst die Gesichter der Offiziersanwärter der Roten Armee60 und der deutschen Freiwilligen von 1813 erhellte“. Zusammen mit Bucharin sprach er von dem „vortrefflichen“ deutschen Volk, wobei er sich nicht verkneifen konnte hinzuzufügen: „Es gibt ganz prächtige Burschen bei der SA und SS, eines schönen Tages werden sie bestimmt noch Handgranaten für uns werfen!“, denn er sei, wie auch Bucharin, davon überzeugt, dass das nationalsozialistische Regime wirtschaftlich und sozial zusammenbrechen werde.61 An seiner skeptischen Beurteilung der Zukunft des NS-Staates hielt er auch im Gespräch mit Botschafter Nadolny fest. Er erklärte ihm apodiktisch, „es würde Krieg geben, sobald der Nationalsozialismus in Deutschland zur Religion geworden sei, denn die Deutschen führten Krieg immer aus religiösen Gründen.“ Nadolny, der nicht nachvollziehen konnte, dass Radek Religion mit Ideologie gleich57 Krivitsky [Krivickij], S. 29. 58 Hilger, S. 255. 59 Oberländer Theodor, (1905–1998); deutscher Osteuropakundler und Politiker; seit 1933 Privatdozent an der Technischen Hochschule Danzig und Direktor des Instituts für osteuropäische Wirtschaft in Königsberg; Nationalsozialist; nach dem 2. Weltkrieg CDU-Politiker. 60 Radek bezog sich auf die im Bürgerkrieg gegen die Vrangel´-Armee eingesetzte Brigade der Moskauer und Petrograder Kriegsschüler. Dem Andenken der aus ihren Reihen gefallenen „heldenhaften Genossen“ hatte er am 24. Oktober 1920 in der Akademie der Roten Armee eine Rede vor Offiziersschülern gewidmet. Nach dem Motto, sie starben, damit wir leben, verklärte er den „heldenhaften Tod“ der Kursanten. Sie seien mit der Parole „Seid bereit!“ begeistert in den Kampf gezogen. Er schloss mit dem Appell, die „Kampfeslosung unserer Jugend“ laute deshalb künftig: „Immer bereit!“ – Mit dem Titel „Requiem“ nahm Radek die Rede anstelle eines Vorworts in „Portrety i pamflety“ (1927), dieses „ Buch des Kampfes“, auf. Radek, Portrety i pamflety (1927), S. 5–18. 61 Hilger, S. 255 f.

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setzte, den Nationalsozialismus als bellizistische Ideologie mit religiösem Charakter und Hitler als ihren Messias interpretierte, reagierte verständnislos: „Mir schien, daß Radeks Geschichtsauffassung beim Dreißigjährigen Krieg stehen geblieben war.“62 Wohl anders als Stalin, gehörte Radek in Moskau zu denen, die frühzeitig das Dritte Reich als außenpolitische Bedrohung für die Sowjetunion wahrgenommen hatten. Während Stalin die Eigendynamik der Ideologien noch zu unterschätzen schien, hatte Radek bereits im Mai 1933 darauf hingewiesen, dass sich die nationalsozialistische Außenpolitik von der Außenpolitik aller anderen „kapitalistischen“ Staaten markant unterscheide.63 In einem Gespräch am 1. Januar 1934 mit dem deutschen Botschaftsrat von Twardowski widersprach Radek der Beurteilung des Diplomaten, die innerhalb der sowjetischen Führung verbreitete Sorge vor einem Angriffskrieg des Dritten Reiches gegen die UdSSR wäre ein „hysterisches Angstgebilde“. Deutschland sei dazu viel zu schwach. Radek gestand zu, dass Deutschland im Augenblick zwar tatsächlich noch zu schwach sei, aber dieser Zustand könne sich bald ändern. In der Sowjetunion wisse man übrigens ganz genau, wie man gewisse Ideen lanciere, solange man noch zu schwach sei, um sie sofort zu verwirklichen. Man benütze Propagandamittel, um das eigene Volk und wohlwollende Kreise des Auslandes mit gewissen Gedankengängen vertraut zu machen. Es sei einmal nicht aus der Welt zu schaffen, dass das programmatische Buch des Reichskanzlers einen Kreuzzug gegen die Sowjetunion fordere. Zwar hätte Hitler dies in einer Zeit geschrieben, als er noch in der Opposition war, jedoch sei dieses Buch nun in einer Neuauflage ohne jegliche Veränderungen erschienen. Unter der Autorität des Reichskanzlers würden also Ideen propagiert, die an Sowjetfeindlichkeit kaum zu übertreffen seien. Die Gedanken, die in den Büchern stünden, seien für langfristige Ziele konzipiert, die Forderung nach einem Kreuzzug gegen die Sowjetunion bleibe somit nach wie vor das außenpolitische Ziel Hitlers.64 Dank seiner wendigen Feder, fiel Radek eine Vielfalt von journalistischen Tagesaufgaben zu.65 1935 übernahm er wieder das Aussenressort der „Izvestija“ und kommentierte im Sinne Stalins das tagespolitische Geschehen, insbesondere die UdSSR berührende wichtige außen- und sicherheitspolitische Ereignisse. Entsprechend der Wende in der Außenpolitik hatte er den Völkerbund für die Kommunisten publizistisch „salonfähig“ zu machen66, nachdem sein Herr und Meister diesen bisher als „Organisation zur Bemäntelung von Kriegsabenteuern“ und zur imperialistischen Ausbeutung der Kolonien verdammt hatte. Die außenpolitische Linie des Kreml’ unterstützend, drängte er Deutschland, sich den sowjetischen Plänen für ein System 62 Nadolny, S. 152. 63 Radek, Revizija Versal’skogo dogorova (Die Revision des Versailler Vertrages), in: „Pravda“ Nr. 127 vom 10. Mai 1933; vgl. oben, Kapitel 20, und Luks, S. 168f. 64 Akten zur deutschen Auswärtigen Politik 1918–1945. Aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes, Göttingen 1973, Serie C, Band II, 1, S. 289 ff.; zitiert nach Luks, S. 169. 65 Legters, S. 109. 66 Buber-Neumann, Schauplätze der Weltrevolution, S. 436.

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der kollektiven Sicherheit zu öffnen und einem Beistandspakt aller osteuropäischen Staaten unter Einbeziehung des Reichs und Polens anzuschließen.67 Nachdem dieses Ost-Locarno wegen der Ablehnung Deutschlands nicht zustande kam und Moskau mit einer heftigen antideutschen Kampagne reagierte, trat er noch Ende März 1935 öffentlich für den Ostpakt „als eine Geste der Versöhnung“ ein.68 Das war ein gezieltes Entspannungssignal im Hinblick auf den zwei Wochen später am 9. April 1935 unterzeichneten neuen deutsch-russischen Handelsvertrag und ein Kreditabkommen über 200 Millionen Reichsmark – ein Ereignis, dem er einen wohlwollenden Artikel über die sowjetisch-deutschen Beziehungen widmete.69 Das Scheitern der aus der Furcht vor einem erstarkenden Deutschland geborenen Ostpaktpläne veranlasste die Sowjetunion dazu, eine stärkere Anlehnung an die Westmächte zu suchen. Anlässlich des zehnten Jahrestages der Anerkennung der UdSSR durch Frankreich würdigte Radek Ende Oktober 1934 die sowjetisch-französischen Beziehungen und signalisierte den Wunsch nach weiterer Annäherung.70 Im März 1935 führte der britische Lordsiegelbewahrer Eden71 bei seinem Moskaubesuch ein von Radeks Pressekommentaren72 umrahmtes Gespräch mit Stalin, der die Westmächte weiterhin für sein kollektives Sicherheitssystem gewinnen wollte. Im Herbst 1935 griff Radek das Thema der sowjetisch-britischen Beziehungen erneut in den „Izvestija“ auf.73 Er betonte immer wieder die drohende Gefahr eines Weltkrieges74, kritisierte im Zusammenhang die unzureichende maritime Rüstungskontrolle durch das deutsch-britisches Abkommen zur Begrenzung der Kriegsflotten (18. Juni 1935) sowie den Versuch der europäischen Großmächte, die deutsche Wiederaufrüstung durch die Konferenz von Stresa (11.–14. April 1935) zu zügeln75. Dabei vergaß er nicht, die Sowjetunion als ein starkes Bollwerk des Friedens zu preisen.76 Daneben blieb auch die sowjetische Fernostpolitik77, vor allem das Verhältnis Moskaus zu Tokio78, seine Domäne. Im Herbst und Winter 1935 befasste er sich mit Schwerpunkt 67 „Izvestija“ vom 15. Juli und 8. August 1934. 68 Hilger, S. 265. 69 „Izvestija“ vom 11. April 1935. 70 „Izvestija“ vom 28. Oktober 1934. 71 Eden, Sir Robert Anthony (1897–1977); konservativer britischer Politiker; seit 1935 wiederholt Außenminister und 1955–1957 Premierminister. 72 Izvestija“ vom 27. März und 6. April 1934. Stalins Gespräch mit Eden fand am 29. März 1935 statt. 73 „Izvestija“ vom 12. Oktober 1935. 74 „Izvestija“ vom 28. Juni 1934 und vom 1. August 1936. 75 Mehrere „Izvestija“-Artikel im Zeitraum April – Juni 1934 über die Lage in Europa und den Kampf der UdSSR für den Frieden. 76 „Izvestija“ vom 24. November 1934: Gedenkartikel zum Jahrestag des roten Sieges im Bürgerkrieg über die Vrangel´-Armee und General Denikin. 77 „Izvestija“ vom 3. Juni 1935. 78 „Izvestija“ vom 27. September 1935, vom 8. Februar 1936 sowie vom 8. und 15. Mai 1936. Als Moskauer Fernostexperte schrieb Radek auch das Vorwort zu einem Buch über Militarismus und

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mit den weltpolitischen Implikationen des italienischen Überfalls auf Abessinien als einem Exempel für die Aggressivität des Faschismus und das Versagen des Völkerbunds.79 In der westlichen Presse fanden Radeks Artikel zur Außenpolitik verbreitet Beachtung. Große seriöse Tageszeitungen wie die „New York Times“, die britischen Blätter „Times“, „Daily Express“, und „Manchester Guardian“ sowie die französische „Le Temps“ interpretierten sie als offiziöse Meinungsäußerungen Moskaus und zitierten sie regelmäßig. So finden sich allein in der „New York Times“ in den Jahren von 1934 bis 1936 ca. 30 solcher Beiträge.80 Sammlungen seiner wichtigsten Presseartikel konnte Radek im Jahre 1934 wieder in Buchform publizieren. In Anlehnung an Stalins These vom Kampf um die Neuaufteilung der Welt versah er eine Auswahl seiner 1933 und Anfang 1934 veröffentlichten außenpolitischen Arbeiten mit dem Titel „Die Vorbereitung des Kampfes für die Neuaufteilung der Welt“.81 Der Band beginnt mit dem Nachdruck seines „Foreign Affairs“- Aufsatzes vom Januar 1934 über die Grundlagen der sowjetischen Außenpolitik82 und greift das Thema sowjetischer Friedenspolitik nochmals mit einem Artikel vom 1. Januar 1933 auf.83 Einen Schwerpunkt bilden die Kommentare zum sowjetisch-deutschen Verhältnis84, wobei die Bewertung der deutschen Absicht zur Revision des Versailler Vertrages85, der Außenpolitik Hitlers86 und des Austritts des Dritten Reichs aus dem Völkerbund87 im Mittelpunkt stehen. Dem sowjetischamerikanischen Verhältnis und der Aufnahme der gegenseitigen diplomatischen Beziehungen sind die Artikel „Kolumbus kehrt nach Europa zurück“88 und „Amerika entdeckt die UdSSR“89 gewidmet. Radek befasst sich kritisch mit der britischen Politik gegenüber der UdSSR90, hinterfragt nach seinem Besuch in Polen im Sommer Faschismus in Japan: Tanin, O./ Yohan, E., Militarism and Fascism in Japan, London 1934; dasselbe. New York 1934. 79 „Izvestija“ vom 15. September, 5., 6., 8., 11. Oktober und 15., 18., 20., 21., 24. Dezember 1935. Zum selben Thema erschien Radeks von der Komintern herausgegebene Broschüre: „Abissinija, kak ona est´ [Abessinien, wie es wirklich ist]“, Kiev (Rostov n. D.), 1935. 80 The New York Times Index, Year 1933–Year 1936. 81 Radek, Podgotovka bor´by za novyj peredel mira [Die Vorbereitung des Kampfes für die Neuaufteilung der Welt], Moskva 1934. 82 Ebenda, S. 5 ff. 83 Ebenda, S. 17ff. 84 Nachdruck der „Izvestija“-Artikel vom 6. und 9. August sowie vom 3. September 1933, ebenda, S. 59ff. 85 Nachdruck des „Pravda“-Artikels „Revizija Versal´skogo dogorova“ vom 10. Mai 1933; ebenda, S. 52ff. 86 Nachdruck des „Izvestija“-Artikels vom 6. August 1933; ebenda, S. 59ff. 87 Nachdruck des „Izvestija“-Artikels vom 16. Oktober und 26. November 1933; ebenda, S. 59ff. und S. 65ff. 88 Nachdruck des „Izvestija“-Artikels vom 24. Mai 1933; ebenda, S. 135ff. 89 Nachdruck des „Izvestija“-Artikels vom 19. November 1933; ebenda, S. 149 ff. 90 Nachdruck des „Izvestija“-Artikels vom 18. Mai 1933; ebenda; S. 88ff.

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1933 die Haltung Polens gegenüber der UdSSR91, geht auf die explosive Situation in Fernost ein92 und stellt schließlich polemisch der sowjetischen Politik des Friedens die Kriegsvorbereitungen des Imperialismus für den Kampf um eine Neuaufteilung der Welt gegenüber93. 1934 erschien auch eine geänderte Neuauflage seiner „Portrety i pamflety“ von 1927, denen er jetzt noch einen zweiten Band mit Arbeiten aus den Jahren 1930 bis 1934 folgen ließ. Beide Bände, aus denen auch noch ein Auswahlband in englischer Sprache in London zusammengestellt wurde94, machen den Wandel Radeks zum Stalinisten deutlich. Im Vergleich zur Erstauflage95 fehlen im ersten Band der Beitrag über Trockij als „Organisator des Sieges“, der Nachruf auf Lutovinov und der Angriff auf Gor’kij. Dazu schreibt Radek in seinem Geleitwort, er habe das Porträt Trockijs und die Polemik gegen Gor’kij weggelassen. Was Gor’kij angehe, seien die Meinungsverschiedenheiten überholt. „Gor’kij ist heute als Kämpfer für den sozialistischen Aufbau zu rühmen.“ Die Diskrepanzen mit dem Dichter seien lediglich temporärer Natur gewesen. Doch ebenso sei die Rolle Trockijs in der Oktoberrevolution auch nur eine vorübergehende gewesen: „Zunächst erglänzend wie ein Meteor, stürzte er dann zurück in den Sumpf des Kampfes gegen den Bolschewismus und glitt ab in das Lager der Konterrevolution. Der Autor [Radek] hat früher selbst dem Trotzkismus seinen Tribut gezollt und damit sein Fiasko erlebt. Aber nachdem er mit Trockij gebrochen hat, ist es ihm unmöglich, in diesem Buch, das dem Kampf für den Sozialismus gewidmet ist, seinen historisch falschen Artikel erneut abzudrucken.“96

Nach dieser Selbstgeißelung unterlässt es Radek, auf die Entfernung seines Gedenkartikels für den Gewerkschafter Jurij Lutovinov aufmerksam zumachen, den er in der Originalausgabe an fünfter Stelle unter die Granden des Bolschewismus eingereiht hatte. Stillschweigend ersetzte er in der Neuauflage das Gedenken an den bei Stalin in Ungnade gefallenen Lutovinov durch den Nachruf auf seine Geliebte Larisa Rejsner.97 Kongruent zum ersten Band der „Portrety“, der gegenüber der Titelseite ein Foto Lenins zeigt und mit einem Aufsatz über den Sowjetführer beginnt, ist dem zweiten Band ein Bild Stalins in seiner berühmten weißen Jacke vorangestellt und diesem 91 Nachdruck der „Izvestija“-Artikels vom 29. August sowie vom 6. und 8. September 1933; ebenda, S. 99ff., S. 104ff., S. 107ff. 92 Nachdruck des „Izvestija“-Artikels „Dynamit in Fernost“ vom 26. September 1933; ebenda, S. 113ff. 93 Nachdruck des „Izvestija“-Artikels vom 1. Januar 1934; ebenda, S. 159ff. 94 Radek, Portraits and Pamphlets, Translation and Introduction by A. J. Cummings, Notes by Alec Brown, London 1935. 95 Vgl. oben, Kapitel 18.. 96 Radek, Portrety i pamflety, tom 1 (1934), S. 5. 97 Radek, Larisa Rejsner, in: Portrety i pamflety, tom 2, S. 59ff.

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mit dem berüchtigten „Baumeister der sozialistischen Gesellschaft“ der erste Beitrag des Buches gewidmet.98 Es folgen ein Porträt von Kriegskommissar Vorošilov, der als „der bolschewistische Krieger“ verherrlicht wird99 und ein Nachruf auf den 1933 verstorbenen Altbolschewiken Sergej Gusev100, einen unerschütterlichen Stalinisten. Dieser war ein alter Gegner Trockijs und im Bürgerkrieg der Chef der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee. Ende 1922 ersetzte Trockij ihn als obersten Politoffizier durch seinen Freund Antonov-Ovseenko. Gusev wurde Sekretär der Zentralen Kontrollkommission der VKP(b). In dieser Funktion führte er 1925 den Vorsitz im Parteiverfahren gegen Radek. Dann leitender Kominternfunktionär, tat sich Gusev als einer der wichtigsten Autoren bei der Umschreibung der Geschichte des Bürgerkriegs zugunsten von Stalin hervor. Zusammen mit Jaroslavskij wurde er einer der führenden Vertreter der Stalinschen Schule der Geschichtsfälschung. In der Reihenfolge der Porträts des zweiten Bandes springen die Parallelen mit der Ausgabe der „Portrety“ von 1927 ins Auge. Sie implizieren die Gleichsetzung des Führers Stalin mit Lenin, die Ebenbürtigkeit der militärischen Verdienste Vorošilovs mit denen Trockijs und die Platzierung des Radek-Verfolgers und stalinistischen Geschichtsklitterers Gusev auf Augenhöhe mit Radeks Parteiidol Sverdlov. Die Zeitläufte unbeschädigt überstanden hat der tote Čeka-Chef Feliks Dzeržinskij, den Radek – abermals an vierter Stelle – mit einem Artikel über den Kampf als „Sinn unseres Lebens“ würdigte.101 In seiner Gesamtheit gibt das Buch ein Abbild des stalinistischen Kosmos. Es preist die „sozialistische Organisation der Arbeit“102. Zusätzlich zu Stalin und den drei Musterbol’ševiki werden als wichtige gesellschaftliche Gruppen sowohl Stoßarbeiter103 als auch Frauen104, Kinder105 und Rotarmisten106 in das Pantheon der Erbauer des Sozialismus aufgenommen. Unter der Rubrik „Die Kultur des sich entwickelnden Sozialismus“107 und der Parole „Höher das Banner der sozialistischen Kultur“108 publizierte Radek eine Auswahl seiner kulturpolitischen Arbeiten, Literatur-, Theater- und Filmkritiken. Dabei lobte er Stalins Protegé Mak98 Radek, Zodčij socialističeskogo obščestva [Der Baumeister der sozialistischen Gesellschaft], (Januar 1934); in: Ebenda, S. 5–31. 99 Radek, Bol’ševistskoe voinstvo [Der bolschewistische Krieger], (Februar 1931); in: Ebenda, S. 32– 39. 100 Radek, Put’ bol’ševistvo [Der bolschewistische Weg], (Juni 1933); in: Ebenda, S. 40–47. 101 Radek, Feliks Dzeržinskij (Juli 1934); in Portrety i pamflety, tom 2, S. 48–54. 102 Radek, Kapitalističeskoe rabstvo i socialističeskaja organizacija truda [Kapitalistische Sklaverei und sozialistische Organisation der Arbeit], (Februar 1931); in: Ebenda, S. 55–79. 103 Radek, Udarniki [Stoßarbeiter], (März 1933); in: Ebenda, S. 80–92. 104 Radek, Ženščina i socializm [Die Frau und der Sozialismus], (März 1931); in: Ebenda, S. 93–108. 105 Radek, Detskoe obščestvo [Die Kindergesellschaft], (Juni 1932); in: Ebenda, S. 98–107. 106 Radek, O krasnoj kazarme [Über die rote Kaserne], ( Februar 1931; in: Ebenda, S. 116–122. 107 Radek, Kul’tura roždajuščegosja socializma [Die Kultur des sich entwickelnden Sozialismus], (November 1933); in: Ebenda, S. 123–134. 108 Radek, Vyše znamja socialističeskoj kul´tury [Höher das Banner der sozialistischen Kultur], (Mai 1933); in: Ebenda, S. 231–235.

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sim Gor’kij als den „Dichter des sozialistischen Aufbaus“109 und das Werk Šolochovs als ein „Heldenlied der Kollektivierung“110. Breiten Raum räumte er der Pflege des Feindbilds ein. Er zog gegen den von Stalin erfundenen inneren Feind in Gestalt der „Dämonen“ der „Industriepartei“ Ramzin111 und Fedotov112 zu Felde, brachte polemische Porträts politischer Größen der kapitalistischen Welt, wie George Clemenceau113, Aristide Briand114, Heinrich Brüning115, Adolf Hitler116 und prangerte die „Blutschuld“117 an, welche die Sozialdemokratie – verkörpert durch seine alten Gegner Eduard Bernstein118, Friedrich Ebert119, Karl Kautsky120, Rudolf Hilferding121 und Otto Bauer122 – durch ihre Politik des Burgfriedens im Ersten Weltkrieg auf sich geladen habe. Radeks Wirken beschränkte sich nicht auf den „Kampf mit der Feder in der Hand“. Er betätigte sich auch als Aktivist auf dem Gebiet der Stalinschen Kulturpolitik und engagierte sich für die Reglementierung der Sowjetliteratur durch das Programm des sozialistischen Realismus. Als offiziöser Vertreter der VKP(b) nahm er am Ersten sowjetischen Schriftstellerkongress teil, der vom 17. August bis zum 1. September 1934 in Anwesenheit zahlreicher ausländischer Literaten im Säulensaal des Moskauer Gewerkschaftshauses tagte. Er war beauftragt, neben Ždanov und Gor’kij, eines der Hauptreferate zu halten. Am Vorabend seiner Rede war er auf einem Empfang zugegen, den Gor’kij in seinem Landhaus für ausländische Schrift109 Radek, Poet strojaščegosja socializma [Der Dichter des sozialistischen Aufbaus] (Januar 1932); in: Ebenda, S. 145–149. Siehe auch oben, Kapitel 20. 110 Radek, Ėpos kollektivizacii [Das Heldenlied der Kollektivierung], (Januar 1933); in: Ebenda, S. 150–158. Siehe auch oben, Kapitel 20. 111 Radek, Leonid Konstantinovič Ramzin (Dezember 1930); in: Ebenda, S. 207–217. Siehe auch oben, Kapitel 19. 112 Radek, Grechopadenie A. A. Fedotova, ili bor´ba dvuch mirov [Der Sündenfall A. A. Fedotovs oder der Kampf zweier Welten], (Dezember 1930); in: Ebenda, S. 218–230. 113 Radek, Žorž Klemanso [George Clemenceau], (Januar 1930); in: Ebenda, S. 298–312. 114 Radek, Aristid Brian [Aristide Briand], (Mai 1931); in: Ebenda, S. 313–320. 115 Radek, Brjuning – nauka i pulemet [Brüning – Wissenschaft und Maschinengewehr], (April 1931); in: Ebenda, S. 331–343. 116 Radek, Gitler [Hitler], (Januar 1933); in: Ebenda, S. 344–367. Radek, Padenie dollara i vocarenie Gitlera [Der Sturz des Dollars und der Regierungsantritt Hitlers], (Mai 1933); in: Ebenda, S. 368–380. 117 Radek, Krovavaja vina [Blutschuld], ( undatiert]; in: Ebenda, S. 405–416. 118 Radek, Ėduard Bernštejn [Eduard Bernstein], (Dezember 1932); in: Ebenda, S. 417–431. 119 Radek, Svidetel’ Fridrich Ėbert [Der Zeuge Friedrich Ebert], (Juli 1931); in: Ebenda, S. 444–457. siehe auch oben, Kapitel 19. 120 Radek, Svidetel’skie pokazanija Karla Kautskogo [Zeugenaussage Karl Kautskys], (März 1931; in: Ebenda, S. 458- 467. Siehe auch oben, Kapitel 19. 121 Radek, Gospodin Rudol´f Gil´ferding i SSSR [Herr Rudolf Hilferding und die UdSSR], (undatiert); in: Ebenda, S. 468–475. Siehe auch oben, Kapitel 19. 122 Radek, Otto Bauėr zaščiščaet sovetskie respubliki [Herr Otto Bauer verteidigt die Sowjetrepublik], (März 1931); in: Ebenda, S. 476ff.

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steller gab und an den sich ein Staatsbankett mit Molotov, Vorošilov und Kaganovič anschloss. An diesem „großen Abend, der mit Diskussion begann und mit Trinksprüchen endete“123, lieferte Radek einen gespenstischen Auftritt. Tagsüber hatte er sich während des Kongresses über die Rede von André Malraux124 geärgert. „Kunst ist nicht Unterwerfung – sie ist Eroberung und Sieg“, hatte der französische Schriftsteller gesagt. In der Stadt der Zensur aller Publikationen“ von manchen als subtile Kritik verstanden und von Radek als Rüge aufgefasst. Malraux hatte am Beispiel des Fürsten Bolkonskij aus Tolstojs125 „Krieg und Frieden“ über Heroismus und Tod philosophiert und bemerkt, „Eure Klassiker geben Euch vom inneren Leben eine reichere, kontrastvollere Sicht, als die Sowjetromane“. Er fügte hinzu, es seien die Werke Vladimir Majakovskijs126 und des von den Parteigewaltigen wenig geschätzten Boris Pasternak127, die im Ausland das kulturelle Prestige der Sowjetunion aufrechterhalten würden.128 Keine Erwähnung von Gor’kij und Šolochov. Radek hatte auch Anstoß an Richard Bloch129 genommen, der den Individualismus des Schriftstellers verteidigt hatte. Seine Verärgerung steigerte sich noch, als in der abendlichen Diskussion mit Gor’kij der Franzose Louis Aragon130 erneut „das gefährliche Thema ,Individualismus-Kollektivismus‘“ ansprach und eine erregte Debatte auslöste.131 Dann tat anscheinend der Alkohol seine Wirkung. Gustav Regler132, Gast der Veranstaltung, schildert, wie sich gegen Ende des Abends im Hintergrund der schmausenden und trinkenden Gesellschaft eine Gestalt erhob und langsam durch die Mitte des Raumes auf die Tafel zuschritt. Im dichten Tabakrauch habe sie erst wie eine Erscheinung ausgesehen, aber als sie redend näher rückte, erkannte er Karl Radek. Bucharin, der neben Regler saß, machte ein abweisendes Gesicht und zeigte sich peinlich berührt, aber Radek „im beglückenden Nebel des Wodka“ war nicht mehr zu bremsen. Seine 123 Mann, Klaus, Notizen in Moskau; Dok. Nr. 36 in: Schmitt, Hans-Jürgen/Schramm, Godehard (Hrsg.), Sozialistische Realismuskonzeptionen, S. 411. 124 Malraux, André (1901–1976) vom Kommunisten und Revolutionär später zum überzeugten Gaullisten gewandelter französischer Schriftsteller und Kulturpolitiker. 1925 aktiv am KantonAufstand in China beteiligt und Verbindungsmann zur UdSSR an der Seite des Kominternagenten Borodin. Kampfflieger im spanischen Bürgerkrieg und Organisator der republikanischen Luftwaffe. 125 Tolstoj, Lev Nikolaevič Graf (1828–1910); einer der größten russischen Dichter. 126 Majakovskij, Vladimir Vladimirovič (1893–1930); futuristischer sowjetischer Dichter, der die Oktoberrevolution verherrlichte. 127 Pasternak, Boris Leonidovič (1890–1960); russischer Schriftsteller, Lyriker und Übersetzer der Werke Shakespeares und Goethes ins Russische. 128 Malraux, André, Begrüßungsrede am 23. August 1934; Dok. Nr. 11 in: Schmitt/Schramm, a.a.O., S. 138 und Regler, S. 286. 129 Bloch, Jean-Richard (1884–1947); kommunistischer französischer Schriftsteller, Journalist und Politiker. 130 Aragon, Louis (1897–1982); französischer Dichter, Dadaist, Surrealist. 131 Mann, Klaus, a.a.O. 132 Regler, Gustav (1898–1963); Dr. phil., deutscher Schriftsteller; Spanienkämpfer; brach 1940 mit der Kommunistischen Partei.

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Freunde ängstigend und um die Fremden werbend, ging er zuerst nur russisch sprechend auf und ab, wobei er sein Hemd öffnete und sich auf die Brust schlug. „Es war ein Dostojewskij-Speech, eine ekstatische Beichte, eine Flagellation.“ – „Wir müssen noch mehr in uns gehen und die Eierschalen abstreifen!“ rief Radek. „Wir wollen schon Glück, ganz privates!“ Er klagte sich an: „Wie er geirrt habe, wie man das Kollektivsystem nicht genug preisen könne, wie man alle Ambitionen ablegen solle, niemals rechthaberisch festhalten dürfe an seinen Meinungen, hinhorchen solle auf das, was das Volk sagt, was die Partei für einen herausgefunden habe, was Dialektik befehle.“ Molotov beobachtete die Szene mit verkniffenem Mund und Gor’kij runzelte besorgt die Stirn. Aber Radek öffnete das Hemd über seiner Brust noch weiter und war nicht zu stoppen. Er musste provozieren. „Mit seinen funkelnden Augen, seinem das Kinn hässlich umrahmenden kurzen Bart, der die Dünne der Lippen noch unterstrich“, empfand Regler ihn als „erschreckend“ und merkt an: „Er war gewiß angetrunken, aber es hatte ihm nur die Zunge gelockert, nicht seinen Geist beschwert.“ Während sich die Geräusche im Saal dämpften, sagte Radek mit seiner hohen Stimme: „Wir sind noch weit vom Ziel […]. Wir glaubten das Kind sei schon mündig, und wir laden alle ein, daß sie wie Tanten um die Wiege stehen und das Kindchen bewundern. Wir brauchen keine Bewunderung, sondern Selbsterkenntnis; die Revolution ist keine Safari, nichts zum angenehmen Gruseln. Heroismus ist kein Wert an sich, Hinrichtungen müssen gewertet nicht mystifiziert werden. Wir sind alle noch Kleinbürger!“

Nach diesen Metaphern ließ Radek seinem Unmut über das revolutionäre Versagen der Deutschen freien Lauf: „Er ging mit über den Gürtel herabhängendem Hemd im Rauch der Zigaretten und im Klingen der Gläser auf und ab, hielt immer Abstand zum präsidierenden Molotow und begann jetzt, die Deutschen zu zerpflücken. Er verhöhnte sie, er sprach wie ein bitter Enttäuschter von ihrem schnellen Verrat an der Revolution, wie die Arbeiter sich an Hitler gewöhnten und wie leicht das Schrifttum in einem Jahr gleichgeschaltet worden sei. Da wäre wahrhaftig nicht viel auf fruchtbaren Boden gefallen! Er sprach nun deutsch. Aber es sollte keine Schmeichelei sein, er wollte beleidigen, aufstacheln, sich unbeliebt machen.“

Er unterbrach seine Wanderung, blieb vor Malraux, dem Ehrengast des Kongresses, stehen, rieb sich seinen „grotesken Fischerbart“ und begann die Ausführungen des Franzosen auf dem Kongress zu kritisieren: „Was für eine unfruchtbare Einstellung ist das, in einem Jahrhundert, wo dem Individuum endlich die Chance gegeben ist im Kollektiv aufzugehen?“, fragte er und rief in den verräucherten Saal: „Der Kamerad Malraux ist auch noch ein Kleinbürger!“ Einem „Bußprediger“ gleich, ging er zwischen den Kaviartöpfchen und den Resten der gebratenen Hühnchen umher. „,Kleinbürger!‘ donnerte der bleiche Sowjetcicero über unsere Köpfe“ hinweg, erinnert sich Regler und schreibt:

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„Wie ein Betrunkener hielt er sich an diesem einen Wort und gab den Eindruck eines Stolpernden. Dann, unter dem Basiliskenblick Molotows, klagte er wieder sich selbst an, am Ende wurde seine Rede zum Monolog, und sein Feuerwerk verzischte im Lärm der Zecher und der Gleichgültigkeit, die ihn nun selber zu befallen schien. Er griff Gläser von den Plätzen der Leute, an denen er redend vorüberging, er mochte sein Pathos komisch finden, ich wage nicht zu sagen, daß er sein jämmerliches Ende ahnte und wie allein er eines Tages vor seinen Richtern stehen würde.“

Schließlich verschwand Radek im Zigarettenrauch „wie ein Gespenst“ und als Regler nach ihm suchte, war er ohne Abschied weggegangen.133 Am darauf folgenden Vormittag des 24. August 1934 stand Radek am Rednerpult des mit den Bildern großer europäischer Dichter geschmückten Moskauer Säulensaals und hielt ein vom Zentralkomitee bestätigtes polemisches Referat134 über das Thema „Die gegenwärtige Weltliteratur und die Aufgaben der proletarischen Kunst“.135 Als Sprecher der Sowjetführung hatte Stalins „rechte Hand“ Andrej Ždanov136 bei der Eröffnung des Schriftstellerkongresses die Sowjetliteratur als „die ideenreichste und fortschrittlichste Literatur der Welt“ bezeichnet und mit der Verkündigung der Thesen des sozialistischen Realismus die Argumentationslinie vorgezeichnet.137 Radek wiederholte in seinen Ausführungen den von Ždanov vor133 Regler, S. 282–287. 134 Müller, Reinhard (Hrsg.), S. 138. 135 Sovremennaja mirovaja literatura i zadači proletarskogo iskusstva. Doklad T. Radeka na 1. Vsesojuz. s’ezde sov. pisatelej [Die gegenwärtige Weltliteratur und die Aufgaben der proletarischen Kunst. Vortrag des Gen. Radek auf dem 1. Allrussischen Kongress sowj. Schriftsteller], Moskva 1934. Veröffentlicht auch in Jiddisch (Di hajntstsajtige veltliteratur un di ofgabn fun der proletarischer kunst. Moskva 1934) und in Englisch (Contemporary World Literature and the Tasks of the Proletarian Art, in: Problems of Soviet Literature, Reports and Speeches of the First Soviet Writer Congress, Moscow/ Leningrad 1935). Zusätzlich in russischer Sprache in: Sovremennaja mirovaja literatura i zadači proletarskogo iskusstva (materialy k 1. Vses. s’ezdu sov. Pisatelej). Pered zagl.: Karl Radek. 1. Literatura mirovaja – Ėpocha imperializma. 2. Proletarskaja literatura mirovaja. Moskva, 1934. Deutsche Übersetzung in: Schmitt/Schramm, a.a.O., Dok. Nr. 13, S. 140–213. 136 Ždanov, Andrej Aleksandrovič (1896–1948); seit 1932 CK-Mitglied; Ende 1934 Nachfolger des ermordeten Leningrader Parteisekretärs Kirov. 137 Ždanov, Die Sowjetliteratur, die ideenreichste und fortschrittlichste Literatur der Welt. Referat am 17. August 1934; Dok. Nr. 1 in: Schmitt/Schramm S. 43–50. Ždanov hatte in seinem Referat gesagt, dass der Kongress in einer Periode stattfinde, „in der unter Leitung der Kommunistischen Partei, unter der genialen Führung unseres großen Lehrers, des Genossen Stalin, die sozialistische Lebensform in unserem Lande unwiderruflich und endgültig gesiegt“ habe. Die Sowjetunion sei zum „Land der fortschrittlichen sozialistischen Kultur“ geworden und sie wäre „das Land, in dem unsere Sowjetkultur üppig blüht und gedeiht“ (Ždanov, a.a.O., S. 43). Im Gegensatz dazu befinde sich die bürgerliche Kultur in einem Zustand des Verfalls und der Zersetzung, der „aus dem Verfall und der Fäulnis des kapitalistischen Systems“ herrühre. Charakteristisch für die bürgerliche Literatur seien „das Schwelgen im Mystizismus, in der Frömmelei und die Leidenschaft für Pornographie“. Ihre Helden seien „Diebe, Detektive, Dirnen und Gauner“. Demgegenüber seien die „Haupthelden”“ der Sowjetliteratur die „aktiven Erbauer des neuen Lebens“: Arbeiter,

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getragenen literarischen Kanon mit Vorgaben wie Parteilichkeit der Aussage, Volksverbundenheit der Darstellung, Widerspiegelung der gesellschaftlichen Realität und Berücksichtigung weltweiter Maßstäbe. Er rechnete mit dem Formalismus der angeblich degenerierten bürgerlichen Literatur ab und versuchte, James Joyce138 das Odium der Dekadenz anzuhängen.139 Einleitend machte er sich die Beurteilung Ždanovs zu Eigen, wonach die bürgerliche Literatur durch Verfall und Zersetzung gekennzeichnet sei. Die moderne Weltliteratur, so behauptete Radek, befinde sich in ihrer letzten Periode, einer Endphase, „in der alle Verfallstendenzen der bürgerlichen Literatur besonders kraß zutage treten, in dem der materielle Zusammenbruch und Verfall des Kapitalismus von einem parallel verlaufenden Prozeß begleitet ist – dem Verfall der kapitalistischen Weltliteratur.“ Da die Literatur ein Spiegelbild des gesellschaftlichen Lebens sei, wolle er den Inhalt und die Entwicklungsrichtung der Weltliteratur anhand von drei großen Ereignissen untersuchen, die in den letzten zwanzig Jahren die Geschicke der Menschheit bestimmt hätten: „Der Weltkrieg, die Oktoberrevolution und der Machtantritt der Faschisten in einer Reihe von Ländern“. Im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg gelte, dass nur Maksim Gor’kij und Martin Andersen Nexö140, beides Vertreter der Arbeiterklasse, den Klassencharakter des imperialistischen Krieges von vornherein erkannt hätten. Andere, wie der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque, hätten zwar auf meisterhafte Weise die Vernichtung der Völker geschildert, sein Werk sei aber symptomatisch für die Unlust der bürgerlichen Autoren, gegen den Krieg zu kämpfen. Als Kriegsheimkehrer wolle der Held seines Buches „Der Weg zurück“ nicht mehr „Pionier“ sein, das heißt für etwas kämpfen. Als „der Weisheit letzter Schluß“ kehre er der Revolution den Rücken und suche die Zuflucht in einem „stillen Leben.“ Radek resümierte: „Da haben wir den ganzen Kleinbürger-Pazifismus. ,Nicht jeder braucht ein Pionier zu sein‘. Remarque möchte jedenfalls keiner sein. Wenn er nur ein stilles Asyl fände […]“. Und was würde geschehen, fragte Radek, wenn sich neue Unwetter und Wirbelstürme zusammenbrauten, die alle stillen Asyle des Kleinbürgertums hinwegfegten? – Nun, „dann wird Remarque eben seine Augen schließen, sich Watte in die Ohren stopfen. Mit verstopften Ohren und geschlossenen Augen flüchtete er ins Ausland, als der siegreiche Faschismus ihn aus seinem Kollektivbauern, Parteifunktionäre, Ökonomen, Ingenieure, Komsomolzen und Pioniere. Die sowjetischen literarischen Werke trügen optimistischen Charakter und seien erfüllt von „Enthusiasmus und Heldentum“. Ihre Aufgabe sei es, „die werktätigen Menschen im Geiste des Sozialismus umzuformen und zu erziehen“. Genosse Stalin habe die Schriftsteller die „Ingenieure der Seele“ genannt. Das lege ihnen die Verpflichtung auf, fern aller lebensfremden Romantik, „mit beiden Beinen auf dem Boden des realen Lebens zu stehen.“ – „Wir sagen, daß der sozialistische Realismus die grundlegende Methode der sowjetischen schönen Literatur und der Literaturkritik ist [...]“(Ždanov, a.a.O., S. 46ff.). 138 Joyce, James (1882–1941); irischer Dichter, der mit der Stilform seines Romans „Ulysses“ (1922) den modernen Roman sehr stark beeinflusste. 139 Müller, Reinhard (Hrsg.), S. 92, Anm. 21. 140 Andersen-Nexø, Martin (1869–1954); kommunistischer dänischer Schriftsteller.

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stillen Asyl verjagte und seine Bücher verbrannte.“141 Remarques Bücher und andere zeitgenössische literarische Werke belegten exemplarisch die These: „Die Literatur der Bourgeoisie ist unfähig, den imperialistischen Krieg von 1914–18 zu schildern, sie ist unfähig, die Vorbereitungen für einen neuen Krieg darzustellen und kann den Massen nicht sagen, wie sie gegen die Gefahr dieses neuen Krieges kämpfen sollen, der hundertmal verheerender sein wird als der letzte. Und das bedeutet, daß diese Literatur in einer grundlegenden Frage, die für Hunderte von Millionen Menschen eine Frage von Leben und Tod ist, nichts weiter ist als Sand, der den Massen in die Augen gestreut wird und sie daran hindert, die Gefahr zu erkennen; nach wie vor ist sie entweder eine direkte Waffe der Feinde der Menschheit oder das hilflose Gejammer eines an der Schlechtigkeit der Welt Verzweifelnden [...]. Die Weltliteratur der Bourgeoisie hat ihre Aufgabe erfüllt, sie ist nicht zur Stimme des Protests, zur Stimme des Kampfes gegen den Weltimperialismus geworden – sie ist ein Instrument zur Verherrlichung des Krieges oder zur Einschläferung des Proletariats geworden.“142

Daraus – so Radek – ergebe sich als „die erste Aufgabe der proletarischen Literatur, ein Bild von den Kriegsvorbereitungen zu entwerfen, das Bild der großen friedlichen Arbeit der Sowjetunion zu malen und den Volksmassen zu zeigen, zu welchem Zweck man sie in den Krieg jagen wird und wie man dagegen kämpfen soll.“ Weiter stellte er fest, die Weltliteratur habe nicht nur in der Darstellung des Krieges, sondern ebenso in Bezug auf die Beschreibung der Oktoberrevolution versagt: Die bolschewistische Revolution habe der bürgerlichen Literatur als „ein Objekt der Verleumdung“ gedient. Damit habe die Weltliteratur „sich selbst als Wahrerin der Interessen des Kapitals entlarvt, als Werkzeug, mit Hilfe dessen es gelang, den Massen zu verheimlichen, was sich in Wirklichkeit abspielte.“ Jetzt stehe die Weltliteratur vor beispiellosen Herausforderungen, denn angesichts der Weltwirtschaftskrise auf der einen Seite und der „triumphalen Erfolge des Fünfjahrplanes“ auf der anderen Seite ergäben sich nachhaltigere Konsequenzen als durch den Weltkrieg und die Oktoberrevolution. Der Zerfallsprozess der Weltliteratur habe sich ungemein beschleunigt143: „Es wird von Tag zu Tag offenkundiger, daß sie sich in drei Teile spaltet – die Literatur des verfallenden Kapitalismus, der sich unausweichlich dem Faschismus annähert, die neue proletarische Literatur und die Literatur der Schwankenden, von denen manche schon auf unserer Seite sind [...]“.144 Im Namen der neuen proletarischen Literatur verkündete Radek, man reiche allen Schriftstellern in der Welt die Bruderhand, „wenn wir bei ihnen nur den Willen und den Wunsch spüren, der Arbeiterklasse in ihrem Kampfe zu helfen, der 141 Radek, Die gegenwärtige Weltliteratur und die Aufgaben der proletarischen Kunst; Dok. Nr. 13 in: Schmitt/Schramm, a.a.O., S. 140–148. 142 Ebenda, S. 148f. 143 Ebenda, S. 150–157. 144 Ebenda, S. 157.

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Sowjetunion beizustehen.“ Die beste Hilfe bestünde freilich darin, appellierte er an Sympathisanten und „Schwankende“, wenn sie sich den Kommunistischen Parteien ihrer Heimatländer anschließen würden, um mit diesen zusammen gegen den Faschismus zu kämpfen.145 Sie müssten begreifen, „daß die Literatur eine gesellschaftliche Waffe ist und dem Klassenkampf dient.“146 Auch müssten sie sich im Klaren darüber sein, dass es nur eine Alternative gebe: „Entweder proletarische Revolution oder Faschismus. Mit seiner Wahl unter diesen beiden Möglichkeiten entscheide der Schriftsteller nicht nur über seinen Standpunkt in dem bevorstehenden Kampf, sondern auch über das Schicksal von Literatur und Kunst.“147 Die Oktoberrevolution habe eine neue Literatur geschaffen, die in erster Linie den Kampf des sowjetischen Proletariats und der kollektivierten Bauernschaft schildere, aber „bislang die Kunst des Schreibens über internationale Themen noch nicht in angemessener Weise bewältigt“ habe. Allerdings komme ihr die „junge proletarische Literatur des Westens“ zu Hilfe. Euphemistisch erklärte er: „Wir sind Zeugen nicht nur des Wachsens der Literatur in der Sowjetunion, wo sie sich vor unseren Augen zu einer mächtigen Avantgarde der Weltliteratur entwickelt, sondern auch der Genesis einer proletarischen Literatur in der ganzen Welt.“148 Erneut erwähnte Radek die „schwankenden Schriftsteller“ und stellte die rhetorische Frage, worin das Band bestehe, das sie mit „dem anderen Lager“ verknüpfe. Es sei deren Individualismus meinte er und die Diskussion vom Vorabend noch frisch vor Augen, wandte er sich stellvertretend für die „Schwankenden“ unmittelbar an den Franzosen Jean-Richard Bloch: „[...] ich nenne sie hier nicht, um mit ihnen zu polemisieren, sondern um sie zu verstehen und um ihnen zu helfen uns zu verstehen. Welche Idee müssen wir ihnen helfen zu überwinden? Die Idee des Individualismus, die Idee, die auf das folgende hinausläuft: ,Ich bin ein Schriftsteller, ein Geistesarbeiter, kann mich keiner Disziplin unterordnen: Jede Partei bedeutet Scheuklappen, jede Partei legt dem Künstler Bindungen auf, ich aber will ein freiwilliger Schütze für die Revolution sein, ich kann kein Soldat der Armee der Revolution sein.‘“149

Den Individualisten, rief Radek, müsse man offen erklären, dass die Revolution und die Partei selbstverständlich nicht dazu da sind, allen Mitgliedern die völlige Freiheit zu sichern. Vielmehr gelte: „Die Partei des Proletariats ist eine Partei der Revolution, die ihre Politik auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus verfolgt. Sie weiß, wohin sie die Massen führt. Und wenn jemand glaubt, er verfechte lediglich eine individuelle Meinungsnuance gegen die 145 Ebenda, S. 168f. 146 Ebenda, S. 175. 147 Ebenda, S. 185. 148 Ebenda, S. 196. 149 Ebenda.

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Partei, wird ein politischer Test in jedem Fall ergeben, daß er dem Proletariat fremde Interessen verficht. Und wenn es einem Schriftsteller schwerfällt, seine intimsten individuellen Meinungsnuancen aufzugeben, dann sollte er die Geschichte der Sowjetunion studieren, und er wird einsehen, daß er mit den Massen marschieren muß, wenn er gegen den Kapitalismus, gegen den Imperialismus kämpfen will […].“150

Kritisch merkte Radek an, dass „unsere junge proletarische Literatur“ noch an einem „Mangel an Kultur“ leide. Man müsse von einem kommunistischen Schriftsteller verlangen, dass er „das Leben als Ganzes“ sehe und nicht nur reduziert auf „Proletariat und Bourgeoisie“. Auch hätten „die proletarischen Schriftsteller einfach die Form noch nicht gemeistert.“ Sie müssten deshalb „den Weg finden zu den Schatzkammern der Literatur der Vergangenheit und zu den großen Meistern der Gegenwart, von denen sie lernen können.“ Zu den Vorbildern zähle allerdings keinesfalls James Joyce, der Autor des Romans „Ulysses“ und „der Held der zeitgenössischen bürgerlichen Literatur“151: „Das Bemerkenswerteste an ihm ist die Überzeugung, daß es im Leben nichts Großes gibt – keine großen Ereignisse, keine großen Menschen, keine großen Ideen; und der Schriftsteller kann das Leben abbilden, indem er einfach ,irgendeinen Helden an irgendeinem Tag‘ vornimmt und ihn mit größter Genauigkeit schildert. Ein von Würmern wimmelnder Misthaufen, mit einer Filmkamera durch ein Mikroskop aufgenommen – das ist Joyces Werk.“152

Für Joyce, so sagte Radek, bestünde „die ganze Welt aus einem Schrank voll mittelalterlicher Bücher, einem Bordell und einer Kneipe“. Im Irland des Jahres 1904 existiere für ihn die revolutionäre Bewegung des irischen Kleinbürgertums überhaupt nicht und aus diesem Grunde sei sein vermeintlich objektives Buch unwahr. Das „morbide Interesse“ einiger sowjetischer Schriftsteller an Joyce sei als rechtsopportunistische Abweichung zu verurteilen. Diese Autoren „streben fort von den großen Taten unseres Landes zur ,großen Kunst‘, die kleine Taten kleiner Leute darstellt. Sie wollen der stürmischen See der Revolution entrinnen und Zuflucht suchen in den Brackwässern kleiner Tümpel, in Sümpfen, wo die Frösche quaken.“ Demgegenüber verlange das Konzept des „sozialistischen Realismus“ Einsicht in die ganz großen Zusammenhänge. „Selbst wenn der Künstler das Große im Kleinen verbildlicht, wenn er die Welt in einem Wassertropfen schildern will, im Schicksal eines einzigen kleinen Mannes, kann er dieser Aufgabe nicht gerecht werden, ohne ein Bild von der Welt im Kopf zu haben.“153 Daran anknüpfend interpretierte Radek noch einmal den sozialistischen Realismus in der Literatur, indem er dessen internationalistischen Charakter, Parteilichkeit und Bedeutung als Waffe im Klassenkampf hervorhob. Pathetisch schloss er: 150 Ebenda. 151 Ebenda, S. 199–204. 152 Ebenda, S. 205. 153 Ebenda, S. 207–209.

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„Die Literatur des sozialistischen Realismus ist eine Literatur weltweiter Maßstäbe, denn ihre Aufgabe ist es, ein Bild von der Welt zu liefern [...]. Die Künstler des sterbenden Kapitalismus hängen sich ein Mäntelchen der Unparteilichkeit um [...]. Die Literatur des sozialistischen Realismus [...] macht es sich zur Aufgabe, teilzunehmen an dem großen Kampf um die neue Renaissance der Menschheit oder genauer gesagt, nicht um die Wiedergeburt, sondern um die Geburt der Menschheit. Sie ist eine Literatur des Hasses auf den faulenden Kapitalismus, der sich rüstet, die Menschheit in einer Flut von Abscheulichkeiten zu ertränken. Sie ist eine Literatur großer Liebe für die leidenden Menschen, für die kämpfenden Menschen, großer Liebe für diejenigen, deren Knochen die Grundpfeiler des neuen Weltgebäudes bilden werden.“154

Vor allem unter den deutschen Kongressteilnehmern löste das Referat Radeks in den beiden folgenden Tagen Widerspruch aus. Es rumorte auch hinter den Kulissen. Der deutsche Schriftsteller Johannes R. Becher155, ein Stalinist, sah Radeks Referat „in gewissem Sinne als Fortsetzung der trotzkistischen Literatur“ und wollte offen dagegen auftreten. Er nahm jedoch Abstand davon, als ihm bedeutet wurde, „daß es für einen Genossen absolut unerwünscht ist, […] daß er gegen ein Referat von Radek auftrete“. Ihm wurde mitgeteilt, dass auf Weisung des CK-Abteilungsleiters für Agitation und Propaganda Steckij156 „ein Auftreten gegen Radek nur in der Form geschehen kann, daß man bestimmte Ergänzungen dessen mache, was im Referat fehlt.“157 Friedrich Wolf158, der den Vortrag für oberflächlich und substanzlos hielt, sprach Radek persönlich an. Er fragte ihn, ob er außer den im Referat erwähnten „deutschen antifaschistischen Schriftstellern Marchwitza159, Grünberg160, Kläber161“ nicht auch Renn162, Kisch163 und Bredel164 kenne. Radek verneinte das und fügte spöttisch hinzu: „Muß man die kennen?“ – „Da konnte man mit ihm natürlich nicht weiter-

154 Ebenda, S. 209. 155 Becher, Johannes R. (1891–1958); kommunistischer deutscher Schriftsteller, Stalinist. 156 Steckij, Aleksej Ivanovič (1896–1938); CK-Mitglied der VKP(b); Leiter der Abteilung für Agitation und Propaganda beim CK; während der großen Säuberung verhaftet und im Gefängnis verstorben. 157 Müller, Reinhard (Hrsg.), S. 138f. 158 Wolf, Friedrich (1888–1953); kommunistischer deutscher Arzt und Schriftsteller; später DDRDiplomat. 159 Marchwitza, Hans (1890–1965); KPD-Arbeiterkorrespondent und Schriftsteller. 160 Grünberg, Karl (1891–1962); KPD-Journalist und Schriftsteller. 161 Kläber, Kurt – Pseudonym von Held, Kurt (1897–1951); deutscher Journalist und Jugendbuchautor, der sich 1938 vom Kommunismus abwandte. 162 Renn, Ludwig, eigentlich A. F. Vieht von Goissenau (1889–1979); deutscher Schriftsteller; linksradikaler Pazifist. 163 Kisch, Egon Erwin (1885–1948); deutscher Schriftsteller; bekannt durch sein Buch „Der rasende Reporter“ (1925). 164 Bredel, Willi (1901–1964); kommunistischer deutscher Schriftsteller.

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sprechen“, resignierte Wolf.165 Im Plenum des Kongresses äußerte sich der von den Nationalsozialisten verfolgte deutsche Schriftsteller Willi Bredel enttäuscht darüber, dass Radek nur vier Autoren der „deutschen proletarischen Literatur“ genannt habe. Nicht nur er selbst sei in Radeks Vortrag unerwähnt geblieben, sondern auch namhafte antifaschistische Schriftsteller, darunter Erich Mühsam166, den man im Konzentrationslager zu Tode gefoltert habe. Von Radek seien auch die wichtigen linksbürgerlichen Schriftsteller Lion Feuchtwanger167, Arnold Zweig168 und Ernst Toller169 mit Schweigen übergangen worden. Er müsse entschieden dagegen protestieren, dass Radek dem Kongress nur ein höchst unbefriedigendes Bild der „jetzt schon hinreichend entwickelten deutschen proletarischen Literatur“ vermittelt habe.170 Einer der Teilnehmer unterstrich Bredels Kritik und schrie mit Donnerstimme die Losung in den Saal: „Eine Unterstützung der deutschen proletarischen Schriftsteller ist eine Unterstützung des deutschen Proletariats!“171 Theodor Plivier172 widersprach als „revolutionärer Schriftsteller“ den Ausführungen Radeks über die Kriegsliteratur. Bereits 1916 sei in Deutschland die gegen den Krieg gerichtete Zeitschrift „Neue Jugend“ herausgegeben worden. „Die erste Nummer begann mit einem Gedicht von Becher, das durchaus kein weinerliches Gewinsel – um einen Ausdruck von Radek zu gebrauchen – sondern eine haßerfüllte Anklage gegen die Generale und gegen den imperialistischen Krieg war.“ In anderen Nummern erschienen Antikriegsgedichte in französischer Sprache. Diese Manifestationen internationaler Solidarität könne man doch nicht als ,Pazifismus‘ abtun. Im Hinblick auf die Nachkriegsliteratur habe Radek Arnold Zweigs Roman „Sergeant Grischa“ und auch Hašeks173 „Der brave Soldat Schwejk“ völlig ignoriert, „Spitzenleistungen der Kriegsliteratur“, die gewiss nicht als „bürgerlich-pazifistisch“ anzusprechen seien. Zudem habe der Westen „Schriftsteller wie Barbusse174 und Hemingway175 hervorgebracht, von denen die Sowjetschrift-

165 Müller, Reinhard (Hrsg.), S. 269. 166 Mühsam, Erich (1878–1934); radikaler deutscher Anarchist; 1934 im Konzentrationslager Oranienburg ermordet. 167 Feuchtwanger, Lion (1884–1958); deutscher Schriftsteller; Verfasser zeitkritischer und historischer Romane; glühender Verehrer Stalins. 168 Zweig, Arnold (1887–1968); zeit- und sozialkritischer deutscher Schriftsteller. 169 Toller, Ernst (1893–1939); deutscher Dramatiker; 1919 Mitglied der Räteregierung in München. 170 Referat Willi Bredels am 25. August 1934 – Entgegnung auf Radeks Referat vom 24.8.1934; Dok. Nr. 14 in:Schmitt/Schramm, a.a.O., (S. 214–219), S. 215–217. 171 Müller, Reinhard (Hrsg.), a.a.O. 172 Plivier (nach 1933 Plievier), Theodor (1882–1955); deutscher Schriftsteller; ursprünglich Kommunist, wandte er sich später vom Kommunismus ab. 173 Hašek, Jaroslaw (1882–1923); tschechischer Schriftsteller. 174 Barbusse, Henri (1873–1935); französischer Schriftsteller; Pazifist und Kommunist. 175 Hemingway, Ernest Miller ( 1891–1961); amerikanischer Schriftsteller, der sich als Angehöriger der „verlorenen Generation“ verstand.

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steller lernen können [...]“.176 Auch der von Radek angegriffene Jean-Richard Bloch setzte sich zur Wehr und führte die im Hause Gor’kij begonnene Diskussion über das zentrale Thema „Individualismus“ im Kongress-Saal fort. Unter ironischer Anspielung auf die Beschimpfung von Malraux als „Kleinbürger“ durch Radek auf Gor’kijs Empfang, erteilte er seinem Kritiker eine Lektion: „Ich danke Radek dafür, daß er den Gebrauch des Wortes ,Kleinbürger‘ vermieden hat, als er sich über meinen sogenannten ,Individualismus‘ verbreitete. Aber, wenn auch das Wort nicht da war – der Gedanke daran ist da, alle haben das wohl gespürt. Gut, also gehen wir darauf ein. ,Persönlichkeit, Freiheit‘ –: diese beiden Worte genügen, um in der Polemik die Geistesart des Kleinbürgers, und im Besonderen des westlichen Kleinbürgers, zu charakterisieren. Wenn man aber so spricht, vergißt man einfach Eines: nämlich, daß das französische Volk [...] ein Volk ist, das sich in einer fast konstanten Revolution seit mehr als einem Jahrhundert befindet – seit der Revolution von 1789 [...]“177.

Zwar sei der Individualismus als „kleinbürgerliche Abweichung“ abzulehnen, fuhr Bloch fort: „Aber wenn wir, Schriftsteller der nächsten französischen Revolution, in unseren Äußerungen den Akzent auf die Worte ,Persönlichkeit‘ und ,Freiheit‘ legen, so geschieht das, weil in unserem Lande diese Worte sich die wunderbarste revolutionäre Kraft bewahrt haben und weil es ein schwerer Fehler wäre, dies zu verkennen.“178

Wieland Herzfelde179 schließlich brach eine Lanze für James Joyce, den Radek mit einem Mann verglichen hatte, der durch ein Mikroskop einen Misthaufen filme. Joyce würde sich gegen dieses Werturteil wohl verwahren sagte Herzfelde. Er gab zu bedenken, dass die Methode von Joyce ein Experiment sei, das sich der Wahrnehmungsmöglichkeiten durch die moderne Technik mit Mikroskop, Teleskop, Röntgenstrahlen, Film und Mikrophon bediene. Man dürfe einem Künstler das Experimentieren nicht einfach untersagen, auch wenn einem der Wert der Experimente fragwürdig erscheine.180 Zwar könnte Joyce den auf dem Kongress versammelten Schriftstellern kein Vorbild sein und seine Methode sei aus der Skepsis des untergehenden Bürgertums geboren. „Aber“, so unterstrich Herzfelde, „er ist ein ernst zu 176 Beitrag Theodor Pliviers am 26. August 1934; Dok. Nr. 21 in: Schmitt/Schramm, a.a.O., (S. 259– 265), S. 259–262. 177 Beitrag Jean-Richard Blochs am 25. August 1934 – Antwort auf Radeks Vorwurf des „Individualismus”; Dok. Nr. 17 in: Schmitt/Schramm, a.a.O., (S. 231–234), S. 231. 178 Ebenda, S. 233. 179 Herzfelde, Wieland (1896–1988), von den Nationalsozialisten verfolgter kommunistischer deutscher Schriftsteller und Verleger. 180 Beitrag von Wieland Herzfelde am 26. August 1934; Dok. Nr. 19 in: Schmitt/Schramm, a.a.O., (S. 239–244), S. 239f.

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nehmender, bedeutender Schriftsteller“, von dem man wie von jedem wirklichen Künstler lernen könne.181 In seinem Schlusswort182 auf dem Kongress nahm Radek zu den Anwürfen aus dem Kreise der ausländischen Schriftsteller Stellung. Er sei „als „Berichterstatter“ von einer Anzahl „Genossen, die unsere Gäste sind, unter Feuer genommen worden“. Diesen Kritikern entgegne er: „Ein Referat ist kein Lehrbuch der Literaturgeschichte.“ Seine Aufgabe hätte nicht darin bestanden, Schriftsteller zu nennen und ihre Werke aufzuzählen, sondern darin, „die Probleme aufzurollen, die die historische Situation der Literatur gestellt hat.“ Er habe „versucht, das Verhältnis der Weltliteratur zu den größten historischen Geschehnissen, die die weitere Entwicklung der Menschheit bestimmen zu schildern: ihr Verhältnis zum Krieg, zur Oktoberrevolution, zum Faschismus.“ Ferner sei er anhand exemplarischer Beispiele auf „die Spaltung der bürgerlichen Literatur und die Entstehung der revolutionären Literatur“ eingegangen. Gegen die „Grundthesen“ seines Referats hätten seine Kritiker keine schwerwiegenden Einwände vorgebracht. Sie überschätzten allerdings „die Rolle der proletarischen Literatur jenseits der Sowjetgrenzen“.183 – „Lenin und sein bester Schüler, Genosse Stalin, haben uns gelehrt, wahrhaftig zu sein gegen uns selbst […]“. Unter diesem Aspekt müsse man bekennen, dass in der ganzen Welt die proletarische Literatur nicht in Blüte stehe, sondern lediglich ihre ersten Schritte mache. Sie sei auf „Bundesgenossen“ angewiesen, um sich durchzusetzen. Sie müsse „unter Künstlern, die dem Proletariat zustreben“ nach „Verbündeten“ suchen, um von ihnen schriftstellerische Meisterschaft zu lernen. Wer das in „kommunistischer Überheblichkeit“ negiere, wie Willi Bredel, der denke die Dinge nicht zu Ende. Radek sagte: „Die meisten Menschen pflegen im Leben nicht alles zu Ende zu denken“ und er übte Selbstkritik: „Als ich dem Trotzkismus verfiel, ahnte ich auch nicht, dass ich nach 25jähriger Teilnahme an der Arbeiterbewegung als Kämpfer auf der anderen Seite der Barrikaden stehen würde […].“ Darum: „Seid auf der Hut Genossen!“184 Um Wiedergutmachung bemüht, lobte er ausdrücklich die aus seiner Sicht konstruktiven Diskussionsbeiträge der Franzosen André Malraux und Jean Richard Bloch. Sie müsse man zu den „Künstlern zählen, die dem Proletariat zustreben“ würden. Demgegenüber setzte er sich kritisch mit der „sehr wichtigen und sehr gefährlichen Rede“ von Wieland Herzfelde über James Joyce auseinander. Er wolle nicht in Abrede stellen, dass Joyce ein großer Künstler sei. Aber: „Joyce’ Form entspricht Joyce’ Inhalt und Joyce’ Inhalt ist ein Spiegelbild vom Reaktionärsten, was das Kleinbürgertum aufzuweisen hat.“ Joyce habe „den Aufstand der Iren, der damals [1904] schon in Vorbereitung war, nicht darum übersehen, weil er erst zehn Jahre später ausbrach, sondern weil ihm nur das mittelalterliche, Mystische und Reaktionäre am Kleinbür181 Ebenda, S. 244. 182 Schlußwort Karl Radeks am 26.August 1934; Dok. Nr. 22 in: Schmitt/Schramm, a.a.O., S. 265– 280. 183 Ebenda, S. 265f. 184 Ebenda, S. 268.

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gertum, die Wollust, das Abartige, wesensverwandt und alles aber, was das Kleinbürgertum zur Revolution hintreiben kann, wesensfremd ist.“ Radek bemängelte, dass bei einigen sowjetischen Schriftstellern“ ein ungesundes Interesse für Joyce festzustellen ist“185 und urteilte: „Joyce steht auf der anderen Seite der Barrikaden. Damit will ich natürlich nicht sagen, daß Herzfelde ein konterrevolutionärer Schriftsteller wäre. Das meine ich nicht. Ich meine nur, daß von Joyce nichts Wesentliches zu lernen ist. Wenn ihr sagt, ihr könntet von Joyce in technischer Hinsicht lernen, so bestreite ich das nicht. Ich habe keine Romane geschrieben, aber ich glaube, wenn ich Romane schreiben wollte, würde ich bei Tolstoj und Balzac186 in die Lehre gehen, nicht bei Joyce.“187

Als Devise rief er den versammelten Sowjetschriftstellern und den ausländischen Gästen zu: „Unser Weg führt nicht über Joyce, sondern über die breite Straße des sozialistischen Realismus.“188 Anschließend an Radeks Rechtfertigungsrede billigten die Veranstaltungsteilnehmer pflichtschuldigst eine bombastische ideologietriefende Resolution mit der Kernaussage: „Der 1. Unionskongreß der Sowjetschriftsteller stellt nach Entgegennahme des Referats des Gen[ossen]. Radek über die internationale schöne Literatur und nach einem Meinungsaustausch zu seinem Referat fest, […] daß […] der internationalen revolutionären Literatur die Zukunft gehört, da sie mit dem Kampfe der Arbeiterklasse um die Befreiung der gesamten Menschheit verbunden ist.“189

Wohl repräsentativ für den Eindruck, den die Ausführungen Radeks auf kritische Gäste des Kongresses hinterließen, ist das, was der Schriftsteller Klaus Mann190 notierte: „Die Rede Karl Radeks über die internationale Literatur war, nach dem einführenden Gor’kij-Referat, das zentrale Ereignis des Kongresses. Es ist fraglos, daß diese Rede enttäuschte. In der Diskussion, die nachher lebhaft einsetzte, wurde Radek von vielen Seiten attackiert, und oft heftig. Seine abschließende Erwiderung war konzentrierter und geistvoller, als es seine Rede gewesen war. 185 Ebenda, S. 273–280. 186 Balzac, Honoré de (1799–1850); französischer Schriftsteller. 187 Schlußwort Karl Radeks, a.a.O., S. 280. 188 Ebenda. 189 Resolution des Ersten Allunionskongresses der Sowjetschriftsteller zum Referat Karl Radeks über internationale schöne Literatur, 26.8.1934; Dok. Nr. 23, in: Schmitt/Schramm, a.a.O., S. 281– 282. 190 Mann, Klaus (1906–1949); deutscher Schriftsteller, der seit 1933 in der Emigration lebte; Sohn von Thomas Mann.

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Karl Radek gilt als glänzender Außenpolitiker. Nicht so zuständig scheint er mir in den Angelegenheiten des Schrifttums. Seine Darstellung der weltliterarischen Situation war roh und schematisch; übrigens enthielt sie Unrichtigkeiten. Sowohl was die Leistungen der deutschen proletarischen Literatur – er hatte einige Namen wahllos herausgegriffen – als auch die Haltung der ,links-bürgerlichen‘ Schriftsteller während des Krieges betrifft, widersprachen ihm deutsche Delegierte. […] Wieland Herzfelde antwortete Radek auf einen Angriff, den dieser gegen James Joyce unternommen hatte. Dieser Angriff auf Joyce war typisch für Radeks gesamte Haltung. Er warnte vor dem Einfluß des großen Iren und nannte ihn kleinbürgerlich weil der Ulysses nur individualistische, keine sozialen Inhalte habe [...]. Als noch peinlicher empfand ich einige Sätze, die er Marcel Proust191 widmete. Ein Gegenstand des Sarkasmus war ihm, daß Proust sieben Gerüche gleichzeitig unterscheiden konnte, und daß seine Kritiker – auch seine sowjetrussischen – ein Rühmens davon machen. In Arbeiterwohnungen – meinte Radek – gebe es meistens nur einen Geruch, den nach Kohl; man täte besser daran, helle, saubere Arbeiterhäuser zu bauen [...]. Was sollte die recht vulgäre Ironie Karl Radeks? [...].“192

Das Fazit Klaus Manns lautete: „Das Referat über die Weltliteratur hätte man lieber von einem Kompetenteren gehört [...]; von Ilja Ėrenburg.“193 Wenig begeistert von Radeks oratorischen Qualitäten war auch Ruth von Mayenburg. Sie erlebte ihn im Sommer 1934 als Hauptredner auf einer Massenversammlung von in die Sowjetunion geflüchteten Teilnehmern des österreichischen Schutzbundaufstandes194: „Radek sprach deutsch – und enttäuschend. Pathetisch-phrasenhaft entbehrte seine Rede der Brillanz politischer Gedanken und Formulierungen, die ihn als Redner weit über die Sowjetunion hinaus berühmt gemacht hatten.“195 Weitaus mehr angetan von Radek waren westliche Diplomaten und Journalisten. Noch immer galt, was Valeriu Marcu 1929 über Radek geschrieben hatte: „Er ist der inoffizielle Propagandist russischer Zustände und verkehrt mit den meisten in Moskau weilenden fremden Journalisten, die ihn dann in der Weltpresse als gescheitesten Menschen und begabtesten Kollegen schildern. Er imponiert den Journalisten, die in Moskau nur begeisterten Parteigenossen begegnen. Radek spielt vor ihnen den Weltmann, den Skeptiker, macht auf Blößen der bolschewistischen Zustände selbst auf-

191 Proust, Marcel (1871–1922); französischer Erzähler. 192 Mann, Klaus: Notizen in Moskau; Dok. Nr. 36 in: Schmitt/Schramm, a.a.O., (S. 407–421), S. 412. 193 Ebenda, S. 413. 194 In Österreich löste im Februar 1934 die provokatorische Durchsuchung des Linzer Arbeiterhauses „Hotel Schiff“ durch austrofaschistische Heimwehr, Militär und Polizei den Widerstand des sozialdemokratischen „Republikanischen Schutzbundes“ aus und führte vom 12. bis zum 15. Februar 1934 zu bürgerkriegsähnlichen Kämpfen. 195 Mayenburg, Blaues Blut und Rote Fahnen, S. 135.

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merksam, führt einen ironischen Kampf mit dem Schleier um die Dinge, prägt glückliche Bonmots, die dann die Runde in der großen Tagespresse Europas machen.“196

Besonders Amerikaner schätzten den Umgang mit ihm. Harrison Salisbury197, 1934 Korrespondent der New York Times in Moskau, erzählt von den Diskussionen, die junge amerikanische Diplomaten wie George Kennan198, Charles Bohlen199, Loy Henderson200 mit Karl Radek und auch Nikolaj Bucharin im Spaso-Haus201 und in der Mochovskaja-Straße202 führten. Die Amerikaner hätten mit ihren brillanten Gesprächspartnern oftmals bis in die frühen Morgenstunden getrunken und debattiert. Bei einer Unterhaltung mit US-Botschafter William Bullitt hat Radek in seiner allbekannten redseligen Wichtigtuerei sogar einmal ein Staatsgeheimnis ausgeplaudert. Auf einem diplomatischen Empfang in der tschechoslowakischen Botschaft, so berichtete Bullitt in einem vertraulichen Memorandum an Außenstaatssekretär Cordell Hull203, habe Radek ihm gegenüber eine Unterredung nahezu wörtlich wiedergegeben, die er, Bullitt, mit dem polnischen Außenminister Josef Beck204 geführt habe und in der Beck darauf beharrt hatte, dass Berichte über ein geheimes Einvernehmen zwischen Deutschland und Polen völlig unbegründet seien. Zum Erstaunen Bullitts fügte Radek leichthin an, dass seine Quelle ein „Maulwurf“ wäre, den die Sowjets in der nach dem Tode Piłsudskis in Polen regierenden Obristenjunta platziert hätten. Bullitt machte Cordell Hull in einem Begleitschreiben eigens auf die Brisanz dieser Information aufmerksam. Sie müsse äußerst restriktiv gehandhabt werden, denn Radek würde gewiss im nächsten Zug nach Sibirien sitzen, wenn das bekannt würde.205 Im Jahre 1934 schien sich eine gewisse Konsolidierung des Sowjetstaates verbunden mit einem Nachlassen des innenpolitischen Drucks abzuzeichnen. Diese „halbliberale Ruhepause“206 wurde jäh beendet, als am 1. Dezember ein Komsomolze den 196 Marcu, S. 202f. 197 Salisbury, Harrison (1908–1993); amerikanischer Journalist und Buchautor; Pulitzerpreisträger. 198 Kennan, George Frost (1904–2005); amerikanischer Diplomat und Historiker; 1933–1937 Verwendung in Moskau. 199 Bohlen, Charles Eustice (1904–1974); amerikanischer Diplomat; in den 1930er Jahren an der US-Botschaft in Moskau tätig. 200 Henderson, Loy (1896–1986); amerikanischer Diplomat; 1934 Verwendung in Moskau. 201 „Spaso-Haus“: Moskauer Residenz des US-Botschafters am Spasopeskovskaja-Platz 10. Schauplatz der legendären Empfänge und Feste von Botschafter William Bullitt, die ihre literarische Verarbeitung in Michail Bulgakovs Roman „Der Meister und Margarita“ erfahren haben. 202 Die Diensträume der US-Botschaft in Moskau befanden sich 1934 im Vtorov-Gebäude an der Mochovskajastraße. 203 Hull, Cordell (1871–1955); 1933–1944 Staatssekretär (Außenminister) der USA. 204 Beck, Josef (1894–1944); seit 1932 polnischer Außenminister. 205 Depesche und Begleitschreiben Bullitts vom 21. Juni 1935; Decimal Archives, U.S. Department of State, MS Nr. 760.61/692, S. 5. Lerner, S. 163f. und Tuck, S. 128f. 206 Deutscher, Stalin, S. 378.

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Leningrader Parteisekretär Sergej Kirov erschoss. Der Mord bot dem Diktator den Vorwand zur schrittweisen Liquidierung der alten Revolutionäre in Partei und Armee, die in der kommenden großen Säuberung, der Čistka von 1936 –1938 den Höhepunkt erreichen sollte. Das Attentat löste eine Kampagne aus, die den früheren Mitgliedern der Opposition um Zinov’ev und dann Trockij die Verantwortung für den Mord zuschob. Radek stimmte in den Chor ein, der den Mörder und die angeblich „in der Kloake der Konterrevolution“ angesiedelten trotzkistischen Hintermänner verdammte. „Jeder Kommunist weiß“, schrieb er in den „Izvestija“, „daß die Partei den Rest dieser Bande mit eiserner Hand vernichten wird [...]. Sie werden zerschmettert, ausgerottet und vom Antlitz der Erde getilgt werden.“207 Vier Tage nach dem Erscheinen dieses Artikels wurden Zinov’ev und Kamenev verhaftet, im Januar 1935 in einem nichtöffentlichen Hochverratsprozess zu hohen Haftstrafen verurteilt und zur Verbüßung in das Gefängnis von Verchneural’sk überführt208, das zwei Jahre darauf auch zur Endstation Radeks werden sollte. Noch schien er sich von Stalin nicht unmittelbar bedroht zu fühlen, auch wenn ihn möglicherweise düstere Vorahnungen plagten. Gelegentlich deprimiert und desillusioniert, sprach er dem Alkohol zu. Er hatte bereits während des Schriftstellerkongresses unliebsames Aufsehen erregt und auch der englische Labour-Politiker Harold Laski209, der ihn 1935 in seiner Wohnung besuchte, traf ihn ziemlich betrunken an. „Wir haben hier keinen Marxismus mehr“ murmelte er, „bei uns gibt es nur noch ein Ritual.“210 Am 31. Oktober 1935 feierte er seinen 50. Geburtstag. Das Redaktionskollegium der „Izvestija“ gratulierte dem „lieben Karl Berngardovič“ am 4. November in einem fünfzehnzeiligen Beitrag. Mit herzlichen und freundschaftlichen Kampfesgrüßen würdigte man sein schöpferisches Leben, seine unverwechselbare Feder, seinen brillanten Verstand und seine Befähigung zu erhellender Kritik, die wie ein scharfgespitzter Pfeil tausende Meilen fliegt, ohne das Ziel zu verfehlen. Wenngleich er in der Vergangenheit auch politische Fehler gemacht habe, so sei er doch Manns genug gewesen, diese einzuräumen und mit seinem herausragenden Talent wieder der Partei zu dienen. Die Glückwunschadresse endete: „Wir wünschen aus ganzem Herzen, daß Sie für das Banner der großen Partei Lenins und Stalins noch für lange, lange Zeit auf Wacht stehen mögen.“211 Zu dieser Zeit arbeitete Radek längst in Stalins Verfassungskommission mit. Im Februar 1935 hatte der VII. Sowjetkongress eine Neuredaktion der Verfassung von 1924 beschlossen. Mit der Ausarbeitung wurde eine vom Zentralkomitee bestimmte 207 Radek, V kloake kontrrevoljucii [In der Kloake der Konterrevolution]; in „Izvestija”, Nr. 297 vom 12. Dezember 1934, S. 2. Tuck, S. 124. 208 Wassezki, S. 173f. 209 Laski, Harold (1893–1950); englischer Labour-Politiker; Unterstützer der Volksfrontpolitik. 210 Budenz, S. 138. 211 „Izvestija“ vom 4. November 1935. Tuck, S. 125.

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31-köpfige Kommission beauftragt, die erstmals am 7. Juli 1935 zusammentrat. Stalin hatte den Vorsitz, und auch Bucharin und Radek waren Mitglieder des Gremiums. Es hatte den Anschein, als solle dadurch die Versöhnung aller einstigen politischen Kontrahenten zum Werk der Schaffung einer neuen verfassungsmäßigen Ordnung dokumentiert werden. Bucharin und Radek avancierten sogar zu den Hauptautoren des Verfassungsentwurfs, über den sie häufig in den Spalten der „Pravda“ und „Izvestija“ schrieben.212 Die Thematik war Radek nicht fremd. Schon als Student in Krakau hatte er sich mit Verfassungsfragen befasst und ein Referat über die österreichische Verfassung gehalten.213 1918 begleitete er die Veröffentlichung des Textes der ersten russischen Sowjetverfassung mit einem 23 Seiten umfassenden militanten Kommentar, in dem er sie als „scharfe Waffe im Klassenkampf“ rühmte und als Vorbild für das europäische und amerikanische Proletariat nach dem Sieg der Weltrevolution empfahl.214 Die jetzt in Ausarbeitung befindlich Verfassung verfolgte andere Zwecke und verzichtete auf revolutionäre Terminologie. Sie sollte der Realität der Stalinära Rechnung tragen und die endgültige Überführung von Industrie und Kollektivwirtschaften als Doppelfundament der sowjetischen Gesellschaft ins Staatseigentum festschreiben, vor allem aber die Vorherrschaft der Partei zementieren. Zum ersten Mal in der sowjetischen Verfassungsgeschichte wurde die Partei formell erwähnt als „die Avantgarde der Werktätigen in ihrem Kampf für den Aufbau der kommunistischen Gesellschaft […] und der leitende Kern aller Organisationen der Werktätigen, sowohl der gesellschaftlichen, wie der staatlichen“. Stalin formulierte es einfacher: Das Ziel der neuen Verfassung sei es, die „Diktatur der Arbeiterklasse“ und „die jetzige führende Stellung der kommunistischen Partei unverändert zu erhalten“. Gleichzeitig ging es darum, den Sowjetstaat im Westen zu legitimieren. Um die Welt außerhalb der UdSSR von der demokratischen Natur des sowjetischen Regimes zu überzeugen, garantierte die Verfassung dem Buchstaben nach den Bürgern beträchtliche Freiheiten sowie den Republiken das Recht auf selbständige Entscheidungen und sogar auf den Austritt aus der Union. Auch wenn Stalin sie als die „einzige vollkommen demokratische Verfassung der Welt, deren Bedeutung ohne Beispiel ist“, bezeichnete, so stand das alles nur auf dem Papier und hatte keine praktischen Auswirkungen. Die Demokratie vortäuschenden Inhalte zielten vor allem darauf ab, die potentiellen Unterstützer der Sowjetunion in der westlichen Welt, Sozialisten und Liberale, auf die Seite der Sowjetunion zu ziehen.215 Die Reaktion auf die neue sowjetische Verfassung selbst bei aufgeklärten Personen außerhalb der UdSSR zeigte, dass Stalin die Leichtgläubigkeit, Kenntnislosigkeit oder Bereitschaft, sich überzeugen zu lassen bei seinen 212 Deutscher, Stalin, S. 382. 213 Drobner, S. 221. 214 Radek, Karl, O sovetskoj konstitucii (Pis’mo k innostr. rabočim’) [Über die sowjetische Verfassung (Brief an die internationalen Arbeiter)], Moskva 1918. In deutscher Sprache: Struthahn, Arnold [das ist Radek, Karl], Die Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Räte-Republik, Zürich 1918. Siehe auch oben, Kapitel 8. 215 Nettl, Der Aufstieg der Sowjetunion, S. 153; Schapiro, S. 429ff.

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ausländischen Zuhörern nicht überschätzt hatte.216 An der Propagandafront half Radek eifrig mit, Stalins Täuschungsmanöver zu unterstützen. Als am 12. Juni 1936 der Text der neuen Verfassung in der Sowjetpresse veröffentlicht und zur „Diskussion“ gestellt wurde, durfte er den Entwurf in der „Pravda“ vorstellen, wovon selbst die New York Times wohlwollend Notiz nahm.217 In der Baseler „Rundschau“ erläuterte er mit Blick auf Westeuropa den Unterschied zwischen bürgerlicher und sozialistischer Demokratie.218 Die sowjetische Demokratie sei im Vergleich zum pseudodemokratischen bürgerlichen Staat ein höherer Typ der Demokratie. Die Kapitalisten sind in ihr enteignet, ihre Herrschaft ist gebrochen und damit die soziale Demokratie verwirklicht worden. Der Staat habe seinen Charakter als Unterdrückungsinstrument einer Klasse verloren. In der Sowjetverfassung seien die sozialen Grundrechte weiter ausgebaut als in westlichen Demokratien, alle Forderungen des Konstitutionalismus einschließlich des Föderalismus seien verwirklicht worden. Neben seiner Tätigkeit in der Verfassungskommission war Radek an der Seite Bucharins auch in zwei kulturpolitische Projekte Stalins eingebunden. Er wurde mit „Arbeiten zur Geschichte“ beauftragt, welche die Revision der bolschewistischen Geschichtsinterpretation mit der daraus resultierenden Einführung des Schulunterrichts in „vaterländischer Geschichte“ zum Inhalt hatten. Hinzu kam das Projekt einer Strukturreform im Bereich der Gesellschaftswissenschaften, das die Übernahme der „Kommunistischen Akademie“219 in die „Akademie der Wissenschaften der UdSSR“ vorsah. Am 15. Mai 1934 hatte ein Beschluss des Zentralkomitees und des Rats der Volkskommissare den Startschuss für die Wiederentdeckung der nationalen Geschichte als Grundlage eines bewusst geförderten Sowjetpatriotismus gegeben. In den Schulen der UdSSR sollte auf der Grundlage neugefasster Lehrbücher vaterländische Geschichte unterrichtet und an den Universitäten historische Fakultäten neu gegründet werden. Die Resolution markierte die Abkehr vom „Soziologismus“ der Pokrovskij-Schule. Seit 1905 mit Lenin bekannt und Parteimitglied, hatte der Historiker Pokrovskij das von historischer Tradition entwertete und von revolutionären Zukunftserwartungen geprägte bolschewistische Geschichtsbild geprägt. Pokrovskij war 1932 gestorben und jetzt sollte an die Stelle des Glaubens an die Weltrevolution der sozialistische bzw. sowjetische Patriotismus als ideologische Grundlage für den Aufbau des Sozialismus treten. 216 Schapiro, S.  431. Lion Feuchtwanger schrieb beispielsweise 1937: „Das Gesicht der bauenden [Sowjet-]Union ist die Demokratie, die sie in ihrer Verfassung als ihr letztes Ziel manifestiert.“ Feuchtwanger, S. 143. 217 New York Times vom 14. Juni 1936. The New York Times Index, Year 1936. 218 Radek, „Bürgerliche und sozialistische Demokratie“; in: „Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung“ (Basel), Nr. 36 vom 13. August 1936. Hedeler, S. 70. 219 „Kommunistische Akademie“, auch bekannt als „Sozialistische Akademie für Gesellschaftswissenschaften“; 1918 auf Vorschlag von M. N. Pokrovskij gegründet. Nach kurzer Blüte in den 1920er Jahren wurde ihr vom „Marx-Engels-Institut“ und auch von der aus Leningrad nach Moskau verlegten „Akademie der Wissenschaften“ der Rang abgelaufen. 1936 wurde sie von der „Akademie der Wissenschaften“ vereinnahmt.

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Im August 1934 verfassten Stalin, Ždanov und Kirov eine kritische Stellungnahme zur Gestaltung der neuen Geschichtsbücher, die künftig als grundlegende Direktive für die Geschichtsauffassung und für methodische Fragen galt. Die Geschichtsbücher sollten der „Größe und Würde der nationalen Vergangenheit“ Rechnung tragen, womit ein klarer Akzent für eine Neubelebung des Nationalismus gesetzt wurde.220 Als sich der Kampf gegen die Geschichtsauffassung Pokrovskijs Anfang 1936 verschärfte, spielte Radek eine führende Rolle bei den Angriffen gegen seine Anhänger, denen wissenschaftliche Rückschrittlichkeit und politischer Trotzkismus vorgeworfen wurde.221 Am 27. Januar 1936 veröffentlichte Radek in den „Izvestija“ einen Stalins Absichten Rechnung tragenden Aufsatz über die Bedeutung der Geschichte für das Proletariat“.222 In derselben Ausgabe verurteilte Bucharin“ die haltlosen Ansichten Pokrovskijs und „rehabilitierte“ Peter den Großen.223 Knapp eine Woche später, am 2. Februar 1936, schickte Radek seine Vorschläge über die Umgestaltung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR an Stalin. Der leitete eine Kopie der Vorschläge an Molotov und Ždanov weiter und schrieb in seinem Begleitbrief: „Radek hat m. E. recht“. Er bezog sich auf Radeks Mitteilung, wonach dieser von Bucharin erfahren habe, dass die Akademie der Wissenschaften zum Monatsende eine öffentliche Sitzung zum Thema Geschichte plane. Er sei gegen eine solche Veranstaltung, schrieb Radek, und habe versucht, Bucharin von diesem Vorhaben abzuhalten: „Als ich ihn davon überzeugen wollte, das nicht zu tun, sagte Bucharin zu mir, das wird im ZK entschieden. Die Historiker fürchten nach dem Beschluß des ZK der KPdSU(B) auseinandergejagt zu werden. Die Schlußfolgerungen, die sie aus der Lage an der historischen Front ziehen, sind eher verschwommen. Die Front fault insbesondere im Bereich Russische Geschichte. Die Pokrovskij-Schule ist unterhöhlt. Es gab keinen Versuch, die Fehler auf der Grundlage der Leninschen Methode und der Leninschen Weisungen zu überwinden. Eine Akademiesitzung wird keine Antworten auf die Fragen geben können, die der Zerfall der Pokrovskij-Schule nach sich zieht. Ich bin der Meinung, daß die Session auf Ende Juni verschoben werden muß. Um die Lehrbücher zu schreiben, muß man zuerst die strittigen Fragen in einzelnen Arbeitsgruppen diskutieren. Unsere kommunistischen Akademiker wissen leider zu wenig. Wenn sie die alten Männer beeindrucken wollen, müssen sie gute Beiträge liefern und nicht nur damit hausieren gehen, daß Marx, Engels und Lenin viel besser waren, als alle bürgerlichen Wissenschaftler zusammengenommen.“224 220 Kernig, Band II, Sp. 937ff. 221 Timasheff, N., The Great Retreat. The Growth and Decline of Communism in Russia, New York, 1946, S. 253. Legters, S. 109. 222 Radek, Značenie istorii dlja proletariata [Die Bedeutung der Geschichte für das Proletariat]; in: „Izvestija“ vom 27. Januar 1936. Hedeler, S. 14. 223 Ebenda. Hedeler, S. 13. Peter I., „der Große“ (1672–1725); russischer Zar, der Russland Europa öffnete, innere Reformen durchsetzte und als Großmacht etablierte. 224 Hedeler, S. 17.

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Eine Woche darauf, am 8. Februar 1936, wurde entschieden, die „Kommunistische Akademie“ aufzulösen und ihr Personal sowie die wissenschaftlichen Einrichtungen in die „Akademie der Wissenschaften“ zu übernehmen. Anfang März erging der Beschluss des Rats der Volkskommissare über die Ausschreibung eines Wettbewerbs für ein neues Geschichtsbuch an Grundschulen. Zusammen mit den Vorgaben Stalins wurden die Artikel Radeks und Bucharins vom 27. Januar als „richtungweisend“ für die Abfassung des Lehrbuchs bezeichnet.225 Von 46 in aller Hast verfassten Lehrbüchern wählte dann eine Jury, der unter Vorsitz Stalins auch Radek und Bucharin angehörten, die von Professor Šestakov226 und einem Autorenkollektiv verfasste „Kurze Geschichte der UdSSR“227 aus, die in einer Auflage von zehn Millionen Exemplaren gedruckt wurde.228 Bis zum Sommer 1936 schrieb Radek weiter seine üblichen außenpolitischen Kommentare, hatte Anteil an verschiedenen Publikationen229 und pflegte diplomatische Kontakte. Im Schlepptau Marschall Tuchačevskijs und hoher sowjetischer Offiziere erschien er am 7. März auf einem Empfang in der italienischen Botschaft und gratulierte dem anwesenden deutschen Militärattaché Köstring ostentativ zu der am gleichen Tage erfolgten Rheinlandbesetzung durch die Wehrmacht.230 „Business as usual“. Es deutete nichts auf seinen bevorstehenden Sturz hin. *** In den Augen Stalins hatte Radek nach dem „polnischen Fiasko“ als Deutschlandexperte mit dem Regierungsantritt Hitlers seinen Wert behalten. Auch wenn die Sowjetunion dem Völkerbund beitrat, die Annäherung an den Westen suchte und das Rapallo-Kapitel abgeschlossen schien, wollte Stalin die deutsche Option als zweites Eisen im Feuer halten. Dafür nahm er Radeks Dienste als Berater, Mittelsmann und Einflussagent weiterhin in Anspruch. Die deutsche Botschaft in Moskau bezeichnete Radek in ihren Berichten nach Berlin als „den Vertrauensmann des Zentralkomitees für Außenpolitik“ und meldete sorgfältig alle von ihm gemachten Andeutungen, dass die Sowjetunion nicht zwangsläufig an die antideutsche Ausrichtung ihrer Au-

225 Beschluss des Rats der Volkskommissare über die Ausschreibung eines Wettbewerbs für ein neues Geschichtslehrbuch an Grundschulen vom 3. März 1936. Hedeler, S. 27. 226 Šestakov, Andrej Vasil’evič (1877–1941); Historiker und Schulbuchautor. 227 Originaltitel: „Istorija SSSR, kratkij kurs [Kurzer Lehrgang der Geschichte der UdSSR]“. 228 Souvarine, Stalin, S. 557. 229 Dazu zählen: Radeks Beitrag in: Jaroslavskij, Emel’jan, Partija v bor’be s oppozicijami [Die Partei im Kampf mit der Opposition], Moskva, 1936. Tarle, Evgenij Viktorovič, Napoleon. Pod redakc. K. Radeka, Moskva 1936. „Vnešnjaja politika Velikobritanii [Die Außenpolitik Großbritanniens]“, aus dem Englischen ins Russische übersetzte Aufsatzsammlung mit einer Einleitung von Karl Radek, Moskva 1936. 230 Teske, S. 125f.

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ßenpolitik gebunden sei.231 Entsprechend Stalins außenpolitischem Kalkül galt er im Berliner Auswärtigen Amt als „unser sowjetischer Freund“, während die deutsche Gestapo ihn bereits als „Sobelsohn alias Radek“ im Fahndungsbuch führte.232 Allerdings hatte Radek im Mai 1934 seine Vorzugsstellung im engsten Umfeld des Generalsekretärs mit der Herabstufung des BMI auf ein bescheidenes Anhängsel des CK verloren. Die Auflösung des BMI, das er sich mit seiner konspirativen Aufgabenfülle mit dem Segen Stalins selbst „maßgeschneidert“ hatte, blieb ihm wahrscheinlich nur deshalb erspart, weil ein solcher Schritt zu diesem Zeitpunkt die Desavouierung Stalins bedeutet hätte, der Radeks Aktivitäten persönlich gesteuert, seine Berichte aufmerksam gelesen und sich fast täglich mit ihm beraten hatte. Bereits ein Jahr darauf versank das BMI in die Bedeutungslosigkeit. Mitte Juni 1935 stellte es die Herausgabe seines an Spitzenfunktionäre des Kreml’ verteilten „Bulletin der ausländischen Presse“ ein und nach Radeks Verhaftung im September 1936 wurde es endgültig aufgelöst.233 In seinem Domizil im Regierungswohngebäude hatte Radek eine „Riesenbibliothek“, bestückt mit Büchern, die in der Sowjetunion außer ihm niemand lesen, geschweige denn besitzen durfte. „Alles was als ,Feindesliteratur‘ galt, ging durch seine Hände“ und „er war der einzige, der alle Gegenargumente kannte“, schreibt Gustav Regler und wundert sich: „Wie er sich gegen die Spaltung seines Bewußtseins schützte, ist mir nie klar gewesen.“ Für Regler, der später mit Stalin brach, bildete in den 1930er Jahren Radek den lebenden Beweis für die Richtigkeit der kommunistischen Weltanschauung: „Daß Radek nie aus seiner Bücherburg ausgebrochen war, daß es ihn nie gelüstet hatte, Moskau mit Paris zu vertauschen, kurz, daß er nie dem Glanz der Gegenargumente verfallen war, schien mir damals Beweis, wie stichhaltig letzten Endes der Marxismus sein mußte. Dieser außergewöhnliche Mann war ein Kronzeuge im Prozeß der neuen gegen die alte Welt.“234

Als Kulturfunktionär betätigte sich Radek für Stalin an der „historischen Front“ und half zusätzlich mit, den politischen Rahmen zu formulieren und zu propagieren, der für die thematische und formale Reglementierung der Sowjetliteratur durch das Dogma des Sozialistischen Realismus bestimmend wurde. Es kann keine Rede davon sein, dass er – wie Schurer meint – vor dem internationalen Auditorium des Mos231 Auswärtiges Amt, Documents on German Foreign Policy, 1918–1945, Series C, II, Washington (Government Printing Office) 1959, S. 297 und S. 333f. Lerner, S. 161. 232 Richard Krebs berichtet, dass ihm 1936 in Gestapo-Haft ein dicker hektographierter Band mit dem Titel Verzeichnis der Internationalen Agenten der GPU und der Komintern vorgelegt wurde, ein vom Gestapohauptamt in Berlin zusammengestelltes Fahndungsbuch mit Fotos und biographischen Angaben von etwa 7.000 Personen, darunter auch Karl “Sobelsohn alias Radek”. Valtin [das ist Richard Krebs], S. 540. 233 Ken, S. 176. 234 Regler, S. 283.

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kauer Schriftstellerkongresses 1934 versucht hat, die stalinistische Kulturpolitik insgeheim der Lächerlichkeit preiszugeben.235 Er nutzte das Treffen vielmehr als Plattform, um das neue Dogma vor den ausländischen Gästen ernsthaft zu propagieren. Er verband das mit dem Werben um die politisch linksorientierten Schriftsteller des Westens, „die dem Proletariat zustreben“, insbesondere diejenigen, „die den Willen und den Wunsch spüren […] der Sowjetunion beizustehen“. Unter ihnen müssten die Kommunisten „nach Verbündeten suchen“. Der Versuch also, eine „Volksfront“ der Literaten aufzubauen, getreu dem alten Rezept der Radekschen Einheitsfronttaktik.236 „Radek“, so schrieb Ende der 1920er Jahre ein Kenner seiner Person, „[…] liebt sogar in nebensächlichen Dingen die Opposition, aber unter den Allüren der Sorglosigkeit um seine persönliche Existenz versteckt er eine große Vorsicht vor den Mächtigen des Tages. Die Jahre lassen ihm die Bonmots und nehmen ihm die innerlichste Substanz: das Revolutionäre, den unbeugsamen Willen einer für richtig befundenen Idee.“237

Diese Charakteristik traf auch noch in den 1930er Jahren auf Radek zu, wenngleich er Stalin gegenüber nicht nur Vorsicht walten ließ, sondern vor ihm geradezu auf dem Bauch kroch.238 Er gab den reuigen Trotzkisten, und betätigte sich als Hagiograph. Sein ominöser „Baumeister“- Artikel skizzierte die Grundlage für den künftigen Personenkult um Stalin, wobei ihm der Hitlerkult in Deutschland zur Vorlage diente. Beeindruckt vom Organisationstalent der Nationalsozialisten, griff Radek bedenkenlos auf deren Erfahrungen zurück.239 Der prominente Sowjetpublizist, „der Tagestaktiker mit dem Giftschrank in seinem Turm, der Aktivist und Losungsfabrikant“240, dessen Büste im Moskauer Revo-

235 Schurer (Part II, S. 138): schreibt: „In seiner Rede übte er [Radek] aus Sicht des sozialistischen Realismus Kritik an James Joyce. Dieser habe versäumt in seinem „Ulysses“ den irischen Osteraufstand von 1916 zu erwähnen. Da Radek bekannt gewesen sein muß, daß die Handlung des Romans im Jahre 1904 spielt, kann er mit seinem absurden Vorwurf nur versucht haben, die stalinistische Kulturpolitik insgeheim der Lächerlichkeit preiszugeben“. Tatsächlich hat sich Radek zur Frage der Behandlung des Osteraufstands durch Joyce in seiner Rede und in seinem Schlusswort jedoch wesentlich differenzierter geäußert. Vgl. oben. 236 Radeks Bemühungen waren ein Vorgriff auf das im Sommer 1935 zur offiziellen Taktik der Komintern erhobene Volksfrontkonzept, das im Kern vorsah, Kommunisten im Bündnis mit Sozialdemokraten zum Motor antifaschistischer Massenbewegungen zur Schaffung linker Volksfrontregierungen in den Ländern des Westens zu machen. 237 Marcu, S. 203. 238 Brief Sedovs an Trockij vom 20. August 1936, in dem er Radek „als nun fast 10 Jahre auf dem Bauch kriechende[n] Halunken“ bezeichnete. Hedeler, S. 75. 239 Heller/Nekrich, Band I, S. 222. 240 Regler, S. 286.

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lutionsmuseum stand241, erwies sich in seinem Oeuvre als ein ausgemachter Stalinist. Ohne Skrupel wirkte er an der Errichtung der Potemkinschen Fassade für Stalins Sowjetunion mit, die ein dem Frieden, dem sozialen Fortschritt und der Humanität verpflichtetes Arbeiterparadies vorspiegelte. Er möge „noch lange leben und sich prächtiger Gesundheit erfreuen“, wünschte ihm ein westlicher Bewunderer und „sei es allein aus dem Grund, daß er mehr als jeder andere sowjetische Autor dem ausgedehnten und irgendwie trockenen Feld der Sowjetpropaganda Farbe und Lebendigkeit hinzugefügt hat.“242 In Wahrheit waren Radeks Tage bereits gezählt. Stalin war seit langem zur Endabrechnung mit der ehemaligen Opposition entschlossen und dachte gar nicht daran, den einstigen „Trotzkisten“ zu verschonen. Auf einem Fotoporträt aus den 1930er Jahren erinnern nur noch die Hornbrille und die Schifferfräse als unvermeidliche Attribute an das überkommene RadekImage. Das Bild zeigt einen blassen, halbkahlen, ältlichen Mann, der mit melancholischem Blick den durch eine Stirnglatze betonten großen eiförmigen Schädel in die Schultern einzieht243 – „ein Toter auf Urlaub“. Jetzt stimmte, was ein hellsichtiger Zeitgenosse über ihn bereits sieben Jahre zuvor zu Papier gebracht hatte: Radek, „der Vielbewegte, der Vielschreibende, der Lebendigste in allen Situationen, ist nur ein Schatten mit einer immer sich bewegenden Feder, der den ewig gleichen, halbamtlichen Artikel russischer Politik schreibt.“244 In einem letzten Akt des „window-dressing“ propagierte Radek die von ihm mitgeschaffene „Stalin-Verfassung“ als die „demokratischste Verfassung der Welt“. Ihre Verabschiedung auf dem VIII. Sowjetkongress im Dezember 1936 erlebte er nicht mehr in Freiheit. Der in dieser Verfassung garantierten Rechte beraubt, war er zu diesem Zeitpunkt bereits als „Volksfeind“ verhaftet und wurde vom Untersuchungsrichter des NKVD245 verhört.

241 Die ungarische Bildhauerin Boriska Sinkó, Schwester des in Moskau lebenden Schriftstellers Ervin Sinkó, hatte diese Radek-Büste geschaffen. Sinkó, S. 293. 242 A. J. Cummings in: Radek, Portraits and Pamphlets, S. XIX. Lerner, S. 161. Übersetzung durch den Verfasser. 243 Wiedergabe in: Lerner, gegenüber S. 83. 244 Marcu, S. 202. 245 Am 10. Juli 1935 wurde die Geheimpolizei OGPU in ein reorganisiertes Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKVD) übernommen, dem alle Polizei- und Sicherheitsaufgaben übertragen wurden.

22.  „Nach allem, was ich für Stalin getan habe!“ (1936–1939) Die Verschärfung des politischen Terrors nach der Ermordung Kirovs bekam Radek zunächst nicht am eigenen Leibe zu verspüren. Er war der wichtigste journalistische Sprecher für die Außenpolitik des Kreml’ und arbeitete in der Verfassungskommission zusammen mit Stalin und Bucharin an einem Tisch. 1936 ließ Stalin ihm angeblich sogar einen neuerlichen Vertrauensbeweis zuteil werden und soll ihn mit einer diplomatischen Geheimmission in Danzig beauftragt haben.1 Radek war zwar nicht wieder ins Zentralkomitee der Partei aufgenommen worden, aber er war ohne Ehrgeiz. Im Vergleich zum Schicksal mancher seiner Freunde aus der Linksopposition hatte er ein privilegiertes Leben als Chef der aussenpolitischen Redaktion der „Izvestija“ und in seiner Nischenexistenz als Leiter des Büros für Internationale Information beim CK der VKP(b), das immer noch ein Schattendasein führte. Von denen, die gemeinsam mit ihm kapituliert hatten, befand sich Preobraženskij seit 1933 wieder in der Verbannung. I. N. Smirnov saß seit 1933 und Smilga seit Januar 1935 im Polit-Isolator von Verchneural’sk. Dort verbüßten auch Zinov’ev und Kamenev ihre Haftstrafen. Mračkovskij hatte man im März 1935 ins Besserungsarbeitslager geschickt. Andere schienen glimpflich davongekommen zu sein. Pjatakov war wieder ins CK aufgenommen worden und Stellvertretender Volkskommissar für die Schwerindustrie. Sokol’nikov hatte man zum Kandidaten des CK gewählt und zum Ersten Stellvertretenden Volkskommissar für Forstwirtschaft ernannt. Er war ebenfalls Angehöriger der Verfassungskommission. Serebrjakov bekleidete eine leitende Position in der Verwaltung für Verkehrswesen. Aber auch Führer der Rechtsopposition befanden sich in Amt und Würden. Bucharin war CK-Mitglied und Chefredakteur der „Izvestija“ und Rykov Kandidat des CK und Volkskommissar für Post- und Telegraphenwesen. Andere, die gleichfalls ihren Frieden mit Stalin gemacht hatten, wie Rakovskij, Krestinskij, Karachan, Antonov-Ovseenko, wirkten auf Auslandsposten als Botschafter oder Leiter sowjetrussischer Handelsvertretungen. Der Mord an Kirov hatte eine Lawine des Schreckens ausgelöst. Eine Schlüsselrolle bei der nun anlaufendenden „großen Säuberung“, in der Stalin die alte Parteigarde liquidierte, spielte Nikolaj Ivanovič Ežov2, den Stalin zum wichtigsten Hel1 Den einzigen Hinweis auf die Reise nach Danzig gibt Alexandrow (S. 70–82). Demnach hat Radek im Vorort Oliva mit Vertretern der deutschen Reichsregierung Gespräche geführt, deren Inhalt jedoch im Dunkeln blieb. Möglicherweise sondierte er ein Zusammengehen gegen Polen oder eine Wiederaufnahme der militärischen Kooperation mit Deutschland. Von seinen Gesprächspartnern im Zusammenhang mit Stalins Säuberungen auf sein persönliches Schicksal angesprochen, soll Radek geäußert haben: „Bei uns in der UdSSR ist alles möglich […] alles kann geschehen. Es ist sogar möglich, dass ich überlebe.“ 2 Ežov, Nikolaj Ivanovič (1895–1940); 1934–1939 Vorsitzender der Parteikontrollkommission des CK der VKP(b) und Sekretär des CK. Vom 6.9.1936–25.11.1938 Volkskommissar des Innern der UdSSR. 1939 verhaftet und 1940 hingerichtet. Zeitzeugen, die ihn am Anfang seiner bolschewi-

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fer bei der Verwirklichung seiner Pläne gemacht hatte. Ežov war CK-Mitglied und Stellvertretender Vorsitzender der Parteikontrollkommission, als er von Stalin den Auftrag erhielt, den Kirov-Mörder „unter den Zinov’ev-Leuten“ zu suchen“. Faktisch zum Vertreter Stalins im NKVD ernannt, lenkte er die Untersuchung in die von Stalin gewünschte Richtung. Im Februar 1935 zum Sekretär des CK und zum Vorsitzenden der Parteikontrollkommission befördert, kontrollierte er weiterhin das NKVD und hatte noch an Macht gewonnen. Als Stalin forderte, einen Fall über ein erfundenes vereinigtes „trotzkistisch-sinowjewistisches Zentrum“ zu inszenieren, das angeblich seine Anweisungen für Terroranschläge auf die Führer der VKP(b) aus dem Ausland von Trockij erhalten hatte, nahm Ežov die Angelegenheit in die Hand und setzte sie in der skeptischen NKVD-Spitze durch. Das Ergebnis war der erste große Moskauer Schauprozess, der „Prozess der Siebzehn“, vom 19.–24. August 1936, gegen die bereits zu Haftstrafen verurteilten ehemaligen Oppositionsführer Zinov’ev, Kamenev, I. N. Smirnov, Mračkovskij und dreizehn weitere „Trotzkisten“. Sie wurden alle erschossen.3 Die Hexenjagd nach „Trotzkisten“ hatte das politische Klima in Moskau schon lange geprägt. Auf dem Schriftstellerkongress von 1934 glaubten deutsche Stalinisten bereits, Radek trotzkistische Auffassungen unterstellen zu müssen.4 Symptomatisch war auch die Reaktion der nach Moskau emigrierten österreichischen Kommunistin Ruth von Mayenburg, die Radek verdächtigte, „ein heimlicher Trotzkist“ zu sein. Als er bei einer Rede in deutscher Sprache das auch von Trockij verwendete Wort „Flugsand“ gebrauchte, flüsterte sie dem neben ihr sitzenden Versammlungsteilnehmer aufgeregt zu: „Er ist ein Trotzkist, hörst du das nicht? Er hält uns eine trotzkistische Rede, weil er deutsch spricht, nimmt er sich nicht in acht!“5 Ein Anzeichen dafür, dass Radek höheren Orts an Wohlwollen verloren haben musste, war eine Episode, die ein Oberst des NKVD kolportierte. Der Offizier erzählte von einem Streich, den man Karl Radek gespielt hatte, als er im Geheimdienst einen Vortrag halten sollte. Radek sah sich genötigt einige Male anzurufen, um sicherzustellen, dass ihn ein Sonderfahrzeug abholen würde. Und man schickte ihm eines – einen Tank. Er habe sich zwar zunächst geniert einzusteigen, sei aber schließlich doch mitgefahren. „Wir haben ihn damit durch die holprigsten Straßen kutschiert, so daß ihm fast das Gehirn aus dem Schädel flog“, amüsierte sich der NKVD-Mann.6 Eine der „erzieherischen Maßnahmen“ Stalins für missliebige Kader war das „wieder laufen lernen“, das heißt

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stischen Funktionärskarriere in Kazachstan erlebten, schilderten ihn als feinfühligen, humanen, weichherzigen Menschen mit Taktgefühl. Als Stalins eifrigster Organisator des nach ihm auch Ežovščina” genannten „großen Terrors“ mit seiner unbeschreiblichen Grausamkeit, galt er dann unter Anspielung auf seine Körpergröße von 154 cm zu Recht als „blutrünstiger Zwerg“. Chlewnjuk [Chlevnjuk], S. 286–289. Siehe oben, Kapitel 21. Mayenburg, Blaues Blut und Rote Fahnen, S. 135. Der US-Journalist Whittaker Chambers (geboren 1901), der 1938 mit dem Kommunismus brach, bekam diese Episode zur Zeit des Radek-Prozesses 1937 von NKVD-Oberst Boris Bykov erzählt. Chambers, S. 438f.

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der Entzug des Dienstwagens. Allein die Tatsache, dass Radek mehrfach um die Gestellung eines Fahrzeugs bitten musste, zeigte an, dass er in Ungnade gefallen war. Ohne Billigung „von oben“ wäre ein solcher Affront undenkbar gewesen.7 Im Frühjahr 1936 stand Radek jedenfalls schon offiziell unter Verdacht. Erkennbar wurde das bei der Vorladung führender sowjetischer Wirtschaftswissenschaftler durch Ežov am 20. März 1936. Er hatte Radeks alten Bekannten Professor Varga und einige Mitarbeiter seines Instituts für Weltwirtschaft und Weltpolitik an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR zu sich bestellt und erklärte ihnen, es gäbe vor allem unter den Emigranten zahlreiche von ausländischen Geheimdiensten angeworbene Spione. Ežov betonte, Stalin habe doch zur Wachsamkeit aufgerufen und verlangte sofortige Auskünfte über Mitarbeiter der Akademie, die Zinov’ev, Kamenev, Bucharin und Radek nahestanden. Zinov’ev und Kamenev hatten bereits in ihrem Prozess im Januar 1935 die moralische Schuld am Tode Kirovs auf sich genommen und befanden sich im Gefängnis. Und nun forschte man auch nach Verbindungen zu Radek und Bucharin, die sich in prominenten Positionen und in Freiheit befanden! „Wir gingen völlig verdattert weg“, erinnerte sich einer der vorgeladenen Professoren.8 Im Juni wurde in der deutschen Sektion des Moskauer Verlags Ausländischer Arbeiter in der UdSSR bereits offen Unmut über Radek geäußert. Man hatte dort, nach eigener Auffassung, „eine gute Übersetzung“ des am 12. Juni in der Presse veröffentlichten Entwurfs der neuen Sowjetverfassung gefertigt und schimpfte darüber, dass diese Version verworfen und angeordnet wurde, dass eine unter „Oberleitung des Trotzkisten Radek von dessen Helfershelfer [im Verlag] […] hergestellte, aus diesem Grunde untaugliche, kompromittierende Übersetzung“ in einer Auflage von 110.000 Exemplaren in Druck gehen musste.9 Wenn man bedenkt, wie auf dem Schriftstellerkongress die deutsche Kritik an Radek noch vom CK niedergebügelt worden war, ein Indiz dafür, dass Radeks Nimbus als „Stalins Freund“ nunmehr auch beim Fußvolk der Partei zu erodieren begann. Wirklich alarmiert muss Radek jedoch gewesen sein, als „Trotzkisten“ aus der nachgeordneten Führungsebene und kurz vor dem ersten Schauprozess Serebrjakov verhaftet wurden. In einem Artikel über das Strafverfahren gegen Zinov’ev und Kamenev im Januar 1935 hatte Radek seinerzeit die Angeklagten als die „ehemaligen Häuptlinge des trotzkistisch-sinowjewistischen Blocks“ beschimpft, „die zur Konterrevolution hinabgeglitten“ seien“ und geschrieben, das Sowjetgesetz „wisse, wie man mit jenen umzugehen hat, die es versuchen, die Grundpfeiler der proletarischen Revolution zu erschüttern“.10 Jetzt waren neue Beschuldigungen gegen die damals Verurteilten erhoben und ein Schauprozess anberaumt worden. Das Zentralkomitee versandte Ende 7 Tuck, S. 125. 8 Hedeler, S. 33. 9 Ebenda, S. 52. Die Frage des Radekschen Textes spielte dann eine große Rolle auf deutschen Parteiversammlungen, die nach Radeks Verhaftung Mitte Oktober 1936 im Verlag stattfanden. Ebenda. 10 Aufsatz Radeks in: „Bol’ševik“, Nr. 3, 1935. Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 528f.

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Juli 1936 an die Parteiorganisationen ein internes Rundschreiben „Über die Spionage- und terroristische Tätigkeit des trotzkistisch-sinowjewistischen Blocks“. Darin hieß es, nach dem Mord an Kirov wollten Terroristengruppen jetzt die Stalinsche Sowjetführung ermorden.11 In den Zeitungsredaktionen wurden Journalistenbrigaden organisiert, die von einem verantwortlichen Redakteur geleitet, die Berichterstattung über den bevorstehenden neuen Zinov’ev-Kamenev-Prozess vorbereiteten. Dazu bestellte man bei Prominenten Artikel, in denen die Angeklagten verleumdet wurden.12 Am 17. August lautete die Schlagzeile auf der Titelseite der „Pravda“: „Das Land verflucht die heimtückischen Mörder“. Um sein eigenes Schicksal fürchtend, begann Radek jetzt panisch zu reagieren. Wie auch Pjatakov13, entwürdigte er sich in geifernden Tiraden gegen die einstigen Führer der Opposition. Er forderte in den „Izvestija“ und der „Pravda“, dass das Gericht „keine Gnade“ zeigen und dass man die verachtungswürdigen Mörder schonungslos vernichten möge.14 Stalin verfolgte in jenen Tagen aufmerksam die den Prozess betreffende Zeitungsberichterstattung.15 Am 19. August 1936, dem ersten Verhandlungstag gegen Zinov’ev, Kamenev und ihre Mitangeklagten, ließ er sich von Ežov und seinem Vertrauten Kaganovič über den Verlauf des Verfahrens und Radeks Artikel in der Presse informieren. Als man auf eine mögliche Verhaftung Radeks zu sprechen kam, riet Stalin schon wegen der Wirkung seiner Artikel auf ausländische Beobachter von einem solchen Schritt ab. Radek solle vielmehr die Möglichkeit erhalten, einen Artikel gegen Trockij in den „Izvestija zu veröffentlichen.16 Radek verfasste diesen Artikel. Er erschien zwei Tage später, am 21. August mit der Überschrift „Die trotzkistisch-sinowjewistische Faschistenbande und ihr Hetman [Einpeitscher] Trockij“17. Radek schrieb, aus dem Saal, in dem das Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes der Sowjetunion gegen Zinov’ev, Kamenev, Mračkovskij und Smirnov verhandele, wehe der „Verwesungsgeruch“ der Sache des abwesenden Trockij über die ganze Welt. Er schwärzte Trockij und seine Freunde an. Trockij habe ihn 1928 dazu verführen wollen, ins Ausland zu fliehen. Aber er, Radek, habe sich „vor dem Gedanken an Handlungen 11 ZK-Rundschreiben vom 29. Juli 1936. Hedeler, S. 65. 12 Bericht des ehemaligen „Pravda“-Redakteurs Oskar Kurganov in der WDR-Fernsehdokumentation „Erschießt sie wie die Hunde“, ARD, 11. Februar 1998. 13 Pjatakov schrieb in einem am 21. August 1936 veröffentlichten Zeitungsartikel über die Angeklagten: „Man findet keine Worte, um seiner Entrüstung und seinem Abscheu Ausdruck zu geben. Das sind Leute, die die letzten menschlichen Züge verloren haben. Sie müssen vernichtet werden, vernichtet wie ein Aas, das die reine frische Luft des Sowjetlandes verpestet, wie ein gefährliches Aas, das unseren Führern hätte Tod bringen können […]“. Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 531. 14 Buber-Neumann, Kriegsschauplätze der Weltrevolution, S. 449. 15 Bericht des ehemaligen „Pravda“-Redakteurs Oskar Kurganov, a.a.O. 16 Chlevnjuk, Oleg V., Stalin i Kaganovič. Perepiska. 1931–1936 gg. [Stalin und Kaganovič. Briefwechsel. 1931–1936], Moskva 2001, S. 634f. Hedeler, S. 74. 17 Radek, Trockistsko-Zinov’evskaja fašistskaja banda i eë getman Trockij, in: „Izvestija“ Nr. 194, vom 21. August 1936, S. 3.

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gegen die UdSSR unter dem Schutz bürgerlicher Staaten“ entsetzt und den Fluchtversuch sabotiert. 1929 habe Trockij dann Bljumkin überredet, den Literaturversand in die Sowjetunion zu organisieren und – so müsse er heute bekennen – ihn, Radek, beauftragt, ihm Geld für seine sowjetfeindliche Tätigkeit durch die Organisierung von Überfällen auf sowjetische Handelsvertretungen im Ausland zu beschaffen. Er hätte diesen Auftrag nicht ausgeführt und bereue aufrichtig. Er wisse aber, dass es dann 1931 unmittelbare Terrordirektiven Trockijs an Smirnov und Mračkovskij gegeben habe. Diese beiden, ereiferte sich Radek, „welche die Waffen gegen Stalin und die Partei erhoben, traten das ihnen erwiesene Vertrauen mit Füßen und sind so tief gesunken, daß man nicht ohne Ekel ihrer Namen gedenken kann.“ Mit Blick auf die Angeklagten forderte er die Richter auf: „Vernichtet dieses Geschmeiß! Es handelt sich nicht um die Vernichtung von Ehrgeizigen, die bei dem größten Verbrechen gelandet sind, es handelt sich um die Vernichtung von Agenten des Faschismus, die bereit waren, zu helfen, um den Kriegsbrand zu entfachen, um aus seinen Händen, sei es auch nur einen Schemen der Macht zu erhalten.“

Mit einem Kniefall vor Stalin nahm er die Entscheidung des Militärtribunals und das von ihm antizipierte Urteil der Geschichte über Trockij vorweg: „Das proletarische Gericht wird über diese Bande bluttriefender Verbrecher das Urteil fällen, das sie hundertfach verdient haben. Leute, die gegen das Leben des geliebten Führers des Proletariats die Hand erheben, müssen ihre grenzenlose Schuld mit dem Kopf bezahlen. Der Hauptorganisator dieser Bande und ihrer Taten, Trotzki, ist bereits an den Schandpfahl der Geschichte genagelt. Er wird dem Urteil des Weltproletariats nicht entgehen.“18

Es war der letzte Artikel, den Radek schrieb und Stalin nahm ihn mit Wohlgefallen zur Kenntnis.19 Dennoch sollten die darin enthaltenen erfundenen Anklagen und reuevollen Selbstbezichtigungen auf Radek zurückfallen, als er fünf Monate später selbst vor Gericht stand und ihm der Ankläger vorwarf, seine Reue sei nur geheuchelt und der ganze Artikel nur ein Versuch gewesen, „sich herauszuwinden, der Verantwortung zu entschlüpfen […] über die Leichen seiner Freunde und Komplizen hinweg“.20 Für einen kritischen Kommunisten in Moskau, wie den ungarischen Schriftsteller Ervin Sinkó21, war der Artikel allerdings bereits zum Zeitpunkt seines

18 Ebenda. Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 529ff. 19 Stalin lobte Radeks Artikel am 23. August 1936 in einem Gespräch mit seinen Vertrauten. Hedeler, S. 78. 20 Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 531. 21 Sinkó, Ervin (1898–1967); ungarischer Schriftsteller, Kommunist, der sich zur Zeit der Schauprozesse von 1935 bis 1937 in der Sowjetunion aufhielt und nach dem Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien lebte.

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Erscheinens „ein Ausdruck der Verkommenheit und der Schande“ seines Autors.22 Sinkó glaubt, Radek habe sein Verhalten vor sich selbst damit gerechtfertigt, dass das Schicksal Zinov’evs, Kamenevs und ihrer Mitangeklagten ohnehin besiegelt sei und er gar nicht anders handeln konnte, wenn er nicht selbst in Verdacht geraten und damit die Möglichkeit verlieren wollte, weiter zum Wohle der Sowjetunion zu wirken – der Sowjetunion, die so, wie sie eben war, trotz allem seine Sowjetunion, ein Ergebnis auch seines Kampfes und seiner Tätigkeit und trotz allem seine Hoffnung verkörperte.23 Radek versuchte sich zu retten, indem er die Flucht nach vorn antrat, seine einstigen Freunde denunzierte und sich in aller Öffentlichkeit erfundener, vermeintlich längst verjährter und angeblich bereuter politischer Sünden zieh. Ein Irrtum, denn er stand längst auf Stalins Abschussliste und die Fehltritte, die er einräumte, galten nun als todeswürdige Verbrechen. Im laufenden Verfahren gegen das „trotzkistisch-sinowjewistische Zentrum“ war Radeks Name zusammen mit dem anderer früherer Oppositioneller von den Angeklagten im Zusammenhang mit konterrevolutionären Umtrieben erwähnt worden. Am Abend des 21. August, dem Tag an dem Radeks „Hetman“-Artikel veröffentlicht wurde, kündigte der staatliche Ankläger Vyšinskij24 an, eine Untersuchung gegen die Genannten einzuleiten und designierte sie damit bereits als Angeklagte der nächsten Schauprozesse. Er gab folgende Erklärung ab: „In den bisherigen Sitzungen erwähnten einige der Angeklagten (Kamenev, Zinov’ev und Rejngol’d25) bei ihren Aussagen Tomskij, Bucharin, Rykov, Uglanov26, Radek27, Pjatakov, Serebrjakov und Sokol’nikov und erklärten, daß sie mehr oder weniger an kriminellen konterrevolutionären Aktivitäten beteiligt waren, derentwegen die Angeklagten in dem jetzigen Prozeß vor Gericht stehen. Ich halte es für erforderlich, dem Gericht mitzuteilen, daß ich gestern [20. August] Anweisung gegeben habe, aufgrund dieser Aussagen der Angeklagten ein Ermittlungsverfahren gegen Tomskij, Rykov, Bucharin, Uglanov, Radek28 und Pjatakov einzuleiten, und daß entsprechend den Ergebnissen dieser Untersuchung das Büro der Staatsanwaltschaft in dieser Angelegenheit ein gerichtliches Verfahren beantragen wird. Im Hinblick auf Serebrjakov und Sokol’nikov sind die Ermittlungsbehörden bereits im Besitz von Beweismaterial, das diese Personen konterrevolutionärer Verbrechen

22 Sinkó, S. 418. 23 Ebenda, S. 416. 24 Vyšinskij, Andrej Januar’evič (1883–1954); von März 1935–Mai 1939 Generalstaatsanwalt der UdSSR. 25 Rejngol’d, Isaak Isaevič (1897–1936); 1932–1934 Stellvertretender Volkskommissar für Landwirtschaft; 1935 Parteiausschluss; 1936 im 1. Prozess zum Tode verurteilt. 26 Uglanov, Nikolaj Aleksandrovič (1866–1937); 1928–1930 Volkskommissar für Arbeit; 1932 Parteiausschluss und 1933 im Rjutinprozess verurteilt. Am 23. August 1936 in Tobol´sk als angeblicher „Rechtsterrorist“ verhaftet und am 31. Mai 1937 zum Tode verurteilt. 27 Hervorhebung durch den Verfasser 28 Desgleichen.

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überführt, und auf Grund dessen ist gegen Sokol’nikov und Serebrjakov bereits Anklage erhoben worden.“29

Auf der Titelseite der „Pravda“ vom 22. August lautete die Schlagzeile „Trockij, – Zinov’ev – Kamenev – Gestapo“ und unter der Zwischenüberschrift „Es werden die Verbindungen Tomskijs-Bucharins-Rykovs und Pjatakovs-Radeks mit der trotzkistisch-sinowjewistischen Bande eingehend untersucht“ veröffentlichte man die Erklärung Vyšinskijs vom Vorabend. Damit zusammen wurde eine Resolution der Arbeiter der Moskauer Dynamofabrik abgedruckt, in der es hieß, dass die Beschuldigungen „schonungslos untersucht“ werden müssten.30 Wie verheerend der Druck sich auswirkte, dem die Verdächtigten durch die Verlautbarung des Generalstaatsanwalts ausgesetzt wurden, machte die Reaktion des ehemaligen rechtsoppositionellen Gewerkschaftschefs und nunmehrigen CK-Kandidaten und Leiters des Staatsverlags Michail Tomskij deutlich. Unmittelbar nachdem er die Ausführungen Vyšinskijs im Parteiblatt gelesen hatte, beging er in seiner Datscha in Bol’ševo am 22. August Selbstmord. Er hinterließ einen Abschiedsbrief an Stalin, in dem er die Geständnisse Zinov’evs als „unverschämte Verleumdungen“ zurückwies.31 Stalin machte zu dieser Zeit bereits Urlaub auf der Krim in Soči und im Kreml’ führten Kaganovič und Ordžonikidze die Geschäfte des Politbüros. Sie beauftragten Ežov bei Tomskijs Witwe zu recherchieren und Stalin schriftlich über die aktuellen Ereignisse zu berichten. Der Entwurf dieses Dokuments befindet sich im Nachlass Ežovs. Was Radek anbelangt, ist der Teil des Briefes von Interesse, in dem Ežov sich mit dem Stand der Entlarvung der „Trotzkisten“ und der „Rechten“ (Bucharin, Rykov) befasste. Ežov behauptete, die „Rechten“ würden zwar ihre eigene Organisation besitzen, den Terror befürworten und Kenntnis von den Aktivitäten des trotzkistisch-sinowjewistischen Blocks haben, aber sie würden abwarten und hoffen, die Konsequenzen des Terrors der „Trotzkisten“ für ihre eigenen Zwecke ausnutzen zu können. Allerdings sei es an der Zeit, Maßnahmen zu ergreifen, sie als „Mindeststrafe“ aus dem CK auszuschließen und zur Arbeit in entlegene Gebiete auszuweisen. Ežov bat Stalin, „Diesbezüglich benötigen wir Ihre entschiedenen Weisungen“, und wendete sich dann den „Trotzkisten“ zu: „Was allerdings Pjatakow, Radek und Sokolnikow betreffe, […] so zweifele er nicht daran, daß sie die Führer einer ,konterrevolutionären Bande‘ seien, dennoch verstehe er, ,daß es sicher nicht zweckmäßig ist, einen neuen Prozeß anzustrengen.‘ ,Die Verhaftung und Aburteilung von Radek und Pjatakov ohne einen Prozeß wird zweifellos von der Presse im Ausland aufgegriffen werden. Dennoch muß man so verfahren und es in Kauf nehmen.‘“32 29 Prozeßbericht über die Strafsache des trotzkistischen-sinowjewistischen terroristischen Zentrums, Moskva 1936, S. 103. Conquest, S. 124. 30 „Pravda”, Nr. 231 vom 22. August 1936. 31 Chlewnjuk [Chlevnjuk], S. 289; Conquest, a.a.O. 32 Chlewnjuk [Chlevnjuk], S. 291f.

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Nachdem Stalin noch am 19. August aus Sorge vor einem negativen Echo in der Westpresse von einer Verhaftung Radeks abgeraten hatte, bohrte Ežov nun nach. Ganz offensichtlich wusste er noch nichts von Stalins Absichten, neue Prozesse und eine großangelegte Säuberung durchzuführen und glaubte, es gehe „nur“ um die Abrechnung mit den ehemaligen Oppositionellen. Stalin ließ sich mit seiner Entscheidung Zeit. Vielleicht wusste er selbst noch nicht genau, wie er in den kommenden Monaten vorgehen sollte.33 Der Zinov’ev-Kamenev-Prozess heizte die Atmosphäre des Terrors in Moskau an. Generalstaatsanwalt Vyšinskij sah hinter dem „Programm des trotzkistisch-sinowjewistischen Terrorzentrums […] die widerliche Schweineschnauze des Faschismus“ und schloss sein Plädoyer mit den Worten: „Ich fordere, daß diese tollgewordenen Hunde erschossen werden – jeder einzelne von ihnen.“34 Und so geschah es. Einen Tag nach den Hinrichtungen, am 26. August, wurde Radeks Freund Sokol’nikov verhaftet und am darauf folgenden Tag, dem, 27. August, versammelte sich das Moskauer Parteiaktiv der VKP(b) und verabschiedete folgende Resolution: „Mit einem Gefühl tiefer Empörung erfuhren die Bolschewiki Moskaus im Laufe der gerichtlichen Untersuchungen von den politischen Beziehungen der Führer der ehemaligen rechten Opposition, Rykow, Bucharin und Uglanow, sowie der durch ihren aktiven politischen Kampf gegen die Partei bekannten Radek, Pjatakov und anderer mit dem konterrevolutionären trotzkistisch-sinowjewistischen Zentrum. Das Aktiv der Moskauer Parteiorganisation billigt voll und ganz den Beschluß über die Untersuchung der Beziehungen […] [und] […] ist überzeugt, daß alle direkten und indirekten Helfershelfer des trotzkistisch-sinowjewistischen Zentrums sowohl auf der Parteilinie als auch von Gerichts wegen die strengste Strafe erhalten werden.“35

Radek war in Moskau zur „Unperson“ geworden, gegen die es sich auf Parteiversammlungen zu beweisen galt. Auch in der sowjetischen Hauptstadt lebende deutsche Exilschriftsteller fühlten sich nun bemüßigt, Radek in nachgeholtem Widerstand wegen seines Auftretens auf dem zwei Jahre zurückliegenden Schriftstellerkongress zu kritisieren.36 Im Ausland fiel das Fehlen seiner Artikel in der Sowjetpresse auf. Am 3. September meldete die „New York Times“, im Zusammenhang mit den Anschuldigungen gegen Radek habe Moskau den sowjetischen Botschafter in Warschau J. K. Davtjan37 zurückbeordert, was als ein Indiz für die Ausweitung der Affäre wahrgenommen wurde. Radek durfte zu diesem Zeitpunkt zwar nichts mehr publizieren, 33 34 35 36 37

Ebenda, S. 292. „Pravda“ vom 23. August 1936. Hedeler, S. 78. Hedeler, S. 82. Müller, Reinhard (Hrsg.), S. 95, S.138f. und S.269. Davtjan, E. K. (1891?–1937); ursprünglich Leiter der Auslandsabteilung (INO) der GPU; als Sowjetbotschafter in Polen 1936 nach Moskau zurückbeordert und 1937 während der großen Säuberung liquidiert.

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hielt sich aber noch in der Redaktion der „Izvestija“ auf. Wahrscheinlich am 7. September rief er Bucharin an, der gerade vom Urlaub in Taškent nach Hause zurückgekehrt war, sich aber wegen der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen weigerte, seine Arbeit als Chefredakteur wieder aufzunehmen. Als Radek sich bei ihm erkundigte, warum er nicht in die Redaktion käme, antwortete er: „Solange diese schändliche Verleumdung in der Presse nicht offiziell dementiert wird, setze ich keinen Fuß in die Redaktion.“ Radek sagte ihm, dass in den nächsten Tagen eine Parteiversammlung der Redaktion stattfinden werde, zu der er unbedingt erscheinen solle und kam auf den eigentlichen Grund seines Anrufs zu sprechen, den dringlichen Wunsch, sich mit ihm zu treffen. Bucharin lehnte beides ab.38 Radeks Hoffnungen blieben dennoch auf Bucharin fixiert, von dem er glaubte, dass ihm nichts geschehen werde.39 Einen Tag nach dem Telefonat mit Radek wurde Bucharin zusammen mit Rykov ins Zentralkomitee zur „Gegenüberstellung“ mit Sokol’nikov vorgeladen. Im Beisein von Kaganovič, Ežov und Vyšinskij wiederholte Sokol’nikov gegen beide die Anschuldigungen konterrevolutionärer Aktivität, wobei er aber erklärte, dass das alles nur auf Hörensagen beruhe und er über keine direkten Beweise verfüge. Kaganovič meinte daraufhin, dass Sokol’nikovs Aussage nur aus Lügen bestehe und Bucharin in sein Redaktionsbüro zurückgehen und in aller Ruhe weiterarbeiten solle.40 Am 10. September brachte die „Pravda“ in einer kurzen Notiz auf der zweiten Seite die Mitteilung Vyšinskijs, dass die Ermittlungen gegen Bucharin und Rykov aus Mangel an Beweisen eingestellt würden. Radek und die anderen Verdächtigten blieben in der Verlautbarung jedoch unerwähnt.41 Zu Tode erschrocken, suchte Radek am nächsten Tag, dem 11. September, Bucharin auf, der sich in seine Datscha in Schodnja zurückgezogen hatte. Dort befanden sich die Landhäuser der „Izvestija“-Redakteure und Radeks Datscha lag nicht weit von der Bucharins entfernt.42 Radek entschuldigte sich für den überfallartigen und von Bucharin nicht gewünschten Besuch und begründete ihn damit, dass er sich verabschieden wolle. Er rechne mit seiner Verhaftung, da die „Pravda“-Meldung vom Vortag darauf schließen lasse, dass die Staatsanwaltschaft die Untersuchung gegen ihn nicht abgebrochen habe. Er war überzeugt davon, er sehe Bucharin zum letzten Mal. Er wollte, dass dieser sein letztes Wort hörte und ihm glaubte. Bucharins Frau, Anna Larina, die dem Gespräch im Nebenzimmer lauschte, erinnert sich, Radek habe „ein klassisches Beispiel für jemanden [geboten], der dem Untergang geweiht ist und in der Hoffnung zu überleben nach einem Strohhalm greift.“ Er habe geglaubt, Bucharin könne ihm noch helfen. Radek versicherte, dass er vor langer Zeit mit Trockij gebrochen und mit der jetzt aufgedeckten geheimen trotzkistischen Organisation nichts zu tun habe. Er sagte, er hätte weder zu Kamenev noch Zinov’ev 38 Bucharina, S. 363. 39 Ebenda. 40 Conquest, S. 161. 41 Ebenda; Hedeler, S. 91. 42 Bucharina, S. 345; Hedeler, S. 91.

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Kontakt gehabt und fügte hinzu: „Grigorij [Zinov’ev] tut mir leid!“ Radek flehte Bucharin an, im Falle seiner Verhaftung, Stalin darüber zu informieren. Er müsse Stalin schreiben und ihn bitten, den Fall selbst in die Hand zu nehmen. Bucharin solle Stalin auch daran erinnern, dass der einzige Brief Trockijs, den er 1929 durch Bljumkin erhalten habe, von ihm sofort an die GPU weitergeleitet worden sei. Leicht pikiert, fragte Bucharin daraufhin: „Warum können Sie nicht jetzt, vor Ihrer Verhaftung, selbst an Stalin schreiben, Karl Berngardovič? Brauchen Sie wirklich meine Hilfe?“ Radek antwortete: „Weil mein Brief Stalin nicht erreicht, Nikolaj Ivanovič. Der wird ans NKVD geschickt, weil gegen mich ermittelt wird. Ihrer hingegen wird Stalin direkt erreichen.“ Bucharin meinte, er wolle sich die Sache überlegen und im Weggehen beteuerte Radek nochmals seine Unschuld: „Nikolaj! Glaube mir: Was immer mit mir geschehen mag, ich bin unschuldig! Glaub mir das!“ Er sprach erregt, trat an Bucharin heran, verabschiedete sich, küsste ihn auf die Stirn und ging.43 Als Ohrenzeugin dieses Gesprächs fragte sich Bucharins Frau erstaunt, wie es vorstellbar sei, dass Karl Radek als „[...] ein Mann von glänzendem Verstand, ein Vollblutpolitiker, der mit einem besonderen, ganz eigenen Gespür die politische Situation, die innere wie die internationale, erfaßte, Rettung bei Stalin suchte! Verstand denn auch er nicht, daß die Sache, die er in Stalins Händen wissen wollte, von ebendiesen Händen zusammengezimmert worden war; war ihm nicht bewußt, daß ohne Anweisung des ,Herrn‘ niemand ihn, Radek, anzurühren gewagt hätte? [...] Verstand Karl Radek nun die gegebene Situation, oder verstand er sie nicht? „44

Die Bucharina erklärte sich das Verhalten Radeks aus seiner psychischen Verfassung, die sie als die „eines todgeweihten Mannes“ bezeichnete, „auf den unglaubliche, phantastische Beschuldigungen niederstürzten.“ Radek habe die Situation, in der er sich befand, zwar verstanden, aber dieses Wissen verdrängt.45 Radeks Verzweiflung muss noch gewachsen sein, als am 12. September der Stellvertretende Volkskommissar Pjatakov, den man mit ihm zusammen der konterrevolutionären Aktivität bezichtigt hatte, während einer Dienstreise im Ural verhaftet wurde. Radek kehrte nach Moskau zurück in seine Wohnung in dem grauen, massigen Gebäudekomplex des „Dom pravitel’stva“, dem Regierungswohnhaus am Ufer der Moskva, in dem die Henker mit den Opfern unter einem Dach wohnten und die Fahrstuhlführer Wetten darüber abschlossen, wer als nächster abgeholt werden würde. Die Verhaftungen erfolgten immer nachts. In Todesangst lauschten die Bewohner dann auf das Brummen des Aufzugs und hofften, die NKVD-Beamten wür-

43 Bucharina, S. 369f. 44 Bucharina, S. 370. 45 Ebenda.

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den auf einer anderen Etage aussteigen.46 Von seiner Atelierwohnung aus konnte Radek das Fenster von Stalins Kabinett im Kreml’ sehen, dem Arbeitszimmer des „Führers“, der auch über sein Schicksal entschied, sich aber noch immer im Urlaub in Soči befand. Am Mittwoch, dem 16. September 1936, wurde Radek in seiner Stadtwohnung verhaftet.47 Bei seiner Festnahme soll er vor Erbitterung über die Undankbarkeit Stalins außer sich gewesen sein. Insgeheim hatte er wohl doch noch damit gerechnet, dass er wegen der guten Dienste, die er dem Diktator erwiesen hatte, verschont bleiben würde. Der Vorwurf: „Nach all dem, was ich für Stalin getan habe!“, fasst seine Enttäuschung und seine empörten Proteste treffend zusammen.48 Das NKVD durchsuchte auch Radeks Datscha und es wurde erzählt, man habe dort im offenen Boden eines runden Kleiderständers „geheime kriminelle Dokumente“ gefunden.49 Ein falsches Gerücht. Ežov behauptete zwar später, Radek hätte im Januar 1935 einen Geheimcode für den Briefwechsel mit Trockij aufbewahrt, sagte aber gleichzeitig, man habe nichts gefunden, als er verhaftet worden sei.50 Am Tag nach Radeks Festnahme erschien seine Frau Rosa aufgeregt in Bucharins Datscha und wiederholte die Bitte ihres Mannes, an Stalin zu schreiben. Bucharin kam dem Wunsch zögernd nach und verfasste einen Brief, in dem er Stalin mitteilte, Radek bäte ihn, sich der Angelegenheit persönlich anzunehmen. Er erwähnte Radeks loyales Verhalten im Fall Bljumkin und schrieb, dass seinem Eindruck nach, Radek keine Verbindung mehr zu Trockij habe. „Im übrigen, wer kennt ihn schon!“, schloss Bucharin sein Schreiben und entwertete mit diesem Satz die ganze Bonitätserklärung, auf die keine Reaktion Stalins erfolgte.51 Radeks Verhaftung wurde erst am 7. Oktober in der „Pravda“ öffentlich bekanntgegeben. Zu dieser Zeit war er in der berüchtigten Lubjanka, dem Sitz des NKVD und zugleich dessen Zentralgefängnis in Moskau, bereits mehrmals von dem härtesten Untersuchungsrichter des NKVD Kedrov52 verhört worden Er hatte alle Anschuldigungen zurückgewiesen, verlangt, Stalin zu sprechen und einen langen Brief an den Diktator geschrieben, ohne darauf eine Antwort zu erhalten. In einem ersten Verhör am 22. September eröffnete man Radek, dass er unter der „Anklage konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit“ verhaftet worden sei, worauf er beteuerte, dass er weder vor der Partei noch vor dem Sowjetstaat schuldig wäre. Er verneinte, dass 46 Film von Fischer, Stefan: „Der Bonzenbunker“, Produktion des Saarländischen Rundfunks (SR), 1998; gesendet in 3sat am 6. April 1998. Die 505 Wohnungen des Regierungswohnhauses beherbergten 3.500 Bewohner, von denen über 400 Opfer der „großen Säuberung“ wurden. Ebenda. 47 Bucharina, S. 371; Hedeler, S. 93. 48 Carmichael, S. 95 sowie die NKVD-/KGB-Überläufer Orlow, Alexander [Orlov, Aleksandr] S. 235 und Petrov, Vladimir und Edovkia, S. 69. 49 Bucharina, S. 371. 50 Rede Ežovs auf dem ZK-Plenum am 2. März 1937. Hedeler, S. 190. 51 Bucharina, S. 370f. 52 Es handelte sich um den Untersuchungsrichter Kedrov junior, den Sohn von Michail Sergeevič Kedrov (1878–1941), eines wegen seiner Grausamkeit berüchtigten Čekisten.

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er an geheimen Orten oder in seiner Wohnung „irgendwelche illegalen Dokumente“ versteckt hätte und bestritt die Verbindung zu „trotzkistischen Terrorgruppen“. Auch eine „Gegenüberstellung“ mit Sokol’nikov erbrachte kein Schuldbekenntnis.53 Er erklärte seinen Vernehmern, nach allem, was er gegen Trockij gesagt und geschrieben hätte, wäre es lächerlich, ihn als dessen intimen Freund und Komplizen zu bezeichnen.54 Die Untersuchung gegen Radek wurde forciert, nachdem Innenkommissar und NKVD-Chef Jagoda durch Stalins Protegé Ežov ersetzt worden war und dieser am 30. September seine Dienstgeschäfte aufnahm. Stalin hatte Jagoda vorgeworfen, die OGPU habe „vier Jahre zu spät mit der Zerschlagung des trotzkistisch-sinowjewistischen Blocks begonnen.“55 Ežov sollte dieses Versäumnis wettmachen. Noch am Tag der Amtsübernahme begann ein von seinem künftigen Stellvertreter Jakov Agranov56 geführtes Team von 25 Untersuchungsrichtern den nächsten Moskauer Schauprozess vorzubereiten.57 Ursprünglich hatte der Entwurf der Anklage gelautet, dass Pjatakov, Radek und die anderen Verhafteten als ein trotzkistisches „Reservezentrum“ Anschläge geplant, diese jedoch nicht ausgeführt hätten. Nun wurden die Untersuchungsrichter im Beisein von Ežov durch den NKVD-Abteilungsleiter Molčanov58 angewiesen, dass eine „neue Vernehmungsweise“ anzuwenden sei. Die Beschuldigten sollten gezwungen werden zu gestehen, dass sie beabsichtigt hätten, die Macht zu ergreifen und zur Erreichung dieses Ziels mit den Nationalsozialisten kollaboriert hätten.59 Hohe NKVD-Beamte, darunter Berman60, Molčanov und Untersuchungsrichter Kedrov, begannen verstärkt an Radek zu „arbeiten“ und ihn dem sogenannten „Konveyer“-System zu unterziehen, pausenlosen, oft über Tage und Nächte andauernden Vernehmungen. Radek überraschte sie mit einer Hartnäckigkeit, die sie nicht erwartet hatten. Geduldig ertrug er alle Demütigungen, die man ihm antat. Aber bei einer nächtlichen Vernehmung durch Molčanov platzte ihm der Kragen: 53 Prozeßbericht über die Strafsache des trotzkistischen-sinowjewistischen terroristischen Zentrums, Moskva 1936, S. 146f. 54 Orlow, Alexander [Orlov, Alekdandr], S. 236. 55 Telegramm von Stalin und Ždanov vom 25. September 1936 aus Soči an Kaganovič und Molotov in Moskau, in dem die Absetzung von Jagoda und die Ernennung von Ežov vorgeschlagen wurde. Hedeler, S.  96. Die Formulierung „vier Jahre“ kann sich darauf beziehen, dass fast auf den Tag genau vier Jahre vergangen waren, dass das Politbüro im September 1932 die von Stalin geforderte Hinrichtung Rjutins verhindert hatte. Möglich auch, dass damit die angebliche Bildung des trotzkistisch-sinowjewistischen Blocks im Jahre 1932 gemeint war. Conquest, S. 164. 56 Agranov, (eigentl. Sorendson), Jakov Saulovič (1893–1938); Kommissar der Staatssicherheit 1. Ranges; von Dezember 1936 bis April 1937 Erster Stellvertreter Ežovs als Volkskommissar des Innern. 57 Hedeler, S. 98. 58 Molčanov, Georgij Andreevič (1897–1937); Leiter der Geheimen Politischen Abteilung des NKVD. 59 Orlov, Alexander: The Secret History of Stalin´s Crimes. Conquest, S. 165. 60 Berman, Boris Davydovič (1901–1939); 1936 Leiter der geheimen politischen Abteilung der Hauptverwaltung Staatssicherheit des NKVD. 1938 verhaftet und 1939 zum Tode verurteilt.

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„Radek […] schlug mit seiner Faust auf den Tisch und sagte in entschiedenem Tone: ,Gut! Ich werde jetzt alles sofort unterschreiben und zugeben, daß ich alle Mitglieder des Politbüros zu ermorden beabsichtigte und Hitler selbst im Kreml krönen wollte. Aber in meinem Geständnis muß noch eine kleine Einzelheit stehen – neben allen diesen Mitschuldigen, die sie mir aufhalsen, hatte ich noch einen anderen Komplizen und der hieß ... Moltschanow. ... Ja! Ja! Moltschanow!‘ schrie Radek hysterisch. ,Wenn Sie es schon für nötig halten, daß man sich zu Gunsten der Partei opfert, dann wollen wir uns zusammen opfern!‘ Moltschanow wurde weiß wie ein Blatt Papier. ,Und wissen Sie, was ich denke?‘ fuhr Radek fort, indem er mit Vergnügen Moltschanows Verwirrung beobachtete, ,ich denke, wenn ich Jeschow diese Bedingung unterbreite, und zwar in vollem Ernst, wird er sie gerne annehmen. Was kümmert schon Jeschow das Schicksal eines Moltschanow, wenn die Parteiinteressen auf dem Spiel stehen! Wenn er vor Gericht mit einem Radek auftrumpfen kann, wird Jeschow gerne ein Dutzend solcher Moltschanows drangeben [...]‘“61

Erst am Freitag, dem 4. Dezember legte Radek ein „Geständnis“ ab. Er hatte seinen Vernehmern genau zwei Monate und achtzehn Tage getrotzt.62 Das widerlegt die Behauptung, er sei als eine „nervöse Natur“, bereits „auf den ersten Anhieb“ zusammengebrochen.63. Es gibt unterschiedliche Versionen darüber, wie es zu seinem „Geständnis“ kam. Bis zum Ende der Sowjetunion beruhten sie auf dem, was Stalin dem Schriftsteller Lion Feuchtwanger gesagt hatte und den Angaben von Überläufern aus dem NKVD. Feuchtwanger, der Ende November nach Moskau reiste und Stalin traf, teilte mit, dieser habe ihm ausführlich von den Anklagen gegen Pjatakov und Radek erzählt, deren Material noch nicht öffentlich bekannt war. Er habe von Radek „mit Bitterkeit und bewegt“ gesprochen und die „freundschaftlichen Beziehungen“ zu ihm erwähnt, doch Radek habe ihn verraten. „Ihr Juden“ sagte Stalin zu Feuchtwanger, „habt eine ewig wahre Legende geschaffen, die von Judas.“ Er erwähnte „einen langen Brief, den Radek ihm geschrieben und in dem er seine Unschuld mit vielen schlechten Gründen beteuert habe. Am Tage darauf und unter dem Druck von Zeugen und Indizien habe er gestanden.“64 Ein Sachverhalt, der in den Bereich der Desinformation verwiesen werden kann. Wahrscheinlicher ist, dass es zwischen Radek und Stalin zu einer Abmachung gekommen ist. Val’tr Krivickij berichtet, man habe Radek zu Stalin in den Kreml’ gebracht, als Untersuchungsrichter Kedrov mit seiner „Schimpftaktik“ keinen Schritt weitergekommen sei:

61 Orlow, Alexander [Orlov, Aleksandr], S. 236f. 62 Von Radeks prominenten Mitangeklagten im 2. Moskauer Schauprozess hatte Sokol´nikov ziemlich schnell ein „Geständnis“ abgelegt, Pjatakov nach 33 Tagen, Serebrjakov nach 3 Monaten und 16 Tagen und Muralov nach 7 Monaten und 7 Tagen. 63 von Rauch, Geschichte der Sowjetunion, S. 328. 64 Feuchtwanger, S. 113 f.

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„Als Radek aus dem Kreml zurückkehrte, zeigte er eine völlig andere Laune. Er war mit Stalin zu einer Verständigung gekommen. Radek wusste, was der ,hohe Chef‘ wollte. Nun war es der Gefangene, der die Aufgabe übernahm, sein eigenes Geständnis aufzuzeichnen. ,Sie können schlafen gehen, Kedrow, ich mache das schon.‘ Und von diesem Augenblick an, führte Radek die Untersuchung gegen sich selbst.“65

Den Tatsachen am nächsten kommt wohl Aleksandr Orlov, der schreibt, Radek wollte, dass ihm Stalin sein Leben zusichere, wenn er ein Geständnis ablege und vor Gericht auftrete. Solch ein Versprechen hatte Stalin angeblich auch Sokol’nikov in einer Unterredung gemacht. Mit Ežovs Hilfe hätte Radek einen Brief an Stalin verfasst, der einen Widerruf enthielt, mit dem er dem „Trotzkismus“ abschwor und auf den Stalin dann reagierte: „Einige Tage darauf besuchte Stalin das Gebäude des NKWD und hatte dort mit Radek in Jeschows Gegenwart ein langes Gespräch. Darauf wurde Radek in das Zimmer des Untersuchungsrichters Kedrow geführt, der ihm ein ,Verhörprotokoll‘ zur Unterschrift vorlegte, das im voraus vorbereitet worden war.“ Laut Orlov hat Radek es abgelehnt, dieses „Geständnis“ zu unterschreiben und dann selbst eine Vernehmungsniederschrift verfasst, die ihm die offene Bewunderung der Beamten eintrug. Sie führte dazu, dass fast alle Aussagen der Hauptangeklagten neu formuliert werden mussten. „Von diesem Augenblick an wurde Radek der persönliche Berater Ežovs bei der Verbesserung der Legende der Verschwörung und der Ausarbeitung ihrer dramatischen und literarischen Seite.“66 Wohl nicht zufällig deckte sich der Termin von Radeks „Geständnis“ mit dem Beginn der Plenarsitzung des Zentralkomitees am 4. Dezember, auf der Ežov über die „trozkistischen und rechten antisowjetischen Organisationen“ berichtete und erklärte, Bucharin und Rykov hätten keineswegs „die Waffen gestreckt“, sondern wären in den Untergrund gegangen. Zum Beweis legte er die Aussagen von Verhafteten vor.67 Vermutlich befand sich Radeks „Geständnis“ noch nicht darunter. Aber im Hinblick auf das den Wünschen Stalins entsprechende Bestreben Ežovs, als neuernannter Innenkommissar dem CK-Plenum Erfolge im Kampf gegen konterrevolutionäre Verschwörer zu präsentieren, war der Vernehmungsdruck auf die unter Anklage stehenden Altbolschewiken durch Mittel der Geständniserpressung drastisch erhöht worden. Radeks Untersuchungsrichter Kedrov erklärte später gegenüber Val’tr Krivickij: „Sie ahnen nicht was man aus einem Menschen machen kann, wenn man ihn völlig in den Händen hat. Wir haben hier mit Leuten jeder Art zu tun gehabt, mit den unerschrockensten Männern, und dennoch brachen sie zusammen, taten sie, was wir wollten.“68

65 66 67 68

Krivitsky [Krivickij], S. 224. Orlow, Alexander [Orlov, Aleksandr], S. 238f. Conquest, S. 166. Krivitsky [Krivickij], S. 211.

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Nach neueren russischen Angaben ist Radek am 4. Dezember unter Folter verhört worden, wobei er gestand, dass er bisher gelogen habe.69 Dieses „Geständnis“ wiederholte er dann in seinem Prozess, wobei er die Tatsachen sarkastisch auf den Kopf stellte: „Man fragte mich bis zum 4. Dezember, und ich habe alles geleugnet […]. Zweieinhalb Monate quälte ich den Untersuchungsrichter. Wenn hier die Frage aufgeworfen wurde, ob man uns während der Voruntersuchung gequält hat, so muß ich sagen, daß ich nicht gequält wurde, sondern daß ich die Untersuchungsrichter quälte, indem ich ihnen unnütze Arbeit aufbürdete.“70

Wladislaw Hedeler71 erwähnt, Radek habe die Verhörmethoden in der Untersuchungshaft Anfang 1937 in einem Brief an seine Frau geschildert72, lässt jedoch offen, welche von den im NKVD zur Erpressung von Geständnissen gehandhabten 52 Arten von Folter bei Radek angewendet wurden. War es zusätzlich zum „Konveyer“System die Stehfolter, bei welcher der im blendenden Lampenlicht stehende Gefangene sich im Dauerverhör nicht hinsetzen durfte und teilweise auf einem Bein stehen musste?73 Oder wurde sein Widerstand durch „Methoden der physischen Einflußnahme“ und Drohungen gegen seine Frau und seine Tochter gebrochen?74 Bucharin, der fünf Wochen später Radek und Pjatakov bei einer „Gegenüberstellung“ begegnete, konnte an Radek keine Folterspuren wahrnehmen. Ihm fiel nur auf, dass er „ungewöhnlich blaß“ war, Pjatakov hingegen erschütternd aussah und einem „Skelett mit ausgeschlagenen Zähnen“ glich.75 Am 5. und 6. Dezember, den beiden auf das „Geständnis“ folgenden Tagen, wurde Radek weiter verhört.76 Sein Widerstand war gebrochen und erst jetzt kam es wohl zu seinem schriftlichen „Widerruf“ und im Beisein Ežovs zu dem Deal mit Stalin. Man forderte, dass er seine Aussage selbst ausarbeiten solle, da nur er sie stimmig und in seinem Stil abfassen konnte. Sie wurde überprüft und Unpassendes von Stalin

69 O tak nazyvaemom „Parallel’nom antisovetskom trockistkom centre“ [Über das sogenannte „antisowjetische trotzkistische Zentrum“], in „Izvestija CK KPSS“ 1989, 9, S. 40f.; Kovalev, Valentin: Dva Stalinskich narkoma [Zwei Stalinsche Volkskommissare], Moskva 1995, S. 197. Zitiert nach Hedeler, S. 115. 70 Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S.  148 und S. 601. 71 Hedeler, Wladislaw (geboren 1953); Historiker, Journalist und Autor. 72 Hedeler (S. 141) erwähnt einen diesbezüglichen Brief Radeks vom 20. Januar 1937 an seine Frau, ohne weitere Einzelheiten zu nennen. 73 Krivitsky [Krivickij], S. 216 74 Hedeler, S. 16. 75 Bucharina, S. 388f. 76 Hedeler, S. 119.

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gestrichen.77 Radek wurde zum engsten Mitarbeiter der Untersuchungsbehörde und half aktiv mit, das Szenario für die angebliche Verschwörung zu entwerfen.78 Er sagte nicht nur gegen seine früheren Weggefährten aus, sondern auch gegen Rjutin, der in Moskau erneut vor Gericht gestellt wurde.79 Den „größten Dienst“, schreibt Orlov, habe Radek den Inquisitoren geleistet, als er Nikolaj Muralov, einen nahen Freund Trockijs und herausragenden Kommandeur im Bürgerkrieg, der seit Monaten die Aussage verweigerte, dazu überredete falsches Zeugnis gegen Trockij abzulegen.80 Angeblich hat Radek Stalin gern geholfen, da er damit rechnete, dass Stalin ihn wieder frei leben lassen würde, wenn auch in Sibirien.81 Es hätte sich um seine zweite Verbannung aus Moskau gehandelt und wohl nicht zufällig sprach er im Prozess von „meiner e r s t e n Verbannung“, als er seinen Aufenthalt in Sibirien von 1928–1929 erwähnte.82 In Vernehmungen, die sich über den Jahreswechsel 1936/37 hinzogen83, belastete Radek sich selbst und die mit ihm inhaftierten ehemaligen Oppositionellen Pjatakov, Muralov, Sokol’nikov, Serebrjakov, vor allem aber Bucharin, aufs schwerste. Die Verhörprotokolle vom 26. und 27. Dezember wurden Bucharin, der sich noch auf freiem Fuß befand, Ende Dezember durch einen Kurier in die Wohnung gebracht und Anna Larina Bucharina erinnert sich, dass er beim ersten Blick auf die Aussagen nur das Wort „entsetzlich“ hervorbrachte, sie bat, weiter vorzulesen und den Kopf unter einem Kissen verbarg, „wie ein Kind, das ein schlimmes Märchen hört“.84 Im Kern reduzierten sich die Aussagen darauf, dass Bucharin bereits 1934 den „terroristischen Weg betreten“ habe. Er hätte gewusst, dass Nikolaev85 der Mörder Kirovs war, wollte als Leiter eines rechten Terrorzentrums nach dem Kirov-Mord zum „planmäßigen Terror“ übergehen und Stalin bei einem Besuch in der „Izvestija“Redaktion ermorden lassen.86 Als Bucharin das hörte, warf er das Kissen beiseite. „Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn“ und er rief: „Ich verstehe absolut nicht, was da los ist! Eben gerade noch hat Radek mich gebeten, Stalin über seinen Fall zu schreiben, und jetzt verbreitet er solche Phantasien!“87 77 Beitrag des russischen Historikers Roy Medvedev in der WDR-Fernsehdokumentation „Erschießt sie wie die Hunde“, ARD, 11. Februar 1998. 78 Conquest, S. 167. 79 Ebenda, S. 108. 80 Orlow, Alexander [Orlov, Aleksandr], S. 119. 81 Beitrag des russischen Historikers Roy Medvedev, a.a.O. 82 Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 593. 83 Hedeler (S. 124f.) nennt folgende Daten dieser Verhöre: Dienstag, 22., Samstag, 26. (Verhör über Bucharin), Sonntag 27. (Verhör über Bucharin), Montag 28., Dienstag, 29. Dezember 1936 und 17. Januar 1937 (Verhör über die Direktiven Trockijs). 84 Bucharina, S. 380. 85 Nikolaev, Leonid Vasil’evič (1904–1934); der Attentäter, der den Leningrader Parteichef Kirov 1934 in seinem Amtssitz, dem Smol’nyj, erschoss. 86 Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 109 f. 87 Bucharina, S. 382.

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Die Verhörprotokolle bildeten die Grundlage für die „Gegenüberstellung“ Bucharins mit Radek am 19. Januar 1937. Man hatte Bucharin ins Zentralkomitee bestellt und in Anwesenheit Stalins, der Politbüromitglieder und unter Beteiligung Ežovs mit Radek und anderen Beschuldigten konfrontiert.88 Radek war „merkbar aufgeregt“, als er die in der Voruntersuchung gemachten Aussagen bestätigte. Gestützt auf den mündlichen Bericht ihres Mannes, schilderte die Bucharina den weiteren Verlauf der „Gegenüberstellung“: „Niemand aus dem Politbüro versuchte Radek Fragen zu stellen oder Zweifel an seinen Aussagen zu zeigen. Alle saßen unbeteiligt da. Radeks Aussagen befriedigten Stalin. Er gab sich den Anschein, als hielte er alles für wahr […]. Schließlich fing Bucharin an: ,Sagen Sie, Karl Berngardowitsch, wann haben Sie gelogen: jetzt, in ihren phantastischen Bekenntnissen, oder damals in der Datscha, als sie mich baten, Stalin von ihrer Unschuld zu schreiben? Ich habe Ihre Bitte erfüllt.‘ Radek schwieg. ,Ich bitte Sie, meine Frage zu beantworten: Haben Sie mich gebeten, Stalin von Ihrer Unschuld zu schreiben?‘ ,Ja, das habe ich‘, bestätigte Radek und schluchzte auf. ,Wasser!‘ bat er. ,Mir ist schlecht.‘ Stalin schenkte aus einer Karaffe Wasser ein und reichte es Radek. Radeks Hand zitterte so sehr, daß das Wasser aus dem Glas spritzte. Damit war die Gegenüberstellung beendet.89

Erschüttert beschrieb Bucharin Stalin danach seinen Eindruck von der Konfrontation mit Radek: „Und als ich in die trüben umherirrenden Augen Radeks schaute, der mich mit Tränen in den Augen verleumdet hat, erblickte ich die ganze perverse Tiefe der Welt Dostoevskijs, die Tiefe der Niedertracht menschlicher Gemeinheit. Ich bin von der Verleumdung schwer getroffen, bin schon halb tot.“90 Im vier Tage später anlaufenden Schauprozess ging Radek mit einer gewundenen Erklärung nochmals auf den Fall Bucharin ein: „Ich gebe noch eine Schuld meinerseits zu: nachdem ich bereits meine Schuld zugegeben und die [trotzkistische] Organisation aufgedeckt hatte, weigerte ich mich hartnäckig, Aussagen über Bucharin zu machen. Ich wußte: die Lage Bucharins ist genau so hoffnungslos wie die meinige, weil unsere Schuld, wenn nicht juristisch, so dem Wesen nach dieselbe war. Aber wir sind nahe Freunde, und intellektuelle Freundschaft ist stärker als andere Freundschaften. Ich wußte, daß Bucharin im selben Maße erschüttert ist wie ich, und ich war überzeugt, daß er der Sowjetmacht ehrliche Aussagen machen wird. Deshalb wollte ich ihn nicht gefesselt ins Innenkommissariat bringen. So wie in bezug auf unsere übrigen Kader, wünschte ich, daß er die Möglichkeit hat, die Waffen zu strecken. 88 Hedeler, S. 140. 89 Bucharina, S. 389–391. 90 Vatlin, S. 21, Anm. 43.

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Dadurch ist es zu erklären, weshalb ich erst gegen Schluß, als ich sah, daß die Gerichtsverhandlung unmittelbar bevorsteht, begriff, daß ich nicht vor Gericht erscheinen kann, wenn ich die Existenz einer anderen terroristischen Organisation verheimlicht habe,“91

Radek trat als „Kronzeuge“ gegen Bucharin auf und lieferte ihn mit seinen Aussagen an Stalin aus. Bucharin wurde knapp einen Monat nach Radeks Schauprozess am 27. Februar 1937 verhaftet, im Dritten Moskauer Prozess zum Tode verurteilt und am 15. März 1938 hingerichtet. Der Schauprozess gegen Radek und das sogenannte „sowjetfeindliche trotzkistische Zentrum fand vom 23.–30. Januar 1937 in Moskau statt. Kurz zuvor, am 20. Januar, hatte man Radek noch gestattet einen Brief an seine Frau zu schreiben, in dem er sie auf sein im Prozess bevorstehendes Geständnis vorbereitete und bat, sie möge ihn so in Erinnerung behalten, wie er vor der Verhaftung war.92 Schauplatz des Verfahrens war das Gewerkschaftshaus, ein blassgrünes klassizistisches Gebäude unweit des Kreml’, in dessen Säulensaal das Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes der UdSSR unter Vorsitz von Armeemilitärjurist Ul’rich93 am Mittag des 23. Januar zusammentrat. Das Gericht tagte in dem Saal, in dem Radek 1934 seine Rede vor dem Ersten Allunionskongress der Schriftsteller gehalten hatte. Es war ein frostklirrender Tag und der dunkle Saal wirkte deprimierend. Das Gebäude war von NKVDSoldaten abgeriegelt und die nahegelegene Haltestelle der Straßenbahn aufgehoben worden. Bereits vor dem Prozess und während seiner ganzen Dauer veröffentlichte die sowjetische Presse ununterbrochen die im ganzen Land auf Massenkonferenzen und Versammlungen „einstimmig“ gefassten textgleichen Entschließungen, in denen für die Angeklagten die Todesstrafe gefordert wurde.94 Diffamierende Karikaturen wurden abgedruckt, in denen Radek und die anderen Angeklagten als Hunde einen Nazistiefel lecken, aus dem Trockij oben herauslugt95, oder das Bild eines strammen NKVD-Mannes, der mit gepanzerter Faust die sich windende Hydra trotzkistischer Diversanten zerquetscht, deren blutspritzende Köpfe die Züge Radeks, Trockijs sowie weiterer Angeklagter tragen und deren Schwanz ein Hakenkreuz bildet.96 Von den siebzehn Männern auf der Anklagebank war Radek der bekannteste. Pjatakov, von Lenin zu den sechs wichtigsten Persönlichkeiten der Partei gezählt, war bis zu seiner Verhaftung im Volkskommissariat für die Schwerindustrie der Motor der Industrialisierungspolitik und galt noch immer als einer der fähigsten sowjetischen Politiker. Auch Sokol’nikov, ehemals Kandidat des Politbüros sowie Botschaf91 92 93 94 95

Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 601. Brief Radeks vom 20. Januar 1937 an seine Frau. Hedeler, S. 141. Ul’rich, Vasilij Vasil’evič (1889–1951). Sinkó, S. 412 und S. 414. Karikatur in der sowjetischen satirischen Zeitschrift „Krokodil“ zur Zeit des Radek-Prozesses 1937. Ruffmann, S. 137. 96 Karikatur von Boris Efimov in der „Izvestija“ zur Zeit des Radek-Prozesses 1937. „Erschießt sie wie die Hunde“. a.a.O.

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ter in London, und Serebrjakov, der frühere Sekretär des Zentralkomitees, waren Persönlichkeiten von politischem Gewicht und Muralov ein Held des Bürgerkriegs. Bei den übrigen Angeklagten handelte es sich um untergeordnete Funktionäre aus dem Bereich der Volkskommissariate für Schwerindustrie und Verkehrswesen, darunter zwei obskure NKVD-Agenten, die mit ihren Falschaussagen als Belastungszeugen fungierten.97 Die Anklage lautete auf Vaterlandsverrat, Spionage, Diversionstätigkeit, Schädlingsarbeit und die Vorbereitung terroristischer Akte gemäß den Artikeln 58–1a, 58–8, 58–9 und 58–11 des Strafgesetzbuches der RSFSR98. In der Anklageschrift hieß es, die Voruntersuchung habe den Beweis erbracht, „[...] daß auf Weisung L. D. Trotzkis im Jahre 1933 ein Parallelzentrum [zum trotzkistisch-sinowjewistischen Terrorzentrum] organisiert wurde, bestehend aus den in der vorliegenden Strafsache angeklagten J. L. Pjatakow, K. B. Radek, G. J. Sokolnikow und L. P. Serebrjakow, dessen Aufgabe die Leitung der verbrecherischen sowjetfeindlichen Spionage-, Diversions- und Terrortätigkeit war, die abzielte auf Untergrabung der militärischen Macht der UdSSR, Beschleunigung eines Kriegsüberfalls auf die UdSSR, Hilfeleistung an fremdländische Aggressoren bei der Besitzergreifung von Territorien und Zerstückelung der UdSSR, Sturz der Sowjetmacht und Wiederherstellung des Kapitalismus und der Macht der Bourgeoisie in der Sowjetunion; [...].“99

Ein weiterer Anklagepunkt, wonach Radek und Sokol’nikov auf Weisung Trockijs „zwecks Organisierung des gemeinsamen Kampfes gegen die Sowjetunion“ Verbindung zu Vertretern des nationalsozialistischen Deutschland aufgenommen hätten, stützte sich auf die Aussage Radeks. Bei dem Verhör am 4. Dezember 1936 hatte er erklärt: „,Die Behauptung Trotzkis betreffend seiner Kontakte zu Vertretern der [deutschen] Regierung war kein leeres Geschwätz. Davon konnte ich mich aus den Gesprächen überzeugen, die ich bei diplomatischen Empfängen in den Jahren 1934–1935 mit dem Mi97 Krivitsky [Krivickij], S. 228. 98 Im Strafgesetzbuch der RSFSR von 1926 waren das als „Staatsverbrechen“ klassifizierte „Konterrevolutionäre Verbrechen“, die mit dem Tod durch Erschießen – bei mildernden Umständen mit 10 Jahren Gefängnis – strafbewehrt waren. Auszugsweise Wiedergabe: Artikel 58–1a: Vaterlandsverrat; z.B. gegen die militärische Macht, die Unabhängigkeit oder die Unverletzlichkeit des Territoriums der UdSSR gerichtete Handlungen, wie Spionage, Preisgabe eines Militär- oder Staatsgeheimnisses. Artikel 58–8: Durchführung terroristischer Handlungen gegen Repräsentanten der Sowjetmacht. Artikel 58–9: In konterrevolutionärer Absicht durch Explosion, Brandstiftung oder andere Mittel herbeigeführte Zerstörung oder Beschädigung von Eisenbahn- oder Fernmeldeeinrichtungen, Pipelines, Lagerhäusern. Artikel 58–11: Jegliche Organisationstätigkeit, die auf die Vorbereitung oder Durchführung der im Strafgesetzbuch aufgelisteten konterrevolutionären Verbrechen gerichtet ist, sowie die Mitwirkung in einer Organisation, die solche Verbrechen zum Ziel hat. 99 Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 19.

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litärattaché Herrn [General Köstring] und dem Presseattaché der [deutschen] Botschaft, Herrn [Baum], einem sehr gut unterrichteten Vertreter Deutschlands, hatte. Beide gaben mir in vorsichtiger Form zu verstehen, daß die [deutsche] Regierung Verbindung mit Trotzki hat […]. Ich sagte Herrn K[östring], daß es vollkommen nutzlos sei, von der gegenwärtigen Regierung Zugeständnisse zu erwarten, und daß die [deutsche] Regierung auf Zugeständnisse der Realpolitiker in der UdSSR, d. h. des Blocks, wenn der letztere an die Macht gelangt, rechnen könnte.‘“100

Diese landesverräterischen Gesprächsinhalte waren genauso frei erfunden wie Radeks Geständnis, Spionage für Deutschland betrieben zu haben. Als der deutsche Botschafter deswegen bei Außenkommissar Litvinov scharfen Protest einlegte, erklärte dieser harmlos, mit „Herrn K.“ wäre General Köstring doch überhaupt nicht gemeint gewesen. Stalin hat sich später sogar bei dem Militärattaché mit den Worten entschuldigt: „Herr General, wir haben Sie auch einmal angreifen müssen. Vergessen Sie das!“101 Die von Radek mitzuverantwortende Anklage zählte ihn zu den verbrecherischen Leitern des „sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums“, die „eine Reihe von terroristischen Akten gegen die Führer der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der Sowjetregierung“ vorbereitet hätten.102 Für den Fall eines Krieges hätten sie einen „Plan zur Vorbereitung der Niederlage der UdSSR zum Zweck der Machtergreifung“ gehabt, der bereits im Frieden auf die „Untergrabung der wirtschaftlichen und militärischen Macht“ der Sowjetunion abzielte und in dessen Verfolgung sie „eine Reihe schwerster Staatsverbrechen“ verübt hätten.103 Nach Verlesung der Anklage vom Vorsitzenden einzeln befragt, bekannten sich Radek und alle übrigen Angeklagten im Sinne der Anklage für schuldig.104 Bereits in der Abendsitzung des ersten Prozesstages leistete sich Radek ein Geplänkel mit dem Staatlichen Ankläger, dem Staatsanwalt der UdSSR Vyšinski, mit dem er noch vor kurzem in Stalins Verfassungskommission zusammengearbeitet hatte. Als Radek bekannte, dass sich in Moskau eine ihm persönlich unterstellte „Trotzkisten“-Gruppe mit der Vorbereitung terroristi100 Ebenda, S.  9. In [Klammern] gesetzte Bezeichnungen und Namen fehlen im Prozessbericht und wurden durch den Verfasser ergänzt. Ausführlich schilderte Radek diese Begegnung dann in dem Verhör vor Gericht durch Vyšinskij am Vormittag des 24. Januar 1937. Er datierte das entscheidende Gespräch auf Herbst 1934. Dabei habe er geäußert, „daß die Realpolitiker in der UdSSR die Bedeutung einer deutsch-sowjetischen Annäherung verstehen und bereit sind, die Zugeständnisse zu machen, die für diese Annäherung notwendig sind.“ Sein Gesprächspartner habe begriffen, dass mit den „Nichtrealpolitikern“ die Sowjetregierung und mit den „Realpolitikern“ der trotzkistisch-sinowjewistische Block gemeint gewesen seien. Radek beendete seine Aussage zu diesem Punkt mit den Worten: „Als ich diese Antwort gab, verstand ich, daß ich einen Akt begehe, der für einen Bürger der Sowjetunion unzulässig ist.“ Ebenda, S. 119f. 101 Teske, S. 101f. 102 Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, a.a.O. 103 Ebenda, S. 11. 104 Ebenda, S. 21.

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scher Anschläge gegen Personen befasst habe105 und Vyšinskij diese Aktivitäten „in der Sprache des Strafgesetzbuches“ als „Mord […] gemäß Artikel 58–8“ qualifizierte, klopfte Radek wegen des zu erwartenden Strafmaßes bei dem Anklagevertreter auf den Busch: „Radek:

Das Strafgesetzbuch kenne ich nicht; ich kann darum nicht in seiner Sprache reden. Wyschinski: Ich glaube, daß Sie nach dem Prozeß das Strafgesetzbuch kennen werden. Und ich glaube, daß ich nach dem Prozeß das Strafgesetzbuch nicht mehr Radek: kennen werde. Wyschinski: Das wird vom Urteil des Gerichts abhängen. Jedenfalls werden Sie mehr wissen, als Sie heute wissen.“106

Bei seiner Vernehmung durch Vyšinskij am Vormittag des 24, Januar absolvierte Radek einen glänzenden Auftritt. Aleksandr Orlov erklärte die überzeugende schauspielerische Leistung aus dem Bemühen Radeks, sein Leben zu retten und seinem immensen Geltungsbedürfnis: „Obwohl Radek […] weit entfernt war, ein Verschwörer zu sein, so eignete er sich doch ganz ausgezeichnet für die Rolle eines solchen bei der Aufführung von Stalins Justizkomödie. Für diesen Teil war er mit geradezu einzigartigen Qualitäten ausgestattet. Er war ein geborener Demagoge, für den eine Lüge ein ebenso gutes Mittel war, ein Ziel zu erreichen, wie die Wahrheit selbst. Rhetorik und Sophistik bildeten sein Element, und oft in der vergangenen Zeit, wenn die Partei dessen bedurfte, hatte er stets mit der Gewandtheit eines Beschwörers zu beweisen gewußt, daß schwarz weiß und daß weiß schwarz war. Da er Stalin versprochen hatte vor Gericht zu lügen ,um der Sache der Partei zu dienen‘, in Wirklichkeit aber, um seine eigene Haut zu retten, so machte er sich an die ihm übertragene Aufgabe mit dem Eifer eines Preisfechters. Das Unmögliche zu beweisen und eine offenkundige Verrücktheit in logische Formen zu bringen, das alles aber besser als jeder andere zu tun, das war eine Tat, welche den demagogischen Intellekt und die Eitelkeit Radeks geradezu aufstacheln mußte. Seine Leidenschaft bei jeder Sache im Vordergrund zu stehen, gehörte zu Radeks hervorstechenden Charaktereigenschaften [...]. Er spielte seine Rolle im Prozeß mit solcher Vollkommenheit, daß der Uneingeweihte meinen mußte, er spreche die Wahrheit. Während die anderen Angeklagten vor Gericht über ihre ,Verbrechen‘ in einem leblosen Ton sprachen, […] ,belebte‘ Radek seine Rolle und verlieh allen seinen Äußerungen einen wahren dramatischen Geist.“107

105 Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 83. 106 Ebenda, S. 85. 107 Orlow, Alexander [Orlov, Aleksandr], S. 239f.

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Lion Feuchtwanger, der den Prozess beobachtete, zeigte sich von Radeks Verhalten fasziniert: „Auch den Schriftsteller Karl Radek werde ich schwerlich jemals vergessen. Nicht wie er dasaß in seinem braunen Rock, das häßliche, fleischlose Gesicht von einem kastanienfarbenen, altmodischen Bart umrahmt, nicht wie er ins Publikum hinausschaute, das er zum großen Teil kannte, oder auf die anderen Angeklagten, häufig lächelnd, sehr gelassen, häufig gewollt ironisch, nicht wie er beim Hereinkommen dem oder jenem der Angeklagten den Arm mit leichter zarter Gebärde um die Schultern legte, nicht, wie er, wenn er sprach, gern ein wenig posierte, sich über die anderen Angeklagten ein bißchen lustig machte, seine spielerische Überlegenheit zeigte, arrogant, skeptisch, gewandt, literarisch. Brüsk etwa schob er Pjatakow fort vom Mikrophon und stellte sich selber hin, manchmal schlug er mit der Zeitung auf die Barriere, oder er nahm ein Teeglas, warf ein Scheibchen Zitrone hinein, rührte herum, und während er die ungeheuerlichsten Dinge vorbrachte, trank er in kleinen Schlucken.“108

Einem anderen Zuschauer erschien Radek wie ein „zweideutiger tragischer Clown, unerwartet ins Publikum sprechend, deutsch und englisch, den Ankläger rätselhaft unterstützend“.109 Radek kooperierte mit Generalstaatsanwalt Vyšinskij, bestätigte die Aussagen aus der Voruntersuchung und übernahm indirekte Verantwortung für den Mord an Kirov: „[…] die Wurzeln aber dieses Verbrechens liegen in den nicht restlos überwundenen trotzkistischen Ansichten verborgen, mit denen ich [aus der Verbannung] zurückkehrte, in den weiter gepflegten Beziehungen zu den trotzkistisch-sinowjewistischen Kadern.“110 Er schilderte die Verbindungen der übrigen Angeklagten zu der Gruppe Zinov’evs und die Aktivität angeblicher trotzkistischer Terrorbanden, wobei er bereitwillig „die politische, juridische und moralische Verantwortung“ für alle Gruppen übernahm, absurderweise selbst für jene – wie er sagte – „von denen ich nichts wußte“.111 Um den Vorwurf der trotzkistischen Verschwörung zu untermauern, führte er manchmal geradezu Lächerliches an, das einem Groschenroman zu entstammen schien: „So traf ich beispielsweise einmal, als ich aus der Redaktion der ,Iswestija‘ zu Fuß nach Hause ging, auf der Twerskaja Smirnow mit seinem, wenn ich mich so ausdrücken darf, ,Stabschef‘ Ginsburg112. Als sie mich erblickten, bogen sie in die Gnesdnikowskigasse ein. Mir wurde sofort klar, daß hier etwas vorbereitet wird, daß hier etwas angezettelt wird.“113 108 Feuchtwanger, S. 129f. 109 Fischer, Ernst, Erinnerungen und Reflexionen, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 376. Möller, S. 48. 110 Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 92. 111 Ebenda, S. 104. 112 Vmtl. meinte Radek Lev G. Ginzburg, Bol´ševik seit 1919, der 1929 als Mitglied der Opposition kapituliert hatte. 113 Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 95.

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Radek behauptete, durch den TASS-Auslandskorrespondenten Romm bereits im Februar 1932 in Genf einen ersten Brief von Trockij erhalten zu haben, in dem zum terroristischen Kampf gegen die Sowjetführung aufgerufen wurde. Danach habe er noch drei weitere Briefe Trockijs bekommen – im April 1934, im Dezember 1935 und im Januar 1936. Im Brief vom April 1934 hätte Trockij ihm geschrieben, der Machtantritt des Faschismus in Deutschland bedeute Krieg. Diese militärische Auseinandersetzung würde mit der Niederlage der Sowjetunion enden und somit die „reale Situation für den Machtantritt“ der „Trotzkisten“ schaffen. Unter dieser Prämisse gelte es, bei ausländischen Mächten zu sondieren. Seine zustimmende Antwort an Trockij habe Romm im Mai 1934 im „Einbandrücken eines deutschen Buches“ versteckt aus der UdSSR in den Westen geschmuggelt.114 Im Schreiben vom Dezember 1935 hätte Trockij die Machtübernahme durch ein „bonapartistisches“ Regime und die Restauration des Kapitalismus konzipiert, und zwar mit Hilfe der faschistischen Kriegsgegner der Sowjetunion. Den deutschen Aggressoren wollte er dafür die Ukraine und Japan das Primore- sowie das Priamure-Gebiet in Fernost opfern.115 Die letzte persönliche Nachricht Trockijs habe ihm Pjatakov im Januar 1936 ausgehändigt, nachdem er sich im Dezember 1935 mit Trockij heimlich auf einem Flugplatz in Norwegen getroffen hätte.116 Zu diesem Zeitpunkt – so Radek – habe ihn aber schon der Sieg von Stalins Fünfjahrplan, der „lebendige Realität geworden ist“, zum Nachdenken über seine Taten veranlasst. „Und die Schlußfolgerung?“ fragte Vyšinskij. Radek antwortete: „Daher die Schlußfolgerung: Restauration des Kapitalismus unter den Verhältnissen des Jahres 1935. Einfach mir nichts dir nichts um der schönen Augen Trotzkis willen sollte das Land zum Kapitalismus zurückkehren. Als ich das las, kam mir das als Tollhaus vor. Und schließlich eine nicht belanglose Tatsache – früher stand die Frage so, daß wir um die Macht kämpfen, weil wir überzeugt sind dem Land etwas sichern zu können. Jetzt aber sollen wir dafür kämpfen, damit hier das Auslandskapital herrschen könne […]?“117

Das war sicherlich eine versteckte kritische Anmerkung, mit der er auf den Irrsinn der Anklage hinweisen wollte. Nachdem Radek die wesentlichsten Aussagen gemacht hatte, begann Vyšinskij ihn auf penetrante Art zu drangsalieren, wodurch sich der Angeklagte zu einigen scharfen Entgegnungen herausgefordert fühlte. Als der Generalstaatsanwalt seine Ausführungen in vergröbernd-psychologisierender Weise zu interpretieren begann, hielt ihm Radek vor: „Sie lesen sehr tief in der menschlichen Seele, doch muß ich 114 Ebenda, S. 116ff. 115 Ebenda, S. 124ff. 116 Diese Behauptung wurde noch während des Prozesses durch die vom norwegischen Außenministerium mit der Überprüfung der Fakten beauftragte Osloer Flughafenbehörde als Lüge widerlegt. Deutscher, Trotzki III, S. 338. 117 Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 137.

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meine Gedanken dennoch mit eigenen Worten kommentieren.“ Vyšinskij konterte beleidigt: „Ich weiß, daß Sie über ein ausreichendes Arsenal von Worten verfügen, hinter denen Sie Ihre Gedanken verbergen können, und daß es für einen Menschen, selbst einen, der gut in der menschlichen Seele zu lesen versteht, sehr schwer ist, Sie zu verstehen und Sie dazu zu bringen, das zu sagen, was Sie wirklich denken. Ich möchte Sie daher bitten, nicht mehr als Journalist zu sprechen, sondern als des Hochverrats Angeklagter.“118

Dann kam man nochmals auf das Gespräch mit General Köstring zurück, wobei Radek es sich nicht versagen konnte, auf die brüchige Beweislage anzuspielen: „Vyšinskij: ,Ihre Unterredung im November 1934 mit jenem Herrn [...], aus einem der mitteleuropäischen Staaten drehte sich, wenn ich nicht irre, um [...]?‘ Radek: ,Um Vaterlandsverrat.‘ Vyšinskij: ,Sie akzeptierten das? Und hatten die Unterredung?‘ Radek: ,Sie erfuhren davon von mir, das heißt also, daß ich sie hatte.‘“119

Im weiteren Verlauf der Befragung sagte Radek aus, er habe auf den dritten Brief Trockijs nicht mehr reagiert und 1935/36 jegliche konterrevolutionäre, verbrecherische, sowjetfeindliche Tätigkeit eingestellt.120 Vyšinski erinnerte ihn daran, dass er es dennoch unterlassen habe „ins ZK zu gehen“, sich zu „entlarven“ und seine Mitverschwörer „den Händen der Gerechtigkeit auszuliefern“. Auch habe er nach der Festnahme drei Monate lang ein Geständnis verweigert. Er fragte: „Stellt das nicht die Richtigkeit dessen in Zweifel, was Sie über Ihre Schwankungen, Zweifel gesagt haben?“ Sichtlich provoziert, machte Radek daraufhin auf die Achillesferse des ganzen Verfahrens und den Unsinn seiner Aussagen aufmerksam: „Ja, wenn man die Tatsache außer acht läßt, daß Sie über Programm und Instruktionen Trotzkis nur durch mich erfuhren, dann ist natürlich das von mir gesagte in Zweifel gestellt.“121 In der Abendsitzung des 24. Januar wurde Radek nochmals aufgerufen, um über eine Passage in seiner Aussage vom Nachmittag Auskunft zu geben, in der er angegeben hatte, im Januar 1935 habe ihn im Auftrag Marschall Tuchačevskijs „Witalij [sic!] Putna“122, der mittlerweile verhaftete sowjetische Militärattaché in London, aufgesucht123: 118 Ebenda, S. 139. 119 Ebenda, S. 141f. 120 Ebenda, S. 144f. 121 Ebenda, S. 148. 122 Putna,Vitovt Kazimirovič (1893–1937); Offizier der Roten Armee; 1931–1934 Korpskommandeur in Fernost; seit 1934 Militärattaché in Großbritannien; am 20. August 1936 verhaftet und am 11. Juni 1937 als Militärverschwörer verurteilt und hingerichtet. 123 Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 115.

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„Wyschinski: ,Mich interessiert es, in welchem Zusammenhang Sie hier den Namen Tuchatschewski nennen?‘ Radek: ,Tuchatschewski hatte einen Auftrag der Regierung, für den er das Material nirgends finden konnte, es war nur bei mir vorhanden […] und darum schickte er Putna, mit dem er gemeinsam den Auftrag erledigen sollte, zu mir nach diesem Material. Selbstverständlich hatte Tuchatschewski keine Ahnung von der Rolle Putnas und von meiner verbrecherischen Rolle.‘ Wyschinski: ,Und Putna?‘ Radek: ,Er war Mitglied der Organisation […].‘ Wyschinski: ,Verstehe ich recht, daß Putna Beziehungen zu Mitgliedern Ihrer trotzkistischen illegalen Organisation hatte, der Hinweis auf Tuchatschewski aber in dem Zusammenhang gemacht wurde, daß Putna in offizieller Angelegenheit im Auftrage Tuchatschewskis erschien?‘ ,Ich bestätige das und sage, daß ich mit Tuchatschewski niemals in SaRadek: chen, die mit konterrevolutionärer Tätigkeit zusammenhängen konnten, zu tun gehabt habe und auch nicht haben konnte, weil ich die Stellung Tuchatschewskis zur Partei und zur Regierung als die eines absolut ergebenen Menschen kannte.‘“124

Die im Gerichtssaal bei diesem Dialog entstandene Atmosphäre beschrieb ein Zuschauer mit den Worten: „Alle hielten den Atem an, bestürzt, entsetzt.“125 Val’tr Krivickij, ein erfahrener Nachrichtendienst-Offizier, der die Aussage Radeks in der Zeitung las, sagte erschrocken zu seiner Frau: „Tuchatschewski ist erledigt.“ Er habe es nicht nötig, von Radek losgesprochen zu werden. Er fügte hinzu: „Glaubst Du auch nur einen Augenblick lang, dass Radek es aus eigenem Antrieb wagen würde, Tuchatschewskys Namen in diesen Prozess zu tragen? Nein, Wyschinsky hat Radek Tuchatschewskys Namen in den Mund gelegt. Und Stalin hat Wyschinsky dazu veranlaßt. Begreifst Du denn nicht, daß Radek für Wyschinski spricht und Wyschinski für Stalin?126

Dietrich Möller vermutet hingegen, Radek habe in der Nachmittagssitzung des Gerichts den Namen des Marschalls ganz „unprogrammgemäß“ erwähnt127, so dass der verblüffte Vyšinskij und der nicht minder überraschte Vorsitzende Ul’rich sich erst einmal in eine Verhandlungspause zurückziehen mussten.128 Nach der Unterbrechung war von Tuchačevskij zunächst nicht mehr die Rede und erst Stunden später, in der Abendsitzung, kam Vyšinskij wieder auf Radeks Bemerkung zu sprechen. Das könnte durchaus darauf hindeuten, dass Radek mit seiner Aussage vom vorher fest124 Ebenda, S. 160. 125 Fischer, Ernst, Erinnerungen und Reflexionen, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 376. Möller, S. 50. 126 Krivitsky [Krivickij], S. 237. 127 Möller, S. 50. 128 Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 116.

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gelegten Szenario des Prozesses abgewichen war. Dafür könnte auch sprechen, dass die Tuchačevskij betreffende Aussage Radeks erst mit Verspätung in der Sowjetpresse erwähnt wurde.129 Aber warum hatte er den Namen des Marschalls so unvermittelt ins Spiel gebracht? Handelte es sich vielleicht um eine letzte Intrige Radeks, einen „Plan B“, um dem Henker zu entkommen? Möller zieht das schlüssig in Erwägung: „Radek verstand sich auf das Chiffrieren von Nachrichten ebenso wie auf politisches Ränkeschmieden. Er konnte in der Kenntnis der Charaktere und Denkweisen Stalins und Tuchatschewskis annehmen, der eine würde ihm vielleicht dankbar sein, gewiß aber in seinem maßlosen Mißtrauen der neuen Spur folgen. Tuchatschewski als der andere müßte die Erwähnung seines Namens aber als Warnung auffassen. Nur der Marschall war zu jener Zeit noch in der Lage, in einem schnellen Handstreich Stalin zu beseitigen. Wer das Signal auch aufnehmen und entsprechend handeln würde – Radek sah eine kleine Chance, mit dieser Kabale seinen Kopf aus der bereithängenden Schlinge ziehen zu können. Es war – wenn sie geplant gewesen sein sollte – die letzte Intrige Radeks.“130

Erich Wollenberg glaubte demgegenüber, Radek habe mit seiner Aussage Tuchačevskij als Militärverschwörer denunziert.131 Berücksichtigt man, dass der Marschall bereits 1936 unter Verdacht zu stehen schien, wofür seine geringe Beachtung bei den Herbstmanövern und drohende Bemerkungen Vorošilovs vor Kommandeuren über mangelnde Wachsamkeit Indizien waren, und bewertet man Stalins Äußerung auf dem Dezemberplenum des CK – das Beweismaterial gegen den Marschall habe sich als unbegründet erwiesen – als tarnenden Schachzug vor einem wirkungsvollen Schlag gegen die Armee, dann spricht letztlich vieles für die Bewertung, die Robert Conquest vornimmt: „Der ganze unbeholfene Dialog muß eine sorgfältig geplante Inszenierung gewesen sein, die ohne Zweifel von Stalin selbst entworfen wurde und vielleicht sogar auf Tuchatschewskis eigenes Drängen, nachdem zuvor sein Name gefallen war. Es war geradezu typisch, daß sie oberflächlich betrachtet dem Marschall volle Genugtuung gab. Er hätte kaum eine eindeutigere Erklärung seiner Loyalität und Unschuld verlangen können. Aber trotzdem waren Zweifel an seiner Person entstanden. Und als Wyschinski in seinem Schlußplädoyer bedauerte, daß die Angeklagten zwar vieles, aber nicht alles über ihre kriminellen Verbindungen ausgesagt hatten, waren die Grundlagen für weitere Ermittlungen in diese wie in andere Richtungen gelegt worden.“132 129 Noch am 26. Januar 1937 meldete der britische Botschafter aus Moskau an das Foreign Office, dass die Erwähnung Marschall Tuchačevskijs durch Radek im Prozess bisher nicht in der Sowjetpresse veröffentlicht worden sei. Despatch Viscount Chilston to Mr. Eden vom 26.1.37; in: British Documents on Foreign Affairs, Part II, Vol.14, Doc. 20, S. 21. 130 Möller, S. 51. 131 Ebenda. 132 Conquest, S. 222.

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Die Ermittlungen „in andere Richtungen“ sollten auch für Radek nicht folgenlos bleiben. Doch davon später. In seinem Plädoyer am 28. Januar verdammte Ankläger Vyšinskij Radek zusammen mit Pjatakov. Er beschimpfte sie als „bei lebendigem Leibe verfaulte Nichtswürdige, die den letzten Rest nicht nur der Ehre sondern auch des Verstandes verloren haben, niederträchtige, verkommene Leute, Marlboroughs133, die gegen den Sowjetstaat zu Felde zu ziehen versuchten, abscheuliche Politiker, kleine politische Falschspieler und große Banditen.“134 Er fasste das ganze Lügengebäude der Anklage zusammen und charakterisierte Radek als gefährlichen, in der Wolle gefärbten „Trotzkisten“: „Radek ist einer der prominentesten und, man muß ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen, talentvollsten und hartnäckigsten Trotzkisten. Bei Lebzeiten Lenins führte er einen Krieg gegen Lenin, nach Lenins Tod bekriegte er Stalin. In proportionalem Verhältnis zu seinen persönlichen Fähigkeiten steht seine soziale Gefährlichkeit, seine politische Gefährlichkeit. Er ist unverbesserlich. Er hat im sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrum das außenpolitische Portefeuille inne. Im Auftrage Trotzkis führt er mit einigen außenpolitischen Persönlichkeiten diplomatische Verhandlungen, oder, wie er sich ausdrückt, ,visiert‘ er Trotzkis Mandat. Er steht durch seinen eigenen sozusagen diplomatischen Kurier Romm mit Trotzki in regelmäßigem Briefwechsel, erhält von ihm das, was sie hier hochtrabend ,Direktiven‘ genannt haben. Er ist einer derjenigen, die dem Haupträdelsführer dieser Bande, Trotzki, am nächsten stehen und sein größtes Vertrauen genießen.“135

Schreiend schloss er seine Ausführungen mit dem Ausruf: „Nicht ich allein klage an! Ich klage zusammen mit unserem ganzen Volk an, ich klage die niederträchtigsten Verbrecher an, die nur ein Strafmaß verdienen – Erschießung, den Tod!“136 Am 29. Januar folgten die Schlussworte der Angeklagten. Radek, unterstrich die „gewaltige Bedeutung“ des Prozesses, der gezeigt habe, „daß die trotzkistische Organisation zu einer Agentur jener Kräfte geworden war, die einen neuen Weltkrieg vorbereiten.“ Im gleichen Atemzug stellte er die Frage: „Welche Beweise gibt es für diese Tatsache?“ In seiner Antwort wies er nochmals auf den entscheidenden Schwachpunkt des Prozesses hin: „Für diese Tatsache gibt es die Aussagen von zwei Leuten – meine Aussagen, daß ich Direktiven und Briefe von Trotzki bekommen habe (die ich leider verbrannt habe), und die Aussagen Pjatakows, der mit Trotzki [auf dem Flugplatz in Oslo] gesprochen hat. Alle anderen Aussagen der übrigen Angeklagten, – sie beruhen auf unseren Aussagen. Wenn 133 Anspielung auf den englischen Feldherrn John Churchill Herzog von Marlborough (1650–1722); Befehlshaber einer britisch-niederländischen Armee im Spanischen Erbfolgekrieg. 134 Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 532f. 135 Ebenda, S. 520. 136 Ebenda, S. 563.

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Sie es mit reinen Kriminalverbrechern und Spitzeln zu tun haben, worauf können Sie dann Ihre Ueberzeugung begründen, daß das, was wir gesagt haben, die Wahrheit, die unerschütterliche Wahrheit ist?“137

Auch wenn Radek sich nochmals des „Vaterlandsverrates“ bezichtigte und Trockij und die Angeklagten beschuldigte, trugen einige seiner Anmerkungen erkennbar ambivalenten Charakter. Als „Mensch der 35 Jahre in der Arbeiterbewegung gestanden hat“ und dem „diese Volksmassen mit denen ich ging, [...] doch etwas darstellen“138, könne er zwar „seine Schuld durch keinerlei Umstände mildern“139, aber dennoch bestreite er „die Behauptung, daß auf der Anklagebank Kriminelle sitzen, die alles Menschliche verloren haben.“140 Und wie war es um den trotzkistischen Terror bestellt? „Dutzende herumschleichender terroristischer Gruppen, die nur auf den Moment lauerten, wo sie einen der Parteiführer umbringen können [...].“ Aber: „Für den Terror gegen ganze Gruppen konnten wir nicht die uns notwendigen Leiter und Organisationen nach Moskau bekommen, das kennzeichnet den Stand der Kräfte der Terrororganisationen. Und andererseits stand ich doch selbst der Regierung und den führenden Parteikreisen genügend nahe, um zu wissen, daß es nicht nur Vorsichtsmaßnahmen der Sicherheitsorgane gab, sondern die Volksmassen so wachsam geworden sind, daß der Gedanke, es sei möglich, die Sowjetmacht durch Terror zu stürzen, und wäre es selbst mit Hilfe der ergebensten und verwegendsten Terroristengruppen, eine Utopie ist [...].“141

Trockij habe das gleichfalls eingesehen, behauptete Radek, und dann auf Hitler und die militärische Niederlage der UdSSR gesetzt: „Ich bin in militärischen Dingen nicht ganz unbewandert und vermag die internationale Situation einzuschätzen. Und für mich war klar […] im Jahre 1935 sind alle Chancen für den Sieg dieses Landes da, und wer früher sich selbst vormachte, er sei ein Defaitist aus Notwendigkeit, um das zu retten, was noch zu retten ist, – der muß sich selbst sagen: ich bin ein Verräter, der hilft, ein starkes, vorwärtsschreitendes Land zu unterwerfen. Zu welchem Zweck? Damit Hitler in Rußland den Kapitalismus wiederherstellt.“142

Vielleicht wollte er damit noch einmal die Absurdität des Prozesses deutlich machen. Er beendete seinen letzten öffentlichen Auftritt mit der vordergründig auf Trockij gemünzten, kryptischen Bemerkung: „Wir haben restlos begriffen, welchen historischen Kräften wir als Werkzeug dienten. Es ist sehr schlecht, daß wir das bei all 137 Ebenda, S. 594. 138 Ebenda. 139 Ebenda, S. 592. 140 Ebenda, S. 595. 141 Ebenda, S. 597. 142 Ebenda, S. 597f.

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unserer Geschultheit so spät begriffen haben, aber möge diese unsere Einsicht irgend jemandem nützlich sein.“143 Das Gericht zog sich am 29. Januar um 19:15 Uhr zur Urteilsberatung zurück. Das war eigentlich eine Farce, denn bereits am Vortag, dem 28. Januar, das heißt an dem Tag an dem Ankläger Vyšinskij sein Plädoyer hielt und die Todesstrafe für alle Angeklagten forderte, hatte der Vorsitzende Richter des Militärkollegiums Ul’rich das Urteil bereits im Entwurf fertiggestellt und mit der Bitte um Zustimmung an die Parteiführung und das Zentralkomitee geschickt.144 Ežov hatte ihm unmittelbar vorher die Anweisung für die Urteile übergeben: Alle Angeklagten, auch Radek, sollten erschossen werden.145 Dementsprechend hatte Ul’rich das Urteil abgefasst und durchweg die Todesstrafe vorgesehen. Auch die den Prozess begleitende Propagandakampagne hatte die Öffentlichkeit auf die zu erwartenden Todesurteile eingestimmt. „Die trotzkistischen Nattern gehören zerschmettert“, konnte man in der „Izvestija“ lesen.146 Stalin hielt sich jedoch an die Abmachungen mit Radek und Sokol’nikov und änderte deren Todesurteile in Gefängnisstrafen um. Als das Gericht am 29. Januar um 03:00 Uhr morgens aus dem Beratungszimmer zurückkehrte, verkündete Ul’rich, „Radek, Karl Bernhardowitsch, geboren 1885, Journalist“, habe – wie auch Sokol’nikov – die in der Anklage aufgeführten Verbrechen begangen. Das Militärkollegium des Obersten Gerichtshofs der UdSSR verurteile beide „als Mitglieder des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, die für seine verbrecherische Tätigkeit die Verantwortung tragen, sich aber nicht unmittelbar an der Organisierung und Ausführung von Diversions-, Schädlings-, Spionage- und Terroranschlägen beteiligten – zu je zehn Jahren Gefängnis [...].“ Radek und Sokol’nikov wurden „die politischen Rechte auf die Dauer von fünf Jahren aberkannt“ und die Beschlagnahme ihres persönlichen Eigentums angeordnet.147 Zwei weitere Angeklagte erhielten ebenfalls Haftstrafen, die übrigen wurden zum höchsten Strafmaß, „zur Erschiessung“ verurteilt. Schulterzuckend und koboldhaft lächelnd, nahm Radek das Urteil entgegen. Lion Feuchtwanger hat den von ihm miterlebten letzten öffentlichen Auftritt Radeks nachgezeichnet: „Am erschreckendsten aber und schwer deutbar war die Geste, mit der Radek nach Schluß der Verhandlung den Gerichtssaal verließ. Es war gegen vier Uhr morgens, und alle, Richter, Angeklagte, Zuhörer, waren erschöpft. Von den siebzehn Angeklagten waren dreizehn, darunter nahe Freunde Radeks, zum Tod, er selber und drei andere nur zu Gefängnis verurteilt worden. Der Richter hatte das Urteil verlesen, wir alle hatten es stehend angehört, Angeklagte und Zuhörer unbeweglich, in tiefem Schweigen, und unmittelbar nach der Verlesung hatten die Richter sich zurückgezogen, Soldaten erschienen, sie traten 143 Ebenda, S. 603. 144 Hedeler, S. 146. 145 Conquest, S. 192. 146 „Izvestija“, Nr. 25 vom 28. Januar 1937. 147 Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 628–636.

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zunächst zu den vieren, die nicht zum Tod verurteilt worden waren. Einer legte Radek die Hand auf die Schulter, ihn offenbar auffordernd, ihm zu folgen. Und Radek folgte ihm. Er wandte sich, grüßend hob er die Hand, zuckte ein ganz klein wenig mit den Achseln, winkte den andern zu, den zum Tode verurteilten, seinen Freunden, und lächelte. Ja, er lächelte.“148

Im Gegensatz zu den anderen Angeklagten hatte Radek in seinem Schlusswort nicht um sein Leben gebeten. Ein Indiz dafür, dass er wusste, dass ihm die Todesstrafe erspart bleiben würde.149 Dennoch war er sichtlich erleichtert, als er das Urteil hörte, denn er konnte letztlich nicht völlig darauf vertrauen, dass Stalin das Versprechen, ihn zu verschonen, wirklich einhalten würde. Aber es war ein schuldbewusstes Lächeln, mit dem er sich seinen Mitangeklagten und dann auch dem Publikum zuwandte und so tat, als ob er sich sein Glück nicht erklären könnte. Der sowjetische Romanschriftsteller Aleksej Tolstoj150, der zu dem handverlesenen Publikum des Prozesses gehörte und mit Missfallen „Radeks Dreistigkeit und Schärfe“ gegenüber Generalstaatsanwalt Vyšinskij verfolgt hatte, behauptete, sein Sitznachbar habe Radeks Schlussauftritt als so abstoßend empfunden, dass er in dem Augenblick als der Verurteilte aus dem Gerichtssaal abgeführt wurde, geflüstert habe: „Ein Teufel, aber kein Mensch.“151 Das war vermutlich reine Zweckpropaganda und Stimmungsmache Tolstojs. Aber selbst westliche Beobachter aus dem Kreis der etwa 350 geladenen Zuhörer sahen fast ausnahmslos nicht, dass es sich bei dem Prozess um eine Inszenierung mit erfundenen Beschuldigungen und falschen Geständnissen handelte. In völliger Harmlosigkeit glaubte Joseph E. Davies152, damals amerikanischer Botschafter in Moskau, Radek sei tatsächlich der Anführer einer politischen Verschwörung, der – obwohl nicht persönlich an Verbrechen beteiligt – von diesen Kenntnis besaß. Naiv zollte Davies Radek Anerkennung dafür, dass er nicht versucht habe, sich vor seiner Verantwortung zu drücken.153 Der britische Botschafter betrachtete Radek als einen Verräter seiner Genossen:

148 Feuchtwanger, S. 130f. 149 Das vermittelt auch der Prozesseindruck des britischen Botschafters, der am 6. Februar 1937 nach London berichtete: „Radeks Schlußwort scheint zu zeigen, dass er von seinem leichteren Urteil vorher Kenntnis hatte. „Despatch Viscount Chilston to Mr. Eden vom 6.2.37“; in: British Documents on Foreign Affairs, Part II, Vol.14, Doc. 23, S. 29f. 150 Tolstoj, Aleksej Nikolaevič Graf (1883–1945); seit 1936 als Nachfolger Gor’kijs Vorsitzender des sowjetischen Schriftstellerverbandes. 151 Lockhart, R. H. Bruce, My Europe, London 1952, S. 44. Legters, S. 121. 152 Davies, Joseph E. (1876–1957); amerikanischer Diplomat; 1936–1938 US-Botschafter in Moskau. 153 Davies, Joseph, Mission to Moscow, o.O. 1941; in: The universal Jewish encyclopedia in ten volumes, Vol. 9, New York 1948. Saur, Jüdisches Biographisches Archiv, 1. Lieferung, Microfiche Nr. 536, # 262.

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„Es ist in der Sowjetunion Mode geworden, vom „Judas Trockij“ zu sprechen; aber wenn jemals ein Sowjetbürger diesen Vorwurf verdient hat, ist es Karl Radek. Er wird zweifellos auch im nächsten Prozeß die rednerische Hauptrolle zugewiesen bekommen, um die offensichtlich unerschöpflichen Schätze seines Gedächtnisses in den Dienst Stalins zu stellen.“154

Mit einem Höchstmaß an Verblendung besorgte Lion Feuchtwanger Stalins Geschäft. Als persönlicher Gast des Diktators hatte er mit kalter Faszination aus seiner Ehrenloge verfolgt, wie die Angeklagten Verbrechen gestanden, die sie nie begangen hatten: „[...] als ich Pjatakow, Radek und seine Freunde sah und hörte, zergingen in dem sinnlichen Eindruck dessen, was die Angeschuldigten und wie sie es sagten, meine Bedenken, wie sich Salz in Wasser auflöst. Wenn das gelogen war oder arrangiert, dann weiß ich nicht, was Wahrheit ist.“155 Die Männer, die da vor Gericht standen, waren keineswegs gemarterte, verzweifelte Menschen vor ihrem Henker […]. Die Angeklagten selber waren gutgepflegte, gutgekleidete Herren von lässigen natürlichen Gebärden, sie tranken Tee, hatten Zeitungen in den Taschen und schauten viel ins Publikum. Das ganze glich weniger einem hochnotpeinlichen Prozeß als einer Diskussion, geführt im Konversationston, von gebildeten Männern, die sich bemühten, festzustellen, welches die Wahrheit war, und woran es lag, daß es geschehen war. Ja, es machte den Eindruck, als hätten Angeklagte, Staatsanwalt und Richter das gleiche, ich möchte fast sagen, sportliche Interesse, die Geschehnisse lückenlos aufzuklären.“156

Mit peinlicher Beflissenheit zeigte er sich in der Rolle eines Erfüllungsgehilfen und betete das Plädoyer des Anklägers nach157: „Es ist erfreulich, daß in dem Prozeß [...] Licht gefallen ist auf die Motive, welche die Angeklagten zu ihren Geständnissen bewogen haben. Es wird dadurch allen denjenigen, die ehrlich um die Findung der Wahrheit bemüht sind, erleichtert diese Geständnisse als Beweismaterial zu werten. Es ist keine Frage, daß die Schuld der Angeklagten eindeutig 154 Despatch Viscount Chilston to Mr. Eden vom 6.2.37; in: British Documents on Foreign Affairs, Part II, Vol.14, Doc. 23, S. 30. 155 Feuchtwanger, S. 119. 156 Ebenda, S. 127f. Offensichtlich war Feuchtwanger in seiner Naivität von dem, was er da schrieb, überzeugt. Noch fünfzig Jahre später beantwortete Feuchtwangers Frau Marta die Frage, wie ihr Mann die ”Blutprozesse“ beurteilt habe, mit den Worten „[...] der Prozeß wurde nicht im Gerichtssaal geführt, eher wie in einem Herrenclub, wo Menschen sich unterhalten, politisieren. Der Staatsanwalt zum Beispiel ging zum Angeklagten, setzte sich auf dessen Sessellehne und diskutierte über Politik. Meinem Mann erschien das sehr menschlich.“ Gespräch in der Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“, das Reinhart Hoffmeister Ende der 1980er Jahre mit Marta Feuchtwanger führte; zitiert in: El-Akramy, S. 209. 157 El-Akramy, S. 207.

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bewiesen ist [...]. Ihre Schuld und ihre Sühne westlichen Menschen klar zu machen, bedürfte es eines großen Sowjetdichters.“158

Es fand sich zwar kein Sowjetdichter, aber ein dänischer Schriftsteller. Der „gute alte“ Martin Andersen Nexø, der ein groteskes Bild des Prozesses entwarf: „Gut, daß ich den Prozeß miterlebt habe […]. Oft habe ich Gerichtsverhandlungen beigewohnt, nie aber solcher, die sich so menschlich und schlicht abspielten wie diese […]. Hier hatte man endlich – was so selten in einem Gerichtssaal vorkommt – den Eindruck von absoluter Redefreiheit.“159 Sie alle konnten oder wollten nicht begreifen, was da im Gerichtssaal vor sich ging, auch wenn George Kennan als Beobachter registrierte, dass Radek in Chiffren sprach und Signale aussandte.160 Keiner von ihnen verstand und erkannte Radek. Liest man die Prozessprotokolle, so wird klar: „Der Angeklagte Radek chiffrierte die Nachricht, der Prozeß gegen ihn und die Mitangeklagten sei inszeniert und ohne jeden Beweis.“161 So beurteilte auch Aleksandr Orlov Radeks Auftreten vor Gericht: „Man könnte vielleicht aus der Tatsache, daß Radek vor Stalin auf den Knien kroch und sich äußerste Mühe gab, dem Staatsanwalt zu helfen, die Meinung ableiten, er sei geistig so tief gesunken, daß es ihm vollkommen gleich war, ob die Welt glaubte, er sei ein faschistischer Spion und ein Verräter gewesen, oder ob sie es nicht tat. Aber wenn wir Radeks Ausführungen vor Gericht sorgsam prüfen, werden wir finden, daß er es meisterhaft verstand, seine ihn belastenden Aussagen so zu konstruieren, daß daraus der Wahnsinn der ganzen Anklagen klar hervorging.“162

Orlov vertrat die Auffassung, Radek habe „seine gefährliche Schmuggelware“ so listig und geschickt eingeführt, dass das Gericht nicht bemerkte, wie „die Stützen, auf denen die Anklagen ruhten“, zusammenbrachen.163 Das war auch der Eindruck, den der deutsche Diplomat Gustav Hilger, der Radek sehr gut kannte, im Verlauf des Verfahrens gewann: „Ich saß unter der Zuhörerschaft als er sprach, und sein Auftreten ließ nicht den leisesten Zweifel in mir, daß Radek nicht die Absicht verfolgte, durch übertriebene Ausdrücke der Reue seine Haut zu retten, sondern daß er damit an die Kommunisten im Ausland appellierte, denen er mit grotesken und sinnlosen Selbstbeschuldigungen die wahre Natur 158 Feuchtwanger, „Eine neue Barriere gegen den Krieg“, in: „Das Wort“, Nr. 3, März 1937. ElAkramy, S. 207f. 159 Nexø, in: „Das Wort“, Nr. 3, März 1937. El-Akramy, S. 208. 160 Memorandum Kennans an Secretary of State Hull vom 13. Februar 1937, DA 861 00/116,75. Tuck, S. 139. 161 Möller, S. 49. 162 Orlow, Alexander [Orlov, Aleksandr], S. 242. 163 Ebenda, S. 243.

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von Stalins Regime anschaulich machen wollte. Es war seine letzte vergebliche Geste der Verzweiflung.“164

In seinem Schlusswort brachte Radek eine explizite Warnung an die Kommunisten im Westen unter. Bei der Aufzählung der aus dem Prozess zu ziehenden Lehren, sagte er: „Zweitens müssen wir den trotzkistischen Elementen in Frankreich, in Spanien, und in anderen Ländern, und solche gibt es, sagen: die Erfahrung der russischen Revolution zeigt, daß der Trotzkismus ein Schädling der Arbeiterbewegung ist. Wir müssen sie warnen, daß sie mit ihren Köpfen heimzahlen [bezahlen] werden, wenn sie nicht aus unseren Erfahrungen lernen.“165

Vor dem Hintergrund des seit Mitte 1936 andauernden spanischen Bürgerkriegs, in dem das NKVD auf republikanischer Seite in den Internationalen Brigaden und unter spanischen Marxisten Jagd auf die „trotzkistischen Verräter“ machte, war das eine brandaktuelle Warnung und zugleich die Botschaft an die Anhänger Trockijs in den Kommunistischen Parteien des Westens, haltet euch von Moskau fern, wenn euch euer Leben lieb ist. Insgesamt jedoch leistete Radek bei der ganzen „Justizkomödie“, „trotz einiger kurzer aber treffender Schläge, die er dem Gericht zufügte, Stalin unschätzbare Dienste“ und hat „Stalins Instruktionen genau ausgeführt „166. Aleksandr Solženicyn reduzierte die Rolle Radeks im Prozess auf die eines Lockspitzels und Provokateurs.167 Als solcher fungierte er zwar auch, aber es hat den Anschein, dass sich Radeks Verhalten vor und während des Prozesses aus zwei Hauptmotiven speiste: Der inneren Verpflichtung, ausländischen Genossen ein Signal zu geben sowie seinem Willen zum Überleben und Weiteragieren168 – oder um Radeks burschikose Formulierung zu gebrauchen, dem Bestreben, „nicht verschüttzugehen“.169 Stalins Rachsucht und Paranoia haben beim großen Terror, bei dem Radek sowohl Helfer wie Opfer war, gewiss eine Rolle gespielt. Aber es gab auch gewichtige politische Gründe für das Vorgehen des Diktators gegen die alte Garde der Bol’ševiki, die ihm schon lange ein Dorn im Auge war. Voller Misstrauen betrachtete er sie am Vorabend des sich abzeichnenden Zweiten Weltkriegs als eine potentielle Fünfte Kolonne. Vor die Alternative gestellt, sich entweder mit Hitler zu verständigen oder Krieg mit ihm zu führen, war er sich der innenpolitischen Risiken beider Optionen bewusst. Einem Pakt mit Hitler hätten sich die ehemaligen Führer der 164 Hilger, S. 78. 165 Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 602. 166 Orlow, Alexander [Orlov, Aleksandr], S. 244. 167 Solschenizyn [Solženicyn], Der Archipel Gulag, Erster Teil, S. 390. 168 Möller, S. 48. 169 Radek, Trockistsko-Zinov´evskaja fašistskaja banda i eё getman Trockij, in: “Izvestija” Nr. 194, vom 21. August 1936., S. 3, zitiert nach: Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 530.

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Opposition wahrscheinlich widersetzt. Lief der Krieg schlecht, würde man ihn dafür verantwortlich machen, zur Rechenschaft ziehen und womöglich stürzen.170 Er hatte die von hohen Armeeführern akklamierte „Clemenceau-Erklärung“ Trockijs171 von 1927 nicht vergessen. Hatte sich damit nicht ein gegen ihn gerichteter Staatsstreich der Opposition bereits angekündigt? Isaac Deutscher projizierte diese Überlegungen in die erste Phase des Krieges hinein: „Man stelle sich vor, was geschehen wäre, wenn die Führer der Opposition die furchtbaren Niederlagen der Roten Armee in den Jahren 1941 und 1942 erlebt hätten, wenn sie gesehen hätten, wie Hitler vor den Toren Moskaus stand, wie Millionen russischer Soldaten in deutsche Gefangenschaft gerieten, wenn sie Zeuge gewesen wären der gefährlichen Vertrauenskrise im russischen Volk im Herbst 1941, als das Schicksal der Sowjetunion an einem Faden hing und Stalins moralische Stellung auf dem tiefsten Punkt war. Es ist sehr wohl möglich, daß sie in einer solchen Lage den Versuch gemacht hätten, Stalin zu stürzen. Stalin wollte es nicht so weit kommen lassen.“172

Wollte Stalin die Macht nicht verlieren, so musste er seine mutmaßlichen Gegner schon jetzt vernichten. Er fand in Ežov und Vyšinskij eifrige Exekutoren seiner Absicht, die „Ersatzmannschaften“173 zu beseitigen: „Die Anklagen, die er auf seine Gegner häufte waren – darüber ist kein Wort zu verlieren – schamlose Erfindung. Aber sie beruhten auf einer pervertierten ,psychologischen Wahrheit‘, auf einer grotesk brutalen und alles umkehrenden Vorwegnahme möglicher Entwicklungen. Vielleicht dachte er folgendermaßen: Sie werden mich in einer Krise stürzen wollen. Ich werde ihnen zuvorkommen und sie des Versuches bereits jetzt anklagen.“174

Stalins Hauptmotiv war die Furcht vor dem Verlust der Macht und sein wichtigstes Ziel war es, angesichts der zunehmenden Gefahr eines Krieges, sich aller potentiellen innenpolitischen Gegner zu entledigen.175 Es bleibt die Frage, warum Stalin ausgerechnet Radek in die angebliche trotzkistisch-sinowjewistische Verschwörung einbezogen hat. Seit 1929, dem Jahr seines Widerrufs, hatte Radek alle Brücken zur Opposition abgebrochen, sich dem Diktator gegenüber loyal verhalten, Bljumkin ausgeliefert und an der Propagandafront den Ruhm des „Baumeisters der sozialistischen Gesellschaft“ gemehrt. Gleichzeitig galt er keinesfalls als ernstzunehmender Konkurrent im Kampf der bolschewistischen Führer um die Macht. Er zeigte nicht die geringsten Ambitionen, sich als politischer Akteur zu profilieren und Einfluss im 170 Chlewniuk [Chlevnjuk], S. 250 u. S. 256; Deutscher, Stalin, S. 401f. 171 Siehe oben, Kapitel 18. 172 Deutscher, a.a.O., S. 402. 173 Serge, Beruf: Revolutionär, S. 374. 174 Deutscher, a.a.O. 175 Vgl. Chlewnjuk [Chlevnjuk], S. 256f.

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Kreml’ zu erlangen.176 Allerdings musste Stalin ihn schon aufgrund der ihm eigenen primitiven Mentalität verabscheuen. „Radek war gescheit, gewandt, geistreich, jüdischer Abstammung und Kosmopolit – beinahe alles Eigenschaften, die Stalin verhaßt waren.“177 Oder, wie Möller schreibt: „Neben Stalin hätte Radek immerhin wie ein Parabolspiegel gewirkt, auf den das Licht der Revolution fällt, ohne es auf den Georgier abzulenken. Radek wäre in der grauen Mittelmäßigkeit der Stalinschen Führung selbst eine Lichtquelle gewesen, auf die sich die Blicke des Publikums hätten richten müssen […]. Stalin mußte das fremde Licht verblassen lassen, auslöschen.“178 Auch goutierte der Georgier in seiner Eitelkeit kaum die Radek zugeschriebenen Witze über seine Person. Beispielsweise denjenigen, der seinen Vulgärmarxismus mit der Frage persiflierte, wer wohl nach Stalins Tod der unfehlbare Kommentator von Karl Marx sein würde und die Antwort gab: „Das Pferd des Genossen Budënnyj“.179 Sicherlich spielte auch Stalins Antisemitismus eine Rolle. Dennoch erklärt das nicht ausreichend, weshalb Stalin Radek ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt ausschaltete. Vielleicht lag es wirklich nur daran, wie Conquest vermutet, dass es dem Diktator an prominenten Namen für den zweiten Schauprozess fehlte, solange er die „Rechtsabweichler“ Bucharin und Rykov nicht verhaften konnte.180 Radek war ein sehr bekannter Mann181 und Stalin konnte kein besseres Werkzeug für die Schauprozesse finden als ihn.182 Grund genug, um ihm zunächst ein Todesurteil zu ersparen, wobei auch der internationale Bekanntheitsgrad Radeks mitgespielt haben mag. Die anderen Angeklagten waren im Westen so gut wie unbekannt, aber die Hinrichtung Radeks, wie auch des vormaligen Londoner Sowjetbotschafters Sokol’nikov, hätte doch für Stalin eine kaum wünschenswerte negative Resonanz im Ausland gefunden. So war es wohl eine ganze Reihe von Motiven, die Stalin bewog, beide zunächst zu verschonen. Im NKVD erzählte man die Geschichte, Lion Feuchtwanger habe sich bei Stalin für Radek und auch Sokol’nikov eingesetzt. Er hätte sich bereiterklärt, eine Apologie der Schauprozesse zu verfassen, wenn Radek und andere jüdische Angeklagte von der Todesstrafe verschont blieben. Stalin sei darauf eingegangen, da ihm besonders da176 Vgl. Conquest, S. 165. 177 Carmichael, S. 94f. 178 Möller, S. 42. 179 Lerner, S.  165. Stalin pflegte in der Umgebung seiner Datscha bei Moskau gemeinsam mit Budёnnyj, der 1935 sowjetischer Marschall geworden war, Ausritte zu unternehmen. 180 In einer 1937 erschienenen Analyse des Prozesses wird auf die Nummerngebung der Prozessakten verwiesen. Die Akte Pjatakovs habe die Nummer 1 getragen, die Akte Radeks die Nummer 5 und die Akte Sokol´nikovs die Nummer 8. Daraus wird die Schlussfolgerung abgeleitet, man habe die Angeklagten aus einer vorliegenden Liste von Personen ausgewählt, von denen die Geständigen zum Schauprozess kamen, während die anderen in Geheimverfahren verurteilt wurden. „Why did they confess? A Study of the Radek-Piatakov Trial“, S. 11. Vorstellbar wäre auch, dass die fehlenden Nummern Personen auf der Liste zugeordnet waren, die sich, wie Bucharin und Rykov, noch in Freiheit befanden. 181 Conquest, S. 193. 182 Vatlin, S. 21.

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ran gelegen war, dem kurz vorher erschienenen Buch von André Gide183 „Retour de l’URSS“ entgegenzuwirken, das ein düsteres Bild der Sowjetunion entworfen hatte. Als Dank dafür, dass Stalin Gnade walten ließ, habe Feuchtwanger sein tendenziöses Buch „Moskau 1937“ verfasst, in welchem er die Prozesse rechtfertigte.184 Eine solche Absprache erscheint allerdings zweifelhaft, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Feuchtwanger – ganz offensichtlich von der Schuld der Angeklagten überzeugt – vier Tage nach der Urteilsverkündung in einer Unterredung mit Komintern-Chef Georgi Dimitrov185 besorgt anmerkte: „Daß Radek und Sokol’nikov nicht zum Tode verurteilt wurden, wird im Ausland als Beweis gewertet werden, daß sie absichtlich solche Aussagen gemacht haben, um ihr Leben zu retten.“186 Dimitrov plagten freilich ganz andere Sorgen. Am 11. Oktober 1937 wandte er sich an Ežov mit der Bitte, ihm für die Geschichte der Komintern das bei Radek und anderen Opfern des Terrors sichergestellte Material zu übergeben.187 Mit der Verurteilung im Prozess war Radeks Nützlichkeit für Stalin keineswegs erschöpft. Erinnert sei an des Diktators Metapher von der Zitrone, die es restlos auszuquetschen galt, bevor man sie wegwarf. Radek verblieb zunächst in Moskau in Haft und durfte sogar noch einmal seine Frau sehen.188 Er wurde am 19. Februar 1937 aus der Lubjanka in die „Butyrka“, das berüchtigte Butyrskaja-Gefängnis des NKVD, verlegt189 und in die Vorbereitung des dritten großen Schauprozesses gegen Bucharin und den sogenannten Block der Rechten einbezogen. Mit Bucharin, der Ende Februar 1937 verhaftet worden war, gab es eine neuerliche Gegenüberstellung, bei der Radek seine ursprüngliche Aussage gegen ihn abschwächte und einige seiner schwerwiegenderen Beschuldigungen nicht mehr bestätigen wollte.190 Zu weiteren Vernehmungen Radeks wurde nur Bruchstückhaftes bekannt. So etwa ein Verhör am 15. Juni 1937 über ein angeblich auf Hitler geplantes Attentat191 oder ein von Aino Kuusinen für 1938 erwähnter Auftritt als Zeuge gegen die Universitätsrektorin

183 Gide, André (1869–1951); französischer Schriftsteller, der in dem Buch „Retour de l’URSS“ die vorwiegend negativen Eindrücke seiner Reise in die UdSSR im Jahre 1936 schilderte. 184 Poretsky, S. 198. 185 Dimitrov, Georgi (1882–1949); bulgarischer KP-Führer; 1935 bis zur Auflösung 1943 Generalsekretär der Komintern; nach dem 2. Weltkrieg bulgarischer Ministerpräsident. 186 Hedeler, S. 150. 187 Ebenda, S.  312. Die anderen ehemaligen Kominternfunktionäre, deren Papiere Dimitrov bei NKVD-Chef Ežov gleichzeitig anforderte, waren Zinov’ev, Bucharin, Béla Kun, Pjat´nickij und Vil’gelm Georgievič Kuorin (1890–1938). Ebenda. 188 In der Verbannung in Astrachan erzählte Rosa Radek der Bucharina, sie hätte vor ihrer Ausweisung aus Moskau noch ein Treffen mit Karl Radek gehabt. Bucharina, S. 202. 189 „Personalbogen Nr. 700 für den Häftling des Butyrskaja-Gefängnisses des NKVD Radek, Karl Berngardovič, eingeliefert 19/2 1937“. WDR-Fernsehdokumentation „Erschießt sie wie die Hunde“, ARD, 11. Februar 1998. 190 Orlov, S. 129. 191 Hedeler, S. 253.

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Maria Frumkina192 im Moskauer Lefortovo-Gefängnis.193 Schließlich soll in einem Geheimprozess erneut gegen ihn verhandelt worden sein. Er habe Beweise gegen Marschall Tuchačevskij unterdrückt, lautete die Anklage. Man verurteilte ihn zum Tode, setzte die Vollstreckung jedoch aus.194 Vor den Augen der Weltöffentlichkeit fanden die Moskauer Schauprozesse von 1936 und 1937 noch ein Nachspiel, in dem Radek wegen seiner schändlichen Rolle im zweiten Prozess bloßgestellt wurde. Lev Davidovič Trockij, der eigentliche Hauptangeklagte in den Verfahren, versuchte vom Ausland aus gegen die verleumderischen Beschuldigungen vorzugehen. Er hatte drei Wochen nach Abschluss des Radek-Pjatakov-Prozesses ein neues Asyl in Coyoacán im Süden von Mexico-City gefunden und es war ihm gelungen, eine internationale Untersuchung der Moskauer Prozesse zu erreichen. Im März 1937 bildeten erklärte Antistalinisten und Antikommunisten unter Vorsitz des führenden amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey195 eine Untersuchungskommission, die es sich zur Aufgabe machte, einen „Gegenprozess“ zu führen. Sie tagte ab 10. April 1937 in Mexico-City und nahm Trockij als Hauptzeugen ins Kreuzverhör. Dieser erinnerte daran, dass die Mehrzahl der Beschuldigungen und Aussagen im zweiten Moskauer Schauprozess sich auf nichtexistente gefälschte Briefe sowie auf die falschen Geständnisse Radeks und Pjatakovs stützten, insbesondere auf die Lüge, sie seien als Trockijs Hauptagenten tätig geworden. Beide gehörten zu den Kapitulanten, mit deren Hilfe Stalin in den letzten dreizehn Jahren einen „babylonische Turm“ der Verleumdung errichtet habe. Trockij rechnete mit Radek ab. Er sei weder ein richtiger Revolutionär noch ein Politiker, sondern nur „ein Journalist“. 1928 als einer seiner Parteigänger verbannt, habe er sich als opportunistischer Wendehals entpuppt, vor Stalin kapituliert und Bljumkin verraten. Der Anwalt Trockijs unterstrich den von seinem Mandanten geschilderten moralischen Bankrott Radeks und verlas Auszüge aus dessen „Pravda“-Artikel, in dem 1923 Trockij als der „Organisator des Sieges“ verherrlicht worden war. Er verglich den Text mit Radeks Hetztirade in der „Izvestija“, in der er Trockij 1936 als „Hetman“ einer mörderischen „Faschistenbande“ verleumdete. Es sollte mehrere Monate dauern, bis die Dewey-Kommission im September 1937 zu einem Urteil kam und Trockij von allen in Moskau erhobenen Beschuldigungen vollkommen freisprach. Es handele sich um falsche Anklagen und Trockij sei „nichtschuldig“.196 Im Hinblick auf Radek stellte die Kommission fest: 192 Frumkina, Maria Jakovlevna (1880–1943); Leiterin der Jüdischen Sektion in der Hauptverwaltung für politische Erziehung des CK der VKP(b); seit 1925 Rektorin der Kommunistischen Universität der nationalen Minderheiten des Westens/KUNMZ (Universitet nacional´nych menšinst v Zapada). 193 Kuusinen, S. 192. 194 Conquest, S. 191f. Tuchačevskij wurde am 29. Mai 1937 als Militärverschwörer verhaftet, am 11. Juli 1937 in einem Geheimprozess zum Tode verurteilt und am 12. Juli 1937 erschossen. 195 Dewey, John (1859–1952); US-amerikanischer Philosoph und Pädagoge, der als Freund der Sowjetunion galt. 196 Vgl. Deutscher, Trotzki III, S. 346–357 und S. 366; Tuck, S. 151–162.

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„Nach unserer Auffassung […] sind weder Radeks Aussage über seine Beweggründe sich der angeblichen Verschwörung anzuschließen, noch seine Aussage, daß er durch einen Brief, den Trockij ihm unaufgefordert zusandte, Kenntnis davon erhielt und zur Teilnahme gedrängt wurde, überzeugend. Das wird unglaubwürdig, wenn man die Aussage Trockijs sowie das von ihm als Beweis vorgelegte Material berücksichtigt.“197

Damit war Radek, der in Moskau als Verschwörer verurteilt worden war und den Trockij vor dem Dewey-Tribunal als „den heimtückischsten meiner Feinde“198 charakterisiert hatte, als „gemeiner Schuft“ entlarvt.199 Zugleich war ein von Moskau inspirierter und von Stalins Sympathisanten im Westen initiierter Aufruf zum Boykott der Dewey-Kommission fehlgeschlagen, zu dessen Unterzeichnern so prominente Schriftsteller wie Theodore Dreiser200 und Romain Rolland gehörten. Ihnen erschien der Gedanke absurd, dass Trockij unschuldig sein könnte. Sie bewerteten die Kritik an den Schauprozessen als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Sowjetunion und Schützenhilfe für den Faschismus, denn sie weigerten sich daran zu glauben, dass ihr Idol Stalin zu einer so niederträchtigen Handlung, wie der Inszenierung eines auf Lug und Trug aufgebauten Prozesses fähig sein könnte.201 Eine unter linksstehenden Intellektuellen häufig anzutreffende Haltung. So war auch Bertolt Brecht202 voll des Lobes für Feuchtwangers Buch „Moskau 1937“ mit seiner kalten und verblendeten „Analyse“ der Moskauer Prozesse.203 Angesichts des Urteils der Dewey-Kommission wollte Moskau im dritten Schauprozess im Frühjahr 1938 gegen Bucharin und den „Rechtsblock“ dem Radekschen Lügenmärchen von den an ihn gerichteten Briefen Trockijs erneut Glaubwürdigkeit verleihen. Als der Angeklagte Rosengol’c sich verhaspelte und mit seiner Aussage den Eindruck erweckte, auch der mit ihm vor Gericht stehende Stellvertretende Außenkommissar Krestinskij habe Briefe von Trockij erhalten, musste dieser das „richtigstellen“: Er habe nicht Briefe von Trockij erhalten, sondern Briefe gesehen, die Trockij an Radek geschickt hatte, behauptete er.204 Das Bild, das die Moskauer Propaganda zu dieser Zeit von Radek verbreitete, machte eine in der sowjetischen Presse veröffentlichte Karikatur deutlich. Dargestellt als bebrilltes Schwein, drängt er sich zusammen mit den als Artgenossen karikierten Bucharin, Rykov und Sokol’nikov gierig vor einem Trog mit der deutschen Aufschrift „Vaterland“, an dem ein SS-

197 Not Guilty (Dewey Commission Report), New York 1972; zitiert nach: Tuck, S. 161. 198 The Case of Leon Trotsky (Dewey Commission Hearings), New York 1969; zitiert nach: Tuck, S. 162. 199 Tuck, ebenda. 200 Dreiser, Theodore (1871–1945); sozialkritischer US-amerikanischer Schriftsteller. 201 Not Guilty (Dewey Commission Report), New York 1972; Tuck, S. 148. 202 Brecht, Bertolt (1898–1956); gesellschaftskritischer deutscher Dichter und Dramaturg. 203 El-Akramy, S. 209f. 204 Hedeler, S. 379.

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Mann sich anschickt, die lechzenden trotzkistischen Tiere aus einem Eimer mit [Arbeiter-]Blut zu füttern.205 Das Schicksal des dergestalt als Erfüllungsgehilfe der Faschisten verunglimpften blieb auf Jahre hinaus im Ungewissen. Radek war im GULAG206 verschollen. In Moskau kursierten zunächst Gerüchte, dass er sich während der Haft ungewöhnlicher Freiheiten erfreuen dürfe. Später sprach man davon, dass er während des Zweiten Weltkriegs an Lungenentzündung gestorben sei.207 1955 verbreitete Harrison Salisbury, Radek sei in den Kriegsjahren in einem Straflager im nordostsibirischen Jakutsk von einem Mitgefangenen erstochen worden.208 Ein sowjetischer Überläufer behauptete 1956, er habe als Chiffrierbeamter des NKVD ein Geheimtelegramm entschlüsselt, aus dem hervorging, dass Radek 1938 im Gefängnis von Irkutsk oder Novosibirsk von einem Zellengenossen im Streit erschlagen worden sei. Der habe ihn hochgehoben und auf den Zementboden der Zelle geschleudert. Radek sei an der ihm dabei zugefügten Schädelverletzung gestorben.209 Daneben hielten sich hartnäckig Gerüchte, er sei 1941 begnadigt worden und habe überlebt.210 Auch gab es Berichte, nach denen Radek noch nach 1945 gelebt und unter dem Pseudonym „Evgenij“ für die sowjetische Presse geschrieben habe. Als Ghostwriter Chruščevs211 habe er dessen auf dem XX. Parteitag der KPdSU gehaltene Geheimrede geschrieben, mit der die Entstalinisierung eingeleitet wurde. Noch 1964 wurde behauptet, er lebe als Pensionär in Moskau.212 Erst 1970 konnte der amerikanische Historiker Warren Lerner diesen hauptsächlich russischen Emigrantenkreisen entstammenden Spekulationen ein Ende bereiten, indem er auf die 1960 in Moskau veröffentlichten 205 Wiedergabe in: King, S. 161. 206 Die Abkürzung GULAG (Glavnoe Upravlenie Lagerej) bedeutet Hauptverwaltung der Lager des NKVD und ist gleichzeitig das Synonym für das Repressionssystem der Sowjetunion, das aus Gefängnissen, Zwangsarbeitslagern, Straflagern und Verbannungsorten bestand. Die offiziellen Bezeichnungen waren: 1934–1938 Hauptverwaltung der Lager, Arbeitssiedlungen und Gefängnisse des NKVD der UdSSR (GU lagerej trudovych poselenij i mest zaključenija NKVD SSSR); 1938–1939: Hauptverwaltung der Arbeitslager und Arbeitssiedlungen des NKVD der UdSSR (GU ITL [ispravitel´no trudovych lagerej] i trudovych poselenij NKVD SSSR). 207 Hilger, S. 79. 208 Salisbury, S. 125. 209 Petrov, S. 64. Bei dem Überläufer handelte es sich um Vladimir Petrov, der gemeinsam mit seiner Frau Edovkia 1954 in Australien um politisches Asyl nachsuchte. 210 Dieser Version folgten um die Mitte der 1950er Jahre große internationalen Nachschlagewerke in ihrem biographischen Eintrag über Radek: Der „Große Brockhaus“ (1950, S. 512) nennt kein Todesdatum und erwähnt eine Verbannung Radeks von 1937–1941. Die „Encyclopedia Britannica“ (1959, S. 874 B) schreibt: „He was released after serving only four years of his term in order that he might serve as a propagandist.“ Der „Grand Larousse“ (1963, S. 987) vermerkt: „[...] il fut gracié dès 1941“. Die spanische Enzyklopädie „DiccionarioEnciclopedico Abreviado“ (1957, S. 902) enthält den Hinweis: „[...] siendo puesto en libertad en 1941.“ 211 Chruščev, Nikita Sergeevič (1894–1871); 1953–1964 Erster Sekretär des CK der KPdSU(B) und seit 1958 zugleich Ministerpräsident der UdSSR. 212 Lerner, S.170.

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Protokolle des IX. Parteitags der RKP(b) verwies. Darin wurden nach Jahren des sowjetischen Schweigens über die Unperson Radek in einer kurzen biographischen Notiz erstmals wieder sein Name genannt und die Lebensdaten erwähnt: „Radek, K.B. (1885–1939)“. Es war die offizielle Verlautbarung des Kreml’, dass Radek 1939 verstorben war.213 Die Prognose Victor Serges hatte sich erfüllt. Er hatte 1937 den „großen Schwindelprozeß“ analysiert und angekündigt, „obwohl Radek zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden sei, werde er nicht mehr lange leben.“214 Die Umstände von Radeks Tod blieben allerdings lange von einem Schleier des Geheimnisses umgeben. Am 15. Juni 1988 teilte die Zeitung „Moskovskie novosti“ mit, Radek sei 1939 in einem Lager von einem kriminellen Häftling ermordet worden. 1991 gab eine russische Kurzbiographie an, er sei im Mai 1939 von Mithäftlingen im Gefängnis erschlagen worden.215 Eine 2003 verbreitete Version lautete, Radek sei zur Zwangsarbeit in die Bleibergwerke des sibirischen Arbeitslagers Nerčinsk am Amur verschickt und dort von Mithäftlingen umgebracht worden.216 Und noch 2006 wurde wiederholt, ein Krimineller habe ihn 1939 in einem arktischen Arbeitslager erschlagen.217 Es trifft indessen nicht zu, dass Radek in einem s i b i r i s c h e n Lager den Tod fand. In neueren russischen Nachschlagwerken wird als Ort seines Todes Verchneural’sk am Südural genannt.218 In der etwa 60 km nördlich von Magnitogorsk am Oberlauf des Ural-Flusses gelegenen Kleinstadt befindet sich die Festung Verchne Jaickaja aus dem 18. Jahrhundert, von der Teile bereits in der Zarenzeit als Gefängnis benutzt wurden. Als ehemalige zaristische Strafanstalt von den Bol’ševiki mit dem Namen „Zentralgefängnis von Verchneural’sk (Verchneural’skij central’)“ versehen und ab 1937 in „Central’nyj izoljator“ umbenannt, diente sie als ein sogenannter Politisolator für politische Gefangene und Kriminelle, die wegen Kapitalverbrechen verurteilt waren.219 Im März 1937 entrüstete sich Innenkommissar Ežov über das nach seiner Auffassung zu lockere Regime in diesen Gefängnissen, die dem inzwischen verhafteten Leiter der Geheimen Politischen Abteilung des NKVD Molčanov unterstellt waren: 213 Ebenda, S. 171. 214 Serge, Beruf: Revolutionär, S. 374. 215 A. Lunačarskij, K. Radek, L. Trockij. Siluety: Političeskie portrety, Moskva 1991, S. 447. 216 Hedeler, S. 650. 217 Möller, S. 51. Möller bezieht sich auf Robert Conquest (Am Anfang starb Genosse Kirov, Düsseldorf, 1970, S.222) und wiederholt diese Version in dem Aufsatz „Der skeptische Revolutionär – Karl Radek in Deutschland, in: Stürmische Aufbrüche und enttäuschte Hoffnungen. Russen und Deutsche in der Zwischenkriegszeit; Hrsg. Karl Eimermacher, München 2006, S. 274 = WestÖstliche Spiegelungen. Neue Folge, Band 2. 218 Z.B.: Političeskie dejateli Rossii 1917. Biografičeskij slovar’ [Politiker Russlands 1917. Biographisches Lexikon], Moskva 1993. Saur, Russisches Biographisches Archiv, 10. Lieferung 1997–1999, Mikrofiche 388, Nr. 193–199; Rossijskaja evrejskaja ėnciklopedija [Russische jüdische Enzyklopädie], Moskva 1994, S. 146. Ebenda, Mikrofiche 388, Nr. 200. 219 Rossi, S. 44.

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„Im System des NKVD gibt es Sondergefängnisse und Politisolatoren. Letztere […] gleichen eher Zwangserholungsheimen als Gefängnissen. Die Haftordnung gestattet es, dass die Häftlinge ein kollektives Leben im Gefängnis führen und ihre konterrevolutionäre Arbeit fortsetzen. Sie bekommen Literatur und Papier in unbegrenztem Umfang. Es gibt auch Vodka für die Häftlinge und die Frauen durften ihre Männer besuchen. Für die Dauer des Besuchs wohnten sie in den Zellen […]. Die Gefangenen durften sogar Sport treiben und die Wärter mußten für die Gefangenen die Balljungen sein.“220

Ežov bezog sich mit seiner zynischen Schilderung vor allem auf angebliche Zustände in den Politisolatoren von Čel’jabinsk und Suzdal’ (Gebiet Vladimir), aber manches traf wohl auch auf Verchneural’sk zu, wo inhaftierte Oppositionelle die handgeschriebene Gefangenenzeitung „Der kämpfende Bolschewik“ in Umlauf brachten.221 Verchneural’sk war der Politisolator für die Sowjetprominenz. Zinov’ev und Kamenev waren 1935 dorthin überführt worden. Zinov’ev, der sich besonders für Probleme des Faschismus und die Geschichte der Stände in Russland interessierte, hatte eine Menge Bücher mitgebracht, um über diese Themen zu arbeiten.222 Auch Radek und der mit ihm verurteilte Sokol’nikov waren aus Moskau in dieses Gefängnis verlegt worden, wo sie gegenüber Mithäftlingen ihre Unschuld beteuerten, auf Stalin schimpften und ihren Schauprozeß eine Inszenierung nannten. Der „Vater der Völker“ erfuhr durch Spitzelberichte davon und im Mai 1939 wurde ihre Liquidierung beschlossen. Es wurden „Maßnahmen“ eingeleitet. Lavrentij Berija223, der Ežov mittlerweile als Volkskommissar für Innere Angelegenheiten abgelöst hatte und sein Stellvertreter Bogdan Kobulov224 bereiteten im Auftrag Stalins die Ermordung von Radek und Sokol’nikov vor. Bei der Planung der Morde im NKVD wies Kobulov darauf hin, daß Stalin von der Operation Kenntnis hätte und bestand auf tadelloser Durchführung. Man bediente sich zur Tatausführung Mitgefangener, die als ehemalige NKVD-Mitarbeiter wegen politischer und dienstlicher Vergehen Haftstrafen verbüßten und Radek und Sokol’nikov in einem von ihnen provozierten Streit erschlugen.225 Radek wurde am 19. Mai 1939 umgebracht.226 Nikita Petrov, Mitarbeiter der Moskauer Menschenrechtsorganisation „Memorial“, hat ein Dokument aus dem Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation veröffentlicht, das den Tathergang weiter erhellt. Bei diesem Dokument handelt es sich um den Aus-

220 Rede Ežovs am 2. März 1937 vor dem ZK-Plenum. Hedeler, S. 190. 221 Bjulleten’oppozicii 27/1932, S. 13. Rogowin [Rogovin], S. 360. 222 Wassezki, S. 73f. 223 Berija, Lavrentij Pavlovič (1899–1953); 1938 Erster Stellvertreter und dann Volkskommissar für Innere Angelegenheiten (NKVD). 224 Kobulov, Bogdan Cacharovič (1904–1953); führender NKVD-Mitarbeiter; 1941–1945 Stellvertreter von Berija. 225 Klausen, S. 9. 226 Političeskie dejateli Rossii 1917. Biografičeskij slovar’, a.a.O.

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kunftsbericht, den der Erste Vorsitzende des KGB Ivan Serov227 am 29. Juni 1956 für das ZK der KPdSU und zwar für die von Nikolaj Švernik228 geleitete Kommission über die Umstände der Ermordung von Radek und Sokol’nikov verfaßt hat. Der Bericht bestätigt die vorstehend wiedergegebene Version der Morde. Die weiteren Einzelheiten der Stellungnahme Serovs zur Tatausführung gibt der russische Historiker Aleksandr Vatlin zusammenfassend wie folgt wieder: „Als Erster war Radek an der Reihe. Nachdem ein erster Mordanschlag fehlgeschlagen war, traf am 19. Mai im Gefängnis von Werchneuralsk ein von Pjotr Kubatkin geführter NKWD-Trupp ein. Der Leiter des Gefängnisses unterzeichnete [bereits vor der Ausführung der Tat] das Protokoll über eine ,Auseinandersetzung unter Häftlingen‘. Als Mörder wird der ,Trotzkist‘ Wareshnikow genannt. Seine Rolle übernahm der damals ebenfalls in Haft befindliche Mitarbeiter des NKWD der tschetschenisch-inguschetischen ASSR [Autonomen Sozialistischen Sowjet-Republik] Stepanow. Im knappen Obduktionsbericht heißt es, dass der Tod im Ergebnis des Aufpralls des Kopfes auf dem Fußboden eingetreten ist. Der Hals des Toten wies Würgemale auf, aus Mund und Ohren war Blut ausgetreten.“229

Damit steht fest, daß Stalin sich der „ausgequetschten Zitrone“ Radek mit der Hilfe eines gedungenen Mörders des NKVD am 19. Mai 1939 entledigt hat. Pëtr Kubatkin, der NKVD-Instrukteur des Mörders Stepanov wurde für seine „gute Arbeit“ belohnt und zum Leiter der Moskauer Gebietsverwaltung des NKVD befördert.230 Weitgehend unbeachtet geblieben ist, daß Stalin mit Radek auch einen der Hauptzeugen für die Finanzierung Lenins und seiner Gefolgschaft durch das kaiserliche Deutschland beseitigen ließ. Von den 1918 im bolschewistischen Auslandsbüro in Stockholm unmittelbar an der Weiterleitung der deutschen Gelder nach Petrograd Beteiligten war Vorovskij 1923 bei einem Attentat ums Leben gekommen, Parvus 1924 gestorben und Hanecki, wohl weil er zuviel wußte, bereits 1937 während der großen Säuberung hingerichtet worden. Für Stalin, den selbsternannten Erben Lenins, war Radek der letzte potentiell gefährliche Mitwisser dieses dunklen Kapitels der Geschichte der Bol’šéviki, der noch am Leben war. Ein Aspekt, der bei der Entscheidung ihn für immer zum Schweigen bringen zu lassen, durchaus mitgespielt haben könnte. Sokol’nikov überlebte Radek nur um zwei Tage. In das Gefängnis von Tobol’sk verlegt, wurde er am 21. Mai 1939 von einem vom NKVD dafür eigens aus Moskau überstellten „Mithäftling“ in seiner Zelle erschlagen.231 227 Serov, Ivan Aleksandrovič (1905–1990); 1939–1954 Stellvertretender Volkskommissar des Innern der UdSSR. 228 Švernik, Nikolaj Michajlovič (1888–1970); 1938–1946 Vorsitzender des Nationalitätensowjet; 1946–1953 Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjet. 229 Vatlin, Die Komintern (Berlin 2009), S. 246. 230 A.a.O., S. 247. 231 A.a.O., S. 246.

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Stalin kannte auch kein Pardon für die Angehörigen und Kinder der „Volksverräter“. Die Söhne ließ er erschießen – so im Falle der hingerichteten Zinov’ev, Kamenev und Muralov – und die Frauen und Töchter ins Lager bringen.232 Am 7. November 1937 gab er in Form eines Trinkspruchs verschärfte Weisung zur Verfolgung der „Volksfeinde“ und ihrer Familienangehörigen: „Und wir werden jeden dieser Feinde vernichten, sei er auch ein alter Bolschewik, wir werden seine Sippe, seine Familie komplett vernichten. Jeden der mit seinen Taten und in Gedanken einen Anschlag auf die Einheit des sozialistischen Staates unternimmt, werden wir erbarmungslos vernichten. Auf die Vernichtung aller Feinde, ihrer selbst, ihrer Sippe – bis zum Ende!“233

Zu dieser Zeit waren Radeks Frau Rosa und seine Tochter Sonja bereits verhaftet. Im Sommer 1937 wurden beide zusammen mit Anna Larina Bucharina und den Frauen und Kindern Tuchačevskijs sowie anderer führender Militärs (die in einem Geheimprozess am 11. Juni 1937 zum Tode verurteilt und sofort hingerichtet worden waren) nach Astrachan verbannt, wo sie alle am 12. Juli 1937 eintrafen. Die Bucharina erinnert sich an die Ankunft in der staubigen und schwülen, ganz in weiße Akazienblüten gehüllten Hafenstadt im Mündungsgebiet der Volga: „Wir waren die Sensation des Ortes, auf uns zeigte man mit den Fingern. Die Nachricht, daß die Angehörigen von Radek, Bucharin und den früheren berühmten Heerführern, die nun als Vaterlandsverräter gebrandmarkt waren, angekommen waren, war von den NKWD-Mitarbeitern und ihren Frauen selbst verbreitet worden.“234 Ungefähr zwei Monate nach ihrem Eintreffen wurden Rosa Radek und fast alle verbannten Frauen verhaftet und in das Gefängnis von Astrachan eingeliefert. Tochter Sonja befand sich noch auf freiem Fuß und schickte der Mutter Päckchen mit Lebensmitteln ins Gefängnis, einmal ein halbes Weißbrot, in dem ein Kassiber versteckt war.235 Wahrscheinlich wurde Rosa noch 1937 ins Potomalag transportiert, wo gerade eine besondere Lagerabteilung für 7.000 weibliche Angehörige von „Volksfeinden“ eingerichtet worden war. Die Insassinnen wurden später auf andere Lager verteilt. Ein Teil kam nach Karaganda und 2.000 Frauen, darunter Radeks Frau, wurden ins Segetlag verlegt, ein Lager bei Segeta an der von der Strecke nach Murmansk abzweigenden Eisenbahnlinie nach Kirovsk auf der Halbinsel Kola. 1941 ist sie dort verstorben.236 232 Bericht der Serebrjakova (Tochter von Leonid P. Serebrjakov) in der WDR-Fernsehdokumentation „Erschießt sie wie die Hunde“, ARD, 11. Februar 1998. 233 Trinkspruch Stalins bei einem Mittagessen mit den Sowjetführern nach Abnahme der Demonstration zum Jahrestag der Oktoberrevolution auf dem Roten Platz am 7. November 1937. Tagebucheintrag Georgi Dimitrovs vom 7. November 1937. Hedeler, S. 324. 234 Bucharina, S. 196. 235 Ebenda, S. 209f. 236 Wolin, S. 194; Klausen, S. 9.

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Schließlich wurde 1937 auch Radeks Tochter Sofija (Sonja) Karlovna unter der Beschuldigung verhaftet, sie habe mit anderen Kindern von „Volksfeinden“, alle Komsomolzen, eine Geheimorganisation gegründet, die sich der Sache der Eltern annehmen wollte. Der Vorwurf der konterrevolutionären Organisationstätigkeit wurde allerdings wieder aus der Anklage gestrichen und der Tatbestand „nur“ auf antisowjetische Propaganda reduziert.237 Sonja wurde zunächst zu „acht Jahren“ verurteilt238 und musste die Zeit von 1937 bis 1956 abwechselnd im Lager und in der Verbannung verbringen. Nach ihrer Freilassung war sie als Dissidentin aktiv und Mitunterzeichnerin eines Briefes vom 24. September 1967, in dem 43 Kinder, deren Eltern dem Großen Terror zum Opfer gefallen waren, vor einer Rehabilitierung Stalins warnten.239 1988 erlebte sie in Moskau noch die Rehabilitierung ihres Vaters.240 In der Sowjetunion und im Sowjetblock blieb Karl Radek bis weit in die 1950er Jahre hinein eine Unperson. Er fand zwar noch Erwähnung im „Kurzen Lehrgang der Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki)“, in dem er als „bucharinistisch-trotzkistischer Spion, Schädling und Landesverräter“ sowie „Abschaum der Menscheit“ und „Scheusal“ beschimpft wurde, den das Sowjetgericht zur Erschießung verurteilt habe.241 Auch in den bis Anfang der 1950er Jahre publizierten „Werken“ Stalins fanden dessen polemische Angriffe auf den „faulen Diplomaten“ Radek aus der Zeit des Fraktionskampfes Aufnahme. Radeks Schriften jedoch standen auf dem Index und ihr Besitz sowie frühere persönliche Kontakte zum Verfasser waren kriminalisiert.242 Noch nach Stalins Tod 1953 wurde Radek in der Literatur so gut wie nicht erwähnt243 und falls das geschah, diente er zur 237 Kuusinen, S. 193; Bericht der Krestinskaja (Tochter von Nikolaj Krestinskij), in der WDR-Fernsehdokumentation „Erschießt sie wie die Hunde“, ARD, 11. Februar 1998. 238 „Izvestija CKKPSS“, Nr. 7, 1989. Conquest, S. 193. 239 Boer, S. P. de; Driessen, E. J.; Verhaar, H. L.; Biographical Dictionary of Dissidents in the Soviet Union 1965–1975. The Hague, Boston, London 1982, S. 17. Saur, Biographisches Archiv der Sowjetunion (1917–1991), Mikrofiche 369, 338. 240 Klausen, S. 9. 241 Zitiert nach: Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Kurzer Lehrgang (überprüft nach der russischen Auflage von 1944), Berlin (Ost) 1955, S. 451–455. 242 Dazu zwei Beispiele: – Aus der Strafakte des seit 1928 als Arbeiter in Moskau lebenden und im August 1937 verhafteten deutschen Kommunisten Karl Hager, bei dem man unter anderem Bücher von Karl Radek gefunden hatte: „Frage: ,Woher stammen die Bücher und zu welchem Zweck haben Sie sie aufgehoben?‘ Antwort: ,[...] die Bücher von Radek habe ich in Moskau gekauft.‘ Frage: ,Wem haben Sie die Bücher zum Lesen gegeben? [...].‘“ Hedeler, S. 429. – Der mit Radek bekannte Journalist Michail Efimovič Kol´cov (eigentl. Fridland; 1898–1940; Mitarbeiter der „Pravda“, der Illustrierten „Ogonëk“ und der satirischen Zeitschrift „Kroko dil“) wurde im Februar 1940 zum Tode verurteilt und hingerichtet, weil man ihn unter ande rem beschuldigte, er habe sich 1923 von Karl Radek für einen britischen Spionagering an werben lassen. El-Akramy, S. 269f. 243 Karl Radek fand weder in der „Bol´šája sovetskaja ėnciklopedija“ von 1941 noch in der von 1955 Erwähnung. Sein Name fehlte auch in der „Malaja sovetskaja ėnciklopedija“ von 1959. In der

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Zielscheibe stalinistischer Verleumdung. Typisch dafür war das geschichtsklitternde Zerrbild, das ein 1953 in Ostberlin erschienenes Buch von ihm zeichnete. Da war die Rede von dem Polen Karl Radek, einem glänzenden „linken“ Journalisten und Agitator, „den der gemeinsame Kampf gegen Lenin in der Schweiz mit Trotzki zusammengeführt hatte“. 1920 habe er Lenins Elektrifizierungsprogramm für Sowjetrussland mit dem Bonmot „Elektrofiktion“ lächerlich gemacht, dann an „exklusiven Geheimkonferenzen“ von „Trockijs Untergrundbewegung“ teilgenommen und in dessen Auftrag in Leningrad zusammen mit Zinov’ev am 10. Jahrestag der Oktoberrevolution versucht, „einen Putsch durchzuführen.“ Deshalb verhaftet und verbannt, hätte er zu denen gehört, die sich auf Anweisung Trockijs mit Hilfe falscher Angaben wieder in die Partei eingeschlichen und zur Fünften Kolonne formiert hätten. Er habe seine konterrevolutionäre Tätigkeit fortgesetzt und sich der „neuen Taktik“ Trockijs angeschlossen: „Terrorismus, Sabotage und Zusammenarbeit mit ausländischen Mächten.“244 Der Moskauer Prozess von 1937 hätte seine Karriere als trotzkistischer Verschwörer schließlich beendet.245 Seit den 1960er Jahren begann sich der Umgang mit der Unperson Radek langsam zu entkrampfen. Die zu dieser Zeit erscheinenden Bände der Werke Lenins enthielten einzelne Briefe und Weisungen des Sowjetführers an den „werten Genossen“ und „lieben Radek“, vor allem 1969 und 1971 herausgegebene Ergänzungsbände. Auch einzelne Historiker in der Sowjetunion und der DDR begannen den bislang Verfemten zu erwähnen. Er wurde beiläufig im Zusammenhang mit der Geschichte der Komintern genannt, vor allem aber wegen ideologischen Fehlverhaltens in den innerbolschewistischen Auseinandersetzungen um den Frieden von Brest-Litovsk und seiner luxemburgistischen Abweichungen während der deutschen Novemberrevolution kritisiert.246 Ein typisches Beispiel dafür bot die Bewertung seines Auftritts auf dem Gründungsparteitag der KPD durch einen sowjetischen Historiker: „Auf derselben Sitzung überbrachte Karl Radek die Grüße Sowjetrußlands und der Partei der Bolschewiki und berichtete über die internationale Bedeutung der Erfahrungen aus der russischen Oktoberrevolution. Allerdings berücksichtigte er zu wenig, daß für die deutsche Linke besonders wichtig die reichen o r g a n i s a t o r i s c h e n Erfahrungen der Bolschewiki waren. Radek redete vor allem vom spontanen Aufschwung der Massenbewegung und schenkte nicht einmal der Organisierung des bewaffneten Oktoberaufstandes in Petrograd genügend Beachtung.“247 1959 in Berlin-Ost neu verlegten Ausgabe der „Erinnerungen an Lenin“ von Clara Zetkin wurde ein in der Originalausgabe von 1929 enthaltenes Zitat, in dem sich Lenin positiv über Radek äußerte, weggelassen. 244 Sayers/Kahn (1953), S. 208–245. 245 Ebenda, S. 317–S. 321. 246 Z.B: Rosenfeld (1960), S. 41f., S. 230–240, S. 272; Drabkin (1968), S. 451; Instititut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU – Hrsg. (1970), S. 33, 42, 132, 133, 187, 193. 247 Drabkin (1968), S. 451.

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Solche ideologischen Verrenkungen gab es in Polen nicht, wo in den 1960er Jahren Radeks Name, wie selbstverständlich, in Büchern über die Geschichte der sozialistischen Bewegung des Landes248 und in einem lexikalischen Eintrag auftauchte.249 Es sollte noch fast zwanzig Jahre dauern, bis Karl Radek unter Gorbačev250 im Zuge der Politik von Perestroika (Umbau) und Glasnost’ (Öffentlichkeit) am 13. Juni 1988 zusammen mit Grigorij Zinov’ev, Lev Kamenev, Georgij Pjatakov und anderen vom Obersten Gerichtshof der UdSSR juristisch rehabilitiert wurde. Das Gericht gebe diesen von Tragik umwitterten Persönlichkeiten „ihre Ehre und ihren Namen zurück“, hieß es in einem Bericht der „Izvestija“. Es habe nicht bewertet, ob sie als Opfer der Stalinschen Verfolgungen seinerzeit im Recht oder im Unrecht waren, jedoch eindeutig erklärt: „Sie sind unschuldig vor Gesetz, Staat und Volk.“251 Noch kurz vor der Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 gab es in Moskau eine bescheidene Renaissance Radekscher Schriften aus den 1920er Jahren. 1989 erschien eine Auswahl von Aufsätzen aus seinen 1927 veröffentlichten „Portrety i pamflety“.252 In demselben Jahr erfolgte der Reprint der „Dejateli SSSR i revoljucionnogo dviženija Rossii“, also des biographischen Teils der Enzyklopädie Granat von 1927 mit der Avtobiografija Radeks und dem von ihm verfassten Beitrag über Larisa Rejsner.253 Die Autobiographie hatte man unter einem kleinen Stahlstich-Porträt Radeks mit einem knappen Randvermerk versehen, der seinen Lebenslauf fortschrieb: „RADEK, K. B. (1885–1939). In den 20er Jahren Mitglied der Hauptredaktion der 1. Ausgabe der Großen Sowjetenzyklopädie. 1927 aus der Partei ausgeschlossen, 1929 wieder aufgenommen. Publizistische Tätigkeit. 1936 erneut aus der Partei ausgeschlossen. Unbegründeten Repressionsmaßnahmen ausgesetzt. 1937 wegen Beteiligung am ,Parallelen antisowjetischen trotzkistischen Zentrum‘ zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt. Posthum rehabilitiert.“254

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248 So beispielsweise in den Büchern von Buszko ( 1961) und Drobner (1962). 249 Wielka Encyklopedia Powszechna PWN, Band 9 (1967), S. 656. 250 Gorbačev, Michail Sergeevič (geboren 1931); 1985–1991 Generalsekretär der KPdSU. 251 „Izvestija“ vom 14. Juni 1988. 252 A. Lunačarskij, K. Radek, L. Trockij. Siluety: Političeskie portrety, Moskva 1991. 253 Reprint: Dejateli SSSR i revoljucionnogo dviženija Rossii. Ėncklopedičeskij slovar´Granat, Moskva 1989. 254 Dejateli SSSR (Reprint), S. 593. Die mit dem Ende des Kalten Krieges zusammenfallende Aufhebung des Moskauer Bannstrahls gegen Radek fand ihre Rezeption auch in der DDR. Dort wurde erstmals 1989 ein Foto Radeks veröffentlicht, das bekannte Bild vom II. Kongress der Komintern, das ihn mit einer Zigarette zwischen den Lippen, in Gesellschaft Lenins, Zinov´evs und Gor´kijs , vor dem Taurischen Palais in Petrograd zeigt. Damit hatte Radek auch in der DDR wieder ein Gesicht erhalten. Schumacher, Horst, Die kommunistische Internationale 1919–1943, Berlin (Ost) 1989, S. 96.

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Aus einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie in Galizien stammend, sah Karl Radek in der Revolution den Ausweg aus der Enge des jüdischen Schtetls und dem von ihm verachteten Milieu selbstzufriedenen Spießbürgertums.255 Auf ihn trifft das jüdische Stereotyp zu: „Er hat schojn in schul gehert zu der unzufridener jugent un schpeter geworn a anarchist.“256 Er fühlte sich von der sozialistischen Idee angezogen, die eine säkulare Variante der uralten jüdischen messianischen Sehnsucht darstellte. Wie bei vielen anderen jüdischen Sozialisten, wurde auch bei ihm der messianische Impuls in seiner neuen weltlichen Form zur entscheidenden Motivation.257 Sein Bild von der Welt wurde früh durch die gesellschaftlichen Verhältnisse in Österreich, Deutschland und Russland beeinflusst, Staaten, die halbfeudale Dynastien waren, beherrscht von Aristokratie, Großgrundbesitzern, Hochfinanz und Großindustrie. Hineingeboren in das Zeitalter der Industrialisierung und des Imperialismus wurden aufbrechende Klassengegensätze und soziale Umschichtungen prägend für die Entwicklung seines politisches Bewusstseins. Er begeisterte sich für die Idee der vom internationalen Proletariat initiierten Weltrevolution – aus seiner Sicht eine historische Notwendigkeit, um die Gesellschaft zu verändern und den Krieg und die sozialen Missstände des Industriezeitalters zu beseitigen. Er sah seine Lebensaufgabe darin, die Revolution als das „eherne Muss“ der Geschichte vollstrecken zu helfen. Allerdings stützte sich sein Glaube an den kommenden Weltumsturz weniger auf die theoretischen Postulate des Marxismus als vielmehr auf das instinktive Gefühl des bevorstehenden „Zusammenbruches der ,alten Welt‘“258, eines unausweichlich nahenden großen „Kladderadatsch“. Auf der Suche nach einem erfolgversprechenden Revolutionsrezept radikalisierten sich seine politischen Vorstellungen zunehmend. Nach seinem Verständnis waren Krieg und Revolution historische Determinanten zur beschleunigten Vernichtung der ohnehin zum Untergang verurteilten bürgerlichen Gesellschaft. Sein Weg führte ihn über die linken Flügel der polnischen und deutschen Sozialdemokratie zur totalitären Ideologie des Bolschewismus. Während des Ersten Weltkriegs und dem darauf folgenden großen gesellschaftlichen und politischen Umbruch engagierte sich Karl Radek in den Reihen der Bol’ševiki, von deren weltgeschichtlicher Mission er zutiefst überzeugt war und an deren Interpretation der marxistischen Geschichtsphilosophie sich von da an sein Weltbild orientierte. Lenins neue Lehre von der Partei als „Avantgarde des Proletariats“, seine Revolutionstheorie, die eine friedliche Umwälzung der Verhältnisse „ohne einen Krieg im Innern“ ausschloss und das menschenverachtende Konzept von der „Diktatur des Proletariats“ zur rücksichtslosen Durchsetzung der gesellschaftspolitischen Ziele erschienen ihm als „Stein der Weisen“ für den revolutionären Umsturz. Für Radek, der 255 Vatlin, S. 1. 256 Landmann, Jüdische Anekdoten und Sprichwörter, S. 32. 257 Herberg, Will, Socialism, Zionism and the Messianic Passion; in: Midstream, 3/1956, S. 68; zitiert nach Polonsky, Antony, Fragile Koexistenz, strategische Akzeptanz. Politik und Geschichte der osteuropäischen Juden; in: Osteuropa, 58. Jg., Heft 8–10 /August-Oktober 2008, S. 17. 258 Vatlin, a.a. O.

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aus der Schule Rosa Luxemburgs kam, wurde Lenins Oktoberrevolution, die 1917 in Russland die Bol’ševiki an die Macht brachte, zum maßgebenden revolutionären Vorbild. In wechselnden Allianzen mit Lenin und Trockij kämpfte er für die Utopie der Weltrevolution. Mit beiden stimmte er darin überein, dass die russische Revolution nur der Funke sein sollte, der die Weltrevolution auslöste und auch er glaubte, ohne den Sieg des Proletariats in Deutschland könne der Sowjetstaat nicht überleben. Als er sein Schicksal mit dem der Bol’ševiki verband, war er jedoch nicht willens, sich vor den langsamen Bauernkarren der russischen Revolution spannen zu lassen. In seinen Augen war das russische Volk kaum dazu geeignet, die Welt umzustürzen. Er wollte der Sache der Revolution in Deutschland dienen, dem Land, das Lenin als „Schlüssel zur Weltrevolution“ galt. Zeitweilig mag er sogar davon geträumt haben, selbst zum Führer eines Europa in Brand setzenden deutschen Oktober zu werden. Neben der Chance die revolutionäre Theorie in die revolutionäre Tat umzusetzen, wird ihn dabei auch der Gedanke motiviert haben, auf diesem Wege über seine verhassten Gegner in der deutschen Sozialdemokratie zu triumphieren. Als Vertrauter Lenins auf dem Gebiet der sowjetischen Deutschlandpolitik spielte Radek seine historisch wohl bedeutsamste Rolle. Er war der Hauptagent der Komintern in Deutschland und nahm wie kein anderer Sowjetführer Einfluss auf die Taktik und die Personalpolitik der KPD, an deren Gründung er 1918 hinter den Kulissen entscheidend mitwirkte. Er verkörperte die durch die Widersprüche der sowjetischen Politik gekennzeichnete außenpolitische Doppelstrategie Moskaus. Jene Zweigleisigkeit, die über die Wege der konventionellen Diplomatie den modus vivendi, die friedliche Koexistenz, suchte und in einer operativen Simultanbewegung die Revolution anstrebte. Entsprechend den weltrevolutionären Zielen der Komintern war er der Spezialist für revolutionäre Wühlarbeit und kommunistische Propaganda im Deutschen Reich und als Protagonist sowjetischer Staatsinteressen gleichzeitig der Architekt der sowjetischen Rapallopolitik der 1920er Jahre. Der Ausbau der KPD zur Massenpartei, die Einleitung ihrer Bolschewisierung und die Taktik der Einheitsfront waren durchweg flankierende Maßnahmen zur Stützung der von ihm verfochtenen Koexistenzpolitik. Dabei war er bestrebt, immer mehrere Eisen im Feuer zu haben. Kommunisten, Diplomatie, Reichswehr und Nationalisten sollten zuverlässige Stützpunkte bilden, die einen entschiedenen antisowjetischen Kurs in Deutschland verhinderten. Indem Radek die KPD zu einem politischen Hilfsorgan des Kreml’ deklassierte, erwies er sich jedoch nicht als der vom Rad der Geschichte überrollte „letzte Internationalist“, wie ihn sein amerikanischer Biograph Warren Lerner beschrieben hat, sondern als einer der Totengräber der Idee des proletarischen Internationalismus. Es ist bemerkenswert, dass er die internationale proletarische Solidarität schon sehr früh als eine nach Moskau führende Einbahnstraße interpretierte. Sein Credo lautete seit 1919 nicht mehr „Revolution um jeden Preis“, sondern „Hilfe und Unterstützung für Sowjetrussland!“. Damit erwies er sich ironischerweise bereits zu dieser Zeit als ein „Internationalist“ im Sinne der später von Stalin formulierten Definition: „Ein Internationalist ist, wer vorbehaltlos, ohne zu schwanken, ohne Bedingungen zu stellen, bereit ist, die UdSSR zu schützen.“

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Ebenfalls zu berichtigen ist die gängige Legende von Radek als einem unberechenbaren Revolutionär mit ständig schwankendem politischem Standort. Mit seiner ursprünglichen revolutionären Euphorie war es bald vorbei. Als Sowjetfunktionär handelte er stets im außenpolitischen Interesse Sowjetrusslands, schreckte vor revolutionären Abenteuern zurück und verurteilte sie als „Putschismus“. Marie Louise Goldbach hat erstmals auf die erstaunlichen Konstanten hingewiesen, die seine politischen Konzepte von der Gründung der KPD bis zum Oktober 1923 enthielten.259 Konstanten, die durch Radeks bedenkenloses und oft verwirrendes Taktieren vielfach verborgen blieben. Schon um die Jahreswende 1918/19, also noch vor der Inhaftierung im Gefängnis zu Moabit, hatte er sich von der Vorstellung einer rasch zu verwirklichenden Weltrevolution verabschiedet. Er bekannte sich zu einer pragmatischen Realpolitik, indem er feststellte: „Solange in allen wichtigen Staaten das Proletariat nicht gesiegt hat [...] solange neben proletarischen kapitalistische Staaten existieren, solange werden wir genötigt sein, Kompromisse zu schließen [...].“260 Von Lenin hatte er gelernt, politische Ziele elastisch und pragmatisch zu verfolgen. Reichten die eigenen Kräfte nicht aus, um sie zu realisieren, musste man Verbündete suchen, wo immer sie zu finden waren. Eine Maxime, die ihm bei dogmatischen Genossen den ungerechtfertigten Ruf eintrug, „die Wetterfahne der Komintern“261 zu sein. Radeks Schicksal spiegelt die Tragik eines hochbegabten, aber ideologisch verblendeten Menschen wider, der in einer historischen Epoche wirkte, in der die Weltrevolution zunächst ein greifbares Nahziel zu sein schien, dann aber nach dem Scheitern revolutionärer Experimente in Deutschland und China mit Stalin zum Verlust des internationalen Anspruchs der Oktoberrevolution führte und die Wendung zum Aufbau des Sozialismus in einem einzelnen Lande nahm. Nach anfänglicher Opposition an der Seite Trockijs gegen die These, dass die Sowjetunion den Sozialismus aufbauen könne, ohne auf die Weltrevolution warten zu müssen, unterwarf Radek sich dem eingefleischten Chauvinisten und Antisemiten Stalin. Er hatte der Versuchung nicht widerstanden, sich von den Verlockungen der Macht korrumpieren zu lassen. Seine Kapitulation bezeichnete er mit zynischer Offenheit als „politischen Selbstmord“, der aber unerlässlich gewesen sei, um nicht als ein aus der Partei Ausgestoßener in Sibirien zu verkommen. Sich selbst gegenüber nicht ganz ehrlich, hat er sich vermutlich eingeredet, das Sozialismuskonzept Stalins bedeute nur eine strategische Pause auf dem Weg zur Weltrevolution, jedoch nicht deren Preisgabe. Nach der Rückkehr aus der Verbannung wieder im Dunstkreis der Macht angesiedelt, fand er als Berater Stalins intellektuelle Selbstbestätigung. Die von der prickelnden Atmosphäre von Geheimdiplomatie und Konspiration umwitterte Rolle als Leiter von Stalins Büro für Internationale Information und als Sonderbotschafter des Allgewaltigen hat er sicherlich genossen. Dass der „Internationalismus“ zur Propaganda259 Vgl. Goldbach, S. 133. 260 Radek, Die internationale Lage und die äußere Politik der Räteregierung, S. 39. 261 Gruber, S. 61.

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these verkam und durch den Sowjetimperialismus ersetzt wurde, hat er nicht mehr erlebt. Er gab zuletzt den überzeugten Stalinisten und reüssierte als Gallionsfigur des stalinistischen Systems. Bei tiefer blickenden Beobachtern hinterließ er allerdings den Eindruck eines innerlich gebrochenen Mannes, der den letzten Rest an Selbstvertrauen eingebüßt hatte. Erich Wollenberg fühlte sich in vielen Gesprächen mit Radek an Heinrich Heine erinnert – „ein Zyniker mit tränenden Augen“262, der seine politische Enttäuschung vermehrt im Alkohol zu ertränken begann. Radeks Tochter Sonja, 1988 zur Haltung ihres Vaters zu Stalin interviewt, antwortete: „Was für eine Frage, er haßte und verachtete ihn.“263 Dennoch beschloss Radek seine politische Laufbahn, die er als „Bilderstürmer“ und Kämpfer gegen das Establishment begonnen hatte, als Hagiograph, Apologet und williger Erfüllungsgehilfe dieses von ihm gefürchteten aber wegen seiner brutalen Durchsetzungsfähigkeit wohl auch bewunderten Diktators.264 Ausschlaggebend für seinen skrupellosen Opportunismus war anscheinend, dass es außerhalb des Bolschewismus – gleichgültig welche Person oder Gruppe ihn verkörperte – keine politische Existenz mehr für ihn geben konnte. Lenins Sowjetrussland und später Stalins Sowjetunion boten ihm, dem Gezeichneten der europäischen sozialistischen Bewegung, die letzte Zuflucht, von der aus politisches Wirken noch möglich war. Er war sich als homo politicus völlig im Klaren darüber, dass jenseits der bolschewistischen Partei nur noch das politische Nichts auf ihn wartete. Sein ausgeprägter politischer Selbsterhaltungstrieb gebot ihm, sich mit den Mächtigen des Tages zu arrangieren, wobei er vorgab, er beuge sich lediglich „historischen Notwendigkeiten“. Bei aller Skepsis über die Zukunft des Kommunismus, wollte er um jeden Preis mit dabei sein, sollte dereinst doch noch die Stunde der Weltrevolution schlagen. Karl Radek war im wahrsten Sinne des Wortes „vaterlandslos“. Er verfügte über keine besondere nationale Identität. An der Schnittstelle verschiedener Religionen und Kulturen aufgewachsen, hing er einer ideologisierten universalen Menschheitsauffassung an. Er war ein Intellektueller, dem seine jüdische Herkunft fremd geworden war, der aber auch nicht in der polnischen, deutschen oder russischen Kultur aufgehen konnte. Er identifizierte sich mit den proletarischen Massen und fühlte sich als Soldat der internationalen Revolution, als Offizier im Weltbürgerkrieg. Nicht zuletzt wegen seiner nationalen Bindungslosigkeit wurde der überzeugte Internationalist und Atheist dem Milieu zugeordnet, dem er entstammte und mit dem er sich am allerwenigsten identifizieren wollte. Während alle anderen Bol’ševiki mit jüdischen Wurzeln, wie Trockij, Zinov’ev oder Kamenev, als Russen betrachtet wurden, galt Radek primär als Jude. Freunde und Gegner bezeichneten ihn niemals als den Österreicher, den Polen oder den Russen Radek. Auch beeinflusst von seinem „typisch jüdischen“ Aussehen, sprachen sie durchweg von dem österreichischen, polnischen, russischen oder galizischen Juden Radek. Für die Nationalsozialisten, die Judentum 262 Möller, S. 14. 263 Conquest, S. 114. 264 Vgl. Tuck, S. IX.

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und Bolschewismus gleichsetzten, war er „der Jude Radek-Sobelsohn.“ Er zählte zu den führenden Sowjetfunktionären, die im Dritten Reich „nur mit dem Zusatz Jude und dem jüdischen Beinamen zitiert werden“ durften.265 Einem antisemitischen Wirrkopf galt er sogar als ein „Agent des Oberrabbiners von Konstantinopel“.266 Radek war im Grunde ein „heimatloser Intellektueller“, eine entwurzelte Existenz. Vielleicht war die Tatsache, dass man ihn in keiner nationalen Gruppe als vollwertiges Mitglied akzeptierte, die Tragödie seines Lebens und zugleich der Grund, weshalb er seine Heimat im Internationalismus suchte. Vielleicht hat er es auch nie verwunden, dass es ihm – sicherlich auch durch eigenes Verschulden – nicht gelang, in Deutschland, dem Land dem er sich eigentlich zugehörig fühlte, Fuß zu fassen. Ausgerechnet in der Heimat von Marx und Engels begegnete man ihm von Anfang an voller Feindseligkeit und betrachtete ihn als einen fremdartigen, intellektuellen Unruhestifter. Auch in der bolschewistischen Partei wurde er nie voll und ganz akzeptiert. Obwohl er zum engsten Kreis um Lenin zählte, blieb ihm der Aufstieg ins Politbüro verwehrt. Dabei erfreute er sich zu Lenins Lebzeiten innerhalb der Partei durchaus hoher Wertschätzung. Sein Ansehen und seine Popularität belegen die Wahlergebnisse zum Zentralkomitee, wo er einmal die meisten Stimmen nach Lenin erringen konnte. Der wahre Grund für seine zweitklassige Stellung in der sowjetischen Hierarchie dürfte darin liegen, dass er N i c h t r u s s e war. Offensichtlich ein grundlegendes Defizit in den Augen seiner Genossen, das langfristig auch nicht durch eine noch so überzeugte kommunistische Einstellung wettzumachen war. Er gehörte nicht zur „alten Garde“, welche die Revolutionsjahre hindurch in Russland gekämpft und Gefängnishaft und Verbannung in Sibirien durchgemacht hatte. Stalin, Molotov, Vorošilov und Krestinskij galten als Frontkämpfer, während Leute wie Radek als Etappenkrieger betrachtet wurden, die im Ausland ein gefahrloses Leben geführt hatten. Lenin war die einzige Ausnahme von der Regel.267 Auf Radek treffen in besonderem Maße Isaac Deutschers Ausführungen über die Bol’ševiki jüdischer Herkunft und den fortschrittlichen, revolutionären Juden im Allgemeinen zu. Radek war durch „jenes ,Jüdische‘ ausgezeichnet, das die Quintessenz der städtischen Lebensweise mit all ihrer Modernität, Fortschrittlichkeit, Rastlosigkeit und Einseitigkeit ausmacht“ und er zählte in „gewissem Sinne“ zu den „,wurzellosen Kosmopoliten‘, über die Stalin im Alter einst die Schale seines Grimms ausgießen sollte.“268 Als eine prominente Gestalt des internationalen Sozialismus und der kommunistischen Weltbewegung beeindruckte Karl Radek gleichermaßen Freunde und Geg265 Anweisung Nr. 375 des Reichspropagandaministeriums vom 24.4.1936. Bundesarchiv, Sammlung Brammer, ZSG101; veröffentlicht in Wulf, Josef, Presse und Rundfunk im Dritten Reich, Gütersloh 1964, S. 93. Krummacher/Lange, Dokument Nr. 24, S. 525. 266 Markov, Nikolai J. [ehemaliger Duma-Abgeordneter und Vorsitzender der Russischen Monarchistischen Vereinigung im deutschen Exil], Der Kampf der dunklen Mächte, Erfurt 1935; zitiert bei Laqueur, Walter, Deuschland und Rußland, Berlin o.J. (engl. Ausgabe 1965), S. 135. Möller, S. 11. 267 Dirksen, S. 95. 268 Deutscher, Trotzki II, S. 254.

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ner. Ein von revolutionärer Leidenschaft erfüllter politischer Akteur und zugleich ein Mensch in seinem Widerspruch. Ein Jahr nach der bolschewistischen Machtergreifung in Russland notierte Alfons Paquet 1918 ein kurz gefasstes, aufschlussreiches Psychogramm über den Revolutionär, der für ihn damals über das Kaliber eines Führers einer kommenden mitteleuropäischen Revolution zu verfügen schien: ein „proletarischer jüdischer Napoleon“269: „Sentimental und brutal in einem. Voller Widerspruch. Machträusche. Sprunghaftigkeit. Verspricht, hält es nicht, aber nicht aus bösem Willen, sondern weil ihm wichtigeres die Gefälligkeit verdrängt. Nicht der geringste ästhetische Sinn, keinen für Form, für Vasen, für Bilder. Für homerische und goethische Verse dagegen. Keine soliden Kenntnisse der Nationalökonomie, dafür klare politische Instinkte politisch fernsichtige Augen […].“270

„Radek“, so schreibt Paquet weiter, nehme „große Dinge klein, kleine Dinge groß“ wahr. Dennoch schwimme er immer „mit dem Strom der Ereignisse“. Heute begründe er die eine Politik und wenn morgen eine andere gemacht werde, verteidige er die auch.271 Der antibolschewistische katholische Publizist Eduard Stadtler, der Radek von Moskau her kannte und sein erbitterter Gegner war, bescheinigte ihm nicht ohne Respekt, „ein genialischer Kerl“ zu sein und charakterisierte ihn mit den Worten: „Sicher einer der größten Revolutionäre aller Zeiten […]. Ungewöhnlich begabter Journalist. Großer Rednerdemagoge. Zugleich Aktivist – Draufgänger. Ein Dämon im Schafspelz literarischer Kultiviertheit.“272 Gleichermaßen hässlich, intelligent und unberechenbar273, besaß Radeks komplizierte Persönlichkeit zahlreiche Facetten. Er wirkte polarisierend auf seine Umwelt und war zweifellos der Herold vieler Untugenden, die er nicht besaß.274. Die Nachtseiten seines Charakters und sein Sarkasmus machten ihn wenig liebenswert. Sie überdeckten die Tatsache, dass er auch durchaus großzügig und menschlich handeln konnte, also Eigenschaften besaß, von denen sich seine bolschewistischen Genossen eine Scheibe hätten abschneiden können.275 Hinter seinem sanguinischen Temperament und seinen oft maßlosen polemischen Attacken verbarg sich ein gewiegtes Urteil über Menschen und Politik.276 Er war ein „demagogischer Agitator“, aber gleichzeitig ein Analytiker und „Diagnostiker ersten Ranges, dessen stets klare Einsicht in 269 Paquet, Alfons, Notizbücher Moskau (Universitäts- und Staatsbibliothek Frankfurt), Eintrag vom 19. Juli 1918, S. 80; zitiert nach: Koenen, S. 159. 270 Paquet -Tagebuch: „Psychologisches über Radek“ (Eintrag zwischen 26. November und 26. Dezember 1918), S. 590f. Paquet verfasste das Psychogramm gemeinsam mit seiner Frau, die Radeks Handschrift graphologisch beurteilte. Koenen, S. 208. 271 Ebenda; zitiert nach: Koenen, ebenda. 272 Stadtler, Eduard, Als Antibolschewist 1918/19, Düsseldorf 1935, S. 30f. Koenen, S. 241. 273 Conquest, S. 18. 274 Marcu, S. 197. 275 Wieczynski, Vol. 30, S. 143. 276 Deutscher, Trotzki II, S. 202.

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die Lage sein Handeln oft hemmte.“277 An der Seite der bedeutendsten Führer der kommunistischen Bewegung des 20. Jahrhunderts durchlief er viele biographische Stationen, ohne sich dabei einzugestehen, dass es Formen der Gewalt und der Unterdrückung gibt, die keine revolutionäre Situation rechtfertigen kann, weil sie gerade den Zweck negieren, wofür die Revolution ein Mittel ist.278 Karl Radek wurde auf Stalins Geheiß ermordet. Dennoch stellt sich die Frage, ob er nicht doch mehr Täter als Opfer war, eine „Triebkraft des Bösen“, wie ihn der US-Autor Jim Tuck sieht. Seit seiner Jugend begeisterte sich Radek für die Idee der Weltrevolution. Mit seiner außergewöhnlich intelligenten Persönlichkeit zählte er zu den wenigen Gestalten des Sowjetkommunismus, deren Faszination auch westliche Intellektuelle erlagen. Aber war er wirklich der vom Gedanken der Humanität erfüllte Revolutionär und der geistreiche Kämpfer für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, der nichts für sich selbst, aber alles für die Menschheit wollte?279 Die Bol’ševiki argumentierten, die kommunistischen Ziele dienten dem Aufbau der klassenlosen Gesellschaft, seien somit human und deshalb heilige der Zweck die Mittel. Es war diese Täterperspektive der auch Radek huldigte. Allein seine Rolle als Spiritus rector und Propagandist des Roten Terrors zeigt ihn als einen in seiner idealistischen Exaltation, seinem Zynismus und seiner ideologischen Intoleranz gnadenlosen Klassenkämpfer, der in konsequenter Verneinung westlicher Demokratievorstellungen höchst aktiv an der Errichtung der Sowjetdiktatur mitwirkte und in machiavellistischer Kaltblütigkeit half, die Verwirklichung des Marxismus auf russischem Boden zu einer der größten weltgeschichtlichen Täuschungen zu machen. Er beteiligte sich aktiv an der Errichtung eines Systems, das wie der Hitlerstaat auf „totalitärem Terror und totaler Lüge“ beruhte.280 Er leistete mit seiner propagandistisch-publizistischen Arbeit massive Schützenhilfe als Schreibtischtäter bei der psychologischen Vorbereitung der bolschewistischen Massenverbrechen sowie ihrer ideologischen Legitimierung und Verharmlosung. Als kommunistischer Journalist war Radek ein Populist, ein Losungsfabrikant und ein Meister des polemischen Leitartikels, der als behänder Generalist, praktisch über jedes beliebige Thema einen lebendigen, informativen und gutgeschriebenen Artikel liefern konnte.281 Journalismus war für ihn Waffe im Klassenkampf und er stellte sein Talent bewusst in den Dienst eines Systems, das die Propaganda an die Stelle des Meinungsstreits gesetzt hatte und sich mit Gegnern nicht politisch auseinandersetzte, sondern sie liquidierte. Mit seiner Arbeit hatte er führenden Anteil an der negativen Mobilisierung der Bevölkerung der Sowjetunion durch die Propa277 Vgl. Schüddekopf. Linke Leute von rechts, S. 214. 278 Marcuse, Herbert, Kultur und Gesellschaft, Band 2, Frankfurt am Main 1965, S. 138. 279 In diesem Sinne äußerte sich etwa der Journalist und Schriftsteller Emil Belzner über Radek: „Er war ein Idealist, getragen von seiner Herkunft und durchleuchtet von der persönlichen Integrität Lenins: Nichts für mich – alles für die Menschheit.“ 280 Heller/Nekrich, S. 216 , Anm. 18. 281 Radek, Portraits and Pamphlets, Vorwort, S. XXIII. Tuck, S. 112.

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gierung äußerer und innerer Feindbilder. Ein hellsichtiger Zeitgenosse Radeks hat einst prognostiziert, dass sein Wirken in Russland und Europa spurlos verschwinden werde.282 Auf sein umfangreiches publizistisches Oeuvre scheint das vordergründig zuzutreffen. Es hat sich als politische Eintagsfliege erwiesen. Seine Schriften sind heute verschollen oder verstauben ungelesen und vergessen in Bibliotheken und Archiven. Dennoch haben sie als „Lehrbücher des Kommunismus“ die Zeitgenossen massiv manipulativ beeinflusst und ideologisch nachhaltig prägende Spuren in den Köpfen einer ganzen Generation von Kommunisten hinterlassen. Im totalitären Weltanschauungsstaat Sowjetunion, in dem Stalin zum Alleinherrscher emporgestiegen war, endete Karl Radek als Geisel der Macht. Seine letzten Lebensjahre bildeten den „traurigen Epilog“ eines der Utopie der Weltrevolution gewidmeten Lebens283, über dem als Geleitwort die zynischen Verse Bert Brechts gestanden haben könnten: „Wer für den Kommunismus kämpft, der muß kämpfen können – und nicht kämpfen können, die Wahrheit sagen – und die Wahrheit nicht sagen, Dienste erweisen – und Dienste verweigern, Versprechen halten – und Versprechen nicht halten, sich in Gefahr begeben – und die Gefahr vermeiden, kenntlich sein – und unkenntlich sein. Wer für den Kommunismus kämpft, hat von allen Tugenden nur eine: dass er für den Kommunismus kämpft.“284

282 Marcu, S. 202. 283 Lerner, S. 176. 284 Der „Kontrollchor“ in Brechts Lehrstück „Die Maßnahme“ (1930).

Anstelle eines Nachworts: Mythos und Legende – das Bild Karl Radeks in der Belletristik Von der janusgesichtigen Gestalt Karl Radeks fasziniert, befassten sich Romanautoren immer wieder mit dem über Jahrzehnte hinweg spurlos Verschollenen und beförderten mit ihren belletristischen Arbeiten die Mythen- und Legendenbildung um einen der brillantesten Demagogen des Sowjetkommunismus. Immer wieder wird Radek mit N. S. Rubaschow identifiziert, dem Helden des 1940 erstveröffentlichten Romans „Sonnenfinsternis“ von Arthur Koestler1, der zur Zeit der von Stalin inszenierten großen Säuberungswelle (1936–1938) spielt. Rubaschow, ein altgedienter Revolutionär und ehemaliger Volkskommissar, wird wegen angeblicher konterrevolutionärer Verbrechen verhaftet und verhört. Unter massivem psychologischem Druck entschließt er sich zu einem falschen Geständnis als letztem Dienst an den Idealen der Revolution. Koestler, der Radek und Bucharin persönlich kannte, hat die Version verbreitet, er habe Rubaschows Überlegungen an der Denkweise Bucharins orientiert. Für Psyche und Physis seines Protagonisten seien Radek und Trockij die Vorbilder gewesen.2 Jim Tuck hat diese immer wieder zitierte Aussage überprüft und nachgewiesen, dass Koestlers Behauptung falsch ist und der Sachverhalt umgekehrt zutrifft. Das Erschießen von Menschen sei nur eine Bagatelle, wenn es im Interesse der Revolution geschieht, glaubt Rubaschow. In seinem zynischen „Neo-Machiavellismus“ gleicht er also Radek. Damit enden aber auch schon die Ähnlichkeiten zwischen beiden. Rubaschow ist nicht Radek und auch im Aussehen ähnelt er mit seinem Ziegenbart und der Tonsur am Hinterkopf eher Trockij und vor allem Bucharin.3 In der Gestalt von Rubaschow spiegeln sich die Schicksale einer ganzen Reihe von Opfern der Moskauer Schauprozesse wider, deren Erinnerung Koestler seinen Roman auch gewidmet hat. Stefan Zweig schildert in seinem 1927 erschienenen Buch „Sternstunden der Menschheit“ in dem historischen Essay „Der versiegelte Zug“4 die Reise Lenins aus dem Exil in der Schweiz nach Russland. In diesem dramatischen und schicksalsträchtigen „Transport lebendigen Exkrasits“, das „ein Reich, eine Welt zertrümmern wird“, darf auch der „Österreicher“ Radek unkontrolliert mitfahren. Von den 32 Reisenden ist neben Lenin und Zinov’ev nur sein Name weiter bekannt geblie-

1 Koestler, Arthur (1905–1983); deutsch-britischer Schriftsteller; bis 1937 Mitglied der KPD. Sein Roman „Sonnenfinsternis“ wurde in englischer Übersetzung 1940 in London erstveröffentlicht unter dem Titel „Darkness at Noon“. 2 Koestler, Arthur, The Invisible Writing, London 1956, S. 394. Tuck, S. 167. 3 Tuck, S. 163–174. 4 Zweig, Stefan: Der versiegelte Zug, in: Sternstunden der Menschheit, Frankfurt am Main 1995, S. 240–252.

Mythos und Legende  | 895

ben, schreibt Zweig.5 Er erwähnt Radek zwar lediglich als Randfigur, stützt sich aber in dem Abschnitt „Der plombierte Zug“ erkennbar auf Radeks Erlebnisbericht „Im plombierten Wagen durch Deutschland“ ab.6 Ein ziemlich idealisiertes und romantisches Bild von Karl Radek, der in die „eisigen Fallen Sibiriens“ ging und nun „in den eingewalzten Gräberfeldern der Pioniere der Revolution“ liegt7, zeichnet Emil Belzner in dem Buch „Die Fahrt in die Revolution.“ Belzner leistete im April 1917 als sechzehnjähriger Gymnasiast am Bahnhof in Rastatt Hilfsdienst, gelangte dort zufällig in den Wagen Lenins und fuhr im „plombierten Waggon“ bis Frankfurt am Main mit. Ausgehend von diesem Erlebnis und späteren Begegnungen mit Radek, schildert er seinen Protagonisten als idealistischen Revolutionär und Sympathieträger: „[…] ein Mann mit dicken schweren Brillengläsern und einem Backenbart, der um das Kinn herumlief, ein Mann der aussah wie die sogenannten Existenzialisten ein halbes Jahrhundert später bei uns ausgesehen haben“8 und der ein „sehr melodisches, zuweilen dramatisches Deutsch“9 sprach: „Radeks Stimme war fast von einer Märchensüße, wie die Stimme des Wolfs, der Honig und Kreide gefressen hatte, um die armen Sieben Geißlein zu betören. Ohne Böse zu sein oder Böses zu wollen. Er war ein Idealist, getragen von seiner Herkunft und durchleuchtet von der persönlichen Integrität Lenins. Nichts für mich – alles für die Menschheit.“10

In der „Sprache des Revolutionärs, der längst alle Götter geopfert hatte, auch den Haus- und Stammesgott“, habe der kulturbeflissene Radek sich über die Beliebigkeit der Kunst amüsiert und gemeint, man könne mit ihr machen was man wolle: „Heute schreibt so ein Komponist Kirchenmusik für den Hof, morgen eine Jubel-Symphonie zur Hinrichtung des Königs.“ Seine Lieblingsinstrumente waren Trommeln und Clairons: „Aus allem, was unsterblich ist, hört man sie ,Trommeln und Clairons‘“.11 Er war ein „galizischer Schalk messianischer Prägung“12, seine Spottlust aber Ausdruck „tiefster Ergebenheit“ für die Sache der Revolution.13 Gleichzeitig war „dieser aktivste politische Publizist seiner Zeit […] ein heimlicher Dichter“: „Nachrichtenliteratur“ und „Halbfiktives“ – das heißt, in der Berichterstattung zu suggerieren, als Augenzeuge dabei gewesen zu sein – waren „artistische Liebhabereien“ von ihm.14 Belzner verklärt die Mitfahrt in Lenins ramponiertem Salonwagen zur „Begegnung mit der Weltseele“. Er nährt den Mythos von der „guten Revolution“ und Radek als 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Ebenda, S. 249ff. Vgl. Radek, Im plombierten Wagen durch Deutschland, in: Platten, S. 62–67. Ebenda, S. 241. Belzner, S. 22. Ebenda, S. 23. Ebenda, S. 64. Ebenda, S. 79. Ebenda, S. 167. Ebenda, S. 166. Ebenda, S. 167.

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ihrem selbstlosen Diener: „Radek sah gewiß das Ganze der Revolution, ihre großen schöpferischen Gegensätze, verehrte und liebte sie und starb als letzter Punkt seiner Treue für sie.“15 Sehr viel distanzierter und an den historischen Abläufen orientiert, bewegt sich die Darstellung Radeks in Alfred Döblins16 Erzählwerk „November 1818 – Eine deutsche Revolution“. Auf dem Gründungsparteitag der KPD taucht Karl Radek auf und bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Er beobachtet kalt, wie man die Novemberrevolution „versumpfen“ lässt: „Für Lenin war der kleine Karl Radek erschienen, um hier das Terrain zu studieren […]. Karl Radek, Karl der Kleine, mit dem dicken Kopf, der ungeheuren Brille und dem abenteuerlichen Schifferbart, sah sich aufmerksam um und interessierte sich besonders für Karl den Großen, Karl Liebknecht.“17 Für die von Karl Liebknechts lauer Rede und Rosa Luxemburgs Absage an alles Abenteurertum enttäuschten Teilnehmer des Gründungsparteitags wird Radek, „der kleine Russe“ und „Emissär Lenins“, zum „Mann des Augenblickes“: „Er entfesselte Beifallsstürme, als er, ohne Rosa und die anderen von der Führung zu nennen, von der Diktatur des Proletariats sprach. Nur die Errichtung der proletarischen Diktatur könne Deutschland vor seinen äußeren Feinden retten. Nur die Ausbreitung der Weltrevolution. Das russische Proletariat wartete nur darauf, gemeinsam mit den deutschen Genossen den angelsächsischen und französischen Kapitalismus am Rhein zu bekämpfen. Das erfüllte alle Herzen mit Freude.“18

Döblin verfällt ins Klischee, als er vor dem Ausbruch der Januarkämpfe Radek die Stimmung in Berlin konspirativ ausforschen lässt. Als russischer Flüchtling verkleidet, nimmt er an einem weißrussischen Diner im Restaurant Habel Unter den Linden teil und „mit blauer Brille und einem grauen Vollbart über seinem eigenen Schifferbart“ schleicht er durch die Abenddämmerung, um die Meinung der Massen zu erkunden.19 Ihm wird klar, dass die Lage nicht reif zum erfolgreichen Aufstand ist, zumal Liebknecht auch nicht das Format Lenins besitzt. In realistischer Sicht der Dinge solidarisiert er sich mit Rosa Luxemburg, kann zwar nichts befehlen, zieht aber Liebknecht, der die Situation nicht durchschauen kann, beiseite und rät, „man müsse diesen Kampf abbrechen“20: „Karl, hilft alles nichts. Wir müssen abbauen.“21 Döblin lässt keinen Zweifel daran, wem seine Sympathie gilt, Karl Liebknecht als tragischem Helden: „Ich kann nicht wägen, kann nur wagen, nicht ernten – säen nur 15 16 17 18 19 20 21

Ebenda, S. 168. Döblin, Alfred (1905–1983); deutscher Arzt und Schriftsteller. Döblin, S. 251. Ebenda, S. 257f. Ebenda, S. 320. Ebenda, S. 453. Ebenda, S. 456.

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und fliehn. Ich kann den Mittag nicht ertragen, ein Morgenrot und Abendglühn, das sei mein Tag.“ Was er von Radek hält, drückt sich in den Gedanken Rosa Luxemburgs aus, während sie „zusammengesunken hinten an der Wand“ der Rede des „Russen“ auf dem Gründungsparteitag lauscht: „Dieser Mann war mit allen Wassern gewaschen, und er sprach für seine Bolschewiken. Sie dachte an ihre Freunde drüben, die man erschoß. Grauen.“22 Das Bild Radeks in der russischen Literatur konzentriert sich auf seine traurige Rolle in der Stalin-Ära, insbesondere in der Zeit des großen Terrors. Aleksandr Solženicyn nennt Radek einen „Provokateur“ in allen drei Moskauer Schauprozessen.23 Der Stalinpreisträger Anatolij Rybakov24, der „seinen eigenen langen Weg aus den Nebeln des Irrglaubens“ in einem Akt der Vergangenheitsbewältigung mit den beiden Romanen „Die Kinder vom Arbat“ und „Jahre des Terrors“ abschloss, beschreibt Radek als Kreatur Stalins. In einer fiktiven Szene in seiner Datscha in Soči äußert sich Stalin 1934 abfällig über einen lobhudelnden Zeitungsartikel Zinov’evs und kommt dann auf Radek zu sprechen. Zinov’ev würde lügen, wenn er ihm schmeichele, denn in Wahrheit hasse er den Genossen Stalin. Je mehr er ihn preise, desto mehr demütige er sich und umso mehr werde er ihn deshalb hassen. Ganz anders verhalte es sich dagegen mit Radek: „Radek überhäuft mich auch mit Lob und macht einen Kratzfuß nach dem anderen, aber Radek ist ein Schwätzer und nicht ernst zu nehmen. Hat er gestern noch Trotzki über den grünen Klee gelobt, preist er heute Stalin, und sollte es nötig sein, wird er morgen Hitler bejubeln. Gibt man einem wie ihm ein mit Senf bestrichenes Brot, ißt er’s, leckt sich noch die Lippen und sagt obendrein danke schön.“25

Zwei Jahre später taxiert Stalin den „Gauner mit dem Affengesicht“ als „berüchtigte Figur“ und reiht ihn unter seine „ausgesprochenen Feinde“, ein.26 Da er sich aber „äußerlich loyal“ verhalte, eile es nicht so sehr, mit ihm abzurechnen.27 Rybakov nennt es „grauenvoll“, wie Radek und Pjatakov als ehemalige Gesinnungsgenossen während des ersten Moskauer Prozesses Zinov’ev und Kamenev in den Zeitungen verurteilten und ihren Tod forderten. Dabei waren sie selbst noch vor kurzem die wichtigsten Mitarbeiter Trotzkis und seine treuesten Freunde und Anhänger, schreibt er und geißelt ihre Charakterlosigkeit und Blindheit: „Sie mußten doch verstehen, daß wenn man heute unschuldige Menschen verurteilte, und zwar nur deswegen, weil sie einmal der Opposition angehört hatten, man sie morgen vor Gericht stellen würde, weil sie ja selbst zur Opposition gehörten. Und wenn sie diese Lügenmärchen 22 23 24 25 26 27

Ebenda, S. 258. Solženicyn, Der Archipel GULAG, S. 390. Rybakov, Anatolij Naumovič; eigentlich Aronov, A. N. (1911–1998) russischer Schriftsteller. Rybakov, Die Kinder vom Arbat, S. 636. Rybakov, Jahre des Terrors, S. 129. Ebenda, S. 246.

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bestätigten, so konnten doch morgen gleiche Lügenmärchen gegen sie ausgespielt werden.“28 In ein nationalsozialistisches Lügenmärchen passte 1937 der Autor Karl Miedbrodt29 die Gestalt Karl Radeks ein, wobei er die angeblichen Jugendsünden seines Protagonisten aufwärmt und ihn als gerissenen jüdischen Deutschenhasser und Weltverschwörer darstellt. In dem antisemitischen Kolportageroman „Die Narren des Kaganowitsch“, firmiert Radek als ein „guter Schüler in der Talmudschule“, der noch jung war, als er aus Galizien nach Deutschland kam: „In der deutschen Arbeiterschaft witterte er ein gutes Geschäft. Ihm fehlte eine Uhr und ein Mantel, um das Bild des großen Revolutionärs aus Rußland vollständig zu machen. Rußland kannte er damals noch nicht, geschweige denn dessen Sprache. Sein jiddischdeutsches Radebrechen wurde von den deutschen Toren als Russisch gedeutet. Ja, und wie er sich dann die Uhr und den Mantel besorgt hat, hat er die Sachen nicht einem Juden gestohlen, sondern einem Goj. Daß Bebel ihn darauf als dreckiges Judenschwein aus der Partei warf, hat er nie vergessen. Immer ist seither sein Haß gegen den Goj lebendig geblieben und immer hat er gegen ihn gekämpft.“30

Der erfundene Ausgangspunkt von Miedbrodts Machwerk ist eine Verschwörung des jüdischen Moskauer CK-Sekretärs Lazar Moiseevič Kaganovič und seiner Brüder, die planen, die Welt durch ihre Marionette Stalin „zum Geschäft“ für sich erobern zu lassen. Sie ordnen an, dass Radek, der seinem Schauprozess entgegensieht, heimlich aus der Lubjanka vorgeführt wird, um von ihm als Experten zu erfahren, wie man Deutschland, das größte Hindernis für ihr verbrecherisches Vorhaben, „niederzwingen“ könne. Radek verneigt sich vor der Größe ihres Planes, bleibt aber zunächst skeptisch. Seine Parole sei immer gewesen, „den Deutschen zersetzen und immer wieder zersetzen“ und in den Nachbarvölkern Deutschlands „den Spaltpilz der Angst und des Mißtrauens vor Deutschland zu säen“.31 Er habe alles versucht und sogar die KPD sabotiert, indem er „die Dümmsten und Schlechtesten“ für die Führung der Partei vorschlug. „Wo sich ein wirklicher Kerl zeigte, habe ich ihn beseitigt.“ Ein Erfolg dieser Bemühungen Deutschland zu Fall zu bringen, sei jedoch nicht absehbar. Dennoch rät er den Kaganovičs listig, den Moskauer Rundfunksender „etwas klüger“ zu benutzen: „Den „Spießern in Deutschland müßt ihr Läuse in den Pelz setzen“ und stets unter Berufung auf englische Quellen, die „Angst vor dem Krieg“ schüren und ausnutzen. Den Brüdern leuchtet der Vorschlag ein, das deutsche Volk durch verleumderische Propaganda gegen Hitler aufzuhetzen und man schickt „Karl

28 29 30 31

Ebenda, S. 422. Miedbrodt, Karl (1895-?). Miedbrodt, S. 144f. Ebenda, S. 150ff.

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Radek-Sobelsohn“ mit dem Versprechen, in seinem Prozess ein Urteil zu erwirken, mit dem er zufrieden sein werde, in die Haftzelle zurück.32 Radek, der nie eine Talmudschule besucht und sich schon früh vom Judentum losgesagt hatte, verstand sich als einer der Führer im gnadenlosen Klassenkampf, dem Klassengenozid der Bolschewisten, in dem das Bürgertum und jegliche politische Opposition als der zu vernichtende Feind juristisch und physisch eliminiert wurden. Dem vom Rassenwahn geprägten Feindbild der Nationalsozialisten folgend, verfälscht Miedbrodt den Klassenkämpfer Radek zum jüdischen Rassenkrieger Sobelsohn. Als einer der geistigen Wegbereiter des nationalsozialistischen Rassengenozids zeichnet er in seinem judenfeindlichen Schundroman ein Zerrbild Radeks, das der NS-Rassenideologie folgend, deren antisemitische Propagandaklischees reichlich bedient. Menschlich sympathisch, aber ebenfalls fragwürdig, stellt der ostdeutsche Autor Stefan Heym33 in seinem letzten großen biographischen Roman „Radek“ seinen Helden dar. Er sieht in Radek ein „belletristisches alter ego“ und setzt ihm mit seinem Werk „ein Monument des aufrechten internationalen Sozialisten“.34 „Karl Radek“, heißt es im Klappentext des Buches, „verkörperte das Pathos und die Tragik des freiheitlichen Sozialismus.“ Das ist kritisch zu hinterfragen. „Ein freiheitlicher Sozialist? Mit dem gleichen Recht könnte man Stalin einen engagierten Sozialreformer nennen“35, merkt Heinrich August Winkler, Ordinarius für Neuere Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität, ironisch an. Heym, wie sein Protagonist „Jude, Publizist, überzeugter Kommunist und ewiger Rebell“, heroisiert Radek zwar keineswegs, beschreibt ihn jedoch als das „Idealbild eines Revolutionärs“36. Sein „Glaube an die gute Sache Lenins und seine Revolution ist von keinerlei Zweifeln angekränkelt.“37 Er blendet den blutigen Terror Lenins und auch Trockijs nahezu vollständig aus und bedient sich ausgiebig geschichtlicher Klitterung. Karl Radek war aber weder ein „nobler Revolutionär“ „noch kämpfte er einen gerechten Kampf“. Für Heym liegt die Wurzel des Scheiterns des Sozialismus im Sowjetblock in dem Scheitern des kommunistischen Umsturzplans in Deutschland vom Oktober 1923. Schuld daran trugen nach seiner Auffassung die Sozialdemokraten, die keine Lust zu putschistischen Abenteuern verspürten und verhinderten, dass der deutsche Oktober zum Auftakt der internationalen Befreiung des Proletariats wurde. Als Karl Radek wegen der angeblich von ihm verpatzten Revolution aus der sowjetischen Deutschlandpolitik ausschied, starb mit ihm gewissermaßen der deutsche Sozialismus.38 „Es 32 33 34 35

Ebenda, S. 154ff. Heym, Stefan; eigentlich Fliege(l), Helmut (1913–2001); deutscher Schriftsteller. Welzel, S. 117. Winkler, Die Mär von der guten Revolution, in: „Süddeutsche Zeitung“, Nr. 96 vom 26. 4. 1995, S. 13. 36 Welzel, a.a.O. 37 Winkler, a.a.O. 38 Welzel, S. 122.

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ist der Mythos von der ursprünglich guten russischen Revolution, die zum Opfer ihrer Isolierung wurde […]. Stalin als Strafe für das Versagen der SPD“39, beanstandet Winkler diese einseitige Sichtweise. Er erklärt Heyms Deutungsmuster aus dem Bedürfnis nach „linker Selbstvergewisserung“, wozu auch die „linke“ Lesart der Geschichte gehört und konstatiert: „Wer die Legitimität der Revolution vom Oktober 1917 in Frage stellt, scheidet aus jener ,Linken‘ aus, die seit dem Scheitern des real existierenden Sozialismus um ein neues Selbstverständnis ringt. Ein gebrochener Held wie Karl Radek leistet der Sache der postkommunistischen Selbstvergewisserung heute bessere Dienste als ein strahlender. Denn vor dem müßte man sich ja womöglich schämen. Wenn aber ein Autor wie Heym den ,kleinen Lolek‘ allen seinen Fehlern und Schwächen zum Trotz nicht verwirft, mögen manche Leser auch etwaige eigene Sünden im Dienst der guten Sache weniger drücken. An den Mythos der guten Revolution freilich muß man schon glauben, um sich von Radek erbauen zu lassen.“40

Fazit: Stefan Heym weiß zwar die Radek-Saga unterhaltsam aufzubereiten, aber sein „Radek“ ist letzten Endes nicht mehr, als „ein Dienst am Mythos“ und „Revolutionsfolklore“41 Fast siebzig Jahre nach seinem Tod hat Radek als „eine der problematischsten Figuren des 20. Jahrhunderts“ auch Eingang in die Welt der Oper gefunden. Am 12. August 2006 fand die Uraufführung der Kammeroper „Radek“ des österreichischen Komponisten Richard Dünser42 auf der Werkstattbühne der Bregenzer Festspiele statt. Das Werk versteht sich als ein Stück „über die grauenhaften Konsequenzen der Ideologien des 20. Jahrhunderts, gespiegelt im Schicksal eines Mannes, der diesen Terror miterfunden hat“, so Librettist Thomas Höft43, der auf Heyms Roman als eine „unerschöpfliche“ Quelle zurückgreift.44 In einem Prolog, 12 Szenen und einem Epilog wird in grotesk-phantastischer Zuspitzung über 72 Minuten hinweg das Leben Karl Radeks als „die Geschichte eines kalten Herzens“ nachgezeichnet. Traumatische Kindheitserlebnisse haben ihn zu einem gefühlskalten Menschen und über Leichen gehenden Politiker werden lassen. „Er ist in seiner Entwicklung so gedemütigt worden, dass er seinen Hass und seine Minderwertigkeitskomplexe an die Gesellschaft zurückgibt und so quasi die Welt für das bestraft, was ihm angetan wurde.“ Radek wird als eine zutiefst unsympathische und Zeit ihres Lebens komplett isolierte Figur beschrieben. Dieser Charakteristik folgt das Grundszenario der Oper. 39 Winkler, a.a.O. 40 Ebenda. 41 Ebenda. 42 Dünser, Richard (geboren 1959); Vorarlberger Komponist. 43 Höft, Thomas (geboren 1961); deutscher Autor, Regisseur, Intendant. 44 Als weitere wesentliche Quellen nennt Höft die Reden Radeks, Feuchtwangers „Moskau 1937“ und Schriften Trockijs.

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Radek befindet sich eingesperrt in der Kältehölle eines sibirischen Gefängnisses – in theatralischer Überhöhung als eine selbstgeschaffene Hölle zu interpretieren – und wird von den Geistern der Vergangenheit heimgesucht. Begleitet von Dünsers Musik – klanglichen Darstellungen totalitären Grauens, musikalischen Zitaten aus jiddischen Liedern, der Internationale und dem Horst-Wessel-Lied, Werken von Schönberg und Mozart – laufen kurz vor seinem Tode wie in einem Zeitraffer die wichtigsten Stationen seines Lebens vor dem inneren Auge ab. Für Richard Dünser ist „Radek“ eine persönliche Abrechnung mit den grauenhaften Verbrechen und gescheiterten Utopien des 20. Jahrhunderts. Er und sein Textautor versuchen diesem Anspruch gerecht zu werden. Anders als der Mehrzahl der Autoren, die Radek idealisieren, dämonisieren oder selektiv auf die Rolle eines Negativcharakters reduzieren, gelingt es der Oper – trotz Rückgriff auf Klischees aus Mythos und Legende – die tragische Verstrickung eines Menschen in den politischen Totalitarismus als Phänomen der Moderne am Einzelschicksal ihres Protagonisten exemplarisch darzustellen. Mit seiner offensiven Gewaltbereitschaft und der von Moralbegriffen freien Agitation war Radek tatsächlich der Prototyp eines radikalen Intellektuellen, der eine Blutspur in der Vergangenheit hinterlassen hat. Ein Mann, der versuchte, das Paradies auf Erden zu schaffen, aber letztlich mitgeholfen hat, die Hölle zu verwirklichen.45 Er war die Inkarnation des modernen „Jakobiners“, der aus politischen Gründen bereit ist, Menschenleben zu opfern oder um der vorgeblich „guten Sache“ willen, den Tod beliebig vieler Menschen in Kauf zu nehmen. Karl Radek stellte sich in den Dienst einer Revolution, die ohne Umweg in den Totalitarismus führte und verkörperte einen Menschentypus, der keineswegs ausgestorben ist und die Geschichte bis in unsere Gegenwart hinein begleitet.

45 – Dünser, Richard, Gedanken zu RADEK, November 2005, www.musikdokumentation-vorarl berg.at/ridu001.pdf -Hoeft, Thomas, Radek Matererial, http://www.thomas-hoeft.de/14.html – Troger, Dominik, „Die Geschichte eines kalten Herzens“, 25. 01. 2007, http://www.operwien. at/werkverz/duenser/aradek.html – Waldner-Barnay, Bettina, „Richard Dünsers Radek“, http//oe1.orf.at/highlights/63728.hmtl – Bregenzer Festspiele 2006, S.  12 f., http://activepaper.tele.net/vntipps/Bregenzer_Festspiele 2006.html

Verzeichnis der Abkürzungen AEG AFL ASSR A- und S-Räte AVPRF BMI BVP CDU Centroplen

Allgemeine Elektricitätsgesellschaft Amerikanischer Gewerkschaftsbund Autonome Sozialistische Sowjetrepublik Arbeiter- und Soldatenräte Archiv des Außenministeriums der Russischen Föderation Büro für Internationale Information beim CK der VKP(b) Bayerische Volkspartei Christlich Demokratische Union Zentrales Kollegium für die Angelegenheiten der Kriegsgefangenen und Flüchtlinge Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Gegenrevolution und Čeka Sabotage siehe Čeka ČK CK Zentralkomitee CK KPSS Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Kommunistische Partei Hollands CPH Die Norwegische Arbeiterpartei DNA Deutschnationale Volkspartei DNVP Deutsche Volkspartei DVP Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale EKKI Föderaler Sicherheitsdienst FSB GARF Staatsarchiv der Russischen Föderation Gen. Genosse GOSPLAN Staatliches Planungskomitee G-n Herr [russisch: gospodin] GPU Staatliche Politische Verwaltung Hauptverwaltung für Aufklärung [des sowjetischen Generalstabs] GRU GU Hauptverwaltung Hauptverwaltung der Lager und Arbeitssiedlungen GUITL GULAG /Gulag Hauptverwaltung der Arbeitslager [Synonym für das sowjetische Lagersystem] Internationale Sozialisten Deutschlands ISD Internationale Kommunisten Deutschlands IKD Auslandsabteilung [der GPU] INO ISB Internationales Sozialistisches Büro Internationale Sozialistische Kommission ISK Kommunistische Arbeitsgemeinschaft KAG KAPD Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands Kommunistische Internationale KI KGB Komitee für Staatssicherheit Komintern Kommunistische Internationale Komsomol Kommunistischer Jugendverband

Verzeichnis der Abkürzungen  | 903

KPCh Kommunistische Partei Chinas KPD Kommunistische Partei Deutschlands KPF Kommunistische Partei Frankreichs KPÖ Kommunistische Partei Österreichs KPO Kommunistische Partei Opposition KPRP Kommunistische Arbeiterpartei Polens KUNMZ Kommunistische Universität der nationalen Minderheiten des Westens KZ Konzentrationslager k.u.k kaiserlich und königlich MdR Mitglied des Reichstages MG Maschinengewehr MVD Ministerium für Innere Angelegenheiten Narkomindel Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten NEP Neue Ökonomische Politik NKID Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten NKP Kommunistische Partei Norwegens NKVD Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten NS nationalsozialistisch NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei OK Organisationskomitee OGPU Abteilung Staatliche Politische Verwaltung OHL Oberste Heeresleitung PCI Kommunistische Partei Italiens PPS Polnische Sozialistische Partei PPSD Polnische Sozialdemokratische Partei Profintern Gewerkschaftsinternationale PSU Sozialistische Einheitspartei [Italien] RAPP Russischer Verband Proletarischer Schriftsteller Allrussisches Zentrum für Aufbewahrung und Erforschung der DokuRCChIDNI mente der neuesten Geschichte RGASPI Russisches Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte RKP(b) Russische Kommunistische Partei (Bol’ševiki) ROSTA Russische Telegraphenagentur RSDRP Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei RSDRP(B) Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Bol’ševiki) Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik RSFSR SA Sturmabteilung SAP Sozialdemokratische Arbeiterpartei [Schweden] SBZ Sowjetische Besatzungszone SDP Sozialdemokratische Partei [Niederlande] Sozialdemokratische Arbeiterpartei SDAP SDAPR Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands SDKP Sozialdemokratie des Königreichs Polen SDKPiL Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

904  |  Verzeichnis der Abkürzungen

Sovnarkom Rat der Volkskommissare SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SP Sozialdemokratische Partei [Schweiz] SR, S.R., S.-R. Sozialrevolutionäre [Partei] SS Schutzstaffel SSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) SU Sowjetunion TASS Telegraphenagentur der Sowjetunion TKP Werktätige Bauernpartei to. Genosse [russisch: tovarišč] UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken URSS Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken [Französisch] USA Vereinigte Staaten von Amerika USPD Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands VCIK Allrussisches Zentralexekutivkomitee VČK Allrussische Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Gegenrevolution und Sabotage VKP(b) Allunionistische Kommunistische Partei (Bol’ševiki) VKPD Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands WES Westeuropäisches Sekretariat [der Komintern] ZK Zentralkomitee ZKK Zentrale Kontrollkommission ZK KPSS Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion

Pseudonyme, Decknamen und Kryptonyme Karl Radeks Abrahamsohn:

Deckname Radeks für eine Reise von Stockholm nach Kopenhagen im August 1917. Aisenhud: Deckname mit dem sich Radek 1917 in die Teilnehmerliste für die Reise mit Lenin im „plombierten Wagen“ eingetragen hat. Arvid: Deckname auf dem VIII. Parteitag der KPD in Leipzig (28.01.– 01.02.1923). Bremer, Karl: Vermutlich mit Rücksicht auf die deutsch-sowjetische Annäherung Ende 1921 gewähltes Pseudonym als Autor der Broschüre „Der nahende Zusammenbruch der deutschen Bourgeoisie und die KPD“. Journalistisches Pseudonym. Carlson, Ramsay B.: Childe, Alfred J.: Journalistisches Pseudonym. Genosse Max: Deckname während des illegalen Deutschlandaufenthalts im Winter 1920/21. Ingenieur Sbarski: Deckname für eine angebliche Geheimmission in Danzig-Oliva 1936. K; K.R.; K.S.; K-ek; Kr.: Journalistische Kryptonyme. Kropatsch: Name unter dem Radek 1908 in Berlin angeblich Mitglied der SPD wurde. La-te-k’o: Ins Chinesische übertragener Name „Radek“, unter dem 1929 die „Geschichte der revolutionären Bewegung in China“ in chinesischer Sprache erschien. M.B. ; M-i.: Kryptonyme unter denen Radek angeblich ab 1904/05 in Adolf Warszawskis Zeitschrift „Glos“ schrieb. Observator: Journalistisches Pseudonym. Deckname unter dem Radek Anfang 1818 in Berlin-Wilmersdorf Ökonomierat Dr. F.: untertauchte. Parabellum: In Anlehnung an Vegetius’ „Si vis pacem, para bellum“ während des Ersten Weltkriegs für die Veröffentlichungen in der „Berner Tagwacht“ und in den „Lichtstrahlen“ gewähltes Pseudonym. P.B.: Kryptonym für „Parabellum“. Porębski, J.: Journalistisches Pseudonym. Pripevskij: Angeblich 1917 für die Reise im „plombierten Wagen“ angenommener Name (siehe auch unten: Wojkow, Peter). Parteiname von Karl Sobelsohn bzw. Karol Sobelzon seit 1904. Radek, Karl: Roemer, Konstantin: Deckname, den Radek Anfang 1922 für seine politische Sondierungsmission in Berlin benutzte. Struthan bzw. Struthahn, Arnold: Pseudonym für Veröffentlichungen in den Jahren 1916–1919. Viator: Journalistisches Pseudonym u. a. für Artikel in „Pravda“ und „Izvestija“ (Viator: der Wanderer, der Reisende). Wojkow, Peter: Deckname unter dem Radek 1917 mit einem geborgten Pass im [Vojkov, Pëtr] „plombierten Wagen“ tatsächlich reiste.

Bibliographie A.  Schriften von Karl Radek (in chronologischer Reihenfolge) 1. Hrsg.: Zeitungskorrespondenz Weltpolitik [ca. 1909–1914]. 2. Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse. Bremen 1912, 82 S. 3. Meine Abrechnung. Bremen 1913, 63 S. 4. Hrsg.: Russische Korrespondenz Prawda. Stockholm, Juni–November 1917. 5. Hrsg. [gemeinsam mit Jakob Hanecki]: Bote der russischen Revolution – Organ der ausländischen Vertretung des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (Bolschewiki). Stockholm, September–November 1917. 6. Unter der Redaktion von Karl Radek: Mir narodov – Der Völkerfriede. Organ der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndelegiertenräte. St. Petersburg, Ende Dezember 1917–Februar 1918; [Anm.: Nachfolgeorgan von Radeks ab Mitte Dezember 1917 herausgegebenem Propagandablatt Die Fackel]. 7. Viator, A. K. [Pseudonym]: Deutschlands Anteil an Indiens Schicksal. Leipzig 1918, 94  S.1) 8. Vorwort in: Bucharin, N. I.: Das Programm der Kommunisten (Bolschewiki). Zürich 1918. 9. Viator [Pseudonym]: Die internationale Lage Rußlands, Rußland und Deutschland. Basel 1918, 12 S. 10. Vorwort in: Radek and Ransome on Russia, being Arthur Ransome’s „Open letter to America“. New York 1918 [?]. 11. Struthan, Arnold [Pseudonym]: Die deutsche Revolution: oder, Trau, schau, wem? Moskau 1918, 26 S. 12. Ein offener Brief an seine Exzellenz, den kaiserlichen Minister ohne Portefeuille, Herrn Philipp Scheidemann, den Führer der gewesenen deutschen Sozialdemokratie, der Partei ohne Prinzipien. o. O. [Moskau], o. J. [1918], 8 S. 13. O sovetskoj konstitucii (Pis’mo k inostran. Rabočim’) – [Über die sowjetische Verfassung. Brief an die internationale Arbeiterschaft]. Moskva 1918, 22 S.; dass.: Kiev 1919, 22 S.; dass. Kiev 1920, 23 S.; dass. in Französisch: De la constitution soviétiste. (Lettre aux ouvriers étrangers). Edition du groupe communiste français. Moscou 1919; dass. in Deutsch: Die russische Sowjetverfassung. Wien 1918, 16 S.; dass.: Wien 1920, 15 S.; dass.: Berlin 1969 [Reprint]. 14. Struthahn, A. [Pseudonym]: Die Verfassung der russischen Räterepublik. o. O., o. J., 45 S; [identisch mit 13 und ergänzt durch den Text der Verfassung]; dass.: Struthahn, A., Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Räte-Republik. Zürich 1918, 45 S. 15. Meždunarodnoe položenie i vnešnjaja politika sovetskoj vlasti. Reč’ proiznesennaja na soedinennom zasedanii Mosk. sov. r. i k. d., fabričnozavodsk. kom. i prof. sojuzov 3 sept. 1918 g. Moskva 1818; dass. in Deutsch: Die internationale Lage und die äußere Politik 1) Nicht eindeutig, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit Karl Radek zuzuschreiben. Möller. S. 287.

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der Räteregierung. Herausgegeben vom Propagandaausschuß des Zentralexekutivkomitees der Räte. Eine Rede gehalten am 3. September 1918 in der vereinigten Sitzung des Moskauer Rates der Arbeiter und Rotarmee-Delegierten, der Fabrikkomitees- und Gewerkschaften-Vertreter. o. O. [Moskva], o. J., [1918], 17 S.; dass.: Berlin 1919, 24 S.; dass. in Französisch: La situation internationale et la politique extérieur du pouvoir des Soviets, Genéve 1918, 46 S. 16. Anarchisty i Sovetskaja Rossija [Die Anarchisten und Sowjet-Russland]. Petrograd 1918, 8  S.; dass.: Petrograd 1919, 8 S.; dass. in Deutsch: Anarchismus und Sowjetregierung. Wien o. J. [1920], 8 S.; dass.: Anarchismus und Räteregierung. Aus dem Russischen und mit einem Vorwort von Fritz Sturm. Hamburg 1919, 15 S.; dass.: in Dänisch: Anarkisterne og Sovjetrepubliken. o. O. 1920, 15 S.; dass.: Die Anarchisten und die Sowjetrepublik. Aus dem Dänischen. Hrsg. KPD (Spartakusbund); o.O. [Berlin] 1919 u. 1920, 11 S. 17. Karl Libknecht [Liebknecht]. Moskva 1918, 32 S. 18. Die Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat. (Die Lehren der russischen Revolution). Bern-Belp 1918, 36 S.; dass.: Die Diktatur des Proletariats; die Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat. Hrsg.: Bezirks-Sekretariat der „Kommunistischen Partei“ für Rheinland-Westfalen. Essen 1918, 29 S.); dass. Wien 1918, 31 S. u. 1920, 31 S.; dass. in Französisch: L’évolution du socialisme de la science à l’action, La Chaux- de-Fonds 1918, 24 S.; dass in Niederländisch. Amsterdam 1918, 24 S.; dass.: Berlin 1919, 24. S., 1920, 24 S. u. 1930; dass. in Deutsch: Budapest 1920, 31 S.; dass. in Spanisch: Buenos Aires 1920; dass. in Englisch: The development of socialism from science to action. Chicago/Illinois, 1920 u. 1923, 30 S.; dass. in Englisch: The development of socialism from science to practice. Glasgow o.J. [1920?], 24  S.; dass. in Italienisch: L’evoluzione del socalismo dalla scienza al’lazione gli ammaestramenti della rivoluzione russa. Milano 1920, 29 S.; dass. in Lettisch: Sozialisms no utopias par sinatni un ta peemehroschana dsihwe. Boston 1919; dass. in Polnisch: Rozwój socjalizmu od nauki do czynu (nauki revolucij rosyjskiej). o.O., 1920; dass. in Russisch: Razvitie socializma ot nauki k dejstvu, in: Pjat’ let Kominterna, tom I, S. 29ff., Moskva 1924 (siehe Nr. 80); dass. in Schwedisch: Socialismens utveckling från vetenskap till handling. Stockholm 1919; dass. in Serbokroatisch: Razvoj socijalizma iz znanosti u djelo. Chicago/Illinois 1920; auch in: Engels, Friedrich, Die Entwicklung des Sozialismus zur Wissenschaft und Tat von Friedrich Engels und Karl Radek. Mit Vorwort, Fremdwörter- und Personenverzeichnis, hrsg. von Hermann Duncker. Berlin 1924, S. 57–91; auch in: Engels, Friedrich, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. Berlin 1932, S. 56–85. 19. Krušenie germanskogo imperializma i zadači meždunarodnogo rabočego klassa. Doklad pročitannyj 7 oktjabr’ja 1918 g. v Moskovskom sovetskom teatre. [Der Zusammenbruch des deutschen Imperialismus und die Aufgaben der internationalen Arbeiterklasse. Rede gehalten am 7. Oktober 1918 im Moskauer Sowjet-Theater]. Moskva 1918, 45 S; dass. in Deutsch: Der Zusammenbruch des Imperialismus und die Aufgaben der internationalen Arbeiterklasse. Rede gehalten am 7. Oktober 1918 im Moskauer Sowjet-Theater. Moskau 1918, 61 S. ; dass.: o. O., o. J. [1918], 61 S.; dass.: München 1918, 47 S. u. 1919, 61 S.; dass.: Berlin 1919, 48 S. 20. Die russische und die deutsche Revolution und die Weltlage. Begrüßungsrede auf dem Gründungsparteitag der K.P.D. am 30. Dez.1918, nebst einem Vorwort. Berlin 1919, 31 S.

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21. Karl Liebknecht zum Gedächtnis. Aus einem Brief: „An die russischen Arbeiter“ (erschienen im Februar 1919 in den „Iswestia“, Zentralorgan der russischen Räte). Anhang II, in: Karl Liebknecht, Klassenkampf gegen den Krieg. Berlin 1919., S. 102–109. 22. Die Entwicklung der deutschen Revolution und die Aufgaben der Kommunistischen Partei. Stuttgart-Degerloch 1919, 64 S.; dass.: Struthahn, Arnold [Pseudonym]: Die Entwicklung der deutschen Revolution und die Aufgaben der Kommunistischen Partei. Hrsg.: Zentrale der KPD; o.O. [Berlin] 1919, 64 S.; dass. [zusammen mit Nr. 26]: Hamburg 1920, 118 S. 23. Zur Taktik des Kommunismus. Ein Schreiben an den Oktoberparteitag der KPD. o.O. 1919, 11 S. 24. [o. V.:] Leitsätze über die Taktik der Kommunistischen Internationale im Kampfe um die proletarische Diktatur. (Entwurf, verfasst von Karl Radek, August Thalheimer u. Clara Zetkin); in: „Kommunistische Internationale“, Nr. 4/5, 1919, S. 3–13. 25. Die Entwicklung der Weltrevolution und die Taktik der Kommunistischen Parteien im Kampfe um die Diktatur des Proletariats. Hrsg. von der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund). Berlin 1919, 66 S.; dass.: Berlin 1919, 66 S.; dass.: hrsg. vom Westeuropäischen Sekretariat der Kommunistischen Internationale. Berlin 1920, 66 S.; dass.: Hrsg. Kommunistische Partei Deutschösterreichs. Wien 1920, 62 S.; dass. in Russisch: Razvitie mirovoj revoljucii i taktika Kommunističeskoj partii v bor’be za diktaturu proletariata. Moskva 1920, 88 S.; dass.[gekürzt] in Tschechisch: Vývoj světové evoluce a taktika komunistckych stran v boji za diktatura proletariátu. o.O. 1920, 28 S.; dass. [gekürzt]: Die Entwicklung der Weltrevolution. Zürich 1920, 30 S. 26. Struthahn, A[rnold]. [Pseudonym]: Die Diktatur der Arbeiterklasse und der Kommunistischen Partei. o.O. [Berlin], 1919, 15 S; dass.: Hrsg.: KPD (Spartakusbund). Berlin 1919, 16 S; dass.: Die Rolle der Kommunistischen Partei in der Revolution. Anhang IV in: Die Entwicklung der deutschen Revolution und die Aufgaben der Kommunistischen Partei. Hamburg 1920, S. 101–118. 27. Proletarische Diktatur und Terrorismus. Hamburg o. J. [1919] u. 1920, 44 S.; dass.: Wien 1920, 30 S.; dass.: Berlin 1968 (Reprint); dass. in Englisch: Proletarian dictatorship and terrorism. Detroit/Michigan, 60 S.; dass. in Italienisch: Diktatura proletariata e terrorismo. Milano 1921, 62 S. 28. Die auswärtige Politik des deutschen Kommunismus und der Hamburger nationale Bolschewismus; in: „Internationale“, Jg. 1, Heft 17/18 vom 20. 12. 1919.; dass.: Wien 1919 u. 1920, 19 S.; dass: Struthahn, Arnold [Pseudonym]. Berlin 1920, 15 S.; dass. in: Die Entwicklung der deutschen Revolution und die Aufgaben der Kommunistischen Partei. Hamburg 1920, S. 101–118; dass.: Anhang III in: Radek, Karl, Die Entwicklung der deutschen Revolution und die Aufgaben der Kommunistischen Partei. Hamburg 1920, S. 83–100; auch in: Gegen den Nationalbolschewismus. Zwei Aufsätze von Karl Radek und August Thalheimer. Berlin 1920, S. 3–17. 29. Is the Russian Revolution a bourgeois revolution? A keen analysis of situation in soviet Russia. Chicago 192, 22 S. 30. Das Programm der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki). Angenommen auf dem 8. Parteikongress 18.–23. März 1919. Mit einer Einführung von Karl Radek. Zürich 1920, 67 S.

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31. Die Lehren der ungarischen Revolution. Vorwort in: Szánto, Béla: Klassenkämpfe und Diktatur des Proletariats in Ungarn. Wien 1920, S. III-X. 32. Deutschland und Russland. Ein in der Moabiter Schutzhaft geschriebener Artikel für „richtiggehende“ Bourgeois. Berlin 1920, 12 S.; dass. in: „Die Zukunft“, Hrsg.: Maximilian Harden, XXVIII. Jg. Berlin 7. 2. 1920, Nr. 19, S. 178–189. 33. Programma socialestičeskogo stroitel’stva [Das Programm des sozialistischen Aufbaus]. Moskva 1920, 60 S.; dass.: Programm des sozialistischen Wirtschaftsaufbaues. Leipzig 1920, 46 S.; dass.: Hamburg 1920, 46 S.; dass.: Programm des sozialistischen Wirtschafts-Aufbaues. Wien 1920, 30 S. (= Kleine Bibliothek der Russischen Korrespondenz 2); dass. in Englisch: Program of socialist construction. Moskva, 1920, 22 S. 34. Vojna pol’skich belogvardejcev protiv Sovetskoj Rossii. Doklad na sobranii agitatorov moskovskich organizacij K. P. 8/V 1920 g. [Der Krieg der polnischen Weißgardisten gegen Sowjet-Russland. Ansprache auf der Versammlung der Agitatoren der Moskauer Parteiorganisation, 8. 5. 1920]. Moskva 1920, 24 S. 35. Die Masken sind gefallen. Eine Antwort an Crispien, Dittmann und Hilferding. o.O. 1920, 36 S. 36. Geroi kursanty. Reč’ K. Radeka [na sobranii moskovskich kursantov 24 oktjabrja 1920 g. v zdanii akademii Krasnoj armii [Kriegsschüler als Helden. Rede K. Radeks auf der Versammlung der Moskauer Kriegsschüler am 24. Oktober 1920 im Gebäude der Akademie der Roten Armee]. Moskva 1920; dass.: „Requiem“; in: Karl Radek, Portrety i pamflety, Moskva 1927, S. 5–18. 37. Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches. (Mit 6 Illustrationen nach Zeichnungen von Käthe Kollwitz und Originalphotographien) o. O. [Hamburg] 1921. 48  S.; dass. in Italienisch: Roma 1922; dass. in Russisch: Roza Ljuksemburg, Karl Libknecht, Leo Jogiches. Moskva 1924, 69 S.; auch in Germanskaja revoljucija, tom II, S. 329–350. 38. Die innere und die äußere Lage Sowjetrusslands und die Aufgaben der K.P.R. (Vortrag vor der kommunistischen Fraktion des Generalstabes der roten Armee, am 27. Februar 1920). Leipzig 1921, 48 S.; dass.: Berlin 1921, 48 S. (= Kleine Bibliothek der Russischen Korrespondenz 39/40). 39. [o.V.:] Offener Brief an den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund, die Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände, die Allgemeine Arbeiterunion, die Freie Arbeiterunion (Syndikalisten), die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ,die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands; in „Die Rote Fahne“, Nr. 11 vom 8.1.1921. 40. Programma kommunističeskogo stroitel’stva na pervoj faze ego razvitija [Das Programm des kommunistischen Aufbaus in der ersten Phase seiner Entwicklung]. Moskva 1921, 60 S. 41. Die auswärtige Politik Sowjet-Rußlands. Petrograd 1921, 83 S.; dass.: Hamburg 1921, 83 S. (= Bibliothek der Kommunistischen Internationale, Bd. XI); dass. in Russisch, in: Vnešnjaja politika Sovetskoj Rossii, Moskva 1923 (siehe Nr. 57 u. Nr. 79). 42. An der Schwelle der großen Aufbauarbeit in Sowjetrussland. Leipzig 1921, 35 S. (= Kleine Bibliothek der Russischen Korrespondenz 33). 43. Der X. Kongress der Kommunistischen Partei Russlands. Leipzig 1921, 23 S.; dass.: Berlin 1921, 23 S. (= Kleine Bibliothek der Russischen Korrespondenz 46).

910  |  Bibliographie

44. Die Lehren eines Putschversuches (die Krise in der deutsch-österreichischen kommunistischen Partei). Berlin 1921, 64 S.; auch in: Levi, Paul, Unser Weg. Wider den Putschismus. Anhang 2. Berlin 1921, 56 S. 45. Soll die Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands eine Massenpartei der revolutionären Aktion oder eine zentristische Partei des Wartens sein? o. O. 1921, 87 S.; dass. als 2. Auflage: Mit einem Nachwort des Verfassers: Der Fall Levi. Hamburg 1921, 119 S.; dass.: Die taktischen Differenzen in der V.K.P.D. Soll die …? Verlag der Kommunistischen Internationale. o. O., o. J. [1921], 110 S. 46. Die Krise in der V.K.P.D. Berlin 1921 u. Leipzig 1921, 11 S. 47. Der Weg der Kommunistischen Internationale (Referat über die Taktik der Kommunistischen Internationale, gehalten auf dem III. Weltkongreß, Moskau, Juli 1921. Hamburg 1921; dass: Der Weg der Kommunistischen Internationale (Rede auf dem III. Weltkongreß der Komintern, Moskau 22.6.–12.7.1921. o. O. [Petrograd /Hamburg] 1921, 86 S. (= Bibliothek der Kommunistischen Internationale, Bd. 18); dass. in Italienisch: La via della Internazionale comunista; relazione sulla tattica fatta al Terzo Congresso di Mosca, liglio 1921. Roma 1921, 92 S.; dass. in Russisch: Put’ Kommunističeskogo internacionala; reč proiznesennaja na III. Kongresse Kommunističeskogo Internacionala [Der Weg der Kommunistischen Internationale. Rede, gehalten auf dem III. Kongreß der Kommunistischen Internationale]. Petrograd 1921, 50 S. 48. Der Fall Levi; in: „“Die Kommunistische Internationale“, Nr. 17, 1921; dass. als „Nachwort“ in Nr. 46 (2. Auflage), Hamburg 1921. 49. Die innere und die äußere Lage Deutschlands und die nächsten Aufgaben der V.K.P.D. Offener Brief an den 2. Parteitag der V.K.P.D., Hamburg 1921, 30 S. 50. Theorie und Praxis der 2 ½ Internationale. Hamburg 1921, 56 S. (= Bibliothek der Kommunistischen Internationale, Bd. 5). 51. Bremer, Karl [Pseudonym]: Der nahende Zusammenbruch der deutschen Bourgeoisie und die KPD. Hamburg 1921. 52. Les questions de la révolution mondiale à la lumière du menchévisme. Petrograd 1921, 39 S. (= Editions de l’Internationale Communiste no. 60). 53. Golod v Rossii i kapitalističeskij mir [Der Hunger in Russland und die kapitalistische Welt]. Moskva 1921, 12 S. 54. In den Reihen der deutschen Revolution. 1909–1919. Gesammelte Aufsätze und Abhandlungen. München 1921, 464 S.; dass. in Russisch: Na službe germanskoj revoljucii. Moskva 1921, 463 S.; dass. in: Germanskaja revoljucija. Tom I. Moskva 1923, S. 7–465. (Siehe Nr. 96). 55. Reči agitatora. Pered zagl. avt. – K. Radek [Agitationsreden. Mit einem Vorwort des Autors K. Radek]. Moskva 1921, 18 S. (= Reči i besedy agitatora. No. 4 ) – [(= Reden und Diskussionsbeiträge des Agitators. Nr. 4)]. 56. Reči agitatora na bespartijnom sobranii. Pered zagl. avt. – K. Radek [Agitationsreden auf den Versammlungen von Parteilosen. Mit einem Vorwort des Autors K. Radek]. Moskva/Leningrad 1921, 32 S.; dass.: Tula 1921, 32 S.; dass.: Charkov 1921, 41 S.; dass.: Jaroslavl’ 1921, 23 S. 57. Das dritte Jahr des Kampfes der Sowjetrepublik gegen das Weltkapital. Berlin 1921, 64  S.; dass.: Leipzig 1921, 64 S. (= Kleine Bibliothek der Russischen Korrespondenz 31/32); (identisch mit Nr. 41 u. Nr. 79).

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58. Nach vier Jahren; in: Zum Jahrestag der proletarischen Revolution in Rußland 1917– 1921. Hamburg 1921. 59. Genua, die Einheitsfront des Proletariats und die Kommunistische Internationale. Rede auf der Konferenz der Moskauer Organisation der Kommunistischen Partei Rußlands am 9. 3. 1922. o. O. [Petrograd] 1922, 78 S. 60. Der Mord an Walther Rathenau und der deutsche Nationalismus; in: „Das Forum“, VI, 10. Berlin 1922. 61. Pust’ ėto zapomnit vsjakij rabočij, krest’janin i krasnoarmeec v Rossi [Das mögen sich alle Arbeiter, Bauern und Rotarmisten in Russland merken]. Rostov n. D. 1922, 10 S. 62. Puti russkoj revoljucii (po povodu novoj ėkonomičeskoj politiki) – Wege der russischen Revolution (aus Anlass der neuen ökonomischen Politik)]. Penza 1922. Dass. in Deutsch: Wege der russischen Revolution. Hamburg 1922, 71 S. 63. Nach Genua und Haag. Hamburg 1922, 72 S (= Kleine Bibliothek der Russischen Korrespondenz 75/76); dass. in Russisch, in: Vnešnjaja politika Sovetskoj Rossii, Moskva 1923 (siehe Nr. 79). 64. The international outlook. London 1923, 23 S. 65. Die Liquidation des Versailler Friedens. Bericht an den IV. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale. o.O. [Hamburg] 1922, 72 S.; dass. in Englisch: The Winding up of the Versailles Treaty. Report to the IV. Congress of the Communist International. Hamburg 1922, 49 S.; dass. in Französisch: Hamburg 1922; dass. in Russisch: Likvidacija Versal’skogo mira. Doklad IV Kongressu Kommunističeskogo Internacionala. Moskva 1922, 64 S. 66. Die Offensive des Weltkapitals und die Taktik der Kommunistischen Internationale; zwei Reden gehalten auf dem IV. Weltkongress der Kommunistischen Internationale im November 1922. Hamburg 1923, 62 S. (= Bibliothek der Kommunistischen Internationale, Bd. 34).; dass. in Französisch: La tactique communiste & l’offensive du capital. Paris 1925, 68 S. 67. Oktjabr’skaja revoljucija i ee mesto v istorii [Die Oktoberrevolution und ihr Platz in der Geschichte]. Moskva 1922, 18 S. (= Serija agitacionno-propagandistskaja [Agitatorischpropagandistische Reihe] 9 ). 68. Neue Enthüllungen über die Partei der Sozialrevolutionäre (das Pariser Geheimarchiv). Hamburg 1922, 8 S. 69. Fünf Artikel Karl Radeks über den Prozeß gegen die Sozialrevolutionäre, in: An den Pranger (= Kleine Bibliothek der Russischen Korrespondenz 71–73), Hamburg 1922, 143 S.: (1) Der historische Sinn des Prozesses gegen die Sozialrevolutionäre, S. 14–26; (2) Die erschrockenen Terroristen, S.  38–44; (3) Neue Enthüllungen über die Partei der Sozialrevolutionäre (Das Pariser Geheimarchiv), S. 58–75 [= identisch mit Nr. 68, ergänzt um eine dreiseitige Schlusspassage]; (4) Maxim Gorki und die russische Revolution, S. 75–83; (5) Das Urteil im Prozeß gegen die Sozialrevolutionäre, S. 111–121. 70. Razvitie meždunarodnych otnošenij za pjat’ let revoljucii. (Doklad K. Radeka). V kn: Oktjabr’skaja revoljucija. [Die Entwicklung der internationalen Verhältnisse nach fünf Jahren Revolution. (Vortrag Karl Radeks). In dem Buch: Die Oktoberrevolution]. Moskva 1922, S. 9–24. 71. Wazlaw Worowskis letzte Fahrt. Berlin 1923, 16 S. 72. Itogi XII S’ezda RKP [Die Ergebnisse des XII. Parteitages der RKP]. Moskva 1923, 42 S.

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Personenverzeichnis Abernon, Edgar Vincent Viscount d’ 11, 513, 516–517, 557, 918 Abramovič, Rafael Abramovič 756, 759 Abramovič (Radeks Schwager) siehe Abramowicz Abramowicz (Radeks Schwager) 88, 261, 269 Abramowicz, Rosa siehe Radek, Rosa Achmatova, Anna 17, 647 Adler, Friedrich 318, 523, 542, 566 Adler, Victor 275, 308, 318 Agranov, Jakov Saulovič 851 Aksel’rod, Pavel Borisovič 74, 75, 131– 132, 140–141, 148, 156, 181, 218 Alexandra Feodorovna (Romanova) Prinzessin Alix von Hessen 281 Andersen-Nexø, Martin 821 Andreev, Nikolaj 278 Antonov-Ovseenko, Vladimir Aleksandrovič 261, 619, 623, 719, 763, 774, 776, 809, 816, 840, 921 Antonow siehe Antonov-Ovseenko Antonow-Owsejenko siehe AntonovOvseenko Aquila, Giulio 549 Aragon, Louis 818 Aralov, Semën Ivanovič 411 Armand, Ines 141, 157, 161, 164, 168– 169, 170–174, 186, 194, 201, 204 Artuzov, Artur Christianovič 810 Babeuf, Francois Noel 537 Bakunin, Michail Aleksandrovič 479, 739 Balabanoff siehe Balabanova Balabanova, Anželika 11, 40, 41, 130, 132, 148, 183, 215–220, 222–224, 227, 232, 261, 272–273, 375, 407, 426, 427, 447–449, 918, 921 Balzac, Honoré de 829 Barbusse, Henri 826 Barmat, Julius 664

Barmat, Henry 664 Barth, Emil 339, 369 Barthel, Max 38, 120, 225, 228–229, 233, 234, 240, 247, 253–255, 260, 267, 275, 281, 318, 386, 449, 918 Baschanow siehe Bažanov Bauer, Gustav 665, 666, 668 Bauer, Max Hermann 390 Bauer, Otto 384, 392–393, 668, 756, 817, 916 Baum 811 Baumeister, Albert 179 Bažanov, Boris 582, 583, 609, 626, 918 Beaverbrook, William 268, 315, 730 Bebel, August 24–26, 53, 101, 104, 108, 111, 113, 119, 898, 913, 918 Becher, Johannes R. 825, 826, 917 Beck, Josef 775, 776, 831 Becker, Lina 365, 385 Bednyj, Dem’jan 411, 421, 448, 449 Behrendt 502 Behrmann, Max Theodor 231 Belzner, Emil 37, 228, 230, 418, 608, 892, 895, 922 Benjamin, Walter 678, 918 Bergen, Diego von 231 Berija, Lavrentij Pavlovič 880, 926 Berman, Boris Davydovič 851 Bernhard, Georg 520 Bernstein, Eduard 24–26, 53, 94, 160, 161, 205, 322, 325, 332, 336, 817 Berson, Jan 774 Berzin, Jan Antonovič 145 Berzin, Jan Karlovič 810 Besedovskij, Grigorij 586, 594–595, 646, 918 Bessedowsky siehe Besedovskij Bethmann-Hollweg, Theobald 199 Bismarck, Otto Fürst von 297, 418, 679, 752, 914 Bizenko 248

934  |  Personenverzeichnis

Bljumkin, Jakov Grigorevič 16, 278, 440, 743–745, 746, 767, 844, 849–850, 873, 876 Bloch, Jean-Richard 818, 823, 827–828 Blum, Oscar 39, 59, 137, 151, 184–186, 228–230, 262–263, 313–314, 449– 450, 554, 684, 922 Bogdanov, Aleksandr Aleksandrovič 52 Boguslavskij, Michail Solomonovič 623 Boguslawski siehe Boguslavskij Bohlen, Charles Eustice 831 Böhm-Bawerk, Eugen Ritter von 201 Borah, William Edgar 789 Borchardt, Julian 129–130, 137–138, 146–147, 150, 152, 160, 174, 179 Bordiga, Amadeo 463 Borkenau, Franz 510, 768, 922 Borodin, Michail Markovič 461, 698– 699, 818 Boš, Evgenija Gottlibova 156–157, 169, 175 Bothmer, Karl Freiherr von 90, 271, 918 Botzenhardt, Hans 625 Böttcher, Paul Herbert 591, 600, 616 Brandler, Heinrich 11, 87–88, 179, 348, 414, 455, 457, 459–460 466, 475– 477, 509, 557, 564, 566, 570, 579, 586, 589, 591, 596–598, 600–601, 603, 605, 607, 609–610, 614–616, 620, 622, 624–625, 628, 630–632, 648–649, 657, 658, 659–662, 664, 689, 693, 713, 916, 922 Branting, Karl Hjalmar 206 Braun, Otto 100–102, 120 Brecht, Bertolt 704, 877, 893 Bredel, Willi 825–826, 828 Brendel 380, 420 Breitscheid, Rudolf 520 Briand, Aristide 673, 747–748, 817 Brockdorff siehe Brockdorff-Rantzau Brockdorff-Rantzau, Ulrich Graf von 199, 205, 209, 231, 357, 366, 377, 380, 382–383, 392, 418, 445, 504–505, 555, 563, 569, 586–587, 592, 616 Brodskij, Isaak Izrajlevič 430 Bronski siehe Broński

Broński, Mieczysław 161, 164, 168–169, 173, 180–181, 197, 249–250, 255, 261, 284, 394–395, 397, 401, 418 Bronskij siehe Broński Broz-Tito, Josip 244, 272 Brüning, Heinrich 750, 751–752, 778– 779, 798, 817, 918 Brupbacher, Fritz 20, 42–43, 143, 171, 173, 739, 918 Bryant, Louise 441 Buber-Neumann, Margarete 11, 83, 112, 452, 497, 524, 555, 563–564, 658, 676, 812, 843 Bucharin, Nikolaj Ivanovič 148, 157, 169–170, 175, 196, 201, 240, 249–250, 253–254, 256, 264–269, 276, 314–316, 343–344, 396, 408, 411–412, 424, 430–431, 434, 446, 460, 466, 474, 478, 481, 486, 488, 495–496, 511, 513–514, 524, 529– 531, 539, 543, 547, 553, 566, 579– 581, 612, 620, 627, 629, 632, 643, 662, 678, 686, 688–689, 693, 703, 705–706, 708–711, 715, 719–720, 724–725, 729, 730, 732, 734–736, 742–743, 745, 746, 747, 805, 811, 818, 831, 833–836, 840, 842, 845– 850, 853–857, 874–875, 877, 882, 894, 908, 924, 929 Bucharina, Anna Larina 11, 90, 745, 766, 848–850, 854–856, 875, 882, 918 Budënnyj, Semën Michajlovič 438–439, 442, 447, 874 Bullitt, William 788–789, 831 Bulwer-Lytton, Victor Lord 787 Bumke, Oswald 611, 652, 918 Burian von Rajecz, Stefan 7, 283, 294, 316–317 Busch, Wilhelm 552, 860 Bykov, Boris 841 Callmann 358, 365 Cederbaum, Julij Osipovič siehe Martov Chamberlain, Sir Joseph Austen 672 Chambers, Jay Vivian („Whittaker“) 841, 918

Personenverzeichnis  | 935

Charitonov, Moses 153, 164–165 Chruščev, Nikita Sergeevič 878 Čičerin, Georgij Vasil’evič 267, 279–280, 284–286, 294–295, 300, 312, 315, 337–341, 369, 376, 412, 428, 499, 502, 504, 513, 520, 522, 527–528, 532, 535, 554–555 Cjurupa, Aleksandr Dmitrievič 582 Clausewitz, Carl von 684 Cleinow, Franz 380, 417, 420, 919 Clemenceau, George 588, 711, 747, 817, 873 Cohn, Oskar Paul 277, 337–339 Crispien, Arthur 393, 433–434, 453, 909 Cuno, Wilhelm 346, 562–563, 582, 586–587, 593, 613, 614, 671 Curtius, Julius 750 Curzon, George 567, 570, 697 Czernin, Ottokar Graf von 251, 262 Czeszesko-Sochacki, Jerzy 795 Dalin, Sergej Alekseevič 700–701, 913, 919 Dan, Fëdor Il’ič 759 Danton, Georges 314 Daszyński, Ignacy 24, 33, 35 Däumig, Ernst 366, 393, 433–434, 455– 456, 466, 475–476 David, Eduard Heinrich 94, 135, 195, 198, 306, 919–920 Davies, Joseph E. 896 Davtjan, E. K. 847 Dawes, Charles G. 631, 636–641, 650– 651, 669 Deinhard 192 Deng Xiaoping 676, Denikin, Anton Antonovič 409, 730, 813 Deutsch, Felix 387, 410, 416, 906–907, 911–913, 915 Deutscher, Isaac 12, 21, 58, 117, 133, 136, 141, 196, 198, 236, 248, 250, 257, 262, 264–265, 412, 423–424, 446, 498, 513, 534, 560, 612, 626, 628, 633, 652–654, 676, 680, 682, 684, 686, 689–690, 700, 703, 705–

706, 710–711, 713, 715–717, 719– 720, 722–727, 729, 731–735, 737– 739, 743–744, 746, 768, 799, 807, 831, 833, 862, 873, 876, 890–891, 923 Dewey, John 724, 728, 876, 877 Dimitrov, Georgi 875 Dingel´štedt, Fëdor N. 725, 730 Dittman, Wilhelm 115, 218, 339, 369, 433–434, 453, 909 Döblin, Alfred 792, 896, 923 Domanski, Josef 47, 71 Dombrowski W. siehe Stein, Bronisław Dosch-Fleurot, Arno 251 Dostoevskij, Fëdor Michajlovič 333, 719, 737, 856 Dreiser, Theodore 877 Drobner, Bolesław 20, 27, 30, 41, 833, 885, 919 Dschingis-Chan 743 Dühring, Eugen 27, 120, 321 Duncker, Hermann 351, 360–361, 907 Dünser, Richard 900–901 Duranty, Walter 789 Dzierżyński siehe Dzeržinskij Dzeržinskij, Feliks Edmundovič 31, 33, 35, 39, 48, 50, 52, 61, 69, 72, 252, 255, 273, 278, 282–283, 290, 319, 349, 429, 437, 446, 533, 556–557, 659, 691, 697, 744, 746, 816 Ebert, Friedrich 101–104, 108–109, 116, 120–121, 124, 224, 243, 333, 339, 341–342, 350, 352–353, 359–360, 376, 378, 382, 427, 504–505, 646, 655, 663, 665, 668, 683, 697, 756, 758–759, 817 Eden, Sir Robert Anthony 813, 865, 869–870 Edward VII. 672 Eduard VII. siehe Edward VII. Eichhorn, Emil Robert 358 Eiduk, Aleksandr Vladimirovič 499 Einstein, Albert 684

936  |  Personenverzeichnis

Eisenberger, Josef 630–632, 648–649, 657, 659–660, 663 Ejzenštejn, Sergej Michajlovič 260 Engelmann, Otto siehe Jogiches Engels, Friedrich 26–27, 40, 44, 53, 55, 58, 121, 413, 165, 289–290, 321–322, 324–325, 327, 330, 332, 398, 461, 677, 706, 718, 834, 835, 890, 907 Enver Pascha 54, 391–392, 436, 441–442 Ėrenburg, Il’ja Grigor’evič 445, 830, 919 Ėrmanskij, Osip Arkad’evič 218–219 Erzberger, Matthias 198, 304, 333, 357 Evdokimov, Grigorij Efsemeevič 709, 713 Ežov, Nikolaj Ivanovič 840–843, 846– 848, 850–851, 853–854, 856, 868, 873, 875, 879–880

Franz, Rudolf 111–113, 115, 118, 122– 125, 917 Franz Ferdinand Erzherzog 126, 279 Frenkel, Abram Lazarevič 77 Freksa, Friedrich 573 Freud, Siegmund 684, 792 Friedrich II., „der Große“ 783 Friesland siehe Reuter Frölich, Paul 49, 59, 62, 87–88, 98, 111, 118, 124, 127–128, 136, 161, 164, 174–175, 179, 181, 337, 351, 408, 414, 459, 466, 475, 564, 576, 632, 912, 923 Frumkina, Maria Jakovlevna 876 Frunze, Michail Vasil´evič 712, 762–763 Fuchs, Eduard 520 Fuller, James Frederick Charles 799

Facta, Luigi 552 Faulhaber, Michael von 777 Fedotov, A. A. 752, 755, 915 Falkenhayn, Erich von 346 Fehrenbach, Konstantin 477, 491 Feinstein, Władisław siehe Leder Feuchtwanger, Lion 826, 834, 852, 861, 868–871, 874–875, 919 Fichte, Johann Gottlieb 792 Firdausi, Abu ’l-Kasim Mansur 746 Fischer, Herbert 515, 519 Fischer, Louis 11, 256, 310, 369–370, 418–419, 512, 558, 648, 699, 789, 794, 804–805, 923 Fischer, Ruth 11, 40, 80, 82, 99, 136, 244, 264, 270, 386, 394–395, 397, 401, 406, 408, 414–415, 458, 524, 528–529, 532, 542, 544, 555, 561, 563–564, 566, 568, 574, 598, 601, 604–605, 607–609, 611, 615, 617– 618, 620, 622, 624–625, 627–632, 649, 657–658, 662, 676, 680, 919– 920, 923 Foch, Ferdinand 566 Fraina, Louis 448 France, Anatole 539 Francis, David Rowland 280–281

Gambetta, Léon 656 Ganeckij, Jakov Stanislavovič siehe Hanecki Gec, Mira 269, 279, 291 Geschke, Ottomar 680 Gessler, Otto Karl 596 Getz 23 Geyer, Curt Theodor 11, 434, 450, 453– 456, 458–459, 460, 464–465, 467, 470–471, 476, 478, 498, 505–506, 509–510, 918–919 Gide, André 875 Ginzburg, Evgenija Semënova 764 Ginzburg, Lev G. 861 Gitlow, Benjamin 440, 442, 448, 919 Gnedin, Evgenij Aleksandrovič 800, 809, 923 Goebbels, Joseph 316 Goethe, Johann Wolfgang von 22, 367, 678, 715 Goldberg 231 Goldenbach, David Borisovič siehe Rjazanov Goldman, Emma 421, 450, 919 Goldštejn, Moisej Markovič siehe Volodarskij Gomez, Manuel 437, 445, 452, 919

Personenverzeichnis  | 937

Gorbačev, Michail Sergeevič 344, 885, 927 Göring, Hermann 782, 784 Gor’kij, Maksim 430, 539, 697, 767, 791, 815, 817, 818 Gorskaja-Zarubin, Elizaveta Jul’evna 745 Gorter, Herman 154 Grabowsky, Adolf 59 Grillparzer, Franz 22 Grimlund, Otto Bernhard 221 Grimm, Robert 131–132, 137–138, 140–142, 144–148, 150, 152, 156, 159–162, 164–174, 178–179, 185, 187, 192–193, 215 Groener, Wilhelm 759, 918 Groman, Vladimir Gustavovič 753–754, 756 Grünberg, Karl 825 Gučkov, Aleksandr 190 Guilbeaux, Henri 194 Gumberg, Alexander 251 Guralski, Samuel 455, 476, 478, 584, 599 Guralski-Kleine siehe Guralski Gusev, Sergej Ivanovič 658, 660–661, 816 Haase, Hugo 73, 100–101, 104, 160– 161, 167, 175, 218–219, 233, 277, 335–337, 339–342, 350, 352, 369, 393 Haecker, Emil 30–31, 33, 36, 41, 64, 69–70, 73–74, 187 Haenisch, Konrad 85–86, 93, 106, 111– 115, 118, 122–124, 127–128, 130, 182, 195, 198, 384–385, 666–668, 917 Hager, Karl 883 Haker, Samuel siehe Haecker Hanecki, Jakob 50, 61, 65, 69–70, 72, 137, 151–152, 196–197, 203–206, 210–214, 217–218, 221, 223–225, 270, 333, 504, 695, 881, 906 Hanecki-Fürstenberg siehe Hanecki Hanezki siehe Hanecki Haniel von Haimhausen, Edgar 357

Harden, Maximilian 386, 388, 410, 416, 515, 520, 909 Hašek, Jaroslaw 826 Hasse, Otto 519, 555 Hauschild, Herbert 288, 290–291, 313 Haushofer, Karl 521, 557 Heckert, Fritz 459, 488, 492, 564, 591, 600 Hegel, Georg Wilhelm 26, 782 Heile, Gerhard 534, 536, 540, 919 Heilmann, Ernst 114, 130, 196, 393, 665 Heine, Heinrich 22, 40, 57, 308, 523, 889 Heine, Wolfgang 113–114, 378–379 Helfand, Chajm Jakob siehe Litwak Helfferich, Karl 283, 286–287, 296, 500, 929 Helphand siehe Parvus-Helphand Hemingway, Ernest Miller 826 Henderson, Loy 683, 831 Henke, Alfred 54, 72, 78–80, 86–87, 102, 104–118, 123, 126–127, 129, 131–132, 134–136, 174–175, 177– 178, 187, 374 Hentig, Hans von 683 Herriot, Edouard 636, 637, 639 Herrmann, Max 28 Hertling, Georg Graf von 248, 298 Hertz, Jakob S. 39 Hey 410–411 Herzfelde, Wieland 827–830 Heym, Stefan 9, 899–900, 924 Heynar, Joseph 29–30, 52 Hilferding, Rudolf 73, 97, 433–434, 453, 756, 817, 909 Hilger, Gustav 11, 38, 40, 89–90, 187, 392, 436, 444, 490, 498–500, 503, 507, 509, 528, 562, 582, 616, 625, 684–685, 741, 780, 786, 798, 809, 811, 813, 871–872, 878, 919 Hindenburg, Paul von Beneckendorff und von 226, 248, 257, 663–664, 668, 671, 697, 913 Hintze, Paul von 288, 295, 302, 390, 500, 504, 919

938  |  Personenverzeichnis

Hitler, Adolf 39, 82, 318, 587–588, 752, 774–784, 786, 797–799, 806–809, 810, 812, 817, 819, 836, 852, 867, 872–873, 875, 897–898, 921 Ho Chi Minh 676 Hoetzsch, Otto 386, 520, 528, 592 Hoffmann, Adolf 337, 476 Hoffmann, Max 245, 247–248, 251, 262, 286, 919–920 Höft, Thomas 900 Höglund, Carl Zeth Konstantin 145, 147, 203, 211, 215 Hoover, Herbert Clark 694, 751, 787, 915 Hugenberg, Alfred 779 Hull, Cordell 831 Hülsen, Dietrich von 231 Humboldt, Alexander Freiherr von 792 Humboldt, Wilhelm Freiherr von 792 Huysmans, Camille/Kamiel 185, 215– 216, 665 Ignatov, Efim Nikitovič 344, 346 Il’ič siehe Lenin Iljitsch siehe Lenin Ilovajskij, Dmitrij Ivanovič 222 Ioffe, Adolf Abramovič 39, 244, 248, 255, 263, 277, 279, 285–288, 295, 298, 301, 309–311, 333, 340, 343–344, 357, 369, 527, 532, 632, 647, 714, 794 Ioffe, Nadežda A. 646–647, 683, 794, 798, 919 Izolska siehe Szer-Siemkowska Jaeckh, Gustav 44 Jagoda, Genrich Georgevič 744–745, 851 Jakir, Iona Ėmanuilovič 712 Jansson, Wilhelm 201–202 Jaracz, Stefan 27, 34 Jaroslavskij, Emel´jan Michajlovič 730, 816, 836 Jaurès, Jean Auguste 138 Jogiches, Leo 7, 12, 31, 33, 37, 43, 46–47, 49, 52, 57–58, 60–67, 69–72,

74, 77–81, 84, 90, 92, 103, 105, 131, 136–137, 169, 184, 187, 336, 348– 351, 363–364, 366, 371, 374, 379, 381, 414, 767, 909, 925, 928 Joseph, Pére (Pater) 651–652 Joyce, James 821, 824, 827–830, 838 Judenič, Nikolaj Nikolaevič 566, 730 Jurovski siehe Unszlicht Just, Artur W. 759, 767, 769, 924 Kabakčiev (Kabaktschieff), Christo 462, 466 Kaganovič, Lazar Moiseevič 766, 774, 803, 818, 843, 846, 848, 851, 898, 926 Kahr, Gustav Ritter von 587 Kalinin, Michail 446, 470, 803 Kamenev, Lev Borisovič 227, 270–271, 333, 446, 513, 533, 581, 591, 611, 614, 624, 626, 633, 654, 680, 686, 688–689, 692, 713–715, 718, 724– 725, 735, 802, 805, 832, 840–843, 845–846, 847, 848, 880, 882, 885, 889, 897, 929 Kamenjew siehe Kamenev Kamiénski, Henryk siehe Stein, Henryk Kant, Immanuel 783 Kantorovič, Boris Il´ič 772 Kaplan, Dora Fanni 228, 290, 300, 321, 335, 536 Kapp, Wolfgang 390, 427–428, 457, 645, 758 Karachan, Lev Michajlovič 267–268, 285, 412, 500, 562, 840 Karl I. von Österreich 308 Karski siehe Marchlewski Katz, Iwan 658 Kautsky, Karl 24, 44, 47, 48, 50, 53, 62, 73, 84–85, 91–92, 97–99, 107, 114, 119, 160–161, 167, 182, 218, 318, 325, 328, 332, 336, 353, 381, 406, 426, 433, 756–758, 764, 768 Kautsky, Luise siehe Ronsperger Kedrov, junior 850 Kedrov, Michail Sergeevič 850

Personenverzeichnis  | 939

Kemal Pascha, Mustafa 442, 548 Kennan, George Frost 831, 871 Kerenskij, Aleksandr Fëdorovič 213, 221– 222, 301, 536, 538, 542, 580 Keyserling, Hermann Graf von 245 Kindermann, Karl 608–609, 919 Kirov, Sergej Mironovič 680, 820, 832, 835, 840, 841, 843, 855, 861, 879 Kisch, Egon Erwin 825 Kläber, Kurt 825 Kleist, Bernd Heinrich Wilhelm von 22 Knief, Johann 87–88, 102, 107, 109, 111–115, 117, 123, 125, 136, 174– 175, 178–179, 212, 230, 337, 348, 350, 358, 374, 408 Kobulov, Bogdan Cacharovič 880 Koenen, Wilhelm 459 Koestler, Arthur 894, 924 Kol’cov, Michail Efimovič 883 Kollontaj, Aleksandra Michajlovna 159, 163, 174, 467 Kon, Feliks Jakovlevič 131, 437 Kondratev, Nikolaj 753–754 Kopp, Viktor Leontevič 396, 405, 410, 418, 436, 444, 499, 595 Kornfeld, Charlotte 178, 408 Koslowski, Myczislaw 205 Köstring, Ernst August 391, 518, 520, 773, 809, 836, 859, 863, 919, 921 Kowalewski, Jan 774 Krasin, Leonid Borisovič 52, 410, 520– 521, 527 Krestinskij, Nikolaj Nikolaevič 436, 446, 500, 515, 527–528, 563, 568, 590, 595, 625, 738, 776, 840, 877, 883, 890 Kriege, Johannes 248 Krivickij, Val’tr 11, 686, 770, 807–808, 810–811, 852–854, 858, 864, 919 Kroll, Hans 615, 919 Krupskaja, Nadežda Konstantinova 141, 144, 191, 193, 626 Krylenko, Nikolaj Vasilevič 250, 254 Kubatkin, Pëtr 881 Kuenzer, Hermann 557

Kühlman, Richard von 244, 250, 263 Kujbyšev, Valerian Vladimirovič 590, 678 Kukiel, Marian 27–28, 30 Kun, Béla 244, 272, 282, 308, 331–332, 405, 440, 466, 476–479, 485, 487– 488, 511, 514, 618–619, 875 Kunfi, Zsigmond 217 Kuusinen, Aino 647, 875–876, 883, 919 Kuusinen, Otto Vil’gelmovič 484, 618, 622, 624 Lamprecht, Karl 88 Lang, Otto 168 Łapiński, Stanisław 149, 772–773 Lapinskij siehe Łapiński Larin, Jurij 295, 422, 678 Laski, Harold 832 Lassalle, Ferdinand 26, 53, 119 Laufenberg, Heinrich 57, 128–129, 179, 337, 348, 397, 402–403, 432, 611 Ledebour, Georg 148, 150–151, 218– 219, 350, 539 Leder, Zdzisław 65, 77 Lenin, Vladimir Il’ič 5, 7–8, 10–16, 36–37, 41, 44–45, 50, 52, 56, 61–62, 66, 68–69, 74–77, 81–82, 84, 94, 97, 105–106, 111, 126, 129, 139–175, 177, 179, 181–189, 191–197, 199– 206, 210–212, 214–218, 221–223, 225–233, 235, 240–242, 249, 252– 253, 255–260, 264–269, 273–274, 276, 278–279, 284, 286–288, 290– 291, 295, 300–302, 306–315, 317, 319, 321, 324–325, 327–328, 330, 334–335, 341, 344–345, 347–349, 352, 368, 370–371, 373, 375–376, 380, 394, 399, 405, 408, 412, 414, 417, 419–420, 424, 427, 429–436, 441–443, 445–446, 450–452, 456– 460, 462, 464, 467–469, 471, 473– 474, 447–478, 481, 483–486, 488– 490, 495, 504–506, 508–513, 518, 522, 527, 529–531, 533–534, 536, 540–541, 543, 547, 549, 551, 554–

940  |  Personenverzeichnis

556, 558, 565–566, 582, 589–591, 603, 611–616, 618, 624–626, 628– 629, 632–636, 651–652, 654, 676, 683–684, 690–691, 695, 697, 713– 714, 718, 719–720, 722–723, 726– 727, 732, 735–736, 749, 755, 764– 765, 768, 783–784, 787, 790–792, 801–805, 816, 828, 834–835, 857, 866, 881, 884–885, 887–889, 890, 892, 894–896, 899, 905, 912, 917, 921–923, 925–929 Lensch, Paul 85–86, 91, 98, 105, 116, 123, 127, 195 Levi, Paul 14, 79, 81, 171–172, 178–181, 192, 194, 252, 259, 263, 285, 306, 315, 338, 347–349, 361, 378, 381, 393–394, 396–397, 401–402, 414, 432–434, 446, 455–456, 459, 461– 467, 475–477, 479–484, 492, 494, 506, 536–537, 910, 922–923, 926 Levien, Max 352 Leviné, Eugen 80, 374, 406 Liebknecht, Karl 7, 49, 53, 64, 66–67, 70, 81, 84, 87, 90, 92, 116, 119, 123, 126–127, 130–131, 134–137, 140, 143, 146, 150, 177–179, 182, 184, 299, 304, 306, 333, 336–339, 345, 347–350, 353, 355–357, 359, 362– 364, 366, 368, 374–377, 379, 382, 414, 427, 520, 596, 896, 907–909, 925, 925 Liebknecht, Theodor 375, 539 Liebknecht, Wilhelm 119–120 Lilina siehe Zinov´eva 141 Liman, Paul 88 Limanowski, Bolesław 24, 27 Lindhagen, Carl 203 Lipp, Franz 226 Litvinov, Ivy 336 Litvinov, Maksim 336, 498, 522, 527, 531, 534–535, 770, 805, 809–810, 859 Litvinoff siehe Litvinov, Maksim Liu Shao-chi 677 Litwak, Anatol 132, 197–198

Lockhart, Sir Robert Hamilton Bruce 11, 248, 259, 268, 270, 271, 273, 284– 285, 315–317, 869 Lomov, Georgij Ippolitovič 253 Loriot, Fernand 194 Lozovskij, Artur 454, 552 Ludendorff, Erich 226, 248, 286, 296, 301, 419, 587–588, 759, 777 Lunačarskij, Anatolij Vasilevič 77, 214– 215, 278, 593, 741, 770, 879, 885, 925 Luther, Hans 655, 671 Lutovinov, Jurij Chrisanfovič 697–698, 815 Lüttwitz, Walter Freiherr von 427 Luxemburg, Rosa 7, 12, 14, 26, 30–31, 33, 35, 39, 43–49, 51–54, 56–70, 72, 74–76, 78–82, 84–87, 90, 92–93, 97, 99–100, 102–103, 105, 107, 109– 110, 114, 118–120, 124, 127, 129, 131, 136–137, 140, 143, 154, 158, 161, 171, 177–178, 184, 187, 196, 319, 332, 336, 345, 347–351, 354, 359–367, 371–372, 375, 377, 379, 382, 395, 405, 414, 427, 434, 483, 506, 509,520, 539, 596, 633–634, 763–766, 887, 896–897, 909, 923, 925–926, 928–929 Lytton siehe Bulwer-Lytton MacDonald, James Ramsay 636, 639, 642 Machiavelli, Niccolò 119, 451 Majakovskij, Vladimir Vladimirovič 449, 818 Malaškin, Sergej 734 Malecki, Aleksander 50, 61, 65, 69, 71–72, 75 Malinovskij, A.A. siehe Bogdanov Malraux, André 818–819, 827–828 Maltzan, Adolf Georg Otto von 198, 392, 410, 418, 436, 498, 501–505, 513, 515, 517–518, 520–521, 528, 531, 554–555, 557, 563, 569, 640 Mandel’štam, Osip Ėmil’evič 647, 746 Mann, Klaus 818, 829

Personenverzeichnis  | 941

Mann, Thomas 792, 829 Manuilskij, Dmitrij Sacharovič 215, 627– 630, 662, 742 Marchlewski, Julian 31, 50, 53, 61–62, 66–67, 69, 72, 78, 110, 196, 343, 429, 928 Marchwitza, Hans 825 Marcu, Valeriu 11, 39, 58, 451, 575, 683–684, 830–831, 838–839, 891, 893, 925 Marie Antoinette 792 Marlborough, John Churchill Herzog von 866 Martov, Lev 69, 75, 131, 181, 215 Martynov, Aleksandr Samojlovič 706 Marx, Karl 24, 26–27, 32, 40–41, 44, 50, 52–53, 58, 68, 119, 121, 143, 165, 189, 290, 303, 321–322, 324–325, 327, 330, 354, 387, 398, 537, 634, 674, 677, 654, 706, 718, 782, 792, 834, 835, 874, 890, 915 Maslov, Arkadij 80, 394, 532, 561, 564, 566, 568, 604–605, 620, 624, 631– 632, 657, 662, 680 Matschke, Anna siehe Luxemburg Matthias, Leo 11, 39, 229, 374, 441, 450–451, 559, 925 Matuszewski, Jan 773 Maximilian von Baden, Prinz 298 Mayenburg, Ruth von 229, 508, 830, 841, 919–920 Mayer, Gustav 11, 20, 58–59, 67, 69–70, 117, 119, 178, 207–210, 218, 221, 227, 230–233, 356, 363–364, 377, 647, 920 McCarthy, Joseph Raymond 441 Medem, Vladimir Davidovič 39, 45, 51, 920 Mehring, Franz 26, 32, 53, 79, 113, 115, 120, 123, 126, 137, 140, 154, 161, 177–179, 345, 364 Merges, August 433 Messing, Stanislav Adamovič 691 Meyer, Ernst 80, 148, 161, 351, 434, 459, 466, 509, 542, 564, 925

Meyer-Leviné, Rosa 11, 20–21, 80, 89, 123, 206, 228, 230, 285, 312, 315, 365, 394–395, 406–407, 410–411, 448, 558, 593, 646, 670–671, 675, 680, 685–686, 738–741, 765, 796, 920 Mickiewicz, Adam 23, 38, 782 Miedbrodt, Karl 898–899, 926 Miedziński, Bogusław 773–776 Mif, Pavel Aleksandrovič 677, 708 Miljukov, Pavel Nikolaevič 190 Miljutin, Vladimr Pavlovič 691 Mimiola, Giuglio 171 Mirbach siehe Mirbach-Harff Mirbach-Harff, Wilhelm Graf von 245, 277–281, 310, 440, 500, 743, 918, 922 Moeller van den Bruck, Arthur 576, 912 Molčanov, Georgij Andreevič 851–852, 879 Molkenbuhr, Hermann 343 Möller, Heinz 631, 632, 699 Molotov, Vjačeslav Michajlovič 191, 227, 590, 735, 774, 776, 803, 818–819, 835, 851 Moltschanow siehe Molčanov Moor, Karl Vital 44, 148, 227, 231, 385– 386, 390, 408, 927 Morgan, John Pierpoint jr. 643 Morozov 279 Moskvin, Michail Abramovič siehe Trilisser Mračkovskij 840–841, 843–844 Mühsam, Erich 826 Müller, Alfred 589, 596–597, 600, 382, 884 Müller, Hermann 382, 384 Münzenberg, Willi 132, 142, 165, 168– 169, 171–172, 187, 191–193, 200, 211, 215, 226, 232, 235, 396, 430, 451, 760, 920 Muralov, Nikolaj Ivanovič 712–713, 716, 852, 855, 858, 882 Mussolini, Benito 332, 374, 549–550, 555, 749

942  |  Personenverzeichnis

Nadolny, Rudolf 806, 809, 811–812, 920 Nerman, Ture 145, 147, 203, 211, 215 Neumann, Heinz 658, 662–663 Nicolaevsky siehe Nikolaevskij Niedermayer, Oskar Ritter von 515 Niekisch, Ernst 780, 920 Niemojewski, Andrzej 63 Nikolaev, Leonid Vasil’evič 855 Nikolaevskij, Boris Ivanovič 361, 694, 699, 914 Nikolaj I. Pavlovič 739 Nikolaus II. 47 Nobs, Ernst 137–139, 143, 164–165, 168–169, 178, 187, 207, 210 Noske, Gustav 116, 121, 360, 374, 392, 663–664, 666–667, 920 Nowicki, Franciszek 28 Oberländer, Theodor 811 Obolenski siehe Obolenskij Obolenskij, Valerian Valerianovič 253, 381, 586, 594–595, 678, 695 Oldenburg-Januschau, Elard von 752 Ordžonikidze, Grigorij Konstantinovič 712, 716, 730, 744–745, 803, 846 Orlov, Aleksandr Michajlovič 11, 850– 853, 860, 871, 920 Orlow siehe Orlov Ossinski siehe Obolenskij Osinskij siehe Obolenskij Osterloh 365, 385 Pabst, Waldemar 363–364 Pallat 420 Pannekoek, Anton J. 54, 86–88, 91, 93, 98, 100, 106, 110–115, 117–120, 123, 154–155, 158, 164, 175, 189, 322, 328 Papen, Franz von 778–780, 798 Paquet, Alfons 11, 39–40, 88–90, 227, 228, 231, 240, 241–242, 259, 265, 267, 269, 270, 271, 272–273, 275, 279–284, 285, 286, 287–288, 289–291, 292, 293–294, 299–300,

302, 307–309, 310, 311–312, 313, 314, 315, 316–318, 329, 330, 331, 333–338, 339, 341, 342–343, 355, 369, 373, 379, 399, 409, 437, 445, 447, 795, 891, 918, 920 Parvus siehe Parvus-Helphand Parvus-Helphand, Alexander Israel Lazarevič 13, 124, 195–197, 199, 206, 209, 224–225, 231, 243, 634, 645, 666, 809, 927 Pasternak, Boris Leonidovič 818 Pavlov, Ivan 673 Pavlovič, Michail Pavlovič siehe Vel’tman Peter I., „der Große“ 835 Peters, Jakov Chrisforovič 658, 661 Petrov 263, 338 Petrov, Vladimir 850, 878, 920 Petrov, Edovkia 850, 878, 920 Pfannkuch, Wilhelm 104 Pieck, Wilhelm 87–88, 351, 356, 359, 375, 455, 458, 459, 492, 564, 606, 620, 624, 920 Pil’njak, Boris Andreevič 760–762, 915 Piłsudski, Józef 27, 392, 428, 437, 697, 773–774, 776, 807, 831, 913 Pini, Tadeusz 28 Pjatakov, Georgij Leonidovič 156, 157, 169, 270, 582, 591, 599, 600, 602, 604–605, 607, 612, 615, 618, 624, 626, 692, 716, 719, 722, 728, 805, 843, 845, 846–847, 849, 851–852, 854–855, 857–858, 861–862, 866, 870, 874, 876, 885, 897 Pjatakow siehe Pjatakov Pjatnickij, Iosif Aronovič 196, 620, 659, 662–663 Planitz, Arved von der 200 Platon 40–41, 52 Platten, Fritz 10, 147, 153–154, 164, 166–168, 171, 187, 191–194, 197, 199–203, 215, 226, 895, 912, 920 Plechanov, Georgij Valentinovič 45, 50, 124, 691 Plivier, Theodor 826–827 Podol’skij, J. 772

Personenverzeichnis  | 943

Pogany, Josef 476 Pohl, Otto 747 Poincaré, Raymond 563, 589, 593, 636– 637, 750 Pokrovskij, Michail Nikolaevič 253, 678, 834–835 Popoff, George 292, 490, 556–559, 926 Poretsky, Elisabeth 603, 742–743, 745, 795, 875, 920 Portnoy, Samuel A. 39, 920 Poskrëbyšev, Aleksandr Nikolaevič 770 Possony, Stefan T. 240, 376, 926 Pottere, George de 7, 82, 136, 283, 294, 304, 314–317 Preobraženskij, Evgenij A. 446, 678, 716, 718–720, 723–725, 729–731, 739, 805, 840 Price, Morgan Philips 234, 238, 254–255, 264, 267, 311, 334, 336–337, 386, 920 Próchniak, Edward 437 Proust, Marcel 830 Puschkin siehe Puškin Puškin, Aleksandr 38, 651 Putna,Vitovt Kazimirovič 712, 863–864 Radek, Rosa 88–90, 261–262, 269, 270, 271, 279, 331, 336, 408–410, 421, 499, 531, 532, 850, 875, 882 Radek, Roza Mavriekievna siehe Radek, Rosa Radek, Sofija Karlovna siehe Radek Sonja Radek, Sonja 17, 21, 90, 336, 409, 796, 882–883, 889 Radomysl’skij-Apfelbaum, Ovsej-Geršen Aronovič siehe Zinov’ev Raevskij, Stefan 772, 774 Rafes, Moisej Grigor’evič 706 Rákosi, Mátyás 462, 466, 920 Rakow, Nikolai 334 Rakow, Werner 272, 346–347, 351, 356, 396, 454–455, 461, 465, 552, 631, 929 Rakovskij, Christian Georgievič 148, 196, 343–344, 380, 410, 521, 527, 531,

612, 642, 695, 713, 715–716, 724, 732, 840 Ramzin, Leonid Konstantinovič 752–756, 768, 817, 915 Ransome, Arthur Mitchell 238, 251, 262, 267, 270, 280, 336, 408, 422–423, 425, 906, 926 Raskol’nikov, Fëdor Fëdorovič 593 Rathenau, Walther 7, 386–387, 416, 502–503, 505, 516–517, 521–522, 528, 531–532, 542–544, 557, 697, 911 Rauch, Käthe 359 Ravesteyn, Willem van 145, 148, 153– 155, 184, 187 Ravič, Sara Naumovna („Olga“) 201 Reed, John 233, 237, 240, 260, 272, 430, 432, 440–442, 920 Regler, Gustav 818–820, 837–838, 920 Reibnitz, Eugen Freiherr von 390, 392– 393, 414, 436, 501 Reich, Jakob (Jakov Samojlovič); alias James Reich, alias A. A. Rubinštejn 394–395 Reinhard, Wilhelm 366–368, 377, 378 Rejngol’d, Isaak Isaevič 845 Rejnštejn, Boris Isaevič 240 Rejsner, Larisa Michajlovna 592–594, 596–597, 602–603, 618–619, 646– 647, 654, 675, 677, 681, 685, 696, 761, 815, 885, 914, 927 Remarque, Erich Maria 792, 821–822, 915 Remmele, Hermann 396, 459, 620, 625, 658, 680 Renn, Ludwig 825 Retzlaw, Karl 451, 608, 616, 651–652, 736, 741, 796–797, 920 Reuter, Ernst 243, 272, 334, 346–347, 351, 356, 494, 922 Reuter-Friesland siehe Reuter Reventlow, Ernst Graf zu 528, 576, 912 Rhys Williams, Albert 240 Ricardo, David 51

944  |  Personenverzeichnis

Riezler, Kurt 223, 230–231, 234, 241– 242, 279, 281, 287 Rjazanov, David Borisovič 165, 215 Rjutin, Martemjan Nikitič 793–794, 845, 851, 855 Robespierre, Maximilien de 314–315, 690, 743 Robins, Raymond R. 251, 253, 266, 271, 284, 317, 798, 919, 921, 927 Robmann, Agnes 164 Röhm, Ernst 519, 810 Roland Holst-van der Schalk, Henriette 148, 154–156, 161 Rolland, Romain 773, 877 Romberg, Konrad Gisbert Wilhelm Freiherr von 192, 194, 227, 234 Romm, V.G. 773, 862, 866 Ronsperger, Luise 48, 85 Roosevelt, Franklin Delanoe 788–789 Rose, Voldemar Rudolfovič siehe Skoblevskij-Rose Rosen, Friedrich 501–502 Rosenberg, Alfred 578, 782, 786, 807, 927 Rosenberg, Frederic 248 Rosenfeld, Kurt 378, 539 Rosengol’c, Arkadij Pavlovič 589, 877 Rothkegel, Rudolf 272, 334 Rothstein, Theodore 552 Rotteck, Carl von 22 Rubinstein, Maurycy siehe Malecki, Alexander Ruehle, Otto 126, 134, 352, 432–433 Russel, Bertrand 447 Rybakov, Anatolij Naumovič 897, 927 Rykov, Aleksej Ivanovič 446, 568, 688, 719, 729, 752, 840, 845–846, 848, 853, 874, 877 Sachsenberg, Gotthard 515 Šackin, Lazar’ Abramovič 449 Sadoul, Jaques 247, 333, 772, 921 Safarov, Georgij Ivanovič 201, 709 Safarov, Valentina („Valja“) 201 Saint-Just, Antoine de 314–315

Salisbury, Harrison 831, 878, 921 Šaljapin, Fëdor Ivanovič 447–448 Saltykov-Ščedrin, Michail Evgrafovič 691, 699–700 Sapronov, Timofej Vladimirovič 692, 715 Savinkov, Boris Viktorovič 278, 282, 635–636, 697, 912 Sawinkow siehe Savinkov Scheffer, Paul 11, 504–505, 507, 513, 555, 558, 646, 648, 650, 690, 692, 708–709, 712–715, 717, 736, 921 Scheidemann, Philipp 101, 116, 120, 197, 202, 224, 263, 301, 303–306, 333, 339, 350, 353–354, 359, 360, 376, 378, 522–523, 532, 544, 694, 757, 906, 916 Schippel, Max 32 Schlageter, Albert Leo 15, 529, 569, 572– 576, 578, 607–608, 610–611, 621, 639, 644, 677, 697, 912 Schleicher, Kurt von 519, 780, 798 Schlesinger, Moritz 11, 41, 89–90, 335, 357, 377, 387, 392, 396, 416, 418, 427–428, 444, 498–499, 501, 503– 507, 515–517, 528, 921 Schmidt, Gustav 393, 410–411, 414, 716 Schmidt-Rolke 444 Schubert, Carl von 640 Schubert, Wilhelm 515, 519 Schwarz, Solomon 375 Schweitzer, Johann Baptist von 119–120, 227 Sedov, Sergej 718, 838 Seeckt, Hans von 391, 418, 436, 515, 517–519, 555, 588, 601, 603, 615– 616, 925–926 Semaško, Nikolaj Aleksandrovič 218 Semskova, Natal’ja 132 Sender, Sidonie Zippora („Toni“) 142, 376, 921 Serebrjakov, Leonid Petrovič 725, 840, 842, 845–846, 852, 855, 858, 882 Serebrjakow siehe Serebrjakov Serge, Victor 276, 314, 435, 440, 442, 448, 520, 557, 568, 654, 690–691,

Personenverzeichnis  | 945

697, 703, 712, 714–715, 737, 743– 746, 873, 879, 921, 928 Sermuks, Nikolaj M. 718 Serov, Ivan Aleksandrovič 881 Serrati, Giacinto Menotti 462–463, 466 Šestakov, Andrej Vasil’evič 836 Shaw, George Bernard 697 Shaynfeld, S. 19, 21–22 Sikorski, Władysław 411 Simche 32 Simon, Hugo 410 Simons, Walter 477, 498 Sinkó, Boriska 836 Sinkó, Ervin 800, 839, 844–845, 857, 921 Sinowjew siehe Zinov’ev Sisson, Edgar Grant 11, 89, 237–240, 245–246, 250–252, 254, 261–262, 274, 364, 921 Skoblevskij-Rose, Pëtr 584, 608–609 Sklarz, Georg 196–197, 667 Šklovskij, Georgij L. 152, 156 Skrypnik, Nikolaj Alekseevič 291 Šljapnikov, Aleksandr G. 156–157, 159, 163, 174, 191, 196, 467 Sluckij, A. 764–765 Šmidt, Dmitrij Arkad’evič 716 Šmidt, Otto Jul’evič 678 Šmidt, Vasilij Vladimirovič 590 Smilga, Ivan Tenisovič 691–693, 707, 713, 716, 718, 725, 730–731, 742, 840 Smirnov, Ivan Nikitovič 253, 721–722, 725, 840–841, 843–844 Smirnov, Vladimir Michajlovč 715 Sobelsohn, Bernhard 21 Sobelsohn, Sophie 21, 29, 336, 775 Sochacki siehe Czeszesko-Sochacki Sohl 385 Sokol’nikov, Grigorij Jakovlevič 255, 840, 845–848, 851, 853, 858, 868, 874–875, 877, 880–881 Sokol’nikov-Brilliant siehe Sokol’nikov Solc, Aron Aleksandrovič 658, 661

Šolochov, Michail Aleksandrovič 792, 817–818 Šolopina, Evgenija Petrovna 262 Solženicyn, Aleksandr Isaevič 695, 872, 897, 928 Sombart, Werner 314–315 Sosnovskij, Lev Semënovič 723–724 Spalek 515 Spengler, Oswald 673 Stadtler, Eduard 227, 363, 371–372, 684, 891, 928 Stalin, Iosif Vissarionovič 5, 9–12, 15–17, 21, 26, 29, 36, 40, 45, 65–66, 72, 80, 82, 90, 99, 136–137, 142, 152, 157, 191, 227, 240, 244, 249, 260, 264, 270, 376, 386, 395, 397, 401, 408, 414–415, 417, 423, 426, 430, 435, 439, 445–446, 449, 459, 462, 474, 508, 510, 512–513, 524, 528–529, 531–533, 542, 555, 557, 563–564, 574, 577, 579–582, 584, 590–591, 593, 602, 604–606, 608–609, 611–612, 614, 616, 618, 622–624, 626, 628–630, 632–634, 643, 652, 654–655, 658, 677, 680–682, 686, 688–693, 696, 698, 702–712, 714, 716, 718–722, 724–726, 729–738, 741–746, 750, 752–753, 755–756, 758, 762–774, 776–777, 780, 783– 785, 789–814, 816–817, 820–821, 825–826, 828, 831–847, 849–857, 859–860, 862, 864–866, 868–877, 880–883, 885, 887–890, 892–894, 897–900, 918–919, 921–924, 926– 929 Stampfer, Friedrich 79, 393, 921 Steckij, Aleksej Ivanovič 763, 771, 825 Stein, Bronisław 161 Stein, Henryk 137, 161 Steklov, Jurij Michajlovič 333 Stepanov 881 Stepnjak 772 Stern, (Moses) Manfred 20, 713, 928 Sternberg, Fritz 742, 928 Stimson, Henry Lewis 787

946  |  Personenverzeichnis

Stinnes, Hugo 516, 697, 777 Stöcker, Walter 433–434, 459, 466, 476 Stresemann, Gustav 15, 528, 582, 586– 588, 599–601, 640, 655, 669–674, 683 Stratz, Heinz 380, 420 Ström, Fredrik 203, 211 Stučka, Pëtr Ivanovič 318 Stucke-Kornfeld, Charlotte siehe Kornfeld Stürgkh, Karl Graf 318 Suchanov, Nikolaj Nikolaevič 753, 756, 758 Südekum, Albert 67 Sumenson, Evgenija 205 Sun Jat-sen 15, 442, 521, 643, 654, 676– 677, 678, 684, 688, 693, 697, 699, 700, 707, 710, 713, 735, 913, 914 Sverdlov, Jakov Michajlovič 235–236, 241, 243–244, 246, 254, 268–269, 279, 282, 295, 300, 308, 315, 333, 337, 343–346, 697, 701, 816, 912 Švernik, Nikolaj Michajlovič 881 Szer-Siemkowska, Irena 61 Talaat Pascha, Mehmed 391 Tennenbaum 676 Ter-Vaganjan, Vagaršak Arutjunovič 721 Thalheimer, August 11, 86–88, 99–102, 115, 142, 347–348, 395–397, 402, 414, 455–456, 459, 466, 475–476, 485, 509, 511, 564, 566, 579, 596– 597, 605–606, 609–610, 614, 622, 624–625, 630–631, 657–662, 664, 689, 693, 713, 733, 908, 916, 921 Thalheimer, Berta 150, 161, 174, 185 Thälmann, Ernst 511, 532, 566, 568, 615, 618–619, 625, 629–630, 658, 680, 733, 808 Thermann, Edmund Freiherr von 338, 366, 379, 380, 383 Thiers, Adolphe 537 Thomas (Genosse Thomas) siehe Reich, Jakob Tisza, Stephan Graf 308

Toller, Ernst 169 Tolstoj, Aleksej Nikolaevič 869 Tolstoj, Lev Nikolaevič 818, 829 Toman, Karl 395 Tomski siehe Tomskij Tomskij, Michail Pavlovič 424, 446, 632, 688, 719, 845–846 Tranmael, Martin Olsen 609, 629 Trautmann, Oskar 196 Trilisser, Meer 745 Trockij, Lev Davidovič 12–13, 15–16, 39, 47, 58, 66, 69, 74, 77, 132–133, 136, 141–142, 144, 147–148, 155, 195–196, 198, 222, 236, 240, 243, 246–254, 257–265, 284, 295, 300, 314–315, 335, 349, 394, 396, 408, 412, 421, 242, 428–429, 436, 439, 446, 474, 481, 488, 489, 498, 504, 511, 513, 533–534, 541, 547, 551, 560, 562, 565–566, 579–581, 583, 585, 589–592, 594, 603, 607, 611– 614, 617–620, 622–624, 626, 628, 630, 632–635, 646–650, 652–654, 675, 680, 682, 684, 686, 688–692, 697, 699–703, 705–707, 709–735, 737, 739, 741, 743–746, 763–764, 768–769, 773, 792, 802, 815–816, 832, 838, 841, 843–844, 846, 848, 850–851, 855, 857, 862, 867, 870, 872, 876–877, 879, 885, 887, 889, 894, 916, 921, 928 Troeltsch, Ernst 528. 559 Troelstra, Jelles 665 Trotzki siehe Trockij Tschang Tso-lin 704 Tschiang Kai-schek 391, 631, 644, 677, 688, 699, 701–706, 709 Tschitscherin siehe Čičerin Tschu En-lai 644 Tuchačevskij, Michail Nikolaevič 435, 437–439, 471, 799, 809, 836, 863– 865, 876, 882, 921, 928 Tuchatschewski siehe Tuchačevskij Tucholsky, Kurt 683, 685–686 Turati, Filippo 462–463

Personenverzeichnis  | 947

Tyszka siehe Leo Jogiches Twardowski, Fritz von 809, 812 Uglanov, Nikolaj Aleksandrovič 845 Ul’janov 243, 271 Ul’rich, Vasilij Vasil´evič 857, 864, 868 Unšlicht, Iosif Stanislavovič siehe Unszlicht Unszlicht, Jozef 72, 255, 271, 333, 336, 429, 437, 602, 609, 632, 646 Urickij, Michail Solomonovič 196, 253– 254, 258, 290–291 Uritzki siehe Urickij Urizki siehe Urickij Urquhart, Leslie A. 697 Vandervelde, Emile 529, 539, 540 Vardin, I. V. 724 Varga, Evgenij Samojlovič 514, 842, 913 Vel´tman, Michail Lazarevič 77 Verderevskij, Dmitrij Nikolaevič 213 Vladimir Il´ič siehe Lenin Vojkov, Pëtr Lazarevič 199, 905 Vollmar, Georg von 510 Volodarskij, Vladimir 541 Vorošilov, Klement Efremovič 612, 712, 763, 776, 803, 816, 818, 890 Vorovskij , Vaclav Vaclavovič 204–205, 212, 214, 217–218, 221, 223, 225, 231, 241–242, 279, 567–568, 572, 695, 881 Vorst, Hans siehe Voss Voss, Karl Johann von 60, 269, 317, 368 Vračov, Ivan Jakovlevič 727–728 Vrangel´, Pëtr Nikolaevič 471, 811, 813 Vuyovitch, Vuyo 699–701, 703–704, 735 Vyšinskij, Andrej Januar´evič 845, 847– 848, 859–866, 868–869, 873 Walcher, Jacob 88, 414, 564, 620, 625, 631 Wang Tsching-wei 709–710 Warburg, Fritz Moritz 210 Wareshnikov siehe Stepanov Warski siehe Warszawski, Adolf

Warszawski, Adolf 31, 35, 39, 40, 43–44, 47, 49–50, 52, 61–62, 66, 68–69, 71–72, 77, 149, 606, 620, 923 Warszawski-Warski siehe Warszawski Waurick, Bernhard 500, 505, 515 Wels, Otto 520, 665 Wiedenfeld, Kurt 89–90, 498, 500, 502–503, 506–507, 521–522, 527, 531–532, 555, 559, 651, 921 Wiedfeld, Otto 516 Wijnkoop, David 124, 145, 148, 153, 155, 184, 187 Wilson, Thomas Woodrow 237, 298, 315, 340, 697 Winkler, Heinrich August 899–900, 929 Winnig, August 758 Winter, Pavlov siehe Berzin, Jan Antonovič Winterfeld von 357 Winz, Leo 231 Wirth, Josef 491, 501–503, 516, 518, 520 Witold 89, 131 Wladimir Iljitsch siehe Lenin Wolf, Felix siehe Rakow, Werner Wolf, Friedrich 825–826, 917 Wolff, Theodor 520 Wolffheim, Fritz 57, 129, 179, 397–398, 402–403, 432, 611 Wollenberg, Erich 735, 742, 768, 796, 865, 889 Worowski siehe Vorovskij Wyschinski siehe Vyšinskij Wyschinsky siehe Vyšinskij Zaluckij, Pëtr Antonovič 191 Ždanov, Andrej Aleksandrovič 817, 820, 821, 835, 851 Zeigner, Erich 585, 588, 589, 591, 596, 599, 600 Zembaty 34, 48, 71, 73 Żeromski, Stefan 19, 26, 929 Zetkin, Clara 53, 85–86, 88, 141–142, 146, 177, 402, 414, 429, 435, 446, 466, 475–476, 483, 549, 564, 606, 620, 624–625, 632, 662, 884, 908, 921

948  |  Personenverzeichnis

Zetkin, Konstantin 102 Zinov’ev, Grigorij Evseevič 14, 16, 44–45, 139, 144–146, 149, 152, 154, 157, 159–163, 169–171, 181, 185–186, 188, 193, 197, 199, 203, 206, 216, 227, 394–396, 427, 430–431, 433–434, 440–442, 445, 454, 460, 467, 474, 476, 481, 483, 485–486, 488, 490, 495–496, 505, 511, 522, 531, 533, 536, 542–544, 547, 549, 552–553, 566–567, 579–582, 590, 602–609, 611, 613–614, 617–620,

622–624, 626, 628, 630, 632–633, 648, 650, 652, 654, 658, 661–662, 680–681, 686, 688–689, 691–692, 695, 699, 703, 710, 712–715, 718, 721–722, 724, 742, 802, 832, 840, 842, 845–846, 848, 880, 884, 889, 894, 897, 929 Zinov’eva, Zina I. 141 Żuławski, Zygmunt 30–33 Zweig, Arnold 826 Zweig, Stefan 792, 894–895, 929

Verena Moritz, Hannes Leidinger

Die Russische Revolution

Die monumentalen Ausmaße einer Zeitenwende verdichten sich zum symbolträchtigen Bild: Der Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg steht für die großen Umwälzungen, visualisiert jene „Tage, die die Welt veränderten“. Die Konzentration auf den kurzen Moment des Umsturzes engt allerdings das Blickfeld ein. Neben, vor und hinter Lenins „Rotem Oktober“ öffnet sich ein weiter Horizont, der das ganze Ausmaß und die eigentliche Tragweite der „Russischen Revolution“ erkennen lässt. Verena Moritz und Hannes Leidinger zeigen sie als Konglomerat verschiedener Krisen. Machtwechsel und Bürgerkriege, Bauernrebellionen und Nationalitätenkämpfe, ausländische Interventionen, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Transformationen verbinden das Epochenjahr 1917 mit Entwicklungen auf unterschiedlichen Zeitebenen. Ein historisches Hauptereignis wird daher auch aus der Perspektive von Strukturen und Prozessen zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und den beginnenden 1930er Jahren erfasst. 2011. 112 S. Br. 120 x 185 mm. ISBN 978-3-8252-3490-4

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Stalins letzte Opfer Verschleppte und erschossene Österreicher in Mosk au 1950 –1953

Auf dem Donskoe Friedhof in Moskau liegen 104 der letzten Stalin-Opfer, großteils Österreicherinnen und Österreicher. Sie waren noch in den letzten drei Jahren der Stalin-Herrschaft in Moskau erschossen worden. In geheimen Transporten in die Sowjetunion verschleppt, hatte man sie für einige Wochen im größten Moskauer Gefängnis, der Butyrka, festgehalten und danach hingerichtet. Das häufigste Todesurteil lautete „antisowjetische Spionage“. Bisher geheime Strafprozessakte aus dem einstigen KGB-Archiv, Gerichtsbescheide aus dem Staatsarchiv der Russischen Föderation sowie die Gnadengesuche der Hingerichteten ermöglichen erstmals eine Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Besatzungszeit in Österreich. Das Buch beleuchtet die Biographien dieser späten Stalin-Opfer. 2009. 676 S. Br. 155 x 230 mm. isbn 978-3-205-78281-0 (A), 978-3-486-58936-8 (D)

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