Chaucers Stellung in der Mittelalterlichen Literatur 9783111326153, 9783110982992

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Chaucers Stellung in der Mittelalterlichen Literatur
 9783111326153, 9783110982992

Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
Einleitung
I. Courtoisie und der höfische Lebensstil
II. Pitie
III. Fortuna und die Verarbeitung des Boethius
IV. Höfische Liebe
V. Superbia
VI. Chaucer und die englische Literatur

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Britannica et Americana (Britannica, neue Folge)

Herausgegeben von den Englischen Seminaren der Universitäten Hamburg und Marburg/Lahn (Prof. Dr. Ludwig Borinski, Prof. Dr. Walther Fischer und Prof. Dr. Horst Oppel)

Band 1

Chaucers Stellung in der Mittelalterlichen Literatur von

Johannes Walter Kleinstück

1956 Cram, de Gruyter & Co., Hamburg

Habilitationsschrift

auf

Empfehlung

der

Philosophischen

Fakultät

der Universität Hamburg gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

© Copyright 1956 by Cram, de Gruyter & Co., Hamburg Alle Rechte, einschließlich der Übersetzungsrechte und der Rechte auf Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen vorbehalten. Satz und Druck: $ S a l a d r u c k , Berlin N 65.

Inhalt Sei»

Einleitung

7

1. Kapitel: Courtoisie und der höfisdie Lebensstil

10

2. Kapitel: Pitié

43

3. Kapitel: Fortuna und die Verarbeitung des Boethius

69

4. Kapitel: Höfisdie Liebe

95

5. Kapitel: Superbia

117

6. Kapitel: Chaucer und die englische Literatur

142

Vorbemerkung Durch die großzügige Hilfe der Deutsdien Forschungsgemeinschaft ist es möglich, diese Arbeit, die vor zwei Jahren der Hamburger Philosophischen Fakultät zur Habilitation vorgelegt wurde, zu drucken. Während dieser Zeit und schon vorher sind einige Bücher und Aufsätze über Chaucer erschienen, mit denen ich mich auf den folgenden Seiten nicht mehr habe auseinandersetzen können. Die Arbeit wird im wesentlichen in der Form gedruckt, wie sie als Habilitationsschrift angenommen worden ist. Lediglich im sechsten Kapitel habe ich einige Straffungen vorgenommen. Ich möchte an dieser Stelle allen denen danken, die mir durch ihren Rat behilflich gewesen sind: vor allem Herrn Prof. Dr. L. Borinski (Hamburg) und Mr. Nevill Coghill (Oxford). Der Deutschen Forschungsgemeinschaft sei für ihre Unterstützung gedankt; ohne sie hätte diese Arbeit nicht gedruckt werden können.

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Einleitung Mit Chaucer beginnt die englische Literatur im eigentlichen Sinne; er madite die neu entstandene, aus germanischen und romanisdien Elementen gemischte Sprache ausdrucksfähig und stiftete damit eine Tradition, die bis heute iiodi nicht abgerissen ist: er wurde im 14. und 15. Jahrhundert als „auctour" gepriesen und nachgeahmt1, im 16. Jahrhundert bekannte sidi Spenser zu ihm als seinem Lehrer, Shakespeare, Fielding, Jane Austen und Dickens sind seine Geistesverwandten, und darum heißt er noch jetzt der „Vater der englischen Poesie". Aber wenn auch Chaucers Dichtung einen Neubeginn markiert, so bedeutet sie doch keinen Bruch mit dem» was ihr vorausgeht; Chaucer stiftet eine Tradition und steht auch selbst in einer Tradition. Er studierte und benutzte die französischen Dichter des 13. und 14. Jahrhunderts, vor allem die beiden so sehr verschiedenen Verfasser des Rosenromans: Guillaume de Lorris und Jean de Meun, so wie auch deren Schüler Machaut, Desdiamps, Froissart; er kannte, bewunderte und benutzte die Italiener der gleichen Zeit: Dante, Petrarca, Boccaccio; er interessierte sich, wie die meisten seiner gebildeten Zeitgenossen, für Ovid und Boethius — und endlich muß er, wie die Canterbury Tales beweisen, eine große Zahl von volkstümlichen Legenden and Erzählungen gut gekannt und mit Vergnügen gehört haben. Chaucer markiert daher den Punkt, wo die vorwiegend romanisdie Kultur und Literatur des Mittelalters ins Englische übersetzt, übernommen und damit verwandelt wird. Nadi Chaucers Stellung in der mittelalterlichen Literatur fragen heißt daher soviel wie untersuchen: wie steht Chaucer iin der Tradition der romanisdien Literaturen und wie unterscheidet er sich. Das Ursprungsland der mitelalterlidien Kultur ist Frankreich; die Literaturen Deutschlands, Italiens, Englands sind in ihren Anfängen Filiationen der französischen, selbst reife und selbständige Werke wie Wolframs Parzival und Dantes Commedia sind nicht recht zu verstehen, wenn man ihre französischen Ursprünge — den Roman Chretiens bzw. die provenzalisdie Liebesdichtung — nicht kennt. Der Fall Chaucers ist besonders kompliziert. Chaucer ist einmal unmittelbar von Frankreich angeregt und beeinflußt worden, zum anderen hat er die aus der französischen entstandene italienische Literatur kennengelernt, studiert und bearbeitet: vorzugsweise die beiden, heute wohl kaum noch gelesenen, Epen Boccaccios (II Filostrato und La Teseida), die ihrerseits wieder aus der Tradition des höfischen Romans begriffen werden müssen. Nicht nur allgemein einfach deswegen, weil die Franzosen als erste wieder Geschichten zu erzählen verstanden, und damit alle mittelalterliche Erzählungsliteratur bestimmt haben, sondern aus dem speziellen Grunde, daß der Stoff des „Filostrato" dem französischen Trojaroman entnommen ist. Der Verfasser dieses Werkes, Benoit de Sainte-Maure, war für das gesamte Mittelalter eine Autorität über 1 Vgl. hierzu Caroline Spurgeon, Five Hundred Years of Chaucer Criticism and Allusions, 1357—1900. Cambridge 1925, 3 vols.

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Troja 2 ; als Chaucer den Filostrato Boccaccios in seinen Troilusroman umwandelte, benutzte er auch den Trojaroman des französisdien Diditers. Benoit war Zeitgenosse des Chrétien, in dem wir den größten Romancier des Mittelalters sehen; obwohl wir nidit wissen, ob Chaucer Chrétien gelesen hat, so war doch sein Einfluß so groß, daß auch er in der folgenden Arbeit mit berücksichtigt werden muß. Denn es geht hier nicht, jedenfalls nicht primär, um Quellenuntersuchungen, sondern darum, die geistige Welt zu erkennen, aus der Chaucer stammte, die er voraussetzte und verwandelte. Daher ist es nahezu selbstverständlich, daß auch die provenzalisdien Troubadours mit berücksichtigt werden: ihr Einfluß ist unermeßlich; er ist noch heute bei Menschen zu spüren, die nie ein Troubadourgedicht gelesen haben. Ob Chaucer die Troubadours gelesen hat, ist daher für unser Thema gleichgültig; auf jeden Fall hatte er wie Dante, Petrarca, Boccaccio Anteil an dem von den Troubadours inspirierten Kult der Dame. Die Frage, wie Chaucer zu der ihn bedingenden Kultur steht, verlangt eine große umfassende Kenntnis der mittelalterlichen Literatur Frankreichs und Italiens; ich habe midi daher bemüht, das Wichtigste selbst kennenzulernen und zugleich jede mögliche Hilfe benutzt. Besonders viel verdanke ich der amerikanischen Forschung, vor allem den beiden Gelehrten John L. Lowes und George L. Kittredge; sie haben nicht nur durch exakte Quellenvergleiche den Grund gelegt auf dem eine umfangreiche Betrachtung Chaucers aufbauen kann und muß, sondern zugleich auch verstanden, Chaucers Eigenart zu sehen und herauszuarbeiten. Für das Studium der französischen, provenzalisdien und italienischen Literatur waren K. Voßler, J. Bédier, R. Bezzola meine wichtigsten Führer; endlich bin ich — so wie wohl jeder andere der sich mit mittelalterlicher Literatur beschäftigt — dem hervorragenden Werke von E. R. Curtius verpflichtet. Entsprechend der gestellten Aufgabe beginnen die einzelnen hier folgenden Kapitel mit einem Überblick über die Geschichte des Problems in den romanischen Literaturen um dann zu einer Betrachtung von Chaucers Eigenart vorzugehen; das sechste Kapitel ist ein Versuch, das spezifisch Chaucersche mit anderen englischen Dichtern und Schriftstellern in Beziehung zu setzen. Dieses methodische Vorgehen verlangt die Beantwortung zweier grundsätzlicher Fragen. Wer sich über Chaucers geistesgeschichtliche Stellung Gedanken macht, fragt meistens, ob Chaucer „noch" zum Mittelalter oder „schon" zur Renaissance zu rechnen sei: diese Frage ist in meiner Arbeit weder gestellt noch wird sie berücksichtigt; ich klammere — sozusagen — das Problem der Renaissance ein. Denn diese Frage läßt sich sinnvoll nur dann stellen, wenn wir genau wissen, was Mittelalter und Renaissance sind; denn nur dann können wir sagen, wie sie sich voneinander unterscheiden. Wenn die Renaissance dadurch gekennzeichnet wäre, daß die „mittelalterlichen Bindungen sich lockern", oder wenn sie als „Entdeckung der Welt und des Menschen" zu verstehen wäre: dann müßten wir allerdings Chaucer einen Renaissancedichter nennen. Aber dann müßten wir auch — wie man längst gesehen hat — die Troubadours, Chrétien, den 2

8

Was noch für Shakespeares Troilus und Cressida gilt.

Rosenroman und die französischen Fabliaux zur Renaissance zählen: was evidenter Unsinn wäre 3 . D a s Renaissanceproblem ist zur Zeit alles andere als gelöst, d. h. niemand, der die Geschichte der betreffenden Jahrhunderte kennt, glaubt mit einer solchen Sicherheit wie es noch Burckhardt meinte sagen zu können, was Mittelalter und Renaissance ihrem W e s e n nadi sind. Sicher aber ist das 12. Jahrhundert, mit dem ich fast jedes meiner Kapitel beginnen lasse, eine Epoche geschichtlicher Wandlung; es markiert einen Neubeginn, der genau so bedeutend — nach manchen Gelehrten: noch viel bedeutender — ist als die italienische Renaissance 4 . D a m i t ist die zweite der zu stellenden Fragen schon implizite beantwortet. Ich versuche Chaucer aus dem 12. Jahrhundert herzuleiten und gehe meistens nicht weiter zurück; d. h. ich glaube nicht, daß »die" Antike auf Chaucer intensiver und qualitativ anders eingewirkt hat als auf seine romanischen Zeitgenossen und Vorgänger; sicher war er sehr an O v i d undBoethius interessiert, aber er stand mit seinem Interesse nicht allein 6 . Chaucer sah, in echt mittelalterlichem Sinne, die antike und die mittelalterliche Tradition als eine — d. h. er unterschied nicht zwischen „Antike" und „Mittelalter" wie die italienischen Humanisten. Die Auffassung Chaucers, welche meiner Arbeit zugrunde liegt, entspricht seinem eigenen Selbstverständnis: er übernahm, veränderte und gab weiter was vor ihm schon da w a r : And yf that olde bokes were awaye Y-loren were of remebraunce the keye. Wei oghte us thanne honouren and beleve These b o k e s . . . . . . wel I wot that ye han her-biforn Of making ropen and lad awey the corn, And I come after, glenyng here and there, And am ful glad yf I may finde an ere Of any goodly word that ye han left 8 . 3 „Die strengen Bindungen" und die „hierarchischen Ordnungen" des Mittelalters sind nodi gegenwärtig sehr beliebte topoi der (manchmal popularisierenden) Geistesgeschkhte; ihr Erkenn tniswert ist gering. Vgl. v. a. W. K. Ferguson, The Renaissance in Historical Thought, New York 1948. E. R. Curtius erklärt die überlieferte historische Periodisierung für „sinnlos", vgl. Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, p. 31. 4 Vgl. R. Bezzola, Le Sens de l'amour et de l'aventure, Paris 1947. 5 In diesem Zusammenhang ist es nützlich zu erwähnen, daß auch Dante nicht, wie man so oft annimmt, seinen Stil an dem klassischen Vorbild Vergils „geläutert" hat, vgl. Curtius, op. cit. p. 355. 6 Legend of Good Women F, v. 25 f., vv. 73 ff. vgl. Parlement of Foules, 24 f. . . . of olde bokes in good feith Cometh al this newe science that men lere. — Es ist mir nicht verständlich, daß W. Heraucourt gerade in diesen "Worten ein Renaissancebewußtsein Chaucers entdecken kann. Ich finde bei Chaucer nirgendswo das Bewußtsein einer geschichtlichen Zäsur, des Rückgriffs auf Altes (die „Wiedergeburt" des Toten) und die Verachtung dessen, was ihm unmittelbar vorausgeht. Vgl. Heraucourt, Chaucers Wertwelt, Heidelberg 1939, p. 16 (bei Chaucer könne zwar von einem wirklichen Begreifen des antiken Fühlens und Denkens keine Rede sein, aber doch liege bei ihm „das Bewußtsein vor, mit seinem Studium des Altertums einen neuen Wissenszweig betrieben zu haben").

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I. Courtoisie und der höfische Lebensstil Die französischen Ritter der Frühzeit wollten nichts anderes sein als K ä m p f e r , begreiflicherweise waren ihre kriegerischen Ideale mit den ethischen Forderungen der Kirche nicht vereinbar: aber die Kirche meinte doch, nicht auf das Schwert verzichten zu können und so gab sie den Rittern Aufgaben: Schutz der Schwachen, besonders der Witwen und Waisen, Verteidigung der Kirche und des „süßen Frankreich"; überhaupt sollten die Ritter jegliches Unrecht in der Welt abstellen 1 — „deshacer agravios", was sich bekanntlich noch D o n Q u i j o t e vornahm als er auszog den Orden der irrenden Ritterschaft wiederherzustellen. Don Q u i j o t e kannte auch noch eine andere Pflicht, eine conditio sine qua non des Rittertums: die Liebe — ein irrender Ritter, der nicht verliebt war, schien ihm wie „ein Baum ohne Blätter und Früchte, wie ein K ö r p e r ohne Seele" 2 ; und diese Pflicht schrieb ihm nicht die Kirche, sondern die weltliche Tradition des Rittertums vor; um das J a h r 1100 nämlich taucht, unvermittelt und wie aus dem Nichts, die Forderung auf, daß man als Ritter sich der Liebe widmen müsse: Ja no sera nuils hom ben fis Contr' Amor si non l'es aclis und gleichzeitig damit erscheint ein neues Ideal des höfischen Benehmens, das im Anschluß an die eben zitierten Zeilen zu finden ist: Et als estranhs et als vezis Non es consens, Et a totz sels d'aicels aizis Obediens. Obediensa deu portar A motas gens qui vol amar, E coven Ii que sapdia far Faigs avinens, E que-s gart en cort parlar Vilanamens. Diese Verse stammen von Guillaume I X . , Herzog von Aquitanien, der selbst, wie wir wissen, Kreuzfahrer war — also dem Ideal des Glaubensstreiters entsprach — er machte aber auch Verse, in denen sich das neue Ideal des höfischen 1 Vgl. C. Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, Stuttgart 1935; und L. Gautier, La Chevalerie, Paris 1893. 2 Don Quijote 1,1.

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Verhaltens ausdrückte 3 . Für Guillaume schien es nötig, daß „man" — es ging ihm nicht nur um sidi selbst sondern eben um das „man" — verliebt sein und sich in eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung einfügen, bestimmte gesellschaftliche Regeln beachten müßte: man sollte Fremden und Nachbarn gegenüber gefällig (consens) sein, vielen (nicht allen!) „Gehorsam entgegenbringen" — was wir wohl am besten mit „aufmerksam behandeln" übersetzen 4 — man sollte sich darauf verstehen (sapcha far) „Gefälliges zu tun", und sich hüten, bei H o f wie ein Bauer (vilanamens) zu reden. In diesen Versen ist der höfische Lebensstil zum ersten Male formuliert. Man muß sich einfügen, anderen entgegenkommen, verliebt sein, „anständig" reden; und darauf muß man sidi verstehen — denn die Menschen haben diese Tugenden nicht ohne weiteres, von Natur aus; sie müssen lernen und sidi erziehen. Die Forderungen der Gefälligkeit, des schönen Redens, des Entgegenkommens sind als solche nicht absolut neu; aber sie waren neu für den Ritter; neu, und unerhört, war die Forderung des Verliebtseins, und neu war der Bezug auf den H o f — durch beides unterscheidet sich der höfische Lebensstil von der ciceronischen humanitas, mit der er sonst gewisse Verwandtschaft hat 5 : denn für Cicero war der Ort, an dem der Mensch zum Menschen wird, die Stadt (daher urbanitas); für Guillaume, und für alle die Troubadours und Dichter, die ihm nachfolgten, der H o f . Der Bezug auf den H o f wird nahezu programmatisch formuliert bei Amanieu de Sescas: o m deu uzar cort per se melurar, qu'escola es de-ls bos. En cort pot hom los bos triar entre-ls malvatz 6 .

Am Hofe, sagt Amanieu damit, „verbessert" sidi der Mensch, der Hof ist eine „Schule der Guten"; dort kann man lernen, zwischen Guten und Bösen zu unterscheiden. Was man bei H o f e tut, wie man sich bei H o f e benimmt — oder sagen wir besser benehmen sollte — ist „richtig" und „ g u t " ; daraus erklärt sidi, daß „Courtoisie" und „courtois" niemals einen negativen Sinn haben, sondern immer einen positiven. Welchen Sinn aber hat Courtoisie? Das zu ergründen ist die Aufgabe der nächsten Seiten. Ich lasse dabei das soeben angeschnittene Problem der Liebe beiseite 7 und beschränke mich auf eine Untersuchung der Courtoisie selbst. Allerdings kann man das Wort Courtoisie nicht isoliert behandeln. Denn mit Courtoisie und courtois zusammen gehen eine Reihe von anderen Wörtern, die z. T . synonym gebraucht werden. Höfisches — als „richtiges" — Verhalten kann 3 Vgl. Les Chansons de Guillaume IX., duc d'Aquitaine, ed. par A. Jeanroy, Paris 1927 (2 ed), p. 18. Chanson VII, str. 4 u. 5. 4 Vgl. die beigefügten Übersetzungen Jeanroys. 5 Auf Cicero ist später noch einzugehen. 6 Zitiert nach K. Bartsch, Denkmäler der provenzalischen Literatur, Stuttgart 1865, p. 108, vv. 31/35. 7 Die Liebe wird in Kapitel I V behandelt.

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etwa mit „franc", „gentil", „debonair", „doux" ausgedrückt werden — genau so wie unhöfisdies — falsches — Verhalten außer mit „vilain", das wir schon kennengelernt haben, durdi "Wörter wie „cruel", „fei", „fol" bezeichnet werden kann. Courtoisie ist nicht ein strenger philosophischer Begriff, der sich von seinen Verwandten scharf unterscheidet, sondern meint eine Haltung, die man von verschiedenen Punkten her sprachlich zu fassen suchte. Das ist vermutlich der Grund, warum bei Beschreibungen von Menschen, die sich „richtig" benehmen, meistens eine ganze Reihe von Termini verwendet sind. Als Beispiel dafür nehmen wir Chaucers Ritter: A Knight ther was, and that a worthy man, T h a t f r o the tyme, that he first began T o ryden out, he loved chivalrye, T r o u t h and honour, fredom and c o u r t e i s i e . . . A n d everemore he hadde a sovereyn p r y s ; A n d though that he was worthy, he was wys, A n d of his port as meeke as is a mayde. H e never yet no vilenye ne sayde In al his lyf unto no maner wight. H e was a verray, parfit, gentil knight 8 .

Dieser Ritter verbindet, wie man sieht, die kämpferischen mit den höfischen Tugenden; letztere umschreibt der Dichter durch „fredom", das dem französischen „franchise" entspricht, ferner durch „wys" = frz. „sage" — wir haben hier an Guillaumes „e conven Ii que sapcha far faigs avinens" zu denken, „sagesse" ist die Fähigkeit, an der rechten Stelle und im rechten Augenblick das Rechte zu tun — weiter durch die mädchenhafte Mildheit und durch seine Art zu reden — „he never yet no vileynye ne saide" — wobei wir uns selbstverständlich an Guillaumes „e ques gart en cort parlar vilanamens" erinnern. Solche Beschreibungen, in denen die Totalität einer richtigen Haltung durch eine Häufung verschiedener Epitheta, die von verschiedenen Punkten dasselbe zu fassen suchen, ausgedrückt wird, sind häufig; Chaucers Ritter steht nicht allein, sondern fügt sich in eine Tradition. Stellen wir daneben Madiauts König von Böhmen; er war: m o u t sages en tous endrois, Loiaus, vaillans, überaus, et adrois, Et envers tous dous, humbles et courtois . . . Mais Hardiese L'aconpaignoit, et sa fille prouesse, Et doucement tint par la main Largesse Une d a m e de moult grant gentillesse. Si f u Richesse A m o u r , Biauté, Lorauté, et Leesse, Désirs, Pensers, Volenté et Noblesse, Franchise, Honneur, Courtoisie, Jeunesse . . . 9 8 Chaucer wird immer zitiert nadi der Ausgabe von F. N . Robinson, Oxford University Press 1933. Robinson teilt die Canterbury Tales in 10 Gruppen ein; die angeführte Stelle ist I, 43 ff. 8 Vgl. Guillaume de Machaut, Le Jugement dou R o y dou Behaigne 1468 ff. Madiaut ist ediert von Hoepffner, 3 vols., Paris 1908 ff. (SATF).

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Diese Häufung mehr oder minder synonymer Begriffe macht die Untersuchung schwierig; daneben tritt nodi eine andere Schwierigkeit. Courtois geht nicht nur gern zusammen mit verwandten Wörtern, sondern bedeutet auch selbst an verschiedenen Stellen Verschiedenes ; ja es gibt nicht ein Wort in einer modernen Sprache, das alle Nuancen wiedergibt (denn in allen modernen Sprachen fehlt die Vorstellung des Hofes als Norm des Verhaltens); ich verdeutliche das an einigen Beispielen: 1. Im Rosenroman singen die Vögel „dances d'amor et les notes Plesans, c o r t o i s e s et mignotes 10 ; 2. Chrétien de Troyes nennt Enite, Erecs Frau, „ c o r t o i s e , sage" weil sie einen in sie verliebten Grafen getäuscht hat 1 1 ; 3. in der ersten Novelle des achten Tages von Boccaccios Decameron bittet ein Soldat eine verheiratete Frau „d'essergli del suo amor c o r t e s e " — was eine Aufforderung zum Ehebrudi ist — wir bemerken also, daß sich das Wort sowohl auf die Verweigerung wie auf die Gewährung illegitimer Liebe beziehen kann; 4. Christi Güte, der Mensch wurde um die Menschen zu erlösen, heißt im „Ayenbit of Inwit" „courtaysie" 12 . 5. Dante enttäuscht und betrügt einen im Eise eingefrorenen Sünder und erklärt dazu „e cortesia fu in lui esser villano" 1 3 . Diese Stellen sind mittelalterlidien Texten entnommen; wir stoßen auf die gleichen Übersetzungsschwierigkeiten, wenn wir Shakespeares „Merchant" aufschlagen und die Rede lesen, mit welcher der Doge den grausamen Juden zum Verzicht auf seinen Rechtsanspruch zu bewegen sucht. Seine — des Kaufmanns — Verluste, sagt der Doge, müßten selbst Türken und Tartaren zum Mitleid bewegen — „stubborn Turks and Tartars never train'd T o offices of tender courtesy". Er fügt noch hinzu, daß alle eine milde Antwort — „a gentle answer" — erwarten 14 . Welches Wort einer modernen Sprache reicht aus, um wiederzugeben: 1. den lieblichen Gesang der Vögel, 2. einen geschickten, wenn auch frommen, Betrug, 3. eine Aufforderung zum Ehebruch, 4. die Menschwerdung Gottes, 5. eine „richtig" applizierte Gemeinheit, 6. das Verzichten auf sein Redit und das Bemitleiden? Wir müssen den Grund finden, von dem her einmal die verschiedenen Bedeutungen von courtois, und zum anderen die anderen, mit courtois assoziierten Eigenschaften deutlich und begreifbar werden. Wir untersuchen also, wie schon gesagt, nicht so sehr ein Wort oder verschiedene Wörter,, sondern eine geistige Haltung, die sich in der Sprache ausdrückt. Trotzdem beginne ich Le Roman de la Rose, ed. A.Langlois, 5 vols., Paris 1914ff.(SATF), vgl. vv. 495/6. Chrétien, ed. W. Foerster (Sämtliche Werke, Halle 1888 ff.), vgl. Erec, v. 3642. 1 2 Ayenbit of Inwit, ed. Morris, London 1866, (EETS), vgl. p. 97. 1 3 Dante, Commedia, ed. L. Olschki, Heidelberg 1922, vgl. Inferno 33, 150. 1 4 Shakespeare zitiere ich nach der Ausgabe von W. J. Craig, Oxford University Press (1. Auflage 1905). Vgl. Merdbiant of Venice IV, 1, 27 ff. courtesy ist hier mit commisération, pity, human gentleness, love identisch: das ist alles rein mittelalterlichhöfisch. 10

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die Untersuchung mit einigen Courtoisiestellen, und setze nicht, was an sich auch möglich wäre, bei „franchise" oder „gentillesse" an. Es ist leicht einsehen, warum. Das Neue an der geistigen Haltung, die sich in Guillaumes Gedichten zum ersten Male sprachlich formuliert, ist eben der Bezug auf den Hof: deswegen muß eine Analyse des Wortes uns auf Wesentliches bringen. Ich wähle drei Stellen aus drei Autoren: Chretien, Dante, Chaucer. 1. Chretien, „Yvain". An den Hof des Königs Arthur kommen zwei Schwestern, die sich um ihr Erbe streiten, und zwar will die ältere die jüngere um ihren Anteil bringen. Arthur soll den Streit entscheiden; zu ihm sagt die jüngere Schwester: Or feroit corteisie et bien Ma dame, ma tres chiere suer Que j'aim autant que mon euer S'ele de mon droit me lessoit Tant qu' antre Ii et moi pes soit (v. 5954 ff.). Courtoisie ist hier: dem anderen das ihm Zustehende zu überlassen.

2. Dante, Commedia, Paradiso, 11. u. 12. Gesang. Thomas von Aquino schildert dem Dante preisend das Leben des heiligen Franz von Assisi. Thomas war Dominikaner, er preist also den Stifter des Konkurrenzordens; deswegen nennt ihn Bonaventura — der selbst Franziskaner war — „cortese" 15 und erzählt zum Dank mit ähnlichem Preis das Leben des heiligen Domenico; er sdiließt seinen Bericht ab mit den Worten: Ad inveggiar cotanto paladino Mi mosse la infiammata cortesia Di fra Tommaso . . . l s

Hier ist cortesia das Anerkennen des anderen, der nicht von vornherein mit dem Preisenden selbst verbunden ist. 3. Chaucer, Legend of Good Women, Prolog. Chaucer erzählt, er habe die Mainacht im Freien geschlafen: da sei ihm im Traum ein großer Zug von Damen erschienen, an ihrer Spitze Gott Amor. Der Dichter erhob sich, um den Gott demütig zu begrüßen, aber der war sehr böse: denn Chaucer hatte den Rosenroman übersetzt und den „Filostrato" bearbeitet — und damit, behauptet Amor, habe Chaucer die jungen Leute vom Liebesdienst abhalten wollen 17 . Der Gott ist erzürnt und will den Dichter bestrafen, da aber legt sich die Königin Alceste ins Mittel und sagt: God, ryght of your courteysye Ye moten herken if he can replye . . . 1 8

Hier heißt curteysye: den anderen beachten, hören was er zu sagen hat, abwarten was er zu seiner Verteidigung vorbringt. Paradiso, 12, 111. Paradiso, 12, 142 ff. 1 7 Der zweite Teil des Rosenromans, auf den hier angespielt wird, ist voll von Schmähungen der Weiber (vgl. A. Wulf, Die frauenfeindlichen Dichtungen etc., Halle 1914) und im „Filostrato" wird Criseida ihrem Geliebten untreu: das Werk ist demnach ungeeignet, zur Liebe zu encouragieren. 1 8 L G W Prol F 342 ff., G 318 ff. Eine genauere Interpretation dieser Szene im II. Kapitel. 15 18

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Allen drei Stellen ist gemeinsam der Bezug auf „den anderen". Courtoisie entsteht, und ist nötig, im Augenblick wo man dem „anderen" gegenübertritt: man muß ihn erblicken, ihn ansehen als den, der er ist und von sich aus ist, ohne ihn auf Grund einer vorgefaßten Meinung oder auf Grund des eigenen Andersseins unbedacht abzulehnen, und man muß ihn anerkennen und ehren. Diese Haltung ist zur gleichen Zeit Entgegenkommen und Distanz: Entgegenkommen deswegen, weil ich auf den anderen eingehen, seine Eigenart erkennen und anerkennen muß — Distanz deswegen, weil eben das Anerkennen bedeutet, daß ich den „anderen" als den nehme, der er ist: ihn „sein lasse". Es wird deutlich einmal, warum Courtoisie das ideale Verhalten des höfischen Ritters ausdrückt. Die höfische Gesellschaft besteht darin, daß alle sich gegenseitig „anerkennen", daß sie aufeinander eingehen und sich gleichzeitig „sein lassen"; alle Mitglieder des Hofes müssen die Fähigkeit dazu haben. Sie müssen weiter in der Lage sein, einen Neuhinzukommenden als den zu erkennen, der er ist, d. h. ihn aufzunehmen, wenn er ebenfalls ein Höfischer ist; wenn er „Wert" hat auf Grund dessen er geehrt werden muß. Es wird zum andern deutlich und im Folgenden gezeigt werden, warum und wie die anderen höfischen Tugenden sich aus dem Grundbegriff der Courtoisie herleiten lassen. Wenn wir diese anderen höfischen Tugenden betrachten, werden wir sehen, was ich oben schon andeutete,, wie die gleiche Grundhaltung von verschiedenen Punkten anvisiert und sprachlich gefaßt wird. Dabei wird sich unser Bild vom Höfischen nicht nur abrunden, sondern erweitern; denn man kann nicht, wie ich glaube, sämtliche höfischen Tugenden aus Courtoisie einfach logisch deduzieren, der Begriif der höfischen Freude z. B., ein integraler Bestandteil des Höfischen, ist nicht aus dem „Eingehen auf den andern" oder aus dem „Anerkennen" herauszuentwickeln; ein zutreffendes Verständnis der „Freude" aber wird die Art» wie und warum „eingegangen" und „anerkannt" wird, in ein richtiges Licht rücken. Unsere Methode wird daher nicht logischdeduktiv, sondern empirisch beschreibend sein. Beginnen wir mit zwei Tugenden, die jederzeit synonym mit Courtoisie gebraucht werden können: franchise und gentillesse19. Beide Wörter bedeuten ursprünglich etwas rein Soziales: gentillesse die edle Abstammung, die Herkunft aus einer guten Familie (oder überhaupt aus einer Familie, der einfache Mann hatte keine); franchise die Freiheit im Gegensatz zur Leibeigenschaft 20 . Beide Wörter änderten damit, daß der Ritter sich in die höfische Gesellschaft einfügte, ihren Sinn und wurden mit courtoisie weitgehend identisch: wie sich an verschiedenen Stellen, zunächst noch einmal aus einer Szene des „Yvain", zeigen läßt. Die beiden Schwestern nämlich, von denen oben die Rede war, können 19 Meine Darstellung ist stark dem Buch von G. Weise verpflichtet: „Die geistige Welt der Gotik und ihre Wirkung auf Italien." Buchreihe der Deutschen Vierteljahrsschrift, 25, 1939 Halle. Weise hat in seinen Exkursen eine Menge Material zusammengetragen, das ich z. T. benutzt habe; seine Gedanken über den ritterlich-höfischen Stil habe idi so weitgehend übernommen, daß ich an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinweisen möchte. — Für Courtoisie ist ferner wichtig H. Dupin, La Courtoisie au moyen age, Paris 1931. Auch Dupin bin ich in vielem verpflichtet. 20 Vgl. Weise, op. cit. Exkurs VIII.

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sich. nicht einigen, und Gauvain und Yvain machen sich zum Vorkämpfer jeweils der einen. Sie fechten lange und, wie zu erwarten, unentschieden — sie beide sind Helden erster Güte und können daher einander nicht besiegen — endlich müssen sie eine Kampfpause einlegen. Bei dieser Gelegenheit erst merken sie, mit wem sie gefochten haben — und sogleich gibt sich jeder für besiegt: „ T a n t sont andui franc et jantil" 2 1 . Hier geht das den-anderen-Ehren soweit, daß jeder von beiden völlig von sich selbst absieht und nur den anderen anerkennt. Eine Parallele dazu findet sich z. B. in Chaucers „Franklin's T a l e " . Hier liebt ein junger Ritter eine verheiratete Dame; sie will ihn aber nicht wiederlieben weil sie ihrem Manne treu ergeben ist: nur unter der Bedingung, daß er die Felsen von der bretonischen Küste verschwinden ließe, würde sie seine Geliebte werden. Mit Hilfe eines Magiers, dem er für seine Bemühungen 1000 Pfund verspricht, läßt der junge Ritter aber das Unmögliche geschehen: und nun ist die Dame in der Situation, daß sie entweder ihre Ehe, oder ihr Versprechen brechen muß. Ihr Mann, der davon hört, zwingt sie ihr Versprechen zu halten, und sie geht zu dem Liebhaber um sich ihm hinzugeben; aber sie ist so verzweifelt, daß sie der junge Mann nicht nimmt sondern freigibt, als er sich die Großmut des Ehemannes klarmacht. Der Magier aber, dem er die Geschichte erzählt, verzichtet nun seinerseits auf das ihm zustehende Geld: Leeve brother Everidi of yow dide gentilly tri oother. T o u art a squyer, and he is a knight; But G o d forbede, for his blisful might, But if a clerk koude doon a gentil deede As wel as any of yow, it is no drede! Sir, I relese thee thy thousand pound . . .

Diese Art, auf das, was einem zusteht, zu verzichten, wird ausdrücklich „gentil" und „ f r e " genannt; zum Schlüsse fragt der Erzähler: Which was the moste fre, as thynketh yow? ohne seine Frage zu beantworten 22 . Mit diesem Verzichten, von-sich-selbst-Absehen hängt die Tugend der Demut (humilitie) zusammen. „ M a n " drängt sich selbst nicht vor, sondern macht sich klein: wie z. B. Chaucers Squyer, von dem es heißt: Curteis he was, lowely and servisable And carf biforn his fader at the table 2 3 .

oder jener Prinz von Wales, der mit dem gefangenen König von Frankreich nicht an einem Tische sitzen wollte, sondern ihn so „demütig wie er konnte" bediente 24 : aus beiden Stellen ergibt sich, daß zur Demut das „Dienen" gehört, und beides zusammen läßt sich als „mesure" verstehen. Wer „mesure" besitzt, dämpft seine unmittelbaren und spontanen Reaktionen, hält sich zurück und weiß, was er zu tun hat: deswegen ist mit der „mesure" die „sagesse" am nächsten verwandt. Wie ich schon oben sagte, ist man nicht ohne weiteres maßvoll und klug: 21 22 23 24

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Yvain 6358 ff. Canterbury Tales V, vgl. vv. 1607 ff. Canterbury Tales I, vv. 99 f. Froissart, zitiert nach der engl. Übersetzung von T . Jones, vgl. diap. C L X V I I I .

man muß es lernen, und daher wird am Ritter comme il faut immer wieder gelobt, daß er „bien appris" sei25. Demut, Maß und „sagesse" führen uns auf die Ehre, von der schon oben implizite die Rede war, wenn ich sagte, daß courtoisie zu einem Teil als „Anerkennen des anderen" zu verstehen sei. Denn Ehre war im Mittelalter soviel wie Anerkennen bzw. Anerkannt-werden; das Wort bezog sich weniger auf ein Gefühl, das man in sich spürt, als vielmehr auf die Position, die man in der Gesellschaft einnahm, sich erwarb, oder zugeteilt bekam 26 . So war die Ehre, wie ein Gehäuse, das den Mensdien umgab; sie war sehr empfindlich und konnte leicht verletzt werden; wer courtois war, verstand sich darauf, die Ehre des anderen nicht anzutasten sondern sie vielmehr richtig dastehen zu lassen. Jemanden ehren ist so mit „ihn höfisch behandeln" weitgehend identisch; was wir z. B. in Chaucers Legend of Good Women haben: Men knewe him wel, and diden him honour, For at Athenes duk and lord was h e . . . (v. 1596 f.) 27 .

Im Ehren liegt genau so wie in der Courtoisie überhaupt zugleich die Distanz und das Entgegenkommen; man wendet sich dem anderen zu, und, wenn es in der Macht des Ehrenden steht, läßt er den anderen nicht nur „sein" sondern erhöht ihn auch; König Artus z. B. gibt Alixandre für seine Tapferkeit „drei Ehren" : ein Königreich, einen Becher, und eine Frau 28 . Die Bereitschaft zum Schenken überhaupt bezeichnet die Seite im Höfischen, die auf Entgegenkommen ausgerichtet ist; und das Entgegenkommen, um es noch einmal zu betonen, ist genau so wesentlich wie die Zurückhaltung. Spezieller Ausdruck für das Schenken ist die largesse, die Alixandres Vater begeistert preist; er behauptet sogar, largesse sei die höchste aller Tugenden: Einsi la ou largesse vient Desor totes vertuz se t i e n t . . . 2 9

und man schenkt nicht nur etwas, nicht nur materielle Güter, sondern auch sich selbst; man öffnet sich dem anderen und gibt sich ihm hin. Denn courtois-Sein, den anderen sehen, heißt auch sich dem Eindruck ausliefern, den der andere auf einen selbst macht: „Les textes sont nombreux", sagt H . Dupin, „dans lesquelles la courtoisie n'est autre chose que la faculté de sympathiser à la joie ou aux maux d'autrui" 3 0 . 25 Chaucer gebraucht den Begriff der mesure nicht, er kennt aber die Sache, die er gelegentlich mit „sobre" wiedergibt; vgl. z. B. Troilus and Cressida II, 648 H o w sobrelich he caste down his eyen; dass. II, 1592 with sobre chere; vgl. auch die Ballade Gentillesse: This firste stok was ful of rightwysnesse, Trewe of his word, sobre, pitous, and f r e e . . . (v. 8 f.). 26 Vgl. F. Maurer, Leid. Studien zur Bedeutungs- und Problemgeschichte, besonders in den großen Epen der staufischen Zeit, München und Bern 1952. Vgl. z. B. p. 245. — Vgl. auch Ruth Kelso, The Doctrine of the English Gentleman in the 16th Century, Univ. of Illionois Stud. in Lang, a. Lit., Urbana, 1934, pp. 98 ff. 27 Vgl. auch LGW 1507 ff., 1596 ff.; Ehre ist „the reverence that man doth to man", Chaucer, Pars Tale, X, 186. 28 Cliges 2364 ff. 29 Cliges 192 ff., bes. 211 f. 30 H. Dupin, La courtoisie, p. 51.

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K l e i n s t ü c k . Chaucers Stellung

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In dieser, wie ich es allgemein nennen möchte, Beeindruckbarkeit, oder Sensibilität, des höfischen Menschen, ist der Grund für die hohe Bewertung der Liebe zu suchen — ich werde darüber in einem anderen Kapitel handeln — ebenso der Grund dafür, daß Mitleid und Anteilnahme spezifisch höfische Tugenden sind — auch dieses Thema gliedere ich aus „Courtoisie" aus, deswegen, weil mir das Mitleid (pitee) bei Chaucer als besonders wichtig erscheint: und in der Sensibilität, der Fähigkeit, Eindrücke auf sich wirken zu lassen, finden wir einen Zugang zu der Tugend, die alles Höfische überglänzt: der Freude. Sidi freuen zu können ist, nach höfischen Begriffen, eine Tugend; Freude ist der Idealzustand der Troubadours 31 ; Guillaume von Aquitanien etwa stellt sie auf eine Stufe mit der Tapferkeit, wenn er in seinem schönen Abschiedsgedicht, auf sein Leben zurückblickend, sagt: „De Proeza et de joi fui" 32 ; und auf der anderen Seite ist es ein Einwand gegen den Wert eines Menschen, wenn man von ihm sagen muß, daß er sich nicht freuen kann. Schon im Rolandslied heißt es von einem Heiden, er habe „traisun" und „murdrie" geliebt und niemand habe ihn je lachend und vergnügt gesehen — „Undies nuls hom ne'l vit juer ne r i r e . . . " 3 3 ; und der Verfasser des Rosenromans (l.Teil), Guillaume de Lorris, fordert ausdrücklich, daß die Menschen sidi im Frühling freuen sollen — wer es nicht tut hat ein „hartes Herz": Lors estuet jones gens entendre A estre gais et amoureus Por le tens bei et doucereus. Moult a dur euer qui en Mai n'aime Quant il ot chanter sus la raime As oisiaus les dous chans piteus 34 .

In der erwachenden Natur des Frühlings, im Gesang der Vögel und im Blühen der Bäume, empfindet der höfische Mensdi einen Zustand, der seinem eigenen Innern korrespondiert — oder korrespondieren sollte; der Mensdi sympathisiert — idi gebrauche hier das Wort im ursprünglidien Sinne der sympatheia — mit dem was um ihn ist; die Freude in der Natur ist identisch mit der Freude im Herzen des Menschen: und sie ist nidit eine gemessene Heiterkeit, sondern ein Aufflammen und Ausbrechen: Ce fu au tens qu'arbre florissent Fuellent bosdiage pre verdissent, Et cil oisel dans lor latin Doucemant chantent au matin, Et tote riens de j o i e a n f l a m e . . , 8 5 oder: En iceli tens deliteus Que tote rien d'amer s ' e f f r o i e . . . 3 8 31

p. 100. 32

Vgl. A. Jeanroy, La poésie lyrique des Troubadours, Toulouse 1934, vol. II,

Guillaume, ed. Jeanroy IX, 7. Rolandslied, ed. Lerdi (Rom. Bücherei) München 1923, v. 1475 f. 34 Roman de la Rose 77 ff. Liebe und Freude gehen hier, wie bei den Troubadours, zusammen. 35 Chrétien, Li Contes del Graal (V. Band der Sämtlichen Werke ed. A. Hilka, Halle 1932), vv.69ff. 34 Roman de la Rose 85 ff. 33

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— am reinsten wohl ist dieser Zustand der ekstatischen Hingegebenheit, des Ausgeliefertseins an die Freude in Bernard de Ventadours Lerchengedicht gefaßt: Q u a n vei l'alauzeta mover De ioi sas alas contra-1 rai, Q u e s'oblida es laissa cazer Per la doussour qu'ai cor Ii vai, Ai! tan grans enveia m'en ve De cui qu'eu veya iauzion! Meravilhas ai, quar desse Lo cor de dizirier no-m fon 3 T .

Hier ist der Vogel, die Lerche, Symbol und Verkörperung der reinsten Freude — eines Zustands, der nidits als Freude ist; der Dichter fühlt sich davon schmerzlich unterschieden, aber er sehnt sich nach dem Gleichen. Diese Freude am erwachenden Leben des Frühlings zieht sich durch die gesamte Literatur des (höfischen) Mittelalters; sich zu freuen wird beinahe selbstverständlich und wie obligatorisch. Darum wird die Freude konventionell und verliert ihr eigentliches Kriterium des Spontanen; wenn wir beispielsweise die Gedichte der „Trouvères Belges" 38 durchblättern, werden wir von der Frühlingslust dieser Dichter nicht sonderlich überzeugt, und schon bei den Troubadours erstarrte der „Natureingang" zur Formel; aber große Diditer, wie Chrétien, Walther von der Vogelweide, Guillaume de Lorris, Chaucer, maditen die alten Formen immer wieder lebendig. Nicht allein an der Natur freut man sich; auch an der Schönheit des Menschen, besonders an der Schönheit der Dame: an ihrem strahlenden Lächeln, ihren lachenden Augen, am Glänze ihrer weißen Haut und ihrer goldenen Haare. Darüber werden wir im Abschnitt über höfische Liebe noch zu handeln haben. Hier führt uns die Erwähnung der Schönheit einen Schritt weiter: denn Schönheit ist ebenfalls ein integraler Bestandteil des höfischen Lebensstils. Pointiert gesprochen: man mußte sich nicht nur beeindrucken lassen, sondern auch selbst Eindruck machen, d. h., kurz gesagt, man mußte jung und schön sein; nur wer jung war, konnte am Tanz und Spiel der höfischen Gesellschaft teilnehmen — weswegen das Alter zu den im Rosenroman verbotenen Eigenschaften gehört 39 — und nur wer schön war, konnte sich bei Hofe „sehen 3 7 Bernard zitiert nach der Ausgabe von Appel, Halle 1915. Vgl. die Obersetzung des Gedichtes von Diez: Seh ich die Lerdie, die mit Lust Die Flügel auf zur Sonne schwingt Und dann herabschwebt, unbewußt Vor Wonne, die ihr Herz durchdringt: Adi! Welche Wehmut faßt mich an, Wenn ich ein Wesen glücklich seh! Es nimmt midi Wunder, daß mir dann Das Herz nicht schmilzt vor Sehnsuchtsweh. — Hier zeigt sidi die enge Verbindung von Freude und Trauer: Freude ist das, was man will; man trauert, weil man nicht freudig sein kann. Im Rosenroman (vv. 291 ff.) gehört die Trauer zum Verbotenen: was aber nicht hindert, daß der Liebesgott später seinem Adepten klarmacht, welche Leiden er zu durchstehen haben wird. 3 8 Ed. A. Scheler, Louvain 1879. 3 9 Vgl. auch G. Weise, op. cit p. 83, wo mit verschiedenen Beispielen belegt wird, daß Schmerz und Trauer unerwünscht waren (was nicht ausschließt, daß wir auch sehr heftige Schmerzausbrüche finden, darüber vgl. Kapitel II).

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lassen", in der Gesellschaft „etwas darstellen" 40 . Wir dürfen das freilich nicht pressen und meinen, von einem bestimmten Alter an hätten die Menschen nicht mehr courtois sein können; Chaucers Ritter z. B. ist offenbar ein Herr „in den besten Jahren" und trotzdem curteis: aber die „besten Jahre" waren eben doch die der Jugend; Chaucers Squier mag stellvertretend für viele andere stehen.

him ther was his son, a yong squier, A lovyre and a lusty badieler, With lokkes crulle as thei were leid in presse. Of twenty yeer of age, he was, I gesse. Of his stature he was of evene lenghthe, And wonderly delivere, and of greet strenghthe . . . Syngyng he was, or floytinge, al the day; H e was as fresh as is the month of may . . . H e koude songes make and wel endyte, Juste and eek daunce, and weel purtreye and write. So hoote he loved that by nightertale H e sleep no more than doth a nightingale. Curteis he was, lowely, and servysable, And carf biforn his fader at the table 4 1 .

Mit diesem Bilde beschließe ich die Betrachtung der höfischen Tugenden. Ehe wir weitergehen, fasse ich das bisher Erschlossene in einigen Leitsätzen zusammen. 1. Der höfische Lebensstil bezieht sich auf den Hof; der Hof ist der Ort, an weldiem der Ritter seine Tugenden entwickelt. 2. Die Haupttugend ist die Courtoisie; Entgegenkommen und Distanz sind die beiden ihr inhärenten Tendenzen; der Bezug der Courtoisie ist auf „den anderen" gerichtet. 3. Die verschiedenen höfischen Tugenden sind nicht strikte voneinander zu scheiden; mit verschiedenen, z. T . synonymen Wörtern wird eine geistige Haltung umschrieben. 4. Aus der Grundsituation der Courtoisie heraus — Distanz und Entgegenkommen — lassen sich einzelne höfische Tugenden ableiten; andere, die auch dazugehören, vervollständigen das Bild, ohne daß man sie logisch deduzieren kann 42 . 5. Chaucer fügt sich, jedenfalls mit einem Teil seines Werkes, bruchlos in die höfische Tradition ein 43 . Mit dieser kurzen Ubersicht der höfischen Tugenden ist unsere Aufgabe aber noch nicht gelöst, denn wir können den höfischen Lebensstil nur dann be4 0 Vgl. G. Weise, op. cit. E x k . I u. p. 415: „Schönheit, Tüchtigkeit und edle A b stammung gehören für die ritterliche Ethik aufs engste zusammen . . . Von dem häßlichen Menschen glaubte man das Schlimmste erwarten zu können. 4 1 Canterbury Tales I, 79 ff. Der Squier ist „natürlich" auch ein tüchtiger Krieger, er hat in Flandern gefochten „in hope to standen in his lady grace". Er ist also, was man nebenbei hervorheben kann, kein Glaubensstreiter: v o m Ritterlich-Höfischen aus gesehen ist das K ä m p f e n als solches wichtiger als das K ä m p f e n für die Kirche. 4 2 Die von mir aufgeführten Tugenden sind keineswegs alle, aber, wie mir scheint, die wesentlichen. 4 3 Wie sich Chaucer unterscheidet und was er Besonderes bringt, darüber s. u. pp. 35 ff.

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greifen, wenn wir uns klarmachen, wie man n i c h t sein sollte: d. h. wir müssen auch die Untugenden mit berücksichtigen. Der höfische Ritter braudite ein Gegenbild, einen dunklen Grund des Schlechten, von dem sich seine eigenen Tugenden nur um so strahlender abheben sollten — wie offenbar jeder Lebensstil, der mit gewissen Anforderungen an den Menschen tritt: die Griechen erfanden sich die Barbaren, die „Urbanen" Römer bildeten spöttisch auf den „rusticus", die eleganten Damen und Herren des 18. Jahrhunderts waren glücklich, wenn sie sich von gothischer Geschmacklosigkeit zu unterscheiden glaubten: und der höfische Ritter verachtete den vilain, den Bauern. Wenn jemand das "Wort „vilain" aussprach, dann wußte er: vilain est fei et sans pitié sans service et sans amitié 44 .

Der vilain war außerhalb des Hofes, er gehörte nicht mit dazu; denn der Hof ist ein „kultiviertes" und eingehegtes Stück Land, das sich nach außen abschließt: so wird vilain die Bezeichnung für alles Schlechte und Ungehörige. Der Hof ist also nicht nur der jeweils konkrete Ort, er ist auch das Symbol der Courtoisie. Darstellungen, in denen der Hof als Symbol fungiert, finden wir häufig; im Rosenroman hat Guillaume de Lorris die Lehren und Meinungen früherer Generationen zu einem großen Bilde zusammengefaßt. Sein Held, der Träumer der in die Liebeskunst eingeweiht werden soll, kommt, nachdem er eine Zeit durch die lachende Frühlingslandschaft gegangen ist, an einen Garten, den eine hohe Mauer umgibt: „Tot d'ung haut mur embataillé" 45 . An ihrer Außenseite sind eine Reihe von Bildern angebracht, die man nur mit Schrecken und Abscheu sehen kann: Bilder von all dem, was man bei Hofe nicht sein darf. Der Träumer sieht den Haß, die Grausamkeit, den Geiz, die Geldgier, den Neid, die Trauer, das Alter, die Armut und die „Vilenie". Sie faßt nahezu alle negativen Qualitäten in sich zusammen, gleich einem „bösen Geschöpf", ist „despiteuse", „orguilleuse", „mesdisant" und gleicht einer Frau „qui petit seust D'honorer ceus qu'ele deust" 46 . Das Laster des Stolzes, an dem die vilenie notorisch leidet, ist hier nicht eigens genannt, wird aber später dem jungen Mann ausdrücklich verboten 47 . Im Garten selbst dagegen versammeln sich die höfischen Tugenden; da hält sich Herr Déduit mit seinen Damen auf: eine von ihnen heißt Courtoisie; sie wendet sich sogleich dem jungen Manne zu und fordert ihn auf, am Tanze teilzunehmen. Das ist ein Zeichen, daß er „dazugehört" — seine edle Art verrät sich an seinem „zierlichen Reden": Onques tel response n'issi D'home vilain mal enseignié . . . 4 8 * * Rosenroman 2085. 4 5 Roman de la Rose 131. 4 6 Ibid. vv. 167 ff. 4 7 Ibid. 2135 mit „orguil" gehen vilenie und oltrage sowie folie häufig zusammen, vgl. z. B. Yvain vv. 1795 ff.; Chanson de Roland v. 313. 4 8 Ibid. vv. 1940ff. Die englische Version sagt dasselbe mit anderen Worten: „thou art curteis by thi speche. For though a man fer wolde sech He shulde nat finden, for certein, N o sich answer of no vilain (vv. 1988 ff.).

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versichert später der Liebesgott — wäre er ein vilain, dann hätte ihn die schöne Dame Eitelkeit, die das Tor hütet, wahrscheinlich nicht eingelassen (denn niemand kann höfisch sein, jedenfalls im Rosemroman, der nicht die Tugend des Müßiggangs beherrscht). Der Hof sperrt also einiges von sich aus; der höfische Mensch will nicht nur etwas sein, sondern auch etwas nicht sein; und alles, was nicht so ist, wie es sein sollte, wird abgelehnt. Der höfische Lebensstil ist nicht humanitär, man kommt nicht allen entgegen, sondern nur einigen, den Erwählten, die selbst höfisch sind. Wie der „vilain", so wurden auch „serf" und „traitour" grundsätzlich verachtet49. Wie verträgt sich aber diese exklusive Haltung mit der etwa des Chaucerschen Ritters, von dem es heißt, daß er niemandem je ein böses (vilains) Wort gesagt habe? Oder mit der des Königs von Böhmen, den wir mit Chaucers Ritter vergleichen konnten, er war, wie wir uns erinnern: „envers tous dous, humbles, et c o u r t o i s . . N u n , mit dem „envers tous dous" etc. ist hier offensichtlich gemeint, daß „alle" nur die sind, welche „in Frage kommen"; denn von dem gleichen König heißt es kurz zuvor: Humbles et dous est et pleins de franchise A ses amis

Fiers et crueus a ses anemis50. Zum Feinde ist „man" grausam — solange jedenfalls, als er noch nicht besiegt am Boden liegt 51 — und das ist auch ganz verständlich: der Feind attackiert ja einen höfischen, d. h. guten Menschen: kann er etwas anderes sein als „böse" (vilains)? Der Feind ist genau wie ursprünglich der „vilain" ein Außenseiter, jemand, der nicht „mit dazugehört", der auch gar nicht dazugehören will. Noch Jean de Meun — keineswegs ein in allem höfischer Schriftsteller — war der Meinung: wer „gentil" sein wolle, müsse ein „demütiges" (humble), „höfliches" (curteis) und „freundliches" (gent) Herz haben für alle Leute: außer für seine Feinde 52 . Aber damit, daß der Feind ein vilain sein kann, ist der ursprüngliche, ständische Begriff der vilenie aufgehoben und zu einem rein ethischen geworden. Schon bei Chrétien de Troyes ist ein Ritter nicht ipso facto courtois oder gentil — nur deswegen, weil er den Ritterschlag empfangen hat; gentil und courtois ist man auf Grund seines Benehmens, nicht auf Grund seiner Geburt und Erziehung. Ein Ritter kann eine Schandtat begehen; so fürchtet z. B. Perceval, es würde vileinie 53 sein, wenn er nach der Bedeutung des Grals und der blutenden Lanze fragte; und andere Ritter Chrétiens benehmen sich wirklich schlecht: z. B. der Ritter, der tatenlos zusieht, wie ein edles Fräulein von einem tückischen Zwerg geschlagen wird 54 , und der Graf, der Enide schlägt, weil sie 49 60 51 62 63 84

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Vgl. L. Gautier, L a Chevalerie, Paris 1893, p. 135/6. Vgl. Madiaut, L e Jugement dou R o y dou Behaigne, v v . 1307 f. Über das Verhalten zu Feinden vgl. Kapitel II pp. 46 ñ. R o m a n de la R o s e 18881 ff. L i Contes del Graal v v . 3210 f. Chrétien, Erec v. 198.

nicht seine Frau werden will 5 5 — beide sind vilain. Ähnlich sagt Chaucer von Tarquinius, der Lucretia vergewaltigte: Tarquinius that art a kinges eyr And sholdest, as by linage and by right Doon as a lord and as a verray knight: Why hast thou doon despit to chivalrye? Why hast thou doon this lady vilanye 56 ? Chaucer denkt hier ganz ähnlich wie Chrétien; wenn audi Chrétien nicht so scharf reflektiert wie Chaucer. Chaucers Gedanken stehen jedodi nidit einzigartig da; sie setzen die lange Diskussion über wahren Adel voraus, so wie sie von den Troubadours, Dante, Jean de Meun und schließlich auch von Chaucer und Gower entwickelt worden ist. In ihr schlug sich die Erfahrung nieder, von der die oben zitierten Stellen reden: ein Mensch hat nicht Tugend durch Geburt und Stand, sondern er erweist sich als tugendhaft durch sein Verhalten. Man konnte sich dafür auf die Autorität des Boethius berufen 5 7 ; aber daß man dieses Problem diskutierte, ist nicht durch antiken Einfluß zu erklären, sondern dadurch, daß der höfische Ritter an sich selbst Forderungen stellte, die er erfüllen oder nicht erfüllen konnte. Die Tugenden, durch die man sich als „gentil" ausweist, sind durchweg die alten höfischen Tugenden; die Diskussion über den wahren Adel, die sogenannte „gentilezza-Diskussion" ist eine Selbstbesinnung des höfischen Menschen auf das, was eigentlich höfisch und edel ist 58 . Ibid. v. 4287. Legend of Good Women 1821 ff. 8 7 Consolatio Philosophiae III, p. 6. 5 8 Das Thema ist außerordentlich komplex und kann hier nidit im einzelnen behandelt werden; ich gebe nur einige Anmerkungen. Zunächst J. Huizinga, Herbst des Mittelalters, Herbst des Mittelalters, (3. Aufl., München, München 1937 p. 84), dem ich zustimme: „Ebenso im Wesen des Rittertums liegend und ebenso stereotyp und theoretisch ist auch die Idee, daß der wahre Adel auf Tugend beruht, und daß im Grunde alle Menschen gleich sind." (Zur Gleichheit der Menschen vgl. R . W. and A. J. Carlyle, A History of Médiéval Political Theory in the West, 6 vols. Edinburgh 1903/36, vol. I, pp. 8 f.) Trotzdem schreibt Walser über Dantes IV. Canzone im Convito (wo auch die Frage nach dem wahren Adel gestellt wird): „Und Dante zieht als echter Florentiner Demokrat seinen Schluß: wirklicher Adel kann nur erworben werden durch geistige Überlegenheit des Individuums, nicht aber durch ererbtes Gut oder durch ererbten Waffenruhm." (Gesammelte Studien zur Geschichte der Renaissance, vorber. von M. Walser-Eschen und W. Kaegi, Basel 1932, p. 241.) Franz W. Müller sieht wiederum in seinem Helden den wahren Kritiker des Geburtsadels: „ . . . er (seil. Jean de Meun) verwandelt die spirituell gemeinte Gleichheit in eine innerweltlich-soziologische. . . Das ständische Ideal des Adels der Geburt ist für ihn ohne Rechtstitel, weil er nicht persönlich erworben ist. . . Und Jean entwickelt seine Ideen, wodurch noblesse erworben wurde: durch bon corage, proece, valeur und bonté de cueur." (Der Rosenroman u. d. lat. Averroismus des 13. Jhs., Ffm. 1947 p. 28 f.) Aber schon bei Giraut de Bornelh lesen wir: ursprünglich seien alle Adeligen tugendhaft gewesen (drechurer-aufrichtig, conoissens-klug, leials, frans etc.): jetzt sei das anders — und wie kann der, welcher sein Erbe nicht richtig verwaltet, noch zu den Tüchtigen (pros) gerechnet werden? Man muß tugendhaft handeln, damit der Ruhm (pretz) sich vergrößert. Ein falscher, meineidiger, übelredender Mensch kann nicht regieren (vgl. Kolsens Edition, Halle 1910, Nr. 64). Die seltsamsten Behauptungen leistet sich W. Héraucourt. Nach ihm hat Chaucer „innerlich aufgehorcht", als er den 55 68

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D a m i t nun, daß der Akzent auf das Benehmen und nicht auf die H e r k u n f t gelegt wird, sind die Schranken, die den höfischen Menschen vom vilain trennen, theoretisch überwunden. Dadurch, d a ß der Edle etwas von sich verlangen mußte — daß er die höfischen Tugenden auch haben und ausüben mußte, um wirklich edel zu sein — und dadurch, daß die „höfischen Laster" für jeden eine Gefahr darstellten, vor der man sich zu hüten hatte: dadurch war die Möglichkeit gegeben zu sagen: wer immer die höfischen Tugenden hat, ist gentil. Genau das ist T h e m a eines Partimen, daß Appel in seiner provenzalischen Chresthomathie abgedruckt h a t 5 9 ; und schon Arnaut de Mareuil hatte gelehrt, wahre courtoisie sei sowohl bei Bürgern, Klerikern und Adeligen zu finden60. Wenn auch solche Erwägungen weitgehend theoretisch waren, so ist doch zu betonen, daß der „ H o f " wenigstens prinzipiell nicht streng geschlossen blieb. Im Wesen der Courtoisie und damit des höfischen Stils überhaupt liegt nicht nur die oben beschriebene exklusive Tendenz, sondern auch eine inklusive. Es gab ein Ideal des Verhaltens, an dem sich a l l e orientieren konnten, und genau so gab es Laster, die a l l e zu meiden hatten. Jeder Mensch konnte sich am höfischen Stil orientieren und jeder Mensch konnte sich ihm annähern. Wir wurden zur Erkenntnis dieser inklusiven Tendenz hingeführt durch eine Betrachtung der Laster, die sich f ü r den höfischen Menschen nicht schicken. Der ursprüngliche Gegensatz courtois-vilain bzw. gentil-vilain ist ständisch und sozial: der „ H o f " sperrt das aus, was nicht „ d a z u p a ß t " und dieses Nichtdazu-gehörige ist zunächst die Lebensweise des Bauern. Dadurch aber, daß die höfischen Tugenden vom Verhalten, von einer Weise sich zu benehmen abhängen, werden die ständischen Unterschiede aufgehoben; die höfischen Tugenden (und Laster) werden sozusagen frei und können auf nahezu alle menschlichen Beziehungen angewandt werden. Daraus erklärt sich wohl die erstaunliche Verbreitung des im Grunde höfischen Denkens; denn nicht nur die Beziehungen von Mensch zu Mensch, auch die von Gott zu Mensch und von Mensch zu Gott werden in höfischen Termini gefaßt. Die Formen der Courtoisie gaben zugleich auch die Formen, in denen das Bild der Gottheit erscheinen konnte. Diese Tatsache ist an sich bekannt 6 1 ; ich kann mich hier daher begnügen, nur einzelne Züge dieser Übertragung des Menschlichen auf das Göttbekannten Abschnitt bei Boethius las. Aber H. weiß auch, daß der Gedanke des Herzensadels seit Jean de Meun „Gemeingut des Abendlandes" war, und außerdem „so alt war wie das Rittertum selbst" (H. verweist auf Huizinga). H. stellt aber fest, daß wenigstens in England Chaucer der erste ist, der den Ausdruck gentil mit „neuem, positiven Sinne füllt" (vgl. W. Heraucourt, Chaucers Wertwelt, Heidelberg 1939, p. p. 51 ff.). H. hätte schon in den Old English Homilies I, p. 237 lesen können: „Hwer mei i gentiller man diese than the" ( = Christus). Weitere Beispiele dafür, daß schon vor Chaucer gentil mit positivem (aber nidit neuem) Sinne gefüllt war, bei Mätzner, Altengl. Sprachproben und bei Godefroy. 6 9 Leipzig 1907, Nr. 95. 6 0 Vgl. J. Anglade, Les Troubadours, Paris 1908 pp. 127 ff. 6 1 Vgl. v. a. G. Weise, op. cit. Exk. XVII. Hier das folgende Zitat aus Gautier de Coincy. 24

liehe herauszuarbeiten. Die Menschen hatten sidi, wie man aus der Bibel wußte, schlecht benommen und waren von Gott abgefallen; aber Gott verzieh: Quant ons ot pechie par folie Ihesus, Ii rois de signorie Par sa mort Ii randit la vie. Ha! Diex, con tres grant cortoisie.

Dante, der, wie wir wissen, die Heiligen im Himmel zueinander cortese sein läßt, spricht wiederholt von Gottes cortesia 62 — was in diesen Fällen soviel bedeutet wie Gnade —, und genau so Langland, Chaucers Zeitgenosse, der an sich, insofern als er Peter den Pflüger, also einen Bauern, zum Helden seines Gedichtes machte, denkbar weit vom eigentlich Höfischen entfernt war: auch er spricht von der curteisye Christi (die so groß sei, daß er auch die Kardinäle erlösen werde) 63 ; und noch weiter als er geht Chaucers anderer Zeitgenosse John Gower, der einen ganzen Katalog der höfischen Tugenden Christi gibt 64 . Chaucer selbst laßt seine Constance sich an die Jungfrau Maria wenden: Rewe on my child, that of thy gentillesse Reweset of every woful in distresse65.

Man verspürte wohl im Mittelalter in der Vereinigung von Hoheit und Güte in Gott das gleiche» was ich bei Analyse der Courtoisie als das Nebeneinander von Distanz und Entgegenkommen bezeichnete. Uns heutigen Menschen muß diese Übertragung des Höfischen auf Gott seltsam, wo nicht gar blasphemisch erscheinen. Aber was Menschen — und vor allem was Gelehrte und Theologen — des 20. Jahrhunderts von Gott denken, entspricht nicht dem, was man im Mittelalter von Gott dachte: „man", damit meine idi nun freilich nicht a l l e mittelalterlichen Menschen — denn die Gelehrten und Theologen etwa der Scholastik stellten sich Gott genau so wenig als einen höfischen Kavalier vor wie ihre modernen Kollegen —, sondern ich meine hier lediglich das höfische „Man" und alle die, welche, wenn auch wie Dante und Langland nur teilweise, am höfischen Denken Anteil hatten. Ganz als ob es selbstverständlich wäre, sprachen diese Menschen von der Courtoisie Gottes, Christi, und vor allem der Gottesmutter; sie beurteilten also das Göttliche nach einem Maßstab, welchen das höfische Leben aus sich entwickelt hatte. Das spricht einerseits für die Stärke und Überzeugungskraft des höfischen Lebensstils und anderseits zeigt es, daß man sich hüten sollte, vom Mittelalter als einer grundsätzlich und überall „theozentrischen" Epoche zu sprechen — wenn wir auch nidit in den entgegengesetzten Fehler verfallen und behaupten 6 2 Vgl. Dante Inferno 2,17; Paradiso 7,91; 15,48. — Der Aufsatz von Gmelin (Romanische Forschungen LIV, pp. 334 ff.) gibt für das Problem bemerkenswert wenig her. 6!» Langland, Piers Plowman B (ed. Skeat) 14,446; vgl. auch 5,20; 12,79; 19,171. 6 4 Vgl. John Gower, Mirour de l'homme (1. Band der Gesamtausgabe von Macaulay, Oxford 1899) vv. 29401 ff.: Jesus ist amy (Liebster) und enfant Mariens, er hat große sapience, deswegen ist es sage ihn zu lieben. Er ist so tapfer, daß er den Tod besiegt, seine Schönheit (bealte) ist über alle Maßen groß, er ist reich, weil ihm alles gehört, gentil, weil sein Vater höchster König ist, courtois, weil an seinen Hof noch nie ein vilein kam, aus franchise hat er für die Menschen seinen Körper geopfert. 6 5 Caut. T. II, v. 853 f.

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dürfen, das Mittelalter sei eine ausgesprochen weltliche Zeit gewesen: wir müssen wohl, wenn wir vom Mittelalter sprechen, mit einer allzu strengen Kontrastierung von Welt und Ewigkeit vorsichtig sein: damals66 griffen, wie man jedenfalls glaubte, Gott, Maria und die Heiligen — genau so wie auf der anderen Seite der Teufel — viel sichtbarer und unmittelbarer ins diesseitige Leben ein, als wir heute zu erkennen meinen67. Daß die höfischen Formen so das religiöse Leben durchdringen und bestimmen konnten, ist einmal ein Beweis für ihre Überzeugungskraft; zum anderen entsprach die höfische Denkweise dadurch, daß sie grundsätzlich auf einer Scheidung der Menschen in solche, die dazugehören, und solche, die nicht dazugehören, beruhte, einem Denken, das sich im gesamten mittelalterlichen Leben findet: eben der Einteilung der Menschen in Gute und Böse bzw. in solche, die dazugehören, und solche, die nicht dazugehören. Im Jenseits gab es Selige und Verdammte, auf der Erde Christen und Heiden, oder Christen und Juden, Freunde und Feinde. Vor den Verdammten machte die christliche Nächstenliebe halt: Verdammte sowie Dämonen dürfen, wie Thomas von Aquin mit vielen anderen sagt, nicht geliebt werden68; Heiden werden in Massen abgeschlachtet, was z. B. Raimund von Agiles billigend vermerkt 69 ; und mit Juden läßt man sich am besten gar nicht ein. Dafür bringt der Biograph des heiligen Ludwig von Frankreich eine charakteristische Anekdote: Ludwig war der Meinung, nur ein großer Gelehrter dürfe mit einem Juden disputieren, der Laie soll seinen Glauben nur mit dem Schwert verteidigen: l'omme lay, quant il oye mesdire de la loy crestienne, ne doit pas deffendre la loy crestienne; ne mais de l'espee de quoi il doit donner parmi le ventre dedans, tant comme eile y peut entrer" 70 .

Die Rechnung des heiligen Ludwig ist in diesem Falle sehr einfach: Verdammte darf man bekanntlich nicht lieben und der Jude, da er ja ipso facto verstockt ist, wird mit Sicherheit in die Hölle kommen: warum soll man ihn also schonen und anhören? Die Rechnung ist nach unseren Begriffen nicht unbedingt christlich: aber selbst ein Heiliger des Mittelalters entspricht nicht in allem dem, was „wir heute" für christlich halten. 66 Dieses „damals" läßt sich zeitlich nicht genau umgrenzen; noch im 16. und im 17. Jahrhundert jedenfalls glaubte man häufig an die unmittelbare Einwirkung des „Obernatürlichen". 97 Vgl. für diese an sich bekannte Tatsache z. B. C. G. Coulton, Five Hundred Years of Religion. 3 vols., Cambridge 1923. Coulton wurde — charakteristischerweise — von modernen Neuromantikern wie H. Belloc, G. K. Chesterton, auch E. Gilson (vgl. La théologie mystique de St. Bernard, étud. d. 1. phil. med. 20, Paris 1934) heftig angegriffen, aber seine zahllosen „facts" sind nicht wegzudisputieren. 68 Thomas von Aquin, Summa Theol. IIa Ilae XVI, 11. Vgl. auch die Freude der Seligen über die Leiden der Verdammten zahlreiche Stellen gesammelt bei Coulton, Five Hundred Years I, pp. 441 ff. 69 Vgl. Raimund von Agiles, Hist. Franc, qui ceperunt Jerusalem, cap. 38/39 (PL 155, col. 659). 70 Vgl. Joinville, L'histoire et les chroniques du roy Louis IX de France, ed. par N. de Wailly, Paris 1874. Vgl. 1,27.

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Wir sehen heute im Christentum eher, um mit H . Bergson zu sprechen, „die Seele, welche sidi öffnet" 7 1 und empfinden die Haltung des Heiligen Ludwig gegenüber den Juden oder die der Kreuzfahrer gegenüber den Heiden, ja sogar die völlige Verdammung der Verdammten als unchristlich; und auch im Mittelalter gab es Menschen, die freier und „geöffneter" dachten. Hier ist besonders Wolfram von Esdienbachs „Willehalm" zu nennen 72 , ferner, was uns in diesem Zusammenhang nodi näher betrifft, Chaucers schon erwähnter Zeitgenosse John Gower: er verkündet, durch den Mund seines „Genius", der Krieg sei von Gott verboten und unnatürlich 73 und sogar die Kreuzzüge will er nicht gelten lassen: Sone myn T o preche and soffre for the feith That have I herd the gospell seith; Bot for to slee, that hiere I noght —

und aus dieser im Mittelalter beinahe unerhörten Haltung heraus erklärt Gower, alle „diarite", von der „wir predigen", sei „keine Bohne" — „ j i o g t . . . a stree" wert, da „wir" nicht so handeln wie wir predigen 74 . Und mandje Schriftsteller, zu erwähnen sind besonders Dante und Langland, glaubten sogar, daß Heiden im Himmel sein könnten 75 . So zeigt sich auch im Bereich des Religiösen neben der exklusiven die „inklusive" Tendenz; und das erklärt noch deutlicher, daß „Höfisches" und „Religiöses" sich gegenseitig durchdringen. Trajan, der „treue Ritter" (the trewe knyghte) ist gerettet, wie es bei Langland heißt; und auf der anderen Seite sind die Juden, wie Chaucers sonst so sanfte und höfische Priorin zu berichten weiß, „hateful to Crist and to his companye" — denn ihr Lebensinhalt ist nichts anderes als „foule usure and lucre of v i l e n y e " 7 6 . Wenn sie Christus und seinen Gefolgsleuten verhaßt sind, dann darf man sie wohl auch schlecht behandeln: so wie auch Dante die Verdammten in der Unterwelt wenigstens teilweise schlecht behandelt 77 : und damit verstehen wir das zu Beginn dieses Kapitels zitierte Wort: „e cortesia f u in lui esset villano". Dieser Vers enthält ein Oxymoron, das sich, wie mir sdieint, nur aus der höfischen Tradition heraus verstehen läßt: cortesia und villania sind an sich kontradiktorische Gegensätze: aber hier, wo es sich um einen Verdammten handelt, ist die Gemeinheit „angebracht" 78 . 71

H. Bergson, Les deux sources de la morale et de la riligion, Paris 1933. Vgl. hierzu neuerdings das schon zitierte Werk von F. Maurer, Leid. pp. 168 ff. 73 Confessio Amantis III (Complete Works vol. II) vv. 2251 ff. und 2263; dasselbe Vox Clamantis (vol. IV) 111,7 ff. 74 Ibid. vv. 2490 ff. und 2558 ff. Normalerweise glaubte man, daß „bellum iustum" ( = Verteidigungskrieg) erlaubt sei; vgl. C. Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, Stuttgart 1935; an anderer Stelle (Conf Am VII 3598 ff.) ist Gower der gleidien Ansicht. 76 Dante, Purg 10,73; Par. 20, 43 ff.; Langland Piers B XII, 268; vgl. E. R. Curtius, Eurem. Lit. etc. p. 368. Canterbury Tales VII, 491 f. 77 Genaueres vgl. Kapitel II, p. 52. 78 L. Olschki faßt, im Kommentar seiner Ausgabe, die Stelle anders auf: „es war Freundlichkeit (gegen Gott), gegen Alberigo roh zu sein"; ich meine dagegen, cortesia ist hier nicht „Freundlichkeit" sondern „das richtige Verhalten": wer zu einem Verdammten gemein ist (villania zeigt) benimmt sidi comme il faut (hat cortesia). 72

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Bisher habe idi den höfischen Stil als etwas dargestellt, das aus dem Leben selbst hervorgangen ist. D e r Punkt, von dem w i r ausgingen, war der H o f und das Verhalten bei H o f e , das Sich-Einfügen in die höfische Gesellschaft — was allerdings nicht mißverstanden werden möchte: der höfische Stil ist nicht einfach vom Gesellschaftlichen her, also soziologisch, zu verstehen, sondern ist die Schöpfung eines lebensformenden Willens — und dabei habe ich, stillschweigend, alle Fragen des Einflusses ausgeklammert. W o h e r kommen die höfischen Tugenden? K a n n man sie nicht aus der Religion und zu einem anderen T e i l auch „aus der A n t i k e " herleiten? Eduard Wechssler z. B . behauptete in seinem bekannten Buch über den Minnesang, mesura-maze sei dasselbe gewesen „wie die mesotes der A l t e n " , die Freude dasselbe wie die H e d o n e 7 9 — und wenn auch Wechsslers Budi im ganzen wenig Freunde gefunden hat, so ist doch die Tendenz, den ritterlich-höfischen Stil aus der Antike oder aus der christlichen Religion herzuleiten, allgemein und beinahe normal. W i r müssen uns mit ihr auseinandersetzen: wir stehen vor dem „RitterlichenTugendsystem". Obwohl „das ritterliche Tugendsystem" eine Entdeckung — nach anderen: eine Erfindung — des Germanisten G . Ehrismann war und vorwiegend an staufischen Dichtern aufgezeigt wurde, so beziehen sich doch die zu ihm gehörigen Tugenden auf das ganze Rittertum; wir können es daher nicht einfadi übergehen. Ehrismanns Aufsatz erschien im J a h r e 1 9 1 9 8 0 ; er galt in der Germanistik bald als grundlegend, teilweise wurden die Ehrismannschen Lehren sogar in die Romanistik und Anglistik übernommen; erst 1943 kritisierte E . R . Curtius das „Ritterliche Tugendsystem" sehr gründlich — so gründlich, daß nichts mehr davon übrig zu bleiben schien 81 . 1952 jedoch erklärte Ed. Neumann die C u r tiussche K r i t i k für unzureichend 8 2 . W i r haben uns hier im wesentlichen mit der Frage zu beschäftigen, ob und inwieweit die ritterlichen Tugenden aus der Antike übernommen wurden. Etwas ist vorauszubemerken. Ehrismann und seine Schüler sprechen immer von „ W e r t e n " bzw. „Wertgebieten". I n einer Fußnote, die mir so wichtig ersdieint, daß ich sie hervorheben möchte, erklärt Curtius hierzu: „Es handelt sich (seil, in der antik-mittelalterlichen Philosophie) in Wirklichkeit um eine Güterlehre, wie sie das Altertum liebte, weil die herrschende E t h i k eudämonistisch war. U m die Güter richtig einzuschätzen, mußte man sie klassifizieren und hierarchisch abstufen. Aus dieser Hierarchie ergab sich der Begriff des höchsten Gutes. Erst im Neukantianismus gibt es keine ,Güter' mehr, die man .erstreben kann', sondern nur noch Werte, die man zu verwirklichen h a t " 8 3 . Diese Bedenken muß ich teilen. Bei einer Analyse von Gedanken der antiken Philosophie verwirrt die Anwendung des Begriffes „ W e r t " das historische Eduard Wechssler, Das Kulturproblem des Minnesangs, Halle 1909, pp. 45 ff. Zeitschrift für deutsches Altertum 56, 1919. 8 1 Abgedruckt ist die Kritik in Curtius' Buch: „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter" pp. 508 ff. Exk. XVIII. ich zitiere im Folgenden nach dem Text im Buch. 8 2 Im Beiheft zur Zeitschrift „Wirkendes Wort" 1952. 8 3 Loc. cit. p. 511, Anm. 1. 79

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Verständnis. Ed. Neumann hat diesen Einwand Curaus* nidit zur Kenntnis genommen und hält an dem Begriff der „Wertgebiete" fest 84 . Vielleicht läßt sich darüber streiten, ob man mit Hilfe des neukantianisdien Wertbegriffes die antike Philosophie interpretieren kann. Unzweifelhaft falsch aber ist es, mit Ehrismann Cicero zum Aristoteliker zu machen — er ist in „De Officiis" dem Panaitios gefolgt — und ihm (wie Aristoteles) eine Lehre von „drei Wertgebieten" zuzuschreiben. Wenn aber Cicero die Dreiteilung der „Werte" weder von Aristoteles übernommen, noch selbst gelehrt hat, dann ist nicht einzusehen, daß er diese Dreiteilung ans Mittelalter weitergegeben haben soll. Neumann bemerkt zu diesem Problem: „Es ist wahr: Cicero ,lehrt' das ,summum bonum' nicht ausdrücklich. Aber er verwendet das Wort." Nun, das wird ja auch von niemandem, auch von Curtius nicht, bestritten85. Neumann meint jedoch: da Cicero das Wort verwendet habe ohne es näher zu bestimmen, konnte das Mittelalter diesen „inhaltlich unbelasteten Begriff" von ihm übernehmen und mit „höchstem christlichen Gehalte füllen". Warum aber sollen wir annehmen, Cicero sei der Vermittler des Begriffes gewesen, wenn „das Mittelalter" anderswo, z. B. bei Boethius86, den Begriff summum bonum sehr genau definiert („inhaltlich belastet") finden konnte? Daß die Begriffe „summum bonum", „honestum", „utile" der antiken Philosophie, und also audi der mittelalterlichen, bekannt waren, wird niemand bezweifeln: es kommt hier darauf an, ob das ritterliche Denken eine strenge Scheidung von „honestum" und „utile" machte. Das war — nach Neumann — nicht der Fall. Er verweist auf Maurers Buch „Leid" und sagt dazu: „das Wort ere weist, wenn es auch in der Mehrzahl der Fälle an der Wortoberfläche der öffentlichen Anerkennung haftet, in seiner Tiefenschidit meist (als Voraussetzung) auf das honestum, auf den inneren Ehrenwert." Was ist damit viel anderes gesagt als daß man im Mittelalter den „Ehrenwerten" „ehrte"? Neumann fährt fort: „Das Wort Sre steht an der Grenze zwischen dem honestum und dem utile, in beide Wertgebiete übergreifend, ohne je einem eindeutig oder ausschließlich anzugehören. Dem mittelalterlichen Menschen bilden äußere und innere Ehre vielfach eine solche Einheit, daß ihm eine Trennung der beiden in Gedanke, Wort und Tat unmöglich wird." Wenn dem so ist — und ich glaube wohl, daß Neumann recht hat — dann spielten die beiden „Wertgebiete" des 8 4 Die Beispiele, die Neumann für einen Beweis der Existenz der „drei Wertgebiete" anführt, können nicht überzeugen; er zitiert z. B. Hugo von St. Viktor, der in „De tribus generibus boni" (PL 176, 241 ff.) drei Arten von „bonum" scheidet. Nämlich: a) das höchste Gut das an sich und für alles gut ist, b) ein Gut das an sich gut und für etwas gut ist, c) ein Gut, das nicht an sich und nur für manches gut ist. Das entspricht der von Curtius erwähnten Einteilung der Güter, hat aber mit den „drei Wertgebieten" nichts zu tun. — An einer anderen Stelle, der „kleinen Himmelsleiter" (PL 172, 1239) ist nach Neumann der „Bereich des bloß Nützlichen (utile) stillschweigend übergangen", d. h. N. zitiert als Beweis für die drei Wertgebiete eine Stelle, wo von den drei Wertgebieten nicht gesprochen wird. 8 5 Es ist in diesem Zusammenhang ganz gleichgültig, ob „summum bonum" in „De Officiis" ein — oder fünfmal vorkommt. 8 8 Vgl. z. B. Consolatio III, pr. 3 u. 9.

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„honestum" und „utile" im Bewußtsein des ritterlichen Menschen nur eine untergeordnete Rolle 87 . Endlich die Hauptfrage: wurden die ritterlidien Tugenden aus der Antike, speziell aus Ciceros „De Officciis" übernommen. Nadi Ehrismann bildete das Buch des Wilhelm von Condies, das von Kaplan Werner von Elmendorf ins Deutsche übersetzt worden war, „die Wegstation, für das Eindringen der (Ciceronischen) Pflichtenlehre in die deutsche ritterliche Morallehre" 88 ; und Neumann stellt die These auf : „Tatsächlich ist an der Herleitung des ritterlichen Tugendsystems aus Cicero nicht zu rütteln." Aber Neumann ist doch der Ansicht, daß es ein ritterliches Ethos mit eigener Wertwelt gab, mit besonderen ritterlichen Erscheinungsformen und einer Lebenslehre. „Das wird nicht aus der Antike übernommen... das eigentlich Ritterlich-Höfische kennzeichnet weder das lateinische Moralium Dogma Philosophorum noch seine unbeholfene deutsche Bearbeitung durch Werner von Elmendorf." Die Funktion des „bedeutenden Werkes" sei „Vermittlung, Übernahme und Weitergabe" gewesen, „und zwar durch mehr oder weniger Standesfremde, die aber genau wußten, wonach die Menschen der ritterlich höfischen Schicht aufgeschlossen und interessiert griffen. Aber echte Begegnungen waren es nicht89. Das ist der entscheidende Punkt: die ritterlichen Tugenden entstammen als solche n i c h t der Antike, sondern dem Leben; die ritterlichen Morallehrer holten sich aus den antiken Philosophen — bzw. den mittelalterlichen Florilegien-sdireibern — das was sie brauchen konnten. So haben wir die Herleitung des „Tugendsystems aus Cicero (und Seneca) zu verstehen: Neumann ist im Grunde mit Curtius einer Meinung 90 ; allerdings ist das Wort „Herleitung" wohl sehr unglücklich gewählt, denn wenn das ritterliche Ethos schon da war ehe man das Moralium Dogma kennenlernte, kann es sich nur um Anregung, eventuell Bestätigung, aber nicht um „Herleitung" handeln. Man übernahm also was man brauchen konnte; das ritterliche Ethos selbst entstammt dem Leben, der Praxis des Hofes, den Erfordernissen des Kampfes, den Ansprüchen des Liebesgottes — besonders dafür fanden sie in der antiken Philosophie nichts Ermutigendes. Ähnlich verhält es sich mit dem Verhältnis des Rittertums zur christlichen Religion. Weder das Kämpfer-sein des Ritters, noch sein Bestreben, sich in die höfische Gesellschaft einzupassen, können aus 8 1 Vgl. Chrétien, Cliges, vv. 2356 ff. Alixandres bekommt für seine Tapferkeit »drei Ehren" (trois enors): einen Becher, ein Königreich, und eine Frau. Wer oder was gehört hier in das „Wertgebiet" des „honestum"? 8 8 Zitiert bei Curtius, loc. cit. p. 513. 8 9 Woher N. weiß, daß die höfischen Menschen „aufgeschlossen und interessiert" nach Werners Übersetzung „griffen", ist mir nicht bekannt. Sind hier etwa Vorstellungen vom modernen Buchmarkt in die Rekonstruktion des höfischen Lebens hineingekommen? 9 0 Vgl. loc. cit. 522. Curtius sträubt sich auch gegen den Ausdruck .System", der sicher nicht sehr glücklich ist; denn unter einem System verstehen wir (seit der deutschen idealistischen Philosophie) ein festgeschlossenes Lehrgebäude. Das Mittelalter hatte allerdings eine Neigung zum Systematisieren, sowohl die höfischen, wie die kirchlichen Morallehrer, aber „selbst der große Ordner Thomas ist der Materie nicht völlig Herr geworden". Vgl. H. Meyer, Thomas von Aquin, Bonn 1938, p. 445.

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der christlichen Religion hergeleitet werden. Aber man übernahm diristlidie Tugendbegriffe, um sie im Zusammenhang der Gesellschaft anzuwenden 9 1 ; der Ritter interpretierte seine Stellung bei H o f e mit einer Denkweise, die er teilweise der Tradition entnahm. Er war auch nicht — jedenfalls nicht primär — anti-religiös; denn Gott war ja selbst courtois und es wäre im allgemeinen gar nicht „richtig" gewesen, sich gegen Gott aufzulehnen. Es gab jedoch Momente, wo „Höfisches" und „Religöses" auseinandertraten 9 2 . Etwa in Marcabruns schon beiläufig erwähnter Romanze „ A la f o n t a n a del vergier" 9 3 . Marcabrun erzählt, er habe eine schöne junge D a m e getroffen, die zu Jesus klagte, daß ihr Freund ihm zu dienen gegangen sei: Jhesus, dis elha, reys del mon, per vos mi creys ma grans d o l o r s . . . Ab vos s'en vai lo meus amicx lo belhs e-1 gens e-1 pros e-1 ricx . . . Der Dichter tröstet sie und sagt, abgesehen davon, daß Weinen nicht gut tue, würde sie doch der noch mit Freude bedenken, der den W a l d grünen läßt — worauf sie erwidert, das könne ja wohl sein, daß Gott ihr noch einmal G n a d e schenkte — in der anderen Welt: aber doch habe er ihr das weggenommen, was sie glücklich macht: zu weit sei der Freund von ihr entfernt. Dieses Mädchen stellt in ihrem Schmerz den Geliebten höher als Gott und das ewige Leben; direkt blasphemisch und frech antwortet Aucassin seinem Vater, als er auf Nicolette verzichten soll — sonst, sagt der Vater, würde er nicht ins Paradies kommen: En paradis qu'ai je a faire — (was soll ich denn im Paradies anfangen? Idi will viel lieber in die H ö l l e . . . ) mais en infer voil jou aler; car en infer vont li bei clerc, et li bei cevalier . . . et s'i vont les beles dames cortoises, que eles ont deus amis ou trois avec leur barons, et s'i vont harpeor et jogleor et li roi del siecle. Avoc ciax voil jou aler, mais que j'aie Nicolete, ma tresdouce amie, avuec moi 9 4 . Wir können einen imaginären Dialog konstruieren zwischen diesem Aucassin und Dante, der bei seinem Aufstieg in den Himmel den Menschen z u r u f t : Ahi, anime ingannate e fatture empie Che da si fatto ben torcete i cori Drizzando in vanità le vostre tempie 95 . D a s „si fatto ben" von dem sich Aucassin so resolut abwendet, sind die Freuden des Himmels; aber Aucassin war eines Sinnes mit Guillaume von Aquitanien: Totz joys Ii deu humiliar Et tota ricor obezir Mi dons . . 9 8 . Alle Freude muß meiner D a m e weichen . . . 9 1 Christliche und antike Morallehre sind keine wirklichen Gegensätze im Mittelalter, Thomas z. B. rezipierte bekanntlich den Aristoteles. 8 2 Man muß auch zwischen „Auflehnung gegen Gott" und „Auflehnung gegen die Kirche" (als praktisch sichtbare Institution) scheiden. Die Kleriker waren bei den Troubadours z. B. sehr wenig beliebt, auch Langland und Gower, teilweise sogar Chaucer, kritisierten die Verweltlichung und Habgier der Kirche. 9 3 Zitiert nach C.Appel, Prov. Chresthomathie Nr. 61. 9 4 Vgl. die Ausgabe von Suchier, Paderborn 1909, p. 8. 9 5 Paradiso 11,10. Das Motiv der Himmelsreise und Weltverachtung ist bekanntlich sdion im Somnium Scipionis zu finden.

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Der imaginäre Dialog geht noch weiter: Chaucers Squier, wie wir uns erinnern, hatte in Flandern gefochten — in hope to standen in his lady grace — d. h. es war ihm nur auf den Liebeslohn, nidit aber auf den Gotteslohn angekommen. Gower verdammt aber ausdrücklich alle die Ritter, die nicht um Gottes willen, sondern um ihrer Dame oder ihrer eigenen Ehre willen zu Felde ziehen; solche Ritter folgen nicht dem Beispiel der „preux" sondern kämpfen „pur le siecle", darum kann ihre Mühe (labour) nichts gelten und ist lediglich „vaine gloire seculer" und „orguil" 97 . Ein solches Auseinanderklaffen der höfischen und der religiösen Welt hat offensichtlich nichts mit „Verfall" zu tun — sonst müßten wir den Verfall schon bei Guillaume beginnen lassen, was evidenter Unsinn wäre — sondern erklärt sich daraus, daß die höfische Kultur in ihrem Ansatz eben höfisdi, d. h. weltund gesellsdiafts-bezogen war. Den Grund für die Übereinstimmung beider Sphären habe ich oben schon zu bestimmen versucht; ich fasse hier noch einmal drei Punkte zusammen: 1. In der „Distanz" und im „Entgegenkommen" spürte man eine Verwandtschaft der Haltung des höfischen Menschen und Gottes; 2. Hof und Religion haben die Tendenz, sich gegen das Nicht-dazugehörige abzusperren; 3. höfische und religiöse „Ethik" beziehen sich auf die Haltung des ganzen Menschen. Deswegen konnte sich die religiöse Welt höfisch, und die höfische religiös färben. Aber man nahm auf beiden Seiten nur soviel, wie man braudien konnte 98 . Die Demut z. B. war eine christliche Tugend und der Ritter sollte „demütig" sein; aber wenn wir Bernhard von Clairvaux nach dem Sinn der Demut fragen, bekommen wir eine Antwort, die sich kein Ritter zu eigen gemacht hätte (solange er jedenfalls Ritter war): „Humilitas est virtus, qua homo verissima sui agnitione sibi ipsi vilescit" 99 . Hören wir noch einmal Gower, der sidi an Bernhard anschließt: Humilité, seint Bernard dist Soy mesmes tient tant en despit Que nuls ne la porroit tant despire 100 . oder: L'umble est semblable au bon brebis Qu'a nous profite en tous pais Mais son honour ne quiert ne pense, Et puis au fin qu' il soit occis Il souffre, si qu' en nul devis Voet faire aucune résistance 101 . 96

Ed. Jeanroy, Nr. 9. Mirour 23 893 ff. Vgl. F. W.Cornish, Chivalry (2nd ed. 1911 p. 223). One notable fact is that religion is absent (seil, in chivalry) . . . the knights and ladies perform their religious duties. But a religion of heart forms no part of the life of the knights and ladies. They are pagan as if Christianity did not exist. — Das ist etwas übertrieben, trifft aber für Chretien und einen Teil der Troubadours weitgehend zu. 99 Grad. Hum. 1,2 (PL 182). 100 Mirour 12 445 ff. 97

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Ein Ritter, der keinen Widerstand leisten will, ist undenkbar; er würde faktisch aufhören Ritter zu sein. An Stelle von einzelnen Belegen darf ich noch einmal auf F. Maurer verweisen: Mir scheint . . . soviel sicher, daß in jener Zeit des beginnenden 13. Jahrhunderts in der ritterlich-höfischen W e l t die christliche Forderung der Vergebung und Demut sich nur bis zu gewissen Grenzen, aber noch nicht uneingeschränkt durchgesetzt hatte. Eindeutiger Beleg dafür ist jene Stelle in W o l f r a m s Parzival, an der Gurnemanz dem jungen Ritter Schonung des besiegten Gegners lehrt, aber ausdrücklich B e s t r a f u n g u n d R a c h e b i s z u m l e t z t e n E n d e b i l l i g t und zuläßt f ü r den Fall, daß der Gegner ein Leid angetan hat, das tief ins Herz schneidet (p. 38).

Damit hängt zusammen, daß der Ritter um höfisch zu sein, etwas darstellen muß: er muß sich bei Hofe „sehen lassen" können. Er treibt also die Demut nicht bis zur Aufgabe seines Ich, sondern sucht im Gegenteil sein Ich zu erhöhen: er sucht Ruhm und Ehre, und zwar sucht er s e i n e Ehre, nicht nur die seines Standes. Auch hierfür darf ich wieder allgemein auf Maurer verweisen und erinnere an Chaucers Ritter, der von seiner Jugend an, wie wir wissen, „trouthe and honour" geliebt hat; daneben stellen wir Chretiens Alixandre, welcher auszieht um „pris et los" zu erwerben 102 . Das Selbstbewußtsein der Troubadours geht manchmal schon an die Grenze, oder sogar über die Grenze der höfischen humilitas; so sagt Peire Vidal — höchst charakteristisch — er wolle nicht i m m e r von sich selbst sprechen: aber soviel sei doch sicher: „ich küsse die Damen und strecke die Ritter zu Boden" 1 0 3 ; und Guillaume von Aquitanien, der, wie wir aus seiner Biographie erfahren* ein großer Verführer war, behauptet man nenne ihn den „unfehlbaren Meister": wenn seine Freundin eine Nacht mit ihm geschlafen habe, wolle sie die nächste gleich wieder dasselbe Vergnügen haben 1 0 4 . Nicht nur die kriegerischen und amourösen Erfolge, auch die poetische Leistung läßt Troubadours und andere höfische Dichter sehr selbstbewußte Töne anschlagen. Da Karl Voßler und Reto Bezzola über dieses Thema schon eingehend gehandelt haben 105 , möchte ich hier nur Guiraut von Riqueira zitieren, der sich in einer Bittschrift an König Alfons von Kastilien also vernehmen läßt: 101 Mirour 12 481 ff. — Die Demut des Ritters, ist, wie schon erwähnt, seine Fähigkeit sich einzuordnen; das hat mit Christentum nichts wesentlich zu tun: es leuchtet jedenfalls nicht ein, w a r u m nur ein Christ einen anderen Menschen zuerst durch die T ü r gehen lassen oder ihm auf halbem Wege entgegenkommen soll — f ü r all das gibt J. Huizinga Beispiele und zeigt, daß eine solche Demut auch bei den Chinesen v o r k o m m t . (Herbst des Mittelalters p. 57 ff-, H o m o Ludens p. 108.) 1 0 2 Cliges 15,73 ff., vgl. auch 150/69, 347 ff. H. Dupin widmet in seinem W e r k „La courtoisie" ein eigenes Kapitel dem R u h m (Le renom), sieht also den R u h m als eine conditio sine qua non der Courtoisie. 1 0 3 Peire Vidal, ed. J. Anglade, Paris 1923, chanson XI. 1 0 4 Guillaume, ed. Jeanroy, VI, 6. los y g i K. Voßler, Die Dichtung der Troubadours und ihre europäische W i r k u n g (in „Aus der romanischen Welt", Karlsruhe 1947) und Reto S. Bezzola, Le sens de l'amour et de l'aventure (Chretien de Troyes), Paris 1947, vgl. pp. 63 ff.

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K l e i n s t ü c k , Chaucers Stellung

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Bedenkt, die Künste der Spielleute und Possenspieler bestehen nur solange, als man sie sieht und hört; aber die Gesänge der klugen und unterrichteten Leute, welche die schönen Gedichte verfassen, bleiben im Andenken, und jene wirken selbst nach ihrem Tode noch fort, als ob sie noch lebten . . . 1 0 e . Immer wieder lesen wir, daß erst in, der Renaissance die Dichter, und die Menschen überhaupt, „nach R u h m gestrebt" hätten; aber hierzu bemerkt schon Huizinga: „es kommt mir vor, als wäre dies einer der Punkte, wo Burckhardt den Abstand zwischen Westeuropa und Italien, zwischen Mittelalter und Renaissance, zu groß gesehen h a t 1 0 7 . Ich übergehe an dieser Stelle das Mitleid (pitie), welches nach einer wohl allgemein herrschenden Vorstellung eine spezifisch christliche T u g e n d w a r und komme im 2. Kapitel darauf zu sprechen; möchte allerdings hier schon erwähnen, daß ich von dieser communis opinio abweiche. Die Freigebigkeit — largesse — wurde von der Kirche empfohlen; in der gesamten mittelalterlichen Kultur herrscht eine Tendenz zur Großzügigkeit, die dem aristokratischen Lebensstil entspricht 1 0 8 . Allerdings wurde die Verfeinerung der Sitten, wie sie um 1100 in der Provence begann, von andersgesonnenen Moralkritikern als „ V e r f a l l " beklagt: ihnen galt die Verschwendung und das Zur-Schau-Stellen des Reichtums als L a s t e r 1 0 9 . Gower, der Moralist lehrte in diesem Sinne, die „largesse" sei nur dann eine Tugend, wenn sie die Mitte zwischen Verschwendung und Geiz h a l t e 1 1 0 . Gower denkt hier offensichtlich an die aristotelische „ M i t t e " , und das bringt uns konkret auf die Frage, wie der höfische Maßgedanke zum antiken steht. D e r Hauptgrund, warum die höfischen Dichter „mesure" priesen, ist darin zu suchen, daß die Gesellschaft, besonders die „geschlossene Gesellschaft" des Hofes, des Maßes bedarf um zu leben, m. a. W . der antike Maßbegriff hätte nicht wirksam werden können, antike Maßlehren wären nicht zitiert worden, wenn nicht ein von aller T r a d i t i o n unabhängiges Bedürfnis nach M a ß vorangegangen wäre. Genau so wenig wie höfische und christliche Demut sdilechtweg identisch sind, meinen auch „höfisches" und „antikes M a ß " nicht immer dasselbe — sich dem Liebesgotte zu widmen, wäre einem antiken Philosophen sicher „unmäßig" erschienen, mit den höfischen Maßvorstellungen vertrug sich der Liebesdienst 1 1 1 . 106 Yg[ Di e Z ) Poesie der Troubadours, pp. 75 ff. Herbst, p. 92. 108 Yg[ h ; e r z u w . Sombarth, Der Bourgeois, pp. 260ff.; Huizinga, Homo Ludens, pp. 94 ff. 109 Yg[ hierfür A. Jeanroy, La poesie lyrique des troubadours, Toulouse 1934, vol. I, pp. 81 ff.; Diez, Poesie der Troubadours, Zwickau 1826, pp. 14 ff., J. Anglade, Les Troubadours, Paris 1908, pp. 173 ff. 1 1 0 Conf. Am. V, 7641 ff. 1 1 1 Nur aus einem vorgängigen Bedürfnis nach Maß ist der Einfluß zu erklären, den Cicero und Seneca — etwa in der Schrift des Wilhelm von Conches — auf die Formulierung der höfischen Tugenden nehmen konnten; aber der Verfasser des Moralium Dogma spottete über den Unsinn der Minne: das wurde nicht „ins Tugendsystem aufgenommen". 107

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Man rezipierte eben aus der Antike nur das, was man braudien konnte 1 1 2 . Die Freigebigkeit mußte nach Gower ein aristotelisches Maß einhalten: in Chrétiens Cliges jedoch bekommt Alixandres, als er zu König Arthur ausziehen will, von seinem Vater eine Reihe von guten Lehren mit auf den Weg: dabei wird die Freigebigkeit zur höchsten Tugend erklärt — ohne daß der Gedanke des Maßhaltens auch nur erwähnt wird 1 1 3 . Man kann also die höfischen Tugenden nicht aus der Antike „herleiten"'; in dieser Meinung weiß ich mich sowohl mit Curtius als auch mit Neumann einig und kann mich deswegen kurz fassen. Nur einen Fall einer mir unverständlichen „Herleitung" möchte ich noch herausgreifen. H . Naumann schreibt in seiner bekannten Studie über die „Ritterliche Standeskultur": „Freude und hoher Mut, die Begriffe laetitia und gaudium des Stoikers Seneca, sind lebenerhöhende Güter der höfischen Kultur 1 1 4 ." Ich verstehe nicht, was Naumann damit sagen will. Haben sich die höfischen Menschen gefreut, weil man bei Seneca las, daß man sich freuen dürfe oder solle? Oder meint er, die höfische „joie" sei mit Senecas „gaudium" substantiell identisch? Beides ist doch recht unwahrscheinlich. Bei Seneca kann man z. B. lesen, normalerweise gelte das als Freude, was man bei Gelagen, bei Ausübung der Macht — und bei seiner Freundin finde: aber Menschen die so denken, wissen nicht eigentlich was Freude ist 1 1 5 . Für den Troubadour und Minnesänger war doch die Freude an seiner Freundin (amie) gerade die höchste Freude! So wie Seneca denkt die Philosophie des Boethius: sie fällt ein vernichtendes Urteil über die Menschen, die Wert auf Kleider 1 1 6 , Diener und Reichtum legen, all diese Güter sind vergänglich wie die Schönheit des Körpers — und die Schönheit der Landschaft geht den Menschen nichts an. Müssen wir noch beweisen, daß die höfischen Menschen nur das „aus der Antike" nahmen, was'sie brauchten 1 1 7 ? Bisher wurde Chaucer so zitiert, als ob er sich mühelos und bruchlos in die höfische Tradition einfügte; ich sagte allerdings, er füge sich zu einem Teil ein, und diese Behauptung muß jetzt näher modifiziert werden. Ich bin allerdings nidit der Meinung W. Héraucourts welcher meint, der Begriff „curteisye" sei 1 1 2 Wechssler meinte, die höfische „mesura" sei „nichts anderes als die mesotes der A l t e n " : aber Wechsslers Thesen haben in der Kritik wenig Anklang gefunden. 1 1 3 Cliges 192 ff. 1 1 4 Ritterliche Standeskultur um 1200, Halle 1929, p. 5. 1 1 5 Epistulae 59,14. 1 1 6 Kleiderluxus wird von Predigern oft getadelt, vgl. G. R . Owst, Literature and the Pulpit, Cambridge 1933, p. 4 0 4 ; nicht aber von Ludwig dem Heiligen Joinville 21), der eine thomistische „Lebensbejahung" zuläßt; natürlich nicht im Rosenroman, vgl. vv. 2134 ff. Der Tadel der Philosophie findet sich in der C o n solatio II, pr. S. 117 „Christliche" und antike Ethik waren im Mittelalter nicht wesentlich voneinander verschieden, Thomas von Aquin rezipierte bekanntlich den Aristoteles; so hat Gower z. B. seinen Maßgedanken sicher nicht unmittelbar aus der Antike bezogen sondern aus der Scholastik. — Wie in der höfischen Dichtung, so gibt es auch im Humanismus des Cicero eine Freude an der (gepflegten) N a t u r (vgl. H . Rüdiger, Wesen und Wandlung des Humanismus, H a m b u r g 1937), aber diese ciceronische „humanitas" hat wohl kaum auf das Rittertum gewirkt.



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zu Chaucers Zeiten „etwas hohl geworden" 1 1 8 , oder daß Chaucer das Wort „gentilman" mit „neuem positiven Sinn" gefüllt hätte 1 1 9 — tatsächlich übernimmt Chaucer einfach die Wortbedeutungen, welche der französische höfische Stil geprägt hatte 1 2 0 . Die Besonderheit Chaucers besteht darin, daß er diese Worte, und damit zugleich die höfische Haltung, in einem eigenartigen Zusammenhang verwendet hat. Einige dieser Zusammenhänge hat Heraucourt ganz richtig gesehen 121 , etwa die Weigerung des eleganten Schreibers und Küsters Absolon, von den „Damen" in der Kirche Geld für die Kollekte einzusammeln: For curteisye, he seide, he wolde noon 1 2 2 .

Die höfischen Formen waren, wie Huizinga mit vielen Beispielen gezeigt hat, ins Bürgerliche eingedrungen — wie bekannt, bemühte sich ein Bürger, der etwas auf sich hielt, die Höfischkeit zu imitieren — und bei dieser Gelegenheit entstehen einige komische Situationen, welche Chaucer als Humorist auszunützen versteht 123 . Wie der Troubadour Amanieu de Sescas, der forderte, daß der Mensch an den Hof gehen müsse um sich dort „zu verbessern", dachte offenbar auch Chaucers Priorin: A t mete wel ytaught was she with alle: She let no morsel from hir lippes falle, Ne wette hir fingres in hir sauce deepe; Wel koude she carrie a morsel and wel keepe The no drope ne fille upon hir brest. In curteisie was set ful mudhel hir lest . . . And sikerly, she was of greet desport, And ful plesant, and amiable of port, And peyned hire to countrefete chere Of court, and to been estatlich of manere 1 2 4 .

Die Priorin tut ihr Bestes, sich höfisch zu benehmen — sie versteht sauber und ordentlich zu essen, ist fröhlich, umgänglich und gefällig; aber der scharfe Blick des Dichters sieht doch,, daß sie sich eben bemüht: die höfischen Tugenden sind ihr nicht, wie dem Ritter und seinem Sohn, angeboren — und so wirkt die Priorin ein wenig wie eine komische Tante, die man allerdings immer gern haben muß und die deswegen auch mit dem größten Respekt behandelt wird 1 2 5 . Etwas bitterer und boshafter wird die Komik, wenn Chaucer vom Bettelmönch spricht; der Bettelmönch ist ein raffinierter und skrupelloser GeschäfteHéraucort, op. cit. p. 73. Ibid. p. 53. 120 Ygi g Weise, op. cit., pp. 94 ff. und die verschiedenen Exkurse. 1 2 1 Op. cit. p. 75. 1 2 2 Cant T I v. 3351. 1 2 3 Huizinga, Herbst, pp. 59 ff. 1 2 4 Canterbury Tales I, 127 ff. 1 2 5 Vgl. die Anrede des Wirtes an die Priorin, IV, 435 ff. Zur Priorin vgl. die Anmerkungen von Robinson. 118

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madier 1 2 6 , der sich allerdings, wenn die Umstände es erfordern^ sehr geschickt und höfisch zu benehmen weiß: And over al, ther as profit Curteis he was, and lowely Somwhat he lisped, for his T o make his English swete

sholde arise, of servise . . . . wantownesse, upon his tonge . . , 1 2 7

Die höfischen Tugenden der Priorin sind, wenigstens ihrer Intention nach, echt; aber der Bettelmönch ist ein berechnender Heuchler, er „benutzt" das allgemein beliebte höfische Wesen nur, um zu seinem Gewinn zu kommen. Die komische Darstellung des Somnour geht schon bis zum Grotesken: A Somnour was ther with us in that place T h a t hadde a fyr-reed cherubynes face, For saucefleem he was, with eyen narwe. As hoot he was and Iecherous as a sparwe, With scalled browes blake and piled berd. Of his visage the diildren were a f e r d 1 2 8 .

Und von diesem Popanz, der außer seinem sdieußlichen Aussehen noch mit einem abstoßenden Charakter behaftet ist, sagt Chaucer: H e was a gentil harlot and a kinde; A bettre felawe sholde men noght finde. H e wolde suffre for a quart of wyn A good felaw to have his concubyn A twelvemonth, and excuse him atte fülle 1 2 9 .

Die Aufgabe eines Somnours war Menschen, die gegen Zucht und Sitte verstießen, vor den geistlichen Gerichtshof zu zitieren; er hatte also ein sehr verantwortungsvolles Amt — und war zugleich der Versuchung, sich bestechen zu lassen, mehr ausgesetzt als Menschen mit weniger hohen Aufgaben: Chaucers Somnour aber war „ a gentil harlot and a kinde" — ein nobler und freundlicher Lump — denn er ließ sidi schon für ein Viertel Wein bestechen. Die Komik dieser Stelle wird nur dann recht deutlich, wenn wir uns klarmachen, daß hier „gentil" das Wort mit dem die aristokratischen Eigenschaften der Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Großzügigkeit ausgedrückt werden, den Charakter eines „harlot" bezeichnet. Chaucer konnte das Wort nur in diesem Sinne verwenden weil es durch den höfischen Stil umgeprägt worden war; aber der Zusammenhang in dem er es verwendet, gibt ihm einen pikanten und komischen Beiklang. Eine ähnliche Komik finden wir im Prolog der Frau von Bath. Diese Dame äußert sehr offenherzig und ungeniert ihre völlig libertinistischen Ansichten über Ehe und Liebe und weiß sich vortrefflich mit den religiösen und ethischen Autoritäten, die sie offenbar gründlich studiert hat, auseinanderzusetzen; sie umgeht geschickt die Bibelstellen, die ihren eigenen Ansichten widersprechen und versteht etwa die Anweisung des heiligen Paulus, es sei besser zu heiraten 1,221 ff. 1,249/50 und 264/5. 1 2 8 1,623 ff. vgl. hierfür Walter C. Curry, Chaucer and the Medieval Sciences, N e w Y o r k 1926, pp. 37 ff. 1 2 9 I, vv. 647 ff. 126

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als zu brennen, sehr geschickt in ihre Argumentation einzuspannen. Besonders eine Bibelstelle hat es ihr angetan: But wel I woot, expres, withouten lye, G o d bad us for to wex and multiplye, T h a t gentil text kan I wel understonde 1 3 0 .

Gottes Gebot an die Menschen: „wachset und mehret euch" — kommt ihren eigenen Wünschen sehr entgegen: dieser Text ist „gentil". Der Bürger konnte sich zwar die höfischen Formen aneignen aber doch nicht ganz erfüllen — zu einem aristokratischen Lebensstil braudit man erstens viel Geld und zweitens die echt aristokratische Gleichgültigkeit gegenüber dem Besitz. Der Kaufmann, von dem Chaucers Sdiiffer erzählt, war reich — „for which men helde him w y s " 1 3 1 — und führte ein großes Haus; aber gleidi zu Beginn der Erzählung gibt der Schiffer 1 3 2 zu verstehen, daß es dem Kaufmann nicht ganz leicht fiel, das viele Geld aufzubringen; anscheinend legte hauptsächlich seine Frau großen Wert auf einen prunkvollen Lebensstil und ihr Gatte mußte sehen, wo er das Geld herbekam. Trotzdem fügt er sich der Sitte: This noble marchaunt heelde a worthy hous For which he hadde alday so greet repair For his largesse, and for his wyf was fair, T h a t wonder is; but herkneth to my tale 1 3 3 .

Unter seinen Freunden ist ein wohlgesitteter Mönch; und dem klagt eines Tages die Frau ihr Leid, daß sie nicht wisse, woher sie eine nötig gebrauchte Summe von 100 Franken hernehmen solle, denn ihr Mann sei so über die Maßen geizig, daß sie überhaupt keine Freude am Leben habe. Der Mönch verspricht ihr das Geld zu beschaffen — wofür sie ihm eine Liebesnacht gewähren wird (Mönche sind in solchen Erzählungen notorische Verführer) — und er geht zu seinem Freunde, dem Kaufmann, und bittet ihn um eine Leihgabe von 100 Franken. Der Kaufmann antwortet großzügig — comme il faut: This noble marchant gentilly anon Answerde and seyde, O cosyn myn, daun John, N o w sikerly this is a smal requeste. M y gold is youres, whan that it yow leste, A n d nat oonly my gold, but my chaffare. T a k what yow list, G o d shilde that yow spare 1 3 4 .

Soweit ist alles sehr schön. Der Kaufmann scheint doch nicht so knauserig zu sein, wie seine Frau ihn hingestellt hat? Er gibt seinem Freunde „gentilly", ohne sich zu besinnen — this noble marchaunt! — Verfügungsrecht über sein ganzes Vermögen und bittet ihn doch ja nicht zu sparen: aber der Pferdefuß III, vv. 27 s: VII,2. 1 3 2 Die Erzählung war, wie man allgemein annimmt, ursprünglich einen Mann, sondern für eine Frau als Erzählerin gedacht, vgl. vv. 11 ff. 1 3 3 V v . 20 ff. 1 3 4 Vv. 281 ff. 130

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nicht

für

kommt nadi. Der liebe Freund soll nur ja nicht vergessen, ihm das Geld „bei Gelegenheit" zurückzuzahlen. Denn: O thyng is, ye knowe it wel enough Of chapmen, that hir moneie is hir plough. We may creaunce while we have a name, But goldlees f o r to be, it his no g a m e 1 3 5 .

Hier sind die höfischen Formen wirklich nur „äußerlich": man führt ein großes Haus und gibt sich „noble" und „gentil" — aber heimlich sitzt man und rechnet, wo das Geld bleibt, und wenn ein Freund Geld braucht, dann soll er es „so bald wie möglich" zurückgeben 136 . Halten wir einen Augenblick inne. An Stellen wie den ebenzitierten lernen wir den Humoristen Chaucer kennen, und noch mehr: den distanzierten, klugen und nachdenklichen Beobachter. Ist der noch aus der höfischen Tradition zu verstehen? Oder müssen wir, um den „Beobachter" — the critic of life — zu begreifen, Einflüsse anderer Art: vielleicht aus der italienischen Renaissance, oder eine persönliche Begegnung mit der Antike ansetzen? Eine kurze Betrachtung des „House of Fame" wird diese Fragen klären helfen. Der Gedanke des Ruhms, mit dem Chaucer sich in dieser Dichtung befaßt, gehört zwar nicht, wie wir gesehen haben, zu den absoluten Neuerungen der italienischen Renaissance, aber es ist doch wahrscheinlich, daß Chaucer durch seine Bekanntschaft mit den Italienern auf das Problem geführt wurde; das „House of Fame" ist also eine Auseinandersetzung Chaucers mit einem Hauptanliegen der italienischen Renaissance 1 3 7 . Die Interpreten haben, was nicht schwer zu sehen ist, bemerkt, daß Chaucer weder den Heroenkult noch das Ruhmstreben der Italiener mitmacht; seine Göttin Fama ist ein launisches und wenig würdiges Wesen, sie gibt und verweigert Ruhm so wie es ihr gerade in den Sinn kommt, ohne Verdienst und Würde irgendwie zu berücksichtigen. Ist Chaucers Haltung dem Ruhm gegenüber „noch" mittelalterlich, wie Ciernen meint 1 3 8 , oder zeigt sich in seiner Skepsis „geistige Überlegenheit, innerliche Freiheit von Dantes, Petrarcas, Boccaccios Befangenheit im eigenen Ehrgeiz" 1 3 9 ? Vv. 287 ff. Der Witz der Erzählung, der uns hier nicht beschäftigt, ist der, daß der Mönch sich mit dem v o m K a u f m a n n geborgten Geld die Gunst der Frau erkauft. Die Frau muß dann sagen, der Mönch hätte i h r das Geld zurückgezahlt. 1 3 7 Vgl. W. Clemen, Der junge Chaucer, Bochum-Langendreher 1938, p. 131, und I. Besser, Chaucers „ H o u s of Fame", Britannica 20, H a m b u r g 1941, pp. 111 ff. Auch Dante, was weder Ciernen noch Besser erwähnen, verherrlicht den R u h m nicht immer, vgl. Purg. 11, 100 ff. (non é il mondan romore altro die un fiato). 1 3 8 Op. cit. p. 137: „So greift man in der verschiedenen Art, wie sich die beiden Dichter (seil. Chaucer u. Petrarca zu dem Begriff der ,Fama') verhalten, einen wichtigen Unterschied zwischen zwei geistigen Welten"; Ciernen erkennt aber auch „ein schlichtes Selbstgefühl, welches Chaucer nun an die Stelle von R u h m und Ehrgeiz setzt" (p. 140). Auf die Inkonsistenz der Clemenschen Interpretation weist I. Besser ganz mit Recht hin (op. cit. p. 113). 1 3 8 I. Besser, p. 112. — Man spricht gern, im Anschluß an Burckhardt, vom „modernen" R u h m : das klingt so, als ob Ruhmverlangen etwas typisch „Modernes" wäre; aber das ist einseitig und geradzu falsch. Vgl. die Worte des Erlösers im Paradise Regained (die nicht von christlicher humilitas inspiriert sind): „What is 136

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Sicher. Aber ist diese geistige Freiheit Zeichen einer „neuen Zeit"? Ein Zeichen dafür, daß Chaucer über das Mittelalter hinausgewachsen ist? Kategorien wie „geistige Freiheit", „innerliche Unabhängigkeit" sind m. E. völlig ungeeignet, den Unterschied zwischen Mittelalter (auch höfischem Mittelalter) und Renaissance zu fassen. Sind nicht auch die großen Troubadours „innerlich unabhängig"? Chretien und Wolfram sind durchaus nicht „befangen". Ich glaube, daß wir etwas ganz anderes sehen müssen: im „House of Fame" begegnen wir, genau wie an den oben erwähnten Stellen der Canterbury Tales, dem Individuum Chancers, das zunächst einmal als eine „haecceitas" zu nehmen ist und nicht geistesgeschichtlich abgeleitet werden kann 1 4 0 . D a ß Chaucer das W o r t „gentil" im Sinne von „umgänglich" gebrauchte oder den höfisches Wesen imitierenden Kaufmann sah, das läßt sich aus der Tradition begreifen; aber wie er das W o r t anwandte, und wie er den Kaufmann sah, das ist seine eigene Art; und seine eigene Art zu sehen zeigt Chaucer auch im „House of F a m e " : er beobachtet interessiert, beinahe neugierig, wie die Menschen und die Ruhmesgöttin sich aufführen; er entdeckt, untersucht, prüft — und hält mit seinem Urteil zurück; nur eines weiß er: daß er nicht, wie die anderen, um die Gunst der Fama werben I cam noght hyder, graunt mercy, F o r no sudi cause, by m y heed! Sufficeth me, as I were deed, T h a t no wight have m y name in honde. I w o t myself best how I stonde F o r what I drye, or what I thinke, I wil myselven al hyt drinke . . , 1 4 1 . E r selbst steht abseits, u n d n i e m a n d w e i ß so gut w i e er selbst, w a s e r w e r t ist.

Als den Abseits-stehenden schildert sich Chaucer immer wieder; so in der Gesellschaft der Canterbury Pilger, wo er ganz hinten reitet, so daß der Wirt erst ganz spät von ihm Notiz nimmt: Oure hoste japen tho began, And thanne at erste he looked upon me, And seyde thus " W h a t man artow?" quod he; T h o u lookest as thou woldest fynde an hare, Fore evere upon the ground I se thee stare . . . H e semeth elvyssh by his contenance . . - 1 4 2 .

Sein Abgetrennt-sein vom Leben der übrigen, geht soweit, daß er sich überhaupt nicht um das kümmert,, was in der Welt vor sich geht: so schildert er sich selbst durch den Mund des Adlers, der ihn im „House of Fame" zu himmlischen Höhen emporträgt (was dem Dichter sehr fatal ist) — abends, sagt der Adler, wenn du deine Geschäfte erledigt hast und nach Hause kommst, dann setzt du glory but the blaze of fame T h e people's praise if always praise unmixed? And what the people but a herd confused A miscellaneous rabble who extol Things v u l g a r . . . ?" (111,24 ff.). — In seinem Sonnet „ W h y did I laugh to night" spricht Keats von der „Intensität" von „Verse, Fame, and Beauty" . . . „But death's intenser, death is life's high meed". Vgl. audi seine „Sonnets on F a m e " und „When I have fears that I may cease to be". 1 4 0 Über die Grenzen der geistesgeschichtlichen Methode vgl. W . Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, Bern 1948, pp. 232 if. 1 4 1 H F 1874 ff. 1 4 2 C a n t T VII, 693 ff.

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dich hinter deine Bücher und liest, bis du nicht mehr sehen kannst, und hast keine Ahnung, was die anderen Leute, deine eigenen Nachbarn, treiben 143 . Dieses Desinteresse an der Welt widerspricht Chaucers Beobaditersein nur scheinbar; er schließt sich ab, um sich zu sammeln und um zu lesen: sein Interesse ist von der vergangenen, nicht von der gegenwärtigen Welt absorbiert, aber sobald er einmal Gelegenheit bekommt, sich die Welt seiner Zeit anzuschauen, ist er mit dem größten Eifer dabei. Er braucht die Distanz, um richtig beobachten zu können. Als distanzierter Beobachter kann Chaucer über die Menschen lachen, aber sein Wesen ist nicht als nur distanziert zu begreifen; Chaucer lacht nicht ungerührt, wie die griechischen Götter, über das närrische Treiben der Menschen; sein Humor ist tolerant, sogar liebevoll: Chaucer ist fähig, die verschiedensten Menschen darzustellen, ihre Motive zu verstehen: er trennt sich nicht nur von den Menschen, sondern fühlt sidi auch in sie ein. Zwar weiß er sich von ihnen verschieden, aber er setzt nicht sich selbst zum absoluten Maßstab; er findet sich, seine Lesewut, seine Beleibtheit, und seine Mißerfolge in der Liebe genau so komisch wie das betrunkene Gerede des Müllers oder die exaltierte Liebesleidenschaft seiner Helden Palamoun und Arcite; und er verzeiht den anderen genau so wie er sich selbst verzeiht. Er trennt sich von den Menschen und steht ihnen gegenüber, aber er steht auch sich selbst gegenüber; und er nimmt die Menschen wie sich selbst in sein Verstehen hinein. Die Eigenart Chaucers, so wie ich sie hier zu skizzieren versuchte, kann man nun, wie ich glaube, nicht aus der Tradition ableiten; er ist eine eigenständige Individualität, so wie, in ihrer Art, Guillaume von Aquitanien, Chrétien, Wolfram, Dante eigenständige Individualitäten sind. Aber damit will ich nicht sagen, daß er sich nicht in überindividuelle Zusammenhänge einfüge. Die Begriffe, mit denen wir sein Wesen umschreiben können: Distanz, Humor, Verständnis und Einfühlen kommen in dieser Kombination gerade in der englischen Literatur, die ja Chaucer einleitet, sehr häufig vor; wir werden diesen Zusammenhängen noch in einem besonderen Kapitel nachzuspüren haben. Englisch ist Chaucer auch in seiner Liebe zur Tradition; er scheint gar keinen Wert darauf zu legen, wie die italienischen Humanisten seiner Zeit, die Literatur erneuern zu wollen und an die „Alten" anzuknüpfen; was ihm an Dichtung unmittelbar vorausgeht, verschmäht er nicht, und sein größtes Werk, die Canterbury Tales, setzen mit dem aus unzähligen Gedichten vertrauten Natureingang ein: Whan that Aprille with his shoures soote . . .

Freilich, gleich in diesem Natureingang zeigt sich „der Beobachter" Chaucer; die Vögel sind ihm nicht, wie manchen anderen, Versatzstücke, sondern lebendige Wesen mit sehr seltsamen Eigenschaften: And smale fowles maken melodye, T h a t slepen al the night with open ye (so priketh hem nature in her corages) . . . 143

H F 652 ff.

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Die Vögel haben beim Schlafen die Augen offen (meint Chaucer), wie seltsam! Aber so sind sie nun e i n m a l . . . so priketh hem nature in hir c o r a g e s . . . In diesen zwei Zeilen ist viel vom ganzen Chaucer enthalten. Stellen wir zum Schluß des Kapitels nur noch eine Frage, die nicht rein rhetorisch ist: als das Wesen der Courtoisie erkannten wir Distanz und Entgegenkommen. Ist das nidit auch das Wesen Chaucers? Er drängt sich seinen Lesern und Hörern nie auf, er fordert nicht und stellt keine Ansprüche, sagt nicht „Du mußt dein Leben ändern": und zugleich, obwohl er sich immer zurückhält, ist er immer da, bereit, alles verstehend aufzunehmen, das Seltsame, das Närrische, das Ergreifende und sogar moralisch Anrüchiges. Chaucer ist wie sein Ritter, der auch nicht verschmäht, sich in die gemischte Gesellschaft der Pilger einzufügen, freundlich mit ihnen zu reden und sie zu tolerieren — ohne sich mit ihnen gemein zu machen; auch der Ritter steht, wie Chaucer selbst, distanziert dem Treiben seiner Umwelt gegenüber. Nicht umsonst, scheint mir, ist der Ritter, the parfit gentil knight, die erste und vornehmste Person der Canterbury Tales.

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II. Pitie Unter den höfischen Tugenden spielen die, welche Anteilnahme, Mitleid, Bereitschaft zum Verzeihen, Gnade und Großmut ausdrücken, eine hervorragende Rolle; sie sind so sehr „courtois", daß jede von ihnen mit dem Wort „courtoisie" bezeichnet werden kann 1 . Das läßt sich zu einem Teil aus der oben skizzierten Natur des Hofes verstehen; innerhalb einer geschlossenen Gesellschaft muß der einzelne sich zurückhalten, seine unmittelbaren und spontanen Reaktionen dämpfen und den jeweils anderen achten und ehren: was alles audi mit „mesure" und „humilitie" begriffen wird. Derartige Eigenschaften „gehören sich" für den höfischen Menschen: „humilte, gentillesse, pitie sont conpaignon" lesen wir in „Venus la deesce d'Amor" 2 ; ganz entsprechend sagt Chaucer „pitee renneth soon in gentil herte" 3 oder „in gentil nature oughte ben arest" 4 ! Gower meint das Gleiche — daß der Mensdi an sich halten und auf die Stimme der Vernunft hören sollte — wenn er tadelnd sagt: „reson of man hath left behinde And lived worse than a beste Whom pitee mighte noght areste 5 ." Rücksichtslosigkeit, Ichsucht, Laster wie Zorn und Neid sind unhöfisch; von „moerdre", einem „Diener" des Zorns heißt es in Gowers „Mirour": „Cist tue viel cist tue e n f a n t . . . Cist a d du rien conpassioun Cist est et traitres et feloun" 6 . Die Wörter „traitres et feloun" weisen auf die höfisch-ritterliche Vorstellungswelt, in der auch Gower sich bewegt; genau so die „Tochter" der Pacience — die er dem Zorn als Tugend entgegenstellt — „pites la doulce et debonaire" (die immer „merci comme secretaire" bei sich hat) 7 ; ihr Charakter gleicht dem des Königs Artus in Chretiens Cliges: „tot son mautalant et s'ire Vos pardonra Ii rois nostre sire T a n t est il doux et debonnaire 8 . Aber „doux et debonnaire" gehen über die bloße Rücksichtnahme, das Maßhalten, hinaus. Zu allen höfischen Tugenden gehört, damit sie wirklich höfisch Vgl. Dupin, La courtoisie p. 54. Ed. Foerster, Bonn 1883, v. 183. 3 Vgl. Robinson zu Knight's Tale 1761 u. Skeats Ausgabe, vol. III p. 309. Chaucers dictum ist nachgeahmt von Dunbar, T u a Mariit W e m e n 3 1 5 : Bot mercy into womanheid is a mekle vertu: For never bot in gentil hert is generit ony ruth. Vgl. Spenser, Fairy Queen II, 6,36: Such is the might of courteous clemency in gentil heart. 4 Legend Prol. F 397, G 383. 5 Conf. Am. VII, 3490 ff. 6 Mirour 4863 ff. 7 ) Ibid. 13 902 ff. 8 ) Cliges 2187 ff. 1

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werden, eine Art von „fine excess"; so ist auch das Verzeihen keineswegs allein von der „mesure" her zu verstehen sondern auch von einer Eigenschaft, die dem Maß eventuell entgegengesetzt ist: der Großzügigkeit, die man gern „franchise" nannte 9 . Chaucer gibt in der „Franklin's T a l e " , die wir schon kennengelernt haben, charakteristische Beispiele: der Ehemann, der verliebte Ritter, der Magier verzichten auf das, was ihnen „zusteht" und geben den frei, der ihnen verpflichtet ist. Im Freigeben zeigt sich die innere Freiheit dessen, der auf seinen Anspruch verzichtet; der Freigebende ist fähig, von sich selbst, und damit von seinem Recht, abzusehen; so fragt der Erzähler am Schluß dieser Geschichte „Which was the moste f r e " 1 0 ? Zwar ist das von Chaucer behandelte Thema alt — Großmut ist eine verbreitete und immer geschätzte Tugend — aber seine Geschichte fügt sich mühelos in den Rahmen des höfischen Stils ein; das großzügige Verhalten wird ausdrücklich „gentil" genannt 1 1 . In dieser Weise frei zu sein, wird jedoch zum Stil, zu einer moralischästhetischen Verpflichtung — denn es „gehört sich nicht", es ist „nicht schön", auf seinem Anspruch zu verharren —, die „Freiheit" wird zu einer von der Etikette vorgeschriebenen Pflicht. Man verzeiht, ohne sich zu überlegen, warum; dann aber hat das Verzeihen mit Anteilnahme nichts mehr zu tun; es ist möglich, daß der Großmütige einfach deswegen verzeiht, weil ihn der „andere" gar nicht interessiert. Man blickt dann nicht mehr auf den anderen, sondern nur auf sich selbst und seine eigenen Verpflichtungen gegenüber der Etikette 1 2 . Das drückt Chaucers Alceste sehr einprägsam im Bilde des Löwen aus, der gelassen mit seinem Schwänze die Fliegen fortwedelt, statt wie ein Köter nach ihnen zu schnappen. Sich an einer Fliege „zu rächen", ist unter seiner Würde 1 3 . Aber auch Großmut kann auf Anteilnahme beruhen — so ist das allegorische Wesen „franchise" im Rosenroman aufzufassen 1 4 — und damit berührt sich franchise mit der eigentlichen Anteilnahme, „pitié". Wenn schon die Großmut das Maß überschreiten kann, dann die Anteilnahme noch viel mehr. Mesure ist Zurückhaltung der Affekte: „pitié" kommt aus dem Affekt. Als sich z. B. Enide von ihren alten Eltern verabschiedet, da weinen sie alle,, „d'amor et de pitié" 1 5 . Leid, und vor allem Mitleid, sollen gar nicht immer gedämpft sein. Hier ist der höfische Mensch vom antiken Stoiker sehr verschieden; und nicht nur vom Stoiker, sondern sogar von Piaton, der sich bekanntlich über Vgl. Godefroys Dictionnaire s. v. Cant T V, 1622. 1 1 Ibid. 1607 ff. 1 2 Vgl. z. B. den Schluß von Chrétiens „ Y v a i n " und Froissart, Paradis d'Amors (ed. Scheler) 2 8 4 f f . : J e lo qu'a merci on le praigne Car voir dist, nous ne sommes nees . . . Q u e pour faire misericorde. — Das Verzeihen versteht sich fast von selbst, es ist ohne innere Spannung und unproblematisch. 1 3 Legend Prolog G 377 ff., F 391 ff. 1 4 Rosenroman 1200 f. 1 5 Erec 1471, vgl. Tristan (ed. Bédier) 2572 ff. Idunc plure et suspire et pleint E. Kaherdin plure ensement Baise Tristan et congé prent. — Tränen sind ein Zubehör des Abschieds (weil im Abschied ein Verhältnis der pietas zerrissen wird), vgl. auch Spenser, Fairy Queen II, 1,61, wo man sich "shedding many tears" trennt. 9

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die Schmerzausbrüche der episdien und tragischen Helden entrüstete und sie als unmännlich verachtete 16 , die Stoiker haben seine Neigung zur Ataraxia noch übertrieben 17 . Wie im Epos und Drama der Griechen äußern sich die schmerzlichen Affekte oft hemmungslos, im Rolandslied, in den Chansons de Geste und oft genug in der eigentlich höfischen Dichtung. In einer gründlichen Studie hat Bezzard dargelegt, wann und warum man weint: Mitgefühl, pitié ist einer der Gründe 18 . Denn die Empfindsamkeit, das Zartgefühl (tendrur) ist eine wichtige Eigenschaft der tapferen Ritter, die schon der Held Roland, genau wie Achilles, besitzt 19 . Bezzard meint zwar, in der poésie courtoise flössen die Tränen weniger reichlich und gewiß weinen die „zierlichen" Ritter der Artusromane nicht aus Zorn; Yvain bemüht sich gelegentlich seine Tränen zurückzuhalten, er weint aber beim Abschied von Laudune 2 0 . Als die griechischen Ritter in Chrétiens Cliges den fortgeworfenen Schild ihres Herrn erblicken, weinen sie und werden vor Schmerz ohnmächtig 21 — nicht anders als Charlemaigne und seine Recken auf dem Schlachtfeld zu Roncevalles 2 2 ; solche heftigen und hemmungslosen Schmerz- und Mitleidausbrüche werden keineswegs immer getadelt; es ist nicht nur eine Sache der Weiber 2 3 , sich seinen Leidenschaften so hinzugeben. Wenn wir gar von Chrétien weggehen und in die Romane sehen, die nicht zur ersten Klasse gehören, dann fließen die Tränen ohne Ende 24 . Im 14. Jahrhundert galten, nach Coulton, Tränen als „spiritual currency" 2 5 ; die edlen Gestalten Machauts und Chaucers — gerade die edlen — sind nicht weniger, eher mehr gefühlsbetont und weidi als ihre Vorgänger bei Chrétien de Troyes. Chaucers Canace stirbt nahezu vor Jammer und Mitleid, als sie die Klagen des verlassenen Falken Weibchens hört: es gibt keinen Tiger und kein noch so grausames Tier, fügt Chaucer hinzu, das, wäre es der Tränen fähig, da nicht geweint hätte 26 . Und gerade dieses Weinen charakterisiert das edle Herz: That pitee renneth soon in gentil herte Feelynge his similitude in peynes smerte, Is preved al day, al men may it see, As wel by werk as by auctoritee 27 . Rep. 387 c. Manche christlichen Schriftsteller sind ihnen gefolgt, vgl. Curtius, Europ. Lit. Exk. XIV; Thomas von Aquin lehnt die Stoiker als unmenschlich ab ST IIa Ilae 142. 1 8 Les larmes dans l'épopée française, Zrom Phil. 32. 1 9 Roland 2 2 1 4 5 ff. 2 0 Vgl. Yvain 2702 u. 2579. 2 1 Cliges 2071/81, vgl. auch 4294. 3 2 Roland 2414. 2 S Weinen wird manchmal als weibisch getadelt, aber nicht immer, vgl. L. Jordan, Z. rom. Phil. 32, pp. 634 ff. 2 4 Vgl. z. B. King Horn (ed. Hall, Oxford 1901) 444, 693, 760, 9 1 1 ; Guy of Warwick (ed. Zupitza London 1875, EETS) 1761, 7111 u. ö. 2 5 In Five Hundred Years of Religion, vol. I, p. 356; Huizinga zeigt, daß im 14. und 15. Jh. genau so viel und aus denselben Gründen geweint wurde wie in den Chansons de Geste. (Herbst des Mittelalters Kapitel I.) 2 6 Cant T V , 438ff. 2 7 Ibid. 479 ff. 16

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Genau so wie Canace will auch K ö n i g Alla vor Tränen „wegschwimmen", als die unglückliche Konstanze vor ihm steht; solche ekstatische Mitleidsäußerungen bleiben nicht auf Damen beschränkt und auch des Königs H e r z ist „gentil" 2 8 . Wenn wir diese Feststellung machen, sehen wir, daß wir einen Bogen geschlagen haben und wieder am A n f a n g des Kapitels gelandet sind. Mitleid und Anteilnahme sind spezifische Charakteristika des höfischen Menschen, besonders der Damen, denn die Damen setzten ja o f t genug die ideale N o r m des Verhaltens: nur in einer Hinsicht sind sie o f t (auch nicht immer) grausam und kalt — wenn es darum geht, sich des liebeskranken Ritters zu erbarmen. Troubadours und andere verliebte Dichter und Herren können sich o f t nicht genug darüber wundern, daß ihre D a m e , die doch sonst der Inbegriff des Guten und Edlen ist, gerade ihnen nicht die Gunst gewährt,, die sie eigentlich schenken müßte.

Bien doit femme aucune pitie Avoir de celui qui endure Tel mal pour lui si moult n'est dure 29 . Wie ich allerdings hoffe, ist unsere Kreiswanderung nicht vergeblich gewesen; es hat sich gezeigt, daß der Bereich des Verzeihens sehr komplex ist und die verschiedenartigsten seelischen Haltungen einschließen kann. Besonders wichtig scheint es mir, Großmut und Anteilnahme als Leitbegriffe voneinander zu scheiden; Großmut sieht über den anderen hinweg, Anteilnahme geht auf ihn ein; und ferner ist es wichtig, zu beachten, daß die Tugenden des Verzeihens zur Etikette werden können. Indem wir so den Umkreis unserer Betrachtungen abgesteckt haben, können wir uns einzelnen Problemen zuwenden. Hier drängt sich als erste die Frage a u f : ist pitie nicht eine spezifisch christliche Tugend, welche durch die Forderungen der Kirche in die höfisch-ritterliche Welt hineingebracht wurde? Diese Frage scheint so einfach zu beantworten, wenn wir an das christliche Liebesgebot und an das christliche Verzeihen denken; aber in Wirklichkeit ist die Frage unendlich kompliziert. Beginnen wir mit einem relativ einfachen Problem: dem Verhalten des Ritters zu seinen Feinden. Hier, wenn irgendwo» müßte sich ja das Gebot der Feindesliebe auf das Wesen des „miles Christianus" auswirken. D a s Problem zerfällt in zwei Teile: 1. das Verhalten gegenüber dem Feind, der noch k ä m p f t , 2. das Verhalten gegenüber dem besiegten Feind. Für 1. ist festzustellen: obwohl Sanftmut, Umgänglichkeit, Güte, Nachsicht o f t gepriesen werden, so wird doch in gleicher Weise Rücksichtslosigkeit, G r a u samkeit, Wildheit gegenüber dem Feinde gepriesen. Für viele Schriftsteller ist der ideale Ritter (ich betone das Ideal!) „freundlich zu den Seinen, grausam zu den Feinden". Diese Feststellung hat bereits G. Weise gemacht, ich möchte sie aber, da Weises Buch nicht genügend beachtet worden ist, wiederholen und seine Beispiele durch eigene Beobachtungen ergänzen 3 0 . Ibidll, 659 ff. Rosenroman 2532 ff. „Mitleid" in dieser Hinsicht ist ein recht dehnbarer Begriff. Cressida erklärt, sie würde zu Troilus nur freundlich sein und keine andere „routhe" haben (Tr. a. Cr. II, 489): sie meint dasselbe wie der Soldat Boccaccios, der eine Frau bittet, zu ihm „cortese" zu sein: die letzte Hingabe. 3 0 Vgl. G. Weise, op. cit. p. 85 und Exk. VIII. 28

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Es ist als Lob gemeint, wenn es von Chrétiens Yvain heißt, er habe mit seinen Feinden nicht das mindeste Mitleid gehabt (pitié ne tant ne quant), sondern sich für die Schläge gerächt, die man ihm gab (3225 ff.). Ein Heide wird im Rolandslied gelobt, dem außer dem rechten Glauben nichts fehlte: er war "savies hum . . . et en bataille f i e r s e t o r o r g u i l l o s " (Roland 3174 f.). Von Roland selbst heißt es: „Vers Sarrazins reguardet f i e r e m e n t E vers Franceises humeles e t d u l c e m e n t S i lur a dit un mot curteisement" (1162f.). Der Mönch von Montaudon (ein Troubadour) erklärt, ihm gefalle bei einem edlen Mann „franqueza" gegen seine Freunde, „maleza" gegen seine Feinde (zitiert nach Appel, Prov. Chresthomathie N r . 44). Peire Vidal (ein anderer Troubadour) lobt die Genueser, sie seien "gai e cortes. . . Son a lor amies a m o r o s . . . Et als enemies orgolhos" (ed. Anglade Nr. 39). Noch Machaut preist den König von Böhmen, wie wir oben gesehen haben, weil er freundlich zu seinen Freunden, „fiers et crueus" zu seinen Feinden ist. Dasselbe findet sich noch bei Chaucer. Troilus wird, durch die veredelnde Macht der Liebe, "the frendlyeste wight, the gentileste, and eek the moste fre" — und zum Löwen auf dem Schlachtfeld: wehe dem Griechen, der ihm begegnet (Troilus I, 1072 ff.). In Dantes Paradiso lobt sogar Francesco d'Assisi (!) den heiligen Domenico, weil er "benigno a suoi, ed ai nemici crudo" gewesen sei (Paradiso 12,57). Es handelt sich also um einen Topos, dessen Existenz und Verbreitung beweist, daß man den Einfluß der christlichen Nächstenliebe auf die ritterliche Ethik nicht überschätzen darf 3 1 . 2. Das Verhalten des Ritters ändert sich, wenn der Feind besiegt am Boden liegt. Er braucht aber nicht in jedem Falle geschont zu werden; ich erinnere daran, was F. Maurer über Schonung des besiegten Gegners sagt und ergänze seine Beispiele durdi einige eigene Beobachtungen. Im Cliges ist ein Graf von König Artus abgefallen, er ist also ein V e r r ä t e r , und Verräter brauchen nicht unbedingt geschont zu werden; tatsächlich läßt Artus ihn hinrichten. Dagegen hat niemand etwas einzuwenden: trotzdem finden alle, Alixandres sei „courtois" und „bien appris", weil er, der den Grafen gefangen hat, ihn schonen will und ihn deswegen nicht dem König, sondern der Königin in Gewahrsam gibt: er hofft, daß sie als Dame milde sein werde. Strenge Regeln für die „Schonung des Besiegten" gibt es nicht. Man schonte vorzugsweise den Feind, der selbst „edel" war oder „Reue" zeigte. Das läuft auf das Gleiche hinaus, denn wer bereut, identifiziert sich nicht mehr mit seiner begangenen Schandtat; ebenso schont man, wenn die Umstehenden f ü r den Besiegten bitten. Beides zusammen findet sich in „Guy of Warwick" und bei Froissart. Im „Guy of Warwick" schont der Kaiser den tapferen Sir Guy, weil er „Englyssh" (also wohl edel) ist, weil alle Umstehenden für ihn bitten und weil er selbst um „mercy without pryde" bittet (d. h. weil er sich nicht mit seinen Verbrechen identifiziert, weil er nicht im Trotze verharrt (Guy of Warwick 2707ff.). Bei Froissart finden wir die bekannte 31 Der Topos „Tapfer und Freundlich" läßt sich noch bei Shakespeare und Spenser belegen. Vgl. Fairy Queen, II, 1,16: his countenance demure and temperate But yet so stern and terrible in sight That dieared his friends and did his foes amaze. Shakespeare, Richard II, 2,1,173 f.: In war was never lion raged more fierce In peace was never gentle lamb more mild. Henry V,III,1,3 ff.: In peace there's nothing more becomes a man As modest stillness and humility, But when the blast of war blows in your ears Then imitate the action of the tiger. Cymbeline IV,2,172: these two princely boys! They are as gentle As zephyrs blowing below the v i o l e t . . . and yet as rough, their royal blood endiafed, as the rudest w i n d . . . Dies sind die Ideale. Wenn wir in die mittelalterliche Geschichte schauen, finden wir sie durch Taten mehr als bestätigt (vgl. z. B. Coulton, Chaucer and His England, London 1937 [6. Aufl.] p. 252 ff.).

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Episode mit den Bürgern von Calais. König Edward III. ist zunächst wütend und will die Bürger hängen lassen, seine Höflinge aber finden, es sei „vilenye" so „ehrsame" Leute nicht zu schonen; schließlich fügt sich der König nolens-volens den Bitten seiner Königin; d. h. er gehorcht der höfischen Etikette (Froissart I, 145).

Es gibt also gewisse starre Kategorien vorwiegend psychologischer Natur, welche einen „Durchbruch zum D u " , oder „Durchbruch zum Verzeihen", erschweren oder sogar unmöglich machen. Sie werden gelegentlich überwunden, und zwar durch Reflexion: durch eine Besinnung auf das, was eigentlich „höfisch" oder auf das, was eigentlich „christlich" ist. Letzteres findet sich in Wolframs „Willehalm" und in Gowers „Confessio Amantis", ersteres, wie wir noch sehen werden, bei Boccaccio und vor allem bei Chaucer. Diese Ethik, die so resolut zwischen „Freund und Feind" oder zwischen „Guten und Verrätern" unterschied, entspricht dem, was ich oben die exklusive Tendenz des Höfischen nannte. Machen wir uns aber klar, daß auch die inklusive Tendenz nicht spezifisch christlich ist; d. h. sie kann nicht allein aus christlichen „Einflüssen" erklärt werden. Denn prinzipiell das Gleiche finden wir in der Ilias (die hier als einziges Dokument einer sonst versunkenen Epoche stehen möge). Achilles schont Hektor nicht — obwohl man „an sich" den besiegten Gegner schont —, weil er ihm „herzeleit" angetan hat; er findet aber, angerührt durch das weiße Haupt und die Bitten des Priamos, zu dem zurück, was für Homer „richtig" ist: d. h. Achilles bricht mit Hilfe der Reflexion, die seine Empfindsamkeit logisch interpretiert, durch zum „Verzeihen", zum Begnadigen und zum Du. Die Forderung, daß der besiegte Gegner geschont werden muß — und die Möglichkeit, daß er unter gewissen Umständen nicht geschont zu werden braucht —, ist allgemein menschlich und findet sich in jedem ritterlichen Lebensstil; ja, wie die Tierpsychologie lehrt, kennen sogar Wölfe den Appell an das Mitleid des Siegers. Wir müssen also wohl diese allgemein menschliche Verhaltensweise als vorgängig ansetzen und schließen, daß die christliche Feindesliebe sich im Rittertum des Mittelalters, auf einen schon bereiteten Grund ansiedeln konnte. Es geht aber wohl nicht an, den Ursprung der ritterlichen pitie im Christentum zu suchen. Denn: was lehrte die Kirche, und was lehrten Schriftsteller, die sich den Lehren der Kirche anschlössen? Zunächst ist das rein affektive Mitleid — was M. Scheler „Gefühlsansteckung" nennt — von dem durch Vernunft geregelten Mitleid zu unterscheiden; der reine Affekt kann keine Tugend sein 32 . Daher legt Thomas von Aquin dem Fürsten die Gnade zwar nahe, aber er stellt ausdrücklich fest: „quod iudicibus licet poenas inferre". Richter sind nämlich Gottes Stellvertreter und daher müssen sie bestrafen — genau so wie ja auch Gott die unheilbaren Sünder bestraft und in die Hölle verdammt —, wenn jemand ein Verbrechen begangen hat, welches die Existenz der Gemeinschaft bedroht. „Subtrahendum est igitur bonum particulare, ut conservetur bonum commune . . . bonum commune est concordia societatis humanae . . . Subtra32

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Vgl. E. R . Curtius in Romanische Forschungen 56 (1942) pp. 3 ff.

hendi igitur sunt hujusmodi homines (seil. Schwerverbrecher) per ab hominum societate 3 3 .

mortem

Das heißt für unser Problem: Mitleid und Verzeihen dürfen gewisse Grenzen nicht überschreiten; das Mitleid muß durch das M a ß ( = Vernunft) geregelt werden. So finden wir es formuliert bei Johannes von Salisbury: Policraticus IV,8. De moderatione iustitiae et clementiae prineipis, qui debent in eo ad utilitatem rei publicae contemporari. Obtineat ergo in principe quod debet in Omnibus obtinere: N e m o quae sua sunt quaerat sed quae aliorum. Verumtamen ipsius affectionis modus, quo caritatis brachiis fratres aut subjectos amplexatur, moderationis limitibus clauditur. Sic et enim fratres diligit, quod errores eorum medicinaliter corrigit; sie in eis carnem agnoscit et sanguinem, ut ea spiritus subiciat ditioni. Medicorum utique consuetudo est ut morbos, quos fomentis et leuioribus medicinis curare nequeunt, gravioribus adhibitis igne puta et ferro c u r e n t 3 4 .

Sowohl der Aristoteliker Thomas von Aquin wie der „Humanist" Johannes von Salisbury also verbieten ein universales Verzeihen. Chaucers Zeitgenosse John Gower vertritt die gleiche Meinung. Zwar preist er „pitee" in den höchsten Tönen, er sagt „pitee" mache einen König „curteis", aber er will doch das Maß gewahrt wissen: der König, der einen Verbrecher zu töten zaudert, macht sich des Kleinmuts schuldig. Zur Bestätigung für seine Lehre verweist Gower ausdrücklich auf die Bibel 3 5 . Bemerken wir hierzu noch, daß Johannes von Salisbury nicht nur dem Fürsten, sondern auch allen Menschen anrät, die Nächstenliebe (caritas) durch Mäßigung (moderatio) zu mildern, dann ist leicht zu erklären, warum sich das christliche Liebesgebot nicht völlig in der ritterlichen Ethik durchsetzte: aus dem einfachen Grunde, weil die moralischen Autoritäten selbst die Liebe durch Gerechtigkeit und durch Maß zu regulieren suchten. Der Ritter konnte, wenn er sich überhaupt um die kirchlichen Morallehren kümmerte, sagen, daß man doch nicht allen verzeihen dürfe; und da, was als gerecht gilt, sehr oft von der Willkür oder den Vorurteilen des großen Herren festgesetzt wird, konnte er mit dem besten Gewissen einen Verbrecher aufhängen, der ihm als unentschuldbar erschien. Es besteht eine Analogie zwischen König (oder „Sieger", großer Herr) — Verbrecher (oder „Besiegter") und Gott — Verdammter. Genau so wenig wie Gott gewisse Sünden, und gewissen Sündern verzieh, genau so wenig durfte ein König einem Schwerverbrecher verzeihen. Diese Analogie erklärt noch einmal die Tatsache, daß höfische und christliche Formen sich gegenseitig durchdringen konnten. In einem Fabliau „La Cour du Paradis" ist der Himmel völlig nach dem Bilde eines Hofes gezeichnet 36 . Summa contra Gent. 111,146. Ed. Webb, Oxford 1909. 3 5 Confessio Amantis VII,3120ff., 3849ff. u. ö. — Das „Richtet nicht" der Bergpredigt wurde im Mittelalter offensichtlich nicht sehr schwer genommen; es bedeutete für Denken und Leben genau so wenig wie in der Gegenwart. Für „iustitia et pietas" als traditionelle Tugenden des Königs vgl. Carlyle, A History etc. I, pp. 2 1 9 ff. Die Gerechtigkeit, wie sich noch aus den folgenden Analysen ergeben wird, steht höher als das Mitleid. 3 8 Bei Barbazan-Meon III, pp. 128 ff. 33

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K l e i n s t ü c k , Chaucers Stellung

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W i r hören v o n einem großen höfischen Fest im Himmel; Engel und Heilige tanzen und amüsieren sich. Die armen Seelen im Purgatorium sehen zu und weinen, daß sie nicht mittun dürfen; sie bitten um „merci". Da wird der heilige Petrus v o n großem Mitleid ergriffen, „la douce vierge" interzediert bei „nostre Sire", der sogleich erwidert, nidits täte er lieber als den armen Seelen sein Mitleid schenken, und so f ü h r t sie der heilige Michael ins Paradies. Aber, so fügt der Dichter hinzu, diejenigen, die um ihrer Sünden willen verdammt sind, die sollen sicher sein, daß ihnen nie verziehen wird. Nie werden sie Ruhe haben.

Die Analogie zwischen „Hof und Himmel" ist hier vollkommen. Der höfische Ritter verzeiht nicht allen und sperrt einige von sich (aus dem Hofe) aus; genau so „unser Herr". Die heilige Jungfrau interzediert bei ihm so für die Seelen im Fegefeuer, wie etwa Edwards III. Gemahlin für die (im Grunde ehrenhaften) Bürger von Calais interzediert 37 . Die Verdammten in der Hölle durfte man nicht lieben (und daher auch nicht bemitleiden), aber Dante, der fühlend durch die unterirdische Folterstätte geht, bemitleidet sie doch. Nicht immer freilich; aber beim Anblidc der Magier, denen die Hälse auf den Rücken gedreht sind, bricht er in Tränen aus und ruft dem Leser, Verständnis fordernd zu: or pensa per te stesso Com'io poteva tener lo viso asciutto Quando la nostra immagine da presso Vidi si torta, che '1 pianto degli occhi Le natidie bagnava per lo fesso. Certo io piartgea . . .

Aber diese Mitleidsregung ist Schwäche, noch mehr: Sünde; denn so tadelt ihn Vergil: A n c o r sei tu degli altri sciocchi? Qui v i v e la pietä quand' e ben morta. Chi b piü scellerato che colui Che al giudizio divin passion porta 3 8 ?

Mitleid mit den Verdammten ist sündhaft und verbrecherisch, denn das Mitleid mit dem Verdammten ist wie eine Kritik am Willen Gottes; wen Gottes Gericht einmal verdammt hat, den darf man nicht einmal lieben wollen, man darf ihm nicht helfen und nicht f ü r ihn beten. Aus all den angeführten Beispielen ergibt sich: die Gerechtigkeit steht höher als das Mitleid: dafür sprechen Thomas, Gower, Dante ganz deutlich; Johannes von Salisbury fordert z w a r ausdrücklich, daß auch das Recht durch aequitas gemildert, das heißt g e m ä ß i g t sein müsse, aber das ist kein entscheidender Unterschied zu den anderen. Die Mehrbewertung der Gerechtigkeit hängt mit dem intellektualistischen, stark von der antiken Philosophie bestimmten Charakter des mittelalterlichen Geisteslebens zusammen. Das Augustinische „Ama et fac quod vis" hat für Dante und Thomas so gut wie gar keine Bedeutung 39 . 3 7 Es kann nicht bezweifelt werden, daß der mittelalterliche Marienkult vom Höfischen und Weltlichen bestimmt wurde. Vgl. Coulton, Five Hundred Years I, pp. 138 u. 501 ff. (Coulton stützt sich auf Mussaffia und Lommatzsch.) 3 8 Inferno X X , 2 0 ff. 3 9 Für Dante vgl. H. Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der göttlichen Komödie (Ffm. 1942), bes. Kap. IV, Absdin. 3, w o Friedrich feststellt, daß es eine innerweltliche Gnade, die „höher wäre als Gesetz und Recht" überhaupt nicht gibt. — Friedrich ist

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"Wie vereint sich nun diese intellektualistisdie, streng reditliche Denkweise (die uns so gar nicht „christlich" zu sein scheint, wenn sie auch vom größten Kirchenlehrer vertreten wurde) 4 0 mit dem zu Eingang dieses Kapitels skizzierten Phänomen der höfischen „pitie"? Die intensive, von keiner Vernunftüberlegung gezügelten Anteilnahme, die so ausgesprochen emotional (also nach T h o m a s gar keine Tugend) ist? Gerade das intensive und beinahe hemmungslose Anteilnehmen nennt dodi Chaucer ausdrücklich „gentil"! Eine Antwort auf diese Fragen finden wir, wenn wir uns noch einmal zu Dante wenden. Im berühmten fünften Gesänge des Inferno trifft Dante auf Paolo und Francesca, deren Geschichte er sich erzählen läßt: „Francesca, i tuoi martiri A lagrimar mi fanno tristo e pio. Ma dimmi: al tempo dei dolci sospiri, A che e come concedette amore Che conosceste i dubbiosi desiri?" Ed ella a me: „Nessun maggior dolore Che ricordarsi del tempo felice Nella miseria; e ciò sa il tuo dottore. Ma se a conoscer la prima radice Del nostro amor tu hai cotanto affetto, Farò come colui che piange e dice. Noi leggevamo un giorno per diletto Di Lancilotto come amor lo strinse: Soli eravamo e senza alcun sospetto. Per più fiate gli occhi ci sospinse Quella lettura, e scolorocci'l viso; Ma solo un punto fu quel die ci vinse. Quando leggemmo il disiato riso Esser baciato da cotanto amante, Questi, die mai da me non fia diviso, La bocca mi baciò tutto tremante. Galeotto fu il libro e chi lo scrisse: Quel giorno più non vi leggemmo avante." Mentre die l'uno spirto questo disse, L'altro piangeva sì che di pietade Io venni men così com'io morisse; E caddi come corpo morte cade (116ff.). Ich habe diese an sich so bekannte Stelle ausgeschrieben, damit wir die geschilderten Vorgänge genau vor Augen haben können. Dante bemitleidet Francesca und Paolo, ihre Leiden (martiri), bewegen ihn zu T r ä n e n ; und zum Ende der Erzählung überwältigt ihn das Mitleid: er stürzt zu Boden (wie von E. R. Curtius heftig angegriffen, aber nicht widerlegt worden (vgl. Rom. Forsdi. 56); denn Curtius beweist nicht (was er beweisen müßte), daß die Verdammten doch geliebt werden dürfen (was auch in Anbetracht von Thomas, ST IIa Ilae XXVI,11 nicht ganz leicht sein dürfte) und schwächt außerdem den Wert seiner Kritik ganz erheblich dadurch, daß er auf die obenzitierten Vergilverse gar nicht eingeht. E. Th. Sehrt zitiert Friedrich, aber widerspricht ihm teilweise indem er sagt, daß nach Thomas der reuige Sünder begnadigt werden dürfe. Aber den reuigen Sünder zu begnadigen ist „aequum", also letzten Endes doch gerecht (vgl. Vergebung und Gnade bei Shakespeare, Stuttgart 1952, p. 24). 4 0 Es galt ja sogar als „richtig", daß sidi die Seligen über die Leiden der Verdammten freuten, vgl. die vielen Belege bei Coulton, op. cit. pp. 441 ff. 4*

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Charlemaigne auf dem Schlachtfeld von Roncevalles). Wie ist Dantes Mitleid, das sich in den gleichen ekstatischen und von der „Vernunft" ungezügelten Formen äußert wie im Rolandslied, bei Chretien oder bei Chaucer zu erklären? Nicht damit, daß Dante „humanitär" empfindet; es ist nicht das Leiden der Menschen in der Hölle als solches was ihn anrührt (sonst wäre Dante selbst der erste Kritiker seiner eigenen Hölle, d. h. er würde denken wie die, welche Dantes Hölle als „unmenschlich" verurteilt haben), denn z. B. zwei Gesänge später streckt ihm ein Sünder sein Haupt aus dem unterirdischen Gewässer entgegen und sagt: „Vedi che son un die piango" — aber Dante hört diese Klage völlig ungerührt und stößt ihn verächtlich in die Flut zurück 4 1 . Was Dante sich Francesca zuneigen läßt, ist nicht ein allgemeines humanitäres Mitleid, sondern das Bewußtsein, daß sie mit ihm eine innere Erfahrung gemein hat: die Liebe: „Amor ch'a cor gentil ratto s'apprende." Die Zeit „der süßen Seufzer", die „zweifelnden Wünsche": das ist ein Zustand, den Dante aus eigener Erfahrung kennt; Dante selbst war ja einer der Liebesdichter des dolce stil nuovo. E r kann also Francesca verstehen, so sehr, daß er sich ihrem Schmerz ganz hingibt, sich mit ihr nahezu identifiziert: aber er weiß, daß Francesca eine Verdammte ist, zu den Fleischessündern gehört — „peccator carnali che la ragion sommettono al talento", — nicht deswegen weil sie die Ehe gebrochen hat, sondern weil ihr erster Gedanke der Liebe galt: und deswegen darf er sie nicht bemitleiden. Die Liebe, die für ihn früher, wie für Francesca, das Höchste war, ist Sünde gerade dann, wenn sie als Höchstes empfunden wird; wenn Dante Francesca wirklich verstehen und sie damit entschuldigen würde, dann müßte er sich selbst gegen Gott stellen; und deswegen kann er das Mitleid nicht ertragen (es überwältigt ihn), er denkt den Gedanken nicht zu Ende sondern stürzt zu Boden. Kurz gesagt: ein eigentlich höfisches Mitleid, eine Sensibilität die durch eine gemeinsame innere Erfahrung angerührt wird, verträgt sich hier nicht mit der göttlichen Gerechtigkeit; die höfische pitie erweist sich als „unmäßig" und sündhaft 4 2 . Gewiß, das stark empfindungsbetonte Mitleiden k a n n auch „tugendhaft" sein — nämlich dann, wenn es sich auf das richtige Objekt richtet — aber es k a n n auch sich mit strengen christlichen Moralforderungen nicht vertragen. Zwei hervorragende Beispiele dafür gibt eben Dante (indem er die Magier und Francesca da Rimini beweint) eine ausdrückliche Konfrontation von höfischem Mitleid und christlich-gesetzlicher Strenge findet sich bei Spenser 4 3 . Inferno VIII, 31 ff. Wie man sich Verdammten gegenüber verhalten muß, beweißt die eben zitierte Stelle. Dante ist grausam: und dafür wird er von Vergil gepriesen. Macht Dante in VIII das gut, was er in V versäumt hat? 4 3 Fairy Queen V,9,28 ff. Dafür, daß Mitleid nicht immer richtig ist sondern sogar falsch sein kann, vgl. Fairy Queen 11,5,24: T h y causeless ruth represse N e let thy stout heart melt in p i t y v a i n e , H e that has sorrow sought through wilfulnesse Deserves to taste his follies fruit. (Diese W o r t e spricht ein Pilger, der Bescheid wissen sollte.) Auch Chaucer weiß, daß pitee nicht immer angebracht ist, denn er verteidigt die Vogelweibchen, die ihre treulosen „makes" wieder in Gnaden angenommen haben und sagt, diese „pitee" sei nicht „folie ne fals pitee" gewesen, „for vertu is in the mene, 41

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Im Palast der Mercilla wird die Erzbetrügerin Duessa vorgeführt, ihre Ankläger sind Zele,, Kimgdomes Care Authority, Law of Nations, R e l i g i o n , J u s t i c e ; ihre Fürsprecher P i t t y , Nobility, R e g a r d , G r i e f ; die ethischreligiösen stehen den höfischen Tugenden gegenüber. Prinz Arthur, zufällig Zeuge der Verhandlung, wird von Mitleid mit der gestürzten Größe ergriffen, bereut aber seine Schwäche, als Zele neue Angriffe vorbringt. Mercilla aber, die zu richten hätte: was touched nere W i t h p i t e o u s r u t h at her so wretched plight Though plaine she saw by all that she did heare T h a t she of death was guilty found by r i g h t , Y e t would not let j u s t v e n g e a n c e on her light, But rather let instead thereof to fall Few p e r l i n g d r o p s from her t w o lamps of light.

Kind soul! she weeps! Es gibt ein menschliches Empfinden, ausgesprochen höfischer Prägung, das sich mit den Forderungen christlicher Gerechtigkeit nicht vereinen läßt. Warum werden Mercilla und Prince Arthur vom Anblick Duessas ergriffen? Aus dem gleichen Grunde, aus dem Dante die Francesca bemitleidet: weil sie sich in ihre Situation einfühlen können. Duessa ist, wie sie selbst, eine der Großen; und jeder Große kann in die Situation kommen, daß er stürzt; sie sehen also in Duessa etwas verwirklicht, was für sie möglich ist. Menschen mit gemeinsamer innerer Erfahrung können also einander leicht bemitleiden (unabhängig davon, ob sie es dürfen oder nicht). Da die Liebe, um derentwillen Francesca in die Hölle verbannt worden ist, im Mittelalter nahezu d i e Leidenschaft ist — auf jeden Fall die Leidenschaft, welche den Menschen am schnellsten mit den kirchlichen Geboten in Konflikt bringt — so ist es kein Wunder, daß Menschen, die durch Liebe in N o t gekommen sind, in besonderem Maße das Mitleid der edlen, empfindsamen, höfischen Menschen finden und beanspruchen: Oiez pituse desturbance Avanture moult doloruse E t a trestus amans pituse . . .

lesen wir in einem Fragment des Tristan-romans; im gleichen Roman bittet Tristan le Nain seinen berühmten Namensvetter um Hilfe, da er sein Schloß und seine Freundin verloren hat; da der große Tristan ihn abweist, ruft er aus: Unques n'amastes, co m'est vis. Se seussez qu'est amiste De ma dolur eussez pite. Qui une ne sot que fud amur N e put saver que est dolur 4 4 . as Etik seith". (Legend Prolog F 164ff.) H a t er das mit einem ironischen Seitenblick auf Gower gesagt? Unabhängig von aller historischen Problematik hat B. Croce, wie ich glaube, den Fall Dantes (sein Verhalten zu Francesca) ganz richtig beschrieben.: „Dante, come t e o l o g o , come c r e d e n t e ; come uomo e t i c o , condanna quei peccatori; ma s e n t i m e n t a l m e n t e non condanna e non assolva: si sente interessato, turbato etc." (La poesia di Dante, Bari 1922, p. 78.) Vielleicht hätte C r o c e die Szene doch noch etwas klarer interpretiert, wenn er die von ihm geschmähte und verachtete historische Methode wenigstens mitbenutzt hätte? 4 4 Tristan, ed. Bédier 2854 ff. u. 2260 ff.

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Boccaccio läßt sogar eine seiner Damen sagen, wer aus Liebe gesündigt habe, verdiene, da man doch die große Macht dieser Leidenschaft kenne, das Verzeihen eines nicht allzuharten Richters (Da giudice non troppo rigido perdono) 4 5 ; genau so denken die edlen Damen in Chaucers Knight's T a l e , welche f ü r Palamoun und Arcite Gnade erflehen, weil sie beide „gentil" seien und um „nichts als Liebe" ihr Streit ging; und genau so denken auch Boccaccios Teseo und sein englischer Namensvetter 4 6 . Doch auf die Knight's T a l e ist später noch genauer einzugehen. Hier sei nur betont, daß die Gemeinsamkeit des inneren Erlebens Bereitschaft zum Mitleid mit sich bringt; und da Schmerz und Leid allgemein verbreitete menschliche Erfahrungen sind, k a n n sich die pitié zu etwas erweitern, das einer allgemeinen Menschlichkeit sehr ähnlich sieht: Pitee renneth soon in gentil herte Feelinge his s i m i l i t u d e in peynes smerte . . . sagt Chaucers Falken weibdien 4 7 ; noch allgemeiner und grundsätzlicher formuliert dasselbe Boccaccio zu Beginn seines Dekameron: „Umana cosa è d'aver compassione degli afflitti, e come die a ciascune persona stea bene, a coloro è massimamente richesto li quali hanno di conforto avuto mestiere, e hannolo trovato in alcuni." Hier ist das Mitleid tatsächlich zur Menschlichkeit erweitert; d a f ü r finden sich Spuren auch in Dante: im Walde der Selbstmörder wird ausdrücklich an die „pietatde" die er als Mensch haben müßte, appelliert 4 8 ; und beim Anblick der Neidischen r u f t er aus, kein Mensch könne so hart (duro) sein, daß ihn hier das Mitleid nicht träfe 4 9 . So zeigt das Mitleid, die Anteilnahme, außer der oben beschriebenen exklusiven Tendenz die gleiche inklusive Tendenz die wir auch bei Courtoisie festzustellen hatten 5 0 . Ehe wir nun weiter gehen blicken wir zurück und fassen die Ergebnisse des bisher Überblickten in einigen Thesen zusammen. Dec. VIII,1. Darauf ist weiter unten ausführlich einzugehen. 4 7 Cant T V, 479 ff. 4 8 Inf. XIII,36. 4 9 Purgatorio XIII, 52 ff. Mit Recht betont Croce Dantes Menschlichkeit, sein Empfinden für menschliche Größe und für menschliches Leid. Das Wort „humanitee" kommt bei Chaucer nur einmal im Sinne von „Freundlichkeit, Menschlichkeit" vor, und zwar in dem nach Petrarca gearbeiteten Clerc's Tale (iV 92); daran knüpft Héraucourt längere Betrachtungen und meint, hier einen Beleg für Einfluß von Renaissance-Vorstellungen zu finden; er schließt sich H. Rüdiger an (Wesen u. Wandlung des Humanismus p. 29) und meint, das Wort scheine im Mittelalter in seinem „besonderen Gehalt untergegangen zu sein" (op. cit. p. 203 ff.). Godefroy gibt für humain 1. de l'homme 2. sur cette terre; für humeinement: avec douceur, für humanité (u. a.) bon acceuil, prévenance. Bei Peire Vidal (ed. Anglade VI,21) finde ich, daß eine Dame als „douss' et humana" gepriesen wird; Marcabrun (Appel Chresth. 64) fordert eine Schäferin auf, etwas mehr „humayna" ( = freundlich) zu sein; im Fabliau „Du pet au vilain" (bei Barbazan-Méon III, p. 67) ist von pitié humaine die Rede; Guillaume de Machaut fordert den Liebesgott auf, „plus humaine" zu ihm zu sein (Remède de la Fortune v. 3249). „humain" wird also teilweise synonym mit „courtois" etc. gebraucht; in diesem Sinne verwendet es Chaucer an der angegebenen Stelle. Besondere Spekulationen über „Renaissanceeinfluß" sind also unnötig. 45

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1. Es ist grundsätzlich zu scheiden zwischen Großmut und Anteilnahme. 2. Anteilnahme und Großmut können mit humilitié und mesure zusammengehen, können aber auch beiden widersprechen. 3. Ritterliche „pitié" (dementsprechend merci) erstreckt sich grundsätzlich nicht auf den kämpfenden Feind; auf den besiegten Feind nur unter gewissen Umständen. 4. Thomas, Dante, Gower stellen die vernunftbestimmte Gerechtigkeit über das Mitleid. 5. Höfische Empfindsamkeit und kirchliche Moralstrenge k ö n n e n sich widersprechen. 6. „Pitié" kann sich gelegentlich zu etwas wie einer allgemeinen Menschlichkeit ausweiten. All das müssen wir im Auge behalten, um die folgenden Interpretationen sinnvoll durchführen zu können. In Dante, Chaucer, Boccaccio und dem Tristanroman haben wir Formulierungen und Situationen getroffen, wo wir von Verstehen und Einfühlen sprechen mußten. Durch Verstehen und Einfühlen wird die ursprünglich rein im Emotionalen gegründete Anteilnahme durch Reflexion ins Bewußtsein gehoben. Wir werden im Folgenden sehen wie Boccaccio, Chaucer, Gower in dieser Richtung noch weiter gegangen sind; wie sich zeigen wird Chaucer noch weiter als alle anderen. Die Quelle für Chaucer Knight's Tale war Boccaccios Teseida 51 ; in beiden Erzählungen kommen „pitee-Stellen" vor, die in unserm Zusammenhang besonderes Interesse verdienen. Theseus trifft auf die beiden Ritter Palamoun und Arcite (ital. Palemone und Arcita 62 ), die um die Berechtigung seine Schwägerin Emilia zu lieben einen Zweikampf ausfechten; wider Erwarten verzeiht er ihnen und erlaubt ihnen sogar, ein Turnier um den Besitz der Emilia durchzuführen. Die Umrißlinien der Geschichte sind dieselben bei Boccaccio und Chaucer. Palamon und Arcite sind Gefangene des Theseus, v o m Gefängnis aus verlieben sie sich in den Anblick der Emilia. Arcite wird dann, weil ein Freund sich f ü r ihn verwendet, freigelassen, wird aber aus dem athenischen Gebiet verbannt. Liebeskrank kehrt er, entstellt und verkleidet, nach A t h e n zurück um als einfacher Knappe bei H o f e zu dienen. Palamon, ebenfalls liebeskrank, bricht aus dem Gefängnis aus und t r i f f t auf Arcite, mit dem er das Duell ausficht. Dabei überrascht sie Theseus. Er gestattet ihnen, in einem Turnier um die Hand Emilias zu kämpfen; das Turnier findet statt und Arcite siegt: stürzt aber, durch göttliche Einwirkung, v o m Pferde und stirbt. Die Situation wird schließlich durch ein zweites Eingreifen des Theseus gerettet: er f o r d e r t Emilia auf, Palamon zu heiraten. Man feiert die Hochzeit und alles endet in Friede und Freude.

Bei Boccaccio sieht die Szene so aus: Palemone und Arcita kämpfen miteinander; zufällig kommt Emilia dazu und holt ihren Schwager Teseo herbei. Er läßt die beiden Ritter ihre Namen sagen und ist zunächst, als er hört mit wem er spricht, etwas erzürnt; denn Palemone ist verbannt und Arcita ist aus Teseida zitiert nach der Ausgabe in „Scrittori d'Italia", Bari 1941 (ed. Roncaglia). Im Folgenden werden, wenn v o m italienischen Text die Rede ist, die italienischen. Namensformen verwendet; wenn v o m englischen Text, die englischen. 51

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dem Gefängnis geflohen. Aber der Zorn gewinnt keine Macht über Teseo; wenn ihn auch niemand, wie er sagt, tadeln dürfte, wenn er die beiden töten ließe, verzeiht er ihnen dodi: denn ich selbst, erklärt er, war schon verliebt und habe in der Liebe närrische Dinge getan, aber auch ich fand Verzeihung: non per mio operar, m a per colui Pietà a cui la figlia già furtai. Pero sicuri di perdono state Vincerà il fallo la mia gran pietate 5 3 .

Teseo ist wahrhaft „cortese"; er mag wohl etwas indigniert sein als hört, wer die Ritter sind; aber er hat seine Leidenschaften völlig in der Gewalt; der Zorn überwältigt ihn nie. Er ist aber noch mehr als einfach „cortese" im Sinne von „gemäßigt"; denn er verzeiht nicht nur weil er sich beherrschen kann — auch nicht deswegen, weil „man" verzeiht — sondern er weiß, warum: er denkt nach und erkennt, daß die beiden Ritter in der gleichen Situation sind, in der auch er selbst einmal gewesen ist; er hat die Erfahrung des Verliebtseins und der verliebten Torheit mit ihnen gemeinsam; und weil er Verzeihung gefunden hat, deswegen verzeiht auch er den beiden Frevlern. Er dürfte sie bestrafen, wie er selbst sagt, denn beide haben (gegen ihn selbst) gefrevelt — hier ist ein Fall, wo der Überlegene selbst entscheiden kann, ob der Schuldige wirklich „böse" ist — aber im Gegenteil, er hilft ihnen sogar. Teseos Haltung gegenüber den beiden Rittern entspricht genau der, die Boccaccio zu Eingang seines Dekameron als „menschlich" bezeichnet hat; Teseo entspricht seinem Schöpfer vollkommen. Teseo tut, was Dante gegenüber Francesca nicht tun durfte: er versetzt sich in die Lage des Schuldigen und verzeiht, weil er versteht. Ich kann hier die entsprechende Stelle bei Chaucer nicht in extenso zitieren, weil sie zu lang ist 54 . Kann Chaucer diese Partie Boccaccios noch verbessern? Es mag zweifelhaft erscheinen; aber auf den ersten Blick müssen wir feststellen, daß Chaucer erweitert hat; und da er im übrigen Boccaccios Erzählung zusammenrafft, wird daraus ersichtlich, daß er sich für das Verzeihen besonders interessiert haben muß. Theseus ist zuerst viel wütender als sein italienisches Vorbild. Er sprengt zwischen die beiden Duellanten, reißt sein Schwert heraus und verbietet ihnen, bei Todesstrafe, nodi weiterzukämpfen; und er wird noch wütender, als er hört, mit wem er es zu tun hat; er ist rasch entschlossen, sie sterben zu lassen. Aber hier interzedieren die Damen, sie weinen und bitten um Gnade. Theseus hört auf sie, beginnt nachzudenken, sich zu beruhigen, und ruhig und nachdenklich geworden, beginnt er zu verstehen. Sein Nachdenken ist ein innerer Monolog: at the last aslaked was his mood For pitee renneth soon in gentil herte. And though he erst for ire quook and sterte, H e hath considered shortly, in a clause, T h e trespass of hem bothe, and eek the cause, 53 64

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Vgl. Teseida V, 77 ff., besonders 88. Canterbury Tales I, 1662—1869.

And although that his ire hir gilt accused Yet in is reson he hem both excused, As thus: he t h o u g h t e wel that e v e r y m a n Wol help himself in love if that he kan, And eek delivere himself out of prisoun 5 5 .

Er versteht zweierlei: sich selbst und die liebenden Ritter. Er erkennt, wie er, als ein großer H e r r zu sein hat: Fy, upon a lord that wol have no mercy . . . daß er zwischen „demütigen" und „stolzen" Frevlern unterscheiden muß 5 6 ; und er erkennt, daß j e d e r Mensch in der Liebe f ü r sich tut, was er kann; der Verliebte ist durch seinen Zustand entschuldigt. Theseus begreift, daß Palamoun und Arcite nicht für das verantwortlich sind, was sie tun — da sie unter dem Einfluß einer höheren Macht handeln 5 7 — und daß er ihnen deswegen verzeihen muß. Theseus kennt die Macht der Liebe, wie Teseo, aus eigener Erfahrung 5 8 . Chaucer zeigt hiermit einen inneren Prozeß, eine Veränderung des geistigen Zustands vom Zorn zum Verzeihen, von der Leidenschaft zur Vernunft. D a s zeigt Boccaccio nicht: sein Teseo ist von A n f a n g an, von einer kleinen Indigination abgesehen, „cortese"; er ist keinen Augenblick seinem Zorn Untertan. Theseus dagegen ist zu Anfang wütend, aber er überwältigt seine Leidenschaft und folgt seiner vernünftigen Einsicht. Die Darstellung des seelischen Prozesses ist Chaucers Eigentum: d a f ü r konnte er nur eine Anregung bei Boccaccio finden. Theseus, sozusagen, entdeckt sich selbst, er entdeckt, was er ist und was er sein sollte. Zugleich damit entdeckt er die verliebten Ritter: als Menschen, als Wesen mit einem eigenen, und dodi dem seinen verwandten Schicksal; zuerst sind die beiden Ritter für ihn nur Objekte, Objekte nämlich des Zornes, der nicht den Menschen, sondern nur den „Verbrecher" sieht; aber indem er sehen und begreifen lernt, erkennt er sie als sich selbst gleich; als Menschen und Individuen, welche dem gleichen Weltgott gehorchen müssen wie alle Menschen und damit auch er selbst. D a m i t bemerken wir den zweiten Unterschied, der Chaucers Darstellung von der Boccaccios trennt. Teseo verzeiht, weil er mit den Rittern eine Erfahrung gemeinsam hat, aber Teseo sieht, oder wenigstens erwägt, nicht, daß die Liebe eine a l l g e m e i n e Macht ist, der a l l e Menschen Untertan sind; d . h . Theseus verzeiht nicht nur auf Grund seiner eigenen Erfahrung sondern auf Grund seiner beinahe philosophischen Einsicht in das Getriebe der Welt; man kann sagen: auf Grund seiner Einsicht in den Mechanismus der menschlichen Leidenschaften. Wir verstehen damit auch, warum Theseus zuerst mit sich selbst redet: er ist ein beobachtender Denker, der durch rationales Überlegen zur Wahrheit gelangt. Theseus' Einsicht drückt sich nicht in der Form einer nüchternen Beobachtung aus: er hat sich, und die Lage, so völlig in der H a n d , daß seine Einsicht sich in H u m o r lösen kann; er ist so frei, daß er über die Macht der Liebe, deren U n widerstehlichkeit ihm ganz bewußt bleibt, lachen kann. Er amüsiert sich über 55 56 67 58

1 760 ff. 1 776 ff. Gegen die Macht des Liebesgottes gibt es keinen Schutz: 1785 ff. 1813ff.

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das närrische Treiben der verliebten Menschen; er amüsiert sich über sich selbst mit, denn auch er w a r einmal verliebt und hat sich dabei albern aufgeführt. Indem Theseus so über sich selbst lacht, hat der Bezug auf die eigene Erfahrung, obwohl von Boccaccio übernommen, eine ganz andere Funktion als bei Teseo. D a r a n läßt sich noch eine weitere Reflexion anknüpfen. Das Verhältnis von Theseus zu den Rittern ist, anders als bei Boccaccio, dialektisch: er verzeiht ihnen, weil sie sind wie er, weil sie Menschen, der Macht der Leidenschaft Untertan sind, wie er: aber gerade indem er das erkennt, ist er ihnen unendlich überlegen. Theseus ist frei, weil er sich gebunden weiß. U n d diese Freiheit eben ist die Freiheit des Chaucerschen H u m o r s : denn Theseus mit seinem reflektierenden Verstehen und seinem H u m o r ähnelt seinem Schöpfer Chaucer wohl ebenso sehr wie Teseo dem Boccaccio. Chaucer unterscheidet sich von Boccaccio durch seine Fähigkeit, eine Situation sich durch Reflexion gewissermaßen drehen zu lassen, durch seine Einsicht in das psychologische Getriebe und durch den H u m o r , der sich in dem Augenblick vom Getriebe freimacht, wo er es als zwangsläufig erkennt. So nahe Chaucer im Anfang Boccaccio zu stehen schien: er ist im Grunde weit von ihm entfernt. Chaucers Behandlung des „Verzeihens" in der Knight's T a l e zeigt, wie ein Dichter den anderen im Äußeren kopieren kann und trotzdem etwas vollkommen Eigenes und Neues schafft. Die nächste Parallele zu Chaucers besprochener Szene scheint mir nicht bei Boccaccio, sondern bei Gower zu finden. D a , soviel ich weiß, noch niemand auf diese Parallele aufmerksam geworden ist, möchte ich kurz auf Gowers Szene eingehen 5 9 . Kaiser Constantine ist schwer erkrankt, die Ärzte raten ihm, als letzte Rettung, im Blute kleiner Kinder zu baden. Ohne sich zu besinnen läßt Constantin anordnen, daß die kleinen Kinder des ganzen Landes zu ihm gebracht würden; aber als er das Wehgeschrei der Mütter h ö r t : da ist es ihm als ob er aus dem Schlaf erwachte 6 0 und er geht in sich und überlegt, daß er kein Recht auf das Leben der Kinder hat. Alle Menschen sind im Wesen gleich — ihre Verschiedenheiten sind zufällig 6 1 — und daher darf ein Mensch nicht das Blut anderer für sich fordern: And thus this worthi lord also Sette in balance his oghne estaat And with himself stood in debaat, And thoughte hou that it was noght good T o se so mudiel mannes blood Be spilt for cause of him allone (3280 ff.).

Constantin kann mit Theseus verglichen werden: 1. weil beide durch Klagen zum Selbstbewußsein gebracht werden, 2. weil beide die Gleichheit der Menschen spüren, 3. weil beide reflektieren und mit sich selbst sprechen. D e r H u m o r fehlt allerdings bei Gower (wie immer) völlig. Confessio Amantis II, vv. 3187—3507. V. 3241 f. 6 1 Die wesentliche Gleichheit der Menschen ist eine rein stoische Lehre, welche von den christlichen Kirchenvätern mit einigen unbedeutenden Modifikationen übernommen wurde, vgl. Carlyle/Carlyle, A History etc. I, pp. 199 ff. 59

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Von den mancherlei Gedanken, die wir im Anschluß an . das Verzeihen des Theseus anstellen können, will ich nur zwei näher ausführen. Zunächst: Chaucer stellt in Theseus den Vorgang einer Sinnesänderung dar; Theseus ist nicht ein starrer Charakter, sondern beweglich. Wo finden wir Ähnliches? Chrétien de Troyes und Wolfram von Eschenbach haben sich in ihren Parzival-Romanen (offenbar) die Aufgabe gestellt einen Helden zu zeichnen, der sich allmählich wandelt; wie Theseus kommen Perceval und Parzival zur Einsicht dessen, was sie tun und wie sie denken müssen. Aber das Thema ist bei Chrétien und Wolfram anders gestellt; Chaucer läßt seinen Helden durch ein plötzliches Erlebnis zum Nachdenken über sich selbst gelangen; und die Art der Selbstreflexion ist bei Theseus ganz anders als bei Perceval/Parzival. Vergleichen läßt die Selbstreflexion des Theseus viel eher mit dem, was wir in „King L e a r " finden (obwohl sich die Dimensionen im Shakespeare gewaltig vergrößern); wie Theseus sieht Lear in seinen Mitmenschen zunächst nur Objekte (oder, anders gesagt, einfach Untertanen), das Erlebnis des Sturmes auf der Heide, die Erkenntnis, daß er den Mächten der Natur genau so hilflos ausgeliefert ist wie der N a r r und der wahnsinnige Bettler, bringt ihn zum Nachdenken 62 . Chaucer kann, wie Shakespeare, den Prozeß der inneren Wandlung glaubwürdig machen — Gower ist starrer, obwohl nicht schematisch und unglaubwürdig — Dickens etwa, dessen böse und stolze Menschen (wie Dombey und Scrooge) sidi auch ändern, ist nidit fähig, eine Wandlung oder „Bekehrung" so darzustellen, daß man sie ihm glaubt; wir müssen hinnehmen (oder nicht) was Dickens uns sagt: Chaucer und Shakespeare führen den Menschen in seiner Veränderung vor. Dieser kurze Hinweis mag genügen um zu zeigen, in welche Bereiche die Chaucersdie Kunst vorstößt. Der zweite Gedanke, den ich ausführen möchte, ist dieser: Theseus entscheidet die Frage, ob er die beiden Ritter bestrafen soll oder nicht, allein durch seine Vernunft 8 3 . Er denkt nach und kommt zu einem Schluß — ohne sich nach einer Autorität oder nach der Etikette zu richten 64 : aber es wäre ganz falsch, ihn deswegen als „Individualisten" oder „Renaissancemenschen" 65 anzusprechen. Denn durch sein Denken kommt Theseus dazu, allgemeine und universale Gesetze zu erkennen, die das menschliche Verhalten bestimmen; er stellt sich durch seine Entscheidung nicht, wie Macbeth, außerhalb des Allgemein-gültigen sondern stellt sich vielmehr hinein; und so wie er die kosmischen Gesetze anerkennt und berücksichtigt, so entspricht sein Verhalten faktisch genau der höfischen Sitte: Theseus ist empfindsam genug, die Klage der Damen zu hören und die jungen Männer zu bedauern, „frei" (franc) oder großmütig genug, um von seinen eigenen Ansprüchen abzusehen, gütig genug, den jungen Männern zu helfen. Abgesehen von seinem Humor — der aber nicht dem Höfischen widerspricht — entspricht Theseus in jeder Hinsicht dem Schicklichen und TraditioKing Lear III, 2 u. 4. Wodurch er sich z. B. von Perceval/Parzival unterscheidet. 8 4 Deswegen ist es völlig deplaziert, Theseus mit Edward III. zu vergleichen; Edward richtet sich, ohne jede Reflexion, nur nach der Etikette (vgl. Robinson zu Kn T 1748). 8 5 Was immer damit gemeint ist. 82 63

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nellen. Hier ist einer der Punkte wo wir sehen, daß literarische Tradition und Schöpfung sich durchaus nicht zu widersprechen brauchen. Chaucer ist mit seiner Theseusgestalt ganz selbständig und doch nicht im mindesten revolutionär. Wenn sich nun noch mehr Stellen wie die eben besprochene finden lassen, dann könnten wir sagen, daß Verstehen, Bewußtheit, Reflexion für Chaucer überhaupt charakteristisch sind und ihn von seinen Vorgängern unterscheiden — ohne daß wir, was er „Neues" bringt, als einen Bruch mit der Tradition aufzufassen haben 66 . Im Prolog zur „Legend of Good Women" finden wir nun tatsächlich eine verwandte Szene; jedoch betreten wir, wenn wir uns dieser Dichtung zuwenden, einen „von der Kritik durchpflügten Boden" und auf solchem Grunde muß man vorsichtig gehen. Allerdings war man bisher vorwiegend an der Frage interessiert, welche von den beiden Fassungen des Prologs die frühere sei: um diese Frage sind heftige wissenschaftliche K ä m p f e entbrannt, die nicht immer mit Delikatesse ausgefochten wurden. Zum Glück gehen sie uns hier so gut wie nichts an; denn wir haben hier allein mit der Fürbitte der Königin Alceste zu tun, und diese Stelle ist in beiden erhaltenen Versionen nahezu gleich. Man konnte nicht verfehlen, die Besonderheit dieser Fürbitte zu bemerken; doch war man bisher vorwiegend daran interessiert, ob Chaucer mit Alceste wohl an „Queen Ann's well-known good influence" gedacht habe 87 — d. h. ob er auf zeitgeschichtliche Probleme habe anspielen wollen. Das ist wohl möglich — aber, mindestens für unseren Zusammenhang, nicht wichtig: „the sum of Alceste's appeal", hat John L. Lowes mit gewohnter Treffsicherheit bemerkt — „is simply ,noblesse oblige' " e s . Alceste appelliert an die „curteisye" des Gottes und legt die Gründe dar, warum er sich sein Urteil überlegen sollte; damit ordnet sich ihr Plädoyer in unseren Problemkreis ein. Die Situation — ein Schuldiger vor einem strengen Richter — ist allgemein höfisdi und der in der Knight's Tale verwandt. Doch dürfen wir über dem Gemeinsamen das Trennende nicht übersehen. In der Knight's Tale ist Theseus Hauptperson und Richter; entscheidend ist, wie er zur Einsicht kommt und was er denkt und sagt; im Legenden-Prolog ist Alceste die wichtigste Gestalt — was sie sagt ist entscheidend — aber sie ist nicht die Richterin sondern die Fürbitterin. Die eine Gestalt der Knight's Tale tritt im Legenden-Prolog als zwei Gestalten - - eine zornige und eine verständnisvolle — auf. Alceste ist mit Theseus darin verwandt, daß sie für den Schuldigen Verständnis hat und ihr Verständnis 6 6 Das Verstehen des anderen ist im höfischen Benehmen als solchen bereits enthalten. Ein Beispiel dafür ist die Szene, wo Gauvain den in Gedanken versunkenen Perceval nicht einmal grüßen will um ihn nicht zu stören: als Perceval aus seiner Trance erwacht, sagt ihm Gauvain: ich hätte Euch gegrüßt wenn ich Euer H e r z so kennte wie mein eigenes. — Das ist wahre Courtoisie: taktvolles Verständnis, Diskretion, Einfühlungsgabe (Gauvain versteht, daß Perceval nicht gestört werden darf!) vgl. R e t o Bezzola, Le sens de Famour etc. pp. 19 ff. In der entsprechenden Szene bei W o l f r a m wird der lautlose T a k t Gauvains ausdrückliche Reflexion Gawans, vgl. Parz. VI, 301. 6 7 Vgl. Robinson p. 958. 6 8 P M L A X X , p. 774. Lowes versteht hier jedoch curteisie zu flach als „fair speech" (p. 776 n. 1), während curteisie hier mit pitee identisch ist. Vgl. oben p. 51.

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explicit ausdrückt 69 ; sie unterscheidet sich von ihm dadurch, daß sie von Anfang an zum Verzeihen bereit ist, während Theseus sich sein Verständnis erst erwerben muß. Indem Alceste an die Courtoisie des Gottes appelliert, erinnert sie ihn daran, wie er „eigentlich" ist oder sein sollte; gerade auf Grund seiner Courtoisie (als Liebesgott und Mächtiger ist er ipso facto „courtois") müßte er den Angeklagten gelten lassen und hören, was er von sich aus zu sagen hat 70 . Amor hat, wie Theseus, nur den Schuldigen als Objekt, als Objekt seines Zornes vor sich. Durch Alcestes Worte wird der Blick auf das Du frei; der Angeklagte erscheint, und soll erscheinen, als ein Individuum das von sich aus da ist. Alceste versucht, sich auf den Standpunkt des Angeklagten zu stellen und die Gründe zu begreifen, die sein Verhalten verständlich und damit entschuldbar machen. Sie erwägt: 1. der Dichter kann zu Unrecht angeklagt sein, vielleicht hat man ihn verleumdet. Der Hinweis auf Dante 7 1 ist dabei mehr als ein gelehrtes Zitat: er zeigt, daß Alceste, wie Theseus, das Grundsätzliche erfassen und vom Allgemeinen auf das Besondere schließen kann. Auch sie ist philosophisch veranlagt. Sie begreift auch das Besondere in seiner Besonderheit: 2. dieser Mann ist etwas töricht, sagt sie — vielleicht hat er die anstößigen Bücher geschrieben oder übersetzt, ohne sich viel dabei zu denken. Er macht ja gewohnheitsmäßig Bücher, und vielleicht merkt er gar nicht wie die Bücher sind, die er bearbeitet. — So beachtlich und tief dieses Argument ist — wir dürfen nicht vergessen, daß wir Chaucer interpretieren: der Humorist Chaucer liebt mit seiner Geistesschwäche zu kokettieren 72 . Aber im Humor leuchtet ein sehr ernsthaftes Problem auf. Tatsächlich weiß der Mensch nicht immer was er tut — wenn wir diesen Gedanken durchdenken, sind wir einer tiefen Form des christlichen Verzeihens nahe. Auch Alcestes drittes Argument ist nicht ohne Tiefe: 3. vielleicht arbeitete der Dichter auf Befehl, auch dann trifft ihn nicht die volle Schuld. Sie gibt m. a. W. zu bedenken, in welch fatale Lage ein Schriftsteller kommen kann, der von einem großen Herrn abhängt und schreiben muß, was ihm selbst nicht gefällt 73 . Auch für Alceste ist das Verzeihen auf reflektierendes Verstehen gegründet. Damit ist ihre Rede in unseren Zusammenhang eingefügt und an sich zur Genüge betrachtet. Doch möchte ich noch beim Fortgang der Rede kurz verweilen, da hier Chaucers Eigenart besonders deutlich wird. Nachdem die Königin so für den unglücklichen Dichter plädiert hat, schließt sie noch einen Fürstenspiegel an und, um den Gott endgültig zur Gnade zu 69

Im Expliciten zeigt sidi der Grad der Bewußtheit. S. o. p. 60 (Iustitia und pietas gehören sich für den Fürsten). Curteisie umgreift hier die Gerechtigkeit: he shall not ryghtfully his ire wreke Or he have herd the other party speke (G 324 f.) = audiatur et altera pars. 71 Vgl. Inferno XIII,64 ff. (Pier della Vignas Geschichte).^ 72 Ist dies eine ganz individuelle Aneignung der „affektierten Bescheidenheit" der mittelalterlichen Dichter? Vgl. auch oben p. 12. 73 Allem Vermuten nach schrieb Chaucer die „Legend of Good Women" tatsächlich auf höheren Befehl und nicht sehr gern. Will er hier darauf hinweisen? Das würde die Ironie vollkommen machen. 70

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bewegen, hält sie ihm das Bild des Löwen v o r : ein L ö w e wedelt eine Fliege, die ihn belästigt, gelassen mit seinem Schwänze weg, er schnappt nicht nach ihr wie ein Köter — er ist sich zu gut dazu 7 4 . Ist das nicht genau das Gegenteil von dem, was sie eben gefordert hat? Erst wirbt sie um Verständnis, der Angeklagte soll beachtet werden, der Gott soll sich in seine Lage versetzen — und jetzt stellt sie ihn als so unwichtig hin, daß der Gott ihn genau so wenig beachten soll wie der L ö w e die Fliege, die um seine N a s e brummt. U n d so stößt sie auch den Dichter zurück als er wagt, nun seinerseits G r ü n d e zu seiner Verteidigung vorzubringen: „ L a t be thyn a r g u y n g e " 7 5 — genau wie der L ö w e sicher, aber genau im Gegensatz zu dem, was sie selbst gefordert hat. I m Augenblick, wo der Angeklagte wagt, selbst seinen M u n d aufzutun und so (wie er soll!) zu reden, verweist sie ihn energisch in seine Schranken. D a s ist wieder H u m o r — und wieder verweist der H u m o r auf ein Problem. Ich versuchte oben zu zeigen, daß man sowohl aus Anteilnahme als aus Großmut verzeihen kann; Anteilnahme und Großmut sind in ihrer Wurzel verschieden und berühren sich nur im E f f e k t — im Verzeihen. Pitee ist Anteilnahme, Eingehen auf den anderen — Franchise (wenn wir das Wort aus praktischen Gründen einmal so festlegen) ist ein Über-der-Sache stehen. Beide Tugenden sind gleich höfisdi 7 6 und können sich, wie bei Theseus, harmonisch durdidringen; sie können sich auch, wie bei Alceste, widersprechen. V o n der Pitee geht der Weg zum Verständnis, sie kann eine allgemein-humanitäre Färbung annehmen; Franchise ist distanziert und „exklusiv" und bleibt ständisch gebunden. Alceste fühlt sich und den Gott als „bei H o f e " , der Dichter steht außerhalb und gehört nicht mit dazu. Er kann froh sein, wenn man sich f ü r ihn verwendet, gleichberechtigt ist er nicht 77 . Trotzdem werden wir, wenn wir an Theseus und Alceste denken, folgendem Satz von Huizinga nicht ganz beistimmen können: Im Mittelalter fehlen alle jene Gefühle, die unseren Begriff von Gerechtigkeit schüchtern und schwankend gemacht haben: die E i n s i c h t in d i e h a l b e Z u r e c h n u n g s f ä h i g k e i t , die Vorstellung von der F e h l b a r k e i t d e s R i c h t e r s , das Bewußtsein, daß die G e s e l l s c h a f t m i t S c h u l d t r ä g t am V e r b r e c h e n d e s E i n z e l n e n , die Frage, ob man ihn nicht b e s s e r n könnte, statt ihn leiden zu lassen. Oder vielleicht besser gesagt, es fehlte nicht an einem dunklen Gefühl dafür, aber dieses konzentrierte sich ausgesprochen in einer u n m ' i t t e l b a r e n Anwandlung von Barmherzigkeit und Vergebung, die u n a b h ä n g i g v o n S c h u l d immer wieder die grausame Genugtuung über das ausgesprochene Redit plötzlich durchbricht (Sperrungen von mir) 7 8 . Huizinga spricht von der „historischen Wirklichkeit" und nicht von den Gedanken der Dichter (wie man jedenfalls annehmen kann), aber all das, was er als unmittelalterlidi bezeichnet, gibt es bei Chaucer. Es ist die Chaucersche Vgl. oben p. 44. F 475, G 465. 7 6 Sie entsprechen der „exklusiven" und der „inklusiven" Tendenz, auch „Distanz" und „Entgegenkommen". 7 7 Lowes (loc. cit. p. 277) mahnt zwar, den Humor Chaucers nidit zu vergessen, erwähnt aber diesen witzigen Kontrast nicht. 7 8 Herbst des Mittelalters, p. 27. 74 76

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Reflexion, welche die Extreme von grausamer Strafe und plötzlichem Verzeihen mildert; die Reflexion entschärft die harten Konturen des Gesetzes und zügelt zugleich die spontan hervorbrechende Gnade. Die Forderung Johann von Salisburys, Recht und Gnade mit Maß zu gebrauchen, hat wohl den Sinn die von Huizinga geschilderten Extreme zu mildern: Chaucer verwirklicht denkend diese Forderung so, wie es nach Huizinga nur „wir" können. Aber gerade daß Huizinga meint, nur „wir" könnten so denken, zeigt doch, wie einzigartig Chaucers Konzeption der Pitee ist. Theseus und Alceste haben am meisten von Chaucers Weisheit, seinem lächelnden Verstehen mitbekommen; es gibt aber auch noch andere Stellen, aus denen sich Ähnliches entnehmen läßt. Zunächst eine Episode in der Franklin's Tale. Ich führte sie oben an als ein Beispiel für „franchise" 79 ; Aurelius, der verliebte Ritter, gibt Dorigen, die ihm verpflichtet ist, frei; doch gerade in der Szene, wo diese Freigabe dargestellt ist, bemerken wir, wenn wir genauer hinsehen, Mitleid im eigentlichen Sinne. Dodi um genauer hinsehen zu können, müssen wir die Quellenfrage beaditen. Über das, was Chaucer als Quelle vorgelegen haben könnte, hat man sich verschiedentlich Gedanken gemacht, ohne allerdings e i n e Quelle herausfinden zu können; es gibt jedoch eine Menge von Erzählungen mit gleichem Thema, am verwandtesten mit Chaucers ist, wie Rajna zeigen konnte, eine Novelle in Boccaccios Filocolo 80 . Ich setze die beiden Stellen im Wortlaut nebeneinander 81 : La qual cosa (seil daß der Ehemann seine Frau verpflichtet hat, ihrem, dem Liebhaber gegebenen Versprechen treu zu bleiben, wodurch er seine eigene franchise beweist) udendo Tarolfo più che primo si cominciò a maravigliare e a pensar forte, e a conoscere cominciò la gran liberalità del marito di lei die mandata l'avea a lui e tra sè cominicò a dire die degno di grandissima rippressione sarebbe si a così liberale uomo pensasse villania, e parlando alla donna così disse . . . Aurelius gan wondren at this cas, And in his herte had greet compassioun Of hire and hire lamentacioun, And of Arveragus, the noble knyght, That bad hir holden al that she had hight, So looth him was his wyf shold breke hir trouthe; And in his hert he caught of this greet routhe, Consyderyng the best on every syde, That fro his lust yet were him levere abyde Than doon so heigh a churlish wrediednesse Agayns franchise and alle gen tillesse; For which in fewe wordes he seyde thus . . .

Die Verwandtschaft beider Stellen fällt sofort auf. Ihre Verschiedenheit zeigt sich erst bei genauerem Hinsehen. Wie in der Knight's Tale hat Chaucer erweitert, und auch hier stellt Chaucer dramatischer dar als Boccaccio. Boccaccios Dame geht zu Tarolfo — der sich über ihr Erscheinen wundert — und beginnt ruhig zu erzählen; Aurelius dagegen trifft Dorigen auf der Straße; als er sie fragt wohin sie gehe, schreit sie auf. So wird in Aurelius — ähnlich 79

S. o. p. 14 u. p. 52. Schofield PMLA XVI pp. 405 ff. vermutete ein bretonisches Lais, das er aber nicht finden konnte; die Parallele zu Boccaccio bradite Rajna inRomania32, pp. 241 fi. ; Rajna wurde gegen den Widerspruch von Cummings von J. P. Lowes verteidigt. Lowes zeigt, daß Chaucer nicht eine einzige Quelle vor sich hatte, sondern aus verschiedenen Anregungen etwas Neues machte. 81 Bd. I der Ausgabe in Scrittori d'Italia, vgl. p. 319; Chaucer, Franklin's Tale (V), 1514 ff. 80

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wie in Theseus — die Reflexion durch einen Schock (den Jammer der Damen, bzw. der Dame) ausgelöst. Auch Tarolfo denkt (cominciò a pensar), aber seine Reflexion richtet sich auf seine Ehre (che degno di gransissima rippresione sarebbe); Aurelius denkt nicht allein daran, ihm wird auch die Situation seines Gegenübers klar: er hat Mitleid (compassioun) mit der klagenden Dorigen und mit Arveragus, und in seinem Herzen empfindet er „routhe" (was mit compassioun und pitee nahezu identisch ist) und überlegt sich das Beste auf jeder Seite (consyderyng the best on every syde). Von all dem — weder vom Dramatischen noch vom Mitleid — ist bei Boccaccio keine Rede. Nur bei Chaucer wird, um es so auszudrücken, der „andere" wirklich sichtbar, nur bei Chaucer gibt es Anteilnahme („pitee"), nicht allein Großzügigkeit („franchise"); wie Theseus macht Aurelius eine Sinnesänderung durch, vom „Ich" zum „ D u " ; Aurelius will von seiner „Lust" abstehen (abyde), hält sich und seine unmittelbaren Regungen zurück und gibt dadurch den „anderen" frei. Freilich sind hier Reflexion und der dadurch bedingte Prozeß des Verstehens nur angedeutet und längst nicht so ausführlich wie bei Theseus und Alceste; die Stelle gewinnt ihren Wert nur im Zusammenhang mit den beiden anderen. Verwandtes findet sich endlich in der Man of Law's Tale. Den Stoff hat Chaucer der anglonormannisdien Chronik des Trivet entnommen; Go wer hat die gleiche Legende derselben Vorlage nacherzählt 82 . Daher erhob sich natürlich die Frage nach der Priorität; sie ist von Tatlock entschieden worden. Tatlock wies nach, daß Gowers Version die frühere sein muß — obwohl es keine „exakten" Argumente gibt: „all that is l e f t . . . is the subject, treatment, and style 8 3 ". Tatlocks stilistische Untersuchungen haben für unser Problem ein gewisses Interesse. Gower, stellt Tatlock fest, „says nothing of her (Constance's) submissive grief of leaving home for the oriental marriage (264/87), nothing of the conferences of the soldan and his mother with their respective councils {204/31, 326/57), nor of Constance's prayer of being cast adrift for the first time (449/62), nor of her mingled emotions toward her husband when they are reunited 8 4 ". Durch diese Zusätze hat Chaucer die an sich schematische und — jedenfalls für uns — farblose Legendengestalt lebendig gemacht; er hat ihr, mindestens teilweise, Gedanken und seelische Bewegung gegeben. Die Gestalt wird auf die Weise dramatisch und bewußt 85 — und schon damit erkennen wir, daß Chaucer mit Constance Ähnliches getan hat wie mit Theseus und Tarolfo. Doch intensiviert audi Gower den Stimmungsgehalt einzelner Episoden. Es ist nun lehrreich, entsprechende Partien bei Chaucer und Gower miteinander zu vergleichen. Gower geht zwar in derselben Richtung wie Chaucer, doch geht Chaucer noch weit über sein — vermutliches — Vorbild hinaus. Vgl. Lücke, Anglia 14 pp. 77 ff. und Robinson p. 795. J. S. Tatlock, Development and Chronology of Chaucer's Works, ChaucerSociety 1907, vgl. p. 75. 8 * Op. cit. p. 185. 8 5 Damit entfernt sich Chaucer v o m eigentlichen Sinn der Legende, vgl. A . Jolles, Einfädle Formen, Halle 1931, Kapitel 1. 82

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Constance ist zum zweiten Male von einer bösen Schwiegermutter verleumdet worden, sie soll wieder auf See ausgesetzt werden. Folgendermaßen sdiildert Gower die Reaktion auf den Brief, der den Befehl zum Aussetzen enthält: Bot when that thei have heede take And seen what written is therinne So gret a sorwe thei beginne As thei their oghne mother sighen Brent in a fyr befor their yhen 8 8 .

Bei Chaucer bekommt der Constable den Brief und sagt: Alias and weylaway! Lord Crist, quod he, how may this world endure So full of sinne is many a creature? O mighty god, if that it be thy wille, Sith thou art rightful judge, how may it be, That thou wol suffren innocentz to spille And wikked folk reign in prosperitee? O good Custance, all so wo is me That I mot be thy tormentour or deye A shames deeth, ther is noon other weye 8 7 .

Bei Gower und bei Chaucer wird die Schmerzlichkeit der Situation empfunden; sie beide begnügen sich nicht mit einem Konstatieren der Tatsachen. Aber Gower bleibt allgemein; Chaucers Constable erfaßt das Problem in seiner Besonderheit. Wie ist es möglidi, fragt er sich, daß Gott die Guten leiden läßt? Er findet keine Antwort: aber sein Fragen zeigt, daß er ein Problem sieht und daß er verstehen möchte — damit wird das für Chaucer charakteristische Moment der Reflexion wieder in die Erzählung hineingebracht. Der Constable fragt nach dem Allgemeinen und Grundsätzlichen — und zugleich damit erscheint die Einzelsituation: der „Richter" bemitleidet den Angeklagten, weil er sidi in seine Lage hineinversetzen kann. Constance, die „Schuldige" (hier besser: das „Opfer") wird sichtbar. Ferner laden beide Gebete zum Vergleich ein. Zunächst Gower: Constance wird ins Sdiiff gebracht auf dem sie ausgesetzt werden soll und kniet, auf dem Meer treibend, nieder, streckt die Hände zum Himmel empor und betet: O kinde magestee Which sest the point of veri trouthe Tak of this woful woman routhe And of this child which I shal kepe.

(dabei wird sie ohnmächtig, doch Gott stärkt sie; sie erwacht und betet weiter) Of me no maner charge is What sorwe I soffre bot of thee. Me thenketh it is greet pitee For motherheed and for tendresse. With al my holy besinesse Ordeigne me for this office 88 . 86 87 88

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Confessio Amantis II, 1044 fF. Canterbury Tales II, 809 if. Confessio Amantis II, 1059 if. K l e i n s t ü c k . Chaucers Stellung

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Chaucers Constance geht mit totenbleichem Gesidit zum Strand, sie revoltiert nicht gegen Christi Willen, sondern nimmt geduldig jede Prüfung auf sich. Aber ihre Geduld ist nur mühsame Beherrschung; ihr Schmerz bricht aus als sie ihr Kind sieht, er formt sich zu Worten und sie wendet sich betend an die heilige Jungfrau. Zwar will sie sich ausdrücklich nidit mit der Schmerzensmutter vergleidien, aber sie tut es, implicite, dodi: T h o w sawe thy child y-slain befor thyn yen And yet now livth my litel child, parfay . . . T h o w heven of refut bright sterre of day, Rewe on my child that of thy gentillesse Rewest on every reweful in distresse! 8 9

In beiden Gebeten — bei Chaucer wie bei Gower — wird die Situation bewußt und lebendig; beidemale finden wir Schmerz, allmähliches Sich-Fassen (bzw. himmlische Tröstung); aber Chaucer ist wieder konkreter. Warum ruft seine Constance die Mutter Maria (und nicht, wie die Gowersche, Gott) an? Die Antwort kann nur sein: Maria mußte, wie Constance, das Leid ihres Kindes miterleiden: Maria hat mit Constance eine Erfahrung gemeinsam, die himmlische Schmerzensmutter kann die irdische verstehen. So gehört audi Constances Gebet in den behandelten Zusammenhang hinein; zwar fehlt hier der „Richter", der sich verstehend in die Situation des Leidenden einfühlt — Maria ist nicht sichtbar anwesend — und deswegen macht sich der leidende Mensch selbst zu seinem Anwalt. An einer anderen Stelle ist es Chaucer (in der gleichen Erzählung) selbst, der sich zum Anwalt macht und um Verständnis für seine Gestalt wirbt. Ich meine die Szene, wo Constance, des Mordes verdächtigt, vor König Alla, der sie richten soll, vorgeführt wird. Hier hat Chaucer ganz selbständig gedichtet, bei Gower fand er nur einen dürftigen Anhaltspunkt 9 0 : H a v e ye nat seen some tyme a pale face A m o n g a prees of him that hath been led T o w a r d his deeth, wher-as him gat no grace, And swidi a colour in his face hath had, Men might knowe his face that was bestad Amonges alle faces in the route: So stood Custance and lokked her aboute.

Besonders an das Mitleid der edlen Damen wird appelliert: O queenes living in prosperitee Duchesses and ye ladies verichoon, Haveth some routhe on this adversitee: An emperoures daughter stant alone . . .

Es ist wohl kein Zufall, daß wir unmittelbar nach diesem Appell ans Mitleid von der tränenüberströmten Anteilnahme des Königs Alla lesen: er kann so empfinden, so sehen und so verstehen, wie es Chaucer fordert und selbst kann 9 1 . 89 90 91

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Canterbury Tales II, cf. 826,845 ff., 851 ff. Confessio II, 866 f. Bot yit of al that ever he pleigneth Elda no fui credence took. Canterbury Tales II, vgl. 63 I f f . , bes. 650 ff.

Ich mödite nun versuchen, das aus diesen Betrachtungen Gewonnene abschließend zu interpretieren. Piti£ ist ursprünglich im Emotionalen gegründet; der edle Mensch läßt sich von fremden Schmerz anrühren und erlebt ihn mit. Chaucer hat die Tugend, ohne sie von ihrer emotionalen Grundlage zu lösen, bewußt gemacht: bei ihm kommt zur Emotion das Moment der verstehenden Reflexion hinzu. In den Reden des Theseus und der Alceste sowie im Monolog des Theseus, herrscht die Reflexion vor; in der Man of Law's Tale ist das reine Anteilnehmen stärker betont. Allen besprochenen Partien ist gemeinsam, daß der leidende Mensch (bzw. der „Schuldige") g e s e h e n wird: Theseus, Alceste, Aurelius, der Constable, Alla s e h e n den Menschen, der ihnen gegenübersteht und können sich in seine Situation einfühlen; sie können sich vorstellen, wie dem anderen zu Mute ist. Darum liegt es nahe, die besonders starke Ausprägung der „pitee", wie wir sie bei Chaucer finden, mit seiner Imagination zu verbinden. Doch genügt Chaucers Imagination, seine Gabe sich etwas vorzustellen und zu sehen, noch nicht, um die Art seines toleranten und verständnisvollen Mitfühlens zu erklären; denn auch Dante hatte eine gewaltige Einbildungskraft und Vorstellungsgabe, und bei ihm ist das einfühlende Verständnis viel weniger entwickelt als bei Chaucer. Chaucer spricht an einer Stelle seine Toleranz nahezu programmatisch aus. Zu Beginn der „Franklin's Tale" äußert sich der Franklin ausführlich über die Ehe und gibt Ratschläge, wie man sich als Verheirateter aufführen solle; es ist sehr wahrscheinlich, daß Chaucer hier seine eigenen Ansichten in den Mund seiner Gestalt legt 92 . Vor allem empfiehlt der Erzähler Geduld, denn mit Geduld komme man weiter als mit Zorn: aber die Geduld wird nicht allein um des Erfolges willen angeraten; geduldig muß man sein weil: in this world ther no wight is T h a t he ne dooth ne seith sometime amis. Ire, syknesse, or constellacioun, Wyn, or diaunging of complexioun, Causeth ful o f t to doon amis or speken — On every wrong a man may nat been wreken 9 3 .

Der erste Grund — Geduld führt zum Erfolg — ist mit zahlreichen Parallelen als „Topos" zu belegen. Daß Geduld sich mehr „lohnt" als Ungeduld, ist einmal eine menschliche Grunderfahrung, die wir infolgedessen nahezu überall antreffen können, und außerdem war der Gedanke im Mittelalter gängig; gleichgültig, ob wir einen Troubadour oder Moralisten hören 94 : „christliche" und „troubadoureske" Geduld gleichen sich in ihrer Struktur, daß man „ausharrt" bis zum (hoffentlich guten) Ende 95 . Vgl. Kittredge, „Chaucer's Discussion of Marriage", MP VII. Canterbury Tales V,773 ff. 9 4 Vgl. z . B . Gower, Mirour 14050if. quant le tourment seculer Nule autre rien quet terminer Lors pacience le termine; Langland nennt das Pferd der Reson „Suffretil -I- see-my-time" (Piers B, IV,19); für die Troubadours stehe Giraut de Bornelh mit „Sias sofrentz Q u e totz temps bos sofrire vens" (ed., Kolsen I, str. 1). 3) Es ist irreführend, wenn Lowes (MP X V , p. 140) auf Machaut, Dit dou Lyon 2040 verweist und von „Machaut's very doctrine of sufferance" spricht. 92 93

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Ganz anders ist die Geduld, die Chaucer außerdem noch empfiehlt (oder empfehlen läßt). Man kann und soll den Menschen nicht alles übelnehmen, was sie tun, denn es gibt allerlei verschiedene Gründe, die sie mindestens teilweise der Verantwortung überheben: sie können erregt, krank, betrunken, oder von den Sternen beeinflußt sein — und das kann „jedem einmal passieren". Deswegen muß man Geduld haben miteinander. Genau die gleiche Haltung treffen wir bei Alceste und besonders bei Theseus: die Einsicht in die Schwäche, Abhängigkeit und Bedingtheit der Menschen, welche den Einsichtigen, gerade dadurch, daß er sie durchschaut, frei und zum Verzeihen geneigt macht. Das scheint für Chaucer eigentümlich zu sein: aus der mittelalterlichen Literatur ist mir dazu keine Parallele bekannt 98 . 9 5 Ich kann E. Gilson nicht beistimmen, wenn er, gegen Wechssler polemisierend, behauptet, zwischen der Geduld des Troubadours und der des Christen sei so viel gemeinsam wie „entre le diien, signe céleste, et le chien, animal aboyant". (La théolgie mystique de St. Bernard, p. 215.) Es mag keine „Beeinflussung" vorliegen, die Denkstruktur ist auf jeden Fall die gleiche. 9 6 In dem Augenblick wo ich beginne, über die Situation des Schuldigen, seine Bedingtheit und seine Motive nachzudenken, wo ich also beginne mich in ihn einzufühlen und ihn zu verstehen, hört das Recht, im Sinne der überlieferten Gesetzesnorm auf, eine Rolle zu spielen. Darauf ist im 6. Kapitel einzugehen.

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III. Fortuna und die Verarbeitung des Boethius Daß die Welt nicht nach einem bestimmten, erkennbaren Plane abläuft, sondern daß Uberraschendes, Zufälliges, Unheimliches geschieht: dies scheint eine der aufregendsten, eindrücklichsten Erfahrungen für die Menschen der Spätantike und des Mittelalters gewesen zu sein1. Die Art, wie man auf die Tatsache des Zufälligen reagierte, wie man sie zu erklären und zu bemeistern suchte, war nicht einheitlich; die verschiedenen Reaktionen spiegeln sich in verschiedenen literarischen Werken oder Gattungen. Bemerkenswert ist zunächst der Ritterroman: in ihm scheint die Welt ganz vom zufälligen und überraschenden Geschehen bestimmt; kein Ritter kann von einem Tag auf den anderen planen: Perceval z. B., der Held von Chretiens „Li Contes del Graal" besdiließt zu seiner Mutter heimzukehren, aber kaum meint er, den rechten Weg gefunden zu haben, da begegnet er dem Fistherkönig, der ihn zu einer Herberge weist, in der über sein künftiges Leben ganz anders, als er je ahnte, entschieden wird 2 . Ähnlich wie ihm geht es Gauvain, dem anderen Helden des Romans; ihm wird eine Aufgabe gestellt, aber ehe er sich ihrer Lösung auch nur angenähert hat, passiert etwas Neues, das ihn auf einen neuen Weg weist. Der Held wird von dem bestimmt und geprägt, was an ihn herankommt: er ist der avanture ausgesetzt 3 . Nun ist avanture zwar nicht sowiel wie ein blindes und planloses Geschehen, es besteht ein geheimer Zusammenhang zwischen dem Helden und dem, was ihm passiert; aber er kann doch nie voraussehen, was die nächste Begegnung bringen wird; und so könnte es scheinen, als sei der chevalier errant nur das Objekt eines launischen Schicksals. Aber er ist kein Objekt. Wohl kann er es nicht ändern, daß immer Neues über ihn kommt, aber er kann sich rüsten und bereit sein; gerüstet und bereit tritt er in die Welt. „The readiness is all" könnte auch seine Devise sein. Hamlets zitiertes Wort ist stoisch; daher wurde versucht, die Geisteshaltung des Ritters aus dem Denken der Stoa abzuleiten 4 . Wir dürfen jedoch einen wichtigen Unterschied zwischen Ritter und Stoiker nicht übersehen. Der Stoiker resigniert, er bedauert, daß die Welt so ist wie sie ist; darum läßt er das Schicksal über sich ergehen: ihm kommt 1 Nidit für die Menschen jeder Zeit; weder bei Homer noch, um ein modernes Beispiel zu nennen bei Hemingway, gibt es die Problematik des Zufälligen.' 2 Vgl. op. cit. vv. 2990 ff. 3 Vgl. Kellermann, Aufbaustil und Weltbild in Chretiens Percevalroman, Z. rom. Phil. Beiheft, 76, Halle 1936, dazu die Besprechung von E. Eberwein, Romanische Forsch. 53. 4 Vgl. Naumann, Ritterliche Standeskultur, p. 11.

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es nur darauf an, daß er die Widerwärtigkeiten des Daseins mit guter Haltung erträgt 5 . Der Ritter dagegen nimmt freudig an, noch mehr: er sucht die avanture 6 , denn allein im Bestehen der avanture kann er sich bewähren, nur weil die Welt nicht in Ordnung ist, kann er Ruhm finden, und um des Ruhmes willen zieht er ja aus. Der Ritter unterscheidet sich vom Stoiker durch seine größere Aktivität 7 . Der Ritter mußte, um sich zu bewähren, tapfer, stark und gütig sein; aber das allein genügt noch nicht; um die avanture zu bestehen, mußte er den rechten Augenblick erkennen, die Gelegenheit beim „Schöpfe ergreifen" — „prandre l'avanture" 8 . Perceval versagt auf der Gralsburg, indem er aus falsch verstandener Courtoisie im rechten Augenblick nicht fragt, so verpaßt er seine Chance und deswegen ruft ihm „das häßliche Fräulein" — Wolframs Kundry — schmähend zu: Ha! Percevaus, Fortune est chauve Derriers et devant chevelue. Mahaudez et qui te salue Et qui nul bien t'ore ne prie, Que tu ne la retenis mie Fortune quant tu l'ancontras9.

Hier bei Chrétien erscheint Fortuna als ein Weib, das man, wenn man ihm begegnet, tatsächlich „am Schöpfe packen" muß; denn die Chance wird nur einmal geboten und wird sich nicht wiederholen. Die geforderte Aktivität des Ritters ist weit von dem entfernt, was man gewöhnlich als „typisch mittelalterlich" ansieht 10 ; und auch mit antiker Weisheit hat sie nur sehr wenig gemeinsam. Aber die Haltung des abenteuerlichen Ritters ist nicht die einzige Weise, wie man Fortuna begegnete oder glaubte, ihr begegnen zu müssen. Vorherrschend war, besonders offenbar im späteren Mittelalter, ein Staunen, ein fassungsloses Entsetzen über die Macht der Fortuna: daß die Fürsten, die man ehrfürchtig bewunderte, oft wohl auch liebte, sterben konnten wie gewöhnliche Menschen, daß sie verraten, abgesetzt, gestürzt wurden; daß Länder und Reichtümer ihre Besitzer wechselten — das alles stellte Probleme, mit denen man kaum fertig wurde: es war alles so anders in der Welt, als es eigentlich sein sollte! Die Menschen sollten doch entsprechend ihrem Verdienst und ihrer Würde geehrt werden, aber was tut Fortuna? 6 Allerdings darf man den Stoiker nicht als zu passiv abstempeln, was R. Weber tut (vgl. JEGP 17, Askese und Quietismus bei Wolfram von Eschenbach). 8 Vgl. Chrétiens Yvain 362 fi. Auf die Frage des vilain „et que voldroies trouver" antwortet Qualogrenanz „avanture por esprover Ma proesse et mon hardement". Ähnliche Stellen sind häufig. 7 Was Chrétien darstellt entsprach ohne Frage weitgehend der sog. historischen Wirklichkeit; man dachte und handelte, wie z. B. Huizinga gezeigt hat, noch im 15. Jh. in den Kategorien des Ritterromans. Der Roman wurde einerseits von den idealen Vorstellungen über Rittertum bestimmt, anderseits gab er die Formen, in denen man erlebte. Vgl. auch Taylor, The Medievel Mind, London 1925 (4th ed.), vol I „Feudalism and Knighthood". 8 Vgl. Hoepffners Einleitung zu Machauts Dit dou Lyon (oeuvres II, pp. LVIIIif.). 9 Contes 4646ff. 10 Vgl. dafür E. Th. Sehrt, Vergebung und Gnade, pp. 62 ff.

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ele ne prise 1 pas un p o m m e

Tricherie ne leiaute Ne vil estat ne reiaute, Anceis s'en jeue a la pelote Comme pucele nice et sote . . - 11 Diese dämonische Macht, die sich „einen Dreck" (pas un pomme) um das kümmert, was die Menschen für gut und riditig halten, die regiert mit ihren Launen die Welt. Wie soll man sich in diesem Chaos, diesem Spiel von Willkür und Zufall zurechtfinden? Chaucers Palamoun grübelt lange vergeblich über den Sinn im Weltgeschehen nach: er findet nur eins: daß es in der Welt viel Leiden gibt; aber warum es Leiden geben muß, das kann er nidit verstehen; die Theologen mögen diese Fragen beantworten: The answere of this I lete to dyvynys Bot wel I wot that in this world gret pyne is 12 . Dieses Ergebnis des Nachgrübelns wirkt bei all seiner Resignation weise, jedenfalls für moderne Ohren; im Mittelalter freilich klang so etwas verdächtig nach „wanhope", nach Verzweiflung und Traurigkeit — und davon wollte weder die Kirche, noch die mehr weltlich orientierte Gelehrsamkeit viel wissen. Man bemühte sich um eine Erkenntnis und eine Lösung des Fortunaproblems. Wer war Fortuna überhaupt, und welchen Platz hatte sie in der Weltordnung Gottes? Hierauf ist keine einheitliche Antwort zu geben. H . R. Patch, dem wir das bedeutendste Buch über Fortuna verdanken, hat aus der Fülle des von ihm untersuchten Materials drei verschiedene Grundformen herausgefunden: 1. eine unabhängig regierende Gewalt, 2. eine Macht, die sich in die Regierung des Universums mit einer anderen Macht teilt, 3. eine Macht, die einer höheren Macht dient. Dazu können wir als 4. hinzufügen, daß teilweise die Existenz der Fortuna überhaupt geleugnet wurde, vor allem, wie zu erwarten, von vorwiegend theologisch interessierten Schriftstellern 13 . Man sprach audi nicht nur von Fortuna, sondern kannte andere götterähnliche Wesen — entsprechend der mittelalterlichen Tendenz, alles Geschehen auf personale Mächte zurückzuführen — wie Heure, Aventure etc., oder man identifizierte die Glücksgöttin mit anderen Gottheiten, wie Nature, T o d , Fama; und wer wissenschaftlicher dachte, setzte sie mit dem astrologisch verstandenen Fatum gleich 14 . Die 1 1 R o m a n de la Rose 6554 ff. Hier spricht die Tochter des Krösus, es ist fraglich, ob Jean de Meun seine eigene Lehre kundtut, wie W. F. Müller, Der Rosenroman p. 23 anzunehmen scheint. — Auf jeden Fall ist die Formulierung charakteristisch für die Lebensunsicherheit des späteren Mittelalters. Zum Fortunaproblem vgl. H . R . Patch, T h e Goddess Fortuna in Med. Literature; A. Dören, Fortuna in Mittelalter u. Renaissance, Vortr. d. Bil. Warburg 1922/3, 1. Teil; K. Hämmerle, Das Fortunamotiv von Chaucer bis Bacon, Anglia 65; bes. W. Farnham, T h e Medieval Heritage of Elizabethan Tragedy, 1936. 1 2 Canterbury Tales I, 1323 ff. Solche ausdrückliche Resignation ist selten (ich k o m m e im 6. Kapitel noch darauf zurück), findet sich aber auch z. B. bei Machaut, Jugemant dou R o y dou Behaigne, 857ff.: „Si me penray a eus (seil. G o t t und N a t u r ) deus de mes maus? J e non feray, car il me sont trop haus." 1 3 Patch, op. cit. p. 35. T h o m a s von Aquin rät ab, den N a m e n Fatum zu gebrauchen, die Existenz der Fortuna leugnet er selbstverständlich. Vgl. ScGent III,XCIII. 1 4 Patch, op. cit. pp. 61, 76, 90, 110, 117.

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Fülle der verschiedenen Möglichkeiten und der verschiedenen Namen zeigt, wie schwer man mit dem Problem — dem Problem, daß Zufälliges passiert, fertig wurde. D a die meisten Menschen des Mittelalters, jedenfalls prinzipiell, an die Existenz und das gerechte Weltregiment Gottes glaubten, ist Lösung 3. wohl am weitesten verbreitet: Fortuna dient Gott zur Ausführung seiner Pläne. Der locus classicus hierfür ist im 7. Gesänge des Danteschen Inferno zu finden; auf die Frage Dantes „wer ist Fortuna" gibt Vergil seinem Schüler die Beschreibung einer Gottheit, die im Auftrage des höchsten Gottes die irdischen Angelegenheiten verwaltet; Gott hat sie als „general ministra e duce" eingesetzt: Che permutasse a tempo Ii ben vani Di gente in gente ed'uno in altro sangue, Oltre la difension de' senni u m a n i . . . Vostro saper non ha contrasto a lei: Ella provede, giudica, e persegue Suo regno, corne il loro gli altri Dei 1 5 .

Chaucer hat eine ähnliche Konzeption, er spricht von: T h e destinee, ministre general, T h a t executeth in the world Over al T h e purveyance that God hath seyn biforn . . . 1 6

Beide, Dante und Chaucer, gehen mit ihrer Auffassung von der Rolle der Fortuna oder der Destinee auf Boethius zurück: er war der große Lehrer des Mittelalters 1 7 . E r lehrte nicht allein, welches der Platz der Fortuna im Weltganzen sei; er lehrte auch, und das interessierte oft noch mehr, wie man sich ihr gegenüber zu verhalten habe. Die clercs, die ihren Boethius gelesen hatten, kamen den Menschen, wenn sie verzweifeln wollten, zu Hilfe, und bewiesen, auf die Autorität des Philosophen gestützt, daß die Güter dieser Welt, Macht und Reichtum, dem Menschen nicht eigentlich gehören, sie sind ihm geborgt 1 8 ; die clercs verweisen den Menschen auf sich selbst, auf „tous les biens que dedenz toi senz" 1 9 ; Sócrates und Seneca werden Vorbild. Wie diese beiden Weisen, •muß man sich selbst kennen — „Ful wys is he that kan hymselven knowe", sagt Chaucers Mönch 2 0 — , man muß wissen, daß der Wert des Menschen in Inferno VII, 67 ff. Knight's Tale 1662 ff. Auf das Verhältnis von Destinee und Fortuna bei Chaucer gehe ich unten genauer ein. 1 7 Für die Wirkung des Boethius vgl. wieder H . R . Patch, T h e Tradition of Boethius, N Y 1935; ferner den K o m m e n t a r zum Rosenroman von Langlois passim. K. Burdach, Humanistische Wirkungen der Trostschrift des Boethius, Deutsche Vierteljahrsschrift VII, übersieht völlig die Wirkung des Boethius auf Jean de Meun. 1 8 Vgl. R o m a n de la Rose 5029 ff. (Boethius- und Fortunaprobleme sind nur im von Jean de Meun verfaßten zweiten Teil des Werkes zu finden); vgl. ferner z. B. Deschamps Ball. M C C C I V : weltliche Güter gehören dem Menschen nicht, sein sind nur die Gaben der Natur, „debilité", fragilité, ordure und Ball. C X C : wer Boethius versteht und „noble" ist, verachtet die weltlichen Güter. Für Desdiamps vgl. die Ausgabe der S A T F von Marquis de Queux de St. Hilaire, 11 vols., Paris 1878 ff. 1 9 Rosenroman 5331. 2 0 Cant T VII,2139. 15

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seinem Inneren, nicht in äußerem Glänze liegt; man muß sich selbst genug sein und auf die äußeren Güter des Lebens verzichten können 2 1 . Wer das erkennt, begreift noch mehr. Er begreift nämlich, daß gerade das widerwärtige Geschick, die „Fortune parverse et contreire" 2 2 , dem Menschen heilsam ist; denn es hilft ihm dazu, sich selbst, seine Stellungen und seine Möglichkeiten in der "Welt zu sehen. Deswegen sollte man sich gar nicht beklagen über das Walten der Fortuna 2 3 . Sie ist eine Lehrmeisterin; und wer ihr vorwerfen will, daß sie wandelbar und unverläßlich ist, der sollte einsehen, daß dies ja gerade ihr Wesen ausmacht: und kann man den tadeln, der seinem Wesen treu ist 2 4 ? Es gibt freilich verblendete Toren 2 5 , die nicht auf die Lehren der Weisheit hören und ihren Sinn auf die hinfälligen Güter dieser Welt, auf Macht und Reichtum, setzen; es gibt Fürsten, die stolz sind und sich auf ihre Macht etwas „einbilden" 2 6 ; es gibt Männer, die sich von einer Frau betören lassen — wie Samson, Aristoteles und König Salomon 2 7 — kurz, unvernünftige, sinnenverhaftete Menschen: und solche stürzt Fortuna und weist dadurch ihre Existenzberechtigung nach. Kann man ihr überhaupt einen Vorwurf machen? Sind nicht die Toren selbst schuld an ihrem Unheil? Es sei gar nicht Fortuna, versichert Lydgate einmal — in krassem Widerspruch zu seinen sonstigen Behauptungen —, welche die Fürsten stürze; sie selbst seien Ursache ihres Unheils, wenn sie vom Pfade der Tugend abweichen 28 . Fortuna bestraft das Laster; oder sie wird nur zu einem Symbol für das Unglück, das sich der Mensch durch eigene Schuld zuzieht. Wodurch unterscheidet sich dann Fortuna noch von Gott selbst, der, wie man häufig annahm, Lohn und Strafe entsprechend dem subjektiven Verdienst austeilte? Tatsächlich können Fortuna und Gott in einem Atem genannt werden; Gower z. B. sagt, als er die Geschichte Nabugonodonossors als warnendes exemplum erzählt: Sur tous Fortune l'alleva D o n t son orguil crust et monta, Mais quant meulx quide estre dessus Pour son orguil qu'il dcmena Soudeinement Dieus le rua 2 9 . 2 1 Rosenrom. 6180ff.; Chaucer, Fortuna 17; zur Selbstgenügsamkeit (souffisance) vgl. Rosenrom. 4947 u. ö., Chaucer, Fortuna 15., häufig audi bei Desdiamps. — Nach Desdiamps, Ball. X X I , gehört dem Menschen nichts als sein „sens", was der in Ball. M C X X X I V geäußerten Meinung, dem Menschen sei „debilité" etc. zu eigen einigermaßen widerspricht. Vgl. zum ganzen Problem Fanssler, Chaucer and the R o m a n de la Rose, N Y 1926; Jefferson, Chaucer and the Cosolation of Philosophy, Princeton 1918, v. a. p. 60. 2 2 Rosenrom. v. 4845. 2 3 Machaut, Remée de la Fortune v. 2524. 2 4 Desdiamps, Ball. C C L X X X V I I , vgl. Dante, Inf. 12,49 O cieca cupidigia, o ira folie. 2 5 Vgl. Rosenroman 5904 ff. 2 6 D a ß Fortuna vorzugsweise die Stolzen stürzt ist bekannt, vgl. Patch, Fortuna pp. 69/70. 2 7 Vgl. F. Maurer, Der T o p o s v o m „Minnesklaven", D t Vjs 1953. 2 8 „It is nat she that princes gaff the fall But vicious living" Fall of Princes, ed. Bergen ( E E T S Extra Series 121/3, London 1924) I vv. 41 if. 2 9 Mirour 21985 ff.

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Hier „stürzt" Gott sozusagen persönlich, während er sonst meist dieses Geschäft der Fortuna überläßt. Der „Sturz" ist, wenn wir Gower und Lydgate glauben wollen (jedenfalls an den zitierten Stellen), nichts anderes als die Quittung für das Verhalten des Menschen. Wenn dem aber so ist, dann ist Fortuna nicht nur heilsam — sie ist überhaupt nicht da, sie ist nur eine Fiktion —, wie wiederum Gower, nach einer längeren Erörterung des Schicksalsproblems, erklärt: Set sibi quisque suam sortem facit 3 0 .

Diese von Gower und Lydgate (teilweise) vertretene Meinung, daß der Mensch „Schmied seines Glückes" sei, setzt dreierlei voraus: 1. der Mensch ist frei, 2. Gott straft und belohnt nach Verdienst, 3. Lohn und Strafe werden schon in dieser Welt sichtbar. Allein diese Auffassung kann nicht befriedigen, sie ist, bekanntlich, weder genuin christlich, noch entspricht sie den zu beobachtenden Tatsachen (die man auch im Mittelalter sah). Gower und Lydgate widersprechen sich selbst; denn keineswegs geht bei ihnen nur der Schlechte und Stolze zugrunde 31 : und warum weint und klagt der Erzähler einer Tragödie" 32 ? Wer weint, nimmt erschüttert Anteil, aber er begreift nicht; noch viel weniger empfindet er das Ereignis als etwas, das zu Recht geschehen ist. Das Fortuna-Erlebnis, wie aus all dem hervorgehen dürfte, hatte seinen Grund darin, daß die Welt nicht so funktionierte wie sie sollte: Unerwartetes, „Ungehöriges" geschieht — und wie soll man es erklären, wenn doch die Welt von einem gütigen und gerechten Gott regiert wird 33 ? Man konnte sich zur Tatsache, daß es so etwas wie Fortuna gibt, verschieden stellen; man konnte darin eine heilsame Zurechtweisung menschlicher Anmaßung, eine Möglichkeit, sich selbst zu erkennen, aber auch ein schlechthin Unfaßliches sehen; eine allen Einwänden und Überlegungen standhaltende Erklärung aber konnte man nicht finden. Im Grunde ist das Problem der Fortuna eng verbunden mit dem Problem der Gerechtigkeit Gottes: und wohl noch niemand hat eine Theodizee schaffen können, die jeden Menschen in jeder Situation überzeugt. Wie hat sich nun Chaucer mit dem Problem auseinandergesetzt? Wie wir bereits sahen, macht er ähnlich wie Dante die „Destinee" zu einer Dienerin Gottes; an einer anderen Stelle nennt er Fortuna die ausführende Macht des 30 V o x Clamantis 11,4, 203. Auf Grund solcher Stellen wird man Glunz nicht beistimmen können, der meint, erst Lydgate habe das Tragische in England entdeckt, indem er den Menschen als mitverantwortlich an seinem Schicksal ansah. Vgl. Shakespeares Staat, Frankfurt/M. 1939, p. 77. 31 Auch Chaucers Mönch weiß keinen Grund zu nennen, warum Caesar fallen mußte, Neid der Zeitgenossen hat ihn umgebracht. Vgl. Cant T VII, vv. 2697ff.; anders z. B. Adam, der „for misgovernance" fiel (ibid. 2012). 32 Vgl. Chaucers Mönch VII, 1991 I wol bewaile in maner of tragedie. 33 Gower weist häufig darauf hin, daß Verdienst und Lohn sich entsprechen; vgl. z. B. Confessio VII 3256 ff. (wo „pitee" regiert, da hilft Gott, selbst schlimme Fortuna bleibt da nicht lange; II, 3328 ff. it was never knowe yit that charitee goth unaquit; vgl. ferner II, 3488 ff., V 7713 ff.; an anderer Stelle weist er jedoch jeden irdischen Lohn zurück, vgl. Mir. 10194. — Bei Langland findet sich Ähnliches, z. B. Piers B III, 230 ff.; aber das ist nicht seine letzte Weisheit, er weiß, daß Christus nicht allein nach Verdienst und Schuld richtet, vgl. Piers B, XVIII, 382 ff. (Die Gnade Gottes ist nicht mit den Maßstäben menschlicher Gerechtigkeit zu messen.)

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Schicksals (executrice of Wierdes) 34 ; er steht damit eventuell Boethius näher als Dante, denn auch Boethius kennt eine Dreiheit von Göttlicher Vorsehung — Fatum ( = destinee) — Fortuna 3 5 . Wie verhalten sidi die drei Mächte zueinander? Sind „destinee" und „Fortuna" streng voneinander zu scheiden? Wie Patch gezeigt hat, können Fortuna und Fatum miteinander identisch sein, aber es wäre doch möglich, daß mindestens bei Chaucer, dem Schüler des Boethius, Unterschiede bestehen. Wer „destinee" oder „fatum" sagt, meint nicht dasselbe wie der, welcher von Fortuna spricht; Fortuna meint den rasdien Wechsel irdischen Glücks, Fatum meint den strengen Plan, beide Begriffe können sich also, wenn sie auch gelegentlich gleichgesetzt werden 3 6 , widersprechen; Jean deJMeun, der Fortuna eine „pucele nice et sote" nennt, könnte nicht dasselbe von „destinee" sagen; wie auch Dantes launische Glücksgöttin Fortuna nicht soviel bedeuten kann wie Fatum; umgekehrt meint Chaucer, wenn er „destinee" als Beamtin Gottes bezeichnet, daß alles Geschehen nach einem bestimmten Plane abläuft und eben nicht von ungefähr. Gehen wir, um das Verhältnis von „destinee" (oder wierdes) zur Fortuna zu untersuchen, von der bereits zitierten Stelle im Troilus aus. But O Fortune, executrice of wierdes O influences of the hevens hye! Soth is, that under G o d ye ben Our hierdes, T h o u g h to us bestes been the causes wrie.

Hier werden folgende Begriffe mehr oder minder lose aneinandergereiht: Fortuna, das ausführende Organ des Fatums; Einfluß des Himmels ( = offenbar: astrologische Mächte); Gott, unter dessen Herrschaft all die Mächte ihre Macht ausüben; und endlich sind „wir Tiere" nicht in der Lage, die Gründe, d. h. wohl die Zusammenhänge zu durchschauen. Prüfen wir nun den Kontext dieser Chaucerschen exclamatio. Pandarus will Troilus mit Criseyde zusammenbringen, denn sie sollen ihre erste Liebesnacht erleben; daher hat er Criseyde zum Abendessen eingeladen und Troilus heimlich in einem Zimmer verborgen. Aber Criseyde ist den Absichten ihres Oheims gegenüber mißtrauisch; sie ist darauf bedacht, ihren guten Ruf zu wahren und deswegen will sie nach dem Essen fortgehen: aber siehe da, ein Zufall kommt dazwischen — es regnet, und zwar so heftig, daß es keinen Sinn hätte, jetzt das schützende Haus zu verlassen. Das sieht Criseyde ein; und sie folgt der Aufforderung ihres Oheims, bei ihm im Hause zu übernachten. Das hat sich Pandarus gewünscht; und mit allerhand Kniffen und Finten gelingt es ihm, den schüchternen Troilus ins Schlafzimmer seiner Geliebten zu befördern; er läßt das Paar diskret allein und endlich, nach langem Hin und Her, sinkt Criseyde in die Arme ihres Liebhabers. „ N u n ergieb dich mir", fordert er sie 3 4 Troilus I I I , 617 ff. wierdes übersetzt Fatum und = destinee, vgl. A. Brandl, Zur Vorgeschichte der weird sisters, Forsdig. u. Charakteristiken, ed. H o r n , Schirmer, Gade, Berlin 1936, pp. 88 ff. Vgl. a. Jefferson, Chaucer and the Consolation, pp. 61 ff. 35 Dantes Formulierung ist bei Boethius schon vorgeformt, vgl. Cons. IV, pr. 6 „ D e u s . . . fato haec ipsa quae d i p o s u i t . . . amministrat." für Chaucers Beziehungen zu Dante vgl. Tatlock, MP III, pp. 367 ff. 3 8 A u d i Dante kennt die Gleidisetzung von Fatum und göttlichem Willen, vgl. Inf. X X I , 82 voler divino e fato destro.

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auf, glücklich und triumphierend; und da gesteht sie ihm: „Ich wäre nicht hier, wenn ich midi nicht schon längst dir ergeben hätte." Dieser lebendigen, mit realistischer Psychologie erzählten Episode liegt ein gedankliches Schema zugrunde, das wir z . T . auf uns bereits vertraute Vorstellungen zurückführen können. Das Ziel des Geschehens ist: Troilus und Criseyde sollen ein Liebespaar werden (und noch darüber hinaus: sie sollen ins Unglück kommen). Auf dieses Ziel wirken mehrere Faktoren und Mächte hin. Einmal das Fatum „ T h e influence of the hevens hye", eine astrologisch zu verstehende Macht also, die, nicht ohne den Willen Gottes, über die Menschen verfügt 3 7 . Der himmlische Einfluß erscheint in der Form eines heftigen Regens. Wir mögen das für „Zuf a l l " halten; „wir", d. h. die Menschen, die wir unvernünftig wie die Tiere sind. Aber was wie Zufall aussieht, kommt eben nicht von ungefähr. Es geschieht innerhalb eines bestimmten Planes, dessen Zusammenhang uns im einzelnen verborgen ist; „ Z u f a l l " ist die Form, in der wir das Walten des Fatums sinnfällig erleben, „Fortuna" ist also gewissermaßen ein Aspekt des Fatums 3 8 . De facto laufen Fatum und Fortuna auf das gleiche hinaus; was einer als den Grund des Geschehens angibt, hängt davon ab, wie tief er blicken kann. (Daraus erklärt es sich, daß man Fortuna und Fatum gleichsetzen konnte.) Aber der Gehalt der Erzählung ist damit noch nicht erschöpft. Dem himmlischen Plane korrespondiert die menschliche Absicht. Pandarus, Troilus, Criseyde: sie alle wollen etwas, und zwar — im Grunde — dasselbe, wenn auch verschieden intensiv und vor allem verschieden bewußt; sie wollen die Liebesvereinigung. Damit streben sie nach etwas Irdischem, Ungeistigem, Unphilosophischem. Sie wissen nicht, daß die Geschlechtsliebe ein vergängliches, also letzten Endes wertloses Gut ist; Chaucer, der die Geschichte erzählt, weiß es; wenn er auch die sinnliche Liebe nicht ausdrücklich entwertet, so zeigt er doch am Schluß seines Gedichtes, daß es etwas anderes, Höheres, gibt 3 9 . Demzufolge nun hat der geschilderte Vorgang nicht nur zwei, sondern drei Aspekte. Sagen wir: einen psychologischen, einen schicksalhaft-astronomischen und einen fortunahaft zufälligen. Daß Criseyde bei Pandarus bleibt, kann man einerseits als einen Erfolg menschlichen Planens verstehen — auch als einen Erfolg von Criseydes eigenem Wollen, denn im Grunde will sie sich Troilus hingeben —, anderseits als ein Ergebnis von Gottes „ f a t a l " bestimmender Vorhersicht; und endlich kann man sagen, Criseyde blieb da (und wurde des Troilus Geliebte), weil es „zufällig" an diesem Abend regnete. Der Zusammenhang aller drei Aspekte wird nicht klar, kann vielleicht auch gar nicht klar sein; aber er besteht; allein die Tatsache, daß Gott da ist, spricht dafür. Chaucer, der Erzähler, weiß, daß alles „irgendwie" zusammenhängt; wenn Troilus III, 618 f. Vgl. Patdi, Fortuna p. 10: „Fate . . . operated in a casual w a y " . 3 9 Daß an Menschen, die am Irdischen haften, Fortuna leichter „ansetzen" kann, wurde oben erwähnt. Vgl. auch Patch, Troilus on Predestination, J E G P X X V I I , pp. 319 ff. Darüber unten noch Genaueres. 37

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er sidi auch selbst als unwissenden Menschen bezeichnet, so ist er doch durch seine wenigstens annähernde Einsicht den anderen Menschen, besonders diesen drei auf das Sinnliche gerichteten Geschöpfen, überlegen. Der Erzähler weiß relativ viel; er überblickt, wenn auch sein Standpunkt nicht dem Gottes gleich ist. In Chaucers „The Marchauntes T a l e " wird Ähnliches sichtbar. Der alte Ritter Januarius — ein typischer senex amans — verbringt mit seiner jungen Frau Majus eine Liebesstunde, die drastisch bis zum Ekelhaften geschildert wird. Ob die junge Frau ihrem Manne gern zu Willen war, will Chaucer nicht sagen 4 0 ; doch hat sie am gleichen Tage, kurz bevor sie die Leidenschaft ihres Mannes über sich ergehen lassen mußte, den Liebesbrief eines hübschen jungen Knappen bekommen; jetzt beginnt sie sich seiner zu erbarmen. Wie ist das möglich? Der Dichter gibt mehrere Gründe zur Auswahl: Were it by destinee or aventure Were it by influence or nature Or constellacioun that swidi estaat T h e hevene stood, that tyme fortunaat Was for to putte a bille of Venus Werkes — For alle thing hath time as seyn this clerkes — T o any woman for to get her love, I kan nat seye; but grete G o d above, T h a t knowth that non act is causelees, H e deme of all, for I wole holde m y pees. But sooth it is, how that this freshe May H a t h taken swich impressioun this day . . . 4 1

Wenn Chaucer auch sehr deutlich zu verstehen gibt, daß die schöne junge Frau sich vor ihrem widerlichen alten Ehegatten ekelte und sich deswegen dem jungen Knappen zuwandte, so begnügt er sich doch keineswegs mit dem Behaupten einer psychologischen Kausalität. Daß so etwas geschehen kann — nämlich: daß eine Frau ihrem Manne untreu wird und die Ehe bricht —, das ist nicht aus einem einzigen Grunde zu erklären. Mehrere Faktoren müssen zusammenspielen, welche es auch immer sein mögen: der Dichter deutet sie nur an und zeigt den Zusammenhang zwischen den einzelnen Faktoren nicht exakt auf — Gott allein weiß, wie es wirklich gewesen ist. Sein Wille, Schicksal (Sterneneinfluß), Zufall, menschliche Neigung und Disposition wirken irgendwie zusammen. Zu vergleichen ist endlich noch „ T h e Nonne Preestes T a l e " . Chaunticleer, der Hahn, hat geträumt, er werde einem schrecklichen, ihm noch unbekannten Tier begegnen — dem Fuchs; er fühlt sich gewarnt und hat Angst. Sein Lieblingsweib Pertelote lacht ihn aus und behauptet, Träume hätten keinerlei Vorbedeutung; sie interpretiert seinen Traum rein physiologisch 42 . Gegen ihre Thesen führt der Hahn gewichtige Gegengründe und Autoritäten an, die sachlich — daran ist kein Zweifel — Pertelotes Argumente aus dem Felde schlagen. Es gibt — nach den Autoritäten des Hahns — Vorherbestimmung, die sich uns 40 41 42

Canterbury Tales IV, v. 1961. Canterbury Tales IV, vv. 1967 ff. Vgl. VII vv. 2881 ff. vgl. Curry, Chaucer and the Med. Sciences, pp. 219ff.

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im Traume ankündigen kann. — Was geschieht tatsächlich? Chaunticleer trifft den Fuchs und wird überlistet und gefangen — allerdings rettet er sich durch einen Gegentrick. W e r hat nun recht, der Hahn oder die Henne? Ist das Schicksal prädeterminiert oder nicht? Die Fakten sprechen für Determination — denn tatsächlich trifft der Hahn den Fudis — , aber der Erzähler (der Nonnenpriester, also wohl auch Chaucer selbst) will ausdrücklich nicht sagen, ob alles Geschehen determiniert ist: bricht aber, als der Hahn gefangen ist, in den schmerzlichen Ruf aus: „O destinee, thou canst nat been eschewed" 43 — scheint also doch irgendwie an den ehernen Zwang der Ananke zu glauben. Allein, Chaunticleer ist nicht ohne Schuld an seinem Unheil. H a t ihn nicht ein Traum gewarnt? Und sind nicht seine Argumente besser als die der aufklärerischen Skeptikerin Pertelote? Aber die Leidenschaft zu seiner Lieblingsfrau betört den Hahn so sehr, daß er all seine Weisheit vergißt — er will nicht in ihren Augen als unmännlicher Feigling dastehen. Dem Fuchs erliegt er nur (gegen alle naturalistische Wahrscheinlichkeit), weil er sidi von Schmeichelei betören läßt — wer aber einem Schmeichler erliegt, ist stolz: sein Stolz und seine sinnliche Leidenschaft also bringen den Hahn (beinahe) zu Fall. Wieder wirken Schicksal und „menschliche" Neigung zusammen; dazu kommt noch der Kairos, denn das Schicksal des Hahnes ereignet sich an einem besonderen Tage 4 4 . Wie im „Troilus" und wie in der Merchant's Tale wirken Schicksal ( = Praedestination), Zufall, menschliche Leidenschaft und Neigung zusammen. Am tiefsten in diese Zusammenhänge und Probleme führt eine Betrachtung der Knight's Tale. In ihr erscheint nicht nur das Zusammenwirken von Zufall, Fatum und menschlicher Neigung in besonders ausgeprägter Form; in ihr wird auch ein Weg aus der schicksalhaften Verstrickung gewiesen: im Anschluß an Boethius, der in der Knight's T a l e mehr als irgendwo anders bei Chaucer verarbeitet ist. Wie ich zu zeigen hoffe, ist die Struktur dieser Erzählung auf den Boethianischen Begriffen des fortunahaften Zufalls, menschlicher Verblendung, des Schicksals und endlich der befreienden Erkenntnis aufgebaut. W i r beginnen mit einer Betrachtung des Zufälligen und des Schicksals in der Knight's T a l e ; wir haben dabei ständig auf Chauceres Vorlage, die Teseida Boccaccios, zu blicken, denn es wird sich bald herausstellen, daß Chaucer, anders als Boccaccio, zunächst die Rolle des Zufalls stärker betont und dann, ebenfalls anders als Boccaccio, die Rolle des (astrologisch zu verstehenden) Schicksals. „The Knightes T a l e " ist die Geschichte einer großen Liebe und einer großen Eifersucht; und darum ist es nötig, daß Palamoun und Arcite, die beiden „Helden", ihre Dame, die sie lieben werden und um derentwillen sie sich fast umbringen werden, erst einmal sehen; das „passiert" eines Tages. Palamoun und Arcite sind in dem Gefängnis, das Theseus ihnen angewiesen hat; an das Gefängnis grenzt ein Garten: darin geht eines Tages Emilye, des Theseus Ibid. 3338. Vgl. Robinson zu v. 3187. — Schon daß der H a h n die lateinische Sentenz „mulier est hominis confusio" mit „womman is mannes joye and al his bliss" übersetzt, zeigt, daß er nicht ganz bei Sinnen ist. Vgl. vv. 3157 ff. 43

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Schwägerin, spazieren — so „passiert" es — „it fil ones" 4 5 . So „passierte" es audi bei Boccaccio „avenne nova cosa una m a t t i n a " 4 6 ; aber während bei Boccaccio Arcita die D a m e bemerkt,, weil er ihren herrlichen Gesang hört, kommt es bei Chaucer ganz zufällig 4 7 , daß Palamoun (er, nicht Arcite sieht die D a m e zuerst) Emilye erblickt. Chaucer hat also den ohne weiteres verständlichen Kausalzusammenhang Boccaccios durch den Zufall ersetzt. D a s muß auffallen, wenn sich auch aus dieser einen Änderung noch nicht viel entnehmen läßt. Aber sehen wir weiter zu. Eines Tages „passierte es" — „it happed on a d a y " —, daß Perotheus kam, ein Freund des Arcite und des Theseus; er bittet den Arcite frei 4 8 . D a s ist ein wichtiger Handlungsfortschritt: jetzt ist Arcite seiner Bande ledig und hat die Möglichkeit, sich seiner D a m e irgendwie zu nähern — was er auch später, entstellt und verkleidet, tut. D a s kann nur geschehen, weil Perotheus zu Theseus kam — und das war eben Z u f a l l 4 9 . Palamoun bleibt noch eine Zeit im Gefängnis, dann bricht er aus: wie ist das möglich?

j t fg^ t j l a t ¡ n t h e seventhe yeer in May The thridde night (as olde bookes seyn That al this storie teilen more pleyn), Were it by aventure or destinee — As, whan a thyng is shapen it shal be — That soone after midnight Palamoun By helping of a freend, brak his prisoun 50 . Wenn Chaucer bei dieser Gelegenheit auf die alten Bücher, welche diese Geschichte ausführlicher erzählten, hinweist, macht er sich einen Witz mit seinem Zuhörer: erstens gibt es nur ein „altes Buch", nämlich eben Boccaccios Teseida, und zweitens weiß Boccaccios weder von der dritten Nacht im Mai, noch von „aventure or destinee" etwas: sondern sein Palemone bricht aus, weil er gehört hat, Arcita — sein Rivale — sei verkleidet in Athen, und der Ausbruch bei Boccaccio kann nur gelingen, weil er einen Freund zum Helfer hat. Boccaccio erzählt ausführlidi die Vorbereitungen zur Flucht; davon weiß zwar Chaucer auch 5 1 , aber er schiebt Fluchtvorbereitungen, Freund etc. in den Hintergrund: ihm ist die Hauptsache, daß die Flucht geschah, und z w a r offensichtlich deswegen geschah, weil es eben geschehen sollte. Chaucer ersetzt, deutlicher und auffälliger als bisher, Boccaccios kausalen Zusammenhang durch den schicksalmachenden und schicksal-bedingten Zufall. D a Boccaccios Palemone weiß, daß sein Rivale in Athen ist, sucht er ihn und trifft ihn dort, wo er vermutet; Chaucers Ritter treffen sich zufällig 5 2 . Z w a r hat auch Palamoun einen P l a n : er will sich 53 einen T a g lang im W a l d e Canterbury Tales I 1037 f. Teseida III, 9. Ibid. 1074 and so bifel, by aventure or cas. 4 8 Ibid. 1189. 4 9 Boccaccio sagt nur „in questo tempo" (111,47), betont also das Zufällige nidit. 6 0 A. a. O. 1462 ff. vgl. Robinsons Anmerkungen z. St. Man könnte einwenden, Chaucer habe kürzen wollen und daher die Fluchtvorbereitungen gestrichen, aber damit ist die Einführung des Schicksals nicht erklärt. 6 1 Vgl. die ff. vv. 5 2 Vgl. Tes. V, 9—26. 45

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A. a. 0.1480.

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verborgen halten und dann nach Theben gehen; von dort aus will er Emilye eventuell mit Gewalt erringen. Doch es kommt ganz anders als er denkt. Denn Arcite, der auch nicht weiß, was ihm bevorsteht, geht „zufällig" in denselben Wald, in dem sich „zufällig" Palamoun verborgen hält 5 4 . Fortuna fängt den Arcite ein, und damit ist auch Palamoun gefangen 5 5 . Sie beschließen nun einen Zweikampf (der allein entscheiden soll, wer Emilye lieben darf: ohne irgendwelche Aussichten auf Erfolg); am nächsten T a g e werden sie dabei von Theseus überrascht. Sein Dazwischenkommen hat den gleichen aventurehaften Charakter wie die Begegnung Palamouns mit Arcite; aber an dieser Stelle holt Chaucer weit aus — weiter als irgendwo anders. Während er sonst nämlich, wie wir sehen, verschiedene Aspekte zur Diskussion stellt, und nur andeutet, daß ein tieferer Zusammenhang besteht, sagt er hier klar, was er denkt; er wird beinahe, ganz gegen seine Gewohnheit, dogmatisch. Er hat von Boethius gelernt, daß der Zufall (casus) zwar eine Rolle im Weltgeschehen spielt, aber nicht letzte Instanz ist 56 . Der Zufall, das unerklärliche Ungefähr, das man so oft auf die Laune der spielenden Fortuna zurückführt, beherrscht die Welt nicht wirklich; in Wahrheit lenkt Gott allein die Welt mit seiner Voraussicht, die wir, von unserem menschlichen, also begrenzten, Blickfeld aus, Fatum ( = destinee) nennen. Auf Grund dieser Erkenntnisse formuliert Chaucer die schon oben zitierten Verse: T h e destinee, ministre general T h a t executeth, in the World overal T h e purveyance that G o d hath seyn beforn . . .

Damit gibt er den Blick frei in den innersten Punkt des Geschehens: er läßt uns soweit schauen, wie überhaupt ein Mensch schauen kann. Es scheint nicht abwegig, zu vermuten, daß alle bisher betrachteten Zufälle einem bestimmten göttlichen Plane entspringen; alle Zufälle sind ein Arrangement des Schicksals — oder Gottes, der Palamoun und Arcite zu einem bestimmten Ende hinführen will und sich dazu der Zufälle bedient. Theseus ist mit in diesen Plan einbezogen 57 . Durch sein Eingreifen bekommen die jungen Ritter ein konkretes Ziel und wenigstens einer von ihnen hat Aussicht auf Emilyes Hand. Bis zu einem gewissen Grade also übernimmt Theseus die Funktion des Disponierenden — er wird zu einem Instrument der Vorsehung, so wie es bisher der Zufall war —, aber er maßt sich keine endgültige Entscheidung an: die soll das Schicksal haben 58 . Tatsächlich behält das Schicksal die Leitung des Geschehens von nun an in Gestalt der — astrologisch 5 4 Ibid. 1506 u. 1516 beidemal steht „by aventure" im Vers, ist also nicht aus Reimzwang zu erklären. Chaucer schärft außerdem noch ein, daß gerade daß U n erwartete o f t geschieht (vgl. vv. 1512 ff.). 5 5 V. 1489 f. 5 9 In der Teseida gibt es die zentrale Rolle der destinee nicht, wenn auch Boccaccio einmal Fortuna „alta ministra del m o n d o " ( V , l ) nennt und auf den erstaunlichen Zufall der Begegnung hinweist. Vgl. V, 77 zu Kn T 1668 mit Robinsons Anmerkung. 6 T Vgl. a. a. 0 . 1 6 7 0 ff. 6 8 1842 destinee, 1861 Fortune.

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zu verstehenden — Götter: Venus, Mars, Saturn 3 9 . Sie dirigieren das von Theseus angesetzte Turnier, in dem um den Besitz von Emilyens H a n d gestritten wird; sie bringen es zur Entscheidung. Während Boccaccio eine große Menge von Rittern schildert, die vereinbarungsgemäß auf beiden Seiten helfen, beschreibt Chaucer nur zwei ausführlich. Diese beiden sind Lycurgus und Emetreus, Vertreter, wie Curry gezeigt hat, des saturninischen und des martialischen T y p u s 8 0 . Saturn hilft dem Palamoun, Mars dem Arcite; es ist also höchst bedeutsam, daß Palamoun vom martialischen Emetreus besiegt wird 8 1 . Mars triumphiert, aber Saturn ist schlauer und erfahrener als sein etwas robuster himmlischer Kollege, er beginnt erst nadi diesem Sieg zu operieren und schickt, auf Bitten der Venus, eine Furie aus der Hölle, über deren Anblick Arcites P f e r d so sehr erschrickt, daß der unglückliche Reiter aus dem Sattel stürzt und nach wenigen T a g e n an den Folgen des Sturzes stirbt. So hat das Schicksal gesprochen — und was soll nun geschehen? Palamoun ist übriggeblieben und könnte Emilye heiraten, aber er hat das Turnier verloren. Allerdings, Arcite hat ihm auf dem Totenbett die Braut vermacht! D a r f er sie annehmen? Muß er sie annehmen? Verwirrung über Verwirrung! D a s Schicksal (und die Götter) scheint mehr Unheil als Ordnung zu stiften. Aber das Schicksal ist ja Gottes Wille — darf man ihn anklagen und sagen, er habe Unheil gestiftet? Wir haben bisher die Rolle des Zufalls und des Schicksals betrachtet; die Rede des Theseus, die wir nun zu untersuchen haben, wird uns zeigen, wie sich der Mensch zu diesem verwirrenden und verwirrten Geschehen verhält. Die wichtigste Aufgabe, die dem Menschen gestellt ist, besteht im Erkennen des göttlichen Planes; dazu muß er ein Denker sein, der über den Dingen steht: und das ist Theseus. Seine geistige Freiheit zeigte er schon, als er Palamoun und Arcite verstehend begnadigte; jetzt zeigt er seine Freiheit, Klugheit, die T i e f e seines Denkens noch einmal und imponierender. Er hat gewissermaßen Boethius gelesen; er hat auf jeden Fall begriffen, was Boethius will. Die „Consolatio" und den Sinn der Knight's T a l e begreifen ist dasselbe. Man muß die Frage beantworten, wie sich das zufällige, z u m Teil unheilvolle Einzelgeschehen mit der Tatsache des göttlichen Weltregimes vereinen läßt. D a s unternimmt Theseus in seiner großen Rede, die jetzt zu analysieren ist. ßie ist in vier Teile gegliedert: 1. Zwischen Gott und Welt besteht ein Wesensunterschied. Er ist unveränderlich, ewig und vollkommen; die Welt ist stückhaft, daher der Begrenzung und dem Wechsel unterworfen. Die Elemente sind begrenzt, insofern als sie einen Bereich haben, den sie nicht überschreiten dürfen; alles Entstehende ist begrenzt durch den T o d ; mit Geburt und T o d gibt es Wechsel. Begrenzung und Wechsel sind also das Prinzip des irdischen Seins. Aber dieses Prinzip ist Vgl. Curry, op. cit. pp. 111 ff. Ibid. pp. 130 ff. Bei Boccaccio besiegt den Palemone das menschenfressende Pferd des C r o m » (VII,120). 69

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K l e i n s t ü c k , Chaucers Stellung

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gut; es ist auf Liebe gegründet; die Welt ist in Ordnung, so wie sie ist: nicht obwohl, sondern weil sie der Begrenzung und (km Wechsel unterworfen ist. Denn ohne diese beiden Faktoren wäre die Welt disparat, eines würde versuchen, sich an die Stelle des anderen zu setzen62. 2. Die entwickelten Grundeinsichten werden nun mit Beispielen belegt 63 . 3. Dann werden sie auf die konkrete Situation bezogen. Die Welt ist gut, Jupiter ist ihr liebevoller Lenker; es wäre unsinnig, sich gegen seine Ordnung aufzulehnen. Wenn man jetzt Arcites Tod betrachtet, erscheint er gar nicht mehr als ein Übel: warum also in Trauer verharren 64 ? 4. Da Theseus Gottes Willen und die Welt kennt, rät er jetzt, nachdem man getrauert habe, sich wieder zu freuen: er rät also, sich in den gottgewollten Rhythmus des Geschehens einzufügen — und die Hochzeit Palamouns mit Emilye zu feiern 65 . Um diese Rede zu komponieren, hat Chaucer zwei Quellen benützt: Boccaccios Teseide 66 und die Consolatio des Boethius87. Audi Boccaccios Teseo weiß, daß alles, was lebt, sterben muß, so will es Gott, welcher der Welt ihre Form gegeben hat 68 ; es wäre schierer Unsinn — „chiara vanitate" 69 — sich gegen seinen Willen aufzulehnen. Darum zieht er den gleichen Schluß, wie sein englischer Namensvetter: man sei nun berechtigt, die Hochzeit zu feiern: die Trauer zu lassen und sich der Freude zu widmen. Aber Theseus unterscheidet sich beträchtlich von seinem italienischen Vorbild. Teseo nimmt Wechsel, Tod etc. als facta bruta hin — während Theseus begreift, daß es gar nicht anders sein kann: ja, sogar daß Wechsel und Tod auf die göttliche Liebe zurückzuführen sind. Teseo sagt: so ist es; Theseus sagt: so muß es sein, und er zeigt die Gründe auf. Theseus ist' ein Philosoph, ein Schüler des Boethius. Um den Einfluß des Boethius richtig zu fassen, müssen wir uns kurz den Gedankengang der Consolatio klarmachen. Boethius fühlt, daß ihm Unrecht geschehen ist: O stelliferi conditor orbis Omnia certo finde gubernas, Hominum solos respuis actus Meritos recto cohibere modo. Nam cur tantas lubrica versat Fortuna vices? Premit insontes Debita sceleri noxia poena At perversi resident celso . . . solio 70 . 2987/3016. Vgl. hierzu E. Wolff, Die goldene Kette, etc. Hamburg 1947. 3017/40. 6 4 3041/60. 8 5 3067/74. 8 6 Teseida XII, 6—20. Vgl. Robinsons Kommentar. 6 7 Vgl. Jefferson, Chaucer and the Consolation, Und die Kommentare von Robinson und Skeat. — Boethius zitierte ich nach der Ausgabe von K. Büdiner, Heidelberg 1947. 6 8 XII,6 circumscrisse, wie Dante, Purg. XI,2; Par. XIV,30. 8 9 Tes. XII,11. 7 0 Boethius I, m 5. 62 63

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Hierzu erläutert F. Klingner: „Die Klage des Boethius führt weit über das einzelne Unredit hinaus... Die Sache des Guten überhaupt scheint auf dem Spiele zu stehen"71. Das Erlebnis eines einzigen wirklichen Unrechts macht die göttliche 'Weltordnung fraglich. Die Welt, in der so etwas geschehen kann, erscheint nicht als Ordnung, sondern als Chaos; ihre Herrin scheint Fortuna, allein Fortuna zu sein. Aber Boethius glaubt das nicht wirklich; eigentlich hat er nur vergessen, was er glaubt; darum ist der erste Schritt, den die Philosophie ihren Zögling tun läßt, der, daß sie ihm seinen Glauben ins Gedächtnis ruft. Boethius gibt sehr schnell zu, daß er wirklich an Gott und seine Gerechtigkeit glaubt; darauf gründet die Philosophie ihre folgenden Untersuchungen: Habemus veram de mundi gubernatione sententiam, quod eum non casuum temeritati, sed divinae rationi subditam credis 72 .

Auf diese sententia bauen sich die Bücher I—IV auf. In ihnen wird gezeigt: die Wechselfälle dieser Welt, die wir zunächst als Unredit, als der blinden Laune Fortunas entspringend, ansehen, lassen sich als sinnvoll begreifen; denn durch jeden Schicksalschlag bekommt der Mensch Gelegenheit, sich, seine Situation in der Welt, und damit die wahre felicitas, die nicht in Besitz und äußeren Ehren besteht, zu begreifen73. Als dann Boethius noch einmal mit seiner Grundfrage einsetzt und sich trotz aller Beweise der Philosophie noch einmal wundert, daß die so regellos erscheinende Welt von Gott gelenkt werde — „minus enim mirarer, si miscerei omnia fortuitis casibus crederem" —, da erklärt die Philosophie, diese Frage sei besonders schwierig zu beantworten, doch wolle sie versuchen, eine wenigstens in den Prinzipien einleuchtende Erklärung zu geben74. Sie legt dar: das Viele und Veränderliche — das also, was uns an Fortua glauben läßt — geht auf das Fatum zurück; das Fatum wiederum ist die Art, wie wir die göttliche Providentia wahrnehmen (denn wir Menschen können nicht von Gott her sehen). Gott ist der eigentliche, der planende Lenker der Welt; was unseren Augen wie Zufall erscheint, entspringt seinem gerechten und vernünftigen Willen. Nichts fällt aus der göttlichen Ordnung heraus; Gott hält alles in Liebe zusammen75. Wenn dem so ist, dann muß man zugeben „omnem bonam esse fortunam, . . . omnis fortuna . . . bona, quam vel iustam constat esse vel utilem"76. Damit sind die Zweifel des Boethius behoben. Von hier aus gewinnen wir einen Zugang zur Theseusrede. Nicht umsonst entnimmt Theseus seine wichtigsten Argumente dem 6. Kapitel und dem 6. Gedicht des 4. Buches der Consolatio, das wir soeben analysiert haben. Auch in der Knight's Tale ist die Frage nach dem Verhältnis des wechselvollen Geschehens zum Willen Gottes gestellt; wenn auch nicht ausdrücklich, so doch dadurch, daß der Autor selbst alles auf Destinee und Purveyance zurückführt. 71 72 73 74 76 76



Vgl. F. Klingner, Römische Geisteswelt. Leipzig 1943, pp. 414 ff. I, pr. 6. Soweit folgen Jean de Meun, Machaut und viele andere dem Boethius. IV, pr. 6. IV, m 6; dasselbe schon in II, m l ; III, m 9. IV, pr. 7.

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Theseus stellt sidi auf den gleichen Standpunkt wie der Autor, und das heißt, er stellt sich auf den gleichen Standpunkt, den Boethius mit Hilfe der Philosophie erreicht. Sagen wir also: Boethius, Chaucer, Theseus erkennen und legen dar, daß Gott der eigentliche Lenker des irdischen Geschehens ist; Chaucer läßt seine durch Boethius bestimmte Position von Theseus auslegen. So wie in der Consolatio schwindet in der Knight's T a l e das Böse, Fragwürdige, Unbegreifliche aus der W e l t ; die Zufälle haben seinen Sinn und lassen sich, prinzipiell wenigstens, aus dem göttlichen Weltplan verstehen; darum können wir alles, was uns zustößt, freudig hinnehmen 77 . W i r dürfen nicht übersehen, daß Boethius sich, genau so wie Chaucer, nicht vermißt, eine lückenlose Erklärung des Geschehens zu geben. Die Philosophie erkennt das Grundsätzliche; und das Grundsätzliche wird nur dann sichtbar, wenn der Mensch gläubig vertraut und mit der Tatsache, daß Gott ist, Ernst macht. Bei Boethius wie bei Chaucer finden wir ein „Credo ut intelligam". Chaucer hat den Boethius intensiver rezipiert als etwa Jean de Meun oder Dante. Denn für Chaucers Knight's Tale gibt die Consolatio das geistige Gerüst; in der Knight's Tale spielen Zufall und Schicksal eine aktive und hervorragende Rolle — wie wir sahen, betont Chaucer den Zufall viel stärker als Boccaccio — und zugleich, damit ist auch das Denken, mit dem der Zufall begriffen und in die göttliche Weltordnung „eingebaut" wird, rein Boethianisdi. Chaucer hat dem Zufall, dem Spiel der Fortuna, eine so hervorragende Rolle gegeben, um zu zeigen, wie man durch philosophische Spekulation die scheinbar von Fortuna regierte Welt als sinnvollen Kosmos begreift 7 8 . Doch ist mit dieser Erkenntnis unsere Arbeit noch nicht beendet. Wie die Betrachtung von Jean de Meun, Machaut und anderen gezeigt hat und wie sich aus einzelnen Erzählungen Chaucers entnehmen läßt, haben die Menschen häufig eine bestimmte Disposition, die sie für das Bewirktwerden von Fortuna „anfällig" macht. Wenn Chaunticleer den Schmeicheleien des Fuchses und den Reizen seiner Lieblingsfrau erliegt (es sei gestattet, ihn zu den Menschen zu rechnen), wenn Criseyde bei Pandarus bleibt, um des Troilus Geliebte zu werden, wenn Majus sich des jungen Knappen „erbarmt": dann sehen wir, daß sie alle eine bestimmte Willensrichtung haben, die den Be7 7 Bei Boethius wie auch bei Chaucer handelt es sich letzten Endes um das Problem der Theodizee. W e n n man meint, die W e l t sei eine von G o t t gestiftete und gelenkte Ordnung, dann erscheint auch das Übel in jeder F o r m als berechtigt und sinnvoll. Vgl. hierzu H . Meyer, T h o m a s von Aquin, pp. 340/1, wo kurz das Problem der T h e o dizee skizziert wird. Mit T h o m a s scheint sich Sertillanges weitgehend zu identifizieren, er schreibt: „Das Übel ist ein Übel; aber daß es ein Übel gibt, ist ein Gut, nicht immer für das Ding, an dem sich das Übel findet, aber immer für das Ganze — wenn man nur auf die Ordnung und ihre letzten Auswirkungen sieht." Vgl. Sertillanges, Thomas von Aquin, deutsche Übers, von R . Grosdie, Hellerau 1928 pp. 401 ff. Der Satz trifft auf die von Theseus interpretierte Situation zu: der T o d des Arcite ist für ihn vielleicht ein Übel, nicht aber für das Ganze; denn jetzt herrscht wieder Ordnung, Palamoun kann Emilye heiraten und der H o f des Theseus braucht nicht mehr zu trauern. Vgl. u. pp. 120.fi. 7 8 U m Mißverständnissen vorzubeugen: ich will damit nicht behaupten Chaucer sei „tiefer" als Dante, sondern lediglich sagen, daß Chaucer den Boethius tiefer rezipierte als Dante.

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schlüssen der höheren Mächte irgendwie — genauer als „irgendwie" können wir es nicht bezeichnen — entspricht. Es ist wichtig, daß wir von Willensrichtung sprechen, denn Troilus, Pandarus, Criseyde etc. werden von ihrem Willen, nicht von ihrer Vernunft geführt. Wir müssen „Wille" hier im antik-mittelalterlichen Sinne, nicht im modernen Sinne Sdiellings oder Nietzsches verstehen 79 ; wenn nämlich die mittelalterliche Philosophie den Menschen als „animal rationale" definierte, dann stellte sie mit der Definition zugleich eine Forderung: der Mensch sollte sich von seiner Vernunft lenken lassen und ihr seinen Willen unterwerfen. Zwar ist nun die cholastische Lehre vom Willen 80 nicht in allen Einzelheiten und Komplikationen in die Profanliteratur eingedrungen, aber das Problem des Willens, im Sinne etwa des antiken Thymos, ist ihr doch vertraut; da dieses Problem, soviel ich weiß, noch nicht behandelt worden ist, möchte ich hier einige kurze Hinweise geben, die das Verständnis des Folgenden wesentlich erleichtern. Z. B. Gower sagt: „will sholde ever be governed Of reson more than of kinde", als exemplum für richtiges Verhalten weist er auf Diogenes,, für falsches auf Alexander; Alexander nämlich, behauptet Gower, „hadde set al his entente That reson might him noght governe, Bot of his wil he was so Sterne"81. Lydgate denkt ähnlich abschätzig von Alexander und meint, wohl etwas leichtfertig (die Nachwelt hat ihm nicht recht gegeben), bei Menschen wie Alexander sei der Ruhm von kurzer Dauer 82 , und im „Kingis Quair" lesen wir „The rypeness of reson I lakkit To governe with my wille" 83 . Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, daß Wille für das Mittelalter soviel sein kann wie Thymos. Genau so wie der Held des „Kingis Quair" haben auch Palamoun und Arcite nicht die Reife der Vernunft, um ihren Willen zu regieren, deswegen können sie der Fortuna, dem Zufall, so leicht zur Beute werden. Ihnen fehlt die Gabe, überschauend ihre Situation und sich selbst zu erkennen; so wie Chaucer, im Gegensatz zu Boccaccio, den Fortunaaspekt herausgearbeitet hat, so hat er auch, ebenfalls von Boccaccio abweichend, die beiden Jünglinge als „willens" bestimmt dargestellt, d. h. als affektbeherrsdit und unvernünftig. Ihre Unfähigkeit, sich über die eigene Lage klarzuwerden, erweist sich am schlagendsten in dem Augenblick, als Arcite aus dem Gefängnis entlassen ist. An sich, sollte man meinen, sind die beiden gleich zu beglückwünschen und zu 7 9 Für Schelling ist der Wille Ursein, d. h. das Wesen der W e l t ist Wille, ebenso f ü r Nietzsche; so etwas liegt der antik-mittelalterlichen Philosophie gänzlich fern. (Wenn ich hier v o n Schelling spreche, meine ich die Phase seiner Philosophie, welche durch seine Schrift über die menschliche Freiheit eingeleitet wird.) 8 0 Die scholastische Willenslehre ist kurz zusammengefaßt bei Dante, Purgatorio XVIII, 47 ff. 8 1 Confessio Amantis, III, 1198 ff., 1273 ff., 2440 ff. Gowers Alexanderbild ist uneinheitlich; einmal setzt er ihn einem Piraten gleich (III, 2366 f.) ein andermal preist er ihn als Ritter (VI, 2087 ff.). Es k o m m t darauf an, ob G o w e r im Moment gerade „ritterlich" und oder „christlich" denkt. 8 2 Fall of Princes I, 6259 ff. 8 3 Ed. Mackenzie, London 1939, vgl. 16.

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bedauern; Glück und Unglück sind auf beiden Seiten gleich verteilt. Denn Arcite ist frei — ein Grund zur Freude: aber er ist aus Athen verbannt — ein Grund zur Trauer, denn er wird nie mehr die gleiche Luft mit der Geliebten atmen dürfen. Bei Palamoun steht es genau umgekehrt. Ein nüchterner Betrachter würde auf beiden Seiten Vorteil und Nachteil sehen; aber Palamoun und Arcite sind keine nüchternen Betrachter, sie sehen nur das eigene Leid und das Glück des anderen. „Thyn is the victorie of this aventure", sagt Arcite zu seinem — imaginierten — Gegenüber Palamoun — der dasselbe sagt: „Of al our stryf, god wot, the fruyt is thyn" 8 4 . Beide sehen ihre eigene Chance nicht, und beide übertreiben: denn sie tun so, als habe der Rivale bereits gesiegt. Dabei erwecken sie den Anschein des Über-der-Sache-stehens. Nicht nur, weil sie mit sich reden und reflektieren, sondern deswegen, weil sie ihr eigenes Schicksal im Gesamtschicksal der Welt sehen; sie machen sich Gedanken über Vorsehung, Mensch, Welt überhaupt. Arcite tadelt alle die, welche sich über Fortuna und ihre Anordnungen beschweren; er nennt sich selbst töricht, weil er f r ü h e r über seine Gefangenschaft traurig war und sich frei wünschte (im Gefängnis hatte er das Glück, seiner Geliebten nahe zu sein): aber er sieht nicht, daß auch seine Freilassung ein Werk der Fortuna sein muß; er klagt also über etwas, das er, nach seinen eigenen Worten, freudig hinnehmen sollte. Was wie Erkenntnis aussieht und auch als Erkenntnis gedacht ist, erweist sich bei näherem Zusehen als Unverständnis, Blindheit und Unfähigkeit, sich selbst und die eigene Situation richtig zu beurteilen 85 . Palamoun tadelt genau das Gegenteil von dem, was Arcite getadelt hat; Arcite klagt die Torheit der Menschen an, welche die Anordnungen der Fortuna nicht willkommen heißen: Palamoun klagt über die Ungerechtigkeit der göttlichen Weltordnung. Er sieht in der Welt nur Leid und versteht nicht, warum das Leid sein muß; der Grund des Übels scheint bei der Vorsehung und nicht bei den Menschen zu liegen. Vielleicht ist er etwas klüger — jedenfalls in diesem Augenblick — als sein Nebenbuhler, denn er resigniert schließlich; nur eines kann man wissen: „that in this world greet pyne is" 8 8 . Im Prinzip aber sind beide Ritter einander gleich; beide sind nicht fähig zu wirklicher, durchdringender Erkenntnis der Welt und ihrer selbst. Es war Chaucers Gedanke, beide so einander anzuähneln. Boccaccios Arcita ist sinem Nebenbuhler in jeder Hinsicht überlegen 87 ; er beweist, als ihn Palemone zum Zweikampf auffordert, eine — für seine Verliebtheit — geradezu erstaunliche Einsicht: er will nicht kämpfen, weil, wie er ganz richtig sagt, auch dem eventuellen Sieger die Hand der Dame keineswegs sicher ist; denn sie sind ja beide mit Theseus verfeindet — und außerdem, meint er, könne die Lage sich von allein ändern. Nur Palemone ist verblendet, aber immerhin K n T 1235 ff. und 1282 ff. Das ist natürlich eine subtile Ironie des Dichters. — Germaine F. Dempster notiert diese Stelle nidit. Vgl. Dramatic Irony in Chaucer, Stanf. Univ. Publ. in Lang, a. Lit. vol. 4, 1932. 8 6 Vgl. oben p. 73, Genaueres über Palamouns Weltschmerz Kapitel VI. 8 7 Vgl. besonders Teseida V, 39/63. 84 85

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weiß er sich zu benehmen, er beginnt seine Rede mit einem „Ora m'ascolta, dolce amico caro . . ." 8 8 . Chaucers Ritter wissen nichts von Höflichkeit, als sie zufällig einander im Walde treffen. Palamoun hört zufällig Arcites Liebesklagen; da stürzt er wütend aus seinem Versteck und schreit den Überraschten mit einem „false traitor wikke" — verdammter Lump — an; Arcite wird sofort zornig wie ein Löwe, reißt sein Schwert heraus und quittiert den „traitour" mit einem „verray fool" ( = Dummkopf) 89 . Am nächsten Tage kämpfen sie dann miteinander: da ist von Vernunft und Besonnenheit überhaupt nichts mehr zu spüren, der Dichter vergleicht sie mit wilden Tieren: einem Löwen, einem grausamen Tiger, mit zwei wütenden Ebern. Solche affektbestimmten Mensdien, solche „Getriebene", sind die geeigneten Objekte für Fortuna. Sie sind gar nicht fähig, über sich selbst zu bestimmen, sie brauchen jemand, der sie führt; und geführt werden sie auch: vom Zufall, von den Göttern, von Theseus. Theseus bringt, wie wir sahen, die ganze verfahrene Geschichte zum Schluß wieder in Ordnung; er kann es, weil er Gott und sein Verhältnis zur Welt versteht. Palamoun und Arcite sind unfrei: ist Theseus frei? Man sollte es annehmen; aber Chaucer sagt doch, a l l e s was geschehe sei von destinee bestimmt; Theseus selbst wird durch „the sighte above" zur Stätte des Zweikampfes geführt. Das Schicksal ( = destinee) bedient sich, um ihre Zwecke zu erreichen, der menschlichen Leidenschaften, der „appetytes", und die Jagdleidenschaft des Theseus, die ihn gerade an diesem Tag packte, so daß er in die Nähe der kämpfenden Ritter kam, ist ein solcher „appetyte". Ist er also frei? Vielleicht ist er solange frei, als er, wie Palamoun und Arcite, von der Leidenschaft getrieben ist — macht sidi aber frei, als er zu reflektieren beginnt. Wird Theseus frei durch seine allmählich vollzogene Erkenntnis 90 ? Dass. V, 39. Kn T 1580/96. — Zu Beginn der Kn T, als der Eifersuchtszank ausbricht, ist Arcite noch vernünftiger; er belehrt Palamoun, daß es in der Liebe kein Gesetz gebe und daß daher Eifersucht sinnlos sei; Forderungen dürfe man in der Liebe überhaupt nicht stellen. Aber auch Arcite denkt nicht daran, seinen Anspruch aufzugeben; es zeigt sich also schon hier das charakteristische Nidit-vollziehen der eigenen E r kenntnis. — Boccaccios Ritter sind zunächst durchaus einig und liebevoll; Eifersucht und Unvernunft deuten sich zum ersten Male an in III, 77; in V, 2 bricht die Eifersucht bei Palemone aus. 9 0 Vgl. Kn T 1656/8. — Appetitus (Kn T 1670) scheint in der volksspradilichen Literatur des Mittelalters soviel zu bedeuten wie Trieb oder Hang, was dann (ähnlich wie „will") der Vernunft entgegensteht. Vgl. z . B . Troilus V, 1851 „lo, here thise wrecched worldes appetites" (vor denen der Dichter warnt); Dante, Vita Nuova 38: L'una parte chiamo cuore, cioè l'appetito; l'altra l'anima, cioè la ragione." Bei Thomas ist das komplizierter (so wie auch der Wille bei ihm nicht einfach der Widerpart der Vernunft ist, vgl. Sertillanges, op. cit. pp. 665 ff.). Eine wichtige Stelle dazu ScGentll, X L VII: Inest omnibus appetitus boni, quod bonum est, quod omnia appetunt. — Und dann wird eingeteilt in 1. appetitus naturalis (in his quae cognitione carent) 2. a. animalis (in his quae cognitivum sensum habent) und das wird unterteilt in a) concupiscibilis, b) irascibilis, endlich 3. intellectualis, qui est voluntas. 88

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Eine genauere Antwort läßt sich geben, wenn wir uns nodi einmal an Boethius wenden. Chaucer hat allerdings das V. Buch der Consolatio, in dem es um Freiheit und Vorherbestimmung geht, nicht benutzt, und er weicht auch jedesmal einer eindeutigen, fixierenden Stellungnahme aus 91 . Trotzdem scheint es möglich, Theseus als frei zu verstehen; wir müssen nur, den Anschluß an Boethius nicht im V., sondern im I V . Buch suchen. In pr. 6. weist die Philosophie nach: alles Geschehen entspringt dem unwandelbaren göttlichen Geiste (ex divinae mentis stabilitate procedit). Die Weise (modus) des Geschehens erscheint uns als Fatum, von Gott her gesehen ist sie Providentia. Providentia und Fatum sind nicht identisch, aber sie gehören zusammen; Providentia ist bedingend, Fatum ist bedingt. Das Fatum wird mit einer Kette verglichen, scheint also unausweichlich; es gibt aber einiges (quaedam), das die Kette des Fatums durchbrechen kann. Und zwar: je näher etwas dem ersten Göttlichen ist, desto eher übrwindet es die Kette der schicksalhaften Bedingtheit (fatalis ordinem mobilitatis). Die jeweilige Nähe zum göttlichen Geist ist offenbar nicht schlechthin gegeben, sie kann gesucht und gefunden werden, Gott ruht im Wechsel des Geschehens wie die Nabe im kreisenden Rad; wer im Rad ist, kann sich zentripetal verhalten, der Mitte näher kommen und damit frei werden (tanto aliquid fato liberum est, quanto illum rerum cardinem vicinius petit). Es gibt also außer der absoluten Freiheit Gottes noch eine relative Freiheit. Wer nun kann sich annähern? Das Sich-Nähernde — Boethius spricht nur im Neutrum — muß dem, welchem es sich nähert, irgendwie ähnlich sein. Da Gott die Welt mit Vernunft lenkt, können nur vernunftbegabte Geschöpfe sich annähern; Vernunft aber haben nur Engel und Menschen92. Wird nun nicht gerade im schrittweisen Vorgehen der Philosophie diese Annäherung an Gott vollzogen? Der Mensch kommt, wenn er sich der Philosophie ergibt, in die Lage, sich richtig zu orientieren; d. h. die Welt so zu sehen, wie sie gesehen werden muß: von Gott her. Der philosophierende Boethius wird aus seiner anfänglichen Verstrickung gelöst, so sehr,, daß er sich schon im I I I . Buch den Schlägen der Fortuna nicht mehr unterworfen fühlt. Während er zu Beginn die Welt von einem partikularen Standpunkt aus betrachtete, gewinnt er im Laufe der Untersuchung die Freiheit philosophischen Schauens. Die Philosophie bewirkt eine Blidkwendung — ein letzten Endes platonischer Gedanke 93 — weg vom Streben nach der falschen Glückseligkeit (felicitas) zur Kenntnis der wahren, d. h. zur Schau Gottes: 9 1 Vgl. Jefferson, op. cit. pp. 71 ff., der Chaucer deswegen mit Recht wegen seiner Skepsis preist. — Das Problem war im 14. Jh. sehr aktuell, v. a. war für Chaucer offenbar wichtig der Bischof Bradwardine, der sich vom Pelagianismus abwandte und zu einem strengen Gnadenglauben kam. Vgl. hierzu H. B. Workman, Wycliff, Oxford 1927,1, pp. 120 ff. In Chaucers Nun Priest's Tale (die ich oben kurz besprach) werden diese Probleme erörtert und parodiert. 9 2 Vgl. z. B. III., m. 9. — Daß nur das Gleiche sich anzieht und gegenseitig begreift entspricht dem Symphathiegesetz, das seit Empedokles die antike Philosophie, damit auch die Scholastik, beherrschte. 9 3 Vgl. Klingner, op. cit. p. 417. — Bei Klingner ist die hier durchgeführte Interpretation angedeutet; sie wurde mir von Prof. K. Büchner, Freiburg Br., bestätigt.

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Felix qui potuit boni Fontem visere lucidum Felix qui potuit gravis Terrae solvere vincula 9 4 .

Auf noch einmal erwachende Zweifel des Boethius, ob es überhaupt eine freie Entscheidung geben könne, erwidert die Philosophie sofort: ganz frei sind die göttlichen Wesenheiten, die Menschen sind relativ frei (liberior) — je nachdem, ob sie sich im Anschauen Gottes halten oder sich an die Erde binden; wer sich den Lastern ausliefert, ist ganz im Dunkel des Nichtwissens befangen 9 5 . Die Bedeutung dieser Gedankengänge für Theseus und die beiden Ritter ist leicht zu sehen. Palamoun und Arcite sind zwar nicht im Laster verstrickt, aber doch sehr merkbar an die Erde gebunden; sie sind von ihren Leidenschaften abhängig und unfrei; Theseus dagegen ist frei. Allerdings nicht von Anfang an; auch bei ihm geht allmählich so etwas wie eine „Blickwendung" vor sich; schauen wir uns die Gestalt kurz an. Zu Anfang der Knight's Tale ist er nicht mehr als ein konventioneller Ritter; wenn er die bittenden Damen bemitleidet und ihnen hilft, erfüllt er nicht mehr als eine nahezu selbstverständliche Pflicht 98 . Wie konventionell Theseus ist, zeigt sich aus der Art, wie er Palamoun und Arcite behandelt; sie sind und bleiben für ihn Feinde, die man nicht bemitleidet und beachtet; er wirft sie ins Gefängnis ohne sich weiter um sie zu kümmern, an Lösegeld ist ihm nichts gelegen 97 . Er ist grausam und rücksichtslos 98 : so auch zuerst, als er die beiden Ritter bei ihrem Zweikampf überrascht — aber er faßt sich und lernt sehen. In der entscheidenden Szene, wo er Palamoun und Arcite begnadigt weil er sie versteht, beginnt seine innere Wandlung, eben seine „Blickwendung". Die nächste und höchste Stufe erreicht er in seiner abschließenden großen Rede. Hier ist er nicht nur courtois und pitous, hier versteht er nicht nur die Menschen in ihrem Unterworfensein unter die Herrschaft der Liebe; hier kann er, wie Boethius, die Welt von Gott her begreifen; dem philosophischen Betrachter wird im freien Anschauen der Zusammenhang zwischen Gott und Welt, oder zwischen Providentia, Fatum, Fortuna, klar. Theseus ist jetzt wirklich frei — so frei wie er als Mensch sein kann, auf ihn paßt das Wort der Philosophie: elg ßaaü.evg, cuius agi frenis atque obtemporare iustitiae libertas est 99 . Alle anderen Gestalten der Knight's Tale, auch die Götter — mit der einzigen Ausnahme Jupiters — kennen nur ihren eigenen Standpunkt und ihr eigenes Ziel: sie überschauen nicht das Ganze. Das kann allein Theseus, der III, m. 10, vgl. auch III m. 9. V, pr. 1. Kn T 952 ff. 9 7 Kein Lösegeld zu nehmen ist ein Zeichen von Grausamkeit, vgl. das Fabliau D u pauvre mercier, (Montaiglon — Raynaud II); Chretien, Cliges 1233 ff.; Gower, Confessio VII, 3246. — Robertson (Elements of Realism in the K n T ( J E G P X I V , pp. 226 ff.) nennt Chaucers Darstellung unrealistisch, weil man im 14. Jh. aus k o m merziellen Gründen gern Lösegeld nahm, aber darauf k o m m t es hier nicht an. 8 8 Teseo dagegen weiß sehr höflich mit seinen Gefangenen zu plaudern und behandelt sie ihrem Zustand und R a n g gemäß. — Chaucers Tendenz ist also, Theseus erst unter Teseo zu stellen, u m ihn dann weit über ihn zu erheben. 9 9 I, pr. 5. 94 95

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sich damit dem Standpunkt des obersten Gottes annähert; und darum kommt auch er allein zu einem vernünftigen Ergebnis. Palamoun und Arcite würden, sich selbst und ihrem „Schicksal" überlassen, sich gegenseitig totschlagen; und was geschähe, wenn Theseus nicht zum Ende mit seiner großen Rede eingriffe? Wir kommen hier auf Gedanken zurück, die uns schon oben beschäftigten: der ist frei, der sich selbst und die Welt kennt. Moralisierende Schriftsteller, wie Jean de Meun oder Machaut, wollen den Menschen dadurch zu sich selbst bringen, daß sie ihm Wissen und Einsicht vermitteln 100 ; aber ihre Lehre ist rein moralisch und nicht, wie bei Chaucer, eigentlich spekulativ. Allerdings gibt es Spekulation auch anderswo. Wir lesen etwa im „Kingis Quair", das bekanntlich auch von Boethius beeinflußt ist, über das Verhältnis von Schicksal und Freiheit das Folgende: And quhare a person hath to fore knawing Oif it that is to fall purposly, Lo, Fortune is but wayke in such a thing Thou may wel wit, and here example wny; To God, that is the first caus onely Off everything, ther may no fortune fall: And quhy? for he foreknawing is of all 1 0 1 .

Vielleicht hat hier nicht nur Boethius, sondern auch Jean de Meun gewirkt. Auch Jean meint, der Mensch könne durch Wissen frei werden, aber er versteht die Freiheit anders als Boethius und Chaucer. Die Kenntnis (quenoissance) bringt den Menschen nicht in Einklang mit dem Fatum, sondern entzieht ihn dem, was kommen soll 102 . Wenn man will, kann man diese Art der Freiheit als renaissancehaft bezeichnen, wogegen dann Chaucer „mittelalterlich" gebunden wäre. Ob damit viel gewonnen wäre, bleibe dahingestellt; es sei aber erlaubt, noch einiges zur Boethianisch-Chaucerschen Auffassung von der Freiheit anzudeuten. Allein die Tatsache, daß Chaucer den Boethius benutzte, seine Anschauungen verstanden und sich angeeignet hat, zeigt, daß wir die durch Reflexion gewonnene Freiheit des Sich-Einfügens nicht als „typisch mittelalterlich" verstehen dürfen: die Freiheit so zu sehen, ist antike Denkweise. Wenn nämlich Boethius das Fatum auf Providentia zurückführt, dann tut er dasselbe, was schon Vergil getan hatte; und wenn er die Freiheit als ein Sich-Führen-Lassen von der Gottheit definiert, nimmt er eine Tradition auf, die schon die Struktur der Aeneis bestimmt hat. Wir können uns darüber am besten in Heinzes Vergil-Buch informieren. Hier lesen wir: Eine Gottheit ist: Schicksal, weltdurchdringende Vernunft und Vorsehung zugleich. Diese Gottheit leitet die Geschicke der Menschen, ihren Willen darf niemand durchkreuzen, in jedem Augenblick steht jeder in ihrer Hand; Pflicht des Menschen ist es, sich willig von ihr leiten zu lassen 103 . 100 101 102 103

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S. o. p. 93. Kingis Quair, ed. Mackenzie, London 1939, 148. Vgl. F. W.Müller, Der Rosenroman pp. 23 ff. Vgl. Heinze, Vergils Epische Technik, Leipzig 1908 (2), pp. 291 ff.

Dieser Satz gilt buchstäblich auch f ü r die Knight's Tale. Die geistvolle Rezeption des Boethius gibt Chaucers Gedicht die gleichen Kategorien, in denen auch die Handlung der Aeneis abläuft. Damit soll nun Chaucer nicht zum Renaissance-Poeten, auch nicht zum „Vorläufer" gemacht werden. Aber sicherlich ist die Knight's Tale eine Erzählung anderer Art als z. B. der Erec oder Li Contes del Graal 104 . So tief nun die Gedanken des Boethius in Chaucers Werk eingedrungen sind, so sehr sie die Struktur seines Werkes bestimmt haben: wir dürfen doch gewichtige Unterschiede nicht übersehen. Machen wir uns klar: dem Theseus ist gleichsam aufgetragen, den Willen der höchsten Gottheit zu erkennen und seiner Einsicht gemäß zu handeln. Gut, das ist ganz antik, ganz im Sinne des Vergil und auch des Boethius aber: was will Chaucers höchste Gottheit? Eine Ehe. Es scheint nach allem was man sehen kann, Jupiters Wille zu sein, daß Palamoun die Emilye heiratet; dazu dienten die vielen Zufälle, und deswegen mußte Arcite sterben 103 . Jupiter wünscht, eine Ehe zu stiften; Theseus erkennt den Willen des Gottes, macht sich ihn zu eigen und führt ihn aus. Dazu dient seine ganze Spekulation — deren Sinn nicht nur ist, allgemein und theoretisch das Verhältnis Gottes zur Welt zu klären, sondern speziell die Hindernisse aus dem Wege zu räumen, die zwischen Palamoun und Emilye stehen: und dafür ist es besonders wichtig, daß der Tod Arcites als unvermeidlich, ja sogar als gut hingestellt wird. Um den T o d Arcites als Problem zu überwinden, muß der Tod überhaupt als „nicht so schlimm" erscheinen. Zu diesem Zwecke benützt Theseus einen Abschnitt der Consolatio, der in seiner Rede einen neuen Sinn bekommt; es handelt sich um folgendes: die Philosophie will beweisen, daß alles Unvollkommene das Vollkommene logisch voraussetzt 106 . Theseus macht daraus eine Art Emanationslehre: er legt dar, daß die Ursache der Welt, das Vollkommene, „herabsteigt" bis zum Unvollkommenen, das, entsprechend seiner Entfernung von der Quelle des Seins, „corrompable" ist 107 . So wird der Tod unvermeidlich selbstverständlich, sogar gut: denn die Emanation entspringt ja dem Willen der höchsten Liebe. Theseus kann beweisen, daß man über den Tod Arcites nicht traurig zu sein braucht. Wie weit wir heute das so Ausgeführte f ü r philosophisch relevant halten, ist eine andere Frage; wieder eine andere Frage ist, ob Chaucer von seinem eigenen Beweis überzeugt war; aber eines ist sicher: Chaucer hat die verharm104 Idi kann Schirmer nicht beistimmen wenn er sagt, Chaucer habe Boccaccios klassizistisches Epos in den Stil des mittelalterlichen Versromans zurückübersetzt. Vgl. GRM XII, p. 302. Schirmers Ansicht wird von H. H. Glunz, Die Literaraesthetik des Mittelalters, Bochum Langendreher 1938, noch maßlos übertrieben und zu einer m. E. schiefen geistesgeschichtlichen Einordnung Chaucers benutzt. Vgl. p. 367. 105 Einen Hinweis auf Jupiters Willen sehen wir daraus, daß bei Chaucer Palamoun — nicht wie bei Boccaccio Arcita — die Dame zuerst (zufällig!) erblickt. 108 III, pr. 10. 107 Kn T 3005/15. Was bei Boethius Erläuterung ist, wird bei Chaucer zum Hauptgedanken, der die darauf folgende Exemplarreihe vorbereitet. Emanationslehren sind im Mittelalter häufig, vgl. Curtius, Europ. Lit. pp. 117ff.; vgl. auch Dante, Paradiso XIII, 52 ff.

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losende Auffassung des Todes künstlerisch vorbereitet. Er nimmt Arcites T o d leidit, fast frivol: And certeinly, ther nature wol nat wirche Farwel, physic! go ber the man to chirche 1 0 8 .

Dementsprechend hat Chaucer alles vermieden, was bei Boccaccio den T o d Arcitas schwer und pathetisch macht 1 0 9 . Man könnte zwar einwenden, Chaucer habe doch die Darstellung seines Vorbildes kürzen wollen, aber sicher ging es Chaucer nicht allein darum: er erkannte, daß in dieser Geschichte der T o d nicht ernst genommen werden darf. Und da man hier auch das Leben nicht verachten darf, da das Irdische seinen Wert behalten muß, deswegen hat Chaucer den Bericht von Boccaccios von Arcitas Himmelsreise weggelassen 1 1 0 — zwar spricht Theseus vom „üblen Gefängnis des Leibes" 1 1 1 , aber das klingt doch sehr ad hoc gesagt: denn sein (und Jupiters) Ziel ist, eine Ehe zu stiften: O parfit joye lasting e v e r m o 1 1 2 .

Damit kommen wir an den Punkt, wo sich Chaucer am entscheidensten von Boethius trennt. Die leichtsinnige Art, wie er über den T o d redet,, hat wenig mit den Spekulationen des Philosophen zu tun (wenn sie auch eng mit ihnen verknüpft war) — die Stiftung der Ehe aber ist fast ein Hohn auf die Philosophie: jedenfalls auf das, was Boethius unter Philosophie versteht. Und nicht nur Boethius, jeder antike Philosoph und Weise, hätte sich entsetzt wenn man ihm gesagt hätte, die Ehe sei eine „vollkommene, dauernde Freude". Denn Boethius sucht die perfecta felicitas, die Eudaimonia, nach der jeder antike Philosoph strebte. Aber mindestens seit Piaton war die Eudaimonia nur für den erreichbar, der sich vom Irdischen abwandte, und die Ehe ist etwas Irdisches. Boethius verachtet sie zwar nicht, aber doch gehören für ihn „uxor et liberi" zu den Gütern die nicht dauern, und daher relativ wertlos sind 1 1 3 . Daß die Ehe, und vor allem die Liebe, welche hier als ideale Bedingung der Liebe erscheint, einen so hohen Wert bekommen konnte: das ist mittelalterlich — in der Liebe erlebt der höfische Mensch seine höchste Freude. Damit ist er aber von der Weltflucht der antiken Weisen unterschieden; antike Weisheit und höfische Freude sind Gegensätze, die sich im Grunde ausschließen 114 . Es ist ganz unantik, und ganz (höfisch-) mittelalterlich, wenn Chaucer am Schluß seines Gedichtes sagt: now is Palamoun in ale wele, Livinge in bliss, in richess and in hele 1 1 5 .

Das Glück, in dem Palamoun lebt, kommt nicht so sehr aus der Tatsache, daß er verheiratet ist — sondern daher, daß er die Dame seiner Wahl, der er noch K n T 2759 f. T e s e i d a X , 17 ff. 110 Yg[ Robinsons treffende Bemerkungen zu K n T 2805 f. 1 1 1 K n T 3061, vgl. das platonische soma-sema (Phaidon). l l a K n T 3072. 1 1 3 Boethius III, pr. 2. 1 1 4 „ D i e " Antike ist durchaus nicht „sinnenfreudig" und „das" Mittelalter durchaus nicht weltflüchtig; die antike „Weltflucht" setzt sich im mittelalterlichen Denken f o r t , vgl. H . Meyer, T h o m a s von Aquin pp. 576 ff. 1 1 5 K n T 3101 f. 108

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„dient", als E h e f r a u haben d a r f 1 1 6 ; es ist ein hohes Glück f ü r den höfisdien Menschen mit der D a m e seiner Wahl ständig zusammen zu sein. Z w a r braucht er nicht unbedingt mit ihr verheiratet zu sein, aber die Ehe bietet doch viele Vorteile; man braucht dann nicht auf den „Eifersüchtigen" oder auf die „Verleumder" achtzuhaben. D a m i t enthüllt sich der Schluß der Knight's T a l e als außerordentlich paradox. Die philosophische Spekulation des Theseus dient der Schaffung eines Liebesglücks; die Weisheit dient der höfischen Freude und Liebe. Allerdings: wäre es nicht denkbar, daß Chaucer einfach seine beiden Quellen, Boethius und Boccaccio, miteinander verknüpft hat ohne sich viel darum zu kümmern, ob sie auch zusammenpassen? Auch Boccaccio, der genau so „höfisch" denkt wie Chaucer, schließt sein Epos mit den Liebesfreuden Palemones a b 1 1 7 , und so könnte man meinen, Chaucer habe diesen Abschluß bedenkenlos übernommen; anderseits sei sein lebhafter Geist von der Philosophie des Boethius angezogen worden und er habe sie verwendet, um sein Werk mit etwas „Weisheit" zu schmücken. Ein solcher Einwand setzt jedoch voraus, Chaucer sei außerordentlich naiv gewesen, und davon kann keine Rede sein. 1 1 8 . U n d vor allem würde ein solcher Einwand nicht beachten, daß Chaucer, oder Theseus, selbst die Inkongruenz von Mittel (Spekulation) und Zweck (Ehe) gespürt hat; denn nach seinen langen Ausführungen tritt Theseus auf Palamoun zu und sagt: I trowe ther nedeth litel sermoning T o make yow assente to this thing, Com ner, and tak your lady by the hond 1 1 9 . D a s ist Ironie — und Ironie ist stets ein Zeichen f ü r hohe Bewußtheit; man muß sie freilich recht verstehen. Der gewaltige Hintergrund des Knight's T a l e , die philosophische Spekulation, wird durch die Ironie nicht weggewischt, nicht entwertet; vielmehr erscheinen hier Weisheit und Liebe nicht, wie sonst so o f t im Mittelalter, als Gegensätze, sondern werden lächelnd und mühelos miteinander verbunden: das erweckt den Eindruck des Schwebens, des heiteren Spieles; eben den der Ironie. Uberschauen wir nun die abgeschlossene Untersuchung. Chaucer hat an zwei Welten Anteil: an der des Ritterromans u n d an der des mittelalterlichen H u m a nismus. Die Art, wie er Fortuna versteht und wie er ihr begegnet entspricht dem, was das Mittelalter von der antiken Philosophie übernommen hatte. Frei, über dem Schicksal stehend ist der Mensch, der alles Geschehen als Ausfluß des göttlichen Willens begreift und annimmt. D a s ist im Prinzip stoisch; Boethius vermittelte ihm wie Dante und J e a n de Meun die stoische Weisheit, die auch 1 1 6 Er heiratet seine Geliebte wie Chrétiens Erec, Yvain, Alixandres, Cliges; über das Verhältnis von Liebe und Ehe siehe Kapitel IV. 1 1 7 Tes. XII, 19, 83. 1 1 8 Die Legende von Chaucers Naivität hat bereits G. L. Kittredge zerstört, vgl. Chaucer and His Poetry, Cambridge, Mass. 1915. 1 1 9 Kn T 3091 ff. — F. Schlegel sagt in seinen Jugendschriften über die Knight's Tale, Chaucer scheine alles auf eine redliche, stillschweigende, aber deutliche Ironie angelegt zu haben" (ed. Minor, p. 401).

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Vergils Epos durdidringt. Chaucers Theseus, seine in dieser Hinsidit bedeutendste Gestalt, ist ein Weiser; wenn man will ein Humanist. Er ist aber kein Weiser im traditionellen Sinne, der die Welt und ihre Freuden veraditet; er ist zugleidi auch der ritterlichen Courtoisie verpflichtet. Höfische Liebe ist zusammen mit der höfischen Freude das Ziel der Knight's Tale; an sich sind Courtoisie und Weisheit einander entgegengesetzt; der höfische Mensch lebt in der Gesellschaft, das heißt in der Welt und für die Welt; der Weise richtet seinen Blick dem Himmel zu; Theseus ist weise und courtois zugleidi. Bekanntlich gab es mandierlei Versuche, die Welt des Ritterlichen und Höfischen mit den Forderungen der Weisheit (und der Religion) in Einklang zu bringen; aber Chaucers Theseus stellt doch etwas Besonderes dar. Seine Weisheit erscheint nicht in der Form einer fixierten Lehre — sie sieht eher wie das Ergebnis eines orientierenden Nachdenkens aus — und sie hat auch nicht den Sinn, die Welt zu „überwinden": das heißt aber, Chaucer hat den Boethius nicht „doxographisch" übernommen, sondern er hat sich ihn angeeignet und seinen eigenen Zwecken angepaßt; für Chaucer ist Boethius mehr Anreger als Autorität. Daraus erklärt sich, daß Theseus einen großen metaphysischen Apparat aufbietet, um eine Ehe zu stiften.

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IV. Höfische Liebe Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen der Abendländischen Welt und der „ A n t i k e " 1 besteht in der Rolle, welche die Liebe im Bewußtsein der Menschen spielt; in Griechenland und R o m — wie auch in einem großen Teil der übrigen Welt — steht die Liebe am R a n d e ; in Europa steht sie im Zentrum des Interesses — wir brauchen nur daran zu denken, was die meisten unserer Dramen (Tragödien und Komödien), Romane, Filme zum Gegenstand haben. In dieser Hinsicht jedenfalls steht die „ N e u z e i t " dem „Mittelalter" näher als der „ A n t i k e " ; in dieser Hinsicht sind der H o f der Gräfin von Champagne und der H o f Ludwigs X I V . näher miteinander verwandt als das Paris Ludwigs X I V . mit dem Athen des Perikles. Allerdings, vor und während der Zeit des Kaiser Augustus, finden wir in R o m ein Interesse an der Liebe zur Frau, das wie ein Präludium mittelalterlich-neuzeitlichen Empfindens wirkt; als erster gab Catull seiner Liebe zu Lesbia einen Wert, der sie über alle anderen menschlichen Erlebnisse ins Bereich des Heroisch-Mythischen heraufhebt; Tibull, Properz,, O v i d sind ihm, jeder in seiner Weise, gefolgt: und tatsächlich war auch vor allem O v i d dem Mittelalter ein Kenner und Priester der Venus, dessen Lehren man mit Interesse studierte 2 . Allein, wenn auch die Liebe für die römisdien Elegiker etwas Heiliges und Heiligendes war, so kamen sie dodi nie auf den Gedanken, den ich zu Eingang dieser Arbeit zitierte: daß ein Ritter, also ein K ä m p f e r , wie ein „ B a u m ohne Früchte" sei, wenn er nicht der Liebe diene. Ich entnehme diese Formulierung einem Ausspruch D o n Quijotes, der am Ende des Mittelalters steht und zugleich durch die Form, die ihm Cervantes gegeben hat, als einer der ersten „modernen" Charaktere gilt — insofern nämlich, als Don Quijote einsam und von der übrigen Welt getrennt ist: aber er spricht einen Grundsatz aus, der fast die gesamte weltliche Literatur des Mittelalters beherrscht; wir finden ihn bereits, wie wir oben sahen, bei Guilleaume I X . : Ja no sera nuils hom ben fis Contr' Amor si non l'es aclis. Für die Troubadours ist die Liebe ein hohes — f ü r manche sogar: das höchste — Darauf macht C. S. Lewis aufmerksam. Vgl. The Allegory of Love, Oxford 1936. Vgl. bes. F. Faral, Recherches sur les sources latines de contes et romans courtois du moyen âge, Paris 1919; E. K. Rand, Ovid and His Influence, 1925; J. Sdiwietering, Die Einwirkung der Antike auf die Entstehung des frühen deutschen Minnesangs, Zeitschr. f. d. Altertum, LXI (1924). 1

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G u t : „amor es caps de trastotz otres b e s " 3 ; alle Tugenden kommen aus ihr, weswegen z. B . Bernard de Ventadour bittet: Ja Deus no-m don aquel poder Que d'amor no-m prenda talans 4 . N i e m a n d k a n n — wieder nach Bernard — „pros" und „cortes" sein, wenn er sich von der Liebe fernhält. So wie die Troubadors dachten alle die Dichter, die wir als „höfisch" bezeichnen; man spricht daher von „höfischer Liebe". D e r Ausdrude als solcher ist modern 5 ; hat aber seine Berechtigung deswegen, weil an den mittelalterlichen H ö f e n eine F o r m der Liebe kultiviert wurde. Sie erscheint dem rückschauenden Betrachter des 2 0 . Jahrhunderts fremd und antiquiert 6 . Ihre K e n n zeichen sind strenger Formalismus und — im Prinzip — eine Spiritualisierung, welche das eigentliche Wesen der Liebe — ihre Leidenschaftlichkeit und M a ß losigkeit — zu leugnen scheint. Es gibt ganz bestimmte Formen, wie „ m a n " liebt; „ m a n " verliebt sich auf den ersten Blick, fürchtet sich, zittert beim Nahen der Geliebten, seufzt und weint — aber heimlich, denn niemand darf den Liebeskummer sehen; man ist beseligt, wenn die D a m e einem zulächelt, tiefer beseligt, wenn sie den Anbeter zu ihrem „Freund" erklärt. Das allerdings bringt keine weitgehenden Zugeständnisse mit sich; denn einmal ist die D a m e Ehef r a u eines anderen Mannes, und zum anderen steht sie hoch über dem K a v a lier: sie ist D a m e , d. h. D o m i n a - H e r r i n ; der Liebende begehrt sie nicht physisdi, denn er steht unter ihr; er ist ihr „Lehnsmann", ihr Diener, ihr Sklave. Allerdings darf er hoffen, nicht zu den niedrigen Menschen, den "vilains" zu gehören: allein schon deswegen, weil er zur Liebe fähig, d. h. Schönheit und T u g e n d zu erkennen fähig ist; und außerdem steht zu hoffen, daß die D a m e ihm zur Vervollkommnung seiner tugendhaften Anlagen helfen wird. W e r lieben kann, wird „emporgehoben", gebildet und geadelt; Liebe und Tugend, Liebe und edles H e r z sind ein- und dasselbe: Amor e cor gentil son una cosa. So lehrte Guido Guinizelli in seiner berühmten K a n z o n e „AI cor gentile ripara sempre A m o r e " T , welche Abschluß und vorläufigen Höhepunkt einer langen 3 Vgl. A. Jeanroy, Poesie lyrique des Troubadours II, p. 99; er erklärt dazu „Ies passages de ce genre sont innomrables" vgl. auch H. Dupin, La courtoisie, p. 128: „L'amour ajoute aux autres vertues courtoises la comble de la perfection." Viele Stellen sind gesammelt bei Alexander J. Denomy, Courtly Love and Courtliness, Speculum X X V I I I (1953), pp. 44 ff. 4 Bernard, ed. C. Appel, Halle 1915, Nr. XV,2., für d. Folgende vgl. II, str. 3. 5 Vgl. Denomy, loc. cit. p. 45. Der Ausdruck stammt von G. Paris, vgl. Romania X I I (1883). * Vgl. hierfür das erste Kapitel von Lewis* Allegory; Lewis zeigt die Nachwirkungen des amour courtois auf. 7 Ed. d'Ancona, Bologna 1877, p. 6. Hierzu kommentiert H . H . Glunz, Literaraesthetik des Mittelalters, p. 425: „Seine (d.h. Guinizellis) Kanzone wendet sidi zunächst gegen das Liebesmonopol des Ritters in der höfischen Dichtung. Edel und daher zur Liebe fähig ist nicht der von Natur Adlige, der seinen Adel durch Geburt oder sonstigen Zufall erlangt h a t . . . Die wahre Liebe gleicht einem Liditstrahl, der vom Jenseits auf die Erde gesandt ist, findet nur in dem auf Gott eingestellten Herzen Heim und Echo, weshalb also, was die Liebe betrifft, der wahre Adel im Herzen und im

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Entwicklung bildete: bis Dante noch weiterging und die zur Seligen erhobene Geliebte zur Führerin durchs Paradies machte. So fremd das anmutet: die Dame ist noch lange als Erzieherin und Führerin zum seelischen Heil, als Vorbild und Geberin aller Tugend betrachtet worden; wir finden so etwas in einigen Gedichten Shelleys und Baudelaires, in Goethes Verhältnis zu Frau von Stein. Immer ist es eine Dame, nicht die Geliebte, welche man besitzt, die „ f ü h r t " , denn nur die Dame, besonders dann, wenn sie verheiratet ist und die Welt kennt, ist fähig, den jungen suchenden Mann ins Leben einzuführen und zu „erziehen"; sie steht über ihm und zieht ihn empor: Ils marchent devant moi, ces yeux pleins de lumières, Qu'un ange très savant a sans dout aimantés; Ils marchent, ces divins frères qui sont mes frères, Secouant dans mes yeux leurs feux diamantes. Me sauvant de tout piège et de tout péché grave, Ils conduisent mes pas dans la doute du Beau; Ils sont mes serviteurs et je suis leur esclave; Tout mon être, obéit à ce vivant flambeau8. Diese Verse Baudelaires sind ein letztes Zeichen der Tradition der T r o u b a dours und des dolce stil nouvo; ein antiker Dichter hätte so etwas nicht schreiben können. Nach den starren Formen der höfischen Liebe, nach dem rituellhaften Zittern, Stöhnen, Sich-Verfärben wird man allerdings bei Baudelaire u n d Shelley vergeblich suchen; wir finden sie aber noch in der „Princesse de Cleves" 9 , in den Tragödien Racines 1 0 und bei Shakespeare: hier erscheint der Liebende: Sighing like furnace witn a woful bailad Made to his mistress' eyebrow 11 . d. h. noch in diesen Werken verrät sich die Liebe in exakt vorgestellten äußeren Symptomen 1 2 . Auch Chaucer ist von dem, was man höfische Liebe nennt, in seinen Dichtungen bestimmt worden 1 3 . Er preist die Liebe in Versen, die an die Lobeshymnen der Troubadours erinnern: guten Willen besteht." Der Trennungsstrich jedoch, den Glunz zwischen dolce stil nuovo und Troubadourlyrik macht, besteht (in dieser Hinsicht) zu Unrecht. Die Frage, ob auch ein unedel Geborener zur Liebe fähig sei, wurde schon v o n den Troubadours (teilweise) positiv beantwortet, vgl. Appel, Prov. Chresth. 93; der dolce stil nuovo i s t eine Konsequenz von Tendenzen, die schon in der Troubadoudichtung sichtbar sind, vgl. v. a. K. Voßler, Die Dichtung der Troubadours und ihre europäische Bedeutung (Aus der romanischen Welt). Vgl. auch D. Sdieludko, Über die Theorien der Liebe bei den Troubadors, Zrom Phil. LX, 1940. 8 Baudelaire, Le Flambeau Vivant, in Fleurs du Mal. (nr. XLV). 9 Mme de Lafayette, Princesse de Clèves, publ. par B. Guegan etc., Paris 1927, vgl. pp. 28/30. 10 Titus über Bérénice: „Que dit-on des soupirs que je pousse pur elle" (Bérénice 11,2). 11 As You Like It, 11,7, 148 f. 12 Es k o m m t darauf an, daß die Symptome exakt vorgestellt und womöglich klassifiziert sind; als solche sind sie universal und kommen z. B. auch bei Sappho vor. 13 Vgl. W. G. Dodd, Courtly Love in Chaucer and Gower, Boston 1913. — D o d d ist jedoch in so schematischen Vorstellungen befangen, daß er den Problemen Chaucers in keiner Weise gerecht wird. 7

K l e i n s t ü c k , Chaucers Stellung

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For ever it was, and ever it shall bifalle, T h a t love is he that alle thing may binde; For no man may for-do the lawe of kinde . . . And trewelidi it sit wel to be so; For alderwysest han therwith ben plesed; . . . A n d o f t it hath the cruel hert apesed, And worthy folk maad worthier of name, And causeth most to dreden vice and shame. N o w that it may not goodly been withstonde, A n d is a thing so vertuous in kinde, Refuseth no to Love for to be bonde . . . 1 4

Diese Verse des „Troilus" hat Chaucer zwar nicht aus dem „Filostrato" des Boccaccio, seiner unmittelbaren Vorlage, übersetzt, sondern selbst hinzugedichtet; sie sind aber keineswegs sein „geistiges Eigentum", sondern entsprechen mit ihren zwei Grundsätzen — 1. Liebe ist etwas „Natürliches" und daher Unwiderstehliches, 2. Liebe veredelt — dem allgemeinen Denken des höfischen Mittelalters. Aber obwohl sich Chaucer mit seiner „Lehre" in die Tradition einfügt, scheint er sie doch in verschiedener Hinsicht durchbrochen zu haben. Troilus liebt zwar ganz comme il faut mit Zittern, Seufzen und in Einsamkeit; er hat Angst, seine Dame könne ihm verübeln, daß er sie liebt — aber darauf erwidert Pandarus, sein Freund und Beistand: thou hast a ful gret care Lest that the dierle may falle out of the mone!

und als ihm Troilus versichert, er begehre nichts von Cressida „that toucheth harm or any vilanye", da fängt Pandarus an zu lachen: Schon gut! So reden alle! — N o wight dooth but so 1 5 . Troilus läßt sich tatsächlich später von Pandarus ins Schlafzimmer seiner Geliebten — seiner Dame! — geleiten und trägt kein Bedenken, ihre letzte Gunst zu erzwingen — die sie ihm gern gewährt 1 6 . In der Knight's Tale — Chaucers anderer großer Liebesdichtung „bricht" Chaucer eine zweite Regel der „klassischen" Liebeslehre (wie sie dogmatisch von dem Kaplan Andreas formuliert wurde) 1 7 : Theseus — an sich jemand, der sich auf Courtoisie versteht — nimmt als selbstverständlich an, daß einer von den beiden verliebten Rittern, Palamoun oder Arcite, auch die Dame seines Herzens ehelichen will; freilich, sagt Theseus, kann sie nur einen zum Manne nehmen, der andere muß „in den Mond kucken" 1 8 . In der Legend of Good Women endlich, die Chaucer als Buße für den Troilus zu schreiben hatte, um wahre Frauenliebe zu verherrlichen, ist ein großer Teil der Heldinnen mit ihrem Liebhaber verheiratet 19 ! Auf Grund all dessen müssen wir die Frage stellen, wie Chaucer in der Troilus and Criseyde, 1,237 ff. Ibid. 1019 ff. 1 6 Ibid. III, 695 ff. 1 7 Vgl. Andreas Capellanus, T r a t t a t o d'Amore, Testo latino del seculo XII, con traduzione toscane inedite etc. a cura di S. Battaglia. R o m a 1947. Vgl. 1,6. Liebe und Ehe sind unvereinbar, denn, nach dem D o g m a der Kirche, steht die Frau niedriger als der Mann. 1 8 Kn T 1829 ff. 1 9 Z. B. Cleopatra, Hypsipyle, Medea; Ariadne will Theseus heiraten und Dido ist „so gut wie" verheiratet. 14

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Tradition stand; die Kommentatoren und Interpreten helfen zur Lösung dieser Probleme so gut wie nichts. So müssen wir zwei Probleme behandeln: 1. ist höfische Liebe mit der letzten Gunst vereinbar?, 2. darf der Ritter die Dame, die er anbetet,, heiraten? Wir kommen den Problemen am besten auf die Spur, wenn wir eine Vorfrage stellen. Die höfische Liebe, mit ihrem Formalismus und ihrer Spiritualisierung, scheint das eigentliche Wesen der Liebe verkannt oder cadiiert zu haben. Verträgt sich Liebe überhaupt mit Courtoisie? Denn Courtoisie ist, wie ich oben zu zeigen versuchte, ein „Ehren" des „anderen"; d.h. der höfische Mensch will den anderen „sein" lassen, Courtoisie involviert immer Distanz (auch noch beim „Entgegenkommen"): genau aber die Distanz will die Liebe aufheben. Der Liebende will den freien Raum, der zwischen ihm selbst und dem geliebten Wesen besteht, durchschreiten — während Courtoisie die Grenzen respektiert, will Liebe die Grenzen durchbrechen. Solche Feststellungen sind nahezu trivial; aber wir müssen uns klarmachen, welche Paradoxie darin liegt, daß Liebe und Courtoisie zusammen genannt werden konnten — ja, daß Liebe die höchste der höfischen Tugenden sein konnte. Nun sagt zwar R. Bezzola, man müsse zwischen „amour passion" und „amour courtois" unterscheiden20; doch ist damit nicht sehr viel geholfen, denn eine Liebe, die nicht begehrt, die also nicht Leidenschaft ist, kann überhaupt nicht Liebe sein. Tatsächlich wurde auch die höfische Liebe als Leidenschaft verstanden: was wir ebenso sehr bemerken, wenn wir ihre Künder, wie wenn wir ihre Kritiker befragen. Gehen wir also dem Thema: „höfische Liebe als Leidenschaft" nach. Wir beginnen unsere Betrachtung am besten in der Hölle: denn da führt die Leidenschaft hin 21 . Von einem nie aufhörenden Sturme getrieben, ziehen die Liebenden im zweiten Höllenkreis an Dante vorbei, er sieht Paris, Achilles, Tristan; Dido, Semiramis, Cleopatra; ein Paar löst sich aus Didos Schar: Francesca und Paolo 22 . Sie haben der Liebe gelebt, welche die Dichter des dolce stil nuovo priesen: Amor che a cor gentil ratto s'apprende... Amor die a nullo amato amar perdona, Mi prese del costui piacer si forte, Che, come vedi, ancor non m'abbandona 23 .

Warum sind sie in die Hölle verbannt? Ist die Liebe nicht eine Tugend? Auch Paolo und Francesca sind „Peccator carnali che la ragion somettono al talento" 2 4 . Die Kirche, deren Lehre Dante hier, wenn auch nicht ohne Schmerzen, anerkennt, verurteilte die, welche ausschließlich der Liebe lebten: es kommt allerdings auf das „ausschließlich" an; es war nicht verboten, eine Frau — selbstverständlich die eigene Ehefrau — zu lieben, aber man durfte das 2 0 Le sens de l'amour et de l'avanture, p. 13. vgl. A. Jeanroy, Poésie lyrique II, p. 97, er nennt die Liebe der Troubadours „le resultat d'une détermination librement prise". 2 1 Vgl. Scheludko, Zrom Phil. L X , p. 215. 2 2 Inferno V. 2 3 Ibid. 100 ff. vgl. hierzu Kap. II dieser Arbeit, p. 51. 2 4 Infero V, 38.

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Geschöpf nicht höher stellen als den Schöpfer, d. h. man durfte Gott nicht über dem Geschöpf vergessen. Die Vernunft lehrt, daß kein Gut höher ist als Gott; wer das nicht beachtet, ist töricht und verblendet und kommt, wenn er nicht rechtzeitig bereut, in die Hölle 2 5 . Viele Troubadours aber und viele andere Dichter 26 schätzten die Freude, welche ihnen schon der bloße Anblick ihrer Dame gewährte, höher als alle anderen Freuden: T o t z joys le deu humiliar E tota ricor obezir Mi dons, per son belh aculhir E per son belh plazent esguar 2 7 .

So sang Guilleaume I X . , der sich damit im Gegensatz zur kirchlichen Lehre befand — wenn auch sicher nicht bewußt. Tristan, den Dante in die Hölle verbannt, galt den Troubadours als Vorbild treuer Liebe 2 8 ; Achilles starb mit seiner Geliebten vor Augen 2 9 ; Cleopatra und Dido sind „vorbildliche" Märtyrerinnen in Chaucers Legende. Wer sich der Liebe hingab, sich der Leidenschaft öffnete, schien dem höfisch-orientierten Menschen vorbildlich; dem theologisch orientierten als Sünder. Selbst die höfische Liebe in der am meisten spiritualisierten Form des dolce stil nuovo wurde als Leidenschaft und daher mindestens potentiell als Sünde aufgefaßt; dazu kommt, daß Marcabrun alle weltliche Liebe, wie sie von den Troubadours gefeiert wurde, als Sünde verdammte und ganz allein die Liebe zu Gott pries 3 0 . Es scheint nach alledem nicht möglich, einen Unterschied zwischen „amour passion" und „amour courtois" zu machen; jedenfalls dürfen wir keinen prinzipiellen Unterschied annehmen 31 . Die Liebesleidenschaft begriff man häufig in Gestalt eines oder zweier göttlicher Wesen — Venus und Amor —, welche über den Menschen herfielen und ihn in ihren Dienst zwangen 3 2 . Diese Gottheiten sind, mit ihrer tyrannischen Übermacht und Rücksichtslosigkeit, alles andere als „höflich"; der Mensch, den sie befallen, fühlt sein ganzes Sein erschüttert und in Frage gestellt: er klagt, er versucht die von irgendwoher andrängende Macht abzuwehren; er will sich bewahren als den, der er vorher war — er will „Ich" bleiben und nicht vom „ E s " überwältigt werden: 2 5 Sogar die eheliche Liebe barg die Gefahr in sich, daß die Vernunft durch Leidenschaft verdunkelt wurde, vgl. T h o m a s , ScGent, III, C X X V ; Chaucer, Pars T 860; vgl. Lewis, T h e Allegory, p. 15. G o t t über alles zu lieben ist natürlich und vernünftig; vgl. ScGent, III, C X X I X . 2 8 bzw. ihre Gestalten, vgl. z. B. Aucassin. 2 7 ed. Jeanroy I X , 4. 2 8 Vgl. Anglade, Troubadours et Bretons, Montpellier 1929, p. 46. 2 9 Vgl. Bezzola, Le sens, p. 85. 3 0 Vgl. Scheludko, loc. cit. p. 215. 3 1 Deswegen vermeide ich es auch, den Ausdrude „Minne" zu gebrauchen; er gibt den Anschein, als sei die höfische Liebe prinzipiell von der Liebe sonst unterschieden. Außerdem gibt es in den romanischen Sprachen und im Englischen nur das eine Wort amour bzw. Love. 3 2 Vgl. Appel, Einleitung zu seiner Ausgabe des Bernard: „Die Minne . . . erscheint (ihm meist) als Feindin, gegen deren Willkür er, wenn auch aussichtslos, kämpfen muß."

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eu que-n pose mais, s'Amors me pren e las charcers en que m'mes, no pot claus obrir mas merces, e de merce no i trop rien 3 i t ?

So leidet Bernard de Ventadour; noch heftiger beklagt sich Peire Vidal: Estiers mon grat am tot soi per cabal leis que nom denha vezer ni auzir 3 4 .

und genau so ergeht es Chrétiens Soredamors: sie weiß nicht, wer sie eigentlich „verraten" hat — sind es ihre Augen oder ihr Herz? — welcher Teil ihrer menschlichen Gesamtheit gegen sie revoltiert: und muß schließlich entdecken, daß sie es selbst ist; die Liebe hat vom Kern ihres Wesens Besitz ergriffen. Sobald Soredamors allerdings das spürt, liefert sie sich dem Liebesgott aus; d. h. sie identifiziert sich selbst mit der Liebe und erklärt: mout sui sage an son service —

niemand könne sie tadeln 3 5 . Nicht nur der Liebesgott, auch die Liebenden selbst führen sich in einer Weise auf, die nicht courtois zu sein scheint. Der Liebende ist versunken und interessiert sich nicht für das, was um ihn vorgeht3®; Perceval wird beim Anblick der drei Blutstropfen im Schnee an die weiße H a u t und die roten Wangen seiner Geliebten erinnert: er vergißt darüber, daß es noch Zeit und Welt gibt; zwei Ritter, die mit ihm turnieren wollen, sticht er wie im Traum aus dem Sattel. Endlich kommt Gauvain, die Blüte der Courtoisie (dessen Urteil also maßgebend ist) und betrachtet schweigend den in sich versunkenen Helden. Die Sonne schmilzt den dünnen Schnee, die Blutstropfen verschwinden — Perceval wird aus seiner Trance gerissen und erblickt Gauvain. Ist dieses Nichtbeachten des „anderen" nicht eminent unhöfisch? Gauvain allerdings ist anderer Meinung; als er hört, was Perceval so träumen ließ, sagt er: Cist pansers n'estoit pas vilains Einz estoit m o u t courtois et douz, E eil estoit fos e estouz Q u i vostre euer an removoit 3 7 .

Nicht wer so träumt also, sondern wer denTräum enden stört, hat keine Courtoisie. Die Liebe packt den Menschen an und läßt ihn das, was „normalerweise" gilt, vergessen. So sagt Guillaume I X . von seiner Dame, daß sie alles „auf den Kopf stelle": Per son joy pot malautz sanar E per sa ira sas morir, E savis hom enfolezir, E belhs hom sa beutat mudar El plus cortes vileianar E totz vilas encortezir 3 8 . Bernard X X I , 3 u. Ö. ed. Anglade, X X I V , 17 (gegen meinen Willen liebe ich die, welche mich weder zu sehen noch zu hören geruht). 3 5 Cliges, 457ff.; ähnlich klagt und reagiert Alixandres ibid. 626 ff. 3 6 Stellen hierfür bei Wechssler, Kulturproblem passim. 3 7 Contes del Graal, 4457 ff., vgl. Bezzolas Interpretation dieser Szene in „le sens", pp. 19 ff. 3 8 Chanson IX., vgl. Jeanroy, op. cit. I, p. 90. Derartige Äußerungen sind topos-haft. 33

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Wer sich zu benehmen weiß (savis) wird zum Narren, der höfische Mensch wird zum vilain und der vilain höfisch, wenn er liebt. Die Welt um sich zu vergessen, oder sich „selbst zu vergessen", ist sicher nicht das Betragen, das man von einem höfischen Menschen verlangen kann. Ist „ m a n " nicht standhaft und kann „ m a n " sich nicht beherrschen? Der Liebesgott des Rosenromans erklärt seinem Adepten, wie er sich in der Verliebtheit aufführen wird — wie er zittern, stöhnen, sich verfärben wird — aber all das ist comme il faut: C'est maladie moult cortoise . . . Amans sentent Ii maus d'amer Une hore dous, autre hore amer 3 9 .

Ehe wir fragen, warum gerade das anscheinend unhöfische Verhalten höfisch sein kann, stellen wir fest, daß die höfisdie Liebe als Leidenschaft begriffen wird: und zwar sowohl von ihren Kündern als auch von ihren Kritikern. Daher schließt auch die höfische Liebe nicht grundsätzlich die letzte Gunst aus: im Wollen und Gewähren, sagt Bernard de Ventadour, besteht die Liebe der echten Liebenden — der ist ein N a r r , der die Liebe für das tadelt, was sie will und das von ihr verlangt, was ihr nicht genehm ist: En agradar et en voler es l'amors de fis a m a n s . . . e cel es be fols naturaus que de so que vol, la repren e-lh lauza so que no-lh es gen 4 0 .

Und deswegen erklärt Bernard, er wolle seine Schönste so küssen, daß man noch einen ganzen Monat hinterher die Spuren sehen könnte 4 1 ; in anderen Liedern wird er noch deutlicher 42 . Aus dieser Tradition ist es zu verstehen, wenn Chaucer die Liebesnacht Troilus' und Criseydes preist: O blisful night, of hem so longe y-sought, H o w blithe unto them bothe two thou w e r e ! . . . Awey thou foule danger and thou fere And lat hem in this hevene blisse dwelle, T h a t is so heigh, that al ne can I telle 4 3 !

Marcabrun und seine Schüler bekämpfen die Schule des Herrn Eblo 4 4 nicht ohne Grund 4 5 . Wie ist es nun zu erklären, daß die Liebe zwar als unvernünftig und leidenschaftlich aufgefaßt wird, es aber doch sage ist, ihr zu dienen? Wie ist es Rosenroman 2179 ff. N r . X V (Appel). 4 1 Nr. X X I X . 4 2 Vgl. Appels Einleitung p. L X V I . 4 3 Troilus III, 1316 f., genau so Boccaccio Filostrato III, 33. 4 4 Wir kennen keine Lieder dieses Herrn Eblo, sondern wissen von ihm nur aus der Kritik Marcabruns, vgl. K. Vossler, der T r o b a d o r M. u. die Anfänge des gekünstelten Stils. SB München 1913. 4 5 A. Jeanroy, L a poesie lyrique II, p. 25 „son idéal, qu'il a la fâcheuse idée d'emprunter à ceux-la même qu'il combat, en la modifiant à peine . . M.s Schüler und Nachfolger sind ganz oder teilweise Cercamon, Bernart Marti, Peire d'Auvergne. — Eine mhd. Novelle „Moritz von C r â û n " (ed. v. R . Kienast u. U . Pretzel) geht soweit, daß es als Sünde und Unehre bezeichnet wird, wenn die geliebte D a m e ihrem Ritter nicht die letzte Gunst gewährt. 39 40

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möglich, daß die Liebe, die den Menschen zu einem anscheinend unhöfischen Verhalten treibt, doch höfisch ist — und sogar die Perfektion des Höfischen darstellt? Gauvain erklärt Percevals Versunkenheit für „süß" und „höfisch"; Soredamors hält sich für „sage" im Dienste des Gottes; noch weiter geht der Liebesgott im Rosenroman: er nennt es „reson et drois", daß der junge Mann sich ihm unterwirft 4 8 . Wie kann ein und dieselbe Sache „Leidenschaft" und „Vernunft" sein? Die Antwort ist viel leichter zu geben als es den Anschein hat, aber sie impliziert einige gewichtige Folgen. Es kommt darauf an, welchen Standpunkt man einnimmt. Die Liebe ist eine mächtige Gottheit, die dem Menschen überlegen ist, darum ist es sinnvoll ihr zu dienen. Aber: kann man nicht nur einem Gotte dienen? Derjenige, welcher sich dem Liebesgotte weiht, sagt dem Herrn des Himmels den Dienst auf; er hält das für Tugend, was die Theologen für Sünde halten 4 7 . Tatsächlich überträgt der Liebende sein Empfinden für Gott und die Kirche auf die Dame — oder den Liebesgott — und die Liebesreligion 48 . Die Kirche verbietet den Stolz, d. h. die Bewahrung des eigenen Ich — denn Gott will den Menschen im Innersten anrühren und aus den Angeln heben: dasselbe will die Liebe: daher ist es „Stolz", „Sünde" sich der Liebe zu verschließen; wer sich sträubt, den demütigt der Liebesgott 4 9 . Und so, wie der Sünder sein Damaskus erlebt, so bekehrt sich auch der neue Jünger der Liebe 5 0 . Die höfische Poesie entdeckte in der Geschlechterliebe die gleiche Erlebnisstruktur, die der religiösen Erfahrung eigen ist 5 1 ; nur die Auserwählten sind überhaupt zur Liebe fähig; der Gruß der Dame ist wie ein erhörtes Gebet, ihr Lächeln ist Gnade, sie ist dem Manne unendlich überlegen — darum wird sie knieend verehrt — und doch „läßt sie sich zu ihm herab". So rückt die Liebe ins Zentrum der Welt; Gott und seine Kirche sinken zur Bedeutungslosigkeit herab. Es scheint manchmal, als habe die mittelalterliche Welt in zwei Hälften auseinanderbrechen wollen: aber das tat sie nicht; wie mir scheint genau aus dem Grunde, welcher ihrer Zerstörung drohte. Denn wenn die Liebe adelt, wenn die Dame Inbegriff aller Tugend ist — muß man dann nicht annehmen, daß auch Gott an ihr Wohlgefallen hat? Gott war selbst courtois — er war, wie manche zu berichten wußten, aus Liebe zu Maria herabgestiegen — und deswegen konnte es doch keine Sünde sein, eine vollkommene Dame zu lieben! 4 6 Rosenroman 1913; „reson et drois" ist es auch — nach Chretien —, daß A m o r Soredamors und Alixandres dazu treibt, einander zu begehren, vgl. Cliges 513. 4 7 Chaucers Palamoun z. B. gelobt der Venus, immer gegen die Keuschheit Krieg führen zu wollen, vgl. Kn T 2236. 4 8 Vgl. hierzu A. Jeanroy, op. cit. II, pp. 98 ff.; E. Langlois, Origines et Sources du R o m a n de la Rose, Paris 1891. 4 9 Vgl. Cliges 456 ff., R R 1489. Es gab sogar Vorstellungen von einer A r t Hölle, in welche die verbannt wurden, welche sich der Liebe verschlossen hatten, vgl. Andreas Capellanus Buch II; Spenser, Fairy Queen VI, 7,28 ff. 6 0 Vgl. z . B . Troilus, I, 932ff.; ähnlich wie Soredamors und Alixandres. 5 1 Das beginnt schon bei Guillaume I X . Für den Gedanken des Auserwähltseins vgl. Bezzola, op. cit. pp. 11 ff.

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Mit solchen Erwägungen rechtfertigten vor allem die Dichter des dolce stil nuovo ihre Liebe 5 2 . Mit einer paradoxen Zuspitzung kann man sagen: die Verweltlichung des Himmels brachte es mit sich, daß die Welt sich nicht vom Himmel löste. Wir haben gesehen, daß „amour courtois" und „amour passion" keine strikten Gegensätze sind; „amour courtois" ist nicht ohne Leidenschaft denkbar. Courtoisie ist nicht in dem Sinne mesure, daß die Leidenschaften sämtlich und immer gezügelt werden müßten — im Gegenteil. Die Liebe ist „gut" und deswegen kann es „sage" sein, sich der Leidenschaft zu öffnen 5 3 . Der höfische Mensch ist, wie ich schon oben sagte, fähig, sich beeindrucken zu lassen — er muß dazu fähig sein, wenn er höfisch sein will. Höfische Liebe ist immer Liebe auf den ersten Blick: d. h. man läßt sich vom Anblick des Schönen und Vollkommenen treffen (vgl. Amors Pfeil); man ist fähig zu empfinden, seine Gedanken ständig auf die Schönheit der Dame zu richten, sich zu sehnen, zu seufzen — ja sogar sein Liebesleid zu genießen 54 ; allein wer das kann ist edel. Darum verstehen wir Gauvains Gedanken, Percevals Versunkenheit sei „süß" und „höfisch"; ein vilain wäre einer solchen Intensität des Fühlens gar nicht fähig. Im Erinnern an seine Freundin diente Perceval einem Höheren, als der „andere" Ritter zu sein beanspruchen kann; Frauendienst geht vor Herrendienst. Der Liebende muß sich ganz von der Liebe beherrschen, überwältigen und in seinem Wesen bestimmen lassen; nur dann ist er ein „fin amant", ein vollkommen Liebender. Kurz: die höfische Liebe entspricht dem emotionalen Charakter des höfischen Menschen. Aber sie wäre nicht höfisch, eine Liebe, deren Stätte der Hof ist, wenn das Emotionale überbetont würde. Es ist zwar „richtig", daß die Liebe den Menschen ergreift; aber es ist nicht „richtig", ihr haltlos nachzugeben — besser: seinen Affekten die Zügel schießen zu lassen 55 . Der Liebende muß immer „bei H o f e " bleiben, d. h. sich „sehen lassen" können. Jaufre Rudel ersehnte die „ferne Dame", die er nirgendswo (also auch nicht am H o f e ) fand; aber er machte aus seinen Schmerzen schöne Lieder, die bei H o f e vorgetragen wurden; ohne sie wäre er ein Sonderling gewesen, der nicht „dazu gehörte", als Dichter war er „dabei". Er verwandelte die Leidenschaft in Form und Schönheit. Damit sind die entscheidenden Begriffe genannt. Die Leidenschaft ist ein Trieb,, welcher die Formen lebendig macht; aber sie darf nur sein um zu Form und Schönheit zu werden; das Beieinander der höfischen Gesellschaft darf durch die Leidenschaft nicht gesprengt werden, die Liebenden müssen „ansehnlich" bleiben, damit man sie noch „ehren" kann. Wer von seinem Schmerz überwältigt wurde, 5 2 Noch Guido Guinizelli war besorgt, ob G o t t seine Liebe verzeihen würde, vgl. die letzte Strophe von „AI cor gentile". — Wie die Italiener, so rechtfertigten auch die deutschen Minnesänger ihre Liebe als „rein" und gottgefällig. Ihre Minne hat noch mehr als die der Troubadours den Sinn der „Erziehung". 5 3 Im Frühling, wenn die Vögel singen, dann müssen die jungen Menschen sich verlieben: wer das nicht tut, hat ein hartes H e r z (dur euer), vgl. Rosenroman 495ff. 5 4 Vgl. Bernard N r . I X : e platz me qued eu m'en dolha (es gefällt mir, daß ich leide); vgl. a. N r . X X X I . 5 5 Der Liebende des Rosenromans heißt „traitour", weil er gleich die Rosenknospe küssen will; sein Verhalten ist „vilenie", vgl. 3333 u. 2942.

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mußte sich vorübergehend in die Einsamkeit seines Zimmers oder der freien Natur zurückziehen; oder, wer die letzte Gunst — überhaupt eine Gunst — genossen hatte, mußte schweigen und verhindern, daß andere etwas davon erfuhren 5 6 . Das höfische Leben ist ein Spiel 5 7 ; es weigert sich, die letzten Tiefen, das Gefährliche und Zersprengende der Öffentlichkeit zu enthüllen; aber das Spiel zieht seine K r a f t daraus, daß die Tiefen da sind. Wenn es darauf ankommt immer „ehrbar" zu bleiben, dann ist es verständlich, daß die „reine", d. h. „sinnenfreie" Liebe lauter gepriesen wird als die sinnliche. Außerdem waren die mittelalterlichen Dichter bestrebt, sich den Weg zum Himmel möglichst nicht abzuschneiden; sie betonten also die „Unschuld" ihrer Neigung. Daraus, daß die Liebe sich immer der Öffentlichkeit präsentieren mußte, erklärt sich noch etwas anderes: die Formalisierung; und damit die Erstarrung und der Verfall der höfischen Liebe. Daß jemand schmachtend und voll „süßer Gedanken" sei, wurde zu einer Formel; die Ergriffenheit wurde comme il faut und damit zum Klischee. Endlich ist es verständlich, daß die Liebe Tristans, die alle Bande sprengt und ihn die „Ehre" vergessen läßt, nicht mehr eigentlich höfisch ist; Tristan und Isolde gehen — bezeichnenderweise — in die Einsamkeit, wo sie ihr höchstes Gück finden: sie sind nicht mehr „dabei" 5 8 . Chrétien de Troyes hat sich offenbar sehr mit dem Tristanproblem intensiv beschäftigt — die Tristanliebe zeigte Abgründe auf, die eigentlich nicht da sein sollten; aber Thomas der Normanne ging doch soweit, daß er selbst Tristans Liebe als „resun" bezeichnete. D a der Zusammenhang der Stelle außerordentlich aufschlußreich ist, sei sie hier kurz besprochen. Tristan hat die Königin Isolde verlassen und, nach vielem Zögern und Überlegen, die Ehe mit Isolde Weißhand geschlossen; als er aber in der Hochzeitsnacht mit ihr zu Bette gehen will, streift er beim Auskleiden an einen Ring, den ihm die andere Isolde einst gegeben hat. Nun beherrscht ihr Bild sein Inneres, und er muß einen schweren inneren Konflikt durchstehen. Seine Sinne werden gereizt von der Schönen, die vor ihm in den Kissen liegt und ihn liebend erwartet; diese Sinnlichkeit nennt Thomas „le voleir de sun corps" und „nature". Zu Isolde der Königin aber zieht ihn Liebe (amur), Sehnsucht (desir) und Vernunft (resun). J . Bédier, der Herausgeber und Kommentator des (nur fragmentarisch erhaltenen) Romans nennt diese Antithesen „un partipris de langage assez arbitraire" 5 9 . Gewiß, es mag willkürlich sein, die Bgriffe „natur", „voleir" auf der einen Seite gegen „amur", „desir", „resun" zu stellen; aber es wird doch bei näherem Zusehen ganz deutlich, was Thomas meint. Bédier erläutert: „le desir" 5 6 Für diese weitbekannte Tatsache vgl. z. B. Bernard de Ventadour I, Str. 3 (soweit bin ich noch vernünftig, daß ich niemandem etwas erzähle). Diskretion in Liebesaffären „gehört sich" in guter Gesellschaft, z. B. auch bei Congreve, T h e Way of the World. 5 7 Ich verstehe Spiel hier im Sinne von Huizinga, H o m o Ludens; also nidit als Spielerei. 5 8 Vgl. hierfür Maurer, Leid. pp. 205 ff. 5 9 P. 286, vgl. Le roman de Tristan, ed. J. Bédier, 2 vols., Paris 1902 (SATF).

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ist das, was ihn zu „Isolt la reine" zieht, „amour au sens plein du mot", „le voleir" ist „concupiscence charnelle". Wir können noch weitergehen. Tristan liebt die Königin Isolde mit seiner menschlichen Gesamtheit, von Isolde Weißhand werden nur seine Sinne gereizt. Die Sinnlichkeit hat eine Tendenz, sich aus der Gesamtheit des Menschen herauszulösen: ihr nachzugeben wäre ohne Zweifel folie. Tristan aber fügt sich der „resun" und dem „amur" : A m u r et resun le destraint Et le voleir de sun corps vaint.

Deswegen ist auch Tristan ein „fin amant": sein ganzes Wesen ist von einer Liebe bestimmt, die Vernunft und Leidenschaft erfaßt. Die höfische Liebe, können wir demnach sagen, hat zwei extreme Formen, die beide dazu tendieren das eigentlich Höfische zu sprengen oder es tatsächlich sprengen (es kommt auch hierbei auf den jeweiligen Standpunkt an): sagen wir Tristan und Isolde auf der einen, Dante und Beatrice auf der anderen Seite. Nicht nur Tristan „sprengt" das Höfische, auch Dante (und der dolce stil nuovo) — insofern als seine Dame Führerin zu Gott ist; zwischen beiden Extremen hält sich das, was man als „klassische Minne" bezeichnet. Der „klassisch" „Minnende" will sich nur bilden, er will nur tugendhaft werden: er will nicht „besitzen" 6 0 . Wir brauchen jedoch, um Chaucer zu verstehen, weder die nur „bildende" Liebe noch die zu Gott führende Liebe Dantes zu verfolgen. Chaucers Troilus steht in einer Tradition, die von Guillaume I X . über Bernhard von Ventadour führt. Aber der Troilus hat auch noch an einer anderen Tradition, oder, man kann auch sagen: an einer anderen geistigen Richtung Anteil. Am Schlüsse seines Gedichtes rät Chaucer den jungen Leuten, sich von weltlicher Eitelkeit abzuwenden und zum Himmel aufzublicken: dort sei eine Liebe, die niemanden enttäuschen würde 6 1 . Diese Paränese zur himmlischen Liebe steht in so flagrantem Widerspruch zu dem, was Chaucer in seinem ersten Buch gesagt hat — nämlich: daß es der Natur des Menschen entspricht, eine Frau zu lieben — daß der Schluß des Troilus schon zu verschiedenen Interpretationen Anlaß gegeben hat. H a t Chaucer vielleicht nur einen „ T o p o s " benützt 62 ? Oder hat er „sich eines Besseren besonnen"? 6 0 Vgl. hierfür H . Naumann, Ritterliche Standeskultur, und F. Neumann, Höfische Minne. Ztschr. f. dt. Unterr. 39. Die „reine" Minne wollte Wechssler aus der Mystik ableiten; dagegen protestierte E. Gilson (La théologie mystique de St. Bernard) mit guten Gründen: der Mystiker will „besitzen", er drängt „ad nuptias v e r b i " ; die „reine" Liebe dagegen versagt sich das eigentliche Ziel der Liebe (vgl. op. cit. pp. llOfï.). Gilson hat dabei den schwachen Punkt der spiritualisierten Liebe erkannt. Die Gefahren, die aus der Schule des „ H e r r n E b l o " der Gesellschaft drohen, sind offenkundig; die Gefahren der Spiritualisierung sind weniger deutlich, aber nicht geringer: der Mensch wird dadurch in die beiden Hälften des „Seelisch-Geistigen" und des „Nur-Sinnlichen" zerrissen (charakteristisch ist die Theorie von „amor purus und amor mixtus") — w o f ü r Baudelaire ein Musterbeispiel ist; und außerdem tendiert die „reine" Liebe zur Heuchelei oder, um den Ausdruck Sartres zu gebrauchen, zur mauvaise foi (vgl. L'être et le néant, pp. 94 if.). Neben dem erhabenen „Minnekult" steht im Mittelalter der Zynismus der Fabliaux. 6 1 Vgl. V, 1835 ff. 6 2 Vgl. Robinson zu V, 1885 ff.

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Die Interpretation des gesamten Troilus-Romans ist eine Aufgabe, deren Durchführung weit mehr Raum beanspruchen würde als in diesem Kapitel zur Verfügung steht. Anderseits gibt es, soviel ich sehe, keine befriedigende Analyse des Troilus; deswegen möchte ich das, was mir als die Hauptsache erscheint, kurz herausheben. Gegenüber Boccaccios Filostrato, der die Gestaltung eines persönlichen Erlebnisses ist, stellt sich Chaucers Werk als eine Tragödie (im mittelalterlichen Sinne) dar; Troilus kommt aus Liebeskummer zum höchsten Liebesglück, dann raubt ihm Fortuna 63 seine Geliebte und Troilus stürzt in tiefstes Unglück. Doch ist das nicht Chaucers einzige Veränderung. Er hat sowohl Troilus als auch Criseyde viel schwächer und passiver gemacht als es Troilo und Griseida sind; und er hat, was dem entspricht, dem Kuppler Pandarus eine viel wichtigere Rolle gegeben — abgesehen davon, daß er ihn aus dem Vetter Criseidas zu ihrem Onkel gemacht hat. Weder Troilus noch Criseyde wissen eigentlich, was sie wollen: sie stehen mit sich selbst im Widerspruch. Troilus, worauf ich schon oben hinwies, will Criseyde „rein" lieben 64 , aber er läßt sich doch willig, wenn auch zitternd, in ihr Schlafzimmer befördern. Sein „Trieb" und seine bewußten Absichten stehen also im Widerspruch zueinander. Er will — im Grunde — etwas, von dem er sich bewußt keine Rechenschaft ablegt. So gern aber Troilus Criseyde besitzen will — so unfähig wäre er doch, von sich aus den kleinsten Schritt der Annäherung zu tun. Pandarus sagt ihm, wie er alles machen muß — daß er einen Brief schreiben soll und ihn mit seinen Tränen benetzen soll 65 ; Pandarus arrangiert mit einer List das erste Sehen 66 , wobei dann Criseyde Troilus zu ihrem „sweetheart" und Ritter erklärt (dere herte and al my knight 67 ); Pandarus arrangiert die erste Liebesnacht. Troilus ist so schwach und inaktiv, daß er vor Aufregung in Criseydes Schlafzimmer ohnmächtig wird: da packt ihn Pandarus an, zieht ihn bis aufs Hemd aus und wirft ihn in das Bett der Dame 68 . All das hat Chaucer zu Boccaccios Erzählung hinzugedichtet. Schwach und mit sich selbst im Widerspruch ist auch Criseyde. Sie ist entsetzt, als Pandarus ihr zuerst von Troilus Liebe erzählt und sie zum Mitleid auffordert, sie fühlt sich verraten 69 ; es gelingt aber dem raffinierten Kuppler sie zu beschwichtigen, und bald fängt sie an sich für Troilus zu interessieren, will aber von irgendwelchen Zugeständnissen noch nichts wissen70. Zufällig — das arrangiert das Schicksal71 — kommt Troilus gleidi darauf an ihrem Fenster 6 3 Vgl. IV, Iii., vgl. hierzu C. S. Lewis, Allegory pp. 176ff., Nevill Coghill, The Poet Chaucer, London 1949, pp. 64 ff. 6 4 Vgl. I, 1030 ff. Das entspricht genau dem Troilo Boccaccios; genau so Pandarus* — Pandaros Spott. 6 5 II, 1002 ff. 6 6 II, 1041 ff. 6 7 III, 176 ff. 6 8 III, 1095. 6 9 II, 407 ff. 7 0 II, 499 ff. 7 1 III, 610 ff. (Boccaccio erwähnt das Schicksal nicht).

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vorbeigeritten, und sein Bild prägt sich tief in Criseydes Herz, so tief, daß sie selbst spürt, daß etwas mit ihr vorgeht 7 2 . Dann beginnt sie heftig mit sich selbst zu argumentieren: wobei sie schon nicht mehr um ihre Ehre besorgt ist, sondern sich nur noch fragt, ob sich eine Liebschaft auch lohne 73 . Sie bleibt im Ungewissen, hört aber gleich darauf den verzückten Liebesgesang eines ihrer Mädchen: und nachts im Traum nimmt ihr ein Adler ihr eigenes H e r z aus der Brust und legt ein anderes — sein eigenes — in ihre Brust 7 4 . Obwohl also, wie man daraus sieht — der Traum ist Symbol — Criseyde sich im tiefsten Innern für Troilus und die Liebe entschieden hat, will sie doch noch lange nicht mit ihm sprechen: ja, bewußt und ausdrücklich gibt sie nie ihre Zustimmung, sich mit Troilus zu treffen 7 5 . Deswegen ersinnt Pandarus eine neue List um ein anscheinend „neutrales" Gespräch zu inszenieren: in dem es angeblich nicht um Liebe gehen soll — Criseyde ist aber keinen Moment verwundert, als ihr Troilus von nichts als seiner Liebe erzählt; ja, sie sträubt sich nicht einmal gegen die deutlichen Vorschläge des Pandarus, Gelegenheit zu intimeren Beisammensein verschaffen zu wollen 76 . Pandarus lädt daraufhin Criseyde eines Tages zum Abendessen ein; sie fragt ihn, ob Troilus vielleicht auch da sein würde? worauf Pandarus heilige Eide schwört, daß Troilus verreist sei. Chaucer sagt ausdrücklich, er wisse nicht genau, was sich Criseyde bei diesen Beteuerungen gedacht habe; auf jeden Fall überläßt Criseyde ihrem Onkel alles: er würde es schon recht machen 77 . Als dann, endlich, nach langen Vorbereitungen und Mühen Troilus seine Dame in die Arme schließt und sie auffordert sich ihm hinzugeben, da sagt sie: N e hadde I er now, my swete herte dere, Ben yolde, y-wis, I were now nat here 7 8 !

Im Grunde also hat sie das immer gewollt und ersehnt — obwohl sie sich nie ausdrücklich darüber Rechenschaft gegeben hat 7 9 . Wer so wenig über sich selbst Bescheid weiß, wer so wenig weiß, was er eigentlich will, der braucht jemanden, der ihn führt: Troilus und Criseyde wären nichts ohne den Kuppler Pandarus. Sie sind, im eigentlichen Sinne, unselbständig: und deswegen ist es kein Wunder, es ist sogar unvermeidlich, daß ihre Liebe zerbricht, als das Schicksal sie auseinanderreißt. Troilus wagt nichts gegen die Trennung zu unternehmen, Criseyde will zwar immer zurückkehren — wie sie versprochen hat — aber sie weiß nicht recht wann und wie: obwohl sie schon zur Flucht aus dem Griechenlager entschlossen ist, tut sie es doch nicht 80 ; und als Diomedes um sie wirbt, weist sie zwar seinen Antrag ab aber III, 651 „who yaf me drinke?". III, 694 ff. 7 4 II, 827 ff. 7 5 II, 1121 ff. 7 6 III, 50 ff. 7 7 III, 568 ff. 7 8 III, 1210 f. 7 9 Boccaccios D a m e ist viel berechnender und selbstsicherer; alle die von mir zitierten Stellen sind von Chaucer entweder erfunden oder entscheidend verändert. 8 0 V, 750 ff. 72

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sagt doch, wenn sie jemals „Mitleid" mit einem Griechen haben sollte, dann würde es sicher Diomedes sein 81 . Kurz darauf wird sie seine Geliebte nicht ohne Jammer über ihre Untreue 8 2 . Troilus und Criseyde sind zur Liebe gar nicht fähig. Denn die Liebe würde verlangen, daß sie ihren Drang in Bewußtsein umsetzen, daß sie sich selbst kennen und dadurch sich selbst in der H a n d haben und leiten können. Die Liebe will Dauer, sie will, ihrem eigentlichen "Wesen nach, ewig und zeitlos sein; aber die Zeit — das Schicksal — ist stärker, und Troilus und Criseyde sind nicht stark genug um das Schicksal zu überwinden. Aber welcher Mensch, scheint Chaucer zu fragen, ist überhaupt stark genug, „die Liebe zu leisten"? Die Liebe mag zwar Glück geben, sie gibt das Empfinden der vollen Seligkeit: aber das alles ist nur wie ein Augenblick — deswegen rät Chaucer am Schluß seines Gedicktes den jungen Menschen, sie sollten ihre Gedanken auf den Himmel richten. Denn im Himmel ist wirklich Dauer. Chaucer verurteilt aber weder die schwachen Menschen noch die Liebe, er verachtet die Menschen nicht, die sich der Liebe widmen, er rät ihnen nur mitleidig davon ab. Chaucer verurteilt nicht einmal Criseyde, er bedauert sie nur 83 . Er nimmt die Menschen wie sie sind: schwach, abhängig von den Umständen und von ihren eigenen Trieben und bemitleidet sie deswegen; er muß freilich feststellen, daß die Menschen nicht ausreichen 84 . U n d damit steht Chaucer in einem strikten Gegensatz zur Tradition der höfischen Liebe. Denn die höfische Liebe, an welche Form wir auch denken, setzt doch immer die Möglichkeit voraus, daß der Mensch durch die Liebe der Vollkommenheit nahekommt: Chaucer spricht, durch seine Darstellung, dem Menschen die Möglichkeit zur Vollkommenheit ab. Seine Vorstellung vom Menschen — wie sie sich jedenfalls im Troilus ausdrückt — ist radikal von der des höfischen Mittelalters unterschieden: ebenso radikal auch vom Menschenideal der Renaissance 85 . Ganz anders als der Troilus schließt die Knight's T a l e : Palamoun darf Emilye heiraten und der Erzähler sagt: . . . now is Palamoun in ale wele Lyvinge in bliss, in richess, and in hele, And Emilye him loveth tendrely, A n d he hir serveth al so gentilly, T h a t never was ther no word hem bitwene Of jalousie or any other tene. Thus endeth Palamoun and Emilye; And G o d save al this faire companye! A m e n 8 6 .

Das ist, auf den ersten Blick, der Schluß eines Märchens. „Und als sie verheiratet V, 1000 f. V, 1051 ff. 8 3 Chaucer will nicht einmal zugeben, daß Criseyde den Diomedes wirklich liebte, sie gab sich hin, ohne ihr H e r z zu geben. „Men seyn, nat I, that she him yaf hir herte." V, 1050. 8 4 Wir konnten dasselbe — daß die Menschen schwach sind und deswegen Mitleid verdienen — im II. Kapitel feststellen. 8 5 Ich hoffe, die hier angedeuteten Gedanken bald in einem speziellen Aufsatz ausführen zu können. 8 6 Knight's Tale 3101 ff. 81 82

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waren, lebten sie immer fröhlich und glücklich miteinander." Aber die Knight's T a l e ist — auch in ihrem Schluß — kein Märchen; Palamoun „dient" seiner Frau in „edler Weise", und sie liebt ihn „zärtlich". Der Erzähler sagt damit etwa: o b w o h l sie sich geheiratet hatten, liebten sie sich doch noch wie „es sich gehört" — d. h. nach den Regeln der höfischen Liebe. Damit ist das zweite Problem dieses Kapitels gestellt. Wie verträgt sich „höfische Liebe" mit Ehe? Hier ist wiederum eine Vorfrage zu beachten,. D a ß ein Ritter, der eine Dame ganz comme il faut liebt diese Dame auch heiratet, das kommt in R o manen, bzw. kürzeren Erzählungen („Novellen") vor; nicht im lyrischen Gedicht. Weder die Troubadours noch die Minnesänger besingen die Dame, die sie heiraten wollen, noch besingen sie die Freuden der ehelichen Liebe. Roman und Erzählung haben dagegen eine andere Struktur. Sie schildern — schon in der einfachsten Form des Märchens — oft die Brautfahrt, Werbung und Heirat eines jungen Mannes. Die Stoffe vieler höfischen Romane und Erzählungen nun, wie man jetzt wohl allgemein annimmt, sind von den mittelalterlichen Dichtern nicht erfunden worden, sondern entstammen einer alten Tradition — und gehören damit einer Schicht an, welche das „Folklore" bearbeitet 8 7 . Die Auffassung von der höfischen Liebe dringt im 12. Jahrhundert in Roman und Erzählung ein und bestimmt die Form, wie geliebt wird: ohne aber die Ehe, die am Schluß steht, zu beseitigen. Von den Helden Chrétiens tragen die meisten kein Bedenken, die Dame ihrer W a h l auch zu heiraten: Erec, Yvain, Alixandres, Cliges, weswegen man z. T . angenommen hat, Chrétien wolle die eheliche Liebe gegen die destruktiven Theorien der Troubadours in Schutz nehmen — dem widerspricht allerdings der „Karrenroman", in dem Chrétien eine deutlich ehebrecherische Liebe darstellt, und, bis zu einem gewissen Grade, der Graalsroman, in dem kein verheiratetes Paar — aber doch viel Liebe — vorkommt. Eine klare Regel über die Art, wie „man" liebt, läßt sich, wie mir scheint, aus den Romanen Chrétiens nicht ableiten. Wurde Chrétien vielleicht durch seine Gebundenheit an den Stoff — an die überlieferte Fabel — daran gehindert, das auszusprechen, was er eigentlich meint? Das würde heißen, daß er an die Grundstruktur des Romans — so wie ich es oben andeutete — gefesselt blieb und die Formen der höfischen Liebe nur äußerlich aufsetzte. Allein, die Gebundenheit an die Fabel ist bei einem Dichter wie Chrétien nicht anzunehmen; nicht nur er, sondern auch die andern großen französischen Romanciers des 12. Jahrhunderts waren sich bewußt, daß sie aus dem gegebenen Stoiï den „Sinn" („san") herauszuholen hatten 8 8 . Chrétien hätte z. B. Erec und Enite sehr gut unverheiratet lassen 8 7 Vgl. hierzu Jessie L. Weston, T h e Legend of Sir Perceval, G r i m m Library No. 7, London 1910. — Der große Herausgeber Chrétiens, W . Foerster, hat derartige T h e o rien leidenschaftlich gehaßt und bekämpft, wie in jeder seiner Einleitungen deutlich zum Ausdruck k o m m t . 8 8 Vgl. R . Bezzola, Le sens, pp. 63 ff. Bezzola zeigt die geistige Selbständigkeit dieser Dichter schlagend auf. — Man wird weder Chrétien, noch Chaucer, noch auch Wolfram oder Gottfried gerecht, wenn man annimmt, sie seien von ihrer Fabel abhängig gewesen; für W o l f r a m und Gottfried betont das F. Maurer, Leid, an verschiedenen Stellen.

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können, wenn es ihm darauf angekommen wäre. Die einzige Antwort auf die Frage, warum er sie sich heiraten ließ, kann also nur sein, daß es ihm auf Verheiratetsein nicht ankam — jedenfalls nicht prinzipiell 8 9 . Wichtig war — wie es scheint — allerdings, daß auch die eheliche Liebe den Gesetzen und Anforderungen des Hofes genügt. Cliges und Fenice z. B. lieben sich lange Zeit in praktisch ehebrecherischer Weise; sie können heiraten, als der ahnungslos betrogene Ehemann stirbt: da fühlt sich Chrétien genötigt zu betonen, daß auch die Ehe nichts an der Intensität und am Stil ihrer Liebe geändert habe. Cliges fuhr fort, erzählt der Dichter, sie „dame" und „amie" zu nennen, und sie behandelte ihn „con l'an doit feire de son a m i " 9 0 . An einer Stelle allerdings geht Chrétien noch darüber hinaus. Soredamors und Alixandres lieben sich — ganz so wie es sein muß: mit Seufzen, Zittern, Entsagung und Schüchternheit — und das bemerkt die Königin Guinèvre, die offenbar hinreichende Erfahrung im Liebesdienste hat. Sie bringt nun die beiden zusammen und sagt ihnen, was sie zu machen haben: D'amor andotriner vos vuel. Car bien sai qu'Amors vos anfole . . . Ja vers moi ne vos celez! De ce trop folemant ovrez Que chascuns son panser ne dit. O r vos lo que ja ne queroiz Force ne volanté d'amor. Par mariage et par enor Vos antreconpaigniez ansanble. Einsi porra, si con moi sanble Vostre amors longuemant d u r e r 9 1 .

Das Beste also, meint die Königini, ist, wenn sich die beiden heiraten — auf die Weise wird ihre Liebe lange dauern. W i r werden also sicher nicht im Sinne Reto Bezzolas antworten können, wenn er, auf dem Budi des Kaplans Andreas insistierend, fragt: „Et où voit-on dans Cliges ou dans le Chevalier au Lion la m o i n d r e t r a c e d ' a m o u r c o n j u g a l 9 2 ? Sondern wir müssen sagen: Chrétien sah, anders als Andreas, in der Ehe kein Hindernis für die Liebe; in einem Falle läßt er sogar eine edle Dame, die sicher etwas von amour und courtoisie versteht, die Ehe als beste Lösung anraten. Wenn, wie Bezzola annimmt, die Lehren des Kaplans Andreas allgemeine Gültigkeit gehabt hätten, dann müßte am H o f der Gräfin von Champagne ein Sturm der Entrüstung losgebrochen sein, als Chrétien die Worte der Königin Guinèvre vortrug. Allein, davon ist uns nichts bekannt. So durchbricht also auch Chaucer nicht die höfischen Regeln, wenn er von der Heirat Palamouns mit Emilye erzählt. Auch er allerdings betont, daß 89

moral.

Allerdings war Chrétien auch nicht der Vorkämpfer einer bürgerlichen Ehe-

Cliges, 6754ÎÎ. Cliges, 2290 ff. Die Verse „or vos l o " etc. sind nach Foerster nicht verständlich. Sollte mit „force et volanté d ' a m o r " nicht „hemmungslose Leidenschaft" gemeint sein? 90

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Op. cit. p. 77.

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Palamoun seiner Dame weiter gedient habe: der Schluß der Knight's T a l e ist mit dem des Cliges sehr nahe verwandt. D a die Regel des Kaplans Andreas, Liebe und Ehe seien unvereinbar, wie aus all dem hervorgeht nicht allgemein anerkannt war, kann auch G. L. Kittredges — sonst in vieler Hinsicht wertvoller — Aufsatz: „Chaucer's Discussion of Marriage" 9 3 nicht ganz überzeugen. Wenn Kittredge sagt: „It was the regulär theory of the Middle Ages that the highest type of chivalrous love was incompatible with marriage" so kann ich ihm schon deswegen nicht beistimmen, weil es eine „regulär theory" nicht gegeben hat. Allerdings hat die Liebe des Arveragus zu Dorigen, die Kittredge im Auge hat, doch etwas Besonderes an sich. Arveragus verspricht, er wolle über Dorigen, wenn sie seine Frau würde, nie Herrschaft ausüben, sondern ihr dienen „as any lovere to his lady shal", und darauf erwidert sie ihm, sie würde ihm immer ein demütiges Weib sein 94 . Sie will also weder über ihm stehen, wie es der Hof verlangt, noch will er über sie herrschen, wie es die Kirche fordert. Beide erkennen sich vielmehr als gleichberechtigt an, und der Erzähler, der vermutlich Chaucers eigene Meinung ausspricht, sagt genau das sei das Richtige: jede Herrschaft sei der Liebe abträglich. Das allerdings scheint für Chaucer charakteristisch; die völlige Gleichberechtigung in der Ehe ist nicht mittelalterlich, sondern erscheint sogar äußerst „modern" 9 5 . Die beiden zu Eingang des Kapitels gestellten Probleme sind damit beantwortet. Chaucer verstößt nicht gegen den Geist der höfischen Liebe, wenn er Troilus seine Criseyde besitzen läßt; er sieht aber den Menschen so an, wie ihn die höfische Dichtung nicht sieht; er verstößt ebenfalls nicht gegen die „Regeln", wenn er von der Ehe Palamouns mit Emilye erzählt; aber der Ehevertrag des Arveragus mit Dorigen stellt doch etwas Besonderes dar. Ich beschließe nun dieses Kapitel mit einer Darstellung des Humors, den Chaucer gelegentlich bei der Darstellung von Liebenden zeigt. Die höfische Liebe geht, worauf ich schon mehrmals hinwies, immer in bestimmten, fast rituellen Formen vor sich. Seit dem Roman d'Enee ist die Liebe eine Krankheit, die sich in exakt vorgestellten Symptomen äußert 96 . Jeder Hörer oder Leser einer höfischen Dichtung weiß sofort, wenn einer der Helden oder eine der Heldinnen — zu stöhnen und zu zittern beginnt, die Farbe wechselt oder sich in die Einsamkeit zurückzieht, daß er sich verliebt hat 9 7 ; und auch in den Werken selbst gibt es Gestalten, die sofort Bescheid wissen. So die genannte Königin Guinevre im Cliges, oder Fenices Amme Thessala im gleichen Roman: 93

MP IX, pp. 435 ff.

Vgl. Franklin's Tale (V), 729/60. Allerdings sagt schon Bernard de Ventadour gelegentlich: En agradar et en voler es l'amors de fis amans, vgl. Appel, N r . X V . 9 6 Vgl. G . C o h e n , Chretien de Troyes et son oeuvre, Paris 1931, pp. 4 6 f f . ; J. L. Lowes, MP XI, pp. 491 ff. 9 7 Diese Krankheit ist courtois, vgl. R R 2179, und von allen anderen Krankheiten verschieden, vgl. Cliges 3070 ff. 94

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Thessala qui mout estoit sage D'amor et de tot son usage Set et antant par sa parole Que d'amor est ce qui l'afole . . , 9 8 .

oder auch Chaucers Pandarus. Es gibt aber auch andere, die sich absolut nicht erklären können, woran ihr Freund oder Liebling leidet; selbst Pandarus, der an sich Bescheid weiß, meint zunächst, Troilus habe Angst vor den Griedien — oder, was genau so schlimm zu sein scheint, daß er plötzlich von Gewissensqualen gepackt und in „som devocioun" verfallen sei". In Spenser Fairy Queen hat sich der Jüngling Marinell in die schöne Florimell verliebt und wird vor Kummer krank. Seine Mutter kann nicht verstehen, woran er leidet: Noght coude she reade the roote of his disease Ne ween what maner maladie it was 1 0 0 .

Wenn wir die Gedichte des Giraut de Bornelh aufschlagen, lesen wir bald den Gedichtanfang „Ailas! com mor!" — und wissen wohl gleich, was dem Leidenden fehlt; der Partner aber — das Gedicht hat Dialogform — muß erst fragen „Quez as, amis" 101 ? Wir modernen Leser können uns eines Lächelns nicht erwehren, wenn wir immer dieselben Klagen hören und die gleichen Symptome beschrieben finden. Woher kommt unser Lächeln? Ohne daß ich Bergsons Theorie des Lachens in toto akzeptieren möchte, meine ich, daß hier ein gewisser „Automatismus" vorliegt. Es hat etwas „Automatenhaftes" an sich, wenn die Menschen immer wieder in den gleichen Formen erleben und sich ausdrücken. Konnte man schon im Mittelalter über so etwas lächeln? Oder nahm man die höfische Liebe immer und in allen ihren Formen ernst? Huizinga sagt, in der französischen Kultur des 15. Jahrhunderts habe ein labiles Gleichgewicht von sentimentalem Ernst und leichtem Spott geherrscht102. Aber wir brauchen uns nicht auf das 15. Jahrhundert zu beschränken. So gibt bereits Raimbaut d'Orange „une amusante parodie des ensamenhs": er empfiehlt als Mittel der Werbung erst Drohungen und Schläge, dann erklärt er, er selbst wolle gar nicht geliebt werden, deswegen sei er demütig, gefällig, treu, zurückhaltend und „doux" 103 . Vielleicht schrieb auch Chrétien mit einem leichten Lächeln die Verse, welche seine Königin Guinèvre oder Thessala sprechen. Sicher hat Chaucer sich ein wenig amüsiert, wenn er von den Leiden seiner Helden sprach. Er war Erbe einer schon Jahrhunderte alten Tradition; seinem bewußten und wachen Geiste mußte das Komische in der höfischen Liebe auffallen. Ich analysiere im Folgenden einen Abschnitt aus der Knight's Tale, an dem seine Stellung zum Uberlieferten besonders deutlich wird 104 . Cliges 3095 ff. Troilus I, 554 ff. 1 0 0 Fairy Queen, IV, 12,22 f. 1 0 1 Ed. Kolsen Nr. I. 1 0 2 Herbst, p. 107. 103 Vgl. Jeanroy, Poésie lyrique II, pp. 44 f., vgl. a. Jeanroy, Romania 56, p. 510. 1 0 4 Für das Folgende vgl. K n T l 3 5 5 f f . 98

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K l e i n s t ü c k , Chaucers Stellung

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Arcite ist aus dem Gefängnis freigelassen, und, wie Theseus befohlen hat, nach Theben zurückgekehrt: hier tut er nichts, als an seiner Liebe zu leiden: Whan that Arcite to Thebens comen was Ful ofte a day he swelte and seyde alias! For seen his lady shal he never-mo. And shortly to concluden al his wo So muche sorwe had nevre creature, T h a t is, or shal, whyl that the world may dure.

Der Erzähler will sich also kurz fassen; das liegt überhaupt in seiner Absicht, denn er hat wenig Zeit 1 0 5 . Aber er kann sich doch nicht so schnell von seinem Helden losreißen; er setzt noch einmal an und berichtet all seine Leiden ausführlicher — wobei er die konventionellen Symptome der Liebeskrankheit aufzählt: aber betont, Arcites Leiden seien schlimmer als gewöhnlich. Darauf gibt er noch einmal eine medizinische Diagnose, um endlich seinen Redefluß noch einmal mit „and shortly" abzubrechen und zu schließen: What sholde I al day of his wo endite? Was läßt sich aus dieser Darstellung entnehmen? Wie steht der Erzähler, der so darstellt zu dem, was er erzählt? Er will es kurz machen und bricht daher nach einigen Andeutungen wieder ab; setzt aber noch einmal zu ausführlichem Bericht an. Dann bridit er wieder ab und fragt: was sollte ich den ganzen T a g davon erzählen? Die Frage impliziert, daß es eigentlich „gar nichts Besonderes" zu berichten gibt; die Liebeskrankheit und ihre Symptome sind ja allgemein bekannt. So wie Arcite geht es — der Konvention nach — jedem Liebenden. Jeder Liebende erfährt die Macht der Leidenschaft so, als ob er zum ersten Male liebte: als ob vor ihm noch niemand geliebt hätte. Das scheint Chaucer zu spüren; und deswegen bemitleidet er seinen Helden und kann sich nicht von ihm losreißen. Zugleich aber ist für ihn, der den „ F a l l " nur beobachtet, genau so wie für seine Zuhörer, die Liebe „immer wieder dasselbe"; deswegen kann er kühl analysieren und fragen: warum sollte ich den ganzen T a g davon erzählen? Für Chaucer war also die Liebe zugleich „nichts Besonderes" und doch etwas „Besonderes". Ehe wir die Konsequenzen daraus ziehen, betrachten wir noch andere Stellen aus der Knight's Tale. Anders als Boccaccio berichtet Chaucer unmittelbar nach den Leiden Arcites von denen Palamouns 1 0 6 . Ihnen gegenüber nimmt er die gleiche Haltung ein: Who feleth double wo and hevinesse But Palamoun?

Dabei bekommt der so häufige „Unsagbarkeitstopos" einen besonderen Sinn: Who coude rhyme in English properly His martirdom? For sooth, it is nat I; T h e r f o r I pass as lightly as I may.

Die Leiden der beiden Jünglinge sind im Prinzip gleich; beide unsagbar, beide einzigartig — und beide gewöhnlich. 105 106

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Vgl. z. B. ibid. 885 u. ö. Ibid. 1451 ff.

Kurz vor der Schilderung ihrer Leiden hat der Erzähler eine „Demande" angebracht 1 0 7 : wer leidet mehr, Palamoun, der in der Nähe der Geliebten sein darf, aber im Gefängnis schmachten muß — oder Arcite, der frei ist, aber seine Geliebte nie mehr sehen soll? Der Dichter selbst entscheidet nicht: die Liebenden mögen antworten. Chaucer selbst äußert sich nicht und zeigt, durch die Art seiner Darstellung, daß eine Antwort gar nicht gegeben werden kann. Was die Liebenden durchmachen, kann gar nicht objektiv, wie eine Sache, beurteilt werden; der Liebeskummer stellt sich dem, welcher ihn erleidet, anders dar als dem, der betrachtet; um sich eine Meinung zu bilden, muß sich der Betrachter einfühlen — wenn er sich einfühlt, verliert er die Distanz, die zum Urteil nötig ist. Auf die Weise bekommt die traditionelle „Demande" einen besonderen Sinn. Chaucer spielt mit den überlieferten Formen, nicht aber, um sich allein über sie lustig zu machen, sondern um etwas sehr Eigentümliches aufleuchten zu lassen. E r ist bewußt und reflektiert; seine Ironie umspielt die Gestalten, läßt sie aber doch „sein". Das ist die Haltung des verstehenden Humoristen. W i r begegnen ihr in der Knight's Tale noch öfter. So etwa, wenn Chaucer zu Arcites Liebesklagen, die er in jenem Wäldchen, ohne sein Wissen von Palamoun beobachtet, ausstößt, den kühlen Kommentar gibt: As doon thise loveres in hir queinte geres

Now in the croppe and now down in the breres 108 . Das heißt wohl soviel wie: Arcite benahm sich komisch, aber das tun verliebte Leute nun mal. Dabei weiß aber Chaucer ganz genau, daß die Liebe „kein Spaß" ist: O Cupide, out of alle charitee 1 0 9 !

Genau so wie Chaucer (oder der Ritter) denkt Theseus. Auf der einen Seite erkennt er, erschrickt er über die dämonische Macht der Liebe: T h e God of Love! a, benedicite! H o w mighty and how greet a lord is h e 1 1 0 !

Auf der anderen Seite aber kommt ihm das Verhalten der Verliebten komisch vor; er muß darüber lächeln. Was sie tun erscheint ihm wie ein Spaß (game); sie glauben „ful wyse" zu sein und sind doch „foles". Auch Theseus versteht, wie Chaucer, reflektierend, er lächelt und nimmt zugleich die ganze Angelegenheit sehr ernst; so ernst, daß er verzeiht. E r verzeiht aber nicht deswegen allein, weil er ernst nimmt; sondern gerade auch deswegen, weil er lächelt 1 1 1 . Theseus amüsiert sich besonders darüber, daß die Dame, für die Palamoun und Arcite in Liebe entbrannt sind, gar nichts von dieser Liebe weiß: daß scheint ihm „der größte Spaß bei der ganzen Sache" — „the beste game of 1 0 7 Ibid. 1347 ff. — „La demande est un jeu, qui n'a d'autre objet que de faire briller l'esprit ou la f¿licité de l'imagination." Jeanroy, op. cit. II, p. 267. — Verschiedene Interpreten haben die ganze Kn T als D. aufgefaßt, doch hat Robinson diese Interpretation mit Recht zurückgewiesen, vgl. p. 772. 1 0 8 Ibid. 1531 f., vgl. R R Amors se rechange souvent (v. 3496). 1 0 9 Ibid. 1623. 1 1 0 Ibid. 1785 ff. 1 1 1 Vgl. oben, Kap. II.

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all" 1 1 2 . Aber daß man seine Dame anschwärmte ohne sich ihr zu erklären, das war dodi gerade so außerordentlich courtois! Indem man sie nur von fern anbetete, machte man sie zu einem Ideal der weiblichen Vollkommenheit: und gerade das kommt Theseus komisch vor. Chaucer hat seine Emilye ganz zum Bilde gemacht, er hat ihr kaum einen individuellen Zug gegeben. Das muß verwundern; denn obwohl Chaucer viel von Psychologie versteht, ist Boccaccios Emilia lebendiger als ihr englisches Pendant. Boccaccios Dame nämlich bemerkt die beiden Jünglinge schon im Gefängnis und freut sich daran, daß sie beachtet wird — nidit aus Liebe, sondern „di vanitate die innate han le femine nel cuore" 113 . Aber sie bleibt nicht „vana", sondern wird später sehr ernst und verantwortungsbewußt: sie fühlt sich an Arcitas Tode schuldig und glaubt, ihn nicht überleben zu können. Den gleichen Gedanken muß ihr Teseo noch ganz zum Schluß ausreden 114 . Ist Chaucer dagegen „noch mittelalterlich"? Die Blaßheit der Emilyegestalt paßt zum Humor des Theseus: indem Chaucer die Emilye blaß, fern und ideal wie eine „dame lointaine" darstellte, machte er den Humor des Theseus möglich und sinnvoll 115 . Ich habe diese verschiedenen Partien der Knight's Tale analysiert um Chaucers Humor an einer Erzählung aufzuweisen, deren Tiefe und Lebendigkeit noch immer nicht recht gewürdigt worden ist 116 — dasselbe ließe sich am Troilus zeigen, der schon viele und, in dieser Hinsicht, ausgezeichnete Interpretationen hervorgerufen hat. Chaucer lacht über die Liebe, so wie er über die Menschen lacht: er ist durch sein Wissen frei und überlegen und, gerade durch dieses Wissen, fühlt er sich dem gleich, den er verspottet; er ladit immer über sich selbst mit wenn er andere belächelt. Ibid. 1806. Teseida III, 29. 1 1 4 Tes. X, 77/80; XII, 39/43. 1 1 5 Den Grade von P. u. A.s Exaltiertheit zu bestimmen, ist nicht einfach; wenn wir sie mit dem „klassischen Fall" der „Fernliebe", Jaufre Rudel vergleichen, fällt ein wichtiger Unterschied auf: Jaufre leidet darunter, daß er seine Dame nidit erreichen kann, malt sich aber aus, wie es sein wird, wenn er endlich bei ihr ist. Chaucers Ritter machen skh solche Gedanken gar nicht, vgl. die Jaufre-edition von Jeanroy (Paris 1927), vgl. besonders die Kanzonen I, II, III, Y ; vgl. auch Guilleaume, Kanz. IV. zur Fernliebe: Olin H. Moore, Jaufre Rudel and the Lady of Dreams, PMLA XXIX, p. 517ff.; Voßler, A. d. rom. Welt, pp. 40ff. 116 Wie die Aufsätze von H. J. Webb (RESt XXIII, 1947) und W. Frost (RESt X X V , 1949) zeigen, vgl. dagegen die Bemerkungen N. Coghills über den Troilus als Tragikomödie (op. cit. pp. 65 ff.) und W. Ker, Epic and Romance (London 1908, pp. 369 f.). 112

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V. Superbia Zu Beginn seiner Canterbury Tales hat Chaucer eine Reihe von Charakterporträts hingestellt, die allein schon genügen würden ihm eine Sonderstellung in der ganzen mittelalterlichen Literatur zu geben; wegen ihrer Lebendigkeit und Plastik haben sie die allgemeine, und fast immer rückhaltlose Bewunderung der Kritiker gefunden — daher brauchen wir uns bei diesem Thema nicht lange aufzuhalten sondern fragen: wie ist es möglich, daß diese so verschiedenen, in ihrer Eigenart so scharf ausgeprägten Gestalten sich zu einer Gesellschaft zusammenfinden? Wie können Ritter, Priorin und Somnour — u m nur drei zu nennen — sich miteinander vertragen? Der Ritter und die Priorin gehören ungefähr der gleichen Gesellschaftschicht an: aber der Somnour? Abgesehen davon, daß er niederen Standes ist, kann man ihn kaum als salonfähig ansehen, denn er ist äußerlich abstoßend und moralisch verkommen. Es ist das Vergnügen, speziell die Freude an der Geselligkeit, welche die verschiedenen Elemente zu einem Ganzen zusammenbindet. Alle haben ein gemeinsames Wegziel: den Schrein von Canterbury — das allein genügt jedoch nicht, sie sich wirklich einander zuwenden zu lassen; wenn es nicht die Freude an der Geselligkeit als solcher wäre, würden sie vielleicht, wie der Wirt andeutet, „stumm wie die Steine" nebeneinander herreiten: And wel I wot, as ye goon by the weye Y e shapen yow to talen and to pleye; For trewely, confort ne mirth is noon T o ryde by the weye doumb as a stoon 1 .

„Confort and mirth" sind die Stichworte, auf die hin sich die verschiedenen Einzelmenschen zur Gesellschaft zusammenfinden. Der Sinn ihres Zusammenseins ist der gleiche wie im Decamerone 2 : die Freude. Damit ist ein „Lebenszweck" gegeben, der dem des Hofes entspricht; und so sind auch die Maßstäbe nach denen man sich orientiert, die der Courtoisie: gegenseitige Rücksicht und Achtung. Sie werden stillschweigend, als selbstverständlich, vorausgesetzt; ausdrücklich genannt werden sie erst in dem Augenblick, wo sie nicht beachtet werden — und das kommt in dieser Gesellschaft oft Canterbury Tales I, 771 ff. Vgl. die Einleitung des Decamerone; Pampinea schlägt vor, dem von Pest und Unmoral verwüsteten Florenz zu entfliehen und sich dem Vergnügen zu widmen: „io giudidherei ottimamente fatto che noi . . . di questa terra uscissimo, i fuggendo come la morte i disonesti esempli degli altri, onestamente a nostri luoghi in contado . . . andassimo a Stare: e qivi quelle festa, quelle allegrezza, quello piacere che noi potessimo, senza traspassare in alcuno atto il segno della ragione, prendessimo. 1 2

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genug vor. Kaum hat der Ritter seine „noble storie" beendet, da macht sich der Müller bemerkbar — obwohl der Mönch weitererzählen soll: That Miller, that for dronken was al pale So that unethe upon his hors he sat, He nolde avalen neither hood nor hat, Ne abide no wight for his cureisye, But in Pilâtes vois he gan to crie, And swoor „By armes, and by blood and bones, I kan a noble taie for the nones, With which I wol now quite the Knightes Tale" 3 .

Vergeblich sucht der Wirt ihn in seine Schranken zurückzuweisen; der Müller hat vor nichts Respekt und erzählt seine Geschichte. Woher soll er auch die Regeln des Anstands kennen? Er ist ein „cherl" 4 — und manche andere Pilger sind nicht besser als er; von ihnen droht dem Frieden und der Einheit der Gesellschaft Gefahr; sie wissen sich nicht zu benehmen. Wer sich vordrängt, andere nicht achtet und beachtet, womöglich sogar andere ärgern will: der ist nicht courtois, und das kann so viel heißen wie „stolz"; wie wir noch sehen werden, ist der mittelalterliche Begriff des Stolzes viel umfassender als der moderne; es genügt zunächst, wenn wir „Stolz" als eine übermäßige Betonung des eigenen Ich verstehen: sie verhindert den Menschen, die anderen zu sehen, zu respektieren — und sich vor ihnen in acht zu nehmen. Dadurch, daß Chaucer die verschiedenen Individualitäten so scharf und eindringlich gezeichnet hat, läßt er Spannungen zwischen Einzelnem und Gesellschaft entstehen. Sie geben zu mancherlei amüsanten, aber auch problematischen Situationen Anlaß, die uns am Schluß dieses Kapitels beschäftigen werden. Die Geschichte des Müllers gehört, so wie die Geschichten des Reeve, Somnour, Frere, Shipman, Marchaunt, auch die der Frau von Bath und des Nonnenpriesters, einem literarischen Genus an, das man gewöhnlich Fabliau nennt 5 . Die Motive oder Themen dieser Geschichten sind in der ganzen Welt verbreitet; im mittelalterlichen Europa sind sie zuerst von den nordfranzösischen Trouvères des 12., 13., 14. Jahrhunderts sprachlich gestaltet worden; es ist möglich, sogar wahrscheinlich, daß Chaucer einige Fabliaux der Trouvères gehört hat, doch findet sich nur für eine seiner Tales, nämlich die des Reeve, eine nahe Entsprechung in zwei französischen Fabliaux; für die anderen Tales hat man nur mehr oder minder vage Analoga in verschiedenen Literaturen entdeckt6. Genauere Vergleiche — auch mit Boccaccio, der genau wie Chaucer aus der mündlichen Überlieferung geschöpft zu haben scheint7 — haben ergeben, daß Chaucer mehr als alle anderen Erzähler die Charaktere der handelnden Personen herausarbeitet; damit weist er, wie der bekannte französische Anglist I, 3120 ff. Ibid. 3182. 5 Vgl. J. Bédier, Les Fabliaux, 4e éd., Paris 1924. 8 Vgl. Originals and Analogues, Chaucer-Society 1882/7; u. Sources and Analogues, ed. W. F. Bryan and G. Dempster, Chicago 1941; die Fabliaux sind herausgegeben von Montaiglon-Raynaud, 6 vols., Paris 1872/90, u. Barbazan-Méon, 4 vols., Paris 1808. 7 Vgl. A. C. Lee, The Decameron, its Sources and Analogues, London 1909: M. Landau, die Quellen des Decameron, Stuttgart 1884. 3

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E. Legouis ganz richtig sagt, bereits auf Fielding und Molière, bei ihm tritt di» „intrigue", die Pointe wie wir sagen können, in den Hintergrund; die Gestaltung des Charakteristischen wird zur Hauptsache 8 . Allein wenn Legouis, der damit wohl nur eine allgemeine Meinung vertritt, meint, bei Chaucer sei die ursprüngliche Intrigue nur noch ein „Vorwand" (un prétexte) — ein Vorwand, um Charaktere zu schaffen, die an sich nichts mit der gegebenen Handlung zu tun haben, so muß ich ihm widersprechen. Die französischen Fabliaux (und ähnliche Erzählungen) berichten, häufig jedenfalls, von einem „casus", von einem „ F a l l " (den wir oft als „Reinfall" zu verstehen haben) ; ihre Erzähler machen sich jedoch wenig Gedanken, wie der Fall passiert ist: zur Motivierung genügen ihnen ganz wenige schematische Grundvorstellungen, Ehemänner z. B. sind dumm und leicht zu betrügen, Mönche und Frauen sind sinnlich, Studenten sind frech und zu jeder Schandtat bereit. Chäucer dagegen läßt den Fall aus dem eindringlich und individuell gezeichneten Charakter, aus dem Wesen der handelnden Person hervorgehen. Die „Intrigue" rückt damit keineswegs in den Hintergrund, sondern bleibt integrierender Bestandteil der Handlung. Betrachten wir als ein Beispiel die Erzählung des Müllers. In ihr findet sich ein aus vielen Parallelen bekanntes Motiv: ein Mann will in finstrer Nacht die Frau eines anderen küssen; sie mag ihn aber nicht und streckt ihm statt ihres Gesichtes ihr Gesäß aus dem Fenster entgegen: zu spät bemerkt er, welchen Körperteil er geküßt hat 9 . Wie stellt Chaucer diese Szene dar und wie läßt er sie geschehen? In Oxford gab es einen hübschen jungen Stadtschreiber namens Absoloun, der auf seine Schönheit sehr eingebildet war, gut tanzen konnte und in allen Kneipen, wo eine schöne Kellnerin anzutreffen war, zu den Stammgästen gehörte. Dieser eitle junge Mann verliebte sich in die reizvolle Frau eines alten Zimmermanns und sudi te sie mit allen Mitteln zu verführen: er schickte ihr Geschenke und brachte ihr des Nachts Ständchen — aber er rührte ihr Herz nicht im mindesten; er blieb ihr so gleichgültig, daß sogar ihr an sich eifersüchtiger Ehegatte von ihm keine Notiz nahm. Allerdings ist die junge Frau nicht treu; dem jungen Studenten, der bei dem Paar zur Untermiete wohnt, gelingt es sehr rasch und gründlich, sie zu verführen. Eines Nachts liegt sie in seinen Armen; da erscheint wieder Absoloun vorm Fenster und fleht um Liebe; aber sie weist ihn mit groben Worten ab: 8 Vgl. E. Legouis, Chaucer. Paris 1910, p. 242. Vgl. a. Saintsbury, C H E L II, p. 137 (anders Glunz, Literaraestetik des Mittelalters, pp. 352 ff.), ferner W. M. H a r t , T h e Reeve's Tale, P M L A X X I I I : „Chaucer's chief addition to the fabliau-tedinique seems to have been in the way of characterdrawing, and it is probable that the fabliau can furnish no example of a person so vivid, so complex, so highly individualized as Simkin." Vgl. auch seinen Aufsatz „ T h e Fabliau and Populär Literature" im gleichen Bande. — Legouis sieht, daß Boccaccio, was Psychologie anbetrifft, dem frz. Fabliau näher steht als Chaucer; A. Hirsch, Der Gattungsbegriff der Novelle, Berlin 1928 behauptet, m. E. mit Unrecht, Bs. Leistung sei die Zeichnung „scharfgezeichneter Individualitäten" (p. 96): hier hat W. Küchler klarer gesehen: Bs. Leistung ist sein Stil, vgl. Z. f. frz. Lit. u. Spr. X X X I . p. 40. 9 Vgl. die Literaturangaben bei Robinson, pp. 786 ff.

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„Go fro the window, Jakee fool", she seyde „As help me God, it wol nat be ,com pa me' I love another — and elles were I to blame, Wel bet than thee, by Jhesu, Absoloun.

Absoloun aber läßt sich nicht abschrecken, und da will sie sich einen Spaß mit ihm machen; sie verspricht ihm, daß er sie wenigstens küssen dürfte. Absoloun ist entzückt: This Absoloun doun sette him on his knees And seyde „I am a lord at all degrees, For after this I hope ther cometh more . . . " 1 0

er hofft also, ihre letzte Gunst zu erringen — was er erreicht, ist der Hintern der Dame. Diese traditionelle — etwas derbe — Situation ist, wie man sieht, ganz aus dem Charakter des Helden, so wie er sich in der Handlung darstellt, entwickelt. Absoloun ist eitel und hält sich für unwiderstehlich; er glaubt mit Geschenken und Gesängen den Weg zum Herzen einer Dame zu gewinnen — und er ist dumm, bis zur Verblendung: er merkt nicht, daß er gar keine Chancen hat; er bildet sich noch, als sie ihn mit Schmähworten abgewiesen hat, ein, daß sie ihn erhören könnte. Die Episode zeigt, wie Chaucer eine überlieferte Situation aus dem Charakter der handelnden Person entwickelt und begreiflich macht; zugleich aber erkennen wir noch mehr: den Begriff, mit dem sich sein Wesen fassen läßt: Hochmut. Der Hochmut läßt ihn sich für unwiderstehlich halten und verhindert ihn, die Worte der Frau — und ihr ganzes Verhalten — richtig zu verstehen; so führt ihn sein Hochmut zum „Fall". Sein glücklicherer Rivale Nicholas ist von dem gleichen Laster bestimmt. Er ist Student und weiß ganz genau, wie man eine hübsche junge Frau verführen muß; und er versteht sich auch darauf, einen alten Ehemann zu betrügen: A clerk had litherly biset his whyle But if he coude a carpenter begyle 11 .

Er ist seiner Sache vollkommen sicher; er tut so, als sei er in Trance verfallen und läßt sich von seinem Quartiergeber, dem Zimmermann nach dem Grunde seines seltsamen Verhaltens befragen: die Sintflut würde wiederkommen und alle Menschen würden untergehen — außer dem Zimmermann, seiner Frau Alisoun und ihm selbst, wenn sie sich des Nachts in Backtrögen, die mit Stricken am Dachbalken befestigt werden müßten, zum Schlafen legten um, sobald die Flut käme, die Stricke durchzuschneiden und lustig auf dem großen Wasser herumzuschmimmen. Auch dieses Motiv ist traditionell, aber was hat Chaucer daraus gemacht! Nicholas ist ein frecher, unverschämter Mensch, der die Dummheit seines Wirtes durchschaut und ihn überlegen „behandelt". Ihm scheint nie etwas „schiefgehen" zu können; so meint er auch, als er dann mit Frau Alisoun im Bett liegt und Absoloun zum zweiten Male kommt um einen Kuß zu erbitten, er könne sich noch einen „Hauptspaß" erlauben 12 und streckt deswegen diesmal seinen Hintern aus dem Fenster. 10 11 12

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C T I, vv. 3707 ff. Vv. 3299 ff. Cf. C T I 3798 This Nicholas . . . thoghte he wolde amenden al this jape.

O f f e n b a r haben ihn seine Erfolge verblendet. W a r u m bedenkt er nicht, daß Absoloun gewarnt sein müßte und sicher nicht noch einmal die gleiche Blamage erleiden will? U n d so kommt auch sein Hochmut zu F a l l : Absoloun hat ein glühheißes Pflugeisen mitgebracht und klatscht es ihm aufs Gesäß. Beide „ F ä l l e " , den des Absoloun und den des Nicholas,, hat Chaucer aus der Tradition übernommen; beide Male hat er das Traditionelle lebendig gemacht und den Fall aus den Charaktereigenschaften der Betroffenen motiviert. So verschieden die Charaktere im einzelnen sind: sie lassen sich beide auf den gemeinsamen Nenner des Stolzes, der Superbia bringen. Beide Male ist die unmittelbare Ursache des Falles eine Unfähigkeit, die eigene Situation zu beurteilen und zu berechnen, was der andere denkt und vor hat; die „Stolzen" sind zugleich „verblendet". „ S t o l z " , „Verblendung", „ F a l l " sind Begriffe, die an sich, wie man meinen sollte, nichts bei der Interpretation eines Fabliau zu suchen haben; die Miller's T a l e ist komisch und will erheitern — nicht in der Weise eines exemplum vor dem Laster warnen — und deshalb will es, auf den ersten Blick jedenfalls, so scheinen, als ob diese Begriffe inadaequat seien. T r o t z d e m läßt sich nicht leugnen, daß Absoloun tatsächlich stolz (eitel) ist 1 3 , daß seine „Verblendung" aus seiner Eitelkeit kommt, und daß er deswegen „ f ä l l t " ; genau so Nicholas, der von E r f o l g zu Erfolg schreitet und zuletzt vergißt, d a ß auch ihm Grenzen gesetzt sind. Chaucer hat nicht nur das Fabliau psychologisch vertieft: er hat zugleich auch die Struktur des „Fall of Princes" auf das Bereich des Fabliau übertragen. S o überraschend diese Behauptung sein m a g : sie läßt sich durch einen Seitenblick auf die Erzählung des Nonnenpriesters leicht verifizieren. Die Geschichte von Chaunticleer und Pertelote ist eine ebenso elegante wie geistreiche Vermischung zweier Sphären, die an sich nichts miteinander zu tun haben; zweier Gattungen, wenn man so will: die Nonne Preestes T a l e ist zugleich Tierfabel und Spekulation über das Schicksal 14 . D a ich diese Erzählung oben schon kurz analysiert habe, will ich hier nur auf die Entsprechungen zur Miller's T a l e hinweisen. Wie Absoloun ist der H a h n Chaunticleer stolz 1 5 , wie Absoloun (und Nicholas) ist er gewarnt — er müßte eigentlich wissen, daß ihm etwas Schlimmes bevorsteht — und wie er, kann er nicht die Warnungen hören, die ihm zuteil werden. Sein Fall ist begründet und psychologisch motiviert durch Stolz und Verblendung. Wenn ich also im Folgenden versuche, die Kategorien „ S t o l z " , „Verblendung", „ F a l l " in einzelnen Erzählungen Chaucers nachzuweisen, so wird man nicht einwenden können, daß ich den Unterschied der Gattungen nicht beachte: Chaucer hat ihn selbst nicht beachtet und sogar, in der Erzählung des Nonnenpriesters, die Gattungen durcheinander spielen lassen. Chaucer war Dichter 1 3 Stolz und Eitelkeit gehören mindestens für das mittelalterliche Denken zusammen, wohingegen M. Sdieler (Zur Rehabilitation der Tugend in „Vom Umsturz der Werte", Leipzig 1922) einen Unterschied sieht. 1 4 Vgl. oben pp. 77. 1 6 „Chaunticleer in al his pryde", VII, 3191.

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genug, um in komischen Erzählungen ernsthafte menschliche Probleme darzustellen. Wie Absoloun und Chaunticleer heißt der Müller in der Reeves Tale ausdrücklich „stolz" — „as any pecock was he proud and g a y " 1 6 und auch bei ihm ergibt sich seine endliche Katastrophe 1 7 aus einem Hochmut. Allerdings ist sein Stolz nicht ganz unberechtigt, er ist sehr geschickt und kann pfeifen und singen; allerdings erstreckt sich seine Geschicklichkeit auch auf Stehlen: eine Fähigkeit, auf die er sich nicht all zu viel einbilden sollte. Aber je geringer die moralische Berechtigung, desto größer der Stolz; schon bei der geringsten Beleidigung seiner Frau ist der Müller bereit, von einer seiner zahlreichen Waffen Gebrauch zu machen — dabei ist seine Frau, deren Ehre er so leidenschaftlich verteidigt, von zweifelhafter Herkunft, und ihre äußeren Reize sind offenbar nicht jedermanns Sache 18 . Zu diesem Müller kommen zwei Studenten aus Cambridge, die bei ihm Korn mahlen lassen wollen und zugleich vorhaben, ihm dabei auf die Finger zu sehen. Aber der Müller verachtet sie und ihre simple List, er weiß mit den Menschen umzugehen: they wene that no man hem may begyle, But by m y thrift, yet sholde I belere hir ye For al the sleight in hir philosophye 1 9 —

und er hat auch, zunächst, Erfolg; er stiehlt so viel Korn wie er braucht. Aber er sollte bedenken, daß die Studenten gereizt sein müssen; er sollte ihnen nicht bei sich ein Nachtlager anbieten und sie dazu noch verhöhnen; und er sollte sich auch nicht betrinken. Er wähnt sich unbezwinglidi, sicher; er glaubt so wie Nicholas, sich alles „leisten zu können": und auch ihn trifft die Rache. Einer der Studenten verführt seine Frau, der andere seine Tochter — während der Müller betrunken schnarcht; dazu hätte es nicht kommen können, wenn nicht der Müller durch sein Wesen den Studenten Gelegenheit gegeben hätte, ihm eins auszuwischen. Die Studenten selbst haben etwas von „outrecuidance" an sich. Sie meinen, den als diebisch bekannten Müller beim Mahlen beobachten zu können; sie setzen sogar ihren Kopf zum Pfände 2 0 , daß er ihnen nichts wegnehmen würde — beinahe hätten sie ihren Kopf verwettet: wenn nicht der Müller selbst so stolz und leichtsinnig wäre, daß er sich ihnen in die Hände spielt. Eitelkeit und Leichtsinn sind Kriteria des Stolzes; dazu tritt noch die Fähigkeit, Menschen zu behandeln. Denn wer die Menschen „behandelt", sieht die anderen als Objekte und hält sich selbst für den einzigen Menschen; die ganze Welt scheint zu seiner Verfügung zu sein. So ist Nicholas ein außerordentlich geschickter Psychologe, er kennt die schwachen Punkte seines Gegenübers — den Aberglauben, die närrische Eifersucht, die Unbildung des Zimmermanns; ähnlich wie er hat der Müller seine Methoden, seine Mitmenschen zu überlisten — 16 17 18 16 20

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I. 3926. Für einen Vergleich mit den Analoga s. u. pp. 129 f. She was somdel smoterlich, She was as digne as water in a ditch (vv. 3954 f.). C T I, 4048 ff. I, 4009.

die beiden Studenten glauben nur, eine Methode gefunden zu haben 2 1 : und auch die Fähigkeiten des Müllers und des Nicholas versagen einmal. Sie versagen deswegen,, weil die anderen Menschen gewitzt sind, und weil sie selbst sich einbilden, es müsse auch diesmal gut gehen, weil es ja immer gut gegangen ist. Diese Geisteshaltung ist angedeutet bei Nicholas und Müller; sie ist voll ausgebildet bei dem Somnour und seiner Parallelfigur, dem Bettelmönch. Somnour und Frere haben exakte Methoden der Menschenbehandlung ausgebildet, mit denen sie enormen Erfolg haben; beide sind durch ihre Geschicklichkeit und ihre K n i f f e allen ihren Mitmenschen überlegen. Ungehindert können sie ihren eigenen Vorteil wahrnehmen. Sie gleichen damit dem Müller, gehen aber noch viel systematischer zu Werke als er; der Somnour hat ein raffiniertes Spitzelsystem ausgebildet, wodurch er jeden einfangen und erpressen kann, der ihm Gewinn zu versprechen scheint. Er spielt mit den Menschen wie mit Schachfiguren; sogar sein Herr, der Archidiakonus, merkt nicht, daß der Somnour ihn betrügt 22 . Seine Erfolge machen ihn, wie den Müller, so sicher, daß er glaubt ihm könne nichts passieren. Gerade das führt zu seinem Ende. Der Bettelmönch hat im Grunde die gleichen Methoden wie der Somnour; er heuchelt und betrügt, um sich zu bereidiern; andere Menschen sind für ihn nur Spielzeug, nur Objekte. Es mag hier genügen, auf den Beginn der „Somnour's T a l e " hinzuweisen. Die Schilderung der Kniffe des Bettelmönchs ist nahezu „klassisch" und bedarf keines Kommentars 2 3 . Aber ihnen beiden nützen ihre Methoden auf die Dauer nichts; ihr ständiger Erfolg macht sie sicher und führt sie in einen Zustand hinein, den wir als Hybris und Verblendung bezeichnen müssen. Betrachten wir zunächst den Somnour. Er reitet eines Morgens zu neuen Schandtaten aus, dabei begegnet er, wie sich später herausstellt, dem Teufel. Was bedeutet diese Begegnung? Der Somnour selbst hat etwas Teuflisches: wer so wie er ein gewichtiges und verantwortungsvolles Kirchenamt zur eigenen Bereicherung ausnützt, der ist in seinem innersten Wesen pervertiert, von Gott abgefallen. Kein Mensch kann es sich — auf die Dauer — erlauben, so zu sein; dieses Sosein führt zum Nichtsein, der Abfall von Gott treibt in den Untergang. Mit anderen Worten: wer wie der Teufel lebt ist selbst dem Teufel verfallen. Daran aber hat der Somnour anscheinend nie gedacht; er ist sich nicht klar, daß er durch die Art seiner Lebensführung dem Teufel zugehört. Nicht nur das: er ist nicht einmal fähig, eine Reihe von Warnungen zu hören; sie werden ihm nach und nach zuteil, ohne daß er sie versteht oder auch nur beachtet. Schon die grüne Kleidung des Fremden hätte ihn stutzig machen müssen 2 4 ; und er sollte erschrecken, wenn der neue Bekannte, nach seiner Heimat befragt, den Norden nennt — und sogar die Hoffnung ausspricht» ihn eines Tages dort zu sehen 25 . Im Laufe des Gespräches werden die Warnungen immer deutlicher. 21 22 23 24 25

V g l . I , 4036 ff. Vgl. III, 1301 ff. Ibid. 1709 ff. Grün ist die Farbe der Unterwelt, vgl. Robinson zu III, 1380. Im Norden lag die Unterwelt, vgl. Robinson zu III, 1413.

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Der Grüne stellt sich — lächelnd — als Teufel vor; er berichtet dem Somnour, daß er, der Teufel, die Menschen noch besser betrügen kann als ein Taschenspieler (der Somnour ist davon nicht ausgenommen); und er gibt Auskunft über die Funktion des Teufels in der Welt: er darf nur an Menschen, die Gott ihm erlaubt, wobei er manchmal zum Werkzeug ewigen Heiles wird — dann nämlich, wenn der Mensch der Versuchung widersteht. D a s sollte schon als Warnung genügen — denn sicher ist auch in diesem Augenblick der Teufel nicht ohne Gottes Billigung bei Somnour; auch er könnte noch gerettet werden, wenn er sich besänne. Aber er hört die Warnung nicht, und so setzt der Teufel noch eine Warnung darauf, die vollkommen unmißverständlich ist: Bot o thing wol I warne thee, I wol nat jape Thou wolt algates wit how we been shape; Thou shalt herafterward, my brother dere, Com ther thee nedeth nat of me to lere. For thou shalt, by thyn own experience, Könne in a diayer reed of this sentence, Bet than V e r g i l . . . and Dant also 26 . Keine Warnung des Teufels, auch die letzte nicht, versteht der Somnour auch nur annähernd. Er verkehrt mit dem Teufel wie mit seinesgleichen; er prahlt mit seiner Unmoral und schließt mit ihm Freundschaft. Die letzte Warnung des Teufels, an die sich die Aufforderung anschließt, ihn eventuell zu verlassen, bewirkt nur ein ausdrückliches Bekräftigen des bereits gegebenen Treuesdiwures 2 7 . Wir dürfen darüber nicht rasch hinweggehen. Durch die Art seiner Lebensführung, durch sein ganzes Wesen, ist der Somnour dem Teufel verfallen. Wenn er dem Teufel Treue gelobt, bestätigt er etwas, das er innerlich längst vollzogen hat. Dabei aber ist entscheidend, daß er nicht weiß, was er tut. Weder weiß er, daß sein Lebenswandel schnurstracks in die H ö l l e führt, noch weiß er, da er sich selbst ausdrücklich in die Hölle verdammt, wenn er dem Teufel die Bruderhand hinstreckt. Hölle und Teufel, die er an sich kennen müßte, sind für ihn nur Möglichkeiten, die f ü r ihn selbst „nicht in Frage kommen". Er ist in der Situation dessen, der sich sicher wähnt, ohne sicher zu sein. Er erweist sich als in wahnwitziger Verblendung befangen. Daraus ergibt sich die abschließende Katastrophe. Noch ganz am Ende hätte der Somnour eine Chance zu retten: er könnte noch bereuen. Die alte Frau, die ihn erpressen will, wünscht ihn in ihrer Erregung zum Teufel; als der sie f r a g t , ob sie ihren Wunsch auch ernst meine, ruft sie aus: The devel so fecche him ere he d e y e . . . . . . but he wol him repente . . . Worauf der Somnour erwidert: „that is nat myn entente 2 8 ." Der Somnour ist so befangen und verstrickt, daß er weder sehen noch hören kann. Alle W a r nungen gleiten von ihm ab, sie bewirken nur, daß er noch unbesonnener wird. Der Teufel weiß und spürt das; er ist seiner Sache ganz sicher: deswegen lächelt er, als er sich vorstellt, und redet die ganze Zeit in einem beinahe ge26 27 28

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III, 1513 ff. Ibid. 1434 ff. Ibid. 1628 ff.

mütlidien Tonfall mit ihm. Er weiß, daß ihm dieses Opfer nicht entgehen kann. Der Teufel ist überlegen und sicher, der Somnour meint es zu sein. Sdion oben konnten wir die Praktiken des Frere mit denen des Somnour vergleichen. Beide haben ihre Methoden, die Menschen zu nehmen, und weil sie immer Erfolg gehabt haben, leben sie im Wahn der Sicherheit. Als ob es selbstverständlich wäre, läßt sich der Bettelmönch im Hause des kranken Mannes, den er jahrelang erfolgreich ausgebeutet hat, nieder: Thomas, quod he, God yelde yow! ful ofte Have I upon this bench faren ful wel, Here have I eten many a myrie meel 29 .

Er fühlt sich wie zu Hause und benimmt sich dementsprechend; er nimmt Platz, ohne daß ihn der Hausherr zum Sitzen auffordert. Ganz offensichtlich ist er es so gewöhnt und hält es nicht für nötig, um Gastfreundschaft zu bitten. Aber es liegt Unheil in der Luft — der Kranke ist immer wütend: warum? Und außerdem ist das Kind des Hauses gestorben — ein gefährlicher Punkt, da man ja annehmen muß, daß der Bettelmönch das Haus mit in seine Gebete eingeschlossen hat: angeblich sind die Gebete der Bettelmönche wirksamer als die anderer Leute 30 . Wie konnte also dieses Unglück passieren? Aber der Mönch ist nicht aus der Fassung zu bringen. Vom Tode des Kindes „weiß er schon" — ich sah es, sagt er, in einer besonderen Offenbarung 31 : er ist schon informiert. Mit der ihm eigenen Geschicklichkeit bringt er gleich ein ausführliches Lob seiner selbst und seines Standes an; er geht sogar in den Angriff über und tadelt den Kranken wegen seines Zornes. Aber er spürt nicht, er hat keine Ahnung, was dieser Zorn bedeutet; er fühlt sich so sicher, daß er unfähig ist, die Atmosphäre zu wittern. Der Kranke ist nämlich deswegen immer so reizbar und zornig, weil er sich von den Bettelmönchen ausgesaugt fühlt. Er schweigt — bedrohlich — als der Frere ihn anpredigt, der sich am Schweigen seines Partners immer mehr ins Feuer redet und sich zuletzt sogar bloßstellt: your malady is for we han to l i t e . . . yif me thanne of thy gold to make our cloistre 32 .

Genau so wenig wie der Somnour weiß er, daß er damit sein eigenes Wesen enthüllt und seine Niederlage heraufbeschwört. Auch in dieser Erzählung ist die Pointe nur möglich, weil der Held anmaßend und verblendet ist, weil er nicht fähig ist, sich, seine Situation und sein Gegenüber zu erkennen. Er meint, mit den Menschen nach Belieben spielen zu können, um alles aus ihnen herauszupressen, was er für sich braucht. Wer stolz ist, dem fehlt der richtige Maßstab, sich und die Welt zu beurteilen. Er mag zwar intelligent und erfahren sein; aber es scheint zum Wesen des Stolzen zu gehören, daß er sich einmal verschätzt und so selbst zu Fall kommt. So geht es auch dem alten Herrn Januarius 33 . 29 30 31 32 33

III, 1772 ff. Vgl. v. 1870. V. 1844. Vv. 1962 ff. Vgl. IV, 1244 ff.

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Sechzig Jahre ist er alt geworden und hat immer ein lustiges Leben geführt; da kommt er eines Tages auf die Idee, sich zu verheiraten. Zwar kennt er die Frauen aus seiner Junggesellenzeit, aber von Ehe versteht er nichts; vor allem ist ihm das Problem des Altersunterschiedes nicht klar. Ein alter Mann und eine junge Frau: das geht nie gut, jedenfalls nicht in der Welt, in der wir uns hier befinden, der des Fabliau. Wer diese Welt kennt weiß, daß noch nie eine junge Frau einem alten Manne treu geblieben ist. Justinus, ein Freund des Januarius, weiß das wohl; schon für einen jungen Mann, sagt er warnend, ist es schwierig, eine Frau allein zu besitzen, für einen alten ist es unmöglich — aber Januarius will keine Warnungen hören, er will sich nur seine Ansichten und Neigungen bestätigen lassen und ist überzeugt, daß er noch recht gut für eine junge Frau tauge. J a , er meint sogar, im Zweifelsfalle sef eine junge Frau besser zu regieren als eine alte: But certeinly, a young thyng may men gye Right as men may warm wex with handes plye 3 4 .

Welche Anmaßung, welche Unkenntnis der „Tatsachen", welche Verblendung! Wenn Januarius später körperlich blind wird, dann sehen wir darin ein dem Treuschwur des Somnour ähnliches Symbol. In den gleichen Zusammenhang — Stolz, Verblendung, Unfähigkeit sich selbst und die Welt zu beurteilen — gehört auch die Erzählung des Pardoner 3 5 . Drei junge Männer — Säufer und Spieler — machen sich auf, um den T o d zu töten. Wie ist so etwas möglich? Wie können Menschen auf den Gedanken kommen den T o d töten zu wollen? Wer so denkt, setzt zur Ausführung seiner Absicht dasjenige als existent voraus, das er vernichten will; er trennt in unzulässiger Weise „den T o d " vom „Töten", indem er den T o d als Gestalt, als etwas also, dem man begegnen oder nicht begegnen kann, als etwas dem Menschen Vergleichbares ansieht, versteht, oder vielmehr mißversteht. Denn der T o d ist nichts, das mir als Gestalt begegnet, er ist nichts „Äußerliches", sondern ist als eine ständig realisierbare Möglichkeit mit dem Mensdisein selbst gesetzt. Der Gedanke, den T o d zu töten, kann nur gefaßt werden aus einem fundamentalen Mißverständnis des Menschseins und damit des Todes, er involviert eine fundamentale Selbstunkenntnis des Menschen. Die jungen Männer maßen sich etwas an, das an sich unausführbar ist; sie sind in Hybris befangen und verblendet. Aber wenn wir so interpretieren: verstehen wir dann nicht die mittelalterliche Erzählung zu „modern"? Kann Chaucer „gemeint" haben, daß die Schwelger den T o d mißverstehen und deswegen selbst zu Tode kommen? Wie stellte man sich überhaupt den T o d im Mittelalter vor? 3 4 Vv. 1429 f. vgl. hierzu H . S. Cranby, T h e English Fabliau, P M L A X X I , p p . 2 0 0 f f . , vgl. bes.: „a consideration of the 445 introductory lines shows that they are devoted to an exposition and illustration of just this human error which lies beneath the story, namely, of the folly of the man that believes all matrimony to be ,parfit bliss'; and the folly of the old husband who cannot see that his age may be a disability in the eyes of his young wife." 3 5 Vgl. VI, v v . 4 6 3 f f .

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Auf diese Frage läßt sich nicht mit einem Satze antworten 3 6 . Weitgehend jedenfalls verstand man den T o d als eine Gestalt, als einen Dämon oder Boten Gottes, der durch einen mehr oder minder willkürlichen Akt dem Leben des Menschen ein Ende setzte. Für die höfische Dichtung war, wenn sie ihn überhaupt erwähnte, der T o d eine Gestalt, ein böser Dämon und ein Feind des Lebens 3 7 und zwar ein „vilain": d. h. jemand, der sich nicht benehmen kann. Ähnlich, verstehen — oder mißverstehen — ihn auch die jungen Männer der Pardoner's T a l e ; sie nennen ihn nicht „vilain" sondern „theef" und „traytour"; das sind Begriffe, die dem des „vilain" sehr nahe stehen insofern, als auch sie das Unloyale, Unanständige bezeichnen. Der Schenkwirt und ihr junger Diener warnen die Schweiger und fordern sie auf, sich vor dem T o d e in acht zu nehmen: sie wissen also um die Gefährlichkeit des Todes, wenn auch nicht um seine unbedingte „Tödlichkeit", auch sie mißverstehen den T o d als einen „Jemand". Deswegen sagt der Knabe zu seinem Herrn, er solle „aufpassen", da der T o d ihm jederzeit „begegnen" könne; ähnlich der W i r t : T o been avysed greet wysdom it were Ere that he dide a man a dishonour 3 8 .

Der Wirt also vermenschlicht den T o d ebenfalls; indem er von „dishonour" spricht, meint er, daß der T o d an sich, wie ein Mensch, zum „Ehren" verpflichtet sei. Die Warnungen, die den Schwelgern zuteil werden, regen sie nicht zur Reflexion an, sondern treiben sie, so wie den Somnour, den Bettelmönch und den alten Januarius, noch tiefer in die Verblendung hinein: sie suchen den T o d ohne zu wissen, was „den T o d suchen" eigentlich heißt. Der alte Mann, den sie unterwegs treffen 3 9 , ist ihre Kontrastfigur; er will sterben und weiß, was den T o d suchen bedeutet: aber er findet den T o d nicht — sie wissen es nicht und finden ihn. Sie sind sich selbst ihr eigener Tod, denn sie bringen sich gegenseitig aus den gleichen Motiven — Geldgier und Genußsucht — um; sie haben nie gewußt, was T o d ist und vergessen, daß sie ihn suchen, sobald sie den Haufen Gold erblicken, der ihnen zum Anlaß des Todes wird 4 0 . Das Vergessen ihrer ursprünglichen Absicht wirkt genau so symbolisch wie der Treueschwur des Somnour und die physische Blindheit des alten Januarius; es macht das Grundthema der Geschichte sichtbar: sie leben im Vergessen dessen, was Leben und T o d eigentlich sind. Auch andere Gestalten der besprochenen Erzählungen „vergessen": Chaunticleer vergißt seinen warnenden Traum; Nicholas „vergißt sich" — er denkt 3 6 Ich darf an dieser Stelle auf einen Aufsatz von mir hinweisen — „Zur A u f fassung des Todes im Mittelalter" — der in der Deutschen Vierteljahrsschrift 1954 erschienen ist. D o r t finden sich ausführliche Darlegungen dessen, was idi hier kurz zusammenfasse. — Die Burdach-Rehmsche These, daß erst bei Petrarca und Johann von Saaz der T o d als Feind des Lebens begriffen worden sei, ist nicht haltbar. 3 7 Vgl. a. G. Simmel, Lebensanschauung, Berlin u. Leipzig 1918, pp. 9 9 ff. 3 8 Vgl. vv. 6 7 0 ff. 3 9 Vv. 713 ff. Chaucer sagt nicht, wer dieser alte Mann ist; vielleicht ein Bote des Todes? Jedenfalls nicht der T o d selbst. 4 0 V. 772 N o lenger thanne after deeth thei soughte.

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nicht daran, daß Absoloun gewarnt sein muß — ähnlich wie ihm ergeht es dem Müller; der Somnour „hat vergessen", was der Teufel ist und tut (man kann auch sagen, der Somnour habe die Lehren der Kirche vergessen); die Schwelger vergessen, was sie gewollt haben. Allen diesen Gestalten ist das Vergessen, oder das Nicht-Wissen, oder das Nicht-Beachten gemeinsam; sie wissen nidit, ganz allgemein gesagt, welche Grenzen ihnen gesetzt sind; sie wollen über ihre Grenzen hinaus und kommen damit zu Fall. Hinter ihnen steht, unausgesprochen aber deutlich, eine Idee, wie der Mensch ist und daher sein sollte: er sollte sich und damit seine Begrenztheit erkennen. Wer das nicht weiß, kommt zu Fall; damit resultiert der „Fall" aus einem „Abfall", einem Abfall nämlich vom Wesen des Menschen. Aus dem Abweichen ergibt sich, je nachdem, der komische oder der „tragische" Fall; zuweilen wird eine vollkommene Katastrophe vermieden: so bei Nicholas, Absoloun, Chaunticleer, bei den Studenten der Reeve's Tale; Nicholas und der Hahn werden „gerettet", weil sie sich zum Schluß noch besinnen; die Studenten haben Glück. Dem Januarius wird eine innere Vernichtung deswegen erspart, weil ihn seine Frau geschickt anzulügen versteht — eine zweifelhafte Form der „Rettung"; der Frere muß außer dem üblen Streich des Kranken noch eine schlimme Demütigung erfahren: die Gesellschaft, bei der er sich beklagt, tut so, als nehme sie den Streich des Kranken ernst 41 . Es ist fraglich, ob diese Demütigung dem Tod der Schwelger oder der Höllenfahrt des Somnour vorzuziehen ist. Die geistige Struktur jedenfalls, durch die jemand „stürzt", ist bei den komischen und bei den ernsthafteren Geschichten die gleiche. Die dargestellten Menschen sind alle „superbi"; ihre verschiedenen Eigenschaften lassen sich auf diese Grundhaltung zurückführen 42 . Sind „Katastrophe" und „Fall" als Strafe zu verstehen? Wenn man so will kann man sagen, der „Fall" sei die Strafe für den „Abfall". Jedoch setzt der Begriff „Strafe", klar verstanden, exakte Anordnungen über „Richtig" und „Falsch" voraus, denen entsprechend die Menschen nach dem Maße ihrer Vergehen bestraft werden. Das trifft nun zwar auf den Somnour zu: was er getan, und wie er gelebt hat, ist der Hölle würdig, führt unvermeidlich in die Hölle. Aber schon in der Reeve's Tale ist es anders. Zwar haben Ausleger in ihr poetische Gerechtigkeit — ja sogar Chaucers „germanisches Rechtsgefühl" 43 — finden wollen, aber davon kann keine Rede sein. Der Müller ist anmaßend und ein Dieb, aber die Entehrung seiner Frau und Tochter ist nicht Strafe sondern Rache; eine Bestrafung des Müllers sähe ganz anders aus — und Nicholas ist Ehebrecher; der Hieb des glühenden Eisens auf sein Gesäß ist nicht eine Strafe für den Ehebruch. So kann man alle Erzählungen durchgehen und wird finden: nirgendswo ist der „Fall" eine Strafe im eigentlichen Sinne 44 . Die Vgl. III, v v . 2243 ff. Ich gebe unten eine begriffliche Analyse der Superbia, so wie sie das Mittelalter verstand. 4 3 Heraucourt, Chaucers W e r t w e l t , p. 175. 4 4 Trotzdem lieben die Trouveres, ihre Erzählungen mit moralischen Nutzanwendungen zu versehen: die Theorie, daß alle Dichtung belehrend sein müsse, hatte ihnen imponiert. Der Verfasser v o n „Sire Hains" glaubt „bewiesen" zu haben, daß der mit einer „mauvaise beste" versehen ist, der eine böse Frau hat. 41

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Katastrophe resultiert aus der Geisteshaltung der „Helden", sie ist faktische Folge ihres Verhaltens; sie alle, und der Somnour nicht zum wenigsten, bereiten sich ihren Untergang selbst. Was ihnen „passiert" geschieht nicht, weil es „richtig", sondern weil es unvermeidlich ist 45 . Das ist eine sehr natürliche und „heidnische" Moral; Chaucer hat sie mit den Trouveres und mit Boccaccio gemeinsam; seine Geschichten sind eben so moralisch und unmoralisch wie die der anderen mittelalterlichen Geschichtenerzähler (wobei ich von den übermäßig obszönen Fabliaux, die sogar Chaucers Derbheiten noch übertreffen, absehen will); wir können daher fragen, ob das Thema „Superbia" auch von ihnen behandelt worden ist. Wenn wir wüßten, was Chaucer für seine Geschichten als Quelle und Anregung vorgelegen hat, dann könnten wir Zug für Zug vergleichen; allein nur f ü r die Reeve's Tale sind uns zwei französische Analoga bekannt. Daher hat sich an diese Erzählung eine besonders reiche Sekundärliteratur angesiedelt 46 . Bei Chaucer haben wir eine gegenseitige Prellung: immer fällt der hinein, der sich dem anderen überlegen glaubt. Das Fabliau vom „Meunier", das Chaucers Fassung besonders nahesteht, weiß davon nichts. Die clercs des „Meunier" wollen ihr Korn in der Mühle mahlen lassen, das ist alles: sie haben nicht die mindeste Absicht, den als diebisch bekannten Müller zu überlisten. Und der Müller bestiehlt sie zwar (wie der Chaucersche), aber er verhöhnt sie nicht und fühlt sich ihnen nicht überlegen. Im „Meunier" gibt es keine Prahlerei, keine stolze Siegeszuversicht und kein Siegesbewußtsein; die „Katastrophen" passieren nicht deswegen, weil sich jemand sicher wähnt. Sie passieren, weil sie eben passieren; weil sie amüsant sind. Die menschliche Problematik, die der Anmaßung und dem Stolz entspricht, ist Chaucers Zutat — Schöpfung, wie man getrost sagen darf; Chaucer hat die im plot liegenden Möglichkeiten erkannt und ausgewertet: das heißt aber, Anmaßung und Stolz müssen ihn spezifisch interessiert haben. Denn wer diese Geschichte erzählen und ausgestalten will, muß nicht notwendigerweise darauf kommen, in ihr vermessene Menschen darzustellen: das beweist ein Blick auf Boccaccio, dem es auf etwas ganz anderes ankommt: „un subito avvedimento d'una buona donna" 4 7 ; d . h . Boccaccio will lediglich die Pointe in eleganter und witziger Form herausbringen. Genau das gleiche wird sichtbar bei einem Vergleich der Merchant's Tale mit Boccaccios Novelle von Pyrrhus: nur bei Chaucer wird der „Fall" aus der „Blindheit" und Anmaßung des Helden abgeleitet, Boccaccio interessiert sich wieder nur für die Pointe 48 . Das gibt einen Hinweis darauf, daß die Problematik der Superbia ein spezifisch Chaucersches Thema ist. Damit soll allerdings nicht gesagt sein, die französischen Fabliaux hätten 45 Schon deswegen sollte man sich hüten, aus Chaucers Geschichten exempla machen zu wollen, vgl. unten p. 137. 46 Vgl. hierzu außer der bei Robinson genannten Literatur M. Lange, Vom Fabliau zu Boccaccio und Chaucer, Britannica 8, Hamburg 1934. 47 Dec, IX, 6. 48 Ibid. VIII, 9.

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K l e i n s t ü c k , Chaucers Stellung

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nichts davon. „Le dis de la vescie au prestre" 4 9 , woran Chaucer möglicherweise bei der Abfassung seiner Somnour's Tale gedacht hat, enthält Ansätze zur Superbia. Die Bettelmönche, die den kranken Priester zu beerben hoffen, feiern schon im voraus ein großes Fest; und als sie ihn zu einem Legat zu bewegen suchen, weisen sie (wie Chaucers Frere) auf ihre Verdienste hin. Aber Superbia ist nur im Ansatz da, sie ist nicht ausgeführt und zum eigentlichen Thema gemacht worden. Das hängt damit zusammen, daß Chaucer seine Gestalt viel lebendiger schildert; der Frere wird deswegen so lebendig, weil sein Verhalten der Grund seiner Niederlage ist. In einer deutschen Analogie zur Frere's Tale findet sich eine erstaunliche Analogie zu Chaucers Darstellungsweise; ich meine des „Strickers" Erzählung „Der Richter und der Teufel" 5 0 . Gerade weil jeder Einfluß hier ausgeschlossen ist, lohnt es sich, diese Version näher zu betrachten. Die Analoga zur Frere's Tale lassen sich in drei Gruppen einteilen: l . d e r verbrecherische Beamte erkennt den Teufel, fürchtet sich vor ihm und sucht ihn loszuwerden; 2. der Beamte erkennt den Teufel bis zum Ende nicht; 3. der Beamte erkennt den Teufel, aber fürchtet sich nicht vor ihm. Von diesen drei Formen ist die dritte am reizvollsten, denn sie gibt die Frage auf: wie muß der Beamte (Richter etc.) sein, wenn er sich mit dem Teufel, den er erkennt, ruhig unterhält? Chaucer und der „Stricker" müssen sich diese Frage überlegt haben; sie haben sie jedenfalls — durch die Art der Darstellung — beantwortet: des „Strickers" Richter ist, so wie Chaucers Somnour, so verblendet, daß er gar nicht ahnt, daß der Teufel etwas ihm antun könne, und so anmaßend, daß er sogar dem Teufel Befehle gibt. Als nämlich der Teufel sich vorgestellt hat und sagt, er nehme sich alles, was man ihm von Herzen gönne, da wünscht der Richter eine Probe davon zu sehen. Der Teufel weigert sich — der Richter gebietet ihm „bi Gote . . . du nemst ze miner gesichte Swaz man hiute dir gebe". Der Teufel weigert sich noch einmal — und warnt ihn (so wie Chaucers Teufel den Somnour vor allzu großer Vertraulichkeit warnt)—, aber der Richter kann keine Warnungen hören; nicht einmal das deutliche „erkentest du die warheit, du liezest din twingen mich sin". Wie Chaucers Somnour ist der Richter des „Strickers" unfähig, die Warnung zu hören; er ist so anmaßend, daß er glaubt, dem Teufel befehlen zu können; Chaucer und der „Stricker" haben also — offenbar — gesehen, daß ein Mensch „stolz" sein muß, wenn er vor dem Teufel nicht erschrickt. Doch hat der „Stricker" seinen verheißungsvollen Ansatz nicht durchgeführt. Er erzählt den Rest der Geschichte in der Art des „folk-tale"; d. h. ohne innere Situationen, menschliche Problematik u. dgl, zu beachten. 4 9 T e x t außer in den Quellenwerken zu Chaucer bei Montaiglon-Raynaud III (nr. L X I X ) u. b. Sdieler, Trouvères Belges, II. Der T e x t enthält einige dunkle Stellen; „ b o b e r t " (v. 285), das Sdieler nicht kannte, wird bei G o d e f r o y als „sot", „insolent", „présomptueux" interpretiert. 6 0 T e x t bei von der Hagen, Gesamtabenteuer, Stuttgart 1850, Bd. III. — Der wichtigste folkloristische Aufsatz über die Frere's Tale, in dem eine Menge von Parallelen zusammengetragen sind, stammt von A. Taylor, P M L A X X X V I , pp. 35 ff.

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Die Analoga zu den Tales des Müller, Mardiaunt und Pardoner geben f ü r einen Vergleich so gut wie nichts her. Es sind simple Geschichten, in denen man vergeblich nach irgendwelcher menschlicher Problematik suchen wird. Doch dürfen wir uns nicht damit begnügen, nur die Analoga zu den Tales zu betrachten. Wenn wir Chaucers Sonderleistung voll würdigen wollen, dann müssen wir uns die französischen Fabliaux überhaupt anschauen; es könnte sein, daß ein oder das andere Situationen enthält, welche den Chaucerschen entsprechen. Wer jedoch die Fabliaux daraufhin durchliest, wird bemerken, daß Superbia verschiedentlich im Ansatz da ist, aber nie zum eigentlichen Thema gemacht wird. So etwa im Fabliau vom vallet, der gleich zwölf Frauen auf einmal heiraten will und später einsehen muß, daß ihm schon eine zu viel ist 51 , oder in dem von der pucelle, die nicht heiraten, sondern in die Luft fliegen will 52 — solche Themen waren offenbar sehr beliebt: nicht aber um menschliche Situationen zu entfalten, sondern nur um gepfefferte Zoten anzubringen 53 . In der Anlage gleichen die beiden erwähnten Fabliaux den Chaucerschen darin, daß vallet und pucelle ihre eigene Natur — also ihre Grenzen — verkennen; aber das Interesse der Trouvéres geht nicht darauf. Liegt das an der Kürze dieser Fabliaux? "Wir haben das — übrigens sehr charmante — „Lai d'Aristote" des Henri d'Andeli 54 , das in seiner Länge ungefähr den Chaucerschen Fabliaux entspricht; und sowohl das Thema, als auch die Art der Durchführung, geben die Möglichkeit einer detaillierten Darstellung der Vemessenheit. Aristoteles nahm nämlich seinen Zögling Alexander, der sich in eine indische Schöne verliebt und darüber — wie zu erwarten — die Staatsgeschäfte vergessen hat, er solle von ihr ablassen: Trop avez le sens destempre Quant pur une meschine stränge Vos cuers si durement se change C'on ne puet mesure trouver.

Aber er, der so gewarnt und gemahnt hat, erliegt selbst den Reizen der Dame; denn sie, als sich Alexander von ihr zurückgezogen und ihr später den Grund seiner Vernachlässigung gebeichtet hat, beschließt, sich zu rächen: sie geht, leicht bekleidet, ein Liedchen trällernd, vor dem Fenster des Aristoteles auf und ab und schredkt ihn so aus seinen Studien auf. Sein Herz entbrennt in Leidenschaft; und mit weiblicher Raffinesse bringt sie es dahin, daß er sich ihr als Reittier zur Verfügung stellt. Auch Aristoteles hat etwas „vergessen": die menschliche Natur; das gibt Henri deutlich zu verstehen. Er läßt den Philosophen zur Dame sagen, „amors et nature" machten ihn ihr untertänig; er kann ihr nicht widerstehen, weil „nature" ihn antreibt. Der Gesang des Mädchens bringt „un Souvenir" in sein Herz — und er, der die Liebe als „desmesure" geschmäht hat, vergißt jetzt selbst alles Maß. 51 52 63 54

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Montaiglon Raynaud III. Ibid. IV, CVIII. Parallelen ibid. III, LXV; auch Decameron IX, 10 gehört hierher. Montaiglon-Raynaud V, CXXXVII. 131

Das alles scheint dem, was sich bei Chaucer zeigt, sehr ähnlich; aber wir bemerken den Unterschied, wenn wir an Januarius denken. Wenn Aristoteles wirklich eine Parallelfigur zu ihm wäre, dann würde er etwa zu Alexander sagen: „widme dich der Philosophie und Politik; wer, wie ich, dem Geiste lebt, ist vor den Gefahren der Sinnlichkeit sicher." Aber an einer solchen Hybris, die in Chaucers Linie liegen würde, war Henri nicht interessiert; er wollte, wie er selbst sagt, lehren, daß man niemals und unter keinen Umständen die Liebenden tadeln solle. Ein Studium der französischen Fabliaux läßt nur erkennen, wie sehr sich Chaucer von den Trouvères unterscheidet; eher finden wir Entsprechungen zu seiner Art zu erzählen, wenn wir Gowers Confessio Amantis durchmustern. Wie Chaucer, so hat auch Gower seine Themen und Stoffe aus verschiedensten Quellen zusammengeholt, auch er hat oft frei bearbeitet — wenn auch nie so selbständig und geistvoll wie Chaucer 5 5 — und dabei ein Interesse an der Behandlung menschlicher Probleme gezeigt, das, wie mir scheint, mit dem Chaucers wenigstens prinzipiell vergleichbar ist. Gowers Intention war das „prodesse" und „delectare" zugleich, und daher, wie es wohl meist eintritt, wenn sich ein Schriftsteller beides vornimmt, drängt sich seine moralisierende Tendenz vor; jedoch finden sich auch bei ihm Situationen, die eine strukturelle Ähnlichkeit mit denen haben, die ich bei Chaucer aufzuzeigen suchte 56 . Ich greife aus der Masse der Gowerschen Erzählungen zwei heraus; zunädist die Geschichte von Mundus und Paulina 5 7 . Der römische Herzog Mundus liebt die schöne Matrone Paulina; sie ist aber sehr keusch und läßt sich von seinen Liebeswerbungen nicht im mindesten rühren. Daher verfällt Mundus auf eine List: er weiß, daß Paulina, die sehr fromm ist, öfters den Tempel der Isis besucht; so beredet er die Isispriester, ihr zu verkünden, Gott Anubis wolle sie des Nachts besuchen. Paulina hört diese Botschaft und ist darüber sehr beglückt; natürlich ist es Mundus, der zu ihr kommt und ihre Liebe genießt. Aber er bleibt nicht bei diesem Erfolg stehen; am nächsten Tage ist er unvorsichtig genug — unvorsichtig insofern, als er nicht mit ihrer Keuschheit rechnet — ihr das Geheimnis zu verraten: sie zeigt ihn an, und er und die Priester werden bestraft. Diese Geschichte ist ein exemplum gegen „Superbia", und zwar in der speziellen Form „Heuchelei in der Liebe"; ehe wir sie vergleichend auswerten, betrachten wir eine andere: die „Supplantatio Bonifatii" 5 8 . Ein Kardinal möchte gern Papst sein und bedient sich dazu folgenden Kniffs: er bringt es dahin, daß ein junger Geistlicher aus seiner Umgebung mit im Zimmer des Papstes schläft; nach einiger Zeit stiftet er ihn an, dem Papst durch ein Sprachrohr ins Ohr zu rufen, er solle auf seinen Thron verziditen. Der Papst hält, wie er soll, die Stimme für einen göttlichen Befehl und dankt ab; Vgl. hierfür Macaulays Anmerkungen in seiner Gower-Ausgabe; 2. u. 3. Bd. Gowers Erzähler ist der „Genius", der zu allen Geschichten einen moralisierenden Kommentar gibt. 5 7 Vgl. Conf. A m . I, vv. 760 ff. — Dasselbe Motiv liegt Boccaccios Novelle v o m Engel Gabriel (Dec. IV,2) zugrunde; darin ist von „ S t o l z " keine Rede. 5 8 Ibid. II, vv. 2803 ff. 55 56

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der Kardinal wird zum Papst gewählt 5 9 . Aber er ist unvorsichtig und rühmt sich öffentlich seiner List; noch unvorsichtiger geworden, will er Ludwig von Frankreich zur Huldigung zwingen, und daraus ergibt sich sein Sturz: ein Ritter Ludwigs nimmt ihn gefangen und der Papst stirbt elend im Kerker. Diese Geschichte ist ein exemplum gegen „Neid" 6 0 , aber Bonifatius hat eine Reihe von Charakterzügen, die ihn als „stolz" ausweisen: er heuchelt dem Papst, gegen den er konspiriert, Freundschaft 81 , er rühmt sich seines Erfolges und irrt, wie ausdrücklich gesagt wird, aus Stolz 6 2 . So kann man fragen: ist nicht das Grundmotiv seines Handelns „Superbia"? Auf jeden Fall fügt sich die Geschichte gut in eine Betrachtung des Stolzes ein; sie ist ihrer Struktur nach mit „Mundus und Paulina" zu vergleichen. Denn beide, Mundus und Bonifatius, verstehen durch gewisse Tricks ihre Mitmenschen zu betrügen und haben zunächst Erfolg; beide werden dadurch übermütig, sie fühlen sich sicher und rechnen nicht mit dem, was ihre Mitmenschen denken, und wie ihre Mitmenschen reagieren mögen und kommen dadurch zu Fall. Die Analogie zu den Chaucerschen Situationen ist leicht zu sehen: Nicholas, Miller, Somnour, Frere — sie alle verstehen mit den Menschen umzugehen und sie alle denken nicht daran, daß einmal der Punkt kommen muß, an dem auch sie scheitern; sie alle rechnen nicht ständig mit dem, was ihre Umwelt denken mag und vergessen überhaupt, wie Mensch und Welt eigentlich sind; ihre Sicherheit wird Wahn und Verblendung, und so erfolgt ihr „Sturz". Das wiederum ist die gedankliche Struktur des „Fall of Princes". An diesem Thema war, seit Boccaccios „De Casibus", das gesamte Mittelalter interessiert 63 ; Chaucer schrieb seine „Tragödien", und eine Reihe von Gowers Geschichten zeigt, wenn auch Gower nicht ausdrücklich Tragödien verfassen wollte, die gleichen Grundprobleme wie Boccaccios und Chaucers „Casus". Musterbeispiel dafür ist Nabugodonossor, den wir schon oben kennengelernt haben 6 4 : Sur tous Fortune l'alleva Dont son orguil crust et monta, Mais quant meulx quide estre dessus Pour son orguil qu'il demena Soudeinement Dieus le rua®°.

Gower hat die gleiche Geschichte in der Confessio Amantis noch einmal und ausführlicher dargestellt. Nabugodonossor bekommt von Gott verschiedene Warnungen zu hören, aber er reagiert nicht auf sie: 5 9 Der abdankende Papst ist Coelestin V. — che fece per viltate il gran rifiuto (Dante, Inferno 111,60). 6 0 Conf. 11,2832 ff. 6 1 Vgl. vv. 2841, 2853, 2952, 2962. — Heuchelei wird häufig als ein Symptom des Stolzes betrachtet, vgl. Mirour 1057 ff. 6 2 Vv. 2961 ff.: „Envie which is loveless and Pride which is laweless W i t h such tempeste made him erre . . . 6 3 Vgl. W . Farnham, T h e Medieval Heritage of Elizabethan Tragedy 1936. 6 4 S. o. p. 73. 6 5 Mirour 21985 ff.

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He let it passe thurgh his minde Thurg veine gloire, and as the blinde He seie no weie til him be wo 6 6 . Denn der Mensch, der seinen Sinn auf „veine gloire" setzt, denkt nicht daran, •wie die Welt, und welcher A r t seine Stellung in der W e l t ist; er wird verblendet, weil er sich allein auf sie selbst verläßt: . . . al upon his oghne wit He stant, til fal he in the pit So fer that can noght arise®7. Genau so ergeht es Chäücers Nabugodonossor: This kyng of kynges proud was and elaat; He wende that God, that sit in magestee, Ne mighte him nat bereve of his estaat. Bot sodeinly he lost al his degree . . , 6 8 . Das Interesse an dem Mächtigen, der sich sicher wähnt und deswegen von Fortuna (oder Gott oder seinen Gegnern) gestürzt wird, geht über Lydgates „Fall of Princes" bis in das 16. Jahrhundert hinein und findet seinen letzten Ausdruck in der großen „Tragödien"sammlung des Mirror for Magistrates" 6 9 ; sogar in Shakespeares „Henry V I . " und „Richard I I I . " sind noch die Spuren der „De Casibus"-Literatur zu finden. I m „Mirror for Magistrates" wird besonders oft vor „Securitas" gewarnt, so z. B. erzählt Richard III., „I thought myself sure"; er habe gehofft, den Siegeskranz — in der Schlacht bei Bosworth — zu erringen, aber wher most I trusted I soonest was begylde 70 . Daher spricht Kardinal Wolsey — ein anderer gestürzter Mächtige die W a r nung aus: P r i d e . . . makes a man to stay upon a broken staffe: No weakness more than think to stand upright Whan stumbling block makes man to fall downright 71 . Es bleibt uns nun nodi die Aufgabe, zu betrachten, wie man im Mittelalter theoretisch über den Stolz dachte. Ich gehe dabei von Thomas von Aquin aus und vergleiche seine Formulierungen mit theoretischen Äußerungen Chaucers und Gowers. So definiert Thomas die Superbia: „Superbia nominatur ex hoc quod aliquis per voluntatem tendit super id quod est"; er stützt dabei seine Confessio I, vv. 2591 ff. Ibid. vv. 1907 ff. 6 8 Canterbury Tales VII, 2167 ff. — Farnham meint, m. E. zu Unrecht, daß in England erst Lydgate — in unmittelbarem Anschluß an Boccaccio — den „stürzenden" Großen mitverantwortlich für sein Schicksal gemacht habe; vorher, d. h. besonders bei Chaucer, sei Fortuna eine blinde Macht, die den Menschen ohne sein Zutun stürzte und dadurch nur die Nichtigkeit alles Irdischen vor Augen bringe; darin ist ihm Glunz (Shakespeares Staat, p. 77) gefolgt und hat daraus falsche Konsequenzen gezogen, indem er Lydgate als „Renaissance-Dichter in einen konstruierten Gegensatz zum „mittelalterlichen" Chaucer bringt. Weder Farnham noch Glunz haben Gowers „tragödien"artige Exempla beachtet. — Im Euphorion 1956 werde ich eine Abhandlung über die mittelalterliche Tragödie vorlegen. 6 9 Ed. Haslewood, London 1815, 3 vols. 7 0 Op. cit. vol. 3, p. 793. 7 1 Ibid. vol. 2, p. 567. 66

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Definition durch die des Isidor von Sevilla: „ . . . manifestum est quod superbia importât aliquid quod adversatur rationi rectae" 72 . Der Stolz ist also eine Desorientierung: der Mensch wendet sich weg vom Eigentlichen und hängt sich an die Welt: „Finis . . . in omnibus bonis temporalibus acquirendis est ut homo per illa quandam perfectionem singularem et excellentiam habeat. Et ideo ex hac parte superbia, quae est appetitus excellentiae, ponitur initium omnis peccati 73 ". Der Stolze orientiert sich niclit nach dem was ist, sondern nach dem was nicht ist: der Welt; insofern, als er das eigentlich Seiende nicht sehen kann, ist er verblendet —: „caecitas mentis est privatio eius quod est principium mentalis sive intellectual« visionis 74 ." Chaucer gibt in seiner Parson's Tale Definitionen, welche denen des Thomas sehr nahe stehen, z. B. : „Arrogant is he t h a t . . . demeth that he be that he nys nat" 7 5 (vgl. Thomas superbia nominatur ex hoc quod aliquis per voluntatem tendit super id quod est); der Stolze wendet sich den vergänglichen Gütern der Welt zu: „Veyneglorie is for to have pompe and delyt in his temporeel hynesse, and glorifye him in his worldly estaat 76 ." Und deswegen ist es falsch und töricht, stolz zu sein; Gower sagt: „O comme perverse et maluré Perest Orguil en tout degré"; Orguil ist „fole capitaine de vices" 77 . Insofern als der Stolze sich „falsch" orientiert (sich der „ratio recta" entgegensetzt), maßt er sich an zu tun, was er nicht tun kann; das nennt man im Mittelalter häufig „Praesumptio": „Presumpcion is whan man undertaketh an emprise that him oght nat to do, or elles that he may nat do; and that is calles Surquedrie 78 ." Thomas rechnet die praesumptio zwar nicht zum Stolz — er teilt nicht, wie Chaucer, Gower und andere, die Todsünden in viele Einzel„zweige" auf — aber er kennt den Begriff auch und erklärt ihn ähnlich: praesumptuosus ist der, welcher seine Fähigkeiten überschreitet und überschätzt „uno modo secundum solam quantitatem, puta cum aliquis aestimet se habere maiorem virtutem, vel scientiam . . . quam habeat; alio modo secundum genus rei: puta cum aliquis aestimet ex hoc magnum et magnis dignum ex quo non est, puta propter divitias, vel propter aliqua bona fortunae 7 9 ." Es ist aus all dem leicht zu sehen, daß die besprochenen Gestalten Chaucers als „superbi" verstanden werden können. Sie alle überschätzen sich und ihre Fähigkeiten — aufs Ganze gesehen —, sie wissen nicht, wo die eigentlichen Güter sind, sondern richten ihren Sinn auf das Irdische. Der Somnour und der Fere sind beides Heuchler, und Heuchelei wurde im Mittelalter oft als ein Symptom des 72

Summa Theol. IIa Ilae qu. CLXII. Ibid. Ia Ilae L X X X I V . S T IIa Ilae qu. CLXII. 75 Pars T 395. 76 Ibid. 404. 77 Mirour vv. 2545 f. u. ibid. v. 2593. Stolz und Torheit o f t zusammengenannt, vgl. z. B. ibid. 2206; auch im Rolandslied 313 orgoil et folage; Yvain v. 1795 f. 78 Pars T 402 vgl. Gregor der Große, Registrum VII,21: „reges et duces . . . mundi principe diabolo videlicet agitante, super pares, vid. homines, dominari caeca cupidine et intolerabili praesumptione affectaverunt. 79 S T IIa Ilae, qu. CXXX.2. 73

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Stolzes gefaßt 8 0 , und mit Recht: denn wer heuchelt setzt voraus, daß sein Mitmensch ihn nicht durchschaut, d. h. er hält ihn für dümmer als sich selbst — das ist natürlich Anmaßung. Beide sind auch Prahler, der Somnour rühmt sich seiner Schandtaten, der Frere seiner Verdienste; dazu mag Chaucer selbst den K o m mentar geben: „Avantour is he that boasteth of the harmes or of the bountee he hath done 8 1 ." Der Frere ist dazu noch vom Laster des Zornes befallen 8 2 ; der Zorn erklärt sich auch aus seinem Stolz: er ist wütend, weil, wie er selbst sagt, der kranke Mann ihn und seinen Orden beleidigt hat. D a ß stolze Menschen besonders zum Zorne neigen, erklärt Chaucer ebenfalls in der Parson's T a l e 8 3 . Es bedarf also durchaus nicht moderner psychologisierender Betrachtungsweise, um diese verschiedenen Gestalten Chaucers als „stolz" zu erkennen; ein mittelalterlicher Mensch, der mit moral-theologischen Vorstellungen vertraut war, hatte durchaus die Möglichkeit, ihre Superbia zu bemerken. Chaucer hat, wie ich oben schon erwähnte, das fabliauartige Thema dadurch erweitert und vertieft, daß er die Struktur des „Fall auf Princes" auf einfache Geschichten übertragen, und den Hochmut, der zum schließlichen Falle führt, psychologisch so anschaulich dargestellt hat, daß die „Katastrophe" aus der inneren Haltung, aus dem Charakter der „Helden" hervorgeht. Der Stolze, der sich überschätzt und „übernimmt", kommt bei ihm regelmäßig „zu F a l l " ; daran zeigt sich Chaucers Mittelalterlichkeit — wenn wir als mittelalterlich eine Denkweise bezeichnen dürfen, die von Jean de Meun und Boccaccio bis zum „Mirror for Magistrates" und zum jungen Shakespeare andauert — denn es ist keineswegs selbstverständlich, entspricht nicht den zu beobachtenden Tatsachen, daß der Stolze „stürzt". Moderne Schriftsteller, wie Steinbeck, Dämon R u n y o n , Saroyan, schildern Gestalten, die den Kenner oft genug an die Helden der Chaucerschen Fabliaux erinnern; aber die Spitzbuben der Modernen kommen nicht zur Katastrophe — jedenfalls nicht immer — , sondern genießen ungestört die Früchte ihrer Listen. Das läßt sich wohl daraus erklären, daß ein Maßstab für das, was der Mensch ist und sein sollte, fehlt; man betrachtet heute den Menschen und die Welt rein „phänomenologisch"; die Welt wird beschrieben „wie sie ist" und scheint keine gültige Ordnung zu haben. Chaucer, wie wir sahen, kennt eine solche Ordnung; seinp Fabliau-Helden scheitern daran, daß sie sich irren; daher ist Selbstkenntnis, Selbstbescheidung — was wir vor allem bei Theseus finden — die Hauptaufgabe des Menschen; wer sich selbst und seine Grenzen kennt, findet sich im Leben zurecht 84 . Sollten wir daher soweit gehen, Chaucers Fabliaux als Exempla gegen das Laster der Superbia aufzufassen? Tatsächlich hat F. Tupper sen. behauptet, die Canterbury Vgl. Gower, Mir. 1057 ff.; Confessio 594 ff.; Chaucer Pars T 390 ff. Pars T 392. 8 2 Daher behauptete F. Tupper sen. „ W r a t h " sei das Hauptlaster des Frere und interpretierte die Somnours Tale als ein exemplum gegen W r a t h (auf die Tuppersche exemplum-interpretation komme ich unten zu sprechen). 8 3 Pars T 547 ff. 8 4 Auch der Mönch in der Shipman's Tale weiß sich im rechten Augenblick zurückzuziehen, er ist klüger als z. B. Nicholas. 80

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Tales seien sämtlich Exempla — wenn auch nicht allein gegen die Superbia, sondern gegen verschiedene Laster gerichtet 85 . Doch hat J. L. Lowes diese These so gründlich in Stücke geschlagen, daß wohl niemand wieder auf den Gedanken kommen wird, die Canterbury Tales als Predigt aufzufassen — dazu fehlt ihnen, wie Lowes ganz richtig gesehen hat, der Predigtcharakter. Wenn nämlich eine Geschichte als Exemplum zu verstehen ist, dann gibt ihnen der Erzähler ausdrücklich eine Nutzanwendung, ein fabula docet — und das gerade fehlt bei den Fabliaux, die wir besprochen haben 86 . Ein Dichter kann gewisse Vorstellungen vom Wesen der Welt und des Menschen haben, die auch in der Struktur seines Werkes erkennbar sind — ohne daß er diese Vorstellungen seinen Hörern und Lesern didaktisch aufdringen muß 87 . In dieser Hinsicht ist Chaucer von Gower, mit dem er sonst einiges gemeinsam hat, durchaus verschieden. In Gowers „Confessio" spricht der Genius, der zu jeder Erzählung einen moralischen Kommentar gibt und der, das ist vor allem wichtig, mit seinem Kommentar immer „das Richtige" sagt (d. h. das, was Gower für richtig hält); in der Canterbury Tales dagegen erzählen Menschen, deren Ansichten, wenn sie überhaupt Ansichten haben, keineswegs vorbildlich sind (ausgenommen sind natürlich Gestalten wie der Ritter und der Parsoun). W i r können-sogar noch weiter gehen und sagen: der Müller, der Reeve, der Somnour, der Frere und der Pardoner sind den Gestalten ihrer Geschichten ähnlich: auch sie sind „superbi". Der Müller erzählt nicht um zu belehren; er freut sich an dem, was er vorträgt. Hätte er aber nicht bedenken müssen, daß er eventuell einem in der Gesellschaft „auf den Schlips" tritt? Er hätte es sich denken können; denn der Reeve äußert sich ablehnend, als der Müller sein Thema andeutet 88 . Ein sensibler Mensch, jemand, der andere ehren und auf andere eingehen kann, hätte das als Warnung empfunden; aber der Müller, wie wir bereits wissen, ist ein „cherl" 89 ; er will nur die Geschichte loswerden, die ihm auf den Lippen liegt — obwohl er vor Betrunkenheit kaum noch im Sattel sitzen kann — und bedenkt nicht, daß er sich in einer Weise aufführt, welche den Frieden und die Eintracht der Gesellschaft stört. Dürfen wir ihn als „superbus" als anmaßend verstehen? W i r interpretieren nicht in die Gestalt hinein, wenn wir ihn so auffassen: zu Anfang seiner Erzählung zeichnet der Reeve ein Porträt des Müllers und sagt: As any pecock was he proud and gay 9 0 .

Wer stolz ist, kennt sich und seine Stellung in der Welt nicht und bekommt über kurz oder lang die Quittung für sein Verhalten. Dem Müller bleibt sie PMLA X X I X , Chaucer and the Seven Deadly Sins. Vgl. J. L. Lowes, Chaucer and the Seven Deadly Sins, P M L A X X X . 8 7 Hier sei noch einmal an den jungen Shakespeare erinnert. W i e Tillyard (Shakespeare's History Plays, London 1951 4th ed.) gezeigt hat, hat Shakespeare in seine frühen Historien eine Geschichtsphilosophie hineingearbeitet, die zu seiner Zeit gültig w a r ; aber Shakespeare „predigt" diese Philosophie nicht. 8 8 Canterbury Tales I, v v . 3 1 4 4 ff. 8 9 Cherl ist die englische Entsprechung zu vilain. 9 0 I, v. 3926. 85 86

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nicht erspart. Er hat sich, indem er die Ehebruchsgeschichte, über die sich der Reeve ärgerte, erzählte, in eine für ihn selbst fatale Situation hineingebracht: der Müller in der „Reeve's T a l e " — sein Ebenbild — steht als anmaßender, dummer und geprellter Hahnrei da. So geht es dem Pilger ähnlich wie den Helden seiner Tale: seine Anmaßung und Unbedachtsamkeit führen zur „Katastrophe". Der Streit zwischen Somnour und Frere sieht ähnlich aus, ist aber noch schlimmer; denn hier ist alles absichtsvoller und gemeiner. This worthy limitour, this noble frere He mad alwey a maner louring chere Upon the somnour, but for honestee No vileyns Word as yet to him spak he 91 . Der Frere wartet die ganze Zeit darauf, dem Somnour, seinem Erbfeind, eines auswischen zu können; zunächst hält er sich zurück, aber schließlich kann er sein Gift doch nicht mehr bei sich behalten. Er fängt an zu sticheln: und auch ihn — wie den Müller — weist der Wirt in seine Schranken, indem ihn darauf aufmerksam macht, was sich gehört: A ! sire, ye sholde be hende And curteis as a man of your estaat, In compainye we wol have no debaat 9 2 .

Der Frere müßte sich eigentlich benehmen können: aber er läßt sich nicht zurückhalten. Er will noch mehr als den Somnour verletzen: er will ihn, und mit ihm seinen ganzen Stand, demaskieren und moralisch vernichten. Man muß die Einleitung zu seiner Tale lesen und sehen, wie die Demaskierung Schritt für Schritt durchgeführt wird, bis sie schließlich in den Worten gipfelt: H e was, if I shal yeven him his laude, A theef, and eek a somnour, and a bawde 9 3 .

Die Somnours überhaupt erscheinen als Diebe und Kuppler — sie sind ihrem Wesen nach Verbrecher, und ihre Heimat ist die Hölle 9 4 . Mit seiner Charakteristik hat der Frere weitgehend recht: aber er ist nicht moralisch berechtigt, den Somnour zu kritisieren — denn er ist selbst nicht besser und gehört einem Stande an, dessen Ruf nicht besser ist als der, welchen die Somnours genießen 95 . Außerdem charakterisiert sich der Frere selbst als Heuchler, indem er vorgibt, er wolle ein warnendes Exemplum erzählen, um die Menschen, besonders die Somnours, zu bessern 98 — während er doch, wie jedermann spürt, nur treffen, verletzen, vernichten will. Als Heuchler ist der Frere ohne Zweifel stolz; er ist außerdem — oder besser: deswegen — nicht curteis, wie er eigentlich sein sollte; und er weiß nicht was er tut (er ist „verblendet"), wenn er meint, er könne es sich leisten, diese Geschichte zu erzählen, ohne eine sehr energische Rache heraufzubeschwören. III, vv. 1265 ff. Ibid. 1286 ff. 9 3 III, vv. 1353 ff. 9 4 Ibid. 1641. 9 5 Ibid. 1643. 9 6 Die unmittelbare Rache ist der Prolog (die Freres in der Hölle residieren im Hintern des Teufels), dann erfolgt die Demaskierung des Frere in der Erzählung selbst. 91

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Wer aber so viele offenkundige Gebrechen hat, den kann die Rache leicht ereilen; der Somnour schlägt schnell und scharf zurück. Begreiflicherweise ist er wütend; sein Zorn kommt aus gekränkter Ehre; und auch er ist unbedacht: denn er realisiert nicht, daß er, indem er die unflätige Rache des kranken Mannes als einen Triumph über den Frere erzählt, sich nolens-volens mit der Art der Rache identifiziert — also seinem eigenen Charakter kein gutes Zeugnis ausstellt. Von allen Pilgern hat wohl bis jetzt der Pardoner das meiste Interesse der Interpreten auf sich gezogen. Wenn die bisher durchgeführte Interpretation richtig war, dann wird man wohl auch ihn als „superbus" verstehen dürfen 97 . Dazu bieten sich ohne weiteres zwei Ansatzpunkte: der Pardoner stellt sich selbst als Heuchler dar und prahlt mit seiner Geschicklichkeit98. Doch können wir ihn nicht mit Somnour und Frere, geschweige denn mit Müller und Reeve, auf eine Stufe stellen; denn wenn sich auch z. B. der Frere als Heuchler erweist, so will er sidi doch nicht so hinstellen; ihm fehlt, genau wie dem Somnour, und natürlidi auch dem Müller und dem Reeve, die Distanz zu sich selbst — sie alle können sich nicht selbst sehen, sie können nicht sich selbst gegenüberstehen, und gerade das kann der Pardoner sehr gut. Wie ist aber dann sein „Reinfall" am Schluß zu erklären? Er fordert am Ende seiner Erzählung die Pilger auf, bei ihm Ablaß zu nehmen und wendet sich zunächst an den Wirt — der ihm eine scharfe Abfuhr zuteil werden läßt: d. h. der Pardoner fällt, trotz all seiner Selbstkenntnis, genau so hinein wie etwa der Frere. Müssen wir nicht fragen: hätte der Pardoner nicht wissen können und sollen, daß der Wirt nicht auf seinen Leim gehen würde? Nachdem der Pardoner doch selbst eben erst seine heuchlerischen Praktiken dargestellt hat! Ist der Pardoner vielleicht von seiner Unwiderstehlichkeit überzeugt: meint er es sich leisten zu können, zuerst seine Kniffe anzukündigen und dann mit den gleichen Methoden zum Ablaßnehmen aufzufordern? Fühlt er sich so sicher? Mir scheint, diese Fragen weisen auf die Lösung des Rätsels. Ähnlich wie der Frere meint der Pardoner, er brauche nicht für das einzustehen, was er ist. Wie aber vereint sich das mit seiner Distanz, die er zu sich selbst hat? Die Distanz ist gar nicht echt; sie ist kein Zeichen von Selbstkenntnis; der Pardoner kann sich sehen und beschreiben, weil er in sich selbst verliebt ist: Myne handes and me tönge goon so yerne That it is joye to see my bisinesse99. Er kann nicht anders: er muß von seinen Methoden und Erfolgen reden, er findet sich selbst gar zu schön; er muß die Rolle spielen, die er selbst angenommen hat. Er muß sie spielen: deswegen vergißt er, daß sein Gegenüber gewarnt ist, und deswegen erleidet er die Abfuhr. Fünf Erzähler also sind den Gestalten ihrer Geschichten ähnlich; sie erleiden ein ähnliches Schicksal. Die Erzähler selbst verletzen einen gewissen Maßstab, 97 Literatur bei Robinson p. 837; eine neuere Interpretation, die zur gleichen Zeit entstanden ist wie meine eigene, faßt den Pardoner ebenfalls als „superbus". Vgl. A. L. Kellogg, Speculum 26, p. 465. 98 Vgl hierzu Pars T 396: Impudent is he that for his pryde hath no shame of his sinnes. 99 VI, vv. 398 ff.

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sie selbst kennen sich nicht und wissen nicht, was sich gehört: sie beachten,, wie wir verschiedentlich gesehen haben, die Gesetze der Courtoisie nicht. Das Leben der Pilger spielt sich in einer Gesellschaft ab, die sich um der „Freude" willen zusammengefunden hat; in dieser Gesellschaft muß einer den anderen achten und darf sich selbst nicht vordrängen. Die fünf genannten Erzähler aber haben keine Achtung, sie greifen rücksichtslos in die Sphäre eines anderen ein. Daß sie amüsante, sogar derbe Geschichten erzählen, ist an sich kein Verbrechen; man erzählt, um sich zu freuen, und so lange man noch lachen kann, ist alles gut 1 0 0 . Aber die Freude darf nicht zur Schadenfreude werden; gewiß, man darf seinen Mitpilger ironisch anreden und wohl auch ein wenig verspotten; der Wirt, der durchaus „höflich" ist, erlaubt sich gelegentlich einen Witz mit einem seiner Reisegefährten. Die Gesellschaft im Ganzen entscheidet für gewöhnlich darüber was noch angeht. Die Erzählung des Frere — in der er den Somnour moralisch vernichten will — ist allerdings zu stark: nach dieser Geschichte lacht niemand; aber noch viel gefährlicher ist die Reaktion auf die Abfuhr, die der Wirt dem Pardoner erteilt. Denn sonst war immer der Wirt derjenige, der eine verfahrene Situation mit Takt, Geschick und Humor wieder einzurenken wußte; jetzt aber ist er selbst betroffen und sprengt alles Maß 1 0 1 . Wer soll hier noch helfen? Alles lacht den Pardoner aus, ein Mitglied der Gesellschaft wird moralisch „erledigt", und damit ist die Gesellschaft selbst in Gefahr, gesprengt zu werden. Hier kann allein der Ritter helfen: er hat die Courtoisie, welche die anderen haben sollten; er ist ein „ ,parfit' gentil knight", der die echte höfische Achtung vor anderen Menschen hat 1 0 2 . Er fragt, großzügig und vornehm wie er ist, nicht nach Recht und Unrecht, sondern ruft zur Versöhnung, zur Liebe und zur Freude: But right anon the worthy knight began, Whan that he saugh that al the peple lough, „ N a m o r e of this, for it is right ynogh! Sire Pardoner, be glad and myrie of chere; And ye, Sir Hoste, that been to me so deere, I preye yow that ye kisse the Pardoner. And Pardoner, I prey thee, drawe thee neer, And, as we diden, let us laughe and pleye 1 0 3 .

In letzter Instanz ist es der Ritter, der die Gesellschaft der Canterbury Pilgrims zusammenhält und durch sein Verhalten die Norm gibt. Darin zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu Gower. Gowers Genius hat strikte Normen, die er im wesentlichen der Moraltheologie entnimmt; und 1 0 0 Nach der Miller'sTale sind z. B. „verschiedene Leute verschiedener Meinung" — but for the moste part thei laughe and pleide (1,3857). Der Maßstab ist das unschuldige Vergnügen der Gesellschaft — genau so wie in Boccaccios Decameron — und genau so wie in der "Wirklichkeit der H ö f e , wo sich die feinsten Damen nicht durch derbe Geschichten aus der Contennance bringen ließen. Vgl. Bedier, Fabliaux, pp. 367 ff. 101 Ygi v i , vv. 951 ff.; für den unanständigen Witz des Wirtes vgl. Curry, Chaucer and the med. Sciences pp. 54 ff. 1 0 2 Der Ritter gehört ausgesprochen zu dem, was ich oben als den „inklusiven T y p " der Courtoisie zu fassen suchte. 1 0 3 VI,960 ff.

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daher beurteilt, richtet und verwirft er die Menschen, die sich nicht formgerecht benehmen; Chaucers repräsentative Gestalt ist der Ritter, der, offenbar so wie Chaucer selbst, zwar Normen kennt, aber die Menschen nicht verurteilt, sondern sie gelassen toleriert; zugleich allerdings weiß der Ritter auch die Menschen zu leiten und — bis zu einem gewissen Grade — zu beherrschen. Chaucers Idealmensch ist — viel auffälliger und eigentlicher als bei Gower — der höfische: der Mensch, der sich selbst kennt, der weiß was sich gehört, andere achtet und nicht die ihm gesetzten Grenzen überschreitet; der aber zugleich verzeihen kann, wenn ein anderer einmal „zu weit" geht. Chaucers Ritter achtet sogar den, der selbst nicht „courtois" ist; er redet Pardoner und Wirt mit Sire an und versichert den Wirt, der eben einen gemeinen Witz gemacht hat, seiner Zuneigung. Damit ist unsere Untersuchung wieder an ihrem Ausgangspunkt angekommen. Ich sagte oben, Chaucers Dichtung lebe aus der mittelalterlichen Courtoisie; das bestätigt sich damit, daß der Ritter die repräsentative Figur der Canterbury Tales ist und durch sein höfisch-sicheres Auftreten die Gesellschaft der Pilger zusammenhält. Zum Wesen der Courtoisie gehört, andere Menschen zu tolerieren („sein zu lassen") und zugleich verständnisvoll auf sie einzugehen; aus diesem Grundwesen heraus ist entwickelt, was wir bei Chaucer als verstehende Reflexion, Humor und Toleranz finden. Aber diese Eigenschaften Chaucers sind so eigenartig und vergleichsweise „neu", daß wir in seinem Werk an einen Punkt zu kommen scheinen, wo sich Courtoisie in etwas umbildet, das wir vielleicht Humanität nennen könnten. Mit Chaucer beginnt die englische Literatur; ich werde im letzten Kapitel kurz darlegen, wie sich seine Eigenart in •diese Literatur einordnet.

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VI. Chaucer und die englische Literatur Chaucer gilt und galt schon immer als der „Vater der englischen Poesie"; d. h. die Engländer haben in seinem Werk etwas gefunden, das sie als spezifisch englisch empfinden. Wenn ich nun im Folgenden versuche, seine Verwandtschaft mit einigen großen englischen Autoren aufzuzeigen, möchte ich seine Geistesart nicht als Ausdruck des englischen Nationalcharakters hinstellen, sondern nur betrachten, wie Chaucersche Themen bei seinen Nachfolgern wieder aufklingen und behandelt werden. Ich gehe daher von einigen spezifisch Chaucersdien Eigenarten aus und setze sie in Beziehung zu dem, was sich bei anderen Großen der englischen Literatur, besonders bei Shakespeare, aber auch bei Fielding, Sterne, Dickens und J. Austen findet. Es scheint zweckmäßig, mit dem Skeptizismus zu beginnen, den Chaucer zu Beginn der „Legend of Good Women" geradezu programmatisch formuliert. A thousand tymes have I herd it telle That ther is joy in hevene and peyne in helle, And I acorde wel that k be so; But nathelees, yet wol I wel also That ther is non dwellyng in this contree, That either hath in hevene or helle ybe, Ne may of it non other wayes witen, But as he hath herd seyd or found it writen; For by assay ther may no man it preve. But God forbede that men shulde leve Wel more thyng than men have seyn with ye! Men shal nat wenen everything a lye But if hymself it seeth or elles dooth; For God wot, thyng is never the lasse sooth Thogh every wight ne may it nat ysee. Bernard the monk ne saugh nat all, pardee! Than mote we to bokes that we fynde, Thurgh whiche that olde thinges ben in minde .. - 1

Chaucer diskutiert die Frage, ob man sich auf „experience" oder auf „auctoritee" verlassen soll. Im Ganzen bleibt uns zwar nur die Autorität — das heißt Bücher: Bücher halten die Erinnerung an das wach, was andere gesehen haben. Aber Chaucer weiß doch sehr gut, daß ein Unterschied besteht zwischen „selbst gesehen" und „gelesen". Man darf wohl annehmen, daß im Himmel Freude, 1 Vgl. L G W Prolog, 1 ff. Auf die Bedeutung dieser Stelle machte mich in einem Gespräch Mr Nevill Coghill, Oxford, aufmerksam. Er sieht in ihr einen perfekten Ausdrudc von dem, was er Chaucers „agnosticism" nennt. Damit meint er das gleiche, was idi hier als skeptische Zurückhaltung zu beschreiben suche.

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und in der H ö l l e Qual herrscht; aber es gibt doch keinen Augenzeugen (jedenfalls nicht „in this contree"), der es beweisen kann 2 . W e n n wir die hierin ausgedrückte Haltung Chaucers skeptisch nennen, so verstehen wir dabei „Skepsis" im Sinne des distanzierten und abwägenden B e trachtens. Chaucer kann ein Problem aus der Distanz sehen und zugleich damit von mehreren Seiten. Das zeigt sich besonders deutlich in seiner Beschäftigung mit der Frage der Willensfreiheit. E r selbst bezieht keine feste Position, sondern zitiert die Ansichten verschiedener Gelehrter — wobei er sich, wie die K o m mentatoren festgestellt haben, als guten Sachkenner erweist — er diskutiert knapp alle denkbaren Theorien: um am Schluß alles mit einem scheinbar resignierten Desinteresse beiseite zu wischen 3 . Ein anderes Thema,, für das sich Chaucer ebensosehr wie viele seiner V o r gänger und Zeitgenossen interessiert hat, ist die Bedeutung und das Wesen der Träume. Zu Beginn des „House of F a m e " erörtert er sämtliche T h e o r i e n : wie seltsam sind doch T r ä u m e ! W o mögen sie herkommen, was mögen sie bedeuten — bedeuten sie überhaupt etwas? Chaucer spricht auch hier kein definitives Urteil aus; er begnügt sich mit der Tatsache, daß T r ä u m e eben seltsam sind; was, und warum sie sind, das weiß er nicht 4 . W i r spüren in Chaucers Werken die Gegenwart eines wachen, allen Problemen geöffneten, stets interessierten Geistes; wenn w i r aber wissen wollen, was er eigentlich denkt, dann antwortet er gewöhnlich mit einem Achselzucken: was weiß ich? Es gibt genügend Gelehrte, die darüber Auskunft geben: sie widersprechen einander allerdings, aber vielleicht hat doch der eine oder andere recht. Dieses Sich-nicht-festlegen-wollen, diese Abneigung gegen alle fixierte Theorie, gehört ebenso sehr zum Wesen Chaucers selbst, wie es eine Grundkonstante der englischen Literatur ist. M a n braucht nur an Shakespeare zu denken, der dadurch, daß er nie eine persönliche Meinung ausspricht, seine Ausleger entweder verzweifeln läßt — oder dazu bringt, ihm die eigene Weltanschauung zu unterschieben. Shakespeare legt seinen Gestalten Meinungen in den M u n d ; wenn w i r aber wissen wollen, was er selbst gedacht hat, greifen wir bei ihm noch mehr ins Leere als bei Chaucer 5 . Es ist leicht einzusehen, daß ein solcher Skeptiker sich mit besonderem Interesse dem Menschen zuwendet. D e r Mensch läßt sich immer beobachten, über ihn läßt sich immer etwas aussagen — mindestens in der F o r m , daß man ihn darstellt — und so wird er das geeignete Studienobjekt. F ü r einen großen T e i l der englischen Literatur hat Pope das M o t t o gegeben: Know then thyself, presume not God to scan The proper study of mankind is man. Chaucers Theseus allerdings scheint diesem M o t t o nicht ganz zu entsprechen. E r Vgl. auch N. Coghill, The Poet Chaucer, pp. 95 ff. Vgl. 'bes. The Nun's Priest's Tale. 4 Vgl. hierzu die schon wiederholt genannte Arbeit I. Bessers, Chaucers „Hous of Fame", pp. 38 ff. 5 Man darf vielleicht den kritischen Empirismus Lockes und besonders Humes als den philosophischen Ausdrude dieser Geisteshaltung ansehen. 2 3

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spekuliert mit einer für Chaucer ungeheuren Kühnheit über Gott und Welt. Aber diese Spekulation dient, wie ich zu zeigen versuchte, einem sehr konkreten Zweck: Theseus will eine Ehe stiften; und daher kehrt er, nach einem Ausflug in die Metaphysik, so bald wie möglich auf die Erde zurück. Seine Spekulation ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel; ihr Sinn ist, das Leben in Ordnung zu halten — abgesehen davon, daß sie durch den ironischen Schluß, wenn auch keineswegs entwertet, so doch relativiert wird. Der Mensch als das eigentümliche Studienobjekt gehört zu den wesentlichen Charakteristika der englischen Literatur. Sie bringt uns eine Fülle von Gestalten und Beobachtungen; und dabei wenig Aussagen über den Wert des Dargestellten. Die Freude am Beobachten herrscht vor; die Neigung, letzte Urteile zu fällen, tritt zurück. Der Leser soll sich selbst eine Meinung bilden, der Autor gibt dazu nur das Material. Denken wir etwa an Chaucers Beschreibung des Mönches: H e yaf nat f o r that text a pulled hen T h a t seith that hunters be nat holy men, A n d I seyde his opinioun was good. What sholde he Studie and m a k e himselfen wood, U p o n a b o o k in cloistre alwey t o p o u r e O r swinken with his handes and laboure, A s Austin bit? H o w shall the werld be served? L a t Austin have his swink to him reserved 6 !

Wie Chaucer zu dem Mönch steht, läßt sich kaum eindeutig sagen. Wollte er seine Weltlichkeit verspotten? Oder meinte er, daß tatsächlich für diesen Mönch das weltliche Leben besser war? Chaucer kommentiert zwar seine Gestalt: aber er verbirgt seine Meinung dadurch mehr, als er sie zeigt. So wie Chaucer begnügen sich Shakespeare und die auch oft großen Romanciers damit, ihre Menschen vorzuführen und das endgültige Urteil dem Zuschauer oder Leser zu überlassen 7 . Damit verbindet sich ganz natürlich eine Tendenz, die Entscheidungen der Helden und Heldinnen zu verhüllen. Chaucer legt in seiner Cryseyde nicht den letzten Grund ihrer Seele bloß — Noght list myn author fully to declare What that she thoughte whan she seyde so 8 — sondern berichtet nur, was de facto geschah und gesagt wurde. Wir sehen hier, wie sich die eingangs genannte skeptische Zurückhaltung mit dem Beobachten und Darstellen des Menschlichen verbindet. Diese Zurückhaltung, die Scheu vor der letzten Analyse hat Chaucer mit vielen englischen Schriftstellern gemeinsam, besonders etwa mit Fielding und Jane Austen. Das Interesse dieser Beobachter geht mit ausgesprochenem Vergnügen auf das Absonderliche, auf das, was man im Englischen den „character" nennt. Eine ganze Reihe der Canterbury-Pilger sind „characters" — etwa der Müller, der Somnour, der Pardoner; aber schon die Vögel niederen Standes im „ParleCanterbury H i e r z u vgl. Shakespeare and 8 T r o i l u s III, 0 7

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Tales, I, 177 ff. f ü r Shakespeare: A l f r e d H a r b a g e , As T h e y Liked It. A n Essay on M o r a l k y . N Y Macmillan, 1947. 5 7 5 f f . ; ähnlich z . B . C a n t T I V , 1967ff.

ment of Foules" und der Adler im „Hous of Fame", der zuerst als ein grauenerregendes Tier erscheint, sich aber dann als ein gemütlicher Onkel entpuppt, machen den Eindruck des „character" und lassen somit in Chaucer etwas sehen, das an Dickens erinnert. Wenn wir einmal zwei Charakter-Porträts nebeneinander halten, eins von Chaucer und eins von Dickens, dann spüren wir eine Geistesverwandtschaft, die über die Jahrhunderte hinweggeht. Miss Sally Brass, then, was a lady of thirty-five or thereabouts, of a gaunt and bony figure, and a resolute bearing, which if it repressed the softer emotions of love, and kept admireres at a distance, certainly inspired a feeling akin to awe in the hearts of those male strangers whe had the happiness to approach her 9 .

Folgendermaßen beschreibt Chaucer die Frau des Müllers: . . . She was as proud and pert as is a pye. . . . Ther dorste no wight clepen her but dame. Was non so hardy that went by the weye T h a t with hir dorste rage or ones pleye . . . And eek, for she was somdeel smoterlidi, She was as digne as water in a dich, And full of hoker and of bisemare 1 0 .

Sally Brass flößte, wie Dickens ironisch sagt, ein der „Ehrfurcht verwandtes Gefühl" ein, und die Frau des Müllers war so würdig wie das Wasser in einem Tümpel — an das niemand herangeht, weil es stinkt 1 1 . An beide wagen sich die männlichen Vertreter nicht zu nahe heran. Die beiden Damen sind einander ähnlich; und ähnlich ist auch die Haltung der beiden Autoren zu ihren Geschöpfen. Weder Sally noch die Müllersfrau sind schön und anziehend; aber Chaucer und Dickens blicken mit Vergnügen auf ihre Gestalten; ganz offensichtlich sind sie amüsiert, daß es „so etwas" gibt. Das Vergnügen scheint ein wenig unmoralisch, denn weder Sally nodi die Müllersfrau sind „feine Leute": sie stehlen und betrügen; Sally bringt sogar den armen Kit Nubbles ins Gefängnis. Aber die Menschen sind nun einmal so, scheinen Chaucer und Dickens zu sagen; auf jeden Fall wäre das Leben viel langweiliger, wenn es solche Typen nicht gäbe. Mit dem Beobaditen hängt der Humor zusammen. Daß der Humor in der englischen Literatur spezifisch hervortritt, bedarf ebensowenig einer ausdrücklichen Erwähnung, wie daß Chaucer der erste große Humorist Englands ist. Den „sense of Humour" empfinden viele Engländer als etwas so sehr ihnen Eigentümliches, daß sie meinen, das Schicksal habe diese Gabe anderen Völkern vorenthalten — im Augenblick allerdings, wo jemand meint, nur er habe „sense of humour", hört er auf, Humor zu haben. Denn der Humorist muß immer über sich selbst lachen können; er muß fähig sein, die menschliche Beschränktheit, über die er bei anderen lacht, audi bei sich selbst komisch zu finden: so wie Sternes Yorik, der sich selbst „in the true point of ridicule" sah 1 2 . Skepsis und distanzierte Beobachtung hängen mit dem Humor zwar nicht notwendig, aber doch verstehbar zusammen. Skepsis fassen wir als die Fähigkeit Dickens, T h e Old Curiosity Shop, chap. 13. Canterbury Tales I, 3950 if. Vgl. den Kommentar Skeats zu v. 3694. 1 2 Sterne, T r i s t r a m Shandy, I, chap. 10. 9

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K l e i n s t ü c k , Chaucers Stellung

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auf, eine Sache von verschiedenen Seiten und mit Suspension des letzten Urteils anzusehen; dadurch wird das Feste, oder scheinbar Sichere, relativiert und gerät ins Schweben. Es beginnt ein Prozeß der Reflexion, der bis ins Unendliche fortschreiten kann — oder könnte, wenn nicht plötzlich das Lachen befreiend dazwischen käme. Die verschiedenen Aspekte eines Problems — bei Chaucer z. B. das des freien Willens — werden diskutiert, eine Theorie stellt die andere in Frage: nur noch das Lachen bleibt übrig. Der Beobachter sieht die Menschen mit ihren Ansprüchen und Eigenarten; die Menschen, die sich selbst ganz ernst nehmen, als ob ihre Ansprüche wichtig und berechtigt wären; durch seine Distanz ist er fähig, zu relativieren und sich so aus der Gebundenheit des partikularen Standpunktes lächelnd zu befreien. Er wendet den Blick auf sich selbst und wird damit selbst nicht mehr so wichtig; er nimmt sich — auch in peinlichen Situationen — nicht mehr ganz ernst. So denkt Chaucer, als er in den Klauen des Adlers hängt, der ihn — was er noch nicht weiß — zum Haus der Fama emportragen soll: „ O G o d " thought I, „that madest kinde Shall I no other weyes dye? Wher Joves wol me stellifye, Or what thyng may this signifye? I neither am Enok, ne Elye, N e Romulus, ne Ganymede, T h a t was ybore up, as men rede, T o hevene with daun Jupiter, And mad the goddys boteler" 1 3 .

Der Witz der Situation liegt einmal darin, daß sich Chaucer scheinbar ganz ernst nimmt; gerade so empfinden wir die Komik, daß er, Geoffrey Chaucer, königlicher Beamter und dilettierender Privatgelehrter — ein wenig beleibt vom guten Leben — von einem Adler in die L u f t emporgetragen wird und sich keine andere Erklärung dafür geben kann, als daß er, wie Geschichte und Erfahrung lehren, in den Himmel versetzt werden soll — was aber anderseits nicht in Frage kommt, da er doch weder Elias noch Enoch, noch, und erst recht nicht, Ganymed ist. Der Humor wird besonders augenfällig, wenn wir uns klarmachen, daß Chaucer seine Dichtung selbst vorgetragen hat. Die Himmelsreise Chaucers hat vermutlich ihr unmittelbares Vorbild in Dantes „Commedia" 1 4 ; selbstverständlich nimmt Dante sich, seinen Flug und den Adler ernst. Dante ist in vieler Hinsicht das vollkommene Gegenstück zu Chaucer. Dante bezieht alles, was geschieht, auf einen letzten Sinn; er bringt sich und seine Mission nicht reflektierend in die Schwebe: deswegen gibt es bei ihm auch keinen Humor. Ein Abschnitt in der „Commedia" ist allerdings, wie verschiedene Kommentatoren bemerken, komisch. Im 21. und 22. Gesang des Inferno erzählt Dante von den Betrügern, die von den Teufeln im Pechsee geschmort werden wie Würste im Kessel 1 5 . Die Betrüger versuchen, ihren irdischen Gewohnheiten 13 14 15

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House of Fame II, 582 ff. Vgl. Purgatorio I X , 19/20. Inferno X X I , 55 ff.

getreu, ihre Wächter zu betrügen; dabei ergeben sich Situationen, die komisch wirken und wohl auch als komisch konzipiert sind. Aber es würde Dante nie einfallen, sich selbst „in the true point of ridicule" zu sehen; er kommt nicht auf den Gedanken, daß ihm das Gleiche oder Ähnliches passieren könnte — weil er doch auch nur Mensch ist wie die Betrüger. Ganz anders Chaucer, und ganz anders Chaucers Theseus, der über die verliebten Ritter lacht, weil sie in ihrer Verliebtheit allerhand Unfug anstellen, der aber weiß, daß es allen Menschen — ihn selbst nicht ausgenommen — in dieser Lage so geht. Indem der Humor relativiert, hat er eine Tendenz zu zersetzen; weder Menschliches noch Göttliches, weder Pflicht noch Liebe, werden ernst genommen; die sogenannten letzten Werte verlieren ihr Gewicht. Für Shakespeares Falstaff — wohl die großartigste humoristische Gestalt — ist nichts mehr heilig; aber auch Chaucer selbst ist manchmal nicht fern von einem solchen Humor, der sich über alles hinwegsetzt. Selbst über den Tod, das letzte Geheimnis, vor dem alles Denken verstummt, macht Chaucer einmal einen Witz, als er die Beschreibung von Arcites Todeskampf spöttisch abbricht: And certeinly, wher natur wol nat wirche, Far wel, phisik! Go, ber the man to chirche 18 .

Lachend erhebt sich der Mensch, und wenn auch nur f ü r einen Augenblick, über seine Grenzen. Lawrence Sterne, den Goethe den freiesten Geist seines Jahrhunderts, und Nietzsche den freiesten Schriftsteller aller Zeiten genannt hat 1 7 , erzählt einmal vom Tode seines Bruders Bobby: das gibt ihm Anlaß, ein wahres Feuerwerk von Witz zu entwickeln. Hier geht der Humor fast in Zynismus über: es bleibt dem Leser überlassen, ob er noch mitlachen will oder sich entsetzt abwendet 1 8 . Lord Byron hat die letzten Konsequenzen gezogen, indem sein Lachen vernichtet und nichts mehr bestehen läßt. Insofern geht er noch viel weiter als Sterne, bei dem doch noch manches ganz bleibt. Zwar scheint er, auf den ersten Blick mindestens, allem den Boden zu entziehen; aber er liebt doch im Grunde seine Menschen. Letzten Endes bleibt Onkel T o b y mit seiner rührenden Menschlichkeit unangefochten; Trims Fürsorge für seine Eltern, seine einfache Caritas, erweist sich als stärker als die subtilen intellektuellen Spekulationen des Vaters Shandy 1 9 . Die anderen großen Humoristen Englands: Fielding und Jane Austen, Dickens und Thackeray, lassen wesentlich mehr bestehen als Sterne und Chaucer und sind darum auch moralischer. Aber daß die humoristische Geisteshaltung überhaupt eine gewisse moralische Weitherzigkeit involviert, dürfen wir nicht übersehen. Humoristen stehen dem Laster großzügig gegenüber; es bleibt von Fall zu Fall, und von Autor zu Autor verschieden, was als verzeihlich und was als unverzeihlich gilt. Chaucer läßt sich durch Betrug, Verführung und Ehebruch kaum erregen; Sterne ist vielleicht noch weitherziger als er — was ihm Thackerays heftige Kritik zugezogen hat: Canterbury Tales I, 2579 ff. Menschliches, Allzumenschliches II, 113. 1 8 Tristram V, 2 ff. Sterne zeigt allerdings an dieser Stelle etwas ganz Bestimmtes in der Verhaltungswei'se der Menschen auf: nämlich, wie das Klischee uns an der echten Empfindung hindert. 1 9 Vgl. T r i s t r a m Shandy VI, 6 ff. und 22. 16

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aber Thackeray selbst schildert seine Becky Sharp mehr mit Vergnügen als mit Indignation; der Punkt, wo für ihn der „Spaß aufhört", ist erst beim Marquis Steyne erreicht20. Dickens amüsiert sich zwar, wie wir sahen, über die seltsame Sally Brass, aber er haßt doch geradezu manche seiner Geschöpfe, und sogar der Freigeist Sterne muß sich über manche Menschen entrüsten: vor allem über die, die selbst keinen Humor haben 21 . Grundsätzlich hört der Spaß für den Humoristen dort auf, wo er nicht mehr verstehen kann: er akzeptiert und verzeiht, so lange er versteht. Chaucers Theseus verzeiht den beiden Rittern nicht obwohl, sondern weil er über sie lacht; das Verzeihen ist, genau wie der Humor, durch Reflexion begründet. Wir haben eben gesehen, wie Chaucers verstehendes Verzeihen sich von Dante und sogar von Boccaccio beträchtlich unterscheidet. In Fieldings „Tom Jones" finden sich verschiedene interessante Parallelen dazu. Als Tom auf dem Wege nach London ist, begegnet er einem Fremden, der sich plötzlich als Straßenräuber entpuppt und ihn berauben will. Partridge, Toms Freund und Begleiter, bringt sich in Sicherheit, Tom selbst entwaffnet den Räuber rasch. Aber er bestraft ihn nidht, denn der Räuber erzählt eine rührende Geschichte — die sich später als wahr herausstellt — vom Leiden seiner Familie; Tom Jones vergibt ihm von Herzen und bedauert die Unglücklichen, die von Not zum Verbrechen getrieben werden und schenkt ihm überdies noch Geld. Tom Jones verzeiht — wie Theseus — weil er versteht und sich einfühlen kann; er ist, genau wie Theseus, keineswegs zum Verzeihen verpflichtet, im Gegenteil. Fielding gibt einen kurzen Kommentar: die Leserschaft, meint er, wird über Toms Handlungsweise geteilter Meinung sein: Some may applaud it perhaps as an act of extraordinary humanity, while those of a more saturnine temper will consider it as a want of regard to that justice whidi every man owes his country 2 2 .

Der Autor selbst verschweigt — ähnlich wie Chaucer — seine Meinung; aber sie ist nicht schwer zu erraten, da er den feigen Partridge zum Vorkämpfer der Gerechtigkeit macht. Hinter dieser Szene steht das Problem, das wir schon bei unserer Betrachtung der „pity" kennenlernten: was steht höher, die Gerechtigkeit oder das Verzeihen? Fielding scheint in diesem Falle das Verzeihen für richtig zu halten; aber es ist fraglich, ob er, der selbst Friedensrichter war, immer so gedacht hat. Die Gerechtigkeit garantiert das Zusammenleben der Gemeinschaft — das Recht ist gesellschaftsbezogen — die Gnade dagegen richtet sich auf den jeweils Einzelnen und kann daher das Funktionieren der Gemeinschaft bedrohen. Für denjenigen, dem der Einzelne wirklich und verständlich ist, verliert die Gemeinschaft an Bedeutung; das reflektierende und einfühlende Verzeihen löst die Norm auf; damit hat es die gleichen zersetzenden Tendenzen in sich wie der Humor. Das weiß Fieldings Mr. Allworthy. Er hat lange Zeit Geduld mit den 2 0 Für Thackerays Kritik an Sterne vgl. Herbert Read, „Collected Essays in Criticism", London 1952 (2). 2 1 Vgl. Tristram I, 12. 2 2 Tom Jones XII, 14.

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Jugendstreichen seines Schützlings T o m Jones, verbannt ihn aber schließlich aus seinem Hause; Allworthys N e f f e Blifil, der Heuchler und Verleumder, hat die Aussicht, Alleinerbe zu werden. Das Glück wendet sich, Blifil wird entlarvt und enterbt, Jones, der sich als N e f f e Allworthys herausstellt, wird in Gnaden aufgenommen. Aber Jones ist auch hier zum Verzeihen bereit; er verwendet sich für seinen Feind, indem er Allworthy darstellt, wie schwer es Blifil im Elend haben müßte: denn Jones kennt diese Leiden aus Erfahrung. Mr. Allworthy ist tiefgerührt; er erlaubt T o m , noch einmal mit Blifil zu sprechen, aber sagt warnend: Yet do not flatter him with any hopes of my forgivenness, for I shall never forgive villainy further than m y religion obliges m e 2 3 .

Später verwendet sich Jones sogar noch für Black George, der seinerzeit, als Jones verbannt wurde, das Geld unterschlug, das Jones verloren hatte. Jetzt ist dieses Vergehen aufgedeckt, und George soll bestraft werden. T o m hat Mitleid mit dem Sünder und hält Allworthy vor: Consider, sir, what a temptation to a man who hath tasted such bitter distress, it must be to have a sum in his possession, which must put him and his family beyond any future possibility of suffering the like.

Allworthy aber ist unerbittlich: Child, you carry this forgiving temper too far. Such mistaken mercy is not only weakness, but borders on injustice, and is very pernicious to society 2 4 .

T o m Jones kann sich sehr gut in die Lage eines plötzlich Enterbten oder eines armen Mannes, den die Gelegenheit zum Diebe macht, versetzen; er betrachtet verstehend den individuellen Fall und so verschwinden für ihn die allgemeinen Bindungen. Mr. Allworthy dagegen ist sich der Verpflichtung gegenüber Religion und Gesellschaft so bewußt, daß er nicht dem verzeiht, der (seiner Meinung nach) wirklich böse ist. Es ist durchaus fraglich, wer von beiden dem Geiste des Evangeliums näher ist. Sicher aber ist, daß der korrekte Mr. Allworthy nur bedingt, der lockere T o m Jones nahezu unbedingt verzeiht. Fielding selbst äußert sich nicht theoretisch über das Problem; aber auch er verzeiht seinem Helden, als er in eine Situation hineingerät, die viele nicht entschuldigen würden. Eines Abends liegt T o m Jones, leicht angetrunken, im Grase und denkt schwärmerisch an seine engelreine Sophia: da erscheint Molly — die in diesem Buche den „amor mixtus" repräsentiert — und Jones zieht sich mit ihr in die Büsche zurück. Das ist sicher kein vorbildliches, ja vielleicht sogar ein unverzeihliches Verhalten; aber Fielding ist weit davon entfernt, seinen Helden zu verdammen; zwar gesteht er dem Leser das Recht zur Entrüstung zu, führt aber eine Reihe von Entschuldigungsgründen an: vor allem den, daß Jones betrunken war. Genügt das? Fielding meint: In a court of Justice drunkenness must not be an excuse, yet in court of conscience it is greatly so . . . N o w , if there are any transgressions pardonable f r o m drunkenness, they are certainly such as Mr. Jones was at present guilty o f . . . 2 5 . 23 24 25

T o m Jones X V I I , 11. Ibid. X V I I , 11. T o m Jones V, chap. 10.

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Diese weitherzige Moral erklärt sich offenbar daraus, daß sich Fielding in die Lage seines Helden einfühlen kann — wozu auch T o m Jones, wie wir verschiedentlich sahen, immer wieder fähig ist. Fielding nimmt für sich als Schriftsteller in Anspruch, hinter die Kulissen des Welttheaters schauen zu können; seine Einsicht läßt ihn grundsätzlich an den geltenden Urteilen über Gut und Böse zweifeln. Jedenfalls gibt er den Rat, nicht zu hastig zu u r t e i l e n . . . "the man of candour and of true understanding is never hasty to condemn" 2 6 . Bei Fielding finden wir also nicht nur die gleichen Probleme, sondern auch die gleiche Haltung wie bei Chaucer. Chaucers Franklin rät zur Geduld, weil die Menschen von den Umständen abhängig sind und weil „schließlich jeder einmal" entgleisen kann. Das Verzeihen geht soweit wie der Humor; beide entstehen aus dem Nachdenken über das Menschliche. Beide haben eine Tendenz zum Zersetzen in sich; wenn man den Rat des Franklin wörtlich befolgt — auch er nennt Trunkenheit als Entschuldigungsgrund — dann kommt man genau auf die Position Fieldings, der T o m seine Eskapade mit Molly verzeihen will. Chaucer und Fielding sind audi insofern vergleichbar, als sie das Problem „Recht und Gnade" nicht generell gelöst haben; hier sehen wir wieder ihre skeptisch distanzierte Grundhaltung. Auch Shakespeare hat das Problem behandelt, und auch aus seinem Werk läßt sich keine allgemeingültige Regel abstrahieren; denn auch er geht, wie Chaucer und Fielding, empirisch vor. In „Measure for Measure" hat er das Thema dramatisch diskutiert. Er sah die Gefahr einer allzugroßen Nachsicht: . . . our degrees Dead to infliction, to themselves are dead, A n d liberty plucks justice by the nose; T h e baby beats the nurse, and quite athwart Goes all decorum 2 7 .

Sobald aber Angelo das Recht rücksichtslos durchsetzen will, ohne die Person des Schuldigen und das Motiv seiner Verfehlung zu betrachten, zeigt es sich, daß gerade der unerbittliche Richter nicht frei ist von dem Laster, das er bei anderen verurteilt; schon nach der ersten Versuchung stürzt er tiefer als der, den er bestrafen will. Wenn aber der Mensch so schwach ist, dann scheint ihm doch die Gnade besser anzustehen als die Gerechtigkeit: N o ceremony that to the great ones 'longs, N o t the king's crown, nor the deputed sword, T h e marshal's truncheon, nor the judge's robe, Become them with one half do good a grace As mercy does. If he had been as you, and you as he, Y o u would have slipt like him; but he, like vou, Wouod not have been so stern 2 8 .

Isabella, die so zu Angelo spricht, fordert ihn auf, das zu tun, was Theesus tut: sich an die Stelle des Schuldigen zu versetzen und zu begreifen, daß er, wie alle Menschen, nicht vor dem Fall sicher ist. 26 27 28

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Ibid. VII, chap. 1. Measure for Measure I, 3, 27 ff. Ibid. II, 2, 59 ff. Die ganze Szene ist für das Problem sehr wichtig.

Shakespeare gehört also mit in den bei Chaucer und Fielding betrachteten Problemkreis hinein; dem Menschen ist die Aufgabe gestellt, sich in seiner Schwäche und Abhängigkeit zu erkennen und so den Zugajng zu anderen zu gewinnen, sich verstehend in ihre Lage zu versetzen. Es scheint, daß Shakespeare, wie Chaucer und Fielding, das verstehende Verzeihen höher schätzt als die starre Gerechtigkeit: ohne allerdings seine Meinung, geschweige denn eine Doktrin zu verkünden 2 9 . „Measure for Measure" ist nicht das einzige Stück Shakespeares, in dem Verstehen und Verzeihen eine wesentliche Rolle spielen. König Lear ist zu Beginn der Tragödie so sehr von seiner "Würde überzeugt, daß er nicht einen Augenblick darüber nachdenkt, was andere Menschen empfinden mögen; als er seine Macht eingebüßt hat, beginnt er zu bemerken, daß es andere Menschen — als Menschen — gibt, und zugleich damit fragt er nach sich selbst. Dem Wüten des Sturms ausgesetzt, spürt er die Unwichtigkeit seines Ich und die Kleinheit des Menschen überhaupt: gerade diese Einsicht gibt ihm eine neue Würde und ein Verständnis für die Leiden anderer Menschen: Poor naked wretches, wheresoe'er you are, T h a t bide the pelting of this pitiless storm, H o w shall your houseless heads and unfed sides, Your loop'd and window'd raggedness defend you From seasons such as this? O ! I have ta'en T o o little care of this . . . 3 0 .

Aber gerade bei Lear wird die verstehende Einsicht in einer Weise destruktiv, die alles überbietet, was wir bisher betrachtet haben. Er verzeiht allen Menschen — und dadurch degradiert er sie zu bloßen Instinktwesen: I pardon that man's life. What was the cause? Adultery?

Thou shalt not die: die for adultery! no: The wren goes to it and the small gilded fly Does lecher in my sight. Lear spricht im Wahnsinn, aber ist es reiner Wahnsinn, der aus ihm redet? „Matter and impertinency mixed, reason in madness", hört Edgar in seinen Worten 3 1 . Lear durchbricht die Grenze, die bei Chaucer und Fielding von ihrem common sense gebildet wird;- aber er geht von den gleichen Voraussetzungen aus wie sie. Und die Grenze selbst ist objektiv nicht festzulegen. Wir haben gesehen, wie Skeptizismus, Humor und Verzeihen miteinander zusammenhängen. Aus dem Skeptizismus kann auch etwas entstehen, das sehr ganz anders aussieht als Humor; etwas, dem wir im „ L e a r " ständig ausgesetzt werden: die Verzweiflung. Das Problem des freien Willens kann man, wie 2 9 Measure für Measure galt lange als ein „schwaches" Stück; erst G. Wilson Knight deutete es als ein Drama, das die Idee des christlichen Verzeihens behandelt (vgl. T h e Wheel of Fire, London 1930). In Deutschland ist ihm dabei E. T h . Sehrt gefolgt, vgl. Vergebung und Gnade bei Shakespeare, Stuttgart 1952. Weder Knight noch Sehrt behandeln das Problem des verstehenden Verzeihens. 3 0 Lear III, 4, 28 ff. 3 1 Ibid. IV, 6, 112 ff.

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Chaucer, von verschiedenen Seiten betrachten und schließlich als unlösbar beiseiteschieben — mit einem Lächeln; aber Troilus, der genau so wie der Erzähler der Geschichte von Chaunticleer und Pertelote alle Möglichkeiten diskutiert, lacht nicht; er fühlt sich ausweglos und verstrickt 32 . Troilus ist, wie Chaucer erzählt, so verzweifelt, daß er sich zu sterben anschickt. Ein ähnliches Gefühl der Ausweglosigkeit finden wir bei Chaucer noch zweimal. In der Erzählung des Franklin denkt Dorigen über die Felsen nach, die an der bretonischen Küste aufragen. Sie sind ihr grauenhaft: warum hat Gott sie geschaffen? Gott lenkt die Welt mit Vernunft; nichts, was besteht, ist eitel, alles hat seine Funktion im Ganzen: was sollen diese schaurigen Felsen? Dorigen kann keinen Grund finden; sie dienen nur dem Übel; schon viele Schiffe sind an diesen Felsen gescheitert. Dorigen kommt mit ihrem Nachdenken zu keinem Ergebnis: die „clerkes" mögen die Sache erklären: sie wünscht nur, daß die Felsen zur Hölle hinabsinken möchten 33 . Dorigens Monolog ist einer der eindrucksvollsten Abschnitte aus den Canterbury Tales; sie ist einsam, hilflos ausgesetzt dem Grauen der Felslandschaft. Freilich verzweifelt sie nicht,, ihre Worte enden mit dem Ausdrude eines Schauerns, das sie gerade noch ertragen kann. In der Erzählung des Ritters denkt Palamoun ähnlich wie Dorigen über die göttliche Vorsehung nach: er kann keinen Sinn finden; sein Denken tastet sich ins Dunkel hinein, ohne auf einen Ruhepunkt zu treffen: O cruel goddes that governe This world with byndyng of your w o r d eterne . . . What is mankinde more unto you holde T h a n is the sheep that roketh on the folde? For slayn is man right as another beest, And dwelleth eek in prison and arrest, And hath sikness and greet adversitee And oftetime giltelees, pardee . . . And whan a beest is deed it hath no peyne; But man after his deeth mot wepe and pleyne, T h o g h in this world he have care and wo . . . T h e answere of this I lete to dyvynys, But wel I woot, that in this world greet pyne is 3 4 .

Palamoun sieht hier, fast schon wie Gloucester im „Lear", die Menschen als Spielzeuge der Götter. Dabei ist der Mensch noch übler dran als die Tiere, denn er muß nach dem Tode noch Pein erleiden, während das Tier wirklich sterben darf. Nicht nur Gloucesters Ausspruch „As flies to wanten boys are we to the gods: they kill us for their sport" ist hier antizipiert, sondern audi Grundgedanken des Hamlet-Monologes und die Ängste Claudios in „Measure for Measure". Troilus, Dorigen, Palamoun denken über ihre Probleme in genau derselben Weise nach — man könnte fast sagen: sie folgen der gleichen Methode — wie der Erzähler der Geschichte von Chaunticleer und Pertelote oder Chaucer in 32 33 34

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Troilus and Cryseyde Iv, 950 ff. Canterbury Tales V, 865 ff. Ibid. I, 1303 ff.

eigener Person zu Beginn der „Legend of Good W o m e n " : das heißt, sie reflektieren hin und her, gehen unruhig um das Problem herum: aber sie sind ihrer selbst nicht sicher, sie ruhen so wenig in sich selbst, daß sie mit lächelnder Resignation abbrechen können; die Reflexion führt sie in die Verzweiflung und damit ins Nichts. Der nachdenkende Mensch versucht vergeblich, sich in der Welt zu orientieren: auch darin ist Shakespeare Chaucers größter Nachfolger. W i r können Claudio und Hamlet mit Troilus und Palamoun vergleichen; im „King Lear" hat Shakespeare die Situation der Ausweglosigkeit zum Hauptthema gemacht. Lear und Gloucester bemühen sich, eine gültige Deutung des unfaßlichen Geschehens zu finden; in seiner tiefsten Depression spricht Gloucester von der grausamen Gleichgültigkeit der Götter, versucht aber später doch, ihren Willen zu ertragen und nennt die Götter gnädig; Lear sieht in dem Sturm, der über ihn hereinbricht, einmal eine K r a f t , die seine eigene Rache an der Menschheit ausführen will, dann erkennt er den Sturm als gegen sich selbst gerichtet und damit als einen Diener seiner herzlosen Töchter: endlich versucht er sich in mystischer Versenkung in den Willen Gottes zu ergeben. Edgar und Albany glauben an die Gerechtigkeit der Götter und meinen, sie beweisen zu können. Nahezu alle Haltungen, die ein Mensch angesichts des über ihn hereinbrechenden Unheils einnehmen kann, sind im „Lear" dargestellt; faktisch offenbar erweist sich keine Interpretation des Geschehens als richtig. Die Tragödie schließt in stummer Resignation. Hamlets letztes W o r t „The rest is silence" gilt auch für den „Lear". Shakespeare spielt die verschiedenen Standpunkte der einzelnen Gestalten gegeneinander aus, ohne eine akzeptable Lösung der aufgeworfenen Probleme zu versuchen. Bei Chaucer, und mehr noch bei Shakespeare, bleibt nahezu nichts mehr übrig; die Welt und ihre Ordnungen lösen sich auf — die Welt selbst bleibt zwar als eine Gegebenheit noch da, aber es ist „nichts dahinter". Die englischen Romantiker sind in der Negation manchmal noch ausdrücklicher. Keats schrieb auf dem Gipfel des Ben Nevis ein Sonnett, in dem ihm der vom Nebel eingehüllte Berg zum Symbol der Welt wird: nach oben und nach unten ist dem Menschen die Aussicht versperrt,, ihm bleibt nur der kleine Fleck auf dem er gerade steht. Für Lord Byron ist die Bedeutungslosigkeit des Menschen kaum noch problematisch: Between two worlds life hovers like a star T w i x t night and morn, upon the horizon's verge: H o w little do we know that which we are! H o w less what we may be! T h e eternal surge Of time and tide rolls on, and bears afar Our bubbles: as the old burst, new emerge Lash'd from the foam of ages; while the graves Of empires heave but like some passing waves 3 5 .

Die Verzweiflung Palamouns ist dem mittelalterlichen Denken entgegengesetzt. Die Theologie verurteilte den „Traurigen", Verzweiflung galt als eine T o d sünde: als Christ durfte man nie die Hoffnung aufgeben. Der höfische Stil betonte die Freude — traurig durfte nur der Verliebte sein, und auch er durfte 35

Byron, Don Juan X V , 99.

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sich nicht von seiner Trauer überwältigen lassen, auch er mußte immer noch hoffen. Palamouns unruhiges Grübeln ist durchaus unmittelalterlich. Aber wir sahen, daß sich bei Shakespeare und den Romantikern Entsprechendes findet. Gehört der Ausdruck der verzweifelnden Melancholie auch zu den Grundkonstanten der englischen Literatur, die sich schon beiChaucer nachweisen lassen? Auf dem Kontinent versteht man „den Engländer" gern als einen tatsachenfrohen und nüchternen „Wirklichkeitsmenschen"; die englische Selbstdeutung des eigenen Nationalcharakters läuft oft darauf hinaus, daß der „typische Engländer" ehrlich und pflichtbewußt, etwas beschränkt und mit common sense begabt ist. Aber sei dieser Nationalcharakter wie er wolle, die Schwermut, der „Spleen" ist jedenfalls in der Literatur immer wieder aufgetreten; im 18. Jahrhundert galt die englische Literatur als „trübsinnig"; ein Zeugnis dafür ist Goethe: Solche düsteren Betrachtungen jedoch, -welche denjenigen, der sich ihnen überläßt, ins Unendliche führen, hätten sich in den Gemütern der deutschen Jünglinge nicht so entschieden entwickeln können, hätten sie nicht eine äußere Veranlassung zu diesem trauigen Geschäft angeregt und gefördert. Es geschah dieses durch die englische Literatur, besonders durch die poetische, deren große Vorzüge ein ernster T r ü b sinn begleitet, welchen sie einem jeden mitteilt, der sich mit ihr b e s c h ä f t i g t . . . Man betrachte die Mehrzahl der englischen, meist moralisch-didaktischen Gedichte, und sie werden im Durchschnitt nur einen ernsten Überdruß des Lebens zeigen . . . die betrachtenden Gedichte schweifen, ehe man sichs versieht, in dieses traurige Gebiet, wo dem Verstand eine Aufgabe zugewiesen ist, die er zu lösen nicht mehr hinreicht, da ihn ja selbst . . . die Religion . . . im Stiche läßt 3 8 .

Damit charakterisiert nun Goethe nicht nur die englische Poesie des ausgehenden 18. Jahrhunderts, sondern trifft Eigentümlichkeiten, die wie wir sahen, schon bei Chaucer auftreten. Der Verstand Palamouns und des Troilus schweift sicher „in dieses traurige Gebiet" wo er Aufgaben erhält, die er „zu lösen nicht mehr hinreicht", und die Religion spendet diesen beiden Grüblern keinen Trost. Allerdings herrscht diese trübsinnige Stimmung bei Chaucer keineswegs vor, und der Trübsinn ist keineswegs d a s Merkmal der englischen Literatur. E r tritt in gewissen Perioden auf; bezeichnenderweise in den Perioden, wo die Dichtung vorherrscht, also bei Chaucer, zur Zeit Shakespeares, und in der Romantik (auch im 20. Jahrhundert); er fehlt so gut wie völlig im Zeitalter des Rationalismus und im Viktorianischen Roman. Nachdem wir uns bis jetzt ausschließlich mit der Literatur beschäftigt haben, müssen wir nunmehr noch ein Thema betrachten, das uns teilweise auf das Gesellschaftliche und Geschichtliche führt: mit dem Gentleman-Ideal. Denn der Gentleman ist, wie mir scheint, in Chaucers Ritter schon da; ebenso ist Theseus, die Hauptgestalt in der Erzählung des Ritters, durchaus bereits als ein Gentleman zu verstehen. Mindestens treffen wir in diesen beiden Gestalten Züge an, die später ausdrücklich als zum Gentleman gehörig empfunden wurden. Was allerdings ein Gentleman ist, läßt sich kaum definieren. Insofern, als er ein Menschenideal repräsentiert, unterscheidet er sich bekanntlich dadurch von anderen Menschenidealen, daß er nicht beruflich gebunden ist; als sein positives Charakteristikum wird nur eines allgemein anerkannt: das gute Be36

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Goethe, Dichtung und Wahrheit, 13. Budi.

nehmen (fine manners) 3 7 . A n sich, könnte man meinen, steht es jedem Menschen frei, sich diese guten Sitten anzueignen; aber in der Vergangenheit mindestens konnte sich nur der Besitzende Gentleman nennen; er durfte nicht seinen Lebensunterhalt durch manuelle Arbeit verdienen. Der Besitz war noch bis ins 19. Jahrhundert hinein eine mehr oder minder deutlich ausgesprochene Bedingung des Gentleman-seins — die Gegenwart hat vielerlei Kritik an diesem Ideal und an den englischen Klassen Vorstellungen überhaupt gebracht und bleibe deswegen hier außer Betracht. D a s Gentleman-Ideal ist auf jeden Fall seinem Wesen und seiner Herkunft nach nicht demokratisch, sondern aristokratisch; f ü r den Aristokraten „alter Schule" ist es typisch, daß er nicht arbeitet 3 8 . Im allgemeinen glaubt man, das Gentleman-Ideal hänge mit der Renaissance-Kultur zusammen, und man schreibt dem „Cortegiano" des Castiglione einen maßgebenden Einfluß bei der Ausbildung dieses Ideals zu. Der „Cortegiano" aber ist in vieler Hinsicht nur ein Bewußtmachen von Idealen, die im französischen, besonders provenzalischen Rittertum, bereits da waren; und so scheint es auch, daß der Gentleman direkt aus dem französischen Rittertum herzuleiten ist. Bereits das Wort „gentle" selbst hat ja durch den Stil des Rittertums seine wesentliche Prägung erhalten; alle Bedeutungsnuancen, die das Wort heute hat, lassen sich auf das Altfranzösische zurückführen oder aus ihm ableiten. In der Literatur lebt das Ideal nicht auf Grund von abstrakten Definitionen, sondern dadurch, daß Gestalten gezeichnet werden, die „irgendwie" gentlemanlike sind. U m den Gentlemancharakter von Chaucers Ritter und Theseus zu erkennen, wählen wir daher am besten die Methode des Vergleichs. Wir betrachten zunächst J a n e Austens R o m a n „Pride and Prejudice", der zu einer Zeit geschrieben wurde, als das Gentleman-Ideal schon längst als selbstverständlich und verpflichtend galt. Der H e l d dieses Romans ist Mr. Darcy, die Heldin Elizabeth Bennet. Sie kann D a r c y zunächst nicht ausstehen, weil sie ihn f ü r „stolz" hält; die Entwicklung des Romans zeigt, daß ihre Meinung ein „Vorurteil" war. Aber D a r c y kommt erst im L a u f e der Zeit zur Einsicht, daß er sich falsch benommen hat. Er macht Elizabeth, die ihm zunächst wenig bedeutet hatte, einen Heiratsantrag und erhält eine scharfe A b f u h r : das bringt ihn dazu, über sich selbst nachzudenken. Darüber berichtet er ihr später, als sie sich doch gefunden haben: Your reproof, so well applied, I shall never forget: ,Had you behaved in a more gentlemanlike manner.' Those were your words. You know not, you can scarcely conceive, how they have tortured me; though it was some time, I confess, before I was reasonable enough to allow their justice 3 9 .

In diesen Worten ist der Vorgang der Selbsterkenntnis zusammengefaßt, und zugleich die Wirkung der Selbsterkenntnis angedeutet: indem D a r c y erkennt, daß er stolz war — also: sich falsch benommen hat — hört er auf,

Schon dadurch zeigt sich die Herkunft des Gentleman-ideales aus dem Rittertum. Für den Gentleman im 16. Jahrhundert vgl. R u t h Kelso, The Doctrine of the English Gentleman in the 16th Century, Univ. of Illinois Studies in Lang, and Lit., Urbana 1924, vgl. auch die Studie von L. Borinski, Das politische Denken des englischen Humanismus, Studium Generale 1953. 3 9 Op. cit. chap. 58. 37

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stolz zu sein. Er ist fähig, sich zu wandeln, weil er sich erkennen und über sich nachdenken kann. Elizabeth hat angefangen ihn zu lieben, weil sie sieht, daß sie mit ihrem ersten Urteil Darcy nicht gerecht wird. Sie sieht, daß Darcy gar nicht so stolz ist, wie sie annahm; er hat Kontakt mit anderen Menschen, ist gütig zu seinen Angestellten — die ihn verehren und sogar lieben — und er weiß sehr höflich und ohne Affektation mit Elizabeths schlichtbürgerlichen Onkel zu plaudern. Elizabeth muß weiter erfahren, daß er berechtigt war, dem lumpigen Wickham die Subsistenzmittel zu entziehen. Und es ist Darcy, der die Ehre ihrer Familie wiederherstellt, indem er Wickham zwingt, Elizabeths Schwester, die mit ihm „durchgegangen" ist, zu heiraten; ja er bezahlt sogar, um das Maß der Selbstlosigkeit vollzumachen, Wickhams Schulden. Darcy hat also folgende guten Eigenschaften: er ist höflich, gerecht, freundlich gegen sozial Tieferstehende, bereit zur Versöhnung und nicht nachtragend; dazu kommt, um ihn wirklich zum Gentleman zu qualifizieren, sein vornehmes und sicheres Auftreten — und die Fähigkeit, über sich selbst nachzudenken. Wie Darcy, so wird auch Theseus eigentlich erst dann wirklich „edel", als er beginnt, über sich und seine Stellung in der Welt — wie er sich in ihr verhalten muß — nachzudenken: And though he erst for ire quok and sterte, H e hath considered shortly, in a clause, T h e trespas of hem bothe, in a clause, And although that his ire hir gilt accused, Yet in his reson he hem both excused . . . And softe unto himself he seayde: ,Fy, U p o n a lord, that wol have no m e r c y . . .' 4 0 .

Der Ritter, der diese Geschichte erzählt und, wie die Analyse gezeigt hat, mit seinem Helden offenbar eines Sinnes ist, braucht keine Gewissenskonflikte durchzumachen; aber er muß, als der Streit zwischen Pardoner und Wirt ausgebrochen ist, die verfahrene Situation wieder in Ordnung bringen: und er zeigt sich seiner Aufgabe gewachsen durch T a k t und Geschicklichkeit. Der Ritter kann, genau wie Mr. Darcy, mit Menschen niederer Stände umgehen, und bei aller Geschicklichkeit ist er doch nicht raffiniert — kein „base politician" 4 1 wie Shakespeares Bolingbroke, der die Leutseligkeit nur heuchelt, um zur Macht zu gelangen — nicht berechnend, sondern wahrhaft freundlich. Das sind Eigenschaften, die ein Gentleman haben sollte; dazu braucht er — nach Steele — Urteilsfähigkeit (good judgement): By the light of this faculty he acts with great ease and freedom among the men of pleasure, and acquites himself with skill and dispatch among the men of business . . . (by him) . . . the equality of society is kept up . . . 4 2 .

Selbsterkenntnis, Güte, Umgänglichkeit, Sicherheit im Verkehr mit anderen Menschen sind also offenbar wesentliche Eigenschaften des Gentleman, und sie finden wir schon bei Chaucers Helden. Worin aber unterscheidet sich der Gentleman dann grundsätzlich vom französischen Ritter? Ist überhaupt eine

Canterbury Tales I, 1762 ff. H e n r y I V I, I, 3, 130 ff., ibid. III, 2,39 ff. gibt Bolinbroke selbst zu, daß er sich nur aus Berechnung demütig gestellt hat. 4 2 Tatler 21 (Saturday, May 28, 1709). 40

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scharfe Grenze zu ziehen? Das Kämpfersein tritt schon bei den provenzalischen Rittern in den Hintergrund — anderseits empfanden sich die Gentlemen zur Zeit Elizabeths I. noch als Ritter. Trotzdem, glaube ich, gibt es einen Unterschied zwischen Chaucers Ritter und den Rittern der französischen Romane, ein Unterschied allerdings, der nur in Chaucers Art der Darstellung besteht. Zwar erwartete man nämlich theoretisch auch vom französischen Ritter, daß er zu den „kleinen Leuten" freundlich sei43,, aber weder in einer französischen noch in einer italienischen Erzählung habe ich einen Ritter gefunden, der sich so sicher unter den „lower Orders" bewegt wie Chaucers Knight. Mit Chaucers Ritter ist ein T y p da, der in der englischen Literatur immer wieder auftritt; seine verschiedenen Ausprägungen sind nicht miteinander identisch, aber haben doch alle eine unverkennbare Familienähnlichkeit. Damit der Gentleman sidi mit „ease and affability" durch die „niederen Stände" bewegen kann, müssen diese niederen Stände da sein; insofern ist der Klassenunterschied eine Voraussetzung des Typus. Der Unterschied, die Distanz zum Tiefergestellten, muß auch gewahrt bleiben; Darcy etwa bezahlt zwar Wickhams Schulden, würde ihn aber nie als seinesgleichen ansehen; Sternes Onkel Toby, der ausdrücklich als Gentleman bezeichnet wird 44 , behandelt seinen Diener Trim zwar mit Güte und Freundlichkeit, aber doch selbstverständlich nie als seinesgleichen. Ein Gentleman muß seinen Platz in der Gesellschaft kennen; er muß wissen, welche Ansprüche er stellen darf und welche nicht — und welche er stellen muß. Wer Distanz und Würde verliert, hört auf, Gentleman zu sein. Daher darf auch das Nachdenken über sich selbst — die Selbsterkenntnis — nicht zu weit gehen; die Reflexion darf das eigene Ich nicht letztlich in Frage stellen. Daher verträgt sich etwa das Soldatsein durchaus mit dem Wesen des Gentleman: seine Güte und Freundlichkeit erstreckt sich nicht auf den kämpfenden Gegner. Bekanntlich ist Onkel Toby, der, wie Sterne sagt, ganz Güte ist, ein begeisterter Soldat; und er läßt sich auch nicht durch den Spott seines Bruders Shandy von seiner Liebe zum Waffenhandwerk abbringen 45 . Die Demut und Gottesfurcht hindert den Gentleman nicht daran, seine Ansprüche mit Gewalt durchzusetzen. Das gilt auch für Shakespeares Heinrich V., den viele Ausleger als idealgestalt betrachten 46 . Heinrich prüft zwar seinen Anspruch auf den französischen Thron, aber er fragt sich nicht, ob er als Mensch andere Menschen in einen Eroberungskrieg hetzen darf. Von einenj streng christlichen Standpunkt aus betrachtet, könnte Heinrich darum kaum bestehen, und selbst Onkel Toby erschiene vielleicht als sündig: denn beide haben nicht die letzte humilitas. Genau so wenig wie der Ritter ist der Gentleman primär christlich; es ist daher nicht verwunderlich, daß Heinrich V. genau denselben Unterschied in der Behandlung von Freund und Feind, bzw. im kriegerischen und friedlichen Verhalten des Menschen macht, der uns schon aus dem Rittertum bekannt ist: 43

S. o. p. Vgl. Tristram Shandy IX, 21. Ibid. VI, 32. 46 Vgl. z. B. Schücking, Neue Jahrbücher III, 1927. In neuerer Zeit ist die Idealität Heinrichs verschiedentlich und mit guten Gründen angezweifelt worden. 44 45

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In peace there's nothing so becomes a man T h a n modest stillness and humility: But when the blast of war blows in your ears Then imitate the action of a tiger . . . 4 7 .

Im K a m p f e darf, ja soll der Mensch viehisch sein: das ist sicherlich keine christliche Moral. Aber Heinrich ist, genau wie ein mittelalterlicher Ritter, der naiven Ansicht, daß er Recht hat: daher müssen notwendigerweise alle, die sich gegen ihn stellen, „böse" Menschen sein, und böse Menschen macht man grausam und rücksichtslos nieder. Dieses Verhalten ist — im Bewußtsein Heinrichs — offenbar „richtig"; in der Schlacht von Agincourt befiehlt er, als die Franzosen neue Kräfte zu sammeln scheinen, alle Gefangenen zu töten 48 . Dieser Befehl Heinrichs ist allerdings sicher unritterlich: zwar kamen im Mittelalter solche Grausamkeiten vor, aber sie galten doch als „falsch" 4 9 . Welche Instanz sagt dem Gentleman untrüglich, daß er das Recht vertritt und eine Pflicht erfüllt, wenn er streng und eventuell grausam ist? Heinrich V. stützt sich auf legalistisdie Erwägungen, die ihm der Erzbischof von Canterbury vorträgt; so glaubt er, daß sein Gewissen rein sei. Aber dieser Erzbischof ist kein moralisch einwandfreier Ratgeber, denn er hat selbst ein finanzielles Interesse an dem Krieg, den er befürwortet 5 0 ; und Heinrichs Gewissen mag zwar rein sein, aber es ist nicht unfehlbar. Die Soldaten jedenfalls, die für ihn kämpfen sollen, glauben nicht an die Gerechtigkeit seiner Sache 51 . Deswegen ist es nicht schwierig, in Heinrich V., der sich als einen einfachen und demütigen Gottesstreiter ausgibt, einen potentiellen Heuchler zu sehen — oder mindestens jemand, der sein Gewissen betrügt. Tatsächlich hat die moderne englische und amerikanische Shakespearekritik die negativen Züge im Bilde von Shakespeares König hervorgehoben 52 . Wer Heinrich V. mit den Augen des Satirikers ansieht, der braucht nur seine Eigenschaften ein wenig ins Negative zu verzerren — und schon haben wir einen scheinheiligen Heuchler vor uns, der dem Seth Pecksniff in Dickens „Martin Chuzzlewit" vergleichbar ist. Heinrich handelt — vielleicht — bona fide: aber Pecksniff auch. Pecksniff ist so moralisch und so edel, daß er den jungen Martin Chuzzlewit aus dem Hause werfen, und sich von T o m Pinch bedienen lassen darf: sein Gewissen erhebt keinen Einspruch dagegen. Die Umwelt, die stets ein gewisser Maßstab für „Falsch und Richtig" ist, lehnt Pecksniff keineswegs einhellig ab; viele Menschen sind von seiner H e n r y V, III, 1,3 ff. Ibid. IV, 6,37. Heinrich gibt den Befehl aus rein taktischen Erwägungen, nicht als Vergeltungsmaßnahme. 4 9 Shakespeare hat die Episode aus Holinshed übernommen. 5 0 Vgl. die Unterredung des Erzbischofs von Canterbury mit dem Bischof von Ely in H e n r y V. 1,1. 6 1 Vgl. Heinrichs Gespräch mit seinen Soldaten in IV, 1. In dieser Szene ist Heinrich weder willens noch fähig, die letzte Verantwortung für den von ihm heraufbeschworenen Krieg zu übernehmen. 5 2 Vgl. D. Traversi, in „Scrutiny" I X , 1941; Mark van Dören, Shakespeare, N Y 1939 (das Kapitel über H e n r y V.); H . C. Goddard, T h e Meaning of Shakespeare, Univ. of Chicago Press, 1951, bes. pp. 256ff.; John Palmer, Political Characters of Shakespeare, London 1945. — Seltsamerweise hat die deutsche Shakespeare-Kritik von dieser Zertrümmerung der „Idealgestalt" kaum N o t i z genommen. 47

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Tugend genau so überzeugt wie die Ratgeber Heinrichs V . an den Edelsinn und die Gerechtigkeit ihres Königs glauben, oder wenigstens zu glauben vorgeben. Der Heuchler ist, wie die mittelalterliche Sündenpsychologie lehrte, stolz; wer heuchelt setzt voraus, daß die anderen Menschen ihn nicht durchschauen, daß er also klüger ist als die anderen. Dickens hat außer Pecksniff noch Uriah H e e p als Heuchler dargestellt — der ausdrücklich „stolz" genannt w i r d 5 3 ; also weiß auch Dickens offenbar, daß Heuchelei und Stolz zusammengehören. Im allgemeinen ist zu sagen, daß der „Stolze" das Gegenbild des wahren Gentleman ist; denn der Gentleman ist Du-bezogen, der Stolze dagegen in sich isoliert. Ihm sind die anderen Menschen Objekte, die er berechnen, aber nicht Menschen, mit denen er mitfühlen kann. D a s hat Chaucer, wie ich im 5. Kapitel zu zeigen suchte, dargestellt; und das Problem des Stolzes zieht sich wohl nicht von ungefähr durch die englische Literatur. Wenn ein Menschenideal wie d a s des Gentleman oder das des Ritters aufgestellt wird, dann muß es das Problem des Stolzes geben. Denn der Gentleman ist z w a r Du-bezogen, aber doch nicht in der Weise, daß er im anderen Ich aufgehen will: er muß seine Würde bewahren und damit in einer gewissen Weise stolz sein. Wie wir gesehen haben, finden sich eine Reihe von charakteristischen Q u a l i täten der Chaucerschen Dichtung in der auf ihn folgenden, und praktisch von ihm begründeten Literatur wieder. Chaucer ist nicht nur insofern Vater der englischen Literatur, als er die nach dem Normanneneinfall entstandene Sprache ausdrucksfähig und geschmeidig gemacht hat, sondern er hat auch Themen behandelt, die immer wieder auftreten. Es sei daher zum Abschluß versucht, die verschiedenen Einzelzüge, die zwar nicht notwendig aber doch verstehbar zusammenhängen, kurz zu skizzieren. Die Welt erscheint als eine Vielzahl von individuellen Gestalten und als ein Reichtum von buntem und interessantem Geschehen. Diese Buntheit wird liebevoll, aber doch stets distanziert betrachtet, man hält sich skeptisch davon zurück, eine letzte Deutung des Ganzen zu geben oder alles auf einen Nenner zu bringen. Aber das Viele und Unerklärliche kann überwältigen; nur mit Mühe wird die Welt noch ertragen. Geduld und Toleranz, Reflexion und Verstehen sind sowohl Ursache wie Wirkung dieser Haltung gegenüber dem Ganzen. Eine Mittellage der Seele macht sich nötig; ein Menschenideal, das gute U m gangsformen mit sicherem Auftreten verbindet: der Gentleman. E r muß in sich selbst ruhen, und sich zugleich dem Mitmenschen offenhalten; die Pole des Gentleman-Ideales sind Bewahrung und A u f g a b e des Ich, daher ist diese Mittellage nicht statische Ruhe sondern Gespanntsein. Es ist keineswegs die ganze englische Literatur, die in Chaucer ihren Vater hat; weder Blake noch Shelley passen in das eben gezeichnete Bild,, aber Shakespeare, Sterne, Fielding, Dickens sind mit Chaucer verwandt. V o r allem hat Shakespeare vieles, was bei Chaucer anfängt, zur Vollendung geführt. Den geistigen Beziehungen zwischen diesen beiden größten Dichtern Englands nachzuspüren ist eine Aufgabe, die den Betrachter zu immer erneuten Nachdenken anreizen kann. 53

Vgl. David Copperfield, diap. 52.

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Als nächster Band der neuen Reihe

Britannica et Americana befindet sich in Vorbereitung: Band 2

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Karlheinz Darenberg Studien zur englischen Musikästhetik des 18. Jahrhunderts Auf Grund eines reichen, größtenteils bisher unbekannten Quellenmaterials wird gezeigt, daß die englischen Autoren des 18. Jahrhunderts bei der Behandlung der Probleme des musikalischen Ausdrucks und der musikalischen Wirkung die Musik aus dem alten Gefüge der „artes liberales" herauslösen und eine autonome Musikästhetik anbahnen. Band 4

Hans-Joachim Lang Das einheimische Erbe und die amerikanische Literaturkritik des frühen 20. Jahrhunderts Wie in Lyrik, Drama und Roman bringen auch in der Literaturkritik die Jahre seit 1910 die jüngere Generation nach vorn; eine Überprüfung des amerikanischen Erbes, der Kultur und Literatur zumal, beginnt. Van Wyck Brooks und andere Kritiker seiner Generation leiten eine Umwertung der amerikanischen Tradition ein, die unser Bild Amerikas und amerikanischer Literatur grundlegend verändert.

CRAM,

DE

G R U Y T E R

& CO.

• H A M B U R G

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