Carl Zeiss 1816–1888: Eine Biografie 9783412504595, 9783412503871

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Carl Zeiss 1816–1888: Eine Biografie
 9783412504595, 9783412503871

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Carl Zeiss

Eine Biografie      1816 – 1888

herausgegeben vom ZEISS Archiv Autoren: Stephan Paetrow und Wolfgang Wimmer

2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Impressum

Carl Zeiss Eine Biografie 1816  –  1888 herausgegeben vom ZEISS Archiv

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagseite vorn (v.l.): Carl Zeiss im 34. / 35. Lebensjahr, Foto von Carl Schenk. Bank zum Fassen von Optiken aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mikroskop Stativ I von Carl Zeiss aus dem Jahr 1878. Die letzte Seite des Vertrages zwischen Carl Zeiss und dessen Sohn Roderich, August 1883. Carl Zeiss um 1870. Umschlagseite hinten (v.l.): Wohnhaus und Verwaltungsgebäude von Carl Zeiss im Littergässchen im Jahr 1890. Jena um 1845, gestochen von H. v. Herzer. Männergesangverein der Firma im Jahr 1869. Carl Zeiss Anfang der 1880er Jahre.

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Autoren: Stephan Paetrow (timefab), Wolfgang Wimmer (Carl Zeiss AG) Redaktion: Michael Kaschke (Carl Zeiss AG), Gudrun Vogel (Carl Zeiss AG), Timo Mappes (Carl Zeiss Vision International GmbH), Kathrin Siebert (Nachfahrin von Carl Zeiss), Tim Sander (timefab), Dieter Brocksch (Carl Zeiss AG), Marte Schwabe (Carl Zeiss AG) Korrektorat: Constanze Lehmann, Berlin Umschlaggestaltung: Bernd Adam, Jena Satz und Layout: Bernd Adam, Jena Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50387-1

Inhalt

Vorwort

4

Theorie und Praxis: Die Wende zum wissenschaftlichen Mikroskopbau

Kapitel 1 Wurzeln und Spuren: Eine Annäherung an Carl Zeiss Familie und Herkunft (1816 – 1834) Im Gespräch mit Dr. Kathrin Siebert

Kapitel 4

9 16

Optiken auf rechnerischer Basis Dr. Timo Mappes im Gespräch mit Dr. Eric Betzig Von der optischen Werkstatt zum Unternehmen (1873 – 1880)

85 96 100

Kapitel 2 Kapitel 5

Erwachender Pioniergeist: Ausbildung und Gründung der Firma Ausbildung bei Friedrich Körner und Wanderjahre (1834 – 1845) Gründung des mechanischen Ateliers in Jena Zeiss baut seine ersten Mikroskope

Die Zukunft im Blick: Absicherung des Lebenswerkes 23 34 43

Zeiss’ letzte Jahre (1880 – 1888) Mikroskoplieferungen (1847 – 1889) Personalentwicklung (1847 – 1889) Im Gespräch mit Dr. Dieter Kurz

115 130 132 134

Kapitel 3 Anhang

Wagen und Gewinnen: Der Aufbau der Firma Geschäftsaufbau (1847 – 1859) Im Gespräch mit Prof. Dr. Michael Kaschke Geschäftsaufschwung und gesellschaftliche Anerkennung (1859 – 1866)

51 64 68

Zeittafel Quellen und Literatur Bildnachweis Danksagung

138 140 141 142

Vorwort

ständige Biografie. Sie äußerten gelegentlich Kritik an der Abbe-Lastigkeit vieler historischer Veröffentlichungen, die aus dem Umfeld des Unternehmens stammten. Über Ernst Abbe, den langjährigen Partner von Carl Zeiss, erschien 1918 – also mehr als 10 Jahre nach seinem Tod – eine erste umfangreiche Biografie. Weitere kleinere Veröffentlichungen folgten. Es waren vor allem seine akademischen Kollegen und Schüler, die sich in der Pflicht sahen, Abbes Werk weiterzutragen. Im Vergleich zu anderen bedeutenden Persönlichkeiten des Unternehmertums und der Wissenschaft ist das weder frühzeitig noch besonders umfangreich. Über Carl Zeiss wiederum hat vor allem Ernst Runde Geburtstage sind traditionelle Anlässe, bedeutende

Abbe berichtet und sein Rückblick auf die ersten 50 Jahre

Persönlichkeiten nicht nur durch Veranstaltungen, sondern

der Firma ist eine zentrale Quelle für die frühe Geschichte

auch in Form von Biografien zu würdigen. Der 100.  Ge-

des Unternehmens, aber auch für die Person Carl Zeiss ge-

burtstag von Carl Zeiss fiel in den Ersten Weltkrieg, der

blieben. Von wenigen Mitstreitern gibt es aus den 1920er

125. Geburtstag in den Zweiten Weltkrieg. Bei beiden

Jahren Kurzberichte über die frühen Verhältnisse im Be-

Anlässen erschienen nur einzelne Zeitungs- und Zeitschrif-

trieb. Sie erschienen in der damals neuen Werkzeitung.

tenartikel. Umso bedeutender war der 150.  Geburtstag 1966. An beiden Standorten des durch die Folgen des

Das eigentliche Werk von Carl Zeiss – nämlich das nach

Zweiten Weltkrieges geteilten Unternehmens erschienen

ihm benannte Unternehmen – spricht für sich selbst. Sein

Bücher: In Ostdeutschland verfasste der damalige Leiter

Erfolg besteht darin, dass es auch mehr als 125 Jahre nach

des Jenaer Carl Zeiss Archivs, Paul Esche, ein Werk, das

dem Tod des Gründers noch am Markt bestehen kann.

zwei Auflagen erlebte. Für das westdeutsche Oberkochen

Der Wandel zu einem wissenschaftsbasierten Unterneh-

übernahm diese Aufgabe der Leiter des Optischen Muse-

men, die enorme Zunahme an Größe und Reichweite seit

ums, Horst Alexander Willam. Die Biografie von Carl Zeiss

den 1880er Jahren wurde dann von Ernst Abbe weiterge-

war zu einem Kampffeld um Alleinvertretungsanspruch

führt. Er war es auch, der die Carl-Zeiss-Stiftung ins Leben

und Deutungshoheit im Kalten Krieg geworden. Aber

rief, mit der er eine eigene Unternehmensphilosophie

auch die Mitglieder des weitläufigen Familienverbandes,

organisatorisch umsetzte. Das ist faszinierend für eine

Erich Zeiss und Friedrich Zeis, erarbeiteten eine selbst-

intellektuelle Öffentlichkeit und wegweisend für die deut-

4

sche Unternehmensgeschichte. Deshalb stand öfter Abbe

welche Berufe zu welchen Zeiten besonders gefragt

als Zeiss im Fokus des Scheinwerferlichts.

waren und dass die Fluktuation in einigen Jahren überraschend hoch war.

Die schriftliche Hinterlassenschaft von Carl Zeiss ist überra-

• In den Mikroskopbüchern ist im Detail dokumentiert,

schend gering. Das liegt daran, dass das Unternehmen bis

welche Mikroskope produziert wurden und an wen sie

zu seinem Tod 1888 noch keinen hohen Bürokratisierungs-

mit welcher Ausstattung geliefert wurden. Die Auswer-

grad erreicht hatte. Besprechungen mussten nicht schrift-

tung nach den Lieferorten und -jahren ergab zum ersten

lich protokolliert werden, der Meister gab seinen Mitar-

Mal verlässliche Daten über einen längeren Zeitraum.

beitern mündliche Anweisungen. Der geringe Umfang des Materials macht das Schreiben einer originellen Biografie

Manchmal benötigt auch der Nachweis, dass etwas nicht

schwierig. Deshalb muss man die wenigen Quellen der

geschehen ist, eine intensive Recherche. Jeder Archivar

betrieblichen Überlieferung stärker zum Sprechen bringen.

kennt das. Für den schnellen Fund gibt es großen Beifall;

Im Rahmen eines Projektes, das von der Carl-Zeiss-Stiftung

für die langwierige, engagierte, aber vergebliche Recher-

gefördert wird, werden derzeit verschiedene Quellen

che erntet man einen skeptischen Blick: Hat der Kollege

digital aufbereitet und demnächst im Internet zugänglich

auch tatsächlich gesucht ? Hier ist es die Geschichte um die

gemacht.

angebliche Verweigerung der Niederlassung als Feinmechaniker in Weimar durch die örtlichen Behörden im Jahr

Für Carl Zeiss haben drei Quellen neue Ergebnisse erbracht,

1845. Dafür konnte in keinem Archiv ein Anhaltspunkt

die zum Teil in dieses Buch bereits eingeflossen sind:

gefunden werden. Es scheint daher sehr wahrscheinlich, dass diese Geschichte eine Legende ist.

• Im Manual dokumentierte Carl Zeiss von 1848 bis 1863 die Einnahmen und Ausgaben seines jungen Unter-

Die Absicht dieser Veröffentlichung ist es, die Biografie

nehmens und seiner Familie. Das ist eine sozial- und

von Carl Zeiss in gut lesbarer, grafisch ansprechender Form

wirtschaftsgeschichtliche Quelle von erstem Rang.

für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Es ist allerdings in einer sehr schwierigen Handschrift

Die oben skizzierten Projekte zeigen, dass dieses Buch

geschrieben. Im Augenblick liegen nur grobe Auswer-

kein Endpunkt, sondern ein Ausgangspunkt sein soll. Ich

tungen vor, weil der Arbeitsbedarf für eine detaillierte

wünsche allen Lesern viel Freude und einige neue Erkennt-

Erfassung enorm groß ist.

nisse bei der Lektüre.

• Die Auswertung von Listen mit Beschäftigten hat gezeigt, wie und wann das Unternehmen personell

Wolfgang Wimmer

wuchs, aus welchen Gegenden die Mitarbeiter kamen,

Leiter des ZEISS Archivs

5

Kapitel 1 Wurzeln und Spuren: Eine Annäherung an Carl Zeiss

6

7

Seite 7: Die Eltern von Carl Zeiss: Johanne Antoinette Friederike Zeiss geb. Schmith (1786–1856) und Johann Gottfried August Zeiss (1785–1849). Gemälde im Besitz der Urenkelin Dr. Anneliese Seeliger-Zeiss.

Weimar um 1800. Kupferstich von Georg Melchior Kraus.

8

Ein Handwerker mit Ambitionen: Familie und Herkunft (1816 – 1834)

Goethe, Schiller, Herder und Wieland, die vier berühmtesten deutschen Dichter ihrer Zeit, dazu der „Musenhof“ um die hoch gebildete Herzogin Anna Amalia – Weimar zu Beginn des 19. Jahrhunderts gilt als Wiege nationaler Kultur. Bis heute stilisieren Tourismusmarketing und bildungsbürgerliches Feuilleton in seltener Eintracht Weimar zur Stadt der Dichter und Denker. Neuere historische Forschungsarbeiten zeigen jedoch, dass dieses Bild zwar nicht grundsätzlich falsch, aber sehr unvollständig ist. Tatsächlich war Weimar viel eher eine Stadt der Handwerker. Auch wenn der Handel allmählich an Bedeutung gewann, erbrachten doch die Handwerker einen Großteil der lokalen Wirtschaftsleistung. Fast 40 Prozent des städtischen Immobilienbesitzes entfielen noch im Jahr 1815 auf die Werkstätten und Wohnungen der Meister mit ihren Familien, Gesellen und Lehrlingen. Die zahlungskräftigsten Kunden kamen aus der herzoglichen Familie und dem dazugehörigen Hofstaat einschließlich der hohen Beamtenschaft. Luxusgüter waren gefragt und entsprechend groß war die Bandbreite kunstfertiger Gewerke.

Das Elternhaus Einer der Handwerksmeister, die sich auf die Bedürfnisse der Oberschicht spezialisiert hatten, war der „Horndreher“ und spätere Kunstdrechsler August Zeiss (1785 – 1849). Das Handwerk hatte er von seinem Vater geerbt, der in der kleinen Stadt Rastenberg und später in dem etwas größeren Buttstädt rund 20 Kilometer nördlich von Weimar ebenfalls Drechsler gewesen war. August Zeiss hatte, trotz

Die Eltern August und Friederike Zeiss stammten aus Buttstädt. Hier eine Ansicht aus dem Jahr 1650 (Matthäus Merian).

eines überlieferten Interesses für die Wissenschaft, nur eine einfache Schulbildung genossen. Bis auf eine halbjährige Wanderschaft, die ihn bis nach Dresden führte, war er von seinem Vater stets zur Arbeit an der Drehbank angehalten worden. Angesichts des eher kleinbürgerlichen Hintergrundes muss August Zeiss’ Heirat im Jahr 1808 als sozialer Aufstieg gelten. Mit Friederike Schmith (1786 – 1856), der Tochter des Buttstädter Stadtvogts und Herzoglichen Hofadvokaten, fand er eine vorteilhafte Partie. Da sowohl August als auch sein älterer Bruder Friedrich dem Drechslerhandwerk treu blieben, wurde es für den Jüngeren in Buttstädt zu eng. Gemeinsam mit seiner Frau übersiedelte er im Jahr der Eheschließung nach Weimar und erhielt dort mit 23 Jahren das Bürgerrecht. August Zeiss verlegte sich nun vor allem auf die Herstellung von und den Handel mit Rauch-Zubehör, wie die folgende am 4. März 1809 im Weimarischen Wochenblatt erschienene Anzeige belegt: 9

„Hierdurch mache ich dem geehrtesten Publicum bekannt, daß ich am Töpfenmarkt in das Haus der Frau von Lincker gehörig gezogen bin. Verfertige alle Sorten ächte Pfeifenröhre, wie alle andere feine Drechslerarbeit. Auch sind bey mir zu haben Meißner PorzellainPfeiffenköpfe und dergleichen um billigste Preise.“ ¹ Zeiss verstand sein Geschäft allem Anschein nach. Schon im August 1812 hatte er das Geld zusammen, um für 1.540 Taler ein dreistöckiges Bürgerhaus in der Breiten Gasse Nr. 53 (heute Marktstraße 13) zu ersteigern. Das Gebäude befand sich mitten im Zentrum der Residenzstadt, etwa auf halbem Weg zwi-

Markt in Weimar vor 1837, gestochen von Carl August Schwerdgeburth.

Der Taufeintrag von Carl Zeiss, zur Verfügung gestellt von der Ev.-Luth. Kirchgemeinde, Weimar.

Titelseite des Buches „Die Drehkunst in ihrem ganzen Umfange“, bearbeitet von August Zeiss, 1839.

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schen dem Theaterplatz und dem Marktplatz. Unten war die Werkstatt; in der ersten Etage wohnte Zeiss mit seiner Familie. Die oberen Stockwerke vermietete Zeiss an den Uhrmachermeister Eberhardt. In diesem Gebäude wurde den Eheleuten am 11. September 1816 ihr fünftes Kind geboren. Der Sohn wurde auf den Namen Carl Friedrich getauft, benannt nach seinem einzigen Paten, dem Erbprinzen von SachsenWeimar-Eisenach. Insgesamt hatte Carl Zeiss übrigens elf Geschwister, von denen sechs jedoch noch im frühen Kindesalter verstarben.

Der Prinz als Pate Interessant ist die Rolle von Kronprinz Carl Friedrich (1783 – 1853). Die Übernahme von Patenschaften durch höher gestellte Personen war in der damaligen Zeit zwar nichts Ungewöhnliches. Vielmehr strebten die meisten Bürger danach, ihren Kindern bereits im Zuge der Taufe vorteilhafte Verbindungen zu eröffnen, um ihnen später das Fortkommen zu erleichtern. Trotzdem kam es in der Weimarer Gesellschaft der damaligen Zeit so gut wie nie vor, dass ein Angehöriger der obersten politischen Klasse als Pate für

Bildnis des Erbprinzen Carl Friedrich, nach 1853, Lithographie von Friedrich Martersteig.

einen einfachen Bürger auftrat. Dies traf umso mehr zu, da August Zeiss im Geburtsjahr seines Sohnes Carl noch nicht über den privilegierten Status des Hofhandwerkers verfügte – erst im Jahr 1829 sollte er zum „Hofkunstdrechsler“ ernannt werden. Dass der zukünftige Großherzog dennoch Pate von Carl Zeiss wurde, hing mit der langjährigen persönlichen Verbindung zum Vater zusammen. August Zeiss hatte Carl Friedrich von Sachsen-Weimar-Eisenach seit 1810 in der Drechselkunst unterrichtet, welche der Prinz offenbar aus Liebhaberei betrieb, ebenso wie etwa die Malerei oder die sogenannte Wachsbossierung, also die Herstellung von Reliefs und Plastiken aus Wachs.² Durch die Privatstunden besaß August Zeiss einen direkten Zugang zum Prinzen, den er familienpolitisch geschickt nutzte, um seinem Sohn einen einflussreichen Paten zu sichern. In den Quellen findet sich allerdings kein Beleg dafür, dass Carl Zeiss im Verlauf seiner späteren Karriere als Unternehmer besondere Vorteile aus der Beziehung zur großherzoglichen Familie gezogen hätte. An dieser Stelle scheint es angebracht, die Erzählung von Carl Zeiss’ Kinder- und Jugendjahren zu unterbrechen, um zwei quellenkritische Anmerkungen zu machen: Erstens weiß man inzwischen wieder, dass Carl Zeiss nicht in der Kaufstraße 1 direkt am Weimarer Marktplatz geboren wurde. Die dort über Jahrzehnte hinweg angebrachte Tafel setzte dem falschen Haus ein Denkmal. Das Gebäude Kaufstraße 1 besaß in Zeiss’ Kindheit gleichwohl eine wichtige Funktion, denn der Vater erwarb es im Jahr 1818. Die Familie zog also dahin um, als Carl Zeiss zwei Jahre alt war. 11

das Jahr 1885 auf die einheitliche Schreibweise „Carl Zeiss“ – wahrscheinlich auch, weil die Variante mit „C“ und „ss“ im länderübergreifenden Geschäftsverkehr praktisch war. Die Nachfahren übernahmen auch für ihren Familiennamen diese Schreibweise.

Residenzstadt im Wandel

Der Marktplatz in Weimar im Jahr 1850. In dem zweiten Haus rechts neben dem Rathaus verbrachte Carl Zeiss seine Kindheit.

Der zweite Aspekt betrifft die Schreibweise des Namens, der wahrscheinlich von dem Verb „zeiseln“ (= eilen, geschäftig sein) abgeleitet ist. In dem vorliegenden Buch steht außer in wörtlichen Zitaten durchgehend „Carl Zeiss“, obwohl unser Held selbst und ebenso sein Umfeld je nach Laune auch andere Formen („Zeiß“, „Zeihs“, „Zeis“ und sogar „Zeyesz“) verwendeten. Auch der Vorname wurde wahlweise „Karl“ oder „Carl“ geschrieben. Damals nahm man diese Abweichungen einfach hin. Langfristig gültige Ausweisdokumente oder eine allgemeine Meldepflicht gab es nicht. In den meisten gedruckten Veröffentlichungen ist jedoch schon zu Lebzeiten von Carl Zeiss der Name mit doppeltem ‚s‘ geschrieben. Nachdem der Name Zeiss durch den Erfolg der Jenaer Optischen Werkstätte zu einer internationalen Marke geworden war, einigten sich Roderich Zeiss und Ernst Abbe um 12

Zurück ins Weimar des Jahres 1816. Carl Zeiss wurde in eine Epoche hineingeboren, in der sich der Umbruch von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft vollzog. Noch immer lebten Adel, Geistlichkeit und selbst die Professoren an den Universitäten in eigenen Sphären mit besonderen Privilegien und eigener Gerichtsbarkeit. Zum „einfachen“ Stadtbürgertum hielt man Abstand, auch wenn es – wie im Fall der Patenschaft des Erbprinzen für Carl Zeiss – Berührungspunkte gab. Seit einigen Jahren wehte jedoch ein neuer Wind durch die thüringische Residenz und die starre, althergebrachte Ordnung bekam Risse. Bildung und Leistung, nicht mehr Geburt und vererbter Besitz wurden zu Kriterien für die Besetzung wichtiger Ämter. Das enge Gefüge von Standesgrenzen, Zünften und Familientraditionen löste sich allmählich auf und machte Platz für das Individuum. Die Entwicklung begann an der Schwelle vom 18. ins 19. Jahrhundert überall in den deutschen Staaten, doch in Thüringen war sie besonders spürbar. Durch die Ehe des Erbprinzen Carl Friedrich mit der Zarentochter Maria Pawlowna stand Sachsen-Weimar-Eisenach unter dem Schutz Russlands. Diese Verbindung war von großem Nutzen, als Europa nach

Die Stadtkirche und das Gymnasium in Weimar um 1840.

dem Sieg über Napoleon auf dem Wiener Kongress des Jahres 1815 neu geordnet wurde. Die ernestinischen Herzöge in Weimar verzeichneten bedeutende Gebietserweiterungen, unter anderem um große Teile des ehemals zum Erzbistum Mainz gehörigen Erfurter Staates. Doch auch wenn Sachsen-WeimarEisenach sich jetzt „Großherzogtum“ nannte – es blieb ein Kleinstaat mit begrenzten Ressourcen. Die gesellschaftliche Distanz zwischen dem politischen Establishment und den Handwerkern und Gewerbetreibenden war hier nicht so stark ausgeprägt wie etwa in Preußen, Österreich oder Bayern. Der Großherzog und dessen Regierung waren daher auch bereit, die Voraussetzungen für den individuellen Aufstieg einfacher Bürger zu verbessern, etwa durch Förderung von Bildungseinrichtungen oder durch die

Reform der Zunftordnung im Jahr 1821. In diese Zeit des wirtschaftlichen Aufbruchs und der zurückhaltenden Liberalisierung fällt die Kindheit von Carl Zeiss. Über die frühen Jahre in seinem Leben ist wenig bekannt. Sicher ist, dass August Zeiss seinen Söhnen eine umfassende Schulbildung angedeihen ließ. Wie seine älteren Brüder Eduard (1809 – 1877) und Gustav (1811 – 1875) besuchte Carl Zeiss das Gymnasium. Kaum etwas bekannt ist dagegen über die jüngeren Schwestern Pauline (1818 – 1900), Hulda (1821 – 1888) und Emilie (1828 – 1875). Wie es dem patriarchalen Ideal der damaligen Zeit entsprach, werden die drei wohl lediglich eine einfache Schulbildung genossen haben, um sie auf die Rolle als Hausfrauen und Mütter vorzubereiten. Quellen, die Aufschluss über 13

Das Jägerhaus in der Marienstraße in Weimar, wo sich auch die Gewerkschule befand, Foto von Louis Held um 1900.

Carl Ludwig Albrecht Kunze um 1855, Foto von Julius Schnauß.

den Werdegang der Schwestern geben könnten, sind nicht überliefert. In Bezug auf Carl Zeiss berichten die Schulakten des Gymnasiums, dass er am 13. September 1827 nach vorheriger mündlicher und schriftlicher Prüfung in die „Untertertia“ aufgenommen wurde, was heute etwa einem Einstieg in die achte Jahrgangsstufe entspräche. Daraus folgt, dass Zeiss zuvor bereits anderweitig Unterricht hatte – entweder bei einem der zahlreichen Privatlehrer oder auf der Weimarer Bürgerschule, die seit 1825 bestand. Am 29. März 1832 verließ Zeiss das Gymnasium mit dem Abschluss der Unterprima (Jahrgangsstufe 12 von 13). Er hatte nun eine Art Fachabitur in der Tasche, das ihm das Studium in technischen Fächern ermöglichte.

ausüben. Damit sei ihm eine handwerklich-technische Laufbahn vorbestimmt gewesen. Auch diese Geschichte ist vielfach überliefert, obwohl sie medizinisch wenig plausibel ist.

Schulbildung neuen Typs Auf die Frage, warum Carl Zeiss anders als seine Brüder keine voll gültige Hochschulreife erlangte, verweist die Literatur auf den Gesundheitszustand des Jungen. Augenscheinlich hatte sich Carl Zeiss einen Leistenbruch zugezogen und sollte daher nach Ansicht des Vaters keine dauerhaft sitzende Tätigkeit 14

Vielleicht gaben eher die Neigung des Sohnes und die familiäre Tradition den Ausschlag, dass wenigstens einer der Söhne Handwerker blieb. Wie Carl Zeiss später selbst berichtete, hatte er in Weimar nach dem Gymnasium die sogenannte „Gewerkschule“ besucht, die nach einer Initiative Johann Wolfgang von Goethes im Oktober 1829 aus der bereits bestehenden Zeichenschule hervorgegangen war. Die Gewerkschule war als Sonntagsschule speziell auf die Anforderungen komplexer Handwerksberufe zugeschnitten, wobei der Unterricht im Technischen Zeichnen („Reißkunst“) einen Schwerpunkt des Lehrplans bildete. Zu Zeiss’ Lehrern zählte ein Mann der Praxis, der Weimarer Baukontrolleur Carl Friedrich Christian Steiner (1774 – 1840), der als Architekt unter anderem das örtliche Hoftheater (Vorläufer des Deutschen Nationaltheaters) und den Turm der Anna-AmaliaBibliothek entworfen hatte. Ein anderer Pädagoge, der die Ausbildung von Zeiss in Weimar maßgeblich

geprägt haben dürfte, war der aus Norddeutschland stammende Mathematiker Carl Ludwig Albrecht Kunze (1805 – 1890), der seit 1828 am Gymnasium und später auch an der Gewerkschule unterrichtete. Kunze baute ab 1830 ein physikalisches Kabinett für das Gymnasium auf, hielt öffentliche Experimentalvorträge unter Einsatz mechanischer Instrumente, schrieb mehrere Lehrbücher und entwickelte mathematisch-geometrische Spiele mit didaktischem Hintergrund. Kunzes Lehrerkollege Ernst Christian Wilhelm Weber (1796 – 1865) schrieb Kunze später eine Schlüsselrolle bei der Modernisierung der für Zeiss relevanten Unterrichtsfächer zu: „Als Du Dein Lehramt antratest, litt der mathematische Unterricht in unserm Gymnasium an großer Dürftigkeit, da er kaum die Anfangsgründe der Geometrie umfasste. Dein Verdienst ist es diesen Unterricht, den Anforderungen der Gegenwart gemäß, erweitert zu haben.“ ³ Carl Zeiss zählte zur ersten Schülergeneration, die in den Genuss einer verbesserten, stärker auf die praktischen Anforderungen in technischen Berufen ausgerichteten Ausbildung kam. Für die spätere Entscheidung des Absolventen, sich der Mechanik und Optik zu widmen, mag die Weimarer Schulzeit entscheidend gewesen sein. Während der junge Zeiss das Rüstzeug erwarb, um einem höheren Handwerksberuf nachzugehen, gelang es dem Vater, seine gesellschaftliche Stellung weiter zu festigen. August Zeiss zählte zu den Gründungsmitgliedern des Weimarer Gewerbevereins und wurde in den Jahren 1834 / 35 dessen erster Vorsitzender. Carl Zeiss verließ

Titelblatt eines Lehrbuches von Carl Ludwig Albrecht Kunze, 1866.

seine Heimatstadt jedoch um Ostern 1834 und wählte als erste Station seines weiteren Bildungsweges ein naheliegendes Ziel: Jena, gut 20 Kilometer östlich gelegen und Sitz der Landesuniversität.

1 Weimarisches Wochenblatt Nr. 18, 04. 03. 1809, S. 78. 2 Diese Informationen wie auch weitere aufschlussreiche Kommentare zu August Zeiss verdanke ich Frau Dr. Ulrike Müller-Harang von der Klassik Stiftung Weimar. 3 Zit. nach: Kerrin Klinger: Zwischen Gelehrtenwissen und handwerklicher Praxis. Zum mathematischen Unterricht in Weimar um 1800. Paderborn 2014, S. 115.

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Fragen an den Ururgroßvater: Im Gespräch mit Dr. Kathrin Siebert

Wie ist Ihnen bewusst geworden, dass der Gründer des Unternehmens ZEISS Teil Ihrer Familiengeschichte ist ? – Gab es ein Schlüsselerlebnis ? Mein historisches Bewusstsein in Bezug auf Carl Zeiss ist eher allmählich gewachsen. In unserer Familie waren natürlich viele ZEISS Produkte vorhanden. Wir besaßen ein altes Mikroskop, mehrere Ferngläser sowie eine ganze Reihe an Kameraobjektiven – fotografiert wurde in der Familie viel. Später, während des Studiums und der Promotion in den Fächern Mikrobiologie und Biochemie, habe ich mit Elektronenmikroskopen von ZEISS gearbeitet. Und als ich schließlich begann, in der pharmazeutischen Industrie tätig zu sein, lernte ich die medizintechnischen Produkte der beiden ZEISS Unternehmen in Ost und West ken16

nen. Allmählich wurde mir klar, wie umfangreich die Produktpalette war. Rund 30 Jahre meines Berufslebens habe ich die ganze Welt bereist. Als Verantwortliche für Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement traf ich weltweit mit zahllosen Gesprächspartnern aus Wirtschaft und Wissenschaft zusammen. Überall hatte der Name ZEISS einen guten Klang. Vielleicht deswegen weckte der Hinweis auf meine Familiengeschichte oft spontan großes Interesse. Speziell in den USA habe ich oft überaus positive Reaktionen erlebt. Viele Menschen dort haben ein starkes Interesse an Genealogie. Aber auch in Asien habe ich immer wieder bemerkt, dass die Marke ZEISS besondere Wertschätzung genießt.

Die familiäre Verbindung zu Carl Zeiss war für Sie also eine Art Türöffner ? Im Rahmen meiner eigentlichen geschäftlichen Tätigkeit war meine Herkunft nicht relevant. Hilfreich war meine Familiengeschichte vor allem dann, wenn ich aus persönlichem Interesse Standorte von ZEISS im Ausland besichtigen wollte. Hier habe ich selbst vor Ende des Kalten Krieges überall offene Türen vorgefunden, ganz gleich, ob das jeweilige Werk zum ostdeutschen Kombinat oder zu ZEISS Oberkochen gehörte. Ich kann mich beispielsweise erinnern, noch vor 1989 eine Niederlassung von Carl Zeiss Jena in der neuseeländischen Hauptstadt Wellington besucht zu haben, was nicht zuletzt politisch äußerst spannend war. Auch heute gibt es regelmäßige Zusammenkünfte zwischen Vertretern der Firma ZEISS und der Familie. Für uns hat das einen hohen Stellenwert, und es zeigt auch, dass Carl Zeiss noch immer eine Symbolfigur ist. Gehen wir historisch rund 125 Jahre zurück. Im Jahr 1891 – Carl Zeiss war zwei Jahre zuvor verstorben – wurde der einstige Familienbetrieb unter der Regie von Ernst Abbe in ein Stiftungsunternehmen umgewandelt. Wie wird dieser Schritt rückblickend innerhalb des Familienverbandes wahrgenommen ? Der Gedanke, dass der wirtschaftliche Aufstieg auch dann gelungen wäre, wenn ZEISS im Privatbesitz verblieben wäre, ist für uns Nachfahren sicherlich interessant. Sie können sich vorstellen, dass das Thema auch während der Familientreffen hin und wieder zur Sprache gekommen ist. Jedoch muss man sich den his-

torischen Kontext vergegenwärtigen, aus dem heraus die Entscheidung zur Gründung der Carl-Zeiss-Stiftung erwuchs: Carl Zeiss hatte bei seinem Tod im Jahr 1888 vier Kinder. Der 1850 geborene Roderich war 1876 auf Wunsch seines Vaters ins Unternehmen eingetreten. Bekanntermaßen gab es zwischen ihm und Ernst Abbe beträchtliche Differenzen, was die strategische Ausrichtung des Geschäfts betraf. Roderich hatte zum damaligen Zeitpunkt keine Kinder, sodass eine langfristige Nachfolge für das Familienunternehmen nicht gesichert war. Die drei Kinder von Carl Zeiss aus zweiter Ehe spielten für die Firma keine Rolle: Otto war Mediziner, Hedwig hatte einen Gymnasialoberlehrer geheiratet und Sidonie war die Frau eines Mediziners. Unterm Strich ist also festzustellen, dass es seinerzeit keine echte Alternative zur Stiftungsgründung gab. Jedenfalls dann nicht, wenn man wie Ernst Abbe vor allem zwei langfristige Ziele im Auge hatte: die soziale Absicherung der Mitarbeiter und die Förderung der naturwissenschaftlichen Forschung an der Jenaer Universität. Unter den gegebenen Umständen war für Abbe offenbar klar, dass sich diese Absichten am besten durch eine Entpersonalisierung der Eigentümerstruktur erreichen ließen. Dies hat er getan, und ich kann das gut nachvollziehen. Wieder zu Carl Zeiss: Welches charakterliche Bild existiert denn in der Familie von dem bekannten Vorfahren ? Aufgrund der zweiten Ehe von Carl Zeiss mit Ottilie Trinkler, die in zehnter Generation eine Nachfahrin von Martin Luther war, liegt es nahe, dem Unternehmensgründer typisch „protestantische“ Eigenschaften zuzuschreiben, etwa Pflichterfüllung, Beharrlichkeit, 17

Durchhaltevermögen und Genauigkeit. Ich würde die Firma ZEISS sicherlich nicht als Gründung im lutherischen Sinne beschreiben, dennoch erscheint es mir plausibel, dass Carl Zeiss als Unternehmer der feinmechanischen und optischen Industrie die genannten Charakterzüge besaß. Für mich hat vor allem das Qualitätsstreben von Carl Zeiss etwas Vorbildhaftes. Immerhin nehme ich die Wertarbeit unter dem Dach von ZEISS nicht nur aus Konsumentensicht wahr. Durch die Tätigkeit im Qualitätsmanagement habe ich dazu auch einen professionellen Bezug. Carl Zeiss soll fertige Mikroskope, die seinen Ansprüchen nicht genügten, vor den Augen seiner Gehilfen auf dem Amboss zerschlagen haben ... Diese Anekdote – sofern sie denn den Tatsachen entspricht – zeigt nur, wie weit sich die Führungskultur in Unternehmen seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Kein qualifizierter Mitarbeiter würde sich eine solche raue Behandlung heute bieten lassen. Das hängt neben dem veränderten Zeitgeist auch 18

damit zusammen, dass das Durchschnittsalter beim Berufseinstieg mittlerweile deutlich höher liegt. Die ersten Lehrlinge, die nach der Gründung in die Firma kamen, waren nach heutigem Verständnis fast noch Kinder. Da gehörte es zum Grundverständnis der Ausbildung, dass die Eltern gewisse Erziehungsfunktionen an den „Lehrherrn“ abgaben. Carl Zeiss füllte die Rolle als Firmenpatriarch so aus, wie dies von ihm erwartet wurde und wie dies auch andere Unternehmer seiner Zeit taten. Inzwischen wissen wir, dass das Patriarchat nicht der beste Weg zum Erfolg ist. Das gilt gleichermaßen für das Wirtschaftsleben wie für unsere Familie. Im Übrigen gibt es auch historische Quellen, die von einer gewissen Altersmilde bei Carl Zeiss sprechen. Es wird beispielsweise berichtet, dass er nach seinem weitgehenden Rückzug aus dem operativen Geschäft  –  spätestens nach dem ersten Schlaganfall Ende 1885  –  ein begeisterter Rosenzüchter war. Mein Großvater, der im Jahr 1886 geboren wurde, hatte noch einige sehr positive, frühkindliche Erinnerungen an

Carl Zeiss. Danach haben die Kleinen viel Zeit bei dem alten Herrn zugebracht, der sich hingebungsvoll um sie sorgte. Hier zeigt sich, dass sich die Persönlichkeit von Carl Zeiss nicht nur auf einige wenige Eigenschaften reduzieren lässt. Dies klingt ein wenig nach einer Warnung an den Biografen, es sich mit der Deutung nicht zu einfach zu machen … Wir sollten akzeptieren, dass es nicht immer einen roten Faden gibt. Auch das Leben von Carl Zeiss hatte seine inneren Widersprüche. Diese Vielgestaltigkeit mag auch ein Grund sein, warum es sich lohnt, eine an sich bekannte Biografie neu zu erzählen. Aus Sicht der Gegenwart stellen wir neue Fragen an das historische Material und bekommen Antworten, die etwa für die Zeiss-Biografen in den 1960er Jahren noch gar nicht relevant waren. Zum Beispiel fände ich es lohnend, mehr darüber zu erfahren, inwiefern Carl Zeiss aktiv an der Regelung seiner Nachfolge im Unternehmen mitgewirkt hat. Ich kenne zahlreiche Familienunternehmen in Deutschland, die sich schwer tun, eine für die Zukunft tragfähige Eigentümerstruktur zu finden. Bei Carl Zeiss ist das frühzeitig gelungen und vielleicht könnte dies eine Inspirationsquelle für die heutige Generation sein. Auch über Carl Zeiss als Menschen würde ich gern mehr wissen. Es wäre interessant zu erfahren, wie weit die historische Überlieferung auch bei kritischer Betrachtung unsere familienhistorische Tradition stützen kann und ob es vielleicht Aspekte im Leben von Carl Zeiss gibt, die wir bisher vernachlässigt haben.

Dr. Kathrin Siebert (* 1954 in Hamburg) ist die Ururenkelin von Carl Zeiss. Sie studierte Mikrobiologie in Kiel und Miami und promovierte in Göttingen zum Dr. rer. nat. Sie war in verschiedenen Unternehmen der Pharma-Industrie in Forschung und Entwicklung und Qualitätsmanagement tätig. Heute berät sie Firmen bei der Herstellung pharmazeutischer und medizintechnischer Produkte.

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Kapitel 2 Erwachender Pioniergeist: Ausbildung und Gründung der Firma

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Seite 21: Carl Zeiss im 34./35. Lebensjahr, Foto von Carl Schenk.

Jena um 1845, gestochen von H. v. Herzer.

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Von der Provinz in die Welt und zurück: Ausbildung bei Friedrich Körner und Wanderjahre (1834 – 1845) Handel und Gewerbe in Weimar wurden durch den großherzoglichen Hof dominiert; in Jena dagegen bestimmte die Universität über Wohl und Wehe der Stadt. Die cives academici – Studierende, Professoren und andere Universitätsangehörige, die allesamt einer eigenen Gerichtsbarkeit unterstanden – machten zwar weniger als ein Fünftel der städtischen Bevölkerung aus, aber ihre Wirtschaftskraft ging weit darüber hinaus. Während in Weimar die Herstellung von Luxusgütern florierte, besaß Jena eine größere Bandbreite an technischen Gewerken wie Kupferschmieden, Uhrmacher- und Mechanikerwerkstätten, die jedenfalls zum Teil von Aufträgen mit wissenschaftlichem Bezug lebten. Ansonsten bot die Stadt gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein trübes Bild, wie die folgende Reisebeschreibung von Friedrich Nicolai verdeutlicht: „Industrie ist hier wenig anzutreffen, sondern die Bürger erwarten ihre Nahrung nebst einem unbeträchtlichen Ackerbaue, wenigen Meerettigpflanzen, und etwas Viehzucht, blos von dem Aufwande, den die Studenten machen, die ihnen, wie die Raben dem Elias, das Futter bringen sollen.“ ¹

Gustav Zeiss (1811–1875), der zweitälteste Bruder von Carl Zeiss.

Nach einem nur kurze Zeit währenden Aufschwung um 1800, der mit Namen wie

Friedrich Schiller, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Schelling, Johann Gottlieb Fichte oder Friedrich Schlegel verbunden ist, befand sich die Universität im Niedergang. Erst allmählich stieg die Zahl der Studenten wieder. Die Familie des Weimarer „Hofkunstdrechslers“ Friedrich Körner, Hof- und UniAugust Zeiss trug dazu versitätsmechaniker in Jena. ihren bescheidenen Teil bei, denn nacheinander besuchten alle drei Söhne in den Jahren 1828 bis 1838 die thüringische Landesuniversität. Carl Zeiss kam im Frühjahr 1834 nach Jena, um eine Lehre bei dem Hofmechaniker Friedrich Körner (1778 – 1848) zu beginnen. Möglicherweise verbrachten die Gebrüder Zeiss einige Zeit zu dritt in der Stadt an der Saale, bevor Eduard, der älteste von ihnen, noch im Jahr 1834 Rektor der Stadtschule zu Buttstädt wurde. Carl zog im Januar 1835 zu seinem Bruder Gustav in die sogenannte „Körnerei“, eine Studentenunterkunft inmitten von Gasthöfen, die sich im Besitz des Tischlermeisters Körner befand.

An der Jenaer Universität Vom Sommersemester 1835 bis zum Wintersemester 1837 / 38 war Carl Zeiss als Student der Mathematik in Jena eingeschrieben. Laut Abgangszeugnis hörte er Vorlesungen in Algebra und analytischer Geometrie, 23

Experimentalphysik, Trigonometrie und Stereometrie, Anthropologie, Mineralogie und Optik. Neben den für technische Berufe relevanten geometrischen Fächern beschäftigte sich Zeiss demnach auch mit Bereichen der Naturwissenschaft, die auf wissenschaftliche Instrumente angewiesen waren. Hinzu kam sein späteres Arbeitsfeld der Optik, das in Jena von Zeiss’ Lehrmeister Friedrich Körner unterrichtet wurde. Wie bei einem „berufsbegleitenden“ Studium zu erwarten, wählte Zeiss eher überblicksartige Seminare und Vorlesungen aus. Der vergleichsweise geringe Grad

an Spezialisierung war auch typisch für den naturwissenschaftlichen Unterricht insgesamt, der im 19. Jahrhundert zusammen mit Geschichte, Dichtkunst und klassischer Philologie noch unter dem Dach der Philosophischen Fakultät stattfand. Ein Beispiel dafür ist das von Jakob Friedrich Fries (1773 – 1843) angebotene Kolleg über Experimentalphysik, das Zeiss im Wintersemester 1835 / 36 besuchte. Fries war von Haus aus Philosoph, besaß aber auch die Lehrbefugnis für Mathematik und Physik. Die aus heutiger Sicht kaum noch verständliche Besetzung einer physikalischen Lehrveranstaltung besaß auch eine politische Dimension: Fries war wegen seiner Nähe zu radikaldemokratischen Kreisen 1819 zwangsemeritiert worden. Die vergleichsweise liberale Atmosphäre an der Jenaer Universität ermöglichte dem überzeugten Burschenschafter und Antisemiten jedoch ein Comeback. 1824 erhielt Fries die Erlaubnis, wieder Vorlesungen zu halten, allerdings zunächst nur in den „unpolitischen“ naturwissenschaftlichen Fächern. So kam es, dass einer der Vordenker des deutschen Gesinnungsnationalismus Carl Zeiss in die Grundlagen der experimentellen Physik einführte.

Blick in die Jenergasse Nr. 14 von der Weigelstraße aus, wo Carl Zeiss zeitweise wohnte, aufgenommen 1928.

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Den Großteil seiner produktiven Zeit in Jena dürfte Carl Zeiss jedoch in der Werkstatt von Friedrich Körner verbracht haben – immerhin besuchte er nur eine Vorlesung pro Semester. Körners Wohn- und Geschäftshaus, ein geräumiges Gebäude, in dem Zeiss angeblich auch für einige Zeit wohnte, lag in der Grietgasse 10 außerhalb der historischen Stadtmauern. Da Zeiss dort an Glasschmelzungen beteiligt war, muss es in den 1830er Jahren auch einen entspre-

Kollegheft von Carl Zeiss über die Vorlesungen von J. F. Fries über Experimentalphysik. (Wintersemester 1835 / 36).

chenden Ofen auf dem Gelände gegeben haben – wegen der enormen Rauchentwicklung sicher zum Leidwesen der Nachbarn. Doch der Reihe nach: Die Parallelen zwischen Körner und Zeiss, die im Zeitabstand von rund 30 Jahren beide mechanisch-optische Werkstätten in Jena eröffneten, sind interessant genug, um einen genauen Blick auf den Vorläufer und Lehrmeister zu werfen. Wer war also Friedrich Körner, inwiefern konnte er ein Vorbild für Zeiss sein und warum scheiterte Körner als Unternehmer ?

Körner und Zeiss Friedrich Körner wurde am 2. September 1778 als Sohn eines Weimarer Bäckers geboren. Auch er entstammte also dem Handwerkerstand in der

thüringischen Residenz, wobei die Bäcker zu den Spitzenverdienern innerhalb des einfachen Bürgertums gehörten. Ebenso wie Zeiss besuchte Körner das Weimarer Gymnasium. Dort entdeckte er sein Interesse für Mathematik und Mechanik und entschied sich, das väterliche Geschäft nicht zu übernehmen, sondern zu studieren. Der Landesherr, Herzog Carl August (1757 – 1828) von Sachsen-Weimar-Eisenach, unterstützte diesen Entschluss und finanzierte Körner den Besuch der Jenaer Universität. Nach Abschluss seiner Hochschulzeit war Körner als wandernder Geselle wahrscheinlich in verschiedenen mechanischen und optischen Werkstätten tätig. Genaueres ist dazu nicht bekannt. Um 1810 wurde Körner unter Mitwirkung Goethes, der das Amt eines Ministers ohne Geschäftsbereich bekleidete, als Mechaniker am Weimarer Hof angestellt. Zwei Jahre später erhielt er den 25

Er neigte dazu, sich notfalls auch ohne genaue Kenntnis in die Materie zu stürzen. Goethe, eigentlich ein bereitwilliger Förderer Körners, hat dies mit der schnippischen Bemerkung kommentiert: „Wenn der Mann ebenso gut zu hören als zu sprechen verstünde, so wäre er ganz unschätzbar.“ ² Hier unterschied sich Carl Zeiss deutlich von seinem Lehrherren: Er schätzte seine Fähigkeiten sehr realistisch und eher zu vorsichtig ein. Johann Wolfgang Döbereiner. Stich von Carl August Schwerdgeburth nach der Zeichnung von Fritz Ries. Dr. Karl Dieterich von Münchow, nach einem Stich von 1835.

Auftrag, eine „Luftpumpe“ (Vakuumpumpe) für den Chemiker Johann Wolfgang Döbereiner (1780 – 1849) zu konstruieren. Der Apparat wurde am 2. Oktober 1812 in Jena unter Anwesenheit zahlreicher Honoratioren erstmals vorgeführt. Die preußische Regierung bestellte daraufhin zwei ähnliche Pumpen für die Bonner Universität. Körners nächste große Aufgabe bestand darin, den Direktor der neu erbauten Jenaer Sternwarte Carl Dietrich von Münchow (1778 – 1836) bei deren Einrichtung zu unterstützen. Das prestigeträchtigste Vorhaben war der Bau eines Fernrohres mit 122 Millimetern Durchmesser und einer Brennweite von zwei Metern. Ein Instrument mit solchen Dimensionen stellte damals eine gewaltige Herausforderung dar, insbesondere weil es fast unmöglich war, geeignete Gläser zum Schleifen der Linsen aufzutreiben. Hier zeigt sich eine spezifische Eigenart von Körner. 26

Bei dem ambitionierten Fernrohr-Projekt für die Jenaer Sternwarte stieß Körner erstmals deutlich an seine Grenzen. Zwar wurde das Instrument trotz zahlreicher technischer Schwierigkeiten schließlich 1817 fertig, aber für eine Aufstellung in der Sternwarte war es zu groß. Wie sich später herausstellte, zeigten die in den Wirren der Befreiungskriege eingekauften französischen Gläser zudem so viele Fehler, dass der

Wohnhaus von Körner in der Grietgasse 10.

Verzeichnis lieferbarer Instrumente von Friedrich Körner von 1831.

ausladende und überaus kostspielige Apparat allenfalls für museale Zwecke taugte. Noch hatte Körner das Wohlwollen seines Landesherrn nicht eingebüßt. Carl August stattete seinen Hofmechaniker mit einem Jahresgehalt von 300 Talern aus, versetzte ihn nach Jena und sorgte dafür, dass er im Jahr 1818 an der Universität promoviert und habilitiert wurde, so dass er ab sofort als Privatdozent tätig sein konnte. Körner revanchierte sich, indem er regelmäßig Lehrveranstaltungen aus dem Bereich der Optik und Mechanik anbot, wobei er zahlreiche Instrumente praktisch vorführte. Zudem eröffnete er in Jena eine mechanische Werkstatt, deren Lieferprogramm primär auf die Anforderungen der Universität ausgerichtet war. Während Zeiss sich rund drei Jahrzehnte später bereits kurz nach der Firmengründung auf den Bau von Mikroskopen konzen-

trierte und alle anderen Aktivitäten, wie den Handel mit Thermometern oder die Reparatur von Brillen, lediglich als Ergänzung betrieb, ist ein besonderes Kerngeschäft bei Körner nicht auszumachen. Das von Zeiss’ Lehrmeister im Jahr 1824 herausgegebene Verzeichnis mechanischer Arbeiten, welche in meiner Werkstatt angefertigt werden zählt 55 verschiedene Produktkategorien auf, darunter eine große Bandbreite an Mikroskopen und Fernrohren, aber auch Waagen, meteorologische Instrumente, Elektrisiermaschinen und künstliche Augen.³ Dabei hatte die Werkstatt nur eine bescheidene Größe. Voll bezahlte Mitarbeiter konnte sich Körner nicht leisten. Einen Hinweis auf die zeitweise prekäre finanzielle Lage gibt auch das Festgedicht zur Feier des 10.000. Zeiss Mikroskops im September 1886. Wie der Heimatdichter Leo Sachse radebrechend formulierte, war bei Körner der Ort, „wo selbst die Töchter schliffen“. ⁴ 27

verspäteten Lieferung zum Zerwürfnis mit Großherzog Carl August. Der langjährige Gönner tadelte Körners „pflichtwidriges und höchst unanständiges Betragen“, suspendierte ihn von allen Funktionen und setzte auch die Zahlung seines Gehaltes aus. Körner stand vor dem Ruin. Ihm blieb nichts anderes übrig, als für sich und seine Familie um Nachsicht zu bitten. Im Oktober 1824 schrieb er an den Großherzog: „Weder der Eintrag der inländischen noch viel weniger der örtlichen Arbeiten reicht zu unserer Subsistenz aus; die auswärtigen Bestellungen nehmen durch den Druck der Mautsperren täglich ab […]. […] Jetzt müßte ich ein andres Fach ergreifen, welches mehr als die Kunst lohnt, oder ich müßte an einem anderen Orte unterzukommen suchen. Beides ist nicht ausführbar, ohne das unbeträchtliche Vermögen meiner Frau aufs Spiel zu setzen.“ ⁵

Titelblatt eines Aufsatzes von Friedrich Körner, 1824.

Körners Stern sinkt Obwohl Körner seine gesamte Familie für die Werkstatt mobilisierte, war er für die Verschleppung von Aufträgen berüchtigt. Im August 1824 kam es wegen einer wiederholt und entgegen aller Zusicherungen 28

Der in Ungnade gefallene Hofmechaniker konnte bald aufatmen, denn er erhielt nach einer ausführlichen Rüge durch Goethe seine Privilegien zurück. Die Episode belegt jedoch, dass es Körner nicht gelungen war, sich aus der finanziellen Abhängigkeit vom Landesherrn zu befreien. Wenn Zeiss später im Gegensatz zu Körner nicht auf staatliche Alimente angewiesen war, hing dies sicher auch mit der Änderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zusammen. Durch Gründung des Deutschen Zollvereins, zu dessen Mitgliedern auch Sachsen-Weimar-Eisenach gehörte, verschwanden ab 1834 zahlreiche Handelshemmnisse. Währungen, Maße und Gewichte wurden vereinheitlicht. Gleichzeitig stieg die Nachfrage nach wissenschaftlichen Instrumenten im Zuge der Indus-

Fraunhofers) gefertigten weniger als die Hälfte kosteten. Körner wandte sich ausdrücklich an „wenig bemittelte Liebhaber“ ⁶, also preisbewusste Endverbraucher, und verwendete statt der üblichen Holzoder Messingröhren Gehäuse aus Pappe. Auch hier unterschied sich Carl Zeiss deutlich. Er richtete sein Geschäft konsequent auf Qualität und Export aus, wie später zu zeigen sein wird.

Wegweisende Ideen

triellen Revolution und der Evolution der empirischen Naturforschung immer mehr an. All dies trug dazu bei, dass Zeiss ab 1846 wesentlich bessere Ausgangsbedingungen für den Aufbau eines optisch-feinmechanischen Betriebes vorfand als sein Lehrmeister Körner in den 1820er Jahren.

Es wäre jedoch nicht gerecht, Körners Arbeit nur als Negativfolie für die spätere Tätigkeit seines berühmten Schülers anzusehen. Vielmehr hat Körner in mehr als einer Hinsicht die Richtung vorgezeichnet, die der optische Instrumentenbau in Jena im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts nahm. Dies betrifft zum einen die theoretische Grundlegung des Geschäftsfelds. Bereits Körner arbeitete mit Jenaer Mathematikern zusammen, zuerst mit Carl Dietrich von Münchow, dann, nachdem dieser 1826 nach Bonn gezogen war, mit Friedrich Wilhelm Barfuß (1809 – 1854), der den Hofmechaniker bei der Berechnung von Teleskopen und Mikroskopen unterstützte. Besondere Erfolge ergaben sich aus den Kooperationen nicht, aber dieses Schicksal teilte auch Zeiss in den ersten Jahren.

Körner versuchte, durch Preisdumping Marktanteile zu gewinnen: 1826 warb der Weimarer Hofmechaniker in einer Anzeige für Fernrohre aus seiner Werkstatt, die verglichen mit den bei Utzschneider in München (an der ehemaligen Wirkungsstätte

Weitaus intensiver noch waren Körners Bemühungen um die Etablierung einer eigenen Glashütte. Erste Versuche unternahm der Hofmechaniker kurz nach seiner Übersiedlung nach Jena im August 1817. Die Schwierigkeiten, ausländisches Glas für die

Johann Wolfgang von Goethe, Ölgemälde von Joseph Karl Stieler, 1828.

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Instrumente der Sternwarte zu beschaffen und die beeindruckenden Erfolge Joseph von Fraunhofers (1787 – 1826) im bayerischen Benediktbeuern mögen hierzu den Anstoß gegeben haben. Sowohl die Probeschmelzungen als auch die Anschaffung von Messinstrumenten wurden von Großherzog Carl August großzügig unterstützt. Doch Körner blieb in fast tragischer Weise glücklos. Das von ihm erschmolzene Glas schien auf den ersten Blick vielversprechend, aber eine Vielzahl kleinster Unreinheiten und Streifen machte es ungeeignet für Präzisionsoptiken. Dass Körner sich dennoch mit blumigen Versprechungen nicht zurückhalten konnte, wird seinem Ansehen in Regierungskreisen nicht genützt haben. Im Mai 1829 schrieb Goethe in sein Tagebuch: „Körner bringt neue Glasproben und macht wie gewöhnlich viele Worte. Resultat schwebt wie immer in der Luft.“ ⁷ Dennoch war auch Zeiss, als er in den Jahren 1834 bis 1838 seine Lehre bei Körner absolvierte, noch an den Schmelzversuchen beteiligt. Der Meister hatte den Traum, die Glasherstellung selbst in die Hand zu nehmen, also noch nicht aufgegeben. Dabei behielt Körner seine Methoden und Rezepte unbedingt für sich; Zeiss wurde lediglich zu Handlangertätigkeiten herangezogen. Vielleicht war es gerade diese alchemistenhafte Geheimniskrämerei, die Körners Durchbruch verhinderte. Immerhin brauchten 50 Jahre später selbst Abbe und Schott ihre vereinte Expertise in Optik und Chemie, um den Werkstoff Glas besser zu verstehen.

Abschrift des von Körner für Zeiss ausgestellten Zeugnisses, 20. Mai 1838.

Wanderjahre Am 20. Mai 1838, einem Sonntag, entließ Körner seinen Gesellen Zeiss mit einem durchweg positiven Zeugnis in die Wanderschaft. Da die Mechanik jedoch kein zünftiges Handwerk war, gab es für die Walz keine besonderen Regeln. Zeiss war also auf sich gestellt. Das einzige autobiografische Zeugnis über diese Periode im Leben des jungen Mechanikers stammt aus dem Jahr 1846. In seinem Niederlassungsgesuch schrieb Zeiss: „Während des Zeitraums vom J. 1838. bis May. 1845. arbeitete ich zu meiner weiteren Ausbildung in den renommirtesten, physikalischen, optischen, mathe-

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matischen und Maschinen-Werkstätten Stuttgarts, Darmstadts, Wiens und Berlins, wobey ich nicht versäumte alle sich darbietenden Gelegenheiten zu meiner weitern Vervollkommung in den dem Mechaniker nützlichen und nöthigen Hülfswissenschaften, resp. Künsten zu benutzen.“ ⁸ Während seiner Wanderjahre hat Zeiss kaum historische Spuren hinterlassen. Dies ist wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass die Ankunft eines einsamen, damals noch völlig unbekannten Mechanikergesellen in einer Großstadt nicht gerade ein gesellschaftliches Ereignis war. Außerdem lassen die großen Lücken in der Überlieferung der Arbeits- und Studienzeugnisse vermuten, dass sich der wandernde Geselle Zeiss nicht ausschließlich um seine fachliche Ausbildung kümmerte. Angesichts der Tatsache, dass Zeiss als junger Mann in den 20ern damals zum ersten Mal aus der kleinstädtischen Atmosphäre von Weimar und Jena ausbrach, wäre dies verständlich. Für Zeiss’ Aufenthalt in Stuttgart gibt es keine Belege; ebenso wenig für die Darmstädter Zeit. Seitens verschiedener Forscher wurde spekuliert, dass Zeiss in der Hauptstadt des Großherzogtums Hessen in der Fabrik von Johann Hector Roessler (1779 – 1863) tätig war, die vor allem Maschinen zur Münzprägung herstellte. Dies ist plausibel: Roessler war als Geselle in Jena gewesen, bekleidete in Darmstadt den Posten eines Universitätsmechanikers und hatte vor seiner Ernennung zum großherzoglich-hessischen Münzrat im Jahr 1832 auch eine mechanische Werkstätte ähnlich der Körners in Jena betrieben. Gleichwohl ist die Annahme, Zeiss hätte bei Roessler in Darmstadt

Arbeit gefunden, nicht durch schriftliche Belege abgesichert.

Mechaniker in Wien und Berlin Besser sieht es für die beiden letzten Stationen der Gesellenwanderung aus. Für Wien existieren zwei Zeugnisse: das erste vom k. k. Polytechnischen Institut in Wien, der Keimzelle der Wiener Technischen Universität. Dort besuchte Zeiss 1842 / 43 „die sonntäglichen Vorlesungen über populäre Mechanik sehr fleissig“ ⁹ und legte eine Prüfung mit sehr gutem Erfolg ab. Das zweite Zeugnis stammt aus dem Wiener Zweigwerk der Straßburger Brückenwaagenfabrik Rollé & Schwilgué, die seit 1844 unter dem Namen von Heinrich Daniel Schmid geführt wurde (nach zahlreichen Umfirmierungen heute Teil der Siemens AG Österreich). Zeiss erhielt die Bestätigung, dass er

Berlin, Blick in die Poststraße, 1888. Fotografie von F. A. Schwartz.

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Ballonfahrt über Wien, 1847. Aquarell von Jakob Alt.

zwischen April und August 1843 bei dem Wiener Schwermaschinenbauer gearbeitet hatte. Allerdings scheint der junge Mechaniker Wien nicht sofort verlassen zu haben. Seinem Freund K. O. Beck schrieb Zeiss gut ein Jahrzehnt später, dass er erst im Juni 1844 von Österreich aus über seine Heimatstadt Weimar nach Berlin gereist sei. ¹⁰ Dazu passt das Zeugnis, das Zeiss von dem Berliner Mechaniker C. Lüttig erhielt. Danach arbeitete Zeiss zwischen dem 30. September 1844 und dem 6. September 1845 als Gehilfe 32

für die im Berliner Nikolaiviertel, Poststraße 11, gelegene Werkstatt. Da Lüttig im Jahr 1844 auch an der Allgemeinen deutschen Gewerbe-Ausstellung in der preußischen Hauptstadt teilnahm, wissen wir, dass er sich auf technische Zeichengeräte sowie auf Instrumente für die physikalische und mathematische Forschung spezialisiert hatte. ¹¹ Angesichts des weiteren Werdegangs ist es überraschend, wie wenig sich Zeiss während seiner Wan-

derjahre mit Optik beschäftigte. Keines der erhaltenen Zeugnisse verweist auf einen Arbeitgeber, der auf optische Instrumente spezialisiert war, obwohl es doch mit Simon Plößl in Wien oder Friedrich Wilhelm Schiek in Berlin Werkstätten von sehr gutem Ruf entlang der Reiseroute gab. Offenbar galt Zeiss’ Interesse zunächst der Mechanik; das Mikroskop hatte er noch nicht für sich entdeckt. Dazu bedurfte es der Rückkehr nach Jena und der Begegnung mit den aufstrebenden Naturforschern um den Botaniker Matthias Jakob Schleiden (1804 – 1881). Schleiden hatte, während Zeiss in der Welt unterwegs war, bereits den Hofmechaniker Körner überzeugen können, sich dem Bau von Mikroskopen mit größerer Intensität zu widmen. Doch Körner hatte das 60. Lebensjahr längst überschritten; mit dem Forscherehrgeiz Schleidens konnte er kaum mithalten. Vielleicht war es an der Zeit, einen jüngeren Mechaniker zu suchen, der bereit war, die Grenzen des Machbaren bei der Konstruktion optischer Instrumente neu auszuloten.

Abschrift des Zeugnisses von Rollé & Schwilgué in Wien, 24. August 1843.

1 Zit. nach: Hans-Werner Hahn: „Zwischen ständischer und bürgerlicher Gesellschaft“, in: Ereignis Weimar-Jena, Kultur um 1800, hg. von Olaf Breidbach, Klaus Manger, Georg Schmidt. Paderborn 2015, S. 37.

6 Vgl. Moritz von Rohr: „Weiteres zu Friedrich Körners Gedächtnis“, in: Deutsche Optische Wochenschrift Nr. 51 (1927), S. 701.

2 Zit. nach: Herbert Koch: „Neues über den Hofmechanikus Dr. Friedrich Körner“, in: Zeiss-Werkzeitung Nr. 3 1936, S. 63.

8 ZEISS Archiv, BACZ 13893.

3 Moritz von Rohr: „Zu Friedrich Körners Gedächtnis“, in: Deutsche Optische Wochenschrift Nr. 5 (1927), S. 55. 4 Vgl. Horst A. Willam: Carl Zeiss. 1816–1888. München 1967, S. 126. 5 Zit. nach: Koch, Neues, S. 63.

7 Zit. nach: Koch, Neues, S. 63. 9 Zeugniß des k. k. polytechnischen Institutes vom 16. 07. 1843. – Quelle: ZEISS Archiv, BACZ 13893. 10 Brief von Carl Zeiss an K. O. Beck vom 04. 02. 1855. – Quelle: ZEISS Archiv, CZO-S 3. 11 Vgl. Ausführlicher Bericht über die große allgemeine deutsche Gewerbe-Ausstellung in Berlin im Jahre 1844, hg. von Amand. Ferd. Neukrantz. Berlin 1845, S. 285.

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Steiniger Weg zum eigenen Geschäft: Gründung des mechanischen Ateliers in Jena

Elf Jahre beruflicher Ausbildung lagen hinter Carl Zeiss, als er Anfang September 1845 in seine Heimatstadt Weimar zurückkehrte. Was dort geschah, ist einer der zahlreichen blinden Flecken in der Biografie des späteren Firmengründers. Im Jahr 1921 berichtete die Zeiss-Werkzeitung über die Aussage eines gewissen Karl Hindersinn, derzufolge Zeiss nach seiner Berliner Zeit zunächst ein Geschäft als Optiker und Mechaniker in Weimar eröffnen wollte. Das Ersuchen sei jedoch von den Behörden abgelehnt worden. Zeiss, so der Text weiter, „schimpfte auf eine hohe Stadtverwaltung von Weimar, schnürte sein Bündel und wanderte mit dem Schraubstock auf der Schulter schwer bepackt nach Jena.“ Wie aktuelle Nachforschungen seitens des ZEISS Archivs ergaben, erscheint dies höchst unglaubwürdig. Die Episode ist jedoch so einprägsam

Der Holzmarkt in Jena um 1900.

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und vermeintlich typisch für den Gegensatz zwischen der verknöcherten Residenz Weimar und dem liberal geprägten Jena, dass sie sich zur Legende entwickelte, die spätestens ab Ende der 1960er Jahre zum festen Bestand aller Zeiss-Biografien zählte. Faktisch existieren keine Belege für eine Gewerbeanmeldung von Carl Zeiss in Weimar. Auch Gründe für eine postwendende Ablehnung eines solchen Gesuchs durch die Weimarer Behörden lassen sich keine finden, zumal Carl Zeiss ja als Patensohn des Großherzogs und Sohn eines angesehenen Hofhandwerkers kein Niemand war. Schließlich wäre auch der Zeitraum zur Bearbeitung des Vorgangs durch die Behörden sehr kurz gewesen, denn bereits am Michaelistag (29. September) des Jahres 1845 hielt sich Zeiss in Jena auf.

Der Aufbau einer eigenen Existenz in der kleinen Universitätsstadt Jena mag für den 29-jährigen Zeiss, der gerade seine Wanderjahre hinter sich hatte, attraktiver gewesen sein als der Staub des väterlichen Betriebs und die Enge unter dem elterlichen Dach. Hinzu kam, dass Jena mit den dort etablierten Naturwissenschaften für einen feinmechanischen Betrieb ein gutes Umfeld bot.

Studentenstatus als Brücke ins neue Leben Carl Zeiss, der die Stadt an der Saale aus seiner Lehrzeit bei Friedrich Körner kannte, mietete sich am 27. Oktober 1845 im Haus der Eheleute Schoemann am Holzmarkt 16 ein, weniger als 100 Meter Fußweg entfernt von der Neugasse 7, wo er 1846 seine erste Werkstatt eröffnete. Bevor an die Gründung einer Firma überhaupt zu denken war, benötigte Zeiss jedoch eine Aufenthaltsgenehmigung. Der Nachweis eines Wohnsitzes reichte dafür nicht aus. Der einfachste Weg, die behördlichen Voraussetzungen zu erfüllen, bestand in der Immatrikulation an der Universität. Zum zweiten Mal schrieb sich Carl Zeiss also als Student ein. Am 30. Oktober 1845 erhielt er die Erlaubnis, Vorlesungen im Fach mathematische Analysis zu besuchen. ¹ Auf dieser Basis erteilte die Jenaer Polizeibehörde Zeiss am 3. November eine Aufenthaltsgenehmigung für ein Jahr. Während der junge Mechaniker in der neuen und alten Wahlheimat allmählich wieder Wurzeln schlug, wurde er von seiner Schwester Pauline unterstützt. Offenbar führte sie für Carl bis zu dessen Heirat im Jahr 1849 den

Porträt von Matthias Jakob Schleiden um 1845, von J. H. Schramm.

Haushalt. Auch die jüngere Hulda soll dem Bruder dabei geholfen haben. Zeiss stellte den Plan, ein eigenes Atelier zu gründen, zunächst zurück. Warum er dies tat, ist nicht überliefert. Da mit dem Hofmechanikus Friedrich Körner und dem Universitätsmechanikus Johann Friedrich Braunau bereits zwei potenzielle Wettbewerber in Jena etabliert waren, brauchte Zeiss möglicherweise schlagkräftige Argumente für die Notwendigkeit einer weiteren Gründung. Ein hinreichender Grund hätte sich etwa dadurch ergeben können, dass entweder Körner oder Braunau ihre Tätigkeit aufgaben. Insbesondere im Fall von Körner, der 1845 bereits 67 Jahre alt war, stand dies zu erwarten. Zeiss war sich 35

dieser Tatsache bewusst: Jahre später bekannte er in einem Brief an einen Freund aus Wiener Tagen, den inzwischen in Moskau tätigen K. O. Beck, dass Körner damals „alt und stumpf“ gewesen sei und die Bedürfnisse der Jenaer Naturforscher nicht mehr befriedigen konnte. ² Noch arbeitete Körner jedoch, und wenn Zeiss nicht auf die Gelegenheit der Nachfolge warten wollte, musste er zweifelsfrei zeigen, dass Bedarf für eine weitere Werkstatt bestand. Vor diesem Hintergrund war es konsequent, dass er parallel zum Besuch der Vorlesungen begann, in dem seit 1843 bestehenden Physiologischen Institut zu arbeiten. Dieses wurde von dem Botaniker Matthias Jakob Schleiden gemeinsam mit dem Geologen Ernst Erhard Schmid und dem Mediziner Heinrich Haeser betrieben. ³ Unter dem Dach der privaten Forschungseinrichtung wurde vor allem empirisch gearbeitet. Dabei kamen zahlreiche wissenschaftliche Apparate zum Einsatz.

„Da nun bei einer Einrichtung für Produktionen der höheren Mechanik zumal unter gegenwärtigen Zeitverhältnissen gleich von Anfang an auf alle Bedingungen eines umfassenden und in die Ferne sich ausdehnenden Betriebs möglichst Bedacht genommen werden muss, hierfür aber die unmittelbare Verbindung mit den Männern der Wissenschaft die sicherste Gelegenheit bietet, so erscheint mir in

Zeiss reitet den Amtsschimmel Zeiss hatte also bereits Tuchfühlung mit wichtigen potenziellen Kunden aufgenommen, doch noch besaß er keine Konzession, die ihm den Betrieb einer feinmechanischen Werkstatt erlaubte. Am 10. Mai 1846 richtete er ein entsprechendes Gesuch an die Großherzogliche Landesdirektion. Zeiss erläuterte darin seinen Werdegang und verwies auf seine umfassende „Ausbildung in den renommiertesten physikalischen, optischen, mathematischen und Maschinen-Werkstätten Stuttgarts, Darmstadts, Wiens und Berlins“, um anschließend die geplante Gründung zu skizzieren: 36

Erste Seite der Abschrift des Gesuchs von Carl Zeiss an die Landesdirektion vom 10. Mai 1846.

unserem Großherzogtum die Universitätsstadt Jena für die von mir beabsichtigte Einrichtung als der günstigste Ort, und zwar umso mehr, als selbst sowohl Lehrer als Schüler der Universität mechanischer Apparate in stets steigenden Maße fortwährend bedürfen, dieses Bedürfnis aber zur Zeit an hiesigem Ort keineswegs hinlänglich befriedigt werden kann […]. – […] so erlaube ich mir, bevor ich anderweitige Schritte tue, die untertänigste Bitte: Hochpreißliche Landesdirektion wollen geruhen, zur Begründung eines Ateliers und resp. kommerziellen Geschäftes für alle in das Fach der Mechanik einschlagenden Artikel, so wie für alle sonstigen zum physikalischen und chem. Gebrauch bestimmten Gerätschaften im Großherzogtum Weimar und speziell für die Stadt Jena die nötige Konzession mir gnädigst zu gewähren.“ ⁴ Vor allem drei Aspekte fallen ins Auge: Erstens hatte Carl Zeiss zum Zeitpunkt der Gründung offenbar nicht vor, sich auf die Optik-Fertigung zu konzentrieren. Vielmehr wollte er entsprechend seiner Ausbildung als „Mechaniker“ generell wissenschaftliche Apparate anbieten. Zweitens wird die Absicht zur Gründung einer weiteren Werkstatt in Jena damit begründet, dass die vorhandenen Anbieter mit der steigenden Nachfrage seitens der Naturwissenschaftler nicht Schritt halten könnten. Die Entstehung des Unternehmens Carl Zeiss hängt demnach eng mit dem Aufstieg der empirisch forschenden Naturwissenschaften zusammen. Drittens dachte Zeiss bereits vor dem Bezug der ersten Werkstatt an einen „in die Ferne sich ausdehnenden Betrieb“, das heißt an den

Aus Matthias Jakob Schleiden: „Die Pflanze und ihr Leben“, Leipzig 1855, S. 29.

Export seiner Produkte über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus. Um sein Gesuch zu untermauern, legte Zeiss eine Reihe von Zeugnissen sowie Empfehlungsschreiben der Professoren Schleiden, Schmid und Haeser vom Physiologischen Institut bei. Insbesondere Schleiden gab sich alle Mühe, das Gründungsvorhaben zu unterstützen und rechtfertigte dessen Notwendigkeit ebenso wie Zeiss mit der weltweiten Nachfrage nach brauchbaren Instrumenten: „Gehe ich vom gewerblichen Standpunkt aus, so weiß ich allerdings nicht, wie ich für Jena das Auftreten eines dritten Mechanikers rechtfertigen sollte, 37

da ich schon für den ersten und zweiten keinen Wirkungskreis […] aufzufinden wüsste. Eine große Stadt wie Paris, Wien und Berlin mag Gegenstände des täglichen Bedürfnisses oder des zur Gewohnheit gewordenen Luxus in solcher Menge fordern, dass einer oder mehrere Mechaniker von der Anfertigung derselben leben können. […] Aber dieser ganze Standpunkt der Beurteilung ist […] – zumal für unsere Zeit – ein durchaus falscher. […] Der Mechaniker und Optiker steht […] auf derselben Stufe mit dem Künstler. Wer möchte aber einem Landschaftsmaler, einem Historienmaler usw. die Niederlassung an einem Ort verweigern, weil sich an dem Ort selbst kein Bedürfnis für seine Werke vorfinde. Die Welt ist das Publikum des Künstlers und ihm reiht sich in dieser Beziehung der Mechaniker völlig an die Seite. […] Von den zahlreichen Mikroskopen, z. B. welche sich hier in Jena vorfinden, ist außer den kleinen Mikroskopen des Dr. Körner […] keines, welches nicht aus Wiener, Berliner oder Pariser Werkstätten hervorgegangen wäre. Ähnliches ließe sich von unzähligen anderen Gegenständen durchführen […]. Alle so berühmten mechanischen und optischen Werkstätten in Deutschland zusammen genommen können aber dem täglich steigenden Bedürfnis nicht genügen, und die allgemeine Klage aller Naturforscher ist, dass man bei Bestellungen von Instrumenten jahrelang hingehalten wird, ehe man das Gewünschte erhält.“ ⁵

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Abschrift des Empfehlungsschreiben Haesers (9. Mai 1846).

Neben den genannten Universitätslehrern unterstützte auch der Jenaer Stadtrat das Gründungsvorhaben. In einem Schreiben vom 10. Juni 1846 teilte er der Landesdirektion mit, dass man Zeiss das Ortsbürgerrecht verleihen werde, sobald er eine Konzession für seinen Betrieb erhalte. ⁶ Trotz der ausgezeichneten Referenzen hielt die Landesdirektion den Dienstweg strikt ein und übergab den Vorgang zunächst an die Großherzogliche Oberbaubehörde, welche Zeiss wiederum zu einer umfangreichen fachlichen Eignungsprüfung nach Weimar zitierte. Zeiss beantwortete die insgesamt 13 Aufgaben an vier Tagen im August 1846. Die in den Prüfungsfragen vorausgesetzten mathematischen und technischen Kenntnisse lagen deutlich über dem Niveau, das man heute mit der Berufsbezeichnung

„Mechaniker“ assoziieren würde. Und auch Carl Zeiss bewies in seinen Antworten sowohl rechnerisch als auch sprachlich, dass seine Qualifikation viel eher der eines Ingenieurs im heutigen Sinn entsprach.

die Lösung von Aufgaben zu erlassen, die auf einer Seite mir ganze Tage meiner kostbaren Zeit rauben würden, auf der anderen Seite allgemein und unbestimmt gegeben sind, dass ich nicht recht weiß, was ich damit anfangen soll.“ ⁷

Ein bisschen Rebellion: Zeiss sabotiert seine Prüfung

In seiner Antwort auf die nachfolgende, abschließende Aufgabe holte Zeiss gegenüber dem Prüfungsausschuss zu dem folgenden Schlussplädoyer aus:

Zugleich machte Zeiss jedoch keinen Hehl daraus, dass er die Prüfungsfragen als Zumutung und Zeitverschwendung betrachtete. Anstatt die gestellten Aufgaben möglichst effizient zu beantworten, polemisierte er gegen den Prüfungsausschuss. So fehle ihm etwa „die mathematische Schärfe und Genauigkeit […], welche bei Fragen aus der angewandten Mathematik unumgänglich nötig sind“. Die Lösung anderer Aufgaben verweigerte er aufgrund des hohen Zeitaufwands und mit Verweis auf bereits vorliegende Arbeiten. Obendrein machte Zeiss seinem Unmut durch Randbemerkungen Luft, die mitunter länger ausfielen als die Ausführungen zur Sache. Aus der Perspektive des Biografen sind diese Bemerkungen, die Zeiss um ein Haar seine Konzession gekostet hätten, nicht nur unterhaltsam, sie geben auch einen plastischen Eindruck von der aufbrausenden Persönlichkeit des „Startup-Unternehmers“ Zeiss. So erhielten die Prüfer auf ihre Bitte zur „Beschreibung und Zeichnung eines zweckmäßigen achromatischen Erdfernrohrs“ von Zeiss etwa diese Replik: „In Bezug auf die Aufgabe 12 sehe ich mich zu meiner Betrübnis wieder in den Fall gesetzt, ein hohes Kollegium sehr gehorsamst zu ersuchen, mir

Auszug der Prüfungsantworten von Carl Zeiss, August 1846.

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Auszüge der Prüfungsantworten von Carl Zeiss, August 1846. Die letzte Seite wurde teilweise nachträglich maschinenschriftlich rekonstruiert.

„Ich habe geglaubt, dass es einem hohen Kollegium gefallen würde, die mit mir vorzunehmende Prüfung mündlich zu veranstalten. So aber bin ich heute schon den vierten Tag hier oben, um unter den Augen eines hohen Kollegiums die mir von einem hohen Kollegium vorgelegten schriftlichen Fragen und Aufgaben schriftlich zu beantworten, so dass ich inklusive der Her- und Zurückreise eine Woche lang meine Jenaischen Geschäfte und Studien versäumen muss. Meine chemischen und andere Collegia kosten 40

mich für dieses Semester gegen 30 Taler, und es ist keines darunter, in welchen diktiert wird, so dass es mir nicht leicht möglich ist, das Versäumte nachzuholen. Indem ich schließlich ein hohes Kollegium um günstige Rückgabe meiner eingesandten 8 Blätter und Zeichnungen nach Erledigung meiner Angelegenheit ersuche, bin ich eines hohen Kollegiums gehorsamster Carl Zeiss Mechaniker.“ ⁸

Mit einer gutachterlichen Stellungnahme wurde der Weimarer Bauinspektor Carl Georg Kirchner betraut. Dieser erkannte in den Antworten des 30-jährigen Zeiss durchaus die für das Gründungsvorhaben notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten, beanstandete aber die wenig konstruktive Einstellung des Kandidaten und bemerkte zutreffend: „Herr Zeiss sieht […] Schwierigkeiten, wo keine sind.“ ⁹ Die Weimarer Oberbaubehörde stand nun vor einem Dilemma: Zum einen war gegen die Erteilung einer Konzession aus sachlichen Gründen nichts einzuwenden, zum anderen konnte man einen Affront wie den des respektlosen Zeiss nicht einfach auf sich beruhen lassen. Die Behörde tat das Naheliegende: Sie tat nichts.

In den Startlöchern Während die Antwort aus Weimar monatelang ausblieb, wuchs bei Carl Zeiss die Unruhe. Am 21. Oktober schrieb er an den Jenaer Stadtrat und bat diesen, Konzessionsurkunde des Großherzogs zu Sachsen-Weimar-Eisenach für den Mechaniker Carl Zeiss zu Jena „zur Fertigung und zum Verkauf mechanischer und optischer Instrumente, sowie zur Errichtung eines Ateliers für Mechanik in Jena“, 19. November 1846.

wegen des Vorgangs bei der Großherzoglichen Landesdirektion nachzufragen. Dies geschah am 24. Oktober und die Landesdirektion wandte sich ihrerseits am 27. Oktober an die Oberbaubehörde. Erst jetzt holte der zuständige Baurat Heinrich Hess den Vorgang wieder aus der Schublade und antwortete am 7. November 1846 noch immer etwas verschnupft: Erste Werkstätte in der Neugasse 7, Zeichnung aus dem Jahr 1896.

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Ein Foto von der Gartenseite des Hauses Neugasse 7 aus der Zeit zwischen 1870 und 1890 vermittelt einen anderen Eindruck als die Rekonstruktionszeichnung aus dem Jahr 1896, die meist verwendet wird. Vielen Dank an Falk Burkhardt für diesen Hinweis.

„Wir benachrichtigen Sie hierdurch ganz ergebenst, dass der Mechanikus Carl Zeiss zu Jena die in Folge Ihrer geehrten Zuschrift vom 13. / 18. Juni d. J. mit ihm vorgenommene Prüfung hinsichtlich seiner Kenntnisse und Fertigkeiten in der Mechanik genügend bestanden hat. Es wäre jedoch zu wünschen gewesen, dass der [Herr] Zeiss durch das ihm eigen scheinende Selbstvertrauen auf sein Wissen sich nicht hätte verleiten lassen, bei Fassung der schriftlichen Beantwortungen die Grenzen der gebührenden Bescheidenheit zu überschreiten.“ ¹⁰ Nun ging alles reibungslos: Am 19. November 1846 erteilte die Landesdirektion in Weimar Zeiss die Konzession und informierte den Jenaer Stadtrat; am 26. November erhielt Zeiss vom Jenaer Stadtrat eine entsprechende Mitteilung und am 8. Dezember wur42

de Zeiss Bürger von Jena. Inoffiziell scheint er jedoch schon vorab von dem positiven Bescheid erfahren zu haben.

1 Vgl. Koch, Unbekanntes, S. 1. 2 Brief von Carl Zeiss an K. O. Beck vom 04. 02. 1855, ZEISS Archiv, CZO-S 3. 3 Vgl. dazu Joachim Wittig: „Carl Zeiß und die Universität Jena“, in: Carl Zeiss und Ernst Abbe, hg. Rüdiger Stolz, Joachim Wittig. Jena 1993, S. 23. 4 ZEISS Archiv, BAZC 13893, Blatt 71. 5 ZEISS Archiv, BAZC 13893, Blatt 76–77. 6 ZEISS Archiv, BAZC 13893, Blatt 78. 7 ZEISS Archiv, BACZ 11347. 8 ZEISS Archiv, BACZ 11347. 9 ZEISS Archiv, BACZ 11347. 10 ZEISS Archiv, BACZ 11347.

„Sogleich vergriffen“: Zeiss baut seine ersten Mikroskope

Bereits am 17. November 1846, einem Dienstag, zwei Tage vor der offiziellen Erteilung der Konzession, soll Carl Zeiss seine erste Werkstatt in der Neugasse 7 bezogen haben. Dieses Datum – heute offiziell als Geburtsstunde der Carl Zeiss AG angesehen – ist durch zeitgenössische Quellen nicht belegt. Die Eintragung der Firma Carl Zeiss ins Jenaer Handelsregister erfolgte erst am 16. April 1863. ¹ Das ursprüngliche Gründungsdatum wurde im Nachhinein auf Basis des Werkstatt-Notizbuchs von 1871 rekonstruiert, in das der Mechaniker Pape unter dem 17. November eintrug: „Um 9 Uhr aufgehört. 25-jähriges Geschäftsjubi-

läum“. ² Ebenfalls aus dem Jahr 1871 stammt eine Fotografie der damals 19 Personen umfassenden Belegschaft, welche auf dasselbe Datum verweist. Sicher ist, dass Carl Zeiss seine ersten Gehversuche als selbstständiger Unternehmer auf dünnem Eis unternahm: Sein Bruder Eduard, Direktor der Jenaer Bürgerschulen, hatte ihm für die Einrichtung der Werkstatt 100 Taler Startkapital zur Verfügung gestellt. ³

Haus Wagnergasse Jena, zweite Werkstätte von Carl Zeiss, Foto von 1906.

Dieser Betrag, der später durch den Vater zurückerstattet wurde, entspräche bezogen auf das Jahr 2014 etwa 3.000 Euro. ⁴ Für das erste halbe Jahr nach Gründung sind keine nennenswerten geschäftlichen Aktivitäten verzeichnet. Carl Zeiss selbst schrieb rückblickend an seinen Freund Beck, dass er im Februar 1847 noch mit der Einrichtung seines Geschäfts beschäftigt gewesen sei. ⁵ Erst am 5. Mai 1847 erschien in den Privilegirten jenaischen Wochenblättern eine Anzeige, in welcher Carl Zeiss als Anbieter optischer Produkte auftritt: „Brillen, botan. und andere Lupen u. s. w. sind von jetzt an bei mir vorräthig. Auch werde ich in einigen Tagen mit einer Auswahl billiger Thermometer versehen seyn.“ ⁶ Eduard Zeiss, der Bruder von Carl Zeiss.

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„Als ich dort war, hatte er ein Mikroskop fertig, das hat mir sehr gut gefallen. Er will aber weiter keine fertigmachen, bis er erst die Maschine von Berlin hat, welche in diesem Monat ankommen soll.“ ⁷ Bei der erwähnten Maschine handelte es sich um eine von dem Maschinenbauer August Hamann in Berlin konstruierte Drehbank, die für die rationelle Fertigung von Mikroskopen unabdingbar war. Geht man davon aus, dass Zeiss die Maschine zum zugesagten Lieferdatum erhielt, konnte er im Sommer 1847 mit der Produktion von Mikroskopen beginnen. Im September 1847 verkaufte er sein erstes Instrument. Käufer war der aus Hamburg stammende Botaniker Hermann Schacht, der als Schüler von Schleiden zeitweise in Jena tätig gewesen war und später Professor in Bonn wurde.

Schleiden als Impulsgeber

Optiker-Drehbank um 1900.

Optikerläden gab es damals noch nicht. Selbst Brillen wurden häufig noch von reisenden Händlern verkauft. Auch die Werkstatt in der Neugasse schien nicht mehr als ein Provisorium zu sein, denn bereits am 19. Juni 1847 gab Zeiss in der Zeitung bekannt, dass er ab sofort in der Wagnergasse 32 wohne und arbeite. Aus einem Brief des Vaters, der beim Umzug mithalf, erfahren wir vom Prototypen eines Mikroskops: 44

Zeiss’ Entscheidung, sich frühzeitig auf die Fertigung von Mikroskopen zu konzentrieren, anstatt wie viele seiner Mechanikerkollegen einen Gemischtwarenladen zu betreiben, hängt wahrscheinlich mit seinem engen Kontakt zu dem Direktor des Physiologischen Instituts, Matthias Jakob Schleiden, zusammen. Der Mitbegründer der Zelltheorie und Anhänger Charles Darwins galt als Pionier der Mikroskopie. Schleiden hatte den Jenaer Mechaniker Körner Anfang der 1840er Jahre dazu ermutigt, einfache Mikroskope herzustellen. Seitdem hatte Schleiden selbst jedes Mikroskop von Körner geprüft, bevor es ausgeliefert wurde. Im Februar 1847 war Körner jedoch verstorben und nun brauchte der

wohl bekannteste Jenaer Naturwissenschaftler dringend einen neuen Mikroskophersteller für sein Institut und für seine Studenten. Den Stand des Mikroskopbaus hatte Schleiden bereits 1842 in seinen Grundzügen der wissenschaftlichen Botanik ausführlich kommentiert. Nachdem er die besten am Markt verfügbaren Modelle aus dem Inund Ausland unter die Lupe genommen hatte, fiel die Bilanz ernüchternd aus:

dass, so wie bis jetzt die Instrumente angefertigt werden, keines den Anforderungen des Praktikers ganz entspricht […]. Die Haupterfordernisse sind folgende: grobe und feinere Bewegung, beide nur den Körper des Mikroskops treffend; der Tisch unbeweglich mit einer etwa 1/2 Zoll im Durchmesser haltenden Öffnung, unter derselben eine drehbare Scheibe mit Löchern; eine plankonvexe Beleuchtungslinse von etwa 1,5 Zoll Brennweite und ein Planspiegel, der sich auch seitlich schief stellen lässt […].

„Für die Einrichtung des Mikroskops muss ich [dem Tübinger Botaniker] Hugo von Mohl beistimmen,

Ferner sollte man so vernünftig sein, die stärkeren Okulare […] völlig wegzulassen als ganz unbrauchbar

Matthias Jakob Schleiden aus dem Buch: „Studien: Populäre Vorträge“, 1855.

Aquarell Schleidens von seinem Haus in der Neugasse 10 in Jena (Foto G. Uschmann).

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und daher das Instrument ganz unnötig verteuernd. – Jeder mikroskopische Beobachter endlich wird in seinem Kasten eine ganze Anzahl kleiner Apparate, schlechte Zangen, kleine plumpe Messerchen, Deckgläser für Infusorien und dergleichen Quark mehr finden, Dinge, die noch nach vielen Jahren gerade da liegen, wo sie der Verfertiger hinlegte, weil sie völlig nutzlos sind; auch diesen Kram sollte man endlich anfangen aus den Kästen zu entfernen.“ ⁸ Aus diesem kritischen Kommentar scheint Carl Zeiss bei seinen 1847 gebauten ersten Mikroskopen gelernt zu haben. Tatsächlich versuchte Zeiss, die von Schleiden aufgezeigten konstruktiven Verbesserungen weitgehend umzusetzen. Dies zeigt die erste bekannte Werbeanzeige für Zeiss-Mikroskope, welche in zwei Nummern der Augsburger Allgemeinen Zeitung im September und Oktober 1847 erschien: „Einem naturforschenden Publicum erlaubt sich Unterzeichneter ergebenst anzuzeigen, daß bei ihm von jetzt an kleine Mikroskope, sogenannte Dublets, stets vorräthig sind. Bei Construction derselben sind alle neueren Anforderungen der HH. Physiologen berücksichtigt worden. Und zwar ist der Tisch unbeweglich; die Bewegung des Mikroskops wird erst durch Verschiebung, für feinere Einstellungen aber durch eine Schraube mit Feder bewerkstelligt, wodurch für schwache Vergrößerungen eine schnelle und bequeme, für stärkere Vergrößerungen zugleich auch eine sehr feine von allem todten Gang freie Einstellung erzielt ist; dem Beleuchtungsspiegel ist für stärkere Vergrößerungen noch eine Sammellinse beigegeben. Außer den nöthigen Object- und Deckgläsern liegen 46

Präpariermikroskop mit Schwalbenschwanz noch ohne Seriennummer von 1847 / 48, aus dem Besitz von Timo Mappes, fotografiert von Manfred Stich.

drei getrennte Linsen Combinationen bei, durch welche eine 15-, 30-, und 125-fache Linear-Vergrößerung bewirkt wird. Das ganze Instrument ist in ein Kästchen von polirtem Nußbaum eingelegt und so eingerichtet, daß es auf demselben, nicht wie gewöhnlich durch Aufschrauben, sondern vermittelst eines zweckmäßigen Mechanismus schneller und sicher aufgestellt werden kann. Der Preis für das Ganze ist elf Thaler. Gefällige Bestellungen erbittet man franco. Die Zahlung wird ohne andere Bestimmung durch Post-Vorschuß entnommen.“ ⁹ Unter der Anzeige ließ Zeiss noch eine ausführliche Empfehlung Schleidens abdrucken. Dieser lobte neben der technologischen Qualität vor allem die Verfügbarkeit der Mikroskope:

„Die in Vorstehendem angebotenen Mikroskope des Hrn. Zeiss kann ich in jeder Beziehung als preiswürdig und […] sehr zweckmäßig empfehlen. […] Bei der vor kurzem in Jena abgehaltenen Versammlung des norddeutschen Apothekervereins wurde der ganze Vorrath dieser […] Instrumente sogleich vergriffen. Ich füge nun noch hinzu, daß Hr. Zeiss stets so viele Instrumente vorräthig hat, daß jeder eingehende Auftrag mit umgehender Post erledigt werden kann, für den Besteller eine nicht überall zu findende Annehmlichkeit.“ ¹⁰ Zu diesem Zeitpunkt hatte Zeiss genau sechs Mikroskope verkauft. Das erste war wie erwähnt an Hermann Schacht gegangen, vier weitere hatten norddeutsche Apotheker gekauft und das sechste hatte sich Schleiden gesichert. Bis zum Ende des ersten Geschäftsjahrs sollte Zeiss insgesamt 29 Instrumente absetzen – die Mehrzahl davon jenseits der Jenaer Stadtgrenzen.

1 Vgl. Axel Stelzner: „Carl Zeiß in der Jenaer Tagespresse (1847–1888)“, in: Carl Zeiss und Ernst Abbe, hg. Rüdiger Stolz, Joachim Wittig. Jena 1993, S. 108. 2 Vgl. etwa Friedrich Schomerus: Geschichte des Jenaer Zeisswerkes 1846–1946. Stuttgart 1952, S. 10, Anm. 12.

Die erste Seite aus dem Lieferbuch für Mikroskope.

3 Vgl. Erich Zeiss, Hof- und Universitätsmechanikus, S. 27. 4 Vgl. Kaufkraftäquivalente historischer Beträge in deutschen Währungen, abrufbar unter: www.bundesbank.de (Stand: 15. Januar 2015). 5 Brief von Carl Zeiss an K. O. Beck vom 04. 02. 1855, ZEISS Archiv CZO-S 3.

8 Matthias Jakob Schleiden: „Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik (1842)“, in: Wissenschaftsphilosophische Schriften, hg. Ulrich Charpa. Köln 1989, S. 134.

6 Stelzner, Tagespresse, S. 100.

9 Horst Alexander Willam: Carl Zeiss. 1816–1888. (TRADITION, Beiheft 6) München 1967, S. 35.

7 Erich Zeiss, Hof- und Universitätsmechanikus, S. 27–28.

10 Ebd.

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Kapitel 3 Wagen und Gewinnen: Der Aufbau der Firma

48

49

Seite 49: Carl Zeiss mit Hufeisenstativ-Mikroskop im Jahr 1861.

Diplom der 2. Allgemeinen Thüringischen Gewerbeausstellung in Weimar vom 23. Juli 1861 über die Verleihung des 1. Ehrenpreises.

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„Die beßten einfachen Microscope“: Geschäftsaufbau (1847 –1859)

Noch bevor er im September 1847 sein erstes Mikroskop verkaufte, hatte Carl Zeiss begonnen, sich nach einem Mitarbeiter umzusehen. Angesichts seiner schmalen Kapitalbasis konnte Zeiss an potenzielle Bewerber kaum hohe Ansprüche stellen. Die in der Jenaischen Zeitung vom 7. August 1847 erschienene Annonce richtete sich daher an Ungelernte: „Ich suche auf längere Zeit und für wöchentlichen Lohn einen armen ehrlichen Jungen von 14–16 Jahren zu einigen leichten Arbeiten in meinem Geschäft.“ ¹ Zeiss hatte das Glück, bereits mit der ersten Stellenausschreibung einen Mitarbeiter zu gewinnen, der entscheidend zum Aufstieg der Firma beitragen sollte: August Löber (1830 – 1912). Der Handwerkersohn war mit 17 Jahren eigentlich zu alt für die von Zeiss avisier-

Einfaches Präpariermikroskop von Zeiss, gezeichnet von Hermann Schacht, aus seinem Buch: Das Mikroskop, 1855.

te Position, jedoch befand er sich in einer sozialen Notlage, weil im Januar 1847 sein Vater verstorben war. Ob dies ein Grund für die Einstellung war und ob es in der kleinen Stadt Jena überhaupt weitere Bewerber gab, ist nicht überliefert. Sicher ist, dass Löber in 44 Dienstjahren von der Hilfskraft zum Werkmeister und schließlich zum Leiter der Fertigung und zum wichtigsten Ausbilder aufstieg. Moritz von Rohr berichtet, wie Löber in einer späteren Phase seiner Karriere am Umsatz beteiligt und zu einem wohlhabenden Mann wurde.² Dies beweist die außergewöhnliche Wertschätzung, die der Werkmeister im Unternehmen genoss, obwohl er innerhalb der Belegschaft als reizbarer und autoritärer Vorgesetzter galt.³ In der Gedächtnisrede zum 50-jährigen Bestehen der Jenaer Optischen Werkstätte hat Ernst Abbe dem ersten „Zeissianer“ ein Denkmal gesetzt:

August Löber, der erste Lehrling und spätere Werkmeister um 1870.

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August Löber mit Mechanikern und Lehrlingen im Jahr 1864, v.l.n.r.: Carl Müller, Friedrich Pfaffe, Joseph Rudolph, Wilhelm Böber, Heinrich Pape, Fritz Müller und August Löber.

„Wir freuen uns alle, ihn heute noch unter uns zu haben, unseren treuen alten August Löber, den Begründer unserer Schule subtiler Technik, den Senior unserer ganzen Genossenschaft und den Lehrmeister, unmittelbar oder mittelbar, aller unserer tüchtigen Optiker. Für das Vorwärtskommen von Zeiss ist es von nicht geringer Bedeutung gewesen, daß gleich der erste, den er in der Verfolgung seiner Pläne als Mitarbeiter heranziehen konnte, so entgegenkommendes Verständnis für die eigenartigen Aufgaben, so hoch entwickelten Sinn für Präzision und Exaktheit, und so volle Hingabe seiner ganzen Person ihm entgegenbrachte.“

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Waffen für die Bürgerwehr 1848 Trotz dieser glücklichen Hand beim ersten Mitarbeiter schien der wirtschaftliche Erfolg von Zeiss in den Anfangsjahren keineswegs gesichert. Die Märzrevolution 1848 hatte dramatische Auswirkungen auf das Geschäft, wie August Löber selbst berichtet: „Da es nicht immer zu tun gab in der Optik, mußte ich auch in der Mechanik mitschaffen. Im Jahre 1848 (Revolution) war Herr Zeiss mit bei der hiesigen Bürgerwehr; im Geschäfte, wo sonst wenig zu tun war, wurden aus den alten Feuerschlössern Perkussionen gemacht, es gab Hähne zu feilen und wohl

auch zu härten. Außer in diesem Jahre wurden auch noch später in den fünfziger Jahren Handelskrisen und Teuerungen dem Geschäft hinderlich, so daß der zweite Gehilfe entlassen werden mußte und Herr Zeiss und meine Wenigkeit das ganze Personal ausmachten. […] Aus all dem ist wohl zu ersehen, daß die ägyptischen Fleischtöpfe oft schlecht gefüllt waren.⁴ Da muß ich zum Beispiel bemerken, daß Herr Zeiss zum Frühstück für 3 Pfennig Semmel und ein kleines Schnäpschen, Korn, verbrauchte, was ich selbst gesehen und auch wohl mal einen Schluck bekommen habe. […]. So wurde ich nicht selten aus meiner Sonntagsbeschäftigung (Gartenarbeit) geholt wegen einer lumpigen Brille für 1,80 Mark. Wenn ich da nicht an Fettsucht zu leiden hatte, ist es wohl erklärlich.“ ⁵ Es lohnt sich, den etwas eigenwilligen Formulierungen Löbers auf den Grund zu gehen: Wir erfahren zunächst, dass Carl Zeiss während der Revolutionsmonate Mitglied der Jenaer Bürgerwehr war, welche hier wie in den meisten deutschen Städten zeitweise die polizeiliche und militärische Gewalt ausübte. Die Selbstbewaffnung der Bürger war einerseits ein liberaler Akt und ein Zeichen des Widerstands gegenüber den feudalen Autoritäten. Andererseits sollte sie die öffentliche Ordnung und insbesondere das private Eigentum vor kriminellen oder radikalen politischen Übergriffen, etwa durch Gruppen von Studenten, schützen. Die Mitwirkung in der Bürgerwehr zeigt demnach, dass Zeiss in der Revolution auf der Seite der gemäßigten Kräfte stand. Die Aussage, man habe, anstatt optische Geräte zu fertigen, „aus Feuerschlössern Perkussionen gemacht“, bedeutet

Perkussionsschloss, bei dem eine schlagempfindliche Anzündladung den Feuerstein eines Steinschlossgewehrs ersetzt. Foto von Christian Stoye.

einfach, dass in der Zeiss’schen Werkstatt Handfeuerwaffen modernisiert, nämlich von Steinschlössern auf Perkussionsschlösser umgerüstet wurden. Auch die „Hähne“, die Löber erwähnt, bezeichnen einen Teil des Auslösemechanismus von Gewehren. Der Blick in das von Carl Zeiss ab dem März 1848 geführte Haushaltsbuch, das sogenannte „Manual“, belegt diese Aussage. Betrachten wir den Monat Oktober, als Jena im Zuge der Reichsintervention gegen radikal-demokratische Kräfte in Thüringen von sächsischen Truppen besetzt war: Unter den Namen ortsansässiger Bürger finden sich mehrere Arbeiten an Schusswaffen, etwa „Büchsenlauf bronziert“, „Visis blau angelassen“ oder „Zündhütchen aufsetzen“. Auch Zeiss’ langjähriger Förderer Matthias Jakob Schleiden, der als Mitglied des Akademischen Reformvereins zu den progressiven Kräften zählte ⁶, bestellte statt eines weiteren Mikroskops ein „Pulverhorn“. Dennoch kam die optische Fertigung nicht völlig zum 53

In der Sinnkrise Zeiss kämpfte also um sein wirtschaftliches Überleben, was sich auch im Blick auf das stagnierende Kerngeschäft mit Mikroskopen zeigt:

Das Manual von Carl Zeiss. Seite vom Oktober 1848.

Erliegen. So lieferte die Werkstatt auch eine „Staarbrille“, also starke Minusgläser zur Kompensation der Fehlsichtigkeit nach einer Kataraktoperation. Dass Zeiss’ finanzielle Lage alles andere als rosig war, zeigt der Eintrag unter dem 8. Oktober: „vom Apoldaischen Onkel geliehen, empfangen per post 50 [Taler]“. In dieselbe Richtung weist eine Notiz unter „Arbeitslohn“, nach der ein Herr Diedrich, der neben Löber als Gehilfe für Zeiss tätig war, am 7. Oktober seinen „letzten Lohn“ erhielt. Ab diesem Zeitpunkt – bis November 1852 – wird im „Manual“ nur noch Löber als Lohnempfänger genannt. 54

Jahr

Anzahl verkaufter Mikroskope ⁷

1847

23

1848

38

1849

28

1850

22

1851

38

1852

38

Die oben zitierte Aussage von Löber legt nahe, dass selbst zum Einkauf von Nahrungsmitteln das Geld fehlte. Carl Zeiss befand sich damit in einer misslichen Lage, denn gerade hatte er begonnen, eine Familie zu gründen. Genauer gesagt hatte der junge Mechaniker offenbar über die Frau seines älteren Bruders Kontakt zu der Pastorenfamilie Schatter im thüringischen Neunhofen gefunden. Am 29. Mai 1849 heiratete Zeiss die Tochter des Pfarrers, Bertha Schatter. Zeiss vertraute Jahre später seinem Freund K. O. Beck an, dass er damals eine glückliche Wahl getroffen habe, auch wenn die Braut praktisch kein Vermögen besaß. ⁸ Das Eheglück währte nur kurz, denn schon einen Tag nach der Geburt des ersten Sohnes Roderich am 23. Februar 1850 verstarb Bertha. Sie wurde nur 22 Jahre alt. Ob der Tod im Wochenbett hätte verhindert werden können, wenn der Arzt, der beim Einsetzen der Wehen von einem Maskenball herbeigeeilt war, nüchtern gewesen wäre, bleibt im Dunkeln.⁹ In dieser Situation konnte sich Zeiss erneut auf die Unterstützung der Familie verlassen. Der als Halbwaise

geborene Sohn Roderich wurde zunächst von den Schwiegereltern in Neunhofen aufgenommen. Therese Schatter pflegte ihren neu geborenen Enkel bis zu ihrem Tod im Februar 1851, fast genau ein Jahr nach der Tochter. Aus dem Nachlass erhielt Roderich eine Geldzahlung, die zur Finanzierung seiner Erziehung bestimmt war. Nachdem auch die Schwiegermutter verstorben war, nahm sich Zeiss' mittlere Schwester Hulda Roderichs an. Auch sie scheint oft in Neunhofen gewesen zu sein. So entsteht der Eindruck, dass Carl Zeiss von den Pflichten eines alleinerziehenden Vaters vollkommen entlastet wurde und sich damit auf sein Jenaer Geschäft konzentrieren konnte. Dennoch ging das berufliche und private Unglück an dem jungen Unternehmer nicht spurlos vorbei. Der Gedanke, der Misere durch einen Neubeginn zu entfliehen, lag nahe. Am 18. August schrieb Zeiss an die Universität Greifswald und bot an, seinen Wohnsitz in die Stadt an der Ostsee zu verlegen, wenn die für Naturwissenschaften zuständige Philosophische Fakultät ihm dort die Aufsicht über die physikalischen Apparate übertrage und bereit sei, ihm ein jährliches

Der Eintrag über die Vermählung von Carl Zeiss und Bertha Schatter 1849 aus dem Trauregister Neunhofen.

Festgehalt für die Dienste als Mechaniker zu zahlen.¹⁰ Der Zeitpunkt schien günstig, denn in Greifswald gab es keinen qualifizierten Dienstleister mehr, seit der zuvor dort tätige Mechaniker Friedrich Adolph Nobert nach Barth umgezogen war. Erst im Oktober 1850 erhielt Zeiss Friedrich Adolph Nobert eine Antwort – und eine enttäuschende dazu. Der (1806–1881), Mechaniker und Optiker. Ökonom Eduard Baumstark, damals Dekan der Philosophischen Fakultät, teilte Zeiss mit, dass über die Sache nur entschieden werden könne, wenn Zeiss vorab mehrere komplexe Probearbeiten einreiche, freilich ohne Erstattung der Kosten.¹¹ Selbst in dem Fall, dass er die gewünschten Instrumente zur vollen Zufriedenheit ausführe, sei nicht sicher, dass er als Universitätsmechaniker angestellt werde, denn für eine solche Position gebe es bisher kein Budget. Eine Rückantwort von Carl Zeiss ist nicht erhalten. Angesichts seiner wirtschaftlichen Situation wird er wohl keine Probestücke angefertigt haben.¹² Nicht nur aus biografischer Perspektive, auch für die Geschichte der Firma ZEISS besitzt diese Episode einige Bedeutung. Immerhin hätte es bei einer Verlegung der Werkstatt ins nördliche Preußen die spätere Kooperation von Zeiss und Abbe höchstwahrscheinlich nicht gegeben und damit wohl auch nicht den steilen Aufstieg des Unternehmens. 55

Kein Umzug, aber ein Neuanfang Über Carl Zeiss als Privatmensch weiß man nur wenig. Im Jahr 1853 heiratete Zeiss erneut – und zwar Ottilie Trinkler (1819 – 1897), eine Pfarrerstochter aus der ostthüringischen Stadt Triptis, die mit Zeiss’ erster Braut weitläufig verwandt war.¹³ Dass Ottilie in der neunten Generation eine Nachfahrin von Martin Luther war, hat Carl Zeiss nie besonders herausgestellt. Ganz anders die spätere biografische Forschung, die in dieser fernen verwandtschaftlichen Beziehung einen Hinweis auf die protestantische Geisteshaltung des Firmengründers erkannte.¹⁴ Carl Zeiss selbst hat seine beiden Ehefrauen später (wohlwollend) als „geistliche Landpomeranzen“¹⁵ bezeichnet. Dies ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil auch die Stadt Jena – ohne Eisenbahnanschluss oder nennenswerte Industrie – keineswegs eine Metropole war. Die Verbindung zwischen Zeiss und der Familie seiner ersten Ehefrau blieb bestehen, nicht nur wegen der vorü-

Otto Zeiss, der zweite Sohn von Carl Zeiss, um 1869. Foto aus dem Besitz von Kathrin Siebert. Sidonie, die jüngste Tochter von Carl und Ottilie Zeiss.

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bergehenden Aufnahme des Sohnes Roderich: 1855 heiratete Zeiss' Schwester Pauline den verwitweten Carl Gustav Schatter. Zeiss erster Schwiegervater wurde damit zugleich sein Schwager. Aus der Ehe mit Ottilie gingen drei Kinder hervor: Karl Otto Ottilie Zeiss, geb. Trinkler, (1854 – 1925), Hedwig zweite Ehefrau von Carl Zeiss. (1856 – 1935) und Sidonie (1861 – 1920). Die Beziehung der Stiefmutter zu Zeiss’ erstem Sohn Roderich (1850 – 1919) wurde jedoch nie herzlich. Dieser wurde bald auf das Gymnasium nach Eisenach geschickt.¹⁶ Ungefähr im selben Zeitraum, als Zeiss seine zweite Frau kennenlernte und schließlich heiratete, begann er auch, sich ernsthaft mit der strategischen Entwicklung seines Geschäfts zu befassen. Zeiss litt nicht nur unter einer vorübergehenden Absatzkrise. Er fühlte, dass die Mikroskopherstellung und damit auch sein Unternehmen in einer Sackgasse steckten. Als er im Jahr 1855 einen ausführlichen Brief an seinen Freund K. O. Beck in Moskau schrieb, blickte er ziemlich nüchtern auf die Jahre seit Gründung der Firma zurück: „Noch ehe ich mit meinen Einrichtungen zu Ende war, starb Körner [im] Febr[uar 18]47. So habe ich denn hauptsächlich seit jener Zeit solche kleine „einfache“ Mikroskope gefertigt. Da ich sie etwas billiger fertigte als Körner und viel billiger als Plößl [ = Simon

Erste und letzte Seite aus dem Schreiben an den Freund K. O. Beck (wahrscheinlich Karl Otto) von 1855.

Plössl in Wien], […] so machte ich immer viel auswärts, zumal den Leuten meine Stative gefielen und ich seit 1852, auch was die Linsen anlangt, nach Schleiden’s, von Mohl’s etc. Bestätigung […] die beßten einfachen Mikroskope (Doublettes) fertige. In jetzt ist 2/3 meiner Einnahmen auswärtiges Geschäft, zum Glück für mich; denn die hießigen Bedürfnisse für die 3 ½ hundert Studenten könnte eine Werkstätte nebenbei befriedigen. Wir sind aber 3 Geschäfte hier, weshalb Du dir denken kannst, daß mir die Zeitverhältnisse der letzten Jahre oft störend waren. Etwas Löthrohr-Geräthschaften, einige billige Wagen etc. und optische Handelsartikel sind es noch, die mir neben einigen wenigen Extra-Bestellungen mein jährliches Brot schaffen. Da ich aber in der Vorstadt wohne, ist der Brillen-etc.-Handel nicht sehr stark, und habe ich aber wie gesagt mein Streben fast allein dem mikroskopischen Fach zugewendet.

Gleichwohl wirst Du Dich wundern, wenn ich Dir sage, daß ich bis heute noch nicht eine Flintglaslinse zu einem zusammengesetzten Mikroskop habe schleifen lassen. Ich kann nicht sagen, daß ich nicht bemüht wäre, weiter zu streben, habe auch viel in anderen Gattungen von Mikroskopen experimentirt, glaube aber, daß im gewöhnlichen Compositum es nicht viel weiter gebracht werden kann, und habe etwas Abscheu vor dem ewigen bei uns Optikern gebräuchlichen Probiren; denn diese Leute wie Oberhäuser probiren aus hunderten von Linsen ein gutes Objectiv zusammen.“ Es gab demnach tiefere Gründe für die Stagnation des Absatzes: Die lokale Nachfrage nach Brillen, einfachen Mikroskopen und feinmechanischen Werkzeugen reichte bei weitem nicht aus, um Zeiss und seine wachsende Familie zu ernähren. Bereits damals 57

Werbeblatt: Kleine Mikroskope fürs Haus zur Untersuchung des Fleisches, der Leinwand etc. von Carl Zeiss Jena, ca. 1865.

erzielte Zeiss zwei Drittel seiner Umsätze durch Exporte. Angesichts der deutschen Kleinstaaterei lagen die Landesgrenzen zum Teil aber auch schon an der Stadtgrenze Jenas. Daraus folgte fast zwingend auch die Spezialisierung auf technologisch anspruchsvolle Produkte, die für die meisten auswärtigen Kunden lokal nicht verfügbar waren. Zeiss hatte sich entschieden, vorwiegend Mikroskope zu bauen. Im Bereich der „einfachen Mikroskope“, die heute eher wie besonders starke Lupen mit Stativ erscheinen, hatte sich Zeiss inzwischen einen Namen gemacht. Jedoch war bereits damals klar, dass die Zukunft den aus Objektiv und Okular „zusammengesetzten Mikroskopen“ gehörte. Ein bekannter Hersteller solcher Apparate war der aus Ansbach stammende Georg Oberhäuser (1798 – 1868), den Zeiss im Brief erwähnt. Zusammen mit seinem Mitarbeiter und späteren Nachfolger Friedrich Edmund Hartnack (1826 – 1891) betrieb Ober58

häuser in Paris eine der wichtigsten optischen Werkstätten Europas. Obwohl die zusammengesetzten Mikroskope von Oberhäuser zu den anerkannt besten gehörten, basierten sie ebenso wie alle Konkurrenzprodukte auf einem höchst unvollkommenen Ansatz.

Wissenschaft statt Kunsthandwerk Keiner der damals führenden Hersteller verstand genau, nach welchen mathematisch-physikalischen Prinzipien die verschiedenen Linsensysteme im Mikroskop zusammenwirkten. Da zudem die Qualität der verfügbaren optischen Gläser stark schwankte, wurden einfach so lange verschiedene Linsenpaare kombiniert (= „Pröbeln“), bis ein brauchbares optisches System herauskam. Der Bau von zusammengesetzten Mikroskopen glich damit einem Kunsthand-

werk und hing stark vom individuellen Talent und der Erfahrung des ausführenden Optikers ab. Schon darin lag ein Grund, warum bisher noch keiner der führenden Anbieter auf die Idee gekommen war, den allgegenwärtigen Lieferengpässen bei Mikroskopen durch den Aufbau einer fabrikmäßigen Fertigung zu begegnen. Carl Zeiss, der auf dem Markt für Mikroskope ein Newcomer war, konnte es sich jedoch nicht leisten, entsprechende Erfahrungswerte über Jahrzehnte hinweg aufzubauen, um dann irgendwann zur Konkurrenz aufzuschließen. Außerdem entsprach das Prinzip des „Pröbelns“ ohne sicheres Ergebnis nicht seinem Naturell, wie nicht zuletzt der oben zitierte Brief an K. O. Beck zeigt. Daher entschied er sich, einen Weg einzuschlagen, den man anachronistisch mit „Überholen ohne Einzuholen“ umschreiben könnte. Die Idee: Wenn es gelänge, ein exaktes mathematisches Modell von der Funktionsweise eines Mikroskops zu entwickeln und zudem Linsen mit genau definierten optischen Parametern in konstanter Qualität herzustellen, dann würde aus der Kunst des Mikroskopbaus eine wissenschaftsbasierte Fertigung. Der ökonomische Nutzen wäre kaum zu überschätzen: Ein Unternehmen, das auf wissenschaftlicher Grundlage arbeitete, konnte massenhaft leistungsfähige Optiken in konstanter Qualität bei deutlich reduziertem Ausschuss liefern. Das Konzept war nicht neu. Joseph von Fraunhofer hatte schon Jahrzehnte zuvor die Grundlagen für die Entstehung einer modernen optischen Industrie geschaffen. Ab 1806 hatte sich Fraunhofer unter dem

Dach des Münchener Mathematisch-Feinmechanischen Instituts zunächst mit der Herstellung besserer optischer Gläser befasst. Durch seine Studien zu Spektrallinien und zur Beugung von Licht gelang es Fraunhofer, die Eigenschaften optischer Linsen mit bisher unerreichter Genauigkeit zu messen – eine Voraussetzung für die industrielle Fertigung von Präzisionsoptiken. Auch erreichte Fraunhofer sensationelle Fortschritte bei der Konstruktion von Fernrohren, wobei er anders als seine Zeitgenossen auf exakte mathematische Berechnungen setzte,

Großes Mikroskop von Oberhäuser, gezeichnet von Hermann Schacht, aus seinem Buch: Das Mikroskop, 1855.

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Joseph von Fraunhofer (2. v. l .) demonstriert Joseph von Utzschneider, Georg Reichenbach und Georg Merz das Spektrometer, Gemälde von Richard Wimmer, 1900.

anstatt sich auf Erfahrungswerte zu verlassen. Was damit machbar war, zeigten die beiden baugleichen Teleskope für die Sternwarten in Tartu (Estland) und Berlin, die in den Jahren 1824 und 1829 in Betrieb gingen. Beide stellten für die Astronomie der damaligen Zeit die Spitze des technologisch Machbaren dar – und sie ermöglichten revolutionäre Entdeckungen wie die des Planeten Neptun im Jahr 1846. Im Prinzip hatte Fraunhofer schon Mitte der 1820er Jahre bei den Fernrohren das geschafft, was sich Carl Zeiss rund 30 Jahre später für die Mikroskope wünschte. Warum konnte Zeiss diese Basis nicht für die Jenaer Mikroskopfertigung nutzen ? Immerhin war Fraunhofer auch als Hersteller sehr leistungsfähiger achromatischer Mikroskopobjektive hervorgetreten.¹⁷ 60

Fraunhofers verschüttetes Erbe Allerdings war es für Zeiss außerordentlich schwierig und mitunter gar nicht möglich, an Fraunhofers Erkenntnisse anzuknüpfen. Der Pionier der wissenschaftlichen Optikfertigung hatte sein Berufsleben in einem Umfeld verbracht, in dem Betriebsgeheimnisse sorgsam gehütet wurden. Fraunhofers Geschäftspartner waren sogar kurzsichtig genug, wichtige Unterlagen nach dem plötzlichen Tod des genialen Forschers im Jahr 1826 zu vernichten. Damit war ein Gutteil des praktischen Know-hows für die nachfolgende Generation verloren. Ein Beispiel dafür ist das Verfahren der Linsenprüfung mittels eines Probeglases. Diese Methode wurde durch August Löber, Zeiss’ Mitarbeiter der

ersten Stunde, im Jahr 1861 „entdeckt“, obwohl schon Fraunhofer sie eingesetzt hatte.¹⁸ Was die theoretischen Arbeiten Fraunhofers betrifft, so darf bezweifelt werden, ob Carl Zeiss diese kannte. Fraunhofers Ruhm war seinerzeit geringer als heute und Zeiss war kein systematisch ausgebildeter Naturforscher, sondern Praktiker mit einigen theoretischen Kenntnissen. Zeiss konnte lediglich ahnen, dass in seinem Arbeitsgebiet nicht näher bekannte mathematisch-physikalische Hindernisse schlummerten. Insofern spricht es für die visionäre Kraft des Jenaer Unternehmers, dass er in einer wirtschaftlich schwierigen Situation zu riskanten Investitionen in die Grundlagenforschung bereit war.

Versuch einer wissenschaftlichen Grundlegung Zeiss suchte einen qualifizierten Wissenschaftler als Partner und fand diesen zunächst in dem Mathematiker Friedrich Wilhelm Barfuß ¹⁹ (1809 – 1854). Die Zusammenarbeit begann spätestens 1852 und das Verhältnis scheint recht eng gewesen zu sein, denn Zeiss bezeichnete Barfuß nach dessen Tod als seinen „Freund“.²⁰ Dafür waren sicher auch biografische Parallelen ausschlaggebend: Beide Männer entstammten Handwerkerfamilien aus dem Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach (Barfuß: Strumpfwirker; Zeiss: Drechsler). Beide hatten das Gymnasium in Weimar besucht; allerdings dürften sie sich aufgrund des Altersunterschieds von siebeneinhalb Jahren dort kaum kennengelernt haben. Es ist daher wahrscheinlich, dass sie erst später in Kontakt kamen.²¹ Der 1838 in Jena promovierte Barfuß war damals Privatlehrer in Zeiss’

Titelseite eines Lehrbuches von Friedrich Wilhelm Barfuß, 1839.

Heimatstadt Weimar und arbeitete zudem freiberuflich für verschiedene Auftraggeber. Unter anderem hatte er Zeiss’ Lehrer, den Mechaniker Friedrich Körner, bei der Berechnung optischer Systeme unterstützt. Eine Kooperation mit Barfuß erschien aussichtsreich, weil dieser bereits 1846 eine kurze Abhandlung über zusammengesetzte Mikroskope veröffentlicht hatte. Darin beschrieb er die Korrektur der sphärischen Aberration, eines bei einfachen Mikroskopen zwingend auftretenden Schärfefehlers, durch die Aufteilung des optischen Systems in Objektiv und 61

Okular, wobei er versicherte, „dass die Sache durch sorgsame Rechnungen unter Berücksichtigung aller Umstände geprüft worden ist“.²² Dies war allerdings zu viel versprochen. Als Barfuß 1854 unerwartet verstarb, war Zeiss von dem erhofften Durchbruch bei zusammengesetzten Mikroskopen noch weit entfernt. Trotzdem wäre es falsch, Barfuß als Stümper hinzustellen, wie dies mehrere Zeiss-Biografen in Anlehnung an das vernichtende Urteil Ernst Abbes getan haben.²³ Tatsächlich brachte die Kooperation Barfuß – Zeiss durchaus verwertbare Ergebnisse hervor, etwa die auf rechnerischer Grundlage konstruierten Tripletts, also aus drei Linsen aufgebaute einfache Mikroskope, welche mindestens bis 1868 verkauft wurden. Doch ganz gleich wie gut es Zeiss gelang, die von ihm seit 1847 angebotenen Optiken zu verfeinern: Wenn er sich nicht damit begnügen wollte, ein schlichter Optiker zu bleiben, der Instrumente für die studentische Ausbildung und für einfache Präparieraufgaben lieferte, konnte er unmöglich ignorieren, dass das Prinzip des einfachen Mikroskops längst an seine Grenzen gestoßen war. Zeiss’ Mentor Matthias Jakob Schleiden hatte dies schon im Jahr 1842 festgestellt: „Noch wäre hier die Frage zu beantworten, ob zu wissenschaftlichen Untersuchungen das einfache Mikroskop oder das zusammengesetzte vorteilhafter sei. Ich muß mich unbedingt für das letztere entscheiden […]. […] Allein wenn wir die Beobachtungen der letzten 20 Jahre vergleichen, müssen wir doch zugeben, daß mit Ausnahme von Robert Browns Entdeckungen […] alle die Wissenschaft 62

fördernden Beobachtungen ausschließlich mit dem zusammengesetzten Mikroskop gemacht sind.“²⁴

Erstes zusammengesetztes Mikroskop Die entscheidenden Weichen für die Weiterentwicklung des Mikroskopbaus waren durch die Wissenschaft also bereits gestellt. Zeiss musste endlich darauf reagieren und sich den ungleich komplexeren zusammengesetzten Mikroskopen zuwenden. 1857 verkaufte er erstmals ein solches Instrument. Dabei nutzte er die aus zwei Linsen bestehende Optik eines einfachen Mikroskops als Objektiv und kombinierte dieses mit einem Okular, wobei beide Elemente durch ein Rohr verbunden waren. Abnehmer des Prototyps war der Botaniker Hermann Schacht, der zehn Jahre zuvor bereits das erste einfache Zeiss Mikroskop erworben hatte. Ab 1858 war dieses System offiziell Teil des Verkaufsprogramms. In der Preisliste heißt es dazu:

Exemplar eines der frühsten zusammengesetzten Mikroskopes von 1862, aus dem Besitz von Timo Mappes, fotografiert von Manfred Stich.

Seite aus dem Verzeichnis der mikroskopischen Apparate von Carl Zeiss in Jena, 1858.

Im selben Jahr veröffentlichte Zeiss in den Annalen der Physik und Chemie einen kurzen Aufsatz²⁵ und beschrieb dort ein Phänomen, das er bei seinen Versuchen mit den verschiedensten Mikroskopen beobachtet hatte: Bei schiefer Beleuchtung des Objektes verschob sich das Bild seitwärts, sobald der Tubus auf- und abwärts bewegt wurde. Zeiss hatte keinen Schimmer, wodurch der Effekt hervorgerufen wurde. Er konnte aber ausschließen, dass eine mangelhafte Mechanik die Ursache war. Auch wenn es sich hier nur um eine Episode handelt, zeigt sie doch deutlich, in welcher Lage sich Zeiss rund 12 Jahre nach Gründung seiner Firma befand: Obwohl an den Konstruktionen mechanisch und qualitativ kaum etwas zu verbessern war, traten Phänomene auf, die der Praktiker Zeiss nur diagnostizieren, aber nicht erklären konnte. Der Versuch, wissenschaftlichen Sachverstand für die weitere Entwicklungsarbeit einzukaufen, war im Fall von Barfuß zwar nur mäßig erfolgreich gewesen, aber die Grundidee war ebenso richtig wie überlebensnotwendig.

„Kleiner Tubus, bestehend in einem Rohr mit einem Kollektiv- und zwei Okulargläsern, mit einer Vorrichtung, um das Rohr mit den Dubletts und Stativen Nr. 1 bis 5 zu verbinden und, die Dubletts als Objektiv benutzend, zwei stärkere Vergrößerungen nach dem Prinzip des zusammengesetzten Mikroskops zu erzielen. Die 120-fache Vergrößerung des einfachen Mikroskops gibt auf diese Weise eine 300- und eine 600-fache Vergrößerung. Das Ganze, in ein Etui von hartem Holz eingelegt, inklusive eines Hohlspiegels, welcher, um eine stärkere Beleuchtung zu erreichen, zum Aufstecken auf den Planspiegel des Stativs gefertigt werden muß.“

Immerhin waren die wirtschaftlichen Probleme von Zeiss’ Werkstatt keineswegs gelöst. Schleiden lobte die neuen Instrumente, doch der Absatz – zwischen 1857 und 1859 wurden nur 17 zusammengesetzte Mikroskope gebaut – war kaum der Rede wert. Im Juni 1859 sank die Zahl der unter dem Dach von Zeiss in Lohn stehenden Mitarbeiter von drei auf zwei, wie der Blick in das vom Inhaber geführte „Manual“ zeigt. Zeiss stand am Scheideweg. Wenn er sein Unternehmen aus der Krise führen wollte, musste er die Flucht nach vorn antreten und sich an die Spitze der wissenschaftlich-technischen Entwicklung setzen, anstatt nur auf sie zu reagieren. 63

„Teil unserer DNA“ – Carl Zeiss und ZEISS im Jahr 2016: Im Gespräch mit Prof. Dr. Michael Kaschke, Vorsitzender des Vorstands der Carl Zeiss AG

Was verbinden Sie mit der Person Carl Zeiss ? Für mich steht unser Unternehmensgründer für bestimmte Tugenden, die uns auch heute noch ausmachen: hohes Qualitätsbewusstsein, eine gesunde Experimentierfreudigkeit, die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, und schließlich die Beharrlichkeit, die man braucht, um einen vielversprechenden technologischen Pfad von der Idee bis zum anwendungsfähigen Produkt zu verfolgen. Mitte des 19. Jahrhunderts glaubten viele Experten nicht daran, dass man jemals Mikroskope ohne langwieriges „Pröbeln“ allein auf Grundlage wissenschaftlicher Berechnungen herstellen könne. Carl Zeiss blieb 64

jedoch hartnäckig und legte damit das Fundament für den späteren Erfolg seines Unternehmens. Diesen Glauben daran, dass scheinbar absolute Grenzen überwindbar sind, brauchen wir auch heute. Als ich 1988 in Jena promoviert wurde, galt die von Ernst Abbe definierte Auflösungsgrenze optischer Systeme als eine Art unüberwindliches Naturgesetz. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat nicht zuletzt ZEISS diese Grenze mit dem Bau spezieller Fluoreszenzmikroskope hinter sich gelassen. Wenn wir also etwas von Carl Zeiss lernen können, dann ist es zuerst die Einsicht, dass sich die Grenzen des Machbaren in unserer Branche durch konsequente Entwicklungsanstrengungen immer wieder hinausschieben lassen.

War die wissenschaftliche Grundlegung des Mikroskopbaus nicht viel eher ein Verdienst Ernst Abbes ? – Könnte man sagen, dass Carl Zeiss einfach das Glück hatte, als Unternehmer von einem genialen Wissenschaftler als Partner zu profitieren ? Das Verhältnis zwischen Abbe und Zeiss wird oft auf den Gegensatz „Wissenschaftler versus Unternehmer“ verkürzt. Ich finde es wichtig, sich auch die ökonomischen Dimensionen im Denken Abbes und umgekehrt das ausgeprägte wissenschaftliche Grundverständnis bei Carl Zeiss bewusst zu machen. Zeiss’ Briefwechsel mit zahlreichen renommierten Naturforschern zeigt, dass es ihn sehr interessiert hat, wofür die von ihm gebauten Instrumente eingesetzt wurden. Diese Fähigkeit der Interaktion mit der wissenschaftlichen Welt war wiederum ausschlaggebend für den wirtschaftlichen Erfolg – und sie ist es bis heute. Ich komme gerade aus Shanghai zurück, wo wir vor einigen Tagen unseren neuen Hauptsitz in China eröffnet haben. Es war bemerkenswert, wie viele prominente Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten Disziplinen an der Veranstaltung teilgenommen haben. Vielleicht erscheint Ihnen dies etwas weit hergeholt, aber wenn die wissenschaftliche Welt uns als Firma noch heute weltweit ein großes Interesse entgegenbringt, so ist dies ein Erbe von Carl Zeiss und Ernst Abbe. Die Symbiose von Wirtschaft und Wissenschaft ist Teil unserer DNA. Carl Zeiss hat seine ersten Mikroskope in direkter Abstimmung mit dem Jenaer Botaniker Matthias Jakob Schleiden entwickelt, der auch zu den ersten Kunden von ZEISS gehörte …

Ein Maximum an Kundenorientierung war in der Gründungsphase der Firma sicher hilfreich, aber Carl Zeiss musste bald erkennen, dass diese Ausrichtung auch in eine Sackgasse führen konnte. Ende der 1860er Jahre trat genau dies ein: Zeiss verwaltete aufgrund des hohen Individualisierungsgrades seiner Produkte ein komplexes Portfolio mit vielen Nischenprodukten, ohne dass auch nur eines seiner Mikroskope an die besten Konkurrenzprodukte herangereicht hätte. Und das, obwohl er die Verbesserungsvorschläge seiner Kunden stets ernst genommen hatte. Die Herausforderung bestand nun darin, den Schritt von der Reaktion auf den Markt hin zur aktiven Gestaltung zu schaffen. Zeiss stellte den Mikroskopbau dann mit Hilfe von Abbe auf eine wissenschaftliche Grundlage. Er schuf damit die Basis für eine Produktlinie, welche die Anforderungen seiner Kunden besser erfüllte, als diese es selbst für möglich hielten. Er verstand also die Kunden besser als diese sich selbst ? Er hat die Ambitionen seiner Kunden erkannt und dann die Technologie entwickelt, welche diesen Ambitionen am besten entsprach. Für mich ist genau das echte Kundenorientierung: Es geht nicht darum, den Anwender zu fragen, wo diese oder jene Schraube hingehört, sondern um die Frage, welche Erkenntnisse jemand mit unseren Geräten gewinnen möchte. Ich denke, Carl Zeiss hat hier einen Entwicklungsprozess durchgemacht: Anfangs mag es sein Ansatz gewesen sein, alle Kundenwünsche 1:1 zu berücksichtigen. Doch mit dem Übergang zur Serienfertigung musste er seine Modellpalette so gestalten, dass 65

maximale Leistung bei effizienter Fertigung möglich war – und dies bei konstanter Qualität. „Konstante Qualität“ klingt bezogen auf ZEISS ziemlich bescheiden. Steht die Marke nicht für Qualität ohne jeden Kompromiss ? Ein absolutes Maß für Qualität gibt es nicht. Kompromisslos kann ein Produkt immer nur bezogen auf eine bestimmte Anwendung sein. Das war auch Carl Zeiss bewusst, nicht zuletzt durch den engen Kontakt zu den Anwendern. Deren finanzielle Ausstattung war nicht unbegrenzt, und zahlreiche Mikroskope wurden auch in der Ausbildung von Studierenden eingesetzt. Hier kam es vor allem auf optimale Handhabung und ein gutes Verhältnis von Bildqualität zu Preis an. Zugleich spielt Qualität bei ZEISS – sowohl historisch betrachtet als auch heute – natürlich insofern eine Rolle, dass wir innerhalb des durch eine bestimmte Applikation gesetzten Rahmens die besten Instrumente auf dem Markt bauen wollen.

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Die Entscheidung von Carl Zeiss, Mikroskope auf Basis wissenschaftlicher Berechnungen zu bauen, bedeutete zunächst ein großes unternehmerisches Risiko. Wirtschaftlich verwertbare Ergebnisse waren eher langfristig zu erwarten und außerdem keineswegs sicher … Und dennoch sollten wir diesen Mut zum kalkulierten Risiko als Erfolgsfaktor anerkennen. Als innovationsgetriebenes Unternehmen stehen wir immer wieder vor der Herausforderung, wissenschaftliches Neuland zu betreten. Viele Projekte sind dabei, was ihren wirtschaftlichen Effekt betrifft, mit Unwägbarkeiten behaftet. Solche Projekte haben im Grunde nur dann eine Chance auf Erfolg, wenn die Chemie zwischen den beteiligten Personen stimmt. Hier haben wir wieder einen Aspekt, für den Carl Zeiss ein außerordentliches Talent besaß: Es ist ihm gelungen, in seinem Unternehmen eine Atmosphäre zu schaffen, welche für die fähigsten Köpfe seiner Zeit attraktiv war. Die Anwesenheit eines wissenschaftlich-technischen Genies wie Ernst Abbe hat Zeiss dann umgekehrt die Sicherheit gegeben, unternehmerische Risiken einzugehen.

Und noch ein zweiter Gesichtspunkt scheint mir wichtig: Carl Zeiss hatte den Weitblick, sich vertrauensvolle Partner von außen zu suchen, als er selbst nicht mehr weiterkam. Diese Fähigkeit, offen für Impulse von außen zu sein, war bei Carl Zeiss zeitweise verloren gegangen. In den 1970er oder 1980er Jahren galt es als eine Frage der Ehre, möglichst alles selbst zu machen. Im Osten mag diese Haltung eher aus der Not heraus erwachsen sein; im Westen gehörte sie zum positiven Selbstverständnis. In den beiden Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung der beiden Unternehmen haben wir hier einen Wandel vollzogen. Inzwischen sind wir strategisch wieder näher bei unserem Gründer Carl Zeiss, der nachhaltige Kooperationen niemals ausgeschlossen hat. Wie sinnvoll firmenübergreifende Entwicklungsanstrengungen sein können, hat in neuerer Zeit die Partnerschaft mit ASML in den Niederlanden im Bereich der Lithographiesysteme für die Halbleiterindustrie gezeigt. Der Durchbruch erfolgte 2004 mit einem System, das auf dem Prinzip der Immersionslithographie beruhte. Ich behaupte, dass weder ASML noch ZEISS allein in der Lage gewesen wäre, eine solche Entwicklung derart schnell zur Marktreife zu bringen. ASML wurde 1984 gegründet. ZEISS dagegen kann auf 170 Jahre Unternehmensgeschichte verweisen. Aber ist diese Tradition nicht eher Ballast? Würde etwas fehlen, wenn wir einfach aufhören würden, über eine Gründerfigur wie Carl Zeiss nachzudenken ? Das Faszinierende ist doch, dass eine vor fast 200 Jahren geborene Person für Werte steht, die noch immer Relevanz besitzen. Spitzentechnologie ist auch

ohne große Tradition möglich – kein Zweifel. Aber eine gekonnte Rückbesinnung auf die Anfänge von ZEISS kann uns helfen zu sehen, was es zu bewahren gilt. Und nehmen wir einmal an, Carl Zeiss könnte durch die Zeit reisen und seine Firma im Hier und Jetzt besichtigen. Ich glaube, er würde sich selbst darin wiedererkennen.

Prof. Dr. Michael Kaschke (* 1957 in Greiz) studierte Physik an der Universität Jena, wo er zum Dr. rer. nat. sowie zum Dr. sc. nat. promoviert wurde. Nach der Tätigkeit bei verschiedenen Forschungseinrichtungen kam er 1992 zu ZEISS. Seit 2000 ist er Mitglied des Konzernvorstandes und seit 2011 Vorstandsvorsitzender der Carl Zeiss AG. 67

Konsolidierung auf brüchigem Fundament: Geschäftsaufschwung und gesellschaftliche Anerkennung (1859 –1866) Die grundlegenden technologischen Hindernisse in der Fertigung von Präzisionsoptiken blieben für Carl Zeiss zunächst weiter bestehen. Trotzdem gelang es ihm, sich als Unternehmer wirtschaftlich und gesellschaftlich zu etablieren. Äußeres Zeichen dafür war im Frühjahr 1858 der Kauf des Hausgrundstücks Johannisplatz Nr. 9, unmittelbar am historischen Altstadtkern Jenas. Das Gebäude, für dessen Erwerb sich Zeiss von seinen Schwestern Emilie und Pauline insgesamt 500 Taler geliehen hatte  ²⁶, war groß genug, um auch eine spätere Expansion des Geschäfts zu erlauben. Neben der Werkstatt im Hinterhaus, dem Ladengeschäft im Erdgeschoss und den Privaträumlichkeiten der Familie Zeiss im ersten Stock blieb damit noch Platz für die Vermietung einer geräumigen Wohnung, in die im Januar 1859 der Gynäkologe Bernhard

Mietanzeige von Dr. Bernhard Schultze in den Blättern von der Saale vom 6. Januar 1859

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Sigmund Schultze einzog. Bereits 1860 erwarb Zeiss auch noch ein angrenzendes Hofgebäude, um seine Werkstatt zu erweitern. Da der Absatz von Mikroskopen vorerst weiter stagnierte, erzielte Zeiss seine Umsätze zu einem wesentlichen Teil mit anderen Produkten. Neben Reparaturen und Auftragsarbeiten für die universitäre Forschung spielte dabei auch der Verkauf von Handelsware und Brillen an private Endverbraucher eine wichtige Rolle, wie die folgende Werbeanzeige aus dem Dezember 1860 zeigt: „Zu Weihnachtsgeschenken empfiehlt: Fernröhre, doppelte und einfache Theaterperspective, Lorgnetten, Klemmer und Brillen in verschiedenem Material,

Johannisplatz in Jena, um 1865. In dem zweiten Haus von links befand sich die dritte Werkstätte von Carl Zeiss.

wissenschaftliche und technische Anwendungen) und Fernrohre werden im Manual ebenfalls häufig genannt.

Herr über Maße und Gewichte

Anzeige in den Blättern von der Saale vom 6. Dezember 1860.

Brillenfassungen und Klemmer in Gold, feinste pariser und selbstgefertigte Brillengläser, Lupen, Mikroskope, Barometer, Thermometer, Reisszeuge, Briefwaagen etc. Carl Zeiss.“ Solche Weihnachtsanzeigen setzte Zeiss seit 1848 alljährlich in die Lokalpresse. Er knüpfte mit dem Handelsgeschäft an die Praxis seines Vaters an, der in seinem Geschäft auch Spielsachen verkaufte. Der Blick in das von Zeiss eigenhändig geführte Einnahmen- und Ausgabenbuch („Manual“) bestätigt den Stellenwert der genannten Artikel. In dem Monat, als die zitierte Anzeige in den Blättern von der Saale erschien, war Zeiss stark mit augenoptischen Arbeiten befasst, wobei er auch zahlreiche Reparaturen übernahm. Thermometer, verschiedene Reißzeuge (also besonders feine Zeichengeräte für

Inzwischen wurde Zeiss’ Qualifikation als Optiker und Mechaniker auch von offizieller Seite anerkannt. Bereits im Juli 1858 war der Jenaer Unternehmer durch das Großherzogliche Obereichamt in Weimar als stellvertretender Obereichmeister verpflichtet worden, wodurch ihm im Raum Jena die Aufsicht über Maße und Gewichte zufiel. Da der lokale Handel ebenso wie die Berechnung eventueller Abgaben etwa auf landwirtschaftliche Produkte von den durch den Eichmeister definierten „Normalmaßen“ abhing, ging mit dieser Position eine große Verantwortung einher. Zeiss hatte das Eichamt schon seit 1852 unter Aufsicht des ortsansässigen Schuhmachers Vater ausgeübt. Jahrelang hatte sich der Jenaer Mechaniker gegen dessen Bevormundung gewehrt, nicht zuletzt deshalb, weil er fürchtete, ein einfacher Handwerker werde ihm vor den Augen der eigenen Mitarbeiter angebliche Fehler vorwerfen. Zunächst hatte sich der Jenaer Gemeinderat gegenüber Zeiss’ Eingaben taub gestellt. Zeiss hatte 1856 mit einiger Resignation deutlich gemacht, er werde das Amt unter den gegebenen Umständen nicht weiter ausüben. Es sei ihm, so Zeiss, „zuwider […], mich blos als Statist ins Marktamt zu stellen und mich einem mit pedantischer Genauigkeit kontrollirenden Manne wie dem Schuhmachermeis69

nikers in Jena bekleidet hatte. Rund sechs Wochen später verfasste Zeiss ein Schreiben an Prorektor und Senat der Universität, in dem er darum bat, ihm die freigewordene Position zu übertragen. Er legte fünf Empfehlungsschreiben von Professoren bei, die allesamt seine persönliche und fachliche Eignung bestätigten. Ganz offensichtlich hatte Zeiss sich in den zurückliegenden Jahren unter den Jenaer Naturforschern einen Stamm zufriedener Kunden aufgebaut. So schrieb etwa der Geologe und Paläontologe Ernst Erhard Schmid:

Universitätsmechaniker

„Seit einer längeren Reihe von Jahren kenne ich Herrn Zeiß als einen ebensowohl theoretisch als practisch gründlich gebildeten, als einen stetig fleißigen und unverdrossenen strebsamen, als einen stets gefälligen und durchaus ehrenhaften Mann. Seine Werkstätte ist für die Ausführung der feinsten mechanischen Arbeiten vollständig eingerichtet, sein Geschäft hat sich durch gewissenhafte und elegante, pünktliche und billige Besorgung der ihm gewordenen Aufträge auch in weiteren Kreisen sehr vortheilhaft empfohlen. Ich […] würde in der Übertragung dieser jetzt bey uns vacanten Stelle auf ihn nur eine wohlverdiente Anerkennung seiner langjährigen für unsre Universität sehr verdienstlichen und ersprießlichen Thätigkeit erkennen.“ ²⁹

Am 7. Juni 1860 verstarb Zeiss’ Berufskollege Johann Friedrich Braunau (1810 – 1860), der seit dem Tod von Friedrich Körner das Amt des Universitätsmecha-

Ernst Erhard Schmid (1815 – 1885) deutscher Paläontologe, Petrograph, Metrologe, Mineraloge und Geologe.

Bekanntmachung aus den Blättern von der Saale vom 12. Juli 1858.

ter Vater, der von meinen Geschäften schwerlich etwas versteht, zu unterwerfen und blos als dessen Maschine dazustehen.“ ²⁷ Nach rund zwei Jahren, in denen über die Besetzung des Jenaer Eichamts Unklarheit herrschte, wurden Zeiss’ Einwände 1858 von höherer Stelle anerkannt und Zeiss durfte die Richtigkeit von Maßen und Gewichten für alle Jenaer Gewerbetreibenden allein aufgrund seiner eigenen Prüfung garantieren.²⁸

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Zeiss’ Bitte fand dank der tatkräftigen Unterstützung durch mehrere Hochschullehrer auch die Zustimmung des damaligen Prorektors Heinrich Luden und des Senats der Jenaer Alma Mater. Allerdings bestand Uneinigkeit darüber, ob man Zeiss lediglich den Titel eines Universitätsmechanikers verleihen oder ihm – anders als zuvor Braunau – eine echte Position als Dozent schaffen solle. Für Zeiss war die Lehrbefugnis interessant, denn er nahm an, dass er damit aufgrund eines Gesetzes aus dem Jahr 1851 eine weitgehende Steuerbefreiung erlangen werde. Als die Regierung des Großherzogtums am 10. September 1860 den Antrag der Universität bezüglich der Anstellung als Universitätsmechaniker genehmigte, war dies auch aus Sicht der Firma eine gute Nachricht. Am 25. Mai 1861 bestätigte zudem die „Großherzoglich Sächsische Steuereinnahme“ in Jena, dass Zeiss als akademischer Lehrer nunmehr keine Einkommenssteuer mehr zu zahlen habe – ein nicht zu unterschätzender Wettbewerbsvorteil für die kleine Werkstatt. Weniger als zwei Wochen später widersprach allerdings die übergeordnete Behörde in der Landeshauptstadt Weimar dieser Einschätzung und stellte fest, dass die Befreiung lediglich für die von der Universität gezahlten Bezüge gelte. Die Einnahmen „aus der in der Stadt Jena etablierten Werkstätte und dem damit verbundenen offnen Laden“ ³⁰ seien durchaus steuerpflichtig. Zeiss gab sich nicht einfach geschlagen, sondern bat den Senat der Universität in einem ausführlichen Schreiben, das Steuerprivileg für ihn durchzusetzen. Dabei ging er auch auf seine gegenwärtige Arbeitssituation ein. Wenngleich die Angaben kaum überprüfbar sind und es wahrscheinlich ist, dass Zeiss die Fakten im Sinne seiner Argumentation

Das Hauptgebäude der Universität in Jena, die sogenannte „Wucherei“ (1858 – 1908).

etwas zuspitzte, ist die hier gegebene Selbstdarstellung doch aufschlussreich. So enthält sie etwa die Feststellung, die optische Werkstätte in Jena arbeite hauptsächlich für Auftraggeber aus der Wissenschaft. Zeiss beteuerte, „daß jene currenten Artikel (Brillen und ähnliches), die ich an das nichtacademische Publikum verkaufe, nur höchstens 1/20 meines ganzen Absatzes betragen“. Zudem fühle er sich „moralisch verpflichtet, keinen Auftrag oder Bestellung von Seiten eines Akademikers (falls solche mir auch nicht Gewinn bringen) abzulehnen“. ³¹ Als Präzedenzfälle für eine weitgehende Steuerbefreiung führte Zeiss den Universitätsfotografen und den bei der Universität angestellten Tanzlehrer an – beides Positionen, deren Bedeutung für Forschung und Lehre verglichen mit einem Mechaniker offensichtlich gering war. 71

Zeiss im Steuerstreit Derart argumentativ in die Enge getrieben gab der Prorektor ein Rechtsgutachten in Auftrag. Dieses stellte fest, dass die Ablehnung der Steuerbefreiung in Zeiss’ Fall gerechtfertigt sei, denn Einkünfte aus selbstständiger gewerblicher Tätigkeit seien von der gesetzlichen Regelung ausgenommen. Im Juli 1861 erhielt Zeiss daher die Mitteilung, dass ihn die Universität im Konflikt mit den Finanzbehörden nicht unterstützen werde. Der frisch ernannte Universitätsmechaniker dürfte damit geschäftlich kaum Vorteile von seiner neuen Stellung gehabt haben, denn Aufträge von Seiten der Jenaer Hochschule hatte er schließlich auch zuvor schon erhalten. Jedoch kam ihm nun das Privileg beziehungsweise die Pflicht zu, sich als akademischer Lehrer zu betätigen. Wie die Vorlesungsverzeichnisse der Jenaer Universität dokumentieren, offerierte Zeiss in jedem Semester bis in sein Todesjahr 1888 Übungen zur „Verfertigung physikalischer und optischer Instrumente“. ³² Ob dieses Angebot von den Studierenden wahrgenommen wurde und wie viel Zeit Zeiss tatsächlich in seine Lehrtätigkeit investierte, ist nicht überliefert. Sicher ist, dass Zeiss sich nach wie vor primär als Optik-Unternehmer und nicht als interner Dienstleister für die Universität verstand – auch wenn er im Ringen um steuerliche Vorteile einen anderen Eindruck zu erwecken suchte. Beleg für die Ausrichtung des Zeiss’schen Geschäfts in Richtung freier Markt ist etwa die Teilnahme an der Allgemeinen Thüringischen Gewerbe-Ausstellung im Sommer 1861, die mit 1.300 Ausstellern in Weimar stattfand. Zeiss war einer von 28 Preisträgern, denen dort ein 72

Erster Ehrenpreis mit Abdruck der goldenen Medaille verliehen wurde. Zur Begründung hieß es, Zeiss erhalte diese Anerkennung „wegen der bei allen Linsensystemen durch plane, scharfe und lichtstarke Bilder ausgezeichneten und zum Theil zu den vortrefflichsten in Deutschland überhaupt angefertigten gehörenden Mikroskope“. ³³ Ein weiteres Zeugnis gestiegenen Renommees war die Berufung von Carl Zeiss zum Großherzoglichen Hofmechanikus im Jahr 1863. Zeiss stand damit auf einer Stufe mit seinem Lehrer Friedrich Körner, der bis zu seinem Tod 1847 Hofmechanikus gewesen war. Zeiss’ Ernennung scheint kaum praktische Auswirkungen gehabt zu haben. Jedoch wird das mit dem Titel verbundene Prestige darin deutlich, dass Zeiss in den Vorlesungs-

Vorlesungsverzeichnis der Jenaer Universität, August 1886.

Das Ausstellungsgebäude der zweiten Allgemeinen Thüringischen Gewerbeausstellung in Weimar, 1861, aus: Illustrierte Zeitung , no. 936 vom 8. Juni 1861.

Anzeige aus den Blättern von der Saale vom 13. August 1861.

verzeichnissen, aber auch in Zeitungsanzeigen häufig nur noch den Titel „Hofmechanikus“ (nicht „Universitätsmechanikus“) führte.

Ausflug in die Lokalpolitik

Obwohl er als Hersteller optischer Instrumente zunehmend überregional anerkannt wurde, blieb Zeiss wirtschaftlich noch immer auf sein lokales Handelsgeschäft angewiesen. Dies verdeutlichen etwa zwei (identische) Werbeanzeigen ³⁴ in den Blättern von der Saale, die im August 1861 erschienen. Danach hatte die Berliner Firma Julius Imme & Co. den Jenaer Universitätsmechaniker im Umkreis der Stadt zum alleinigen Vertreter für eine „volta-electrische Metallbürste“ bestellt. Dabei handelte es sich um einen Apparat, der durch die Anwendung von elektrischem Strom auf der Haut verschiedene Leiden wie Rheuma oder Gicht kurieren sollte. Diese Technologie, die damals gerade in Mode kam, lag weitab von Zeiss’ Kerngeschäft.

Im November 1861 ließ sich Zeiss zudem erstmals für die Wahl zum Gemeinderat aufstellen, wurde jedoch nicht gewählt. Es bleibt im Dunkeln, ob der Jenaer Universitätsmechaniker mit seinem Engagement irgendeine besondere politische Programmatik verband oder ob es ihm primär darum ging, bei wichtigen kommunalen Fragen, die ihn ja auch als Unternehmer betrafen, ein Wort mitzureden. Jedenfalls kandidierte Zeiss erneut im November 1863. Diesmal zog er als siebter von insgesamt zwölf Gewählten ins Stadtparlament ein, wobei er von den insgesamt 363 teilnehmenden Wählern 197 Stimmen erhielt. Mehr als die Hälfte der Bürger, die in Jena an der Abstimmung teilnahmen, wünschten sich demnach Zeiss als Abgeordneten. Gleichzeitig wurde er in seinem Stadtteil zum „Armenpfleger“, also zum ehrenamtli73