Carmina
 3538035431, 9783538035430

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S A M M L U N G

T U S C U L U M

In Tusculum, vor den Toren Roms, hatte Cicero sein Landhaus. In Zeiten der Muße, aber auch der politischen Isolation zog er sich dorthin zurück. Tusculum wurde zum Inbegriff fiiir Refugium, für Muße, fur wertvolle Fluchten aus einem fordernden Alltag. In der ersten Phase des Rückzugs aus der Politik schrieb Cicero in Tusculum die sogenannten Tuskulanen, eine lateinische Einführung in die Welt der (griechischen) Philosophie.

Wissenschaftliche Beratung Niklas Holzberg, Rainer Nickel, Karl-Wilhelm Weeber, Bernhard Zimmermann

TIBULLUS I CARMINA

Albius Tibullus

Liebeselegien Carmina Lateinisch - deutsch Herausgegeben und übersetzt von Niklas Holzberg

SAMMLUNG TUSCULUM

ARTEMIS & WINKLER

Pavlince s v e l k y m d i k y

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Artemis & Winkler Verlag, Mannheim 2011 © Bibliographisches Institut GmbH, Dudenstraße 6,68167 Mannheim Umschlaggestaltung und graphisches Konzept: Gabriele Bürde, Berlin Alle Rechte vorbehalten. Druck: Pustet Graf Großbetrieb, Gutenbergstr. 8,93051 Regensburg ISBN 978-3-538-03543-0 www.artemisundwinkler.de

INHALT Einleitung 7 Text und Übersetzung 27 Erstes Buch 28 Zweites Buch 90 Anhang 125 Anmerkungen 127 Literaturhinweise 148 Nachwort 157

EINLEITUNG

Unter dem Namen Albius Tibullus sind uns drei Gedichtbücher überliefert, die insgesamt 35 Elegien und einen Panegyricus (Lobgedicht) in Hexametern (3, 7) sowie am Ende ein Epigramm des Domitius Marsus (um Christi Geburt) auf Tibull und eine (sicherlich gekürzte) Biographie des Autors enthalten; diese dürfte auf Sueton (ca. 70 - ca. 130 n. Chr.) zurückgehen. Von den drei Gedichtbüchern hat Tibull - darüber sind sich die Gelehrten heute einig - nur die ersten beiden verfasst, in denen wir zehn bzw. sechs Elegien lesen; hier nennt er zweimal seinen Namen (1, 3, 55; 1, 9, 83). Auch in Buch 3 bezeichnet sich der Ich-Sprecher einer Elegie einmal als Tibullus (3,19,13), und weitere Gedichte lassen mehr oder weniger den Eindruck entstehen, als vernähmen wir aus ihnen ebenfalls die Stimme Tibulls: 3,1-6, wo der »ich« Sagende sich zwar als Lygdamus vorstellt, aber diesen Namen, der mit dem griechischen Wort für weißen Marmor, λύγδος (lygdos), zusammenhängen dürfte, offenbar als Anspielung auf Albius von lat. albus (»weiß«) verstanden wissen möchte; 3,7, das Lobgedicht auf M. Valerius Messalla Corvinus, den Tibull in Buch 1 und 2 mehrfach als seinen Patron apostrophiert; 3, 8, 10 und 12, in denen ein anonymes Ich, dessen Diktion stark an diejenige Tibulls erinnert, von der Liebe der Sulpicia, einer Nichte Messallas, zu einem Cerinthus redet (sie selbst ist die »ich« Sagende in 3, 9,11 und 13-18), sowie 3, 20, das zusammen mit 3, 19 wohl eine Art Anhang bildet. Wenn derjenige, der Buch 3 komponierte, fingieren wollte, es spreche in 12 von 20 Gedichten die persona des »echten« Tibull - meiner Ansicht nach ist sehr wahrscheinlich, dass er

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EINLEITUNG

das wollte - , präsentierte er vielleicht auch die acht SulpiciaElegien nicht als von ihr selbst, sondern von seinem »Tibull« als Gegenstücke zu Ovids elegischen Episteln mythischer Frauen und der Sappho (Epistulae Heroidum) verfasst; tatsächlich haben 3,13-18 Briefcharakter. Es besteht daher die Möglichkeit, in Buch 3 der unter Tibulls Namen überlieferten Gedichtsammlung (Corpus Tibullianum) ein »gefälschtes« Tibull-Buch zu sehen, und man darf natürlich fragen, warum ein solches Pseudepigraph publiziert wurde. Eine plausible Antwort lautet so: Tibull gehört zu den augusteischen Dichtern; diese galten bereits in der frühen Kaiserzeit als Klassiker und wurden wohl deswegen unter anderem dadurch nachgeahmt, dass ein Anonymus sich hinter ihrem Namen versteckte. Es sind auch mehrere Pseudo-Vergiliana und Pseudo-Ovidiana auf uns gekommen, die wie Buch 3 des Corpus Tibullianum frühestens unter Tiberius (14-37 η · Chr.) entstanden. Im Falle Tibulls bot sich eine »Ergänzung«, ja »Vervollständigung« seines Werks schon allein deshalb an, weil dieses einen sehr geringen Umfang hat und weil Buch 2, das nur etwa halb so lang ist wie normalerweise ein solches (und nur etwa halb so lang wie Buch 1), vielleicht unvollendet blieb. Es könnte sein, dass Tibull während der Arbeit an seinem zweiten Gedichtbuch oder nicht lange nach dessen Fertigstellung plötzlich vom Tod überrascht wurde. Wir wissen aus dem Epigramm des Domitius Marsus am Schluss des Corpus, dass der Elegiker etwa zeitgleich mit Vergil starb, also 19/18 v. Chr., und da er in dem auf 27 v. Chr. zu datierenden Buch 1 in der Rolle eines jugendlichen Liebhabers spricht - Domitius

EINLEITUNG

Marsus bezeichnet ihn als iuvenis (»junger Mann«) - dürfte er um 50 v. Chr. geboren und mithin nur etwa dreißig Jahre alt geworden sein. Was seine Vita betrifft, ist das genannte Epigramm unser einziges einigermaßen sicheres Zeugnis. Denn die gekürzte Version der Biographie von Sueton enthält außer der Angabe, Tibull sei römischer Ritter gewesen, und der auf das Epigramm gestützten Behauptung, er sei jung aus dem Leben geschieden, nur Informationen, die aus dem Werk und zwei an einen Albius gerichteten Horaz-Gedichten - sie wurden schon in der Antike auf Tibull bezogen (Oden 1,33; Episteln 1,4) - herausgesponnen sein könnten. Der Vita zufolge schätzte Tibull den Senator M. Valerius Messalla Corvinus sehr hoch dieser war ein bedeutender Redner und Feldherr sowie ein Förderer von Dichtern, unter ihnen auch Ovid - , aber das geht auch aus mehreren Elegien hervor, und so könnte Suetons Aussage, Tibull habe an Messallas Feldzug nach Aquitanien teilgenommen, aus 1,7,1-12 erschlossen sein und muss nicht mit der historischen Wahrheit übereinstimmen. Die Vita schreibt, Tibull sei nicht nur Elegiker gewesen - als solcher habe er »nach Ansicht vieler« unter den Vertretern der Gattung den ersten Rang innegehabt - , sondern auch Autor von epistolae amatoriae

(»Liebesbriefe«). Damit dürften die

bereits erwähnten Elegien 13-18 der Sulpicia in Buch 3 des Corpus gemeint sein, die von Sueton wohl als Gedichte Tibulls angesehen wurden. Wie gesagt, authentisch sind lediglich die Bücher 1 und 2. Das erste lässt sich deshalb auf etwa 27 v. Chr. datieren, weil in der siebten Elegie der Triumph Messallas über die Aquitanier am 25. September dieses Jahres gepriesen wird,

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EINLEITUNG

und das zweite wurde, auch wenn es vollendet sein sollte dazu unten mehr - vermutlich erst um 19/18 v. Chr. veröffentlicht, da Tibull in der fünften Elegie ausgiebig aufVergils in dieser Zeit erschienene Aeneis anspielt. Z u Beginn der Sammlung, in 1, 1, 1 9 - 2 2 und 41 £, präsentiert sich der Ich-Sprecher als Eigentümer eines einst ertragreichen, jetzt ärmlichen Landstücks. Aber das muss kein autobiographischer Hinweis darauf sein, dass Tibull Opfer einer der Konfiskationen von Grund und Boden war, zu denen es während der Bürgerkriege kam. D e n n Armut passt gut zu der von ihm in seinen Texten übernommenen Rolle des verliebten Dichters, der in der römischen Variante des Genres, der unter Oktavian/Augustus zwischen 35 und 15 v. Chr. ihre Blütezeit erlebenden Liebeselegie, als IchSprecher fungiert. Längere Gedichte in elegischen Distichen, den aus Hexameter und Pentameter zusammengesetzten Verspaaren, sind in Griechenland seit Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr., in R o m seit etwa 55 v. Chr. nachweisbar, und zwar dort in der Gedichtsammlung Catulls (Carmina 65-68). D o c h als römische Vertreter der Gattung nennt der Rhetor Quintilian in einem literaturgeschichtlichen Abriss seiner »Anleitung für den Redner« (Institutio oratoria 10, 1, 93) nur die vier Augusteer Gallus ( 6 9 / 6 8 - 2 7 / 2 6 v. Chr.), Properz (gestorben nach 16 v. Chr.), Tibull und Ovid (43 v. - ca. 17 n. Chr.). Diese publizierten jeweils Sammlungen motivisch eng verwandter Elegien, in denen meist der » i c h « sagende Dichter/Liebhaber von erotischen Erfahrungen (amores) mit einer jungen Frau (pueila) erzählt - nur Tibulls persona begehrt nacheinander zwei pudlae

EINLEITUNG

und dazwischen einen Knaben - , darüber reflektiert und sich immer wieder direkt an die Geliebte wendet. Was der Dichter/ Liebhaber mit ihr erlebt, ist überwiegend enttäuschend und entsprechend schmerzlich fur ihn, und so verbindet er, um seine Lage zu verbessern, die Anrede der puella (bzw. des Knaben) oft mit Werbung, Ermahnung oder Belehrung. Er spricht also paränetisch wie bereits die ältesten uns bekannten Elegiker: Die Griechen Kallinos und Tyrtaios (um 650 v. Chr.) fordern ihre Landsleute zu tapferem Kampf auf Außerdem ist Klage ein beherrschendes Element speziell der lateinischen Elegie - dies in Übereinstimmung damit, dass man den Gattungsnamen etwa seit Ende des s.Jahrhunderts v. Chr. im Sinne von »Klagegesang« gebrauchte und von έ έ λέγειν (e e legein, »wehe, wehe sagen«) ableitete. Zum Verständnis Tibulls ist es wichtig, sich vor allem Folgendes klarzumachen: Der elegisch Liebende beklagt sich einerseits fortwährend über das fur ihn leidvolle Verhalten der von ihm geliebten Frau (bzw. des von ihm geliebten Knaben, das aber nur bei Tibull); andererseits empfindet er das erotische Verhältnis zu ihr (bzw. zu ihm) als die ihm gemäße Lebensform, in der andere »Werte« gültig sind als in der römischen Gesellschaft. Dort geht der freie Bürger eine standesgemäße Ehe mit einer freien Bürgerin ein. Der Ich-Sprecher der Elegien dagegen, ebenfalls ein freier Bürger und noch dazu ein Ritter, liiert sich außerehelich mit einer ihm sozial untergeordneten Freigelassenen, also einer ehemaligen Sklavin, wünscht sich aber durchaus ein immerwährendes Bündnis (Joedus aeternum) mit ihr und überdies den Tod in ihrem Beisein (vgl.

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Tibull ι, ι, 59 ff). Außerdem ordnet er sich in »sklavischer Hingabe an die Liebe« (servitium amoris) ihrer Willkür unter. Damit ist etwa verbunden, dass er, auch wenn sie sich einem anderen Mann zuwendet, die ganze Nacht auf ihrer Türschwelle verbringt und dabei seine Elegien als Paraklausithyron (»bei der Tür Geweintes«) vorträgt, ohne auf eine positive Reaktion der puella hoffen zu können (vgl. bei Tibull besonders ι, i; 2; s; 2,6). Da er sich ausschließlich diesem Dasein für seine im Großen und Ganzen vergebliche Liebe widmet, ersetzt er die fur römische Senatoren und Ritter normale Lebensform, die vor allem von politischer und militärischer Tätigkeit sowie von Gelderwerb bestimmt ist, durch eine alternative Existenz; diese kann er nun als militia amoris (»Kriegsdienst fur die Liebe«) bezeichnen. Hier mit vollem Einsatz engagiert, möchte er seinen Patron nicht auf einem Feldzug begleiten (vgl. bei Tibull 1,1,53 ff). M t ihrem Credo des »make love, not war« ermuntern die römischen Elegiker im Licht der politischen Ereignisse, vor deren Hintergrund ihre Gedichte entstanden (sie schreiben in der Zeit des Übergangs der römischen Staatsform von der Republik zur Monarchie), zu der Vermutung, sie nähmen eine Art provokanter Protesthaltung ein: Es könnte von ihnen beabsichtigt sein, ihre Ich-Sprecher durch die Wahl einer »unrömischen« Existenz Staatsverdrossenheit artikulieren zu lassen; diese würde sich deshalb entwickelt haben, weil seit dem Sieg des Oktavian/Augustus im Bürgerkrieg (31 v. Chr.) wohl jedermann endgültig klar geworden war, was man schon seit der Diktatur Caesars hatte absehen können: dass junge Angehörige

EINLEITUNG

der beiden oberen Stände (Senatoren, Ritter), die eine politische Karriere begannen, nicht mehr damit rechnen durften, eines Tages durch Mitverantwortung bei der Administration des Staates reale Macht ausüben zu können. Zu bedenken ist jedoch auch dies: In bewusstem Verstoß gegen die Normen, die im patriarchalisch organisierten Rom der augusteischen Ära fur das Verhältnis der Geschlechter zueinander galten, vollzieht der elegisch Liebende mit der puella einen Rollentausch. Denn als freier Römer, von dem man erwartet, dass er seiner Ehefrau oder Partnerin gegenüber den Ton angibt, ordnet er sich ihr, die zu Gehorsam ihm gegenüber verpflichtet wäre, als Sklave unter, und das, obwohl es sich bei der puella immerhin um eine ehemalige Sklavin handelt. Das könnte auf die männlichen Zeitgenossen, die dem Elegiker sozial gleichgestellt waren, weniger provokativ als grotesk, ja geradezu absurd gewirkt haben. Daraus darf man dies folgern: Es ist durchaus möglich, dass erotische Elegien in der Epoche der lateinischen Literatur, als sie entstanden, von ihren Lesern primär als unterhaltsam, ja amüsant empfunden wurden. Speziell der bei Tibull »ich« Sagende, der sich in »Ausübung« des servitium amoris zum Beispiel seinem Rivalen als Berater und Helfer andient (1, 6,15 ff) oder im Dienste seiner puella zu Raub und Mord bereit ist (2,4, 21 ff) - dazu gleich etwas mehr - , erscheint geradezu wie die Karikatur eines Verliebten, der von seiner Liebesleidenschaft förmlich besessen ist. Dennoch kann von dieser Poesie, in der ein Ich-Sprecher über seine Erfahrungen in der Liebe berichtet, durchaus ein Identifikationsangebot ausgehen. Denn die römi-

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sehen Elegiker beherrschen virtuos die Kunst, sich in die Seele eines erotisch engagierten jungen Mannes hineinzuversetzen und seine Gefuhlsausbrüche so abzubilden, dass man sie als lebensecht betrachten kann; alle drei liefern immer wieder faszinierende Psychogramme. In ihrer eigenen Epoche dürften sie mit einigen Gedichten bzw. Verspartien manche Leser erotisiert haben, jedenfalls rät Ovid in den Remedia amoris (»Heilmittel gegen die Liebe«) denjenigen, die sich von einer Liebesleidenschaft befreien wollen, von der Lektüre der römischen Elegiker ab (763 f f ) - und das muss nicht unbedingt ironisch gemeint sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Verse des Gallus, Properz, Tibull und Ovid nicht nur unterhalten, sondern sogar stimulieren wollten, schließt jedoch nicht aus, dass mancher zeitgenössische Rezipient das »unrömische« Betragen des Dichters/Liebhabers, wie es dieser schilderte, als systemkritisch interpretierte. Wie alle große Poesie bietet auch diejenige der römischen Elegiker ihren Lesern vielfältige Deutungsmöglichkeiten. Nach allgemeiner Ansicht war es Gallus, der die augusteische Spielart der Gattung begründete und den drei jüngeren Elegikern den Weg wies. Seine Sammlung Amores, die vier Bücher umfasste, ging jedoch bis auf geringe Reste verloren. Deshalb ist für uns das erste Buch von Properzens Elegien, das 29 v. Chr. erschienen sein dürfte, der älteste Repräsentant eines Ensembles von Gedichten, fur welches die typischen Motive der Gattung - mit foedus aeternum, servitium amoris und Liebe als Lebensform habe ich die wichtigsten benannt - konstitutiv sind.

EINLEITUNG

Da ein Gedichtbuch in der Antike auf eine Papyrusrolle geschrieben war, die während der Lektüre aufgewickelt wurde, ergab es sich von selbst, dass man die einzelnen Texte in der Reihenfolge las, in der sie der Autor angeordnet hatte. Das war auch sinnvoll, da die Textsequenz eine Art von Geschichte, ja so etwas wie einen Liebesroman bot. In Buch 1 der ProperzElegien wird vom Ich-Sprecher freilich nicht die Chronologie seiner Beziehung zur puella - sie heißt hier Cynthia - nachvollzogen. Doch an das anfängliche Bekenntnis der Verfallenheit an sie als eine domina (Herrin) schließen sich Schilderungen des fur die elegische Liebe charakteristischen Auf und Ab der Gefühle an, und diese münden in Artikulation von Verzweiflung und Todessehnsucht; als zeitliches Raster dient dabei der Ablauf eines Jahrs vom Frühling bis zu den Winterstürmen, die den negativen Ausgang des »Romans« symbolisieren. Tibull beschränkt sich in seinem ersten Buch nicht wie Properz auf eine einzige »Geschichte«, sondern verknüpft das Berichten und Reflektieren über seine Liebe zu einer puella namens Delia mit der Vergegenwärtigung dessen, was ihn in Hinblick auf den Knaben Marathus bewegt; in Buch 2 stellt er dann die von ihm nunmehr geliebte puella Nemesis in den Mittelpunkt seines dritten »Liebesromans«. Delia- und Marathus-Zyklus sind in Buch 1 kunstvoll ineinander verwoben, und beim Überwechseln vom einen zum anderen »Handlungsstrang«, das zweimal erfolgt (zwischen den Elegien 3 und 4 sowie 4 und 5), spielt der Dichter stets mit der Erwartung des Lesers. Dieser wird durch etwas, womit er nicht rechnen dürfte, bereits innerhalb der ersten Elegie über-

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rascht: Nachdem der »ich« Sagende von einem bescheidenen Leben als Landmann geträumt, ein trautes Beieinanderliegen mit der domina imaginiert und Messalla das Kriegfuhren und Beutemachen zugewiesen hat, spricht er plötzlich aus der Situation dessen, der auf der Türschwelle der Geliebten sitzt; erst hier, in V 55 iE, vernehmen wir, dass sie Delia heißt. Als exclusus amator (»ausgeschlossener Liebhaber«) präsentiert sich der Ich-Sprecher erneut in Elegie 2, redet in Elegie 3 zunächst wieder Messalla an, der ihn während eines Feldzugs wegen Erkrankung auf der Phäakeninsel zurückließ, und malt sich dann die Heimkehr zu Delia aus: Sie soll ihm nach nächtlicher Arbeit am Webstuhl bei Morgengrauen mit lang herabwallenden Haaren und barfuß entgegenlaufen. Erfahren wir in Elegie 4, ob das dann wirklich so stattfand oder die Hoffnungen enttäuscht wurden? Nein. Denn statt dort weiter über Delia zu erzählen und zu reflektieren, lässt sich der Dichter/Liebhaber von Priap über die Kunst der Päderastie belehren und verkündet danach, er liebe Marathus. Wer somit zu Beginn von Elegie 5 annimmt, es gehe nun weiter um den Knaben, bemerkt ab V 9b, dass er es mit einer neuen »Episode« des Delia-Zyklus zu tun hat; in Elegie 6 weitergeführt, kommt dieser »Roman« hier - das wird aber erst in der Rückschau auf das gesamte Buch wirklich klar - zu seinem Ende: Auf Elegie 7, ein Geburtstagsgedicht fur Messalla, also ein unerotisches »Intermezzo«, folgen mit 8 und 9 Fortsetzung und Schluss des Marathus-Zyklus, und in Nr. 10 imaginiert der »ich« Sagende wieder ein Dasein in rustikalem Ambiente. In beiden »Liebesromanen« sieht er sich, nachdem er zu

EINLEITUNG

Anfang von 1, 1, also noch vor dem Eintritt in die erotische »Handlung«, dezidiert dem Erwerb von Reichtum abgeschworen hat, mit der Habgier (avaritia) des von ihm geliebten Menschen konfrontiert. Doch darauf reagiert er nicht mit dem Abbruch der Beziehung, sondern durch Selbsterniedrigung; bei Delia treibt er es sogar so weit, dass er sich, wie bereits angedeutet, an seinen Rivalen wendet: Ihn, der offenbar ein dives amator (»reicher Liebhaber«) ist (1,5,47), warnt er vor Tricks, mit denen die puella ihn betrügen könnte, und bietet sich ihm als ihren Bewacher an (1, 6,15 f f ) . Wer das elegische servitium amoris als eine Form des Protestes gegen Macht- und Besitzstreben begreift, mag einen solchen hier besonders ostentativ demonstriert sehen. Es ist aber nicht zu verkennen, dass der Dichter/Liebhaber, wenn er freiwillig den Hahnrei spielt, an eine Komödienfigur erinnert und es somit den Lesern zumindest erschwert, ihn als Verfechter einer ganz der Armut ergebenen Lebensweise, wie sie ja auch die antiken Moralphilosophien propagierten, wirklich ernst zu nehmen. Z u Beginn von Buch 2 agiert Tibulls Ich-Sprecher als Priester bei einem ländlichen Lustrationsfest. Sein Traum vom Dasein in einer bäuerlichen Idylle hat sich also erfüllt. Aber auch in diesem Buch fühlt er sich angesichts von Ereignissen, die wir aus Elegie 3 erfahren - Nr. 2 ist ein kurzes Geburtstagsgedicht fur einen Cornutus - , zum servitium amoris genötigt: Nemesis, seine neue puella, weilt mit einem dives amator auf dessen Landgut, und somit greift Habgier auf den Daseinsbereich des Dichters/Liebhabers über, den dieser in Buch 1 mehrfach zu seiner Wunschwelt erklärt hat. Das macht ihn ent-

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schlossen zu mehr als grotesken Sklavendiensten: in der dritten Elegie zum Pflügen von Äckern, in der vierten unter anderem zum Tempelraub und zum Trinken von Gift, falls Nemesis ihm solches darreichen würde. Zwar erweckt er zu Beginn von Elegie 5 wie in 1,7 den Eindruck, er habe auch seine dritte Leidenschaft überwunden - aus Anlass der Aufnahme von Messallas Sohn Messallinus in das Kollegium der fur die sibyllinischen Bücher zuständigen fünfzehn Priester findet Tibulls Alter ego plötzlich Worte, welche die proaugusteische Romideologie der Aeneis Vergils evozieren - , aber in Teil 2 des Gedichts bekennt er sich wieder zu sklavischer Hingabe an Nemesis. Von dieser Frau kann er sich dann auch nicht mehr lossagen. Denn in Elegie 6, dem letzten Gedicht der Sammlung (dafür, dass es als solches konzipiert ist, spricht unter anderem die Wiederkehr von Motiven aus 1, 1, dagegen, wie schon ausgeführt, die Kürze des Buches), verharrt der weiterhin auf NemesisfixierteDichter/Liebhaber im servitium. Der Leser muss also mit erneuten Bekundungen der Selbsterniedrigung rechnen und wird deshalb bereit sein, die Elegie als open end und ein solches als höchst sinnvoll zu betrachten. Von der Romantik beeinflusste Altphilologen früherer Zeiten pflegten Tibull unter den Elegikern den Vorzug zu geben, weil er, wie die bekannte Geschichte der römischen Literatur von Schanz/Hosius es formuliert, »die Elegie von dem Druck der Gelehrsamkeit befreit« habe (Bd. 2, 4. Auflage 1935,183). Das trifft allenfalls insofern zu, als Tibull mythologische Beispiele, die Properz und Ovid oft in ihre Liebeselegien einfügen, auf je ein kurzes (1, 5, 45 f ) und ein längeres (2, 3,11-30) beschränkt

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hat. Doch im Übrigen gilt, dass er wie die beiden anderen Elegiker in der Nachfolge des hellenistischen Dichters Kallimachos (um 320 - nach 245 v. Chr.) sich auf Schritt und Tritt als poeta doctus (»gelehrter Dichter«) präsentiert. Man merkt dies unter anderem daran, dass Tibull gerne zu Beginn einer Elegie ein hellenistisches Epigramm evoziert (etwa Anthologia

Graeca

12, 49 in 1, 2,1-4), sich in 1, 7 stark an das Muster der griechischen Gedichttypen »Genethliakon« (Geburtstagsgedicht) und »Epinikion« (Siegeslied) und in 2, 5 an das des ύμνος κλητικός (hymnos kletikos, Gebet, mit dem ein Gott herbeigerufen wird) anlehnt, gerne mit Etymologien spielt (etwa mit der seines Namens; vgl. zu 1, 3, 93) und mehrfach versus echoici (»Echo-Verse«) baut (zum Beispiel 1,1,78 despiciam dites despiciamque jamem).

Zugleich ist Tibull derjenige unter den drei

durch erhaltene Werke kenntlichen Elegikem, der am häufigsten intertextuelle Bezüge zu Vergil herstellt. Die Vorliebe der älteren Latinistik fur Tibull beruhte vor allem darauf, dass er auf einem mittleren Stilniveau schreibt es wurde von der römischen Rhetorik durch den Begriff elegantia ( »Gewähltheit«) charakterisiert —, also in seinem Sprachgebrauch kolloquiale Ausdrücke ebenso meidet wie allzu erhabene Diktion. Im Unterschied zu Properz zeigt er sich eher sparsam in der Verwendung von Diminutiven, griechischen Lehnwörtern und zusammengesetzten Adjektiven. Insgesamt ist Tibulls Wortschatz nicht so umfangreich wie derjenige des Properz. Freilich kann man Tibulls Stil keineswegs als einförmig und farblos bezeichnen. Im Gegenteil: Wenn er etwa in 2, 3, 60 auf engstem Raum drei Gräzismen aufeinanderfolgen

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lässt (quem saepe barbara eypsatos ferre catasta pedes, »den oft zwang das barbarische Schaugerüst, die Füße mit Kreide geweißt zu haben«), wirkt das sehr effektvoll: Der Dichter/ Liebhaber redet hier abfällig über einen Rivalen und unterstreicht dies durch die Wortwahl. Ein zeitgenössischer Leser, der so etwas sehr zu würdigen wusste, war Ovid. Während er sich bei der Kreation von neuen Varianten der Elegie Anregungen bei Properz holte, lehnte er sich sprachlich-stilistisch eng an Tibull an. Im Bereich der Metrik wirkt Tibull dadurch besonders »griechisch«, dass bei ihm die sogenannte weibliche Zäsur (nach dem dritten Trochäus, zum Beispiel 1,2,29 quisquis amore tenetur, | eat ...) weit häufiger anzutreffen ist als bei Properz und Ovid. Ebenso verbindet Tibull öfter als sie Hexameter und Pentameter durch Enjambement, also das Übergreifen des Satzes vom einen in den anderen Vers. Auf der anderen Seite begann er damit, nahezu konsequent den Pentameter zweisilbig enden zu lassen und damit eine spezifisch römische Entwicklung in der Geschichte des Umgangs mit dem elegischen Distichon einzuleiten. Das Corpus Tibullianum ist in rund 100 Kodizes überliefert. Sie gehen vermutlich - gründlich untersucht wurde das noch nicht - auf einen verlorenen Kodex zurück, den der italienische Humanist Francesco Petrarca (1304-1374) nach Italien gebracht haben könnte und von dem der Petrarca-Verehrer Coluccio Salutati (1331-1406) eine Abschrift des späten 14. Jahrhunderts besaß; dabei handelt es sich um den heute in Mailand aufbewahrten Codex Ambrosianus R. 26 sup., der in den textkriti-

EINLEITUNG

sehen Tibull-Ausgaben mit der Sigle Α bezeichnet wird. Älter als Α sind mehrere mittelalterliche Florilegien. Die in diese Sammlungen aufgenommenen Tibull-Stellen dürften aus einem Tibull-Kodex stammen, der laut einem Katalog in der Aachener Hofbibliothek Kaiser Karls des Großen (742-814) vorhanden war (Cod. Berol. Diez. Β Sant. 66); die Erwähnung dieses Kodex ist die älteste uns bekannte. Bis in die Ära der flavischen Caesaren (69-96 n.Chr.) wurde Tibull offensichtlich sehr häufig rezipiert; das kann man jedenfalls daraus erschließen, dass sich bei mehreren römischen Dichtern dieser Zeit Anspielungen auf seine Elegien finden. Am häufigsten entdeckt man solche bei Ovid, der den älteren Kollegen überdies in seiner Elegie Amores 3, 9 durch einen Nachruf gewürdigt hat. Darin fingiert er eine Szene, in der Mutter und Schwester des Verstorbenen diesem am Scheiterhaufen zusammen mit Delia und Nemesis die letzte Ehre erweisen (49-58), und gestaltet dabei seinen impliziten intertextuellen Dialog mit Tibull einmal besonders feinsinnig: Er lässt in Bezugnahme auf den Vers, mit dem der Dichter/Liebhaber sich in einer Elegie wünscht, im Sterben Delia mit ermattender Hand zu halten (1, 1, 60: te teneam mortem deficiente

manu),

Nemesis behaupten: me tenuit moriens deficiente manu (»mich hielt er im Sterben mit ermattender Hand«), Dass Tibull im 1. Jahrhundert n. Chr. wahrscheinlich ein hohes Ansehen hatte, ist vor allem daran abzulesen, dass damals ein Anonymus den zwei Elegienbüchern des Dichters das (oben kurz betrachtete) pseudepigraphe Buch 3 hinzugefugt haben dürfte und dass Quintilian in seinem literaturgeschichtlichen Abriss schreibt

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(Institutio oratoria 10, 1, 93): elegia quoque Graecos provocamus, cuius mihi tersus atque elegans maxime videtur auctor Tibullus (»Auch in der Elegie, deren feinsinnigster und elegantester Autor mir Tibull zu sein scheint, fordern wir die Griechen zum Wettstreit heraus «). In der späten Kaiserzeit jedoch tritt Tibull ganz in den Schatten Ovids, nachdem schon der jüngere Seneca (ca. 4 - 6 5 n. Chr.) einen Vers aus der Geburtstagselegie fur Messalla (1, 7,26) als ovidisch zitiert hatte (Naturales Quaestiones 4,2,2). Im Mittelalter kennt man den Elegiker immerhin aus den Florilegien, wie sich etwa für Vincent von Beauvais (gestorben 1264), den Autor des Speculum historiale, nachweisen lässt. Neulateinische Dichter interessieren sich zunächst mehr fur Properz und Ovid als fur Tibull. Eine Ausnahme bildet Petrus Lotichius Secundus (1528-1560), der sein erstes Elegienbuch als eine Art Tagebuch seiner Erlebnisse als Soldat im Schmalkaldischen Krieg (1546/47) konzipiert und sich mit der persona von Tibull 1, 3 und 10 identifiziert. In der volkssprachlichen Poesie wird Tibull seit Beginn der Neuzeit zunächst fast nur dann rezipiert, wenn seine Träume von einem Dasein in ländlicher Umgebung thematisch anregend erscheinen, zum Beispiel für Jacopo Sannazaro (1456-1530) in dessen Arcadia und fur Torquato Tasso (1544-1595) in der Aminta. Es sind besonders französische Dichter des 16.-18. Jahrhunderts, allen voran Pierre de Ronsard (1524-1585), bei denen Tibull sich einer gewissen Beliebtheit erfreut; Jean de La Chapelle (1651-1723) verfasst sogar einen Roman über das Leben des Elegikers: Les Amours de Tibulle (1712/13).

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In Deutschland wirkt Tibull auf einige Dichter vom Ende des 18. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, darunter Eduard Mörike (1804-1875). Für johann Wolfgang von Goethe (17491832) gehört er zwar zu den »Triumvirn« Amors (Römische Elegien V), aber es sind nur einzelne Verse Tibulls, denen er spezielle Aufmerksamkeit schenkt. Über sein Gedicht Das Tagebuch, in dem er sein lyrisches Alter ego erzählen lässt, wie er einmal im Bett versagte, hat er das Distichon Tibull 1,5,39 £ gesetzt, die eigentliche Anregung zur Bearbeitung des Themas »Impotenz« gab ihm freilich Ovids Elegie Amoves 3,7. Ob sich Spuren der Benutzung Tibulls durch Dichter und Literaten des 20. und 21. Jahrhunderts nachweisen lassen, bleibt noch zu untersuchen. Dabei wird aber voraussichdich wenig zutage treten, da Tibull wie schon in der frühen Neuzeit auch heute sowohl bei den Fachleuten als auch bei denen, die römische Poesie zu ihrer Unterhaltung lesen, im Schatten des Properz steht; ein Werk wie die Homage to Sextus Propertius von Ezra Pound (1885-1972) kann man sich als Zeugnis der Tibull-Rezeption schwerlich vorstellen. Immerhin ist er derjenige von den beiden Elegikern, den man immer viel besser verstanden hat. Die Herausgeber seiner Gedichte müssen bei ihm nicht annähernd so viel Mühe für die Emendation des überlieferten Wortlautes aufwenden wie bei Properz. Und das liegt sicher nicht zuletzt an seiner elegantia. Sie ist es auch, die Freunde des Lateinischen ganz besonders anziehen dürfte.

GEDICHTE

LIBER P R I M V S

Divitias alius fulvo sibi congerat auro et teneat culti iugera multa soli, quem labor assiduus vicino terreat hoste, Martia cui somnos classica pulsa fugent: me mea paupertas vita traducat inerti, dum meus assiduo luceat igne focus, ipse seram teneras maturo tempore vites rusticus et facili grandia poma manu, nec Spes destituat, sed frugum semper acervos praebeat et pleno pinguia musta lacu: nam veneror, seu stipes habet desertus in agris, seu vetus in trivio florida serta lapis, et quodcumque mihi p o m u m novus educat annus, libatum agricolae ponitur ante deo. flava Ceres, tibi sit nostra de rure corona spicea, quae templi pendeat ante fores, pomosisque ruber custos ponatur in hortis, terreat ut saeva falce Priapus aves. vos quoque, felicis quondam, nunc pauperis agri custodes, fertis munera vestra, Lares; tunc vitula innumeros lustrabat caesa iuvencos, nunc agna exigui est hostia parva soli: agna cadet vobis, quam circum rustica pubes clamet »io, messes et bona vina date«.

ERSTES BUCH

ι Reichtum von gelbem Gold soll ein anderer sich aufhäufen, und besitzen soll er viele Morgen kultivierten Landes, er, den ständige Mühsal schreckt, weil benachbart der Feind ist, er, dem das Schmettern der Kriegstrompeten den Schlaf vertreibt. Mich soll meine Armut durch ein Leben in Untätigkeit fuhren, wenn nur von ständigem Feuer mein Herd leuchtet. Ich selbst will als Landmann zarte Weinreben pflanzen, wenn die Zeit reif ist, und gewaltige Obstbäume mit geschickter Hand, und die Hoffnung soll mich nicht im Stich lassen, sondern immer Haufen von Früchten gewähren und dickflüssigen Most in vollen Kufen. Denn ich verrichte mein Gebet, wenn ein einsam auf den Feldern stehender Baumstamm oder ein alter Stein an einer Weggabelung Blumengirlanden trägt, und welches Obst auch immer das neue Jahr mir reifen lässt, es wird als Spende vor dem ländlichen Gott hingelegt. Goldene Ceres, du sollst haben von meinem Landgut einen Kranz aus Ähren, der vor der Tempelpforte hängen soll, und in die Gärten voll Obst werde der rot bemalte Wächter gestellt, damit Priap erschrecke mit grimmiger Sichel die Vögel. Auch ihr, eines einst ertragreichen, jetzt ärmlichen Landstückes Wächter, nehmt die für euch bestimmten Gaben an, ihr Laren. Damals pflegte ein geschlachtetes Kalb zahllose Jungstiere rituell zu reinigen, jetzt ist ein Lamm das bescheidene Opfertier für ein winziges Stück Land; ein Lamm wird fallen fur euch, und rings herum sollen die Landleute rufen: »Io, gebt gute Ernten und Weine!«

30[ L I B E R P R I M V S · 1

iam modo, iam possim contentus vivere parvo

25

nec semper Iongae deditus esse viae, sed Canis aestivos ortus vitare sub umbra arboris ad rivos praetereuntis aquae, nec tarnen interdum pudeat tenuisse bidentem aut stimulo tardos increpuisse boves,

30

non agnamve sinu pigeat fetumve capellae desertum oblita matre referre domum. at vos exiguo pecori, furesque lupique, parcite: de magno est praeda petenda grege. hie ego pastoremque meum lustrare quotannis

35

et placidam soleo spargere lacte Palem. adsitis, divi, neu vos e paupere mensa dona nec e puris spernite fictilibus: fictilia antiquus primum sibi fecit agrestis, pocula de facili composuitque luto.

40

non ego divitias patrum fructusque requiro, quos tulit antiquo condita messis avo: parva seges satis est, satis est requiescere lecto si licet et solito membra levare toro. quam iuvat immites ventos audire cubantem

45

et dominam tenero continuisse sinu aut, gelidas hibernus aquas cum fuderit Auster, securum somnos igne iuvante sequi, hoc mihi contingat: sit dives iure, fiirorem qui maris et tristes ferre potest pluvias. ο quantum est auri pereat potiusque smaragdi, quam fleat ob nostras ulla puella vias!

50

1 • ERSTES BUCH

Könnte ich doch jetzt nur, jetzt zufrieden mit wenigem leben und müsste nicht ständig weiten Fahrten ausgeliefert sein, sondern könnte im Sommer dem Aufgehen des Hundssterns ausweichen im Schatten eines Baumes am Wasser eines vorbeifließenden Baches! Und doch will ich mich nicht schämen, zuweilen die Hacke zu halten oder mit dem Stachel die trägen Ochsen anzutreiben, und es soll mich nicht verdrießen, im Gewandbausch ein Lamm oder ein Zicklein, das allein zurückblieb, weil die Mutter es vergaß, nach Hause zurückzubringen. Doch ihr, verschont meinen winzigen Viehbestand, ihr Diebe und ihr Wölfe! Aus einer großen Herde muss man sich Beute holen. Hier pflege ich alljährlich sowohl meinen Hirten rituell zu reinigen als auch die gütige Pales zu besprengen mit Milch. Seid dabei zugegen, Götter, und verachtet nicht Gaben von einem armen Tisch und aus reinen irdenen Gefäßen. Irdene Gefäße machte sich in alter Zeit zuerst der Landmann, und er fertigte Becher aus leicht formbarem Ton. Ich vermisse nicht den Reichtum meiner Ahnen und die Erträge, die in alter Zeit die eingelagerte Ernte einem Vorfahren brachte. Ein kleines Saatfeld ist genug, genug ist, wenn ich im Bett ruhen darf und auf dem gewohnten Polster die Glieder hochlegen. Wie herrlich ist es, raue Winde zu hören, wenn man daliegt, und die Herrin in sanfter Umarmung zu halten oder, wenn im Winter der Südwind die eiskalten Wassermassen ausgießt, sorglos Schlaf zu suchen bei behaglich wärmendem Herdfeuer. So soll es mir ergehen! Es sei mit Recht reich, wer das Toben des Meeres und schaurige Regengüsse ertragen kann. Ach, soll doch alles, was es an Gold und Smaragden gibt, eher zugrunde gehen, als dass irgendein Mädchen wegen meiner Fahrten weint!

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311

LIBER PRIMVS

• 1

te bellare decet terra, Messalla, marique, ut domus hostiles praeferat exuvias: me retinent vinctum formosae vincla puellae,

55

et sedeo duras ianitor ante fores, non ego laudari euro, mea Delia; tecum dum modo sim, quaeso segnis inersque vocer. te spectem, suprema mihi cum venerit hora; te teneam moriens deficiente manu.

60

flebis et arsuro positum me, Delia, lecto, tristibus et lacrimis oscula mixta dabis. flebis: non tua sunt duro praecordia ferro vincta, nec in tenero stat tibi corde silex. illo non iuvenis poterit de funere quisquam

65

lumina, non virgo sicca referre domum. tu manes ne laede meos, sed parce solutis crinibus et teneris, Delia, parce genis. interea, dum Fata sinunt, iungamus amores: iam veniet tenebris Mors adoperta caput,

70

iam subrepet iners aetas neque amare decebit, dicere nec cano blanditias capite. nunc levis est tractanda Venus, dum frangere postes non pudet et rixas inseruisse iuvat. hie ego dux milesque bonus, vos, signa tubaeque, ite procul, cupidis vulnera ferte viris, ferte et opes: ego composito securus acervo dites despiciam despiciamque famem.

75

1 • ERSTES BUCH

Für dich ist es recht, Krieg zu fuhren zu Lande und zu Wasser, Messaila, damit dein Haus die den Feinden abgenommenen Rüstungen vorzeigen kann; mich halten die Fesseln eines schönen Mädchens gefesselt zurück, und ich sitze als Türhüter vor ihrer harten Pforte. Nichts liegt mir daran, dass man mich rühmt, meine Delia; wenn ich nur mit dir zusammen bin, dann - bitte! - mag man mich träge und untätig nennen. Dich möchte ich ansehen, wenn meine letzte Stunde kommt, dich möchte ich im Sterben halten mit ermattender Hand. Weinen wirst du um mich, wenn ich, Delia, auf der Bahre liege, die gleich in Flammen aufgehen wird, und mit bitteren Tränen vermischte Küsse wirst du mir geben. Weinen wirst du: Nicht ist deine Brust von hartem Eisen umschlossen, und nicht steht unerschütterlich in deinem zarten Herzen ein Stein. Von dem Begräbnis wird kein junger Mann, keine junge Frau die Augen trocken nach Hause zurückbringen. Du verletze nicht meine Seele im Tode, sondern schone deine gelösten Haare, und deine zarten Wangen, Delia, schone sie! In der Zwischenzeit, solange das Schicksal es zulässt, wollen wir uns in Liebe vereinen: Bald wird der Tod kommen, von Finsternis das Haupt umhüllt, bald wird heranschleichen das träge Alter, und nicht zu lieben wird angemessen sein, nicht zärtliche Worte zu sagen mit ergrautem Haupt. Jetzt muss man haltlosen Sex betreiben, solange man sich nicht schämt, Türpfosten zu zerbrechen, und es Spaß macht, Streit anzuzetteln. Hier bin ich ein guter Heerführer und Soldat. Ihr, Feldzeichen und Kriegstrompeten, geht fort; bringt gierigen Männern Wunden, bringt ihnen auch Schätze! Sorglos, weil ich einen Vorrat angehäuft habe, werde ich auf die Reichen herabsehen und herabsehen auf den Hunger.

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341 L I B E R P R I M V S • 2

2

Adde merum vinoque novos compesce dolores, occupet ut fessi lumina victa sopor, neu quisquam multo percussum tempora Baccho excitet, infelix dum requiescit amor: nam posita est nostrae custodia saeva puellae,

5

clauditur et dura ianua firma sera, ianua difficilis domini, te verberet imber, te Iovis imperio fulmina missa petant. ianua, iam pateas uni mihi, victa querellis, neu furtim verso cardine aperta sones.

10

et mala siqua tibi dixit dementia nostra, ignoscas: capiti sint precor ilia meo. te meminisse decet, quae plurima voce peregi supplice, cum posti florida serta darem. tu quoque, ne timide custodes, Delia, falle,·

15

audendum est: fortes adiuvat ipsa Venus, ilia favet, seu quis iuvenis nova limina temptat, seu reserat fixo dente puella fores; ilia docet molli furtim derepere lecto, ilia pedem nullo ponere posse sono,

20

ilia viro coram nutus conferre loquaces blandaque compositis abdere verba notis. nec docet hoc omnes, sed quos nec inertia tardat nec vetat obscura surgere nocte timor. en ego cum tenebris tota vagor anxius urbe

25

2 · E R S T E S BUCH

2 Schenk reinen Wein nach, und damit dämpfe die neuen Schmerzen, auf dass der Schlaf die Augen des Müden besiege und sich ihrer bemächtige und niemand den von viel Bacchustrank an die Schläfen Geschlagenen aufwecke, während seine unglückselige Liebe ruht. Denn aufgestellt ist für mein Mädchen eine grimmige Wache, und verschlossen wird die feste Tür durch einen harten Riegel. Tür eines griesgrämigen Herrn, dich soll peitschen der Regen, dich sollen auf Jupiters Befehl gesandte Blitze treffen! Tür, jetzt sollst du dich auftun fur mich allein, besiegt von meinen Klagen, und nicht, wenn deine Angel sich dreht und du dich verstohlen öffnest, ein Geräusch machen. Und falls irgendetwas Böses dir gesagt hat mein Wahnsinn, sollst du verzeihen: Auf mein Haupt, so bete ich, komme es! Du solltest dich wohl erinnern an die vielen Gebete, die ich sprach mit flehender Stimme, wenn ich deinen Pfosten Blumengirlanden darbrachte. Auch du, Delia, täusche ohne Scheu die Wächter! Es muss gewagt werden: Den Tapferen hilft Venus persönlich. Sie ist gewogen - ob nun irgendein junger Mann eine neue Schwelle attackiert oder ein Mädchen mit einem Dietrich die Tür aufschließt; sie lehrt, verstohlen vom weichen Lager herabzukriechen, sie, wie man den Fuß ohne Geräusch aufsetzen kann, sie, in Gegenwart des Mannes vielsagende Winke auszutauschen und zärtliche Worte durch vereinbarte Zeichen zu verschlüsseln. Und sie lehrt das nicht alle, sondern nur die, welche Trägheit nicht hemmt und denen Furcht nicht verbietet, sich in dunkler Nacht zu erheben. Schau, wenn ich in der Finsternis ängstlich in der ganzen Stadt herumstreife, [ ... ]

| 35

361 L I B E R P R I M V S • 2

nec sinit occurrat quisquam, qui corpora ferro vulneret aut rapta praemia veste petat. quisquis amore tenetur, eat tutusque sacerque qualibet: insidias non timuisse decet.

30

non mihi pigra nocent hibernae frigora noctis, non mihi, cum multa decidit imber aqua; non labor hie laedit, reseret modo Delia postes et vocet ad digiti me taciturna sonum. parcite luminibus, seu vir seu femina

fiat

35

obvia: celari vult sua furta Venus, ne strepitu terrete pedum neu quaerite nomen neu prope fulgenti lumina ferte face, siquis et imprudens aspexerit, occulat ille perque deos omnes se meminisse neget:

40

nam fuerit quicumque loquax, is sanguine natam, is Venerem e rabido sentiet esse mari. nec tarnen huic credet coniunx tuus, ut mihi verax pollicita est magico saga ministerio. hanc ego de caelo ducentem sidera vidi;

4S

fluminis haec rapidi carmine vertit iter; haec cantu finditque solum manesque sepulcris elicit et tepido devocat ossa rogo. iam tenet infernas magico Stridore catervas, iam iubet aspersas lacte referre pedem. cum libet, haec tristi depellit nubila caelo, cum libet, aestivo convocat orbe nives.

50

2 • ERSTES BUCH

und sie lässt nicht zu, dass einer mir in den Weg tritt, der den Leib mit einem Dolch verwundet oder Kleider raubt und Lösegeld dafür verlangt. Jeder, der von Liebe beherrscht wird, soll sicher und sakrosankt gehen auf jedem beliebigen Weg; es ist nicht recht, dass er Nachstellung furchtet. Nicht schadet mir die starr machende Kälte einer Winternacht, nicht, wenn mit viel Wasser Regen herabfällt. Nicht setzt mir diese Pein hier zu, wenn nur Delia die Tür entriegelt und mich mit einem Schnippen ihres Fingers wortlos ruft. Schont eure Augen, ob Mann oder Frau, wenn ihr des Weges daherkommt: Venus will, dass ihre Heimlichkeiten verborgen bleiben. Erschreckt mich nicht durch das Geräusch eurer Füße, fragt nicht nach meinem Namen und bringt mir nicht Licht von einer leuchtenden Fackel nahe! Und wenn einer mich auch nur unabsichtlich ansieht, soll er es geheim halten und bei allen Göttern leugnen, er könne sich erinnern. Denn wer auch immer schwatzhaft ist, der wird zu spüren bekommen, dass aus Blut entsprungen ist Venus, der, dass sie aus dem tobenden Meer stammt. Und dennoch wird ihm dein Mann nicht glauben, wie mir eine Wahres sprechende Hexe durch Ausübung ihrer Zauberei verheißen hat. Die sah ich vom Himmel Sterne herabziehen; eines reißenden Flusses Lauf lenkt die zurück durch ihren Zauberspruch; die spaltet durch ihren Gesang den Erdboden, die Geister der Toten aus den Gräbern lockt sie hervor, und vom noch warmen Scheiterhaufen ruft sie die Knochen herab. Bald bannt sie die unterirdischen Scharen mit magischem Kreischen, bald besprengt sie sie mit Milch und befiehlt ihnen, den Fuß zurückzulenken. Wenn es ihr beliebt, vertreibt sie vom düsteren Himmel die Wolken, wenn es ihr beliebt, ruft sie am sommerlichen Himmelsgewölbe Schneestürme zusammen. Als

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381 LIBER P R I M V S · 2

sola tenere malas Medeae dicitur herbas, sola feros Hecates perdomuisse canes, haec mihi composuit cantus, quis fallere posses;

j5

ter cane, ter dictis despue carminibus: ille nihil poterit de nobis credere cuiquam, non sibi, si in molli viderit ipse toro. tu tarnen abstineas aliis: nam cetera cernet omnia, de me uno sentiet ille nihil.

60

quin credam? nempe haec eadem se dixit amores cantibus aut herbis solvere posse meos, et me lustravit taedis, et nocte serena concidit ad magicos hostia pulla deos. non ego, totus abesset amor, sed mutuus esset,

65

orabam, nec te posse carere velim. ferreus ille fuit, qui, te cum posset habere, maluerit praedas stultus et arma sequi, ille licet Cilicum victas agat ante catervas, ponat et in capto Martia castra solo,

70

totus et argento contectus, totus et auro insideat celeri conspiciendus equo, ipse boves mea si tecum modo Delia possim iungere et in solito pascere monte pecus; et te, dum liceat, teneris retinere lacertis,

75

mollis et inculta sit mihi somnus humo. quid Tyrio recubare toro sine amore secundo prodest, cum fletu nox vigilanda venit? nam neque tunc plumae nec stragula picta soporem nec sonitus placidae ducere posset aquae.

80

2 • ERSTES B U C H

Einzige, sagt man, verstehe sie etwas von den üblen Kräutern Medeas, als Einzige habe sie die wilden Hunde Hekates gezähmt. Die hat fur mich Gesänge verfasst, mit denen du täuschen kannst; dreimal singe sie, dreimal spucke aus, wenn du die Zaubersprüche gesagt hast. Er wird nichts über uns irgendjemandem glauben können, nicht einmal sich, auch wenn er selbst uns im weichen Bett sieht. D u aber halte dich von anderen fern. Denn sehen wird er alles Übrige; von mir allein wird er nichts bemerken. Warum soll ich ihr nicht glauben? Die sagte ja auch, von meiner Liebe könne sie mich durch Gesänge oder Kräuter befreien, und sie hat mich rituell gereinigt mit Fackeln, und in einer klaren Nacht fiel vor ihren Zaubergöttern ein schwarzes Opfertier zu Boden. Nicht dass meine ganze Liebe dahin sei, sondern dass sie gegenseitig sei, bat ich immer wieder, und ich möchte nicht dazu imstande sein, auf dich zu verzichten. Aus Eisen war er, der, obwohl er dich hätte haben können, lieber töricht Beutegut und Waffen hinterherzog. Mag er die besiegten Scharen der Kilikier vor sich hertreiben und aufstellen auf erobertem Boden sein Kriegslager und ganz von Silber bedeckt, ganz auch von Gold, sitzen auf seinem schnellen Ross aufsehenerregend - wenn ich nur mit dir, meine Delia, die Ochsen anspannen und auf dem vertrauten Berg das Kleinvieh weiden könnte und dich, solange es vergönnt ist, mit zärtlichen Armen festhalten, wäre sanft mir der Schlaf auch auf unkultiviertem Erdboden. Was nützt es, auf einem tyrischen Lager zu ruhen ohne glückliche Liebe, wenn die Nacht kommt, die man mit Weinen durchwachen muss? Denn weder Federkissen noch bunt bestickte Decken noch das Plätschern eines sanft dahinfließenden Wassers könnten dann Schlaf bringen.

[39

401 L I B E R PRIMVS · 2 - 3

num Veneris magnae violavi numina verbo, et mea nunc poenas impia lingua luit? num feror incestus sedes adiisse deorum sertaque de sanctis deripuisse focis? non ego, si merui, dubitem procumbere templis

8s

et dare sacratis oscula liminibus, non ego tellurem genibus perrepere supplex et miserum sancto tundere poste caput, at tu, qui laetus rides mala nostra, caveto: mox tibi et iratus saeviet usque deus.

90

vidi ego, qui iuvenum miseros lusisset amores, post Veneris vinclis subdere colla senem et sibi blanditias tremula componere voce et manibus canas fingere velle comas, stare nec ante fores puduit caraeve puellae

95

ancillam medio detinuisse foro. hunc puer, hunc iuvenis turba circumterit arta, despuit in molles et sibi quisque sinus, at mihi parce, Venus, semper tibi dedita servit mens mea: quid messes uris acerba tuas?

3

Ibitis Aegaeas sine me, Messalla, per undas, ο utinam memores, ipse cohorsque, mei! me tenet ignotis aegrum Phaeacia terris, abstineas avidas Mors modo nigra manus.

100

2 - 3 • ERSTES B U C H

Habe ich etwa der großen Venus göttliche Macht verletzt durch ein Wort, und büßt jetzt meine ruchlose Zunge? Sagt man etwa von mir, ich hätte mich unrein den Stätten der Götter genähert und Girlanden von ihren heiligen Altären herabgerissen? Nicht würde ich, wenn ich schuldhaft gehandelt habe, zögern, mich hinzuwerfen bei den Tempeln und die geweihten Schwellen zu küssen, nicht, bittflehend über den Boden auf Knien zu kriechen und mein elendes Haupt an den heiligen Türpfosten zu stoßen! Doch du, der du fröhlich lachst über mein Leid, nimm dich in Acht: Bald wird auch gegen dich der erzürnte Gott in einem fort wüten. Ich habe einen gesehen, der die unglückliche Liebe junger Männer verspottet hatte, wie er später als alter Mann seinen Nacken den Fesseln der Venus unterwerfen musste, zärtliche Worte mit zitternder Stimme einübte, mit den Händen seine grauen Haare zurechtlegen wollte und sich nicht schämte, vor ihrer Tür zu stehen oder die Magd seines lieben Mädchens mitten auf dem Forum anzuhalten. Ihn umringen und bedrängen Knaben, ihn junge Männer in dichter Schar, und es spuckt sich in die weichen Falten seines Gewandes ein jeder. Doch mich schone, Venus! Stets dient dir mein ergebenes Herz. Was verbrennst du Gnadenlose deine eigene Saat?

3 Fahren werdet ihr ohne mich durch die ägäischen Wogen, Messalla, ach, hoffentlich meiner gedenkend, du selbst und die Kohorte! Mich hält Phäakien krank in unbekanntem Land fest. Hieltest du nur fern deine gierigen Hände, schwarzer Tod! Hieltest du sie nur fern,

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411 L I B E R P R I M V S · 3

abstineas, Mors atra, precor: non hie mihi mater,

5

quae legat in maestos ossa perusta sinus, non soror, Assyrios cineri quae dedat odores et fleat effusis ante sepulcra comis; Delia non usquam, quae me cum mitteret urbe, dicitur ante omnes consuluisse deos.

10

ilia sacras pueri sortes ter sustulit: illi rettulit e trinis omina certa puer. cuncta dabant reditus, tamen est deterrita numquam, quin fleret nostras respiceretque vias. ipse ego solator, cum iam mandata dedissem,

15

quaerebam tardas anxius usque moras, aut ego sum causatus aves aut omina dira Saturnive sacram me tenuisse diem, ο quotiens ingressus iter mihi tristia dixi offensum in porta signa dedisse pedem!

20

audeat invito ne quis discedere Amore aut sciat egressum se prohibente deo. quid tua nunc Isis mihi, Delia, quid mihi prosunt ilia tua totiens aera repulsa manu, quidve, pie dum sacra colis, pureque lavari

25

et (memini!) puro secubuisse toro? nunc, dea, nunc succurre mihi, nam posse mederi picta docet templis multa tabella tuis, ut mea votivas persolvens Delia noctes ante sacras lino tecta fores sedeat bisque die resoluta comas tibi dicere laudes insignis turba debeat in Pharia.

30

3 • ERSTES BUCH

dunkler Tod, bitte! Nicht ist hier fiir mich die Mutter, die sammeln könnte in ihrem traurigen Gewandbausch das verbrannte Gebein, nicht die Schwester, die der Asche assyrische Düfte spenden und weinen könnte mit aufgelöstem Haar am Grab. Delia nirgendwo! Als sie mich aus der Stadt gehen ließ, befragte sie, wie man herumerzählt, vorher alle Götter. Sie nahm dreimal an sich die heiligen Lose des Knaben; ihr vermeldete aus den dreien sichere Vorzeichen der Knabe. Alle versprachen die Rückkehr, doch zu keiner Zeit ließ sie sich davon abbringen, über meine Fahrt zu weinen und auf sie ängstlich zu blicken. Ich selbst, ihr Tröster, suchte, obwohl ich die Anweisungen zur Abfahrt schon gegeben hatte, fortwährend ängstlich nach verzögernden Aufschüben. Ich brachte als Entschuldigung vor, entweder Vogel oder schreckliche Vorzeichen oder der heilige Tag Saturns hielten mich zurück. Ο wie oft sagte ich beim Antritt der Reise, mir habe betrübliche Zeichen mein Fuß gegeben, als ich im Torweg stolperte. Es wage niemand, gegen Amors Willen abzureisen, oder er wisse, dass er fortging, obwohl ein Gott es verbot. Was nützt mir jetzt, Delia, deine Isis, was nützen mir jene Zimbeln, die so oft geschlagen wurden von deiner Hand, oder was nützt es, dass du, während du fromm die Riten befolgtest, rein dich wuschst und - ich weiß es noch gut! - allein auf reinem Lager schliefst? Jetzt, Göttin, jetzt hilf mir - denn dass du heilen kannst, lehren in deinen Tempeln viele bunte Täfelchen - , damit meine Delia, wenn sie ableistet die gelobten Nächte, vor deiner heiligen Pforte, bedeckt von Leinen, sitzt und zweimal am Tag dein Lob verkünden muss, das Haar aufgelöst, herausragend in der pharischen Schar.

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441 LIBER PRIMVS · 3

at mihi contingat patrios celebrare Penates reddereque antiquo menstrua tura Lari. quam bene Saturno vivebant rege, priusquam

35

tellus in longas est patefacta vias! nondum caeruleas pinus contempserat undas effusum ventis praebueratque sinum, nec vagus ignotis repetens compendia terris presserat externa navita merce ratem.

40

illo non validus subiit iuga tempore taurus, non domito frenos ore momordit equus, non domus ulla fores habuit, non fixus in agris, qui regeret certis finibus arva, lapis, ipsae mella dabant quercus, ultroque ferebant

45

obvia securis ubera lactis oves. non acies, non ira fuit, non bella, nec ensem immiti saevus duxerat arte faber. nunc love sub domino caedes et vulnera semper, nunc mare, nunc leti mille repente viae.

50

parce, pater: timidum non me periuria terrent, non dicta in sanctos impia verba deos. quodsi fatales iam nunc explevimus annos, fac lapis inscriptis stet super ossa notis: »Hie iacet immiti consumptus morte Tibullus,

$5

Messallam terra dum sequiturque mari«. sed me, quod facilis tenero sum semper Amori, ipsa Venus campos ducet in Elysios. hie choreae cantusque vigent, passimque vagantes dulce sonant tenui gutture carmen aves;

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3 · ERSTES BUCH

Doch mir sei es vergönnt, die ererbten Penaten zu ehren und zu spenden dem alten Lar jeden Monat seinen Weihrauch. Wie gut hat man gelebt unter dem Herrscher Saturn, bevor die Erde zu langen Reisen geöffnet wurde! Noch kein Schiff aus Fichtenholz hatte getrotzt den blauen Wogen und das geblähte Segel den Winden dargeboten, nicht hatte, umherziehend in fremden Ländern und nach Gewinn strebend, überladen mit ausländischer Ware der Seemann sein Schiff In jener Zeit unterwarf sich nicht dem Joch der starke Stier, nicht biss mit gezähmtem Maul in den Zaum das Pferd, kein einziges Haus hatte Türen, nicht war auf den Feldern fest eingefugt ein Stein, der mit festen Grenzen das Ackerland regulieren sollte. Von selber gaben Honig die Eichen, und freiwillig boten die Schafe den sorgenfreien Menschen ihre Euter voll Milch dar. Kein Heer, keinen Zorn, keine Kriege gab es, und das Schwert hatte noch nicht mit unbarmherziger Kunstfertigkeit angefertigt der grimmige Schmied. Jetzt, unter Jupiters Herrschaft, gibt es beständig Gemetzel und Wunden, jetzt das Meer, jetzt tausend Wege in einen plötzlichen Tod. Vater, verschone mich! Nicht schrecken mich, wenn ich auch ängstlich bin, Meineide, nicht ruchlose Worte, gesprochen gegen die heiligen Götter. Wenn ich aber die vom Schicksal zugeteilten Jahre schon jetzt erfüllt habe, lass einen Stein über meinen Gebeinen stehen mit der Inschrift: »Hier liegt Tibull, vernichtet vom grausamen Tode, während er Messalla zu Wasser und zu Lande folgte.« Doch mich wird, weil ich immer zugänglich bin fur den zärtlichen Amor, Venus selber fuhren zu den elysischen Gefilden. Hier sind Tanz und Gesang lebendig und, hierhin und dorthin schwirrend, lassen ihr liebliches Lied die Vogel aus zarter Kehle ertönen. Es trägt

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4Die Vorsokratiker< und wurde in drei Bänden von der brillanten Gräzistin Laura Gemelli Marciano in der Sammlung Tusculum herausgegeben. (...) Also vertrauen Sie mir, ich weiß was ich tue, und lesen Sie >Die Vorsokratiker< (...)« Denis Scheck, Druckfrisch, ARD, Band I:

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Seneca,

als gescheiterter Erzieher des Kaisers Nero berühmt gewor-

den, stammte aus Cordoba. Seine Briefe an Lucilius sind eine Einführung in die Philosophie der Stoiker, deren Ideal es war, durch Gelassenheit und Seelenruhe weise zu werden. Die Briefe bieten keine systematische Darstellung, sondern zeigen Wege zur philosophischen

Bewältigung

konkreter Probleme des menschlichen Lebens: Wege zum wahren Glück. Sie sind unmittelbar ansprechend, lebendig dialogisch geschrieben und heute noch aktuell. Band I : 6 0 4 Seiten. ISBN 978-3-538-03501-0 Band II: 664 Seiten. ISBN 978-3-538-03512-6

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