Carl Georg von Wächter (1797–1880) und das Strafrecht des 19. Jahrhunderts: Strafrechtliche Lehre und Wirkungsgeschichte [1 ed.] 9783428497324, 9783428097326

Der "nach Feuerbach und vor Karl Binding bedeutendste Dogmatiker des Strafrechts" (Eberhard Schmidt) Carl Geor

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Carl Georg von Wächter (1797–1880) und das Strafrecht des 19. Jahrhunderts: Strafrechtliche Lehre und Wirkungsgeschichte [1 ed.]
 9783428497324, 9783428097326

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Schriften zur Rechtsgeschichte Heft 79

Carl Georg von Wächter (1797 – 1880) und das Strafrecht des 19. Jahrhunderts Strafrechtliche Lehre und Wirkungsgeschichte

Von

Lars Jungemann

Duncker & Humblot · Berlin

LARS J U N G E M A N N

Carl Georg von Wächter (1797-1880) und das Strafrecht des 19. Jahrhunderts

Schriften zur Rechtsgeschichte Heft 79

Carl Georg von Wächter (1797-1880) und das Strafrecht des 19. Jahrhunderts Strafrechtliche Lehre und Wirkungsgeschichte

Von Lars Jungemann

Duncker & Humblot • Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Jungemann, Lars: Carl Georg von Wächter (1797 -1880) und das Strafrecht des 19. Jahrhunderts. Strafrechtliche Lehre und Wirkungsgeschichte / von Lars Jungemann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriften zur Rechtsgeschichte ; H. 79) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1998/99 ISBN 3-428-09732-7

D 16 Alle Rechte vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7379 ISBN 3-428-09732-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1998/99 von der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität zu Heidelberg als Dissertation angenommen. Herzlichen Dank schulde ich vornehmlich Herrn Prof. Dr. iur. Dr. h.c. Adolf Laufs, der das Unternehmen stets mit großem Wohlwollen und kenntnisreichen Ratschlägen betreute. Durch die Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für geschichtliche Rechtswissenschaft der Universität Heidelberg hatte ich Gelegenheit, wertvolle Erfahrungen zu sammeln und fundierte Kenntnisse zu erwerben. Herrn Prof. Dr. iur. Wilfried Küper danke ich für die Erstattung des Zweitgutachtens. Ferner schulde ich meinem Freund und Kollegen Herrn Dr. iur. Wolfgang Pöggeler Dank, der mir von Anbeginn der Arbeit als ebenso kritischer wie auch kompetenter Gesprächspartner geduldig zur Seite stand. Herr Referendar Ralf Clement leistete unschätzbare Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage. Dankende Erwähnung gebührt meiner Großmutter Frau Anna Widmann für ihren Rat bei der Auswertung des handschriftlichen Materials und die großzügige finanzielle Unterstützung der Drucklegung sowie der Württembergischen Versicherungsgruppe, Stuttgart, für den gewährten Druckkostenzuschuß.

Heidelberg, im März 1999

Lars Jungemann

Inhaltsübersicht Erster Teil Einleitung

19

Zweiter Teil Carl Georg von Wächter: Eine Biographie

24

Dritter Teil Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters Kapitel 1: Carl Georg von Wächter, die historische Rechtsschule und der Positivismus Kapitel 2: ,J)ie Grundprincipien die Straftheorie

41 41

des Strafrechts " - Carl Georg von Wächter und 80

Kapitel 3: Carl Georg von Wächter und die strafrechtliche Handlungslehre

127

Kapitel 4: Strafrechtliche Einzelfragen: Internationales Strafrecht, der Umfang des Vorsatzes, die Strafbarkeit des Selbstmordes, Brandstiftung und der Gewaltbegriff der §§253,255 RStGB 155 Vierter Teil Wirkungsgeschichte des Strafrechtlers Carl Georg von Wächter

189

Kapitel 1: Der Einfluß Wächters auf das Strafgesetzbuch des Königreichs Württemberg vom 1. März 1839

189

Kapitel 2: Die Rezeption Wächters in der strafrechtswissenschaftlichen Literatur des 19. Jahrhunderts

248

Kapitel 3: Das strafrechtliche Werk Carl Georg von Wächters im Spiegel wissenschaftlicher Rezensionen

253

10

Inhaltsübersicht

Fünfter Teil Zusammenfassung und Schluß Werk- und Literaturverzeichnis Personenregister

Inhaltsverzeichnis Erster Teil Einleitung

19

Zweiter Teil Carl Georg von Wächter: Eine Biographie

24

Dritter Teil Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

41

Kapitel 1 Carl Georg von Wächter, die historische Rechtsschule und der Positivismus 41 I. Die historische Rechtsschule 1. Vom Naturrecht, Friedrich Carl von Savigny und den Grundlagen der historischen Rechtsschule

41 41

2. Carl Georg von Wächter, das Naturrecht und die Lehren der historischen Schule

49

3. Zwischen „Romanismus" und „Germanismus"

55

4. Carl Georg von Wächter und die Kodifikationsidee Anton Justus Friedrich Thibauts 60 IL Der Positivismus 1. Vom philosophischen zum Gesetzespositivismus

72 72

2. Carl Georg von Wächter zwischen historischer Schule und Rechtspositivismus.. 75

nsverzeichnis

Kapitel 2 „Die Grundprincipien des Strafrechts" Carl Georg von Wächter und die Straftheorie I. Die Straftheorie Carl Georg von Wächters 1. Hinweise auf das Staatsverständnis Wächters als Fundament

80 81 85

a) Johann Gottlieb Fichte

86

b) Immanuel Kant

88

2. Der Zweck staatlicher Strafe

92

3. Nulla poena sine lege

99

II. Wächter und der Liberalismus

102

in. Karl Theodor Welcker als Vorbild

106

1. Das Staatsverständnis Karl Theodor Welckers

108

2. Der Strafzweck bei Welcker

109

IV. Der Strafvollzug

114

1. Das Strafmaß als akademisches Thema

115

2. Rechtfertigung der Todesstrafe

119

3. Die „Bildung" als Gleichbehandlungskriterium bei der Strafzumessung

122

4. Wächters Forderung nach einem humanen Strafvollzug

123

Kapitel 3 Carl Georg von Wächter und die strafrechtliche Handlungslehre I. Carl Georg von Wächter zwischen P. J. A. von Feuerbach und Christoph Carl Stttbel 1. Die Handlungslehre Paul Johann Anselm von Feuerbachs

127 129 129

2. Die Lehre Christoph Carl Stübels

133

3. Die Stellungnahme des „frühen" Wächter

135

II. Carl Georg von Wächter zwischen Hegel und den Hegelianern 1. Hegel und die strafrechtliche Handlung

140 141

2. Die spezifisch strafrechtliche Ausprägung des Hegeischen Handlungsbegriffs durch die Hegelianer 143

nsverzeichnis

13

a) Julius Friedrich Heinrich Ahegg

143

b) Albert Friedrich Berner

145

3. Der „späte" Wächter unter dem Einfluß Hegels und der Hegelianer

148

Kapitel 4 Strafrechtliche Einzelfragen: Internationales Strafrecht, der Umfang des Vorsatzes, die Strafbarkeit des Selbstmordes, Brandstiftung und der Gewaltbegriff der §§ 253, 255 RStGB

155

I. Das Internationale Strafrecht

155

II. Der Umfang des Vorsatzes

160

ID. Die Strafbarkeit des Selbstmordes

166

IV. Die Strafbarkeit der Brandstiftung nach gemeinem Recht

175

1. Bestimmung der Schutzrichtung

175

2. Der Vollendungszeitpunkt der Brandstiftung

181

V. Der Gewaltbegriff der §§ 253, 255 Reichsstrafgesetzbuch von 1871

183

Vierter Teil Wirkungsgeschichte des Strafrechtlers Carl Georg von Wächter Kapitel 1 Der Einfluß Wächters auf das Strafgesetzbuch des Königreichs Württemberg vom 1. März 1839

189

189

I. Die Entstehungsgeschichte des Strafgesetzbuches für das Königreich Württemberg

189

II. Carl Georg von Wächter in den Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten über das Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg vom 1. März 1839

205

1. Internationales Strafrecht

206

2. dolus eventualis / dolus generalis

208

3. Mittäterschaft / Teilnahme

212

4. Die strafrechtliche Konkurrenzlehre und die „fortgesetzte Handlung"

215

nsverzeichnis

5. Strafgerechtigkeit und Strafvollzug

224

6. Die Analogie im Strafrecht

230

7. Die Vollendung der Brandstiftung

240

8. Aufruhr

241

9. Unterschlagung

244

10. „Volenti non fit injuria"

246

Kapitel 2 Die Rezeption Wächters in der strafrechtswissenschaftlichen Literatur des 19. Jahrhunderts

248

Kapitel 3 Das strafrechtliche Werk Carl Georg von Wächters im Spiegel wissenschaftlicher Rezensionen

253

I. Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts. Erster Theil. Einleitung und allgemeiner Theil, Stuttgart 1825; Zweiter Theil. Besonderer Theil, Stuttgart 1826

253

II. Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg. Nach der älteren und neueren Gesetzgebung und Praxis dargestellt, Tübingenl832; De crimine incendii, Leipzig 1833

254

III. Abhandlungen aus dem Strafrechte. Erster Band, Leipzig 1835; Beiträge zur deutschen Geschichte, insbesondere zur Geschichte des deutschen Strafrechts, Tübingen 1845; Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht. Ein Handbuch. Einleitung und allgemeiner Theil, Stuttgart 1857

255

IV. Beitrag zur Geschichte und Kritik der Entwürfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, Leipzig 1870; Die Busse bei Beleidigungen und Körperverletzungen nach dem heutigen gemeinen Recht, Leipzig 1874

256

V. Beilagen zu den Vorlesungen über das deutsche Strafrecht. Einleitung in das deutsche Strafrecht, Stuttgart 1877; Deutsches Strafrecht. Vorlesungen von Carl Georg von Wächter, herausgegeben von Oskar von Wächter, Leipzig 1881 257

nsverzeichnis

15

Fünfter Teil Zusammenfassung und Schluß

259

Werk- und Literaturverzeichnis

264

Personenregister

308

Abkürzungsverzeichnis Abs.

Absatz

Abtlg.

Abteilung

AcP

Archiv für die civilistische Praxis

AdCNF

Archiv des Criminalrechts, Neue Folge

BGH

Bundesgerichtshof

BGHSt

Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen

BGHSt GS

Entscheidung des Großen Senats des Bundesgerichtshofs in Strafsachen

CCC

Constitutio Criminalis Carolina

DJZ

Deutsche Juristenzeitung

GA

Goltdammers Archiv für (Preußisches) Strafrecht

HS

Handschriftenabteilung

HStAS

Hauptstaatsarchiv Stuttgart

JA

Juristische Ausbildung

JuS

Juristische Schulung

NAdC

Neues Archiv des Criminalrechts

ND

Neudruck

NF

Neue Folge

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

o.J.

ohne Jahresangabe

Abkürzungsverzeichnis

PGO

Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V.

Rdnr.

Randnummer

RStGB

Reichsstrafgesetzbuch

StGB

Strafgesetzbuch

Vorbem.

Vorbemerkung

Ziff.

Ziffer

ZNR

Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte

ZRG

Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte

ZStW

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

2 Jungemann

17

Erster T e i l

Einleitung Das Strafrecht ist in seiner historischen Entwicklung durchgehend geprägt durch das Wirken herausragender Wissenschaftler und Praktiker, deren theoretische Arbeiten die Rechtspflege unmittelbar beeinflußten. Wird ein solcher Exponent einer eingehenden Untersuchung unterzogen, so erschließt sich zugleich ein weitreichender und gehaltvoller Blick auf den Stand und die Entwicklungen der Rechtswissenschaft der jeweiligen Epoche. Carl Georg von Wächter (1797-1880) ist, obwohl heute weitgehend in Vergessenheit geraten, für das 19. Jahrhundert eine derart prägende Gestalt, daß Ernst Landsberg Carl Georg von Wächter 1910 als „einen der größten deutschen Juristen aller Zeiten" 1 einordnen will. Eberhard Schmidt bezeichnet ihn noch 50 Jahre später als den „nach Feuerbach und vor Karl Binding bedeutendsten Dogmatiker des Strafrechts" 2. Dennoch behandelt die moderne Wissenschaft bislang Wächters Leben und Wirken nur in Teilaspekten. Neben Müller-Dietz 3 , der sich in seiner Monographie über Karl Theodor Welcker mit dessen Einfluß auf Wächter befaßt, und Joachim Rückert 4, der die Bedeutung Wächters für seinen nur wenig jüngeren Schüler, akademischen Kollegen und späteren Konkurrenten August Ludwig Reyscher nachzeichnet, weist Nikolaus Sandmann5 den Einfluß der internationalprivatrechtlichen Lehre Wächters als den die überkommene Statutentheorie überwindenden Denkansatz eindrücklich nach.

1

E. Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abtlg., 2. Halbbd., Text, 1910, S. 386. 2 E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage 1965, S. 284. 3

H. Müller-Dietz, Das Leben des Rechtslehrers und Politikers Karl Theodor Welcker, in: Beiträge zur Freiburger Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, Heft 34, 1968. 4 J. Rückert, August Ludwig Reyschers Leben und Rechtstheorie. 1802-1880, in: Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, Bd. XHI, 1974. 5 N. Sandmann, Grundlagen und Einfluß der internationalprivatrechtlichen Lehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), 1979.

2*

Teil 1: Einleitung

20

Aus der jüngeren wissenschaftlichen Literatur untersucht Walter Jens 6 ausschließlich die Rolle Wächters als einflußreicher Kanzler der Universität Tübingen, Eberhard Sieber 7 seinen Einfluß auf die Ereignisse von 1848/49. Lediglich Ferdinand Elsener befaßt sich eingehend m i t der Rechtsquellenlehre Wächters i m Zusammenhang der Bedeutung des „Handbuch(s) des i m Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts" aus den Jahren 1839/42 und mit Wächters Stellung zur Kodifikationsfrage. 8 Außerdem beleuchtet er Wächters Wirkung auf die württembergischen Bemühungen u m eine Vereinheitlichung des Privat- und Prozeßrechts. 9 A u c h A d o l f Laufs unternimmt i n neuester Zeit eine kritische Darstellung und Bewertung der Rechtslehre Wächters mit einer umfassenden Würdigung seiner politischen Standpunkte. 1 0 A u c h die Bedeutung Wächters für die Strafgesetzgebung und den Strafvollzug i m Königreich Württemberg 1 1 , für die württembergische Organisationskommission 1 2 und die Geschichte des sächsischen B G B 1 3 w i r d i n der modernen Literatur gesehen und gewürdigt. I n der Lexikographie und den rechtshistorischen Standardwerken

führt

Wächter jedoch weitgehend ein Schattendasein. 14

6 W. Jens, Eine deutsche Universität. 500 Jahre Tübinger Gelehrtenrepublik, 1977, S. 176, 287 ff. 7

E. Sieber, Stadt und Universität Tübingen in der Revolution von 1848/49, 1975, S. 23, 94 ff.

8

F. Elsener, Der Jurist Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477-1977, 1977, S. 471 ff.; F. Elsener, Fünfhundert Jahre Tübinger Juristenfakultät, JZ 1977, S. 617 ff. 9

F. Elsener, C.G.v. Wächter (1797-1880) und die Bemühungen Württembergs um eine Vereinheitlichung des Privat- und Prozeßrechtes in der Zeit des Deutschen Bundes (1847/1848), in: Festschrift für H. Baltl, hrsg. v. K. Ebert, 1978, S. 193 ff. 10 A. Laufs, „Das wirklich geltende, durch den allgemeinen Willen gesetzte Recht". Zur Rechtslehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), in: Festschrift für K. Kroeschell, 1997, S. 617 ff.; ders., Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte (ZWLG), 1998, S. 285 ff. 11 P. Sauer, Im Namen des Königs, Strafgesetzgebung und Strafvollzug im Königreich Württemberg von 1806 bis 1871, 1984. 12 B. Mann, Die württembergische „Organisations-Kommission" von 1848, ZWLG 40, 1981 (1982), S. 519 ff. 13 C. Ahcin, Zur Entstehung des bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen von 1863/65, in: IUS COMMUNE, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 85, 1996. 14 Wächter lediglich erwähnt oder oberflächlich behandelt bei: E. Döhring, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, 1953, S. 455; G. Kleinheyer/J. Schröder (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. Auflage 1996, S. 517; F. Sturm, Wächter, Carl (Joseph) Georg (Sigismund) (von), in: HRG, hrsg. v. A. Erler, E. Kaufmann und D. Werkmüller, Bd. V, 1998, Sp. 1076 ff.; F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auflage 1967, S. 459 Anm. 1); E. Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Auflage 1963, S. 637, 716. Wächter erscheint nicht bei M. Stolleis (Hrsg.), Juristen, Ein biographisches Lexikon

Teil 1: Einleitung

Eine Würdigung Carl Georg von Wächters als rechtswissenschaftlicher Fachschriftsteller, als Lehrer des Privat- und Strafrechts, als praktisch tätiger Jurist sowie als Politiker gelang in eindrucksvoller Weise dem im Herbst 1997 in Leipzig von den Juristischen Fakultäten der Universitäten Tübingen und Leipzig veranstalteten Symposion „Karl Georg von Wächter (1797-1880)". 15 In der älteren Literatur erfahren das Werk und die Lebensleistung Wächters erstmalig in dem gedruckten Festvortrag Carl Friedrich von Gerbers anläßlich seines 50-jährigen Professoren-Jubiläums (1869) herausragende Würdigung; durchweg voller überschwenglichen Lobes. 16 Ebenfalls zu seinen Lebzeiten erfolgte eine erste, überaus kritische Beurteilung durch Robert von Mohl, der Carl Georg von Wächter zwar als seinen „alten Freund" 17 bezeichnet, sich dennoch nicht scheut, ihn einen „hartgesottenen Egoisten" zu nennen, der seine politische Überzeugung stets um des persönlichen Vorteils willen danach ausrichte, „wie eben der Wind ging" 18 . In der unmittelbar nach Wächters Tod bemerkenswerten „ersten Lobeswelle" 1 9 überwiegt die Betonung der Leistungen des herausragenden Juristen und Politikers. Bernhard Windscheid 20 untersucht bereits 1880 in kritisch distanzierter Weise die Rechtsquellen- und Methodenlehre Wächters, die er zwingend nach den beiden von Wächter vertretenen Disziplinen, dem Straf- und Privatvon der Antike bis zum 20. Jahrhundert, 1995; H. Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. II (19. Jahrhundert), 1989. 15 Vom 7.-9. November 1997 wurden Vorträge zu folgenden Themenschwerpunkten gehalten: Hans-Jürgen Rabe, Der Deutsche Juristentag und sein erster Präsident; Adolf Laufs, Karl Georg von Waechter (1797-1880), Praktischer Rechtsgelehrter und konstitutioneller Parlamentarier von der Zeit des Vormärz bis zur Reichsgründung; Gerhard Lingelbach, Karl Georg von Waechter und das sächsische Privatrecht; Gottfried Schiemann, Pandekten - Waechter als Romanist; Christoph Mauntel, Waechters Handbuch des württembergischen Privatrechts; Bernd-Rüdiger Kern, „D/e Busse bei Beleidigungen und Körperverletzungen": Bedeutung für die Geschichte des Schmerzensgeldes; Lars Jungemann, Methodenlehre und Strafzwecktheorie bei Waechter; Martin Lipp, Waechters Bemühungen um die Vereinheitlichung des Privatrechts und des Strafrechts in Deutschland; Gero Dolezalek, Der Einfluß Waechters auf das Internationale Privatrecht; Wolfgang Pöggeler, Carl Georg von Wächter und die Lübecker Germanistentage 1847; Thomas Schaefer, Waechter als Politiker; Hans-Peter Benöhr, Oskar von Waechter - Fleißiger Sohn des berühmten Vaters. Eine Publikation dieser Beiträge ist in Vorbereitung. 16 C.Fr. v. Gerber, Herrn Carl Georg von Wächter zur Feier seines fünfzigjährigen ProfessorenJubiläums am 13. August 1869,1869, S. 1-12. 17

R. v. Mohl, Lebenserinnerungen, Bd. n, 1902, S. 27. Die lebenslange Freundschaft zwischen Robert von Mohl und Carl Georg von Wächter dokumentiert auch ihr vertraulicher Briefwechsel; anschaulich der viel gerühmte Humor Wächters im Schreiben vom 12. Februar 1829 (Universitätsbibliothek Tübingen, Handschriftenabteilung, Md 613/929). 18

R. v. Mohl, Lebenserinnerungen, Bd. 1,1902, S. 198.

19

J. Rückert, August Ludwig Reyschers Leben und Rechtstheorie. 1802-1880, in: Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, Bd. XDI, 1974, S. 35 Anm. 115). 20

Carl Georg von Waechter, 1880.

22

Teil 1: Einleitung

recht, differenziert. Mit äußerst kritischen Anmerkungen zu den Rechtslehren Wächters, aber unter Betonung seiner Bedeutung als Politiker und diplomatischer Vermittler würdigt Heinrich Dernburg 21 das Lebenswerk des Tübinger und Leipziger Gelehrten. Der eigenständige Ansatz zur Methodenlehre Carl Georg von Wächters durch Gustav Mandry verdient in diesem Zusammenhang besondere Erwähnung. 22 Als Grundlage aller später erschienenen Biographien wurde das von seinem Sohn Oskar von Wächter verfaßte Werk „Carl Georg von Wächter. Leben eines deutschen Juristen" 23 herangezogen. Eine kritische Beurteilung durch den Sohn fehlt naturgemäß weitgehend. Diese Tendenz zeigt auch die um die Jahrhundertwende nachzuweisende zweite Lobeswelle: Dazu zählen die Lebensbeschreibung von Eisenhart in der „Allgemeinen Deutschen Biographie" 24 und die gehaltvolle Einschätzung Ernst Landsbergs 25 ebenso wie die Lebensbilder Eduard Hoelders 26 und Hugo Meyers 27 . Die kurzen Anmerkungen des Wächter-Sohnes Carl Alfred von Wächter und Ernst I. Bekkers in der Jubiläumsfestgabe der Leipziger Universität von 1909 28 haben lediglich illustrativen Charakter. Erst in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts erlebte Carl Georg von Wächter eine bescheidene Renaissance in der nur bedingt brauchbaren philosophischen Dissertation Otto Häckers über die parlamentarische Wirkung des Kanzlers Wächter 29 und in Herbert Dannenbergs Schrift über „Liberalismus und Strafrecht im 19. Jahrhundert unter Zugrundelegung der Lehren Karl Georg von Wächters" 30. Eine umfassende wissenschaftlich-kritische Untersuchung der Theorien Wächters zum Straf- und Zivilrecht steht demnach bislang aus. Insoweit ist es das vornehmliche Anliegen dieser Arbeit, den Lehren Wächters zum Strafrecht 21

Carl Georg von Wächter, 1880.

22

G. Mandry, Carl Georg von Wächter, in: Besondere Beilage des Staats-Anzeigers für Württemberg, Nr. 3 v. 18.2.1880, S. 33 ff. Vgl. auch J. Glaser, Karl Georg von Wächter, in: Österreichische Gerichtszeitung N.F., 17. Jg. Nr. 6 (1880), S. 1. 23

Leipzig 1881.

24

F. v. Eisenhart, Carl Joseph Georg Sigismund v. Wächter, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. XXXX, 1896, S. 435 ff. 25

E. Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abtlg., 2. Halbbd., Text, 1910, S. 386 ff; 3. Abtlg., 2. Halbbd., Noten, 1910, S. 183 ff. 26

E. Hoelder, Carl Georg von Waechter, 1897.

27

Karl Georg von Waechter, 1898. Vgl. dazu den Hinweis in der Besonderen Beilage des Staats-Anzeigers für Württemberg, Nr. 18 v. 24.1.1898, S. 123 f. 28 C.A. v. Wächter, Karl Georg von Waechter, DJZ (14) 1909, Sp. 975 ff.; E. I. Bekker, Puchta und Wächter, DJZ (14) 1909, Sp. 944 f. 29

Tübingen 1927.

30

Berlin-Leipzig 1925.

Teil 1: Einleitung

neben einer eingehenden Analyse seiner theoretischen Grundlagen den ihnen gebührenden Stellenwert in der rechtswissenschaftlich-historischen Forschung einzuräumen. Das ungeklärte Moment, warum Carl Georg von Wächters Strafrechtslehre bereits kurz nach seinem Tode weitgehend in Vergessenheit geriet und bis heute weder eingehend beleuchtet, noch deren Bedeutung für die moderne Strafrechtswissenschaft herausgestellt wurde, obwohl Wächter im 19. Jahrhundert enormes Ansehen und weitreichenden Einfluß genoß, ist ein weiterer Gegenstand dieser Untersuchung.

Zweiter Teil

Carl Georg von Wächter: Eine Biographie Am 24. Dezember 1797 wurde Carl (Joseph) Georg (Sigismund) als Sohn von Johann Eberhard Wächter und dessen Ehefrau Karoline (geb. von Bühler) in Marbach am Neckar geboren. Der Vater, selbst einer altwürttembergischen Beamtenfamilie entstammend, war zu dieser Zeit Oberamtmann im Herzogtum Württemberg. Seine Schulzeit verbrachte Wächter nach der Versetzung des Vaters in Esslingen und später in Stuttgart, wo er gemäß seinem aus der Ilias gewählten Wahlspruch „Immer der Erste zu sein und vorzustreben vor Andern" ein vorzügliches Abitur ablegte. Obwohl Wächter nach eigenem Wunsch zunächst Medizin studieren wollte, favorisierte sein Vater eine theologische Ausbildung für seinen Sohn. König Friedrich I. jedoch entschied mit dem Machtspruch: „Soll Jurist werden, weil sein Vater Jurist ist". 1 Im Jahre 1815 begann Carl Georg von Wächter traditionsgemäß seine akademische Laufbahn an der Landesuniversität. In Tübingen hörte der junge Burschenschaftler den Kriminalisten Christian Gottlob Gmelin (1778-1818), den Romanisten Malblanc (1752-1828) und neben dem Germanisten J. Ch. Majer (1741-1821) den bedeutenden Vertreter und Mitbegründer der historischen Rechtsschule Eduard Schräder. 2 Hier dürfte der erste Kontakt mit den Ideen und der Methodik der historischen Schule einzuordnen sein. Im Wintersemester 1817/18 konnte Wächter sein Studium in Heidelberg bei Anton Friedrich Justus Thibaut3 (17721840), der seine den epochalen Kodifikationsstreit auslösende Schrift „Ueber die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland" im Jahre 1814 herausgebracht hatte, und Karl Theodor Welcker (1790-1869) fortsetzen. Besonders Welcker hatte entscheidenden Einfluß auf die weitere Entwicklung des jungen studiosus iuris 4 und weckte in ihm den nachhaltigen 1

O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter. Leben eines deutschen Juristen, 1881, S. 6.

2

Zum Verhältnis E. Schräders zu Fr. C. von Savigny und K Fr. Eichhorn vgl. K. A. Klüpfel, Geschichte und Beschreibung der Universität Tübingen, 1849, S. 451 ff. Schräder war nicht, wie G. Mandry (Besondere Beilage des Staats-Anzeigers für Württemberg Nr. 3 v. 18.2.1880, S. 33) annimmt, mit Carl Georg Wächter verwandt, sondern mit dessen späteren Ehefrau Emilie Baumeister. Vgl. O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 7. 3 4

Zum Einfluß der Kodifikationsforderung Thibauts auf Wächter vgl. Teil 3 Kapitel 1,1.4.

H. Müller-Dietz, Das Leben des Rechtslehrers und Politikers Karl Theodor Welcker, in: Beiträge zur Freiburger Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 34, hrsg. v. J. Vincke, 1968, S. 10,

Teil 2: Biographie

25

Wunsch, akademischer Lehrer zu werden. 5 Z u m Frühjahr 1818 kehrte Wächter nach Tübingen zurück, w o er noch i m selben Jahr ein glänzendes juristisches Examen bestand. B a l d darauf folgte die höhere Dienstprüfung für das Departement der Justiz i n Stuttgart, die er wiederum m i t Auszeichnung absolvierte. 6 I m März 1819 7 wurde Wächter auf Drängen des Justizministers v. Maucler 8 Referendar und bereits acht Tage darauf zum Assessor beim Gerichtshof des Neckarkreises i n Esslingen am Neckar ernannt. 9 Trotz dieser administrativen Vorbestimmung für eine Laufbahn i n der Justiz berief ihn eine königliche Entschließung noch i m selben Jahr entsprechend seinem lang gehegten Wunsch als außerordentlichen Professor der Rechte an die Universität Tübingen. Er las dort Strafrecht, Institutionen, Pandekten, Strafprozeß und württembergisches Privatrecht. 1 0

20; A. Laufs, „Das wirklich geltende, durch den allgemeinen Willen gesetzte Recht". Zur Rechtslehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), in: Festschrift für K. Kroeschell, 1997, S. 617, 619 f.; derselbe, Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte (ZWLG), 1998, S. 285, 288; F. Elsener, Der Jurist Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477-1977, 1977, S. 473; J. Rückert, August Ludwig Reyschers Leben und Rechtstheorie. 1802-1880, in: Münchner Universitätsschriften, Bd. 13, 1974, S. 37. Vgl. auch das Schreiben von Carl Georg Wächter an seinen väterlichen Freund, den Stuttgarter Rechtsanwalt Weishaar vom Dezember 1817: „Dieses, verbunden mit Thibauts und Welckers Vorlesungen, weckten, und sollen erst noch recht, wie ich wenigstens hoffe bestreben werde, den rechten Sinn und Blick und die wahre Ansicht über mein und überha Studium in mir wecken" (Zitiert nach: O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 8 f.). Vgl. zum Einfluß Welckers auf die Straftheorie Wächters Teil 3 Kapitel 2, m. 5

O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 13; E. Kern, Karl Georg von Wächter, in: Schwäbische Lebensbilder, hrsg. v. H. Haering u. O. Hohenstatt, Bd. I, 1940, S. 545 (546); F. Elsener, Der Jurist Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477-1977, 1977, S. 471, 473. 6 Die Note 1 erhielt Wächter trotz vorzüglicher Leistungen nach altem württembergischen Brauch jedoch nicht. Vgl. dazu E. Kern, Karl Georg von Wächter, in: Schwäbische Lebensbilder, hrsg. v. H. Haering u. O. Hohenstatt, Bd. 1,1940, S. 545, 546. 7 Über das genaue Eintrittsdatum als Referendar bestehen widersprüchliche Angaben: 14. März bei O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 23; dagegen 2. März bei H. Dernburg, Carl Georg von Wächter, 1880, S. 9. Zutreffen dürfte wohl das Datum des 11. März (vgl. die Personalakte des Akademischen Rektoramtes der Universität Tübingen, Universitätsarchiv Tübingen, UAT 126/720). 8

Vgl. dazu O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 13 ff.

9

Über das Emennungsdatum bestehen wiederum differierende Angaben: 22. März bei O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 23; 10. März bei H. Dernburg, Carl Georg von Wächter, 1880, S. 9. Abweichende Daten bringen auch C.A. v. Wächter, Karl Georg von Waechter, DJZ (14) 1909, Sp. 975, 976: Referendariat 17. März und Assessor 22. März; F. v. Eisenhart, Carl Joseph Georg Sigismund v. Wächter, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. XXXX, 1896, S. 435, 436: Referendariat 14. März und Assessor 22. März. Als Datum kommt auch hier nach der Personalakte des Akademischen Rektoramtes der 19. März in Betracht (Universitätsarchiv Tübingen, UAT 126/720). 10 H. Meyer, Karl Georg von Waechter, 1898, S. 9; B. Windscheid, Carl Georg von Waechter, 1880, S. 4. Ein authentischer Beleg gelingt durch die Hörerlisten der Juristischen Fakultät der

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Teil 2: Biographie Daß Wächter als noch nicht 22-jähriger zum außerordentlichen Professor er-

nannt wurde, war w o h l auch für die damalige Zeit ungewöhnlich. Neben den glänzenden Prüfungsergebnissen dürfte der bedenkliche Zustand der Juristischen Fakultät der Landesuniversität eine entscheidende Rolle gespielt haben. Nach dem württembergischen Ringen u m eine kodifizierte Verfassung 11 und der Auseinandersetzung u m die Rechte der Universität 1 2 hatte die Juristische Fakultät lediglich 3 Ordinarien und drohte i n Bedeutungslosigkeit zu versinken. Dieser Entwicklung versuchte die württembergische Landesregierung durch die Einstellung junger, begabter und regierungstreuer Juristen entgegen zu wirken. 1 3 I m Jahre 1822 erhielt Wächter die ordentliche Professur 14 ; am 30. September 1 5 desselben Jahres wurde er aufgrund seiner ersten Schrift, einer bereicherungsrechtlichen Dissertation 1 6 , zum Doctor iuris utriusque promoviert. Tübingen war für ihn ein Ort „ z u m Studieren und Bücherschreiben, von dem man aber oft wegreisen muß, u m nicht zu versauern." 1 7

Universität Tübingen von 1824-1828 und 1819-1851 (Universitätsarchiv Tübingen, UAT 51/689 und UAT 51/691). 11 Nachdem König Friedrich I. im Jahre 1805 die ständische Verfassung von 1514 aufgehoben hatte, weil er sich mit den Landständen wegen der Gebietserwerbungen (NeuWürttemberg) nicht auf eine neue Verfassung einigen konnte, regierte er das Land als absoluter Herrscher. Sein Nachfolger König Wilhelm I. legte den Landständen 1817 erneut einen Verfassungsentwurf vor, der jedoch abgelehnt wurde, was ihn jedoch nicht hinderte, mit diesem zu regieren, ihn als wirksam zu betrachten. Eine neue Verfassung für das Königreich Württemberg trat erst unter dem Druck der „Karlsbader Beschlüsse" am 25. September 1819 in Kraft. Vgl. dazu A. Dehlinger, Württembergs Staatswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung bis heute, Bd. I, 1951, S. 24, 119 f. 12 König Friedrich I. entzog der Universität zunehmend das Recht der Selbstverwaltung und stellte sie unter hoheitliche Aufsicht mit strengen Sanktionsmöglichkeiten. Der Rektor und die Universitätslehrer wurden nicht mehr gewählt, sondern durch hoheitlichen Akt eingesetzt. König Wilhelm I. gab der Universität ihre angestammten Recht jedoch nur teilweise zurück. Vgl. H. Seeger, Karl Georg von Wächter, in: Unsere Zeit N.F., 16. Jahrgang, Bd. H, Heft 11 (1880), S. 723 f.; A. Dehlinger, Württembergs Staatswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung bis heute, Bd. I, 1951, S. 518 f. 13 N. Sandmann, Grundlagen und Einfluß der internationalprivatrechtlichen Lehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), 1979, S. LXVI f. 14 Habilitationsschrift „De Studiis et litterarum cultu optime meritum, collegam et amicum aestumatissimum" Instruktiv die Personalakte des Akademischen Rektoramtes, Universitätsarchiv Tübingen, UAT 126/720. 15 Dieses Datum entspricht der Eintragung im Doktorbuch der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen 1810-1906 (S. 11), Universitätsarchiv Tübingen, UAT 189/126. Abweichend aber: 16. Juli bei O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 25; 16. Juni bei F. v. Eisenhart, Carl Joseph Georg Sigismund v. Wächter, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. XXXX, 1896, S. 435, 436. 16 C.G. v. Wächter, Doctrina des condictione causa data causa non secuta in contractibus innominatis, Tübingen 1822. 17

O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 53 f.

Teil 2: Biographie

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Das Jahr 1825 brachte dem 28-jährigen die Wahl zum Rektor der Universität. Wächter stand damit an der Spitze der Universitätsverwaltung. Er sollte diese Stellung, i n der er ständiger Referent des Senats war, entgegen der traditionsgemäßen Übung nicht nur ein Semester, sondern 3 Jahre bis 1828 inne haben. Anschließend übernahm er die durch das Statut v o m 18. Januar 1829 geschaffene Vizekanzlerstelle. Nach der Aufdeckung einer angeblich staatsfeindlichen und aufrührerischen Vereinigung von Studenten i m Jahre 1825 waren von Seiten der Regierung Bestrebungen i m Gange, die autonome und korporativ-freiheitliche Universitätsverwaltung zu beschränken, wenn nicht sogar aufzuheben. M i t der vorübergehenden Einsetzung eines außerordentlichen K o m missars, der jede freiheitliche Bestrebung der Universität zu unterbinden hatte 1 8 , war auch die freie (Neu-) Wahl des Rektors ausgeschlossen worden. 1 9 Wächter blieb damit nach seiner Wahl mangels Nachfolger zwangsläufig i m A m t . Schließlich sollte mittels des Statuts v o m 18. Januar 1829 an die Stelle des bisher frei gewählten Rektors ein von der Regierung eingesetzter permanenter Kanzler als Vorstand des Senats und der Universität treten. 2 0 Wächter wurde infolgedessen i n Anerkennung seiner Dienste am 19. Januar 1829 von Seiten der Regierung das A m t des Vizekanzlers übertragen, was ihn weiterhin m i t der Lenkung des Senats befaßt ließ, w o m i t er dem nun entfachten Streit um die Universitätsverfassung öffentlich ausgesetzt w a r . 2 1

18 A. Dehlingen Württembergs Staatswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung bis heute, Bd. I, 1951, S. 519. 19

G. Mandry, Carl Georg von Wächter, in: Besondere Beilage des Staats-Anzeigers für Württemberg, Nr. 3 v. 18.2.1880, S. 36. 20 O. Häcker, Die parlamentarische Tätigkeit des Kanzlers Carl Georg von Wächter, 1927, S. 45 ff.; H. Meyer, Karl Georg von Wächter, 1898, S. 10 f.

21 N. Sandmann, Grundlagen und Einfluß der internationalprivatrechtlichen Lehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), 1979, S. LXVHI f.; O. Häcker, Die parlamentarische Tätigkeit des Kanzlers Carl Georg von Wächter, 1927, S. 48 ff.; G. Mandry, Carl Georg von Wächter, in: Besondere Beilage des Staats-Anzeigers für Württemberg, Nr. 3 v. 18.2.1880, S. 33, 36. Zu der nun entfachten polemischen Auseinandersetzung äußert sich Wächter in einem Schreiben an K.Th. Welcker vom 24. Februar 1830 (21. März 1830). Über seine Berufung als Vizekanzler der Universität Tübingen schreibt er dort: „Die neue Organisation wurde hier von sehr Vielen mit Mißtrauen und Widerwillen empfangen. Sehr vie l trugen freilich hierzu bei die persönlichen Verhä dessen, der zum beständigen Vorstand der Universität und des Senats erhoben wurde. D grund des Widerwillens war aber bei den Meisten der Umstand, daß wir einen solchen b gen Vorstand überhaupt bekommen sollen. Natürlich könnte bei diesen Umständen sich freundliche Stimmung leicht auch gegen den wenden, der bei dieser Organisation, wenn eine minder wichtige, und bloß vorübergehende, doch ausgezeichnete Stellung erhielt den Vizekanzler -, und bei mir trat gerade noch das Besondere ein, daß ich nicht zu der Hälfte des Senats gehöre, sondern von SO Senatoren der 17. dem Dienstalter nach bin. erhielt sich doch zwischen mir und meinen Kollegen wenigstens äußerlich ein recht gut hältnisJo sehr ich zwar immer dafür war und bin, daß eine freie Diskussion über wicht Angelegenheiten möglichst begünstigt und aufrecht erhalten werden müsse, daß dadur durch kräftiges Aussprechen mit gegengesetzter - wenn auch irriger - Ansichten das wah nur gewinnen kann: so sehr indignierte mich dagegen die Art, wie hier Thiersch sich übe

Teil 2: Biographie

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Wächters Position zu diesen, die universitäre Freiheit in ihrem Fundament erschütternden Maßnahmen der württembergischen Regierung wird deutlich, wenn man seine Ausfuhrungen in der Verteidigungsschrift „Ueber die neue Organisation der Universität Tübingen" 22 in Betracht zieht. Dort rechtfertigt er gerade im Blick auf die hohen Anforderungen an die Qualifikation des Vorstandes der Universität den Ersatz des frei gewählten Rektorats durch den ständigen, von der Regierung ernannten Kanzler; vornehmlich unter Betonung der erforderlichen Unabhängigkeit vom akademischen Lehrbetrieb und des notwendigen Vertrauens der Regierung in die Loyalität der Universitätsleitung. 23 Wobei der ernannte Kanzler lediglich als formeller „Ordner, Lenker und Beaufsichtiger" tätig werden dürfe. 24 Wächter unterstützt damit eine Maßnahme der Regierung, die das freiheitliche Selbstverständnis der Universität nahezu aufzuheben drohte. Der zunehmende öffentliche Druck und die allgemeine Mißstimmung veranlaßten die württembergische Regierung, die Universität im Jahre 1831 wieder in ihre alten Rechte einzusetzen. Diese Entwicklung gab damit Wächter Unrecht, der die Untauglichkeit der universitären Maßregelung inzwischen wohl erkannt hatte.25 Wächters Ansehen hatte aufgrund dieser Auseinandersetzung und seiner pointierten Stellungnahme erheblich gelitten. Das Amt des Vizekanzlers war ihm zunehmend verleidet. 26 Nach wiederholtem Gesuch wurde Wächter am 20. Oktober 1830 von seinem Amt entbunden. Er widmete sich von nun ab allein seiner akademischen Lehrtätigkeit. Nicht zuletzt wegen seiner exponierten Stellung an der Spitze der Landesuniversität, die zwangsläufig eine nicht unerhebliche politische Profilierung Anstalt und über Männer vernehmen ließ, die solche Angriffe abteilung der Universitätsbibliothek Heidelberg, HS 1919). 22

nicht verdienten"

(Handschr

Stuttgart 1830.

23

C.G. v. Wächter, Ueber die neue Organisation der Universität Tübingen, 1830, S. 54 ff. Den Standpunkt Wächters beurteilt sein Sohn Oskar von Wächter naturgemäß durchaus wohlwollender. (O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 35). Vgl. auch Illustrierte Zeitung (Leipzig) vom 14. August 1869 (Nr. 1363), Bd. 53, S. 121, 122. 24

C.G. v. Wächter, Ueber die neue Organisation der Universität Tübingen, 1830, S. 59.

25

So K.A. Klüpfel, Geschichte und Beschreibung der Universität Tübingen, 1849, S. 355.

26

Wächter spricht davon, daß ihm einige »trübe Erfahrungen" in diesem Zusammenhang nicht erspart geblieben seien. Vgl. G. Mandry, Carl Georg von Wächter, in: Besondere Beilage des Staats-Anzeigers für Württemberg, Nr. 3 v. 18.2.1880, S. 33, 36; B. Windscheid, Carl Georg von Waechter, 1880, S. 5; O. Häcker, Die parlamentarische Tätigkeit des Kanzlers Carl Georg von Wächter, 1927, S. 54. Vgl. auch das Schreiben Wächters an Mittermaier vom 14. Dezember 1833: „So wäre ich doch im Ganzen lieber im Süden. Nur kann ich es nie bereuen, von Tübingen den jetzigen Verhältnissen weggegangen zu sein" Eine abweichende Darstellung gibt R. v. Mohl in seinen Lebenserinnerungen: Wächter hätte mehr aus Furcht vor freiheitlich-revolutionären Übergriffen der ländlichen Bevölkerung im Zusammenhang mit der „Julirevolution" von 1830 sein Amt als Vizekanzler niedergelegt. R. v. Mohl, Lebenserinnerungen, Bd. I, 1902, S. 198.

Teil 2: Biographie

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zur Folge hatte, ergingen 1831 an Wächter die Aufforderungen der Wahlkommitees der Oberämter Münsingen und Heidenheim, sich in die Ständeversammlung wählen zu lassen. Wächter lehnte ab, um die wissenschaftliche Tätigkeit nicht wiederum einschränken zu müssen.27 Nachdem er kurz zuvor einen Ruf an die neu errichtete Universität Zürich abschlägig beschieden hatte, nutzte Wächter das Interesse der hochangesehen Leipziger Fakultät, um so den ihm unangenehmen politischen Verhältnissen Württembergs entfliehen zu können.28 In einem Brief an Carl Joseph Anton Mittermaier (1787-1867) vom 14. Dezember 1833 schreibt Wächter aus Leipzig: „Nur kann ich es nie bereuen, von Tübingen unter den jetzigen Verhältnissen weggegangen zu sein." 29 Maßgeblich für die ehrenvolle Berufung Wächters war das in den Jahren 1825/26 erschienene ,Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts" 30, seine erste größere literarische Leistung. 31 Aber auch die in den Jahren 1832 und 1835 veröffentlichten Werke „Die Strafarten und Strafanstalten des Königreichs Württemberg" 32 und die „ A b h a n d l u n g e n aus dem Strafrechte" 33 , die Verbrechen der Entführung und der Notzucht darstellend, fanden in Fachkreisen hohe Anerkennung. Obwohl an Stelle des ablehnenden Feuerbach für das Strafrecht berufen 34, las Wächter auch Pandekten.35 Die nun anbrechende Zeit ausgeprägter wissenschaftlicher Lehr- und Forschungstätigkeit wurde bereichert durch die Arbeit im Spruchkollegium, dem Wächter als Fakultätsmitglied angehörte, und seine Funktion als Rat am 1834 neu errichteten Appellationsgerichtshof. Diese Tätigkeit kam seiner Neigung zur juristischen Praxis besonders entgegen.36

27

Vgl. O. V. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 36 f.

28

N. Sandmann, Grundlagen und Einfluß der internationalprivatrechtlichen Lehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), 1979, S. LXIX. Anschaulich die Entlassungsbewilligung des Königlichen Innenministeriums aus württembergischen Diensten vom 8. März 1833 (Personalakte des Akademischen Rektoramtes, Universitätsarchiv Tübingen, UAT 126/720). Vgl. dazu auch die Schreiben Wächters an Robert von Mohl vom 8. Juni, 7. Juli und 8. August 1833 sowie vom 16. Februar 1834 aus Leipzig (Universitätsbibliothek Tübingen, Handschriftenabteilung, Md 613/929). 29

Briefwechsel C.G. v. Wächter - C.J.A. Mittermaier (Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Heidelberg, HS 2746). 30

Theil I (Allgemeiner Theil), Stuttgart 1825; Theil H (Besonderer Theil), Stuttgart 1826.

31

E. Kern, Karl Georg von Wächter, in: Schwäbische Lebensbilder, hrsg. v. H. Haering u. O. Hohenstatt, Bd. 1 1940, S. 545, 546; B. Windscheid, Carl Georg von Wächter, 1880, S. 5. 32

Tübingen 1832.

33

Bd. I, Leipzig 1835.

34

E. Hoelder, Carl Georg von Waechter, 1897, S. 9.

35

O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 39.

36

Wächter lehnte eine in Aussicht gestellte Befreiung von der Spruchkollegiumspflicht ausdrücklich ab. Er schreibt am 9. Januar 1833 an das sächsische Justizministerium: „Ganz befreit von den Arbeiten des Spruchkollegiums zu werden, wünsche ich nicht. Ich sehe und sah v

Teil 2: Biographie

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Obwohl Wächter die Rufe nach Erlangen (1834) und Bonn 37 (183 5) ablehnte, konnte er sich dem attraktiven Angebot der Stelle eines Kanzlers 38 und außerordentlichen Regierungsbevollmächtigten und ersten Mitglieds der Tübinger Juristenfakultät (1835) nicht versagen. „Ich habe in Dresden meine Entlassung eingereicht, indem ich mich entschloß, den Ruf zur Stelle eines Kanzlers und ausserordentl. Regierungscommissaires in Tübingen anzunehmen. Der König v. Württ. hat mich auf eine so ehrenvolle Weise in mein Vaterland zurückberufen, dass ich unmöglich nein sagen konnte. Auch bietet mir das neue Amt ... einen schönen Wirkungskreis, und in den Zeiten, in welchen der Landtag nicht versammelt ist, die größte wissenschaftliche Muse. ... Die Verbundenheit zu Süddeutschland und zu meinem Vaterland war freilich auch ein Hauptmotiv dabei." 39 Wächters Nachfolger in Leipzig wurde der herausragende Lehrer des römischen Rechts Georg Friedrich Puchta, der Schüler Savignys.40 In Tübingen wurde Wächter von der Regierung, der Universität und der Stadt mit höchsten Ehren empfangen. 1835 erhielt Wächter von König Wilhelm I. den persönlichen Adel. Die folgenden Jahre in seiner, während seines Leipziger Aufenthalts nie vergessenen41, schwäbischen Heimat wurden der Höhepunkt seines fachliterarischen Schaffens und seines politischen Einflusses auf die Gesetzgebung Württembergs. Wächter gehörte nach der Verfassungsurkunde

die Praxis als ein höchst wichtiges, von Einseitigkeiten bewahrendes und auf manche neu führendes Bildungsmittel des Theoretikers an, und freue mich gerade, bei dem großen U an Arbeiten des Spruchkollegiums dieses Bildungsmittel vielfach für mich benutzen zu (Zitiert nach O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 40. Vgl. auch N. Sandmann, Grundlagen und Einfluß der internationalprivatrechtlichen Lehre Carl Georg von Wächters (17971880), 1979, S. LXX. Instruktiv auch die Schreiben Wächters an Mittermaier vom 1. Januar 1833, 14. Dezember 1833, 12. Januar 1834 und 21. April 1835 (mit durchaus kritischer Anmerkung!). 37

Vgl. das Schreiben Wächters an Mittermaier vom 21. April 1835.

38

Einen nachdrücklichen Einblick in das Aufgabenfeld des Kanzlers Wächter, hier die Neubesetzung eines Ordinariats der Theologischen Fakultät, gibt der Briefwechsel zwischen Carl Georg von Wächter und K. Ullmann; insbesondere die Briefe vom 27. Oktober 1837, 17. November 1837, 22. Juli 1839, 2. August 1839 und 13. September 1839 (Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Heidelberg, HS 2808). 39

Schreiben Wächters an Mittermaier vom 24. Oktober 1835. Der Abschied aus Leipzig fiel jedoch nicht leicht, vgl. Schreiben Wächters an Mittermaier vom 15. März 1836. Anschaulich dazu auch die Schreiben Wächters an Robert von Mohl vom 15. und 28. Dezember 1835 (Universitätsbibliothek, Handschriftenabteilung, Md 613/929). 40 Kleinheyer/Schröder (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. Auflage 1996, S. 327 ff. 41

O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 43; B. Windscheid, Carl Georg von Waechter, 1880, S. 7; G. Mandry, Carl Georg von Wächter, in: Besondere Beilage des StaatsAnzeigers für Württemberg, Nr. 3 v. 18.2.1880, S. 33, 37; F.O. v. Schwarze, Dr. Carl Georg von Wächter, in: Der Gerichtssaal, Bd. XXXI (1879), S. 561, 566.

Teil 2: Biographie

31

für das Königreich Württemberg von 1819 als Kanzler kraft Amtes der landständischen Kammer der Abgeordneten an. 4 2 Z u m Zeitpunkt seines Kammereintritts i m Frühjahr 1836 wurde der Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches für das Königreich Württemberg, das die „Peinliche Halsgerichtsordnung" von 1532 ablösen sollte, debattiert. 4 3 Wächter wurde schon nach kurzer Zeit aufgrund seiner hervorragenden Fachkenntnisse 44 und seinen vermittelnden und ausgleichenden praktischen Verhandlungsfähigkeiten eine exponierte Stellung i n der Kammer zugestanden. 45 Dies führte 1839 unweigerlich zur Wahl Wächters zum Kammerpräsidenten. 4 6 I m Jahre 1845 wurde er i n diesem A m t bestätigt. 4 7 I n Wächters Zeit als Abgeordneter und Kammerpräsident fiel eine Reihe wichtiger gesetzgeberischer Arbeiten. 1836 wirkte Wächter an den Gesetzen zur Aufhebung der bäuerlichen Feudallasten 48 mit. Neben dem neuen Strafgesetzb u c h 4 9 von 1839, das Wächter 1835 von Leipzig aus begutachtet haben s o l l 5 0 , 42

§ 133 Ziffer 4.

43

Zum Zustandekommen des Strafgesetzbuches für das Königreich Württemberg vom 1. März 1839 und Wächters Einfluß auf die konkrete Ausgestaltung desselben vgl. Teil 4. 44 Wächter war nach eigenem Bekunden unter den Mitgliedern der Kammer der einzige ausgebildete Strafrechtler. Vgl. Schreiben Wächters an Mittermaier vom 18. Februar 1838 und unbestimmten Datums (Brief 88 der Sammlung HS 2746).

45 N. Sandmann, Grundlagen und Einfluß der internationalprivatrechtlichen Lehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), 1979, S. LXX; E. Hoelder, Carl Georg von Waechter, 1897, S. 10 f. Über sein Verhältnis als Präsident zur Kammer schreibt Wächter an Mittermaier (13. Juli 1839): „ Viel zu meinem Wohlsein hat übrigens ein völlig ungetrübtes Verhältnis zwischen Präs Kammer beigetragen"

46 „Von allen Parteien ist sein Präsidium als unübertroffen anerkannt, namentlich die seiner erschöpfenden und maßgebenden Resümees, die Präcision der Fragestellung, sichtsvolle Förderung der Geschäfte, die Unparteilichkeit, Energie und persönliche A womit er die schwierigsten Probleme zu befriedigender Erledigung führte" (O. v. Wächte Georg von Wächter, 1881, S. 55 f.). Vgl. auch O. Häcker, Die parlamentarische Tätigkeit des Kanzlers Carl Georg von Wächter, 1927, S. 60, 69, 74; H. Meyer, Karl Georg von Waechter, 1898, S. 13; Illustrierte Zeitung (Leipzig) vom 14.8.1869 (Nr. 1363), Bd. 53, S. 121; G. Mandry, Carl Georg von Wächter, in: Besondere Beilage des Staats-Anzeigers für Württemberg, Nr. 3 v. 18.2.1880, S. 33, 37; E. Hoelder, Carl Georg von Wächter, 1897, S. 10 f. Über die Einschätzung der Bedeutung einer Kammerpräsidentschaft durch Wächter vgl. Schreiben Wächters an Mittermaier vom 20. Juni 1835: „Mr scheint es einer der schwierigsten und in jeder Hinsicht angre fendsten Aufgaben zu sein, Präsident einer Abgeordnetenkammer ...zu sein" (HS 2746). 47

Instruktiv zu seiner Funktion als Kammerpräsident das Schreiben Wächters an Johann Georg Cotta (1796-1863) vom 19. April 1841 (Deutsches Literaturarchiv, Cotta-Archiv, Handschriftenabteilung, Cotta Br.). 48

Gesetze vom 27., 28. und 29. Oktober 1836; WüRegBl 1836, Nr. 545, 555, 570.

49

Gesetz vom 1. März 1839; WüRegBl 1839 Nr. 101.

50 So O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 54. Ein solches Gutachten über den Strafgesetzbuchentwurf des Königreichs Württemberg ist nicht existent. Vgl. Teil 4 Kapitel 1 Anm 21).

32

Teil 2: Biographie

wurde 1843 eine neue Strafprozeßordnung 51 verabschiedet. 1849 folgte ein Gesetz zur Einführung der Schwurgerichtshöfe 52 und zur Abschaffung der Patrimonial-Gerichtsbarkeit 5 3 und des befreiten Gerichtsstandes 54 . A l s Präsident der Kammer hatte Wächter i n der Landeshauptstadt Stuttgart zu wohnen und seine Lehrtätigkeit aufzugeben, nicht aber seine wissenschaftlich-schriftstellerische Arbeit und Neigung trotz immenser Arbeitsbelastung. 5 5 Während seines Aufenthaltes i n Stuttgart erschien auf Anregung K ö n i g W i l helms I . 5 6 sein w o h l bedeutendstes und wirkungsreichstes Werk, „eine wissenschaftliche Leistung allerersten Ranges" 5 7 : das „Handbuch des i m Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts" 5 8 .

51

WüRegBl 1843, Nr. 459.

52

WüRegBl 1849, Nr. 399.

53

Gesetz vom 4. Juli 1849; WüRegBl 1849, Nr. 269.

54

Gesetz vom 17. August 1849, WüRegBl 1849, Nr. 463.

55

„Der Landtag nimmt mir täglich durch Sitzungen mehr als die Hälfte des Tages un sollen noch amtliche Geschäfte besorgt, Briefe beantwortet, Protokolle und die Frage unter der Presse befindlichen Buches corigiert, ... Motive des Gesetzentwurfes gelesen, gemacht, Gesellschaften besucht und unzählige Besuche angenommen werden - wahrlich is nicht, wo ich die Zeit hernehmen soll." Aus dem Schreiben Wächters an Mittermaier vom 18. Februar 1838. Vgl. auch das Schreiben vom 17. Februar 1839. Aufschlußreich das Schreiben Wächters an Johann Georg Cotta vom 12. Dezember 1844 (Deutsches Literaturarchiv, CottaArchiv, Handschriftenabteilung, Cotta Br.); so auch die Schreiben Wächters an Christian Reinhold Köstlin vom 26. Februar 1839 und 20. November 1844 (Deutsches Literaturarchiv, Handschriftenabteilung, 45984/ 2; 46074/1).

56 So Wächter in einem Schreiben an Mittermaier vom 8. November 1836: Jch habe ... einen Auftrag erhalten, eine Vorlesung des gesamten in Württemberg geltenden Privatrechts als erste Vorarbeit für die Revision unseres LandrechtsVgl. auch O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 53; H. Dernburg, Carl Georg von Wächter, 1880, S. 11 f.; G. Mandry, Carl Georg von Wächter, in: Besondere Beilage des Staats-Anzeigers für Württemberg, Nr. 3 v. 18.2.1880, S. 33, 38; Vgl. auch den Hinweis bei C.G. v. Wächter, Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, 1839, Bd. I, 2. Halbbd., S. 1060. 57 B. Windscheid, Carl Georg von Waechter, 1880, S. 28; vgl. auch H. Dernburg, Carl Georg von Wächter, 1880, S. 12. 58

Bd. I, 1. Halbbd., 1839; Bd. I, 2. Halbbd., 1842; Bd. n, 1842. Das Werk blieb unvollendet. Vgl. ausführlich zum )yHandbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts": Elsener, Der Jurist Carl Georg von Wächter (1797-1880). Sein „Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechte" und seine Stellung zur Kodifikationsfrage, in: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477-1977, 1977, S. 471-496. Wächter wurde 1836 durch die Regierung zur Erstellung von Vorarbeiten zur Schaffung eines einheitlichen modernen Privatrechtskodex für Württemberg beauftragt. Ergebnis seiner umfangreichen Studien war das Handbuch des Württembergischen Privatrechts. Vgl. O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 53. Instruktiv auch H. Dernburg, Carl Georg von Wächter, 1880, S. 11. Beachte den Hinweis in C.G. v. Wächter, Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, 1842, Bd. I, 2. Halbbd., S. 1060.

33

Teil 2: Biographie

I n seiner Arbeit als Kammerpräsident, die durch die Nähe zum K ö n i g erhebliche politische Prägung erlangte, zeigte Wächter eine konsequent rechtsstaatlich-liberale Gesinnung. 5 9 D i e Affaire der Göttinger Sieben i m Zusammenhang m i t der einseitigen Verfassungsänderung durch K ö n i g Ernst August von Hannover i m Jahre 1837 6 0 bedauerte Wächter zutiefst: „ D i e ganze Hannover'sehe Angelegenheit aber scheint m i r ein Unglück für Deutschland und für die deutschen Verhältnisse genannt werden zu können. ... I c h glaube annehmen zu dürfen, daß der Charakter der Deutschen i m Ganzen durch und durch rechtlich ist und durch Achtung vor dem Rechte und Festhalten an demselben sich auszeichnet. Aber gerade dieser Charakter scheint m i r durch die einseitige Aufhebung des Hannover'sehen Staatsgrundgesetzes ... t i e f verletzt zu sein." 6 1

Zudem

sprach er sich nachhaltig für die Verbindung von Fortschritt und Liberalität mit der Treue zu den hergebrachten Rechten und der fürstlichen Regierung aus. 6 2 Wächter war Konstitutionalist 6 3 und Legalist, nicht aber reaktionär. 6 4 Das bestehende Recht galt i h m als entscheidende Richtschnur seines Handelns. 6 5 Er warb für konstitutionelle Freiheit, aber stets unter Wahrung der bestehenden

59 A. Laufs, „Das wirklich geltende, durch den allgemeinen Willen gesetzte Recht". Zur Rechtslehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), in: Festschrift für K. Kroeschell, 1997, S. 617, 621; derselbe, Karl Georg von Wächter (1797-1880), in: ZWLG, 1998, S. 285, 290. Vgl. dazu auch das Schreiben Wächters an Friedrich Theodor Vischer vom 3. Mai 1847 (Universitätsbibliothek Tübingen, Handschriftenabteilung, Md 787/1113) sowie die Schreiben Wächters an Robert von Mohl vom 3. August 1844 bis 1. September 1848 (Universitätsbibliothek Tübingen, Handschriftenabteilung, Md 613/929). 60

Vgl. dazu A. Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 5. Auflage 1996, Kap. VII. 2.

61

Schreiben Wächters an den preußischen Minister C.A.H. von Kamptz vom 20. Juni 1837. Zitiert nach O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 54. Vgl. auch das Schreiben Wächters an Mittermaier vom 2. April 1838. Am 3. Oktober 1839 schreibt Wächter an Mittermaier: „Den Bundesbeschluß in der Hannoveraner Sache kann auch ich nicht vertreten. Wollte ic von allem Recht e absehen, so ist mir der politisch e Mißgriff Preußens in dieser ganzen unbegreiflich. Es hat mich in langer Zeit kaum Etwas so sehr betrübt, als der traurige G die Majestät des Bundes einschlägt. Sie will zwar Verfechterin des monarchischen Prinz allein durch ihre Handlungsweise greift sie gerade das monarchische Prinzip an und zer es und arbeitet dem Demagogismus in die Hände." 62

Rede Wächters zum Schluß des Landtages in der Sitzung vom 28. März 1848, in: Verhandlungen der Württembergischen Kammer der Abgeordneten auf dem Landtage von 1848/49, 1849, Bd. I, S. 277 f. Vgl. auch die Rede Wächters in der Kammer der Abgeordneten in der Sitzung vom 4. Oktober 1848, in: Verhandlungen der Württembergischen Kammer der Abgeordneten auf dem Landtage von 1848/49, 1849, Bd. I, S. 133. Instruktiv auch das Schreiben Wächters an Mittermaier vom 2. Januar 1848 (HS 2746). Zur vermittelnden moderaten Gesinnung Wächters vgl. W. Jens, Eine deutsche Universität. 500 Jahre Tübinger Gelehrtenrepublik, 1977, S. 288.

63 „Mit ganz besonderem Interesse sehen wir demnächst auf Baden und seine Wahlen wünschen dringend, daß die wohlmeinende Regierung die Majorität bekommen möcht wünschen es um so mehr, als beim Gegenteile dem constitutionellen Prinzip ganz fatale K drohen würden(Aus einem Schreiben Wächters an Mittermaier vom 8. März 1846; HS 2746). 64

W. Jens, Eine deutsche Universität. 500 Jahre Tübinger Gelehrtenrepublik, 1977, S. 288.

65

Zum Verhältnis Wächters zum Rechtspositivismus vgl. ausführlich Teil 3 Kapitel 1, II.

3 Jungemann

Teil 2: Biographie

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Rechtsordnung. 66 Deshalb hatte für ihn das monarchische Prinzip, das vornehmlich der Stabilisierung der durch den Übergang zum Verfassungsstaat zunehmend in Legitimationsnöte geratenen Stellung des Monarchen dienen sollte 67 , auch einen uneingeschränkten Gültigkeitsanspruch. 68 Sein Sohn Oskar stellt seiner Biographie ein dem entsprechendes Lebensmotto Wächters voran, das dieser am 9. Juni 1849 in der Württembergischen Kammer der Abgeordneten sprach: „Man mag mich einen Stockjuristen nennen; ich habe mir immer in meinem Leben das Recht zur Richtschnur genommen, und ich glaube mir das Bewußtsein erhalten zu haben, mit Wissen dieses Recht niemals verletzt zu haben." 69 Naturgemäß orientierte sich Wächter damit an der bestehenden Ordnung, worin so manches zurückhaltende Urteil seiner Biographen über die politische Haltung Wächters 70 seine Ursache haben mag. Diese konstitutionell-positivistisch geprägte Grundhaltung Wächters führte letztlich auch zum Verzicht auf das Amt des Präsidenten der 2. Kammer, als König Wilhelm I., um größere revolutionäre Unruhen in Württemberg zu vermeiden, die bisherige Regierung, mit der Wächter als Präsident vertrauensvoll zusammengearbeitet hatte, am 9. März 1848 absetzte, um an ihrer Stelle das sogenannte ,JVlärzministerium" aus der liberalen Minderheit der Kammer berufen zu können.71 Für Wächter war dies eine unerträgliche Desavouierung der 66

Nekrolog des Schwäbischen Merkurs, in: F.O. v. Schwarze, Dr. Carl Georg von Wächter, in: Der Gerichtssaal, Bd. XXXI (1879), S. 561, 567. 67 H. Boldt, Monarchie, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. v. O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck, Bd. IV, 1978, S. 133, 200 ff.

68 „Wie es aber selbst mit den bestehenden Rechten geht, sieht man bei Hannover. Ich das Verfahren des Bundes in der Hannoveranischen Sache im Interesse des Rechts und d archischen Prinzips nicht genug bedauern" (Aus einem Schreiben Wächters an Mittermaier vom 23. Oktober 1839 (HS 2746)). Zu seiner Einstellung zu demokratischen Bestrebungen vgl. O. Häcker, Die parlamentarische Tätigkeit des Kanzlers Carl Georg von Wächter, 1927, S. 64; F. Elsener, Der Jurist Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477-1977, 1977, S. 471, 481. 69

Verhandlungen der Württembergischen Kammer der Abgeordneten auf dem Landtage von 1848/49, 1849, Bd. 5, 156. Sitzung v. 9.6.1849, S. 4166. 70 W. Jens, Eine deutsche Universität. 500 Jahre Tübinger Gelehrtenrepublik, 1977, S. 288: „iein Mann der Krone" \ E. Kern, Karl Georg von Wächter, in: Schwäbische Lebensbilder, hrsg. v. H. Haering u. O. Hohenstatt, Bd. I 1940, S. 545, 548: „Seine Politik war ... regierungsfreundlich"-, E. Sieber, Stadt und Universität Tübingen in der Revolution von 1848/49, 1975, S. 23: „Zugpferd der konservativen Seite"; N. Sandmann, Grundlagen und Einfluß der internationalprivatrechtlichen Lehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), 1979, S. LXVffl: „regierungsfreundliche Haltung Wächters". 71

F. Elsener, Der Jurist Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477-1977, 1977, S. 471, 474; H. Dernburg, Carl Georg von Wächter, 1880, S. 14; H. Meyer, Karl Georg von Waechter, 1898, S. 15; B. Windscheid, Carl Georg von Waechter, 1880, S. 13 ff.; E. Kern, Karl Georg von Wächter, in: Schwäbische Lebensbilder, hrsg. v. H. Haering u. O. Hohenstatt, Bd. I 1940, S. 545, 548. Vgl. auch Wächters Äußerungen in: O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 109 f.

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Teil 2: Biographie

Kammermajorität. 7 2 A l s i m Zuge der Anerkennung der Reichsverfassung die württembergische Verfassung von 1819 außer Kraft gesetzt und damit die Zweite Kammer aufgelöst wurde, endete Wächters

Kammermitgliedschaft.

Wächter kehrte nach zehnjähriger Unterbrechung i n seinen akademischen Lehrberuf zurück. 7 3 A u c h das A m t des Kanzlers der Universität legte er nieder, als es den 1849/50 einberufenen württembergischen Landesversammlungen nicht gelang, eine neue Verfassung zu verabschieden, und die württembergische Regierung daraufhin 1851 durch einen einseitigen A k t die alte Verfassung v o n 1819 wiederherstellte und nach altem Recht Landtagswahlen durchführen ließ. Dieser A k t , jede verfassungsrechtlich legitimierende Grundlage entbehrend, war für Wächter nicht zu rechtfertigen. 7 4 Durch Ministerial-Dekret wurde Wächter als Kanzler aufgefordert, „den i h m gebührenden Sitz i n der zweiten Kammer einzunehmen". 7 5 Dabei hatte er sich jedoch bereits zuvor entschieden gegen die Beibehaltung privilegierter Abgeordnetenmandate, wie sie dem A d e l , den Prälaten und dem Kanzler der Landesuniversität zustanden, ausgesprochen. 76

72

O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 69; E. Sieber, Stadt und Universität in der Revolution von 1848/49, 1975, S. 94.

73 „Nach zehnjähriger Unterbrechung nämlich habe ich meinen academischen Beruf w aufgenommen, in der Absicht bei ihm, der mir allein die vollste Freiheit und den ungetr Genuß gibt, zu bleiben. Aber dazu muß ich alle meine Kräfte anstrengen und für die näc Jahre kann ich blos für meine Vorlesungen arbeiten, um so mehr, als ich in der nächst Manches für meine Vorlesungen, aber blos für sie, drucken lassen muß. ... Seit dem O vorigen Jahres arbeite ich täglich 10-12 Stunden blos für meine Vorlesungen (ich las u Pandecten vor einem so vollen Hörsaale, wie es wohl in dieser Vorlesung hier noch nie w nur in den dringensten Fällen gehe ich nach Stuttgart in die Kammer, wie z.B. vor 11 Tag Person und Votum für das Deutsche Reich und seine Verfassung einzusetzen. Ich will unbedingt dem dankbareren Lehrerberuf widmen, daß ich gerne die Gelegenheit ergreifen von meinem Kanzleramt los zu werden. Ich sehe mich deshalb als vocabilis an und würde Umständen gerne eine solch e Gelegenheit ergreifen. Aber wird es in den nächsten Mo möglich sein, meinem wissenschaftlichen Berufe zu leben?" (Aus einem Schreiben Wächters an Mittermaier vom 5. Mai 1849 (HS 2746)). 74

„Ein Zurückgreifen auf die durch das Wahlgesetz von 1849 aufgehobene ständische sentation ist nach meiner rechtlichen Überzeugung mit jenem Gesetze nicht vereinbar u kann sie daher nur aus dem Gesichtspunkte einer Oktroyirung auffassen. ... Bei diesem streite meiner rechtlichen und politischen Überzeugung mit dem Wege, den das Königlich sterium eingeschlagen hat, halte ich gegen Eure Majestät mich für verpflichtet, das Kanzl zur Allerhöchsten Verfügung mit der Bitte zu stellen, in meiner akademischen Lehrstell gnädigst belassen zu wollen(Zitiert nach O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 123 f.). Vgl. auch G. Mandry, Carl Georg von Wächter, in: Besondere Beilage des StaatsAnzeigers für Württemberg, Nr. 3 v. 18.2.1880, S. 33, 40; H. Meyer, Karl Georg von Waechter, 1898, S. 16 f.; J. Rückert, August Ludwig Reyschers Leben und Rechtstheorie. 1802-1880, in: Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, Bd. XIII, 1974, S. 36. 75 76

O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 123.

„Schon vor Monaten ... ging ich von der Ansicht aus, daß künftig für den Kanzler a chen kein langes Bleiben mehr in der Deputiertenversammlung sein werde, daß diese kün 3*

Teil 2: Biographie

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Wächter war als Romanist auf den Germanistentag v o n 1847 i n Lübeck geladen, auf dem er sich für die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Strafprozesses, aber gegen die Einfuhrung v o n Geschworenengerichten aussprach. 77 Er forderte eine nachhaltige Aussöhnung der Germanisten und Romanisten. 7 8 I m A p r i l 1848 war Wächter M i t g l i e d des Frankfurter Vorparlaments. Wächter wurde i n den Fünfzigerausschuß gewählt, der die Rechte des Volkes bis zur endgültigen Konstitution der Nationalversammlung wahrnehmen sollte. A l s Abgesandter des Fünfzigerausschusses warb er i n Böhmen erfolglos für die Teilnahme an einer deutschen Nationalversammlung. 7 9 Zur W a h l i n die Paulskirche kam es j e d o c h n i c h t . 8 0 I m Oktober 1848 schied Wächter auch aus der württembergischen „Organisations-Kommission" aus, die unter seinem Vorsitz i m Sinne der Märzregierung die Reformierung der Verwaltung vornehmen sollte. 8 1

auf die Wahl des Volkes gegründet werden müsse und daher aus derselben die Prälaten, und der Kanzler als solche auszuscheiden haben" (Zitiert nach O. Häcker, Die parlamentarische Tätigkeit des Kanzlers Carl Georg von Wächter, 1927, S. 103). 77

C.G. v. Wächter, in: Verhandlungen der Germanisten zu Lübeck am 27., 28. und 30. September 1847, 1848, S. 118 ff. Vgl. auch die Ausführungen Wächters in den Schreiben an Mittermaier vom 23. August 1841, 2. November 1841, 7. Mai 1842, 17. August 1843, 3. März 1844, 28. März 1845 und vom 20. Januar 1847: Jch bin stets auf das Entschiedenste für Mündlichkeit und Öffentlichkeit in Civil- und Kriminal-Verfahren gewesen, aber ebenso entschieden hatte Bedenken gegen Geschworenen-Gerichte, und habe sie durchaus noch. Diese meine Überze habe ich stets offen ausgesprochen und ich schmeichle mir, daß ich durch das stete Aus dieser Überzeugung mit dazu beigetragen habe, in Württemberg auch in höheren Sphäre Ansichten für die Sache der Mündlichkeit und Öffentlichkeit zu gewinnen, so daß ich nich le, daß wir in nicht langer Zeit dem Beispiele Badens folgen werden." Vgl. auch das Schreib C G. v. Wächters an K.Th. Welcker vom 31. Januar 1841 (Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Heidelberg, HS 1919). 78 Vgl. zu Wächters Position in der Auseinandersetzung der römischen und germanistischen Rechtsschule Teil 3 Kapitel 1,1. 3. 79 Vgl. dazu A. Laufs, „Das wirklich geltende, durch den allgemeinen Willen gesetzte Recht". Zur Rechtslehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), in: Festschrift für K. Kroeschell, 1997, S. 617, 622. 80 E. Sieber verneint bereits die Aufstellung Wächters als Kandidat. E. Sieber, Stadt und Universität in der Revolution von 1848/49, 1975, S. 96. Dagegen weisen F.O. v. Schwarze, Dr. Carl Georg von Wächter, in: Der Gerichtssaal, Bd. XXXI (1879), S. 561, 567 und B. Windscheid, Carl Georg von Wächter, 1880, S. 13 auf eine „ Wahlniederlage" Wächters hin. 81 Vgl. dazu ausführlich A. Laufs, „Das wirklich geltende, durch den allgemeinen Willen gesetzte Recht". Zur Rechtslehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), in: Festschrift für K. Kroeschell, 1997, S. 617, 622; derselbe, Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: ZWLG, 1998, S. 285, 292 f. Instruktiv das Schreiben Wächters an Johann Georg Cotta vom 19. Juli 1848 (Deutsches Literaturarchiv, Cotta-Archiv, Handschriftenabteilung, Cotta Br.). Allgemein zur württembergischen Organisations-Komission vgl. B. Mann, Die württembergische „OrganisationsKommission von 1848, in: ZWLG 40, 1981, S. 519 ff.

Teil 2: Biographie

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Obwohl ihn nach eigener Beteuerung „kein in den Verhältnissen in Tübingen an sich liegendes Moment" zum endgültigen Weggang aus seiner Heimat veranlaßte82, dürfte Wächter seine Berufung als Präsident des Oberappellationsgerichts der vier Freien Städte Hamburg, Lübeck, Bremen und Frankfurt am Main 1851 als Befreiung aus den verstrickten württembergischen Verhältnissen empfunden haben.83 Die Nachfolge Georg Arnold Heises (1778-1851) war für Savigny eine „edle Stellung", die Wächter glücklicherweise mehr als jede andere von der Politik entfremde. 84 Dieses 1820 gegründete Oberappellationsgericht galt als der wohl angesehenste Gerichtshof Deutschlands in der Zeit des Deutschen Bundes.85 Wächter strebte eine Reformierung der zwar hohen wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden, aber zögerlichen Arbeitsweise des Gerichtshofs an. Die große Arbeitsbelastung hinderte Wächter jedoch zunehmend an der ihm so wichtigen wissenschaftlich fachliterarischen Arbeit. Deshalb gab Wächter das Amt in Lübeck nach einem Jahr auf, um 1852 einem von ihm initiierten Ruf nach Leipzig zu folgen. Der charismatische Lehrer der Pandekten und des Strafrechts erwarb sich auch als Fachschriftsteller während seines zweiten Aufenthalts in Leipzig nachhaltiges Ansehen und Wirkung. 86 Rufe nach Tübingen und Wien lehnte er ab. Die Universität ehrte Wächter durch die Ernennung zum Ordinarius 87 und Professor primarius der Juristischen Fakultät sowie durch die Wahl in das Rektorenamt zur 450Jahrfeier der Universität Leipzig 1859. Als enger Vertrauter des Königs und der Regierung von Sachsen wurde Wächter Mitglied des sächsischen Staatsrats und des Staatsgerichtshofs. Neben

82 Vgl. aber das Schreiben Wächters an Schräder nach Tübingen vom 20. Februar 1852: „Wiewohl ich gewiß bin, daß Tübingen nie mehr meine Wohnstätte werden wird, fühle ich mic noch als ein halber Tübinger(Zitiert nach O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 127. 83 A. Laufs, „Das wirklich geltende, durch den allgemeinen Willen gesetzte Recht". Zur Rechtslehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), in: Festschrift für K. Kroeschell, 1997, S. 617, 623; derselbe, Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: ZWLG, 1998, S. 285, 293 f. 84 Schreiben Savignys an Wächter vom 5. August 1851. (Zitiert nach O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 126). Zum Verhältnis Savignys zu Wächter vgl. A. Stoll, Friedrich Karl v. Savigny, Bd. m, 1939, S. 66, 73. 85 F. Elsener, Fünfhundert Jahre Tübinger Juristenfakultät, JZ 1977, S. 617, 619; H. Meyer, Karl Georg von Waechter, 1898, S. 17. 86

Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht. Ein Handbuch. Einleitung und allgemeiner Theil, 1857; Beitrag zur Geschichte und Kritik der Entwürfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, 1870; Die Busse bei Beleidigungen und Körperverletzungen nach dem heutigen gemeinen Recht, 1874; Beilagen zu den Vorlesungen über das deutsche Strafrecht. Erste Lieferung. Einleitung in das deutsche Strafrecht, 1877; Deutsches Strafrecht. Vorlesungen von Carl Georg von Wächter, herausgegeben von O. v. Wächter, 1881. 87 Die Ernennung zum Ordinarius bedeutete damals an der Universität Leipzig die ständige Vorstandschaft der Juristischen Fakultät. Vgl. O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 139 Anm. 2).

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zahlreichen Würdigungen und Auszeichnungen aus dem In- und Ausland 88 erhielt Wächter zum 82. Geburtstag den erblichen Adel verliehen. 1859 wurde Wächter Ehrenbürger der Stadt Leipzig. In den Jahren 1862, 1865 und 1868 war er Leipziger Stadtverordneter. 1869 wurde Wächter zum wirklichen Geheimen Rat mit dem Titel Exzellenz ernannt. Auch über Leipzig hinaus erlangte Wächter bedeutendes Ansehen und entfaltete eindrucksvolle Wirkung. Er hatte in besonderem Maße Anteil am Zustandekommen des 1860 zu Berlin gegründeten Deutschen Juristentages, der sein Engagement ganz der deutschen Rechtseinheit verschrieb. 89 Als Ausdruck seines hohen Ansehens unter den rund 800 anwesenden deutschen Juristen und eingedenk seines bestechenden Verhandlungsgeschicks wurde Wächter durch Akklamation zu ihrem ersten Präsidenten gewählt. Auch auf dem dritten Juristentag zu Wien 1862, dem vierten zu Mainz 1863, dem fünften in Braunschweig 1864 und dem sechsten in München 1867 übernahm Wächter das Amt des Vorsitzenden. Auch Wächters politische Nähe zu den Regierungen der Mittelstaaten Sachsen und Württemberg prädestinierten ihn für dieses heikle Amt. 9 0 Als Wächter im Februar 1867 als Abgeordneter der Stadt Leipzig in den konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes gelangte, schloß er sich keiner Fraktion an. Auch dieses Forum nutzte Wächter, um nachhaltig für die Schaffung der deutschen Rechtseinheit einzutreten. „Warum wollen wir nicht überhaupt dem künftigen Parlament die Befugnis geben, in Vereinigung mit der vollziehenden Gewalt des Bundes ein gemeinsames Civilrecht, ein gemeinsames Strafrecht und einen gemeinsamen Civil- und Strafprozeß festzustellen?" 91 Wächter trat ebenfalls mit großer Entschiedenheit für die Errichtung eines Bundesgerichts ein. „Die Macht ist nicht dazu da, das Recht zu beherrschen, sondern sie ist dazu da, das Recht zu schützen und zu schirmen und möglichst dafür

88

Vgl. die ausführliche Darstellung bei O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S.

182 ff. 89 F. Elsener, Der Jurist Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477-1977, 1977, S. 471, 474; H. Conrad, Der deutsche Juristentag 18601960, in: Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des deutschen Juristentages 1860-1960, hrsg. v. E. v. Caemmerer, E. Friesenhahn u. R. Lange, Bd. I, 1960, S. 1 ff.; H. Conrad, G. Dilcher, H.-J. Kurland, Der Deutsche Juristentag 1860-1994, 1997, S. 23 ff. 90

H. Dernburg, Carl Georg von Wächter, 1880, S. 17; N. Sandmann, Grundlagen und Einfluß der internationalprivatrechtlichen Lehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), 1979, S. LXXVI. Zur Rolle Wächters als Präsident des Deutschen Juristentages H.-J. Rabe, Der Deutsche Juristentag und sein erster Präsident, NJW 1998, S. 1681 ff.; vgl. auch J. Glaser, Karl Georg von Wächter, in: Österreichische Gerichtszeitung N.F., 17. Jg. Nr. 6 (1880), S. 1. 91 C.G. v. Wächter, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichtstages des Norddeutschen Bundes im Jahre 1867, Bd. I, 1867, S. 287 (16. Sitzung vom 20. März 1867).

Teil 2: Biographie

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zu sorgen, daß die Herrschaft des Rechts eine überall anerkannte werde, und deshalb, meine Herren, geben Sie ein Bundesgericht." 92 Das parlamentarische Budgetrecht 93 und die parlamentarische Regierungsverantwortlichkeit 94 waren für Wächter unverzichtbare Wesenselemente jeder konstitutionellen Verfassung. Insofern gehörte auch Wächter zu den Ablehnenden, als am 16. April 1867 der konstituierende Reichstag den revidierten Verfassungsentwurf mit 230 gegen 53 Stimmen annahm. „Ich kam schwer zu dem verneinenden Votum. Allein bei wiederholter ruhiger und reiflicher Erwägung konnte ich nicht zu einem anderen Resultat kommen." Neben der empfindlichen Beschränkung der parlamentarischen Budgetgewalt durch das Bennigsen-Ujest'sche Amendement95 habe ihn die Beschränkung des passiven Wahlrechts durch das Verbot der monetären Entschädigung des Abgeordnetenmandats und das Fehlen eines Bundesgerichts und grundlegender konstitutioneller Garantien zu seiner ablehnenden Haltung bestimmt.96 Eine Kandidatur für die Wahl in den ordentlichen Reichstag des Norddeutschen Bundes lehnte Wächter mit dem Hinweis auf die großen Belastungen seiner akademischen Lehrtätigkeit ab. In den folgenden Jahren widmete sich Wächter ganz seinem Beruf als akademischer Lehrer und wissenschaftlicher Schriftsteller. Bis 1873 veranstaltete er regelmäßig seine hoch angesehenen und gut besuchten Kollegien. 97 Wächter war zuerst akademischer Lehrer, erst dann Schriftsteller. 98 Neben einer klaren Sprache bemühte sich Wächter vor allem um eine strukturierte, verständliche sowie eine praxisorientierte Darstellung des juristischen Lehrstoffes 99. Darum 92

C.G. v. Wächter, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichtstages des Norddeutschen Bundes im Jahre 1867, Bd. I, 1867, S. 662 (30. Sitzung vom 9. April 1867). 93 C.G. v. Wächter, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichtstages des Norddeutschen Bundes im Jahre 1867, Bd. I, 1867, S. 252 (15. Sitzung vom 19. März 1867). 94

C.G. v. Wächter, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichtstages des Norddeutschen Bundes im Jahre 1867, Bd. I, 1867, S. 252 (19. Sitzung vom 26. März 1867). 95

E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. m, 3. Auflage 1988, S. 663 f.

96

O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 173. Darüber hinaus legte Wächter gemeinsam mit dem Abgeordneten und Strafrechtswissenschaftler Heinrich Albert Zachariae (18061875) einen Verfassungs-Gegenentwurf vor. Vgl. dazu G. Kleinheyer/J. Schröder (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. Auflage 1996, S. 520. 97

Vgl. dazu H. Planitz (Hrsg.), Die Rechtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. I, 924, S. 59 ff., 177 ff., Bd. H, 1925, S. 205 ff. 98 E. Kern, Karl Georg von Wächter, in: Schwäbische Lebensbilder, hrsg. v. H. Haering u. O. Hohenstatt, Bd. 1 1940, S. 545, 552; F.O. v. Schwarze, Dr. Carl Georg von Wächter, in: Der Gerichtssaal, Bd. XXXI (1879), S. 561, 572, 574 ff. Instruktiv Wächters Schreiben an Robert von Mohl vom 29. August 1872 (Universitätsbibliothek Tübingen, Handschriftenabteilung, Md 613/929). 99 E. Hoelder, Carl Georg von Waechter, 1897, S. 17; W. Jens, Eine deutsche Universität. 500 Jahre Tübinger Gelehrtenrepublik, 1977, S. 300; v. Massow, DJZ (14) 1909, Sp. 936 f.; E. Bekker,

40

Teil 2: Biographie

galten seine ausfuhrlichen gedruckten Beilagen zu den Vorlesungen als durchaus berühmt. 1 0 0 Seine Schüler brachten i h m uneingeschränkte Verehrung und Anerkennung entgegen. 1 0 1 D i e ihn auszeichnende Energie und Schaffenskraft blieben Wächter bis an sein Lebensende erhalten. Carl Georg von Wächter starb am 15. Januar 1880.

,JEs hat gelehrtere Juristen gegeben, als Waechter. Es hat tiefsinnigere Juristen gegeben, als ihn. Aber einen juristischeren Juristen, einen Juristen, in dem sich harmonischer Alles vereinigt hat, was zur Pflege des Rechts erforderlich ist, hat es unter den grossen deutschen Juristen nicht gegeben. Iuris consultorum Germaniae iuris consultissimus!"

m

Puchta und Wächter, DJZ (14) 1909, Sp. 944 f.; Illustrierte Zeitung vom 14. August 1869 (Nr. 1363), Bd. 53, S. 121; H. Meyer, Karl Georg von Waechter, 1898, S. 37; J. Rückert, August Ludwig Reyschers Leben und Rechtstheorie. 1802-1880, in: Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, Bd. Xffl, 1974, S. 35. 100

B. Windscheid, Carl Georg von Waechter, 1880, S. 65 ff.

101

V. Ehrenberg, E. Zittelmann, in: Die Rechtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hrsg. v. H. Planitz, Bd. I, 1924, S. 60 f., 178 f.; E. Hoelder, Carl Georg von Waechter, 1897, S. 20 f.; C.A. v. Wächter, Karl Georg von Waechter, DJZ (14) 1909, Sp. 975, 976 f.; F. Elsener, Fünfhundert Jahre Tübinger Juristenfakultät, JZ 1977, S. 617, 619; H. Meyer, Karl Georg von Waechter, 1898, S. 21. Ein eindrücklicher Nachweis seiner enormen Achtung und Beliebtheit, die Wächter im studentischen Auditorium genoß, belegen auch die Hörerlisten der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen der Jahre 1819-1851 und 1824-1828 (Universitätsarchiv Tübingen, UAT 51/691 und UAT 51/689). Danach hatte Wächter vom Beginn seiner akademischen Laufbahn an regelmäßig zwischen 40 und 50 Zuhörer. Wächters Urteil fällt dementsprechend wohlwollend aus: ,rDer Fleiß der Zuhörer war recht lobenswert, ... ." (Hörerliste Wintersemester 1838/39, Vorlesung über den Besonderen Teil des gemeinen Strafrechts). 102

B. Windscheid, Carl Georg von Waechter, 1880, S. 79.

Dritter Teil

Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Kapitel 1

Carl Georg von Wächter, die historische Rechtsschule und der Positivismus Carl Georg von Wächter, der als Rechtswissenschaftler nahezu das gesamte 19. Jahrhundert aktiv miterlebte und gestaltete, hat sich zwar nie ausdrücklich im Rahmen einer theoretischen Schrift zu einer Denkschule bekannt. Dennoch ist es für die Beurteilung Wächters unerläßlich, ihn in die rechtswissenschaftlichen Geistesströmungen seiner Zeit einzuordnen. In Betracht kommen dabei die naturrechtliche Rechtslehre, die historische Schule und der ihr zeitlich nachfolgende Positivismus.

I. Die historische Rechtsschule 1. Vom Naturrecht, Friedrich Carl von Savigny und den Grundlagen der historischen Rechtsschule Die historische Schule läßt sich nur geschichtlich begreifen; so erschließt sie sich erst im Blick auf ihre Voraussetzungen und Vorläufer. 1 Ohne eine überblickshafte Darstellung der naturrechtlichen Denkansätze des 18. Jahrhunderts wird ein Einordnungsversuch daher nicht auskommen. Das 18. Jahrhundert wurde geprägt durch den im Zusammenhang der abendländisch-christlichen Ideengeschichte, der Renaissance sowie des Humanismus2 begründeten Glauben an die Macht der Vernunft und die menschliche

1

A. Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 5. Auflage 1996, S. 210.

2

F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auflage 1967, S. 251, 265.

42

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Erkenntnisfahigkeit. 3 Daher war es das Ziel der naturrechtlichen Schule4, rechtliche Erkenntnis allein aus der menschlichen Vernunft abzuleiten. Es herrschte die Überzeugung, diese sei nunmehr so weit entwickelt, ein schlechthin vollkommenes, ein für alle Menschen gleiches Recht schaffen zu können. Die Naturrechtler erklärten die Vernunft zur einzig maßgebenden Norm für die Bildung von Staat, Gesellschaft und Recht.5 Es galt ein von Zeit und Ort unabhängiges Recht, also ein unhistorisches. Man sparte auch nicht mit Kritik, wie etwa der letzte große Vertreter des Vernunftrechts Christian Wolff (1679-1754), an solchen Juristen, die sich zu sehr mit dem Studium der geschichtlichen Quellen beschäftigten. 6 Staatsrechtstheoretisches Fundament war die Lehre vom Staatsgründungsvertrag, für den die Bürger ihre von Natur aus existenten Rechte an den Souverän abtraten 7, und die infolgedessen trotz der postulierten „libertas civilis" als Legitimation persönlicher Unfreiheit und Ungleichbehandlung herangezogen wurde. 8 Ein vernunftmäßiger und allgemeinmenschlicher Logos galt als Richtschnur und Maßstab allen öffentlichen Handelns.9 Das Naturrecht gewann zunehmend den Charakter einer, judizierbaren Sozialethik". 10 Dogmatische Grundlage der Argumentation der Vertreter der Naturrechtslehre war die Erkenntnis, daß die menschliche Vernunft ihr Dasein, ihre Welt, also auch ihre Rechtsregeln selbständig und willkürlich aus eigener Kraft und Einsicht ohne zeitliche Begrenztheit hervorbringe; die Geschichte diente nur als moralisch-politische Beispielsammlung, die das bereits vorhandene, durch die

3 U. Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Auflage 1995, S. 179; H. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 2. Auflage 1994, S. 456 ff. 4

Exemplarisch aus der nahezu unüberschaubaren Sekundärliteratur zu den Begriffen Naturrecht und Vernunftrecht A. Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 5. Auflage 1996, S. 166 ff., 182 ff. 5

U. v. Lübtow, Savigny und die Historische Schule, in: Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, hrsg. v. D. Wilke, 1984, S. 381, 384 f. 6 Für den Naturrechtler Justus Henning Böhmer (1674-1749) belegt das W. Rütten, Das zivilrechtliche Werk Justus Henning Böhmers, 1982, S. 16; für die vernunftrechtliche Lehre Christian Wolfis H. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 2. Auflage 1994, S. 456. 7 A. Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 5. Auflage 1996, S. 173 f.; H.-J. Böhme, Politische Rechte des einzelnen in der Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts und in der Staatstheorie des Frühkonstitutionalismus, in: Schriften zur Verfassungsgeschichte 44, 1993, S. 19 f. 8 D. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, in: Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft 23, 1976, S. 57 ff., 92 ff. 9

F. Wieacker, Deutsche Privatrechtsgeschichte, 2. Auflage 1967, S. 272.

10

Vgl. K. Luig, Der Einfluß des Naturrechts auf das positive Privatrecht im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (ZRG), Germanistische Abteilung, Bd. 96 (1979), S. 38.

Kapitel 1: Die historische Rechtsschule und der Positivismus

43

menschliche Vernunft entdeckte Recht lediglich belegen sollte. 11 Damit existierte dieses Vernunftrecht über den Gesetzen und staatlichen Befehlen, womit die Naturrechtler Allgemeingültigkeit für ihre gefundenen Wahrheiten einforderten. 12 Diese waren für die naturrechtliche Lehre bereits vor dem positiv gesetzten Recht vorhanden und führten für den Fall eines Widerspruchs zur Ungültigkeit und Nichtigkeit. Ein namhafter Naturrechtler des 19. Jahrhunderts, der Liberale Carl von Rotteck (1775-1840), postulierte, eine Norm, die dem Vernunftrecht widerspreche, sei „wohl faktisch bestehend oder geltend, doch rechtlich ungiltig". 13 Samuel Pufendorf (1632-1694), der in bezug auf Klarheit und Systematisierungsgrad sowie historische Wirkung seines Werkes wohl bedeutendste Naturrechtslehrer der Neuzeit 14 , ging sogar noch einen Schritt weiter und vertrat die Auffassung, daß das Naturrecht den Staat überhaupt erst zum Erlaß von Gesetzen autorisiere. 15 Trotzdem waren vorwiegend die Quellen des rezipierten römischen Rechts Grundlage der wissenschaftlichen Disputation und Praxis. Vielfach wurde die naturrechtliche Erkenntnis lediglich zu einer überpositiven Rechtfertigung positiver Rechtsregeln. Die nach naturrechtlicher Methode ermittelnden Rechtssätze dienten dann vorwiegend zur Lückenfüllung des positiven Gesetzesrechts.16 Allerdings erlangte das Naturrecht zunehmend die Bedeutung einer Ausle-

11 E. Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abt., 2. Halbbd., Text, 1910, S. 200; Th. Viehweg, Positivismus und Jurisprudenz, in: Positivismus im 19. Jahrhundert, hrsg. v. J. Blühdorn u. J. Ritter, 1971, S. 105, 106. 12

H. Thieme, Das Naturrecht und die europäische Privatrechtsgeschichte, 2. Auflage 1954, S.

16. 13

Carl von Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, Bd. I, 2. Auflage 1840, S. 68. 14 A. Hügli, Naturrecht, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von J. Ritter und K. Gründer, Bd. VI, 1984, Spalte 589; ausführlich zu Samuel Pufendorf: E. Wolf, Grotius, Pufendorf, Thomasius, in: Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 11, 1927, S. 63-97. 15

S. Pufendorf, De iure Naturae et Gentium, libri octo, Lund 1672, Buch 8, Kapitel 1, § 6; vgl. auch Buch 2, Kapitel 3, § 13; Buch 2, Kapitel 11, § 5, Kapitel 14, § 11; Vgl. dazu E. Wolf, Grotius, Pufendorf, Thomasius, 1927, S. 93 f.; A. Hügli, Naturrecht, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von J. Ritter und K. Gründer, Bd. VI, 1984, Spalte 591. Instruktiv auch Th. Behme, Samuel von Pufendorf: Naturrecht und Staat, in: Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 112, 1995; H. Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, 1958. 16 So etwa der Naturrechtler Ludwig Julius Friedrich Höpfher (1743-1797), der den praktischen Nutzen des Naturrechts bei der Entscheidung von gerichtlichen Streitigkeiten hervorhebt, „wann die bürgerlichen Gesetze von dem Falle schweigenVgl. L. J.F. Höpfher, Naturrecht des einzelnen Menschen, der Gesellschaften und der Völker, 6. Auflage 1795, § 1, S. 3. Erschöpfend dazu M. Plohmann, Ludwig Julius Friedrich Höpfner (1743-1797), Naturrecht und positives Privatrecht am Ende des 18. Jahrhunderts, 1992.

44

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

gungsmaxime der positiven Rechtswissenschaft. 17 Zumal die Einheit des römischen Rechts mit der Auflösung der antiken Rechtsordnung, die des Kirchenrechts mit der Reformation zerbrochen war. 18 Die rechtsschöpferische Zielsetzung der Naturrechtler des 18. Jahrhunderts blieb dabei aber nicht stehen, sondern gebar die Kodifikationsidee. 19 Infolgedessen gab eine den gesamten Stoff eines Rechtsgebietes zusammenfassende, systematisch durchgearbeitete Gesetzgebung dieser Epoche das Gepräge. 20 Besonders herauszuheben sind: das preußische Allgemeine Landrecht (1794) 21 , der Code Civil Napoleons (1804) und das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch Österreichs (1811) 22 . Diesen ausgeprägten Kodifikationswillen machten sich die aufgeklärten Monarchen, die sich aus ihrem Selbstverständnis heraus zur Gesetzgebung berufen fühlten, zunutze. 23 Damit waren die Naturrechtsgesetzbücher mit der Neigung des absolutistischen Gesetzgebers, die wissenschaftliche Rechtsfortbildung einzuengen und die richterliche Auslegung an die Legislative zu binden, teuer erkauft. 24 So erstarrte die Idee des Vernunftrechts zu einer Theorie, die sich anmaßte, für einen konkreten Staat das ein für allemal zutreffende und umfassende Recht schaffen zu können. Sie führte damit den eigentlichen Anspruch, der jeweiligen gesellschaftlichen Situation das passende Recht zu kreieren, ad absurdum.

17

H. Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts, in: Ideengeschichte und Rechtsgeschichte, Bd. n, 1986, S. 633, 658 f. Zum Einfluß naturrechtlicher Rechtssätze auf den Gerichtsgebrauch des 18. Jahrhunderts zeigt K. Luig, Der Einfluß des Naturrechts auf das positive Privatrecht im 18. Jahrhundert, in. ZRG, Germanistische Abteilung, Bd. 96 (1979), S. 38, 41 ff. sowie J. Schröder, „Naturrecht bricht positives Recht" in der Rechtstheorie des 18. Jahrhunderts?, in: Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft, Festschrift für P. Mikat, hrsg. v. D. Schwab, D. Giesen, J. Listl und H.-W. Strätz, 1989, S. 419 ff. 18

H. Thieme, Das Naturrecht und die europäische Privatrechtsgeschichte, 2. Auflage 1954, S.

12. 19 Dazu ausführlich H. Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. n, 1989, S. 7 ff. Vgl. auch H. Thieme, Das Naturrecht und die europäische Privatrechtsgeschichte, 2. Auflage 1954, S. 38 ff.; H. Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts, 4. Auflage 1996, Rdnr. 52. 20 A. Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 5. Auflage 1996, S. 172; R. Schröder, Die Strafgesetzgebung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Die Bedeutung der Wörter, Festschrift für S. Gagner, hrsg. v. M. Stolleis, 1991, S. 403 ff. 21 Zur Wirksamkeitsentfaltung solcher naturrechtlicher Gesetzeswerke H. Thieme, Publizität der Gesetzgebung im absoluten Staat, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte, Gedächtnisschrift für H. Conrad, hrsg. v. G. Kleinheyer u. P. Mikat, 1979, S. 539 ff. Zur Geschichte des Preußischen Allgemeinen Landrechts H. Hattenhauer, Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, 3. Auflage 1996, Einführung S. 1-25. 22 Instruktiv dazu A. Fijal, W. Ellerbrock, Das Österreichische ABGB vom 1.6.1811 - ein Jubiläum besonderer Art, in: Juristische Schulung (JuS) 1988, S. 519 ff. 23

H. Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. II, 1989, S. 15.

24

F. Wieacker, Deutsche Privatrechtsgeschichte, 2. Auflage 1967, S. 348.

Kapitel 1: Die historische Rechtsschule und der Positivismus

45

Aus dieser Entwicklung heraus nahm die historische Schule ihren Anfang, die das 19. Jahrhundert wie keine andere prägen sollte. 25 Sie beurteilte die Eignung der Zeit zur Gesetzgebung voller Skepsis. Ihr Wegbereiter 26 und einflußreichster Vertreter, Friedrich Carl von Savigny (1779-1861) 27 , schrieb dazu in der 1815 als Organ der historischen Schule gegründeten „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft", deren Herausgeber neben Savigny der Deutschrechtler Karl Friedrich Eichhorn (1781-1854) und J.F.L. Göschen (17781837) waren: „Die geschichtliche Schule nimmt an, der Stoff des Rechts sey durch die gesammte Vergangenheit der Nation gegeben, nicht durch Willkühr, so daß er zufällig dieser oder ein anderer seyn könnte, sondern aus dem innersten Wesen der Nation selbst und ihrer Geschichte hervorgegangen." 28 Daher hielt er die Forderung, das Naturrecht müsse den Inhalt der verlangten Kodifikationen bilden, für eine „großsprechende, völlig hohle Ansicht." 29 Infolgedessen solle man sich nicht zum Meister künftiger Zeiten aufwerfen, aber auch nicht daran gehen, das eigene Jahrhundert zu meistern, „da uns die politische Einsicht und Bildung gebricht, um nur unsren eigenen gegenwärtigen Zustand recht zu übersehen und zu regieren." 30 Savigny formulierte das Programm der historischen Schule in seiner 1814 erschienen Schrift „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft". Sie ist damit viel mehr als nur eine Auseinandersetzung mit seinem Gegenspieler Anton Friedrich Justus Thibaut (1772-1840) und dessen in der Schrift „Ueber die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für 25 Für die verfassungsgeschichtliche Entwicklung im 19. Jahrhundert zeigt dies eindringlich E.W. Böckenförde, in: Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert, 2. Auflage 1995. 26 Als Begründer einer historisch orientierten Rechtswissenschaft gelten Justus Moser (17201794) und Gustav Hugo (1764-1844). Nachweise siehe bei Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auflage 1967, S. 378. Eine allgemeine disziplinübergreifende Hinwendung der Wissenschaft des 18. Jahrhunderts zum geschichtlichen Denken wurde bereits durch Johann Gottfried Herder (1744-1803) und Friedrich Schiller (1759-1805) vollzogen. Dabei hatte Schiller - wie Wolfgang Pöggeler nachweist - bereits 25 Jahre vor Savigny die wesentlichen Ideen der historischen Denkschule in seiner berühmten Jenaer Antrittsrede vorweggenommen. Vgl. dazu die Einleitung von W. Pöggeler, in: Carl Friedrich Wilhelm von Gerber, Das wissenschaftliche Princip des gemeinen deutschen Privatrechts, Jena 1846 (Nachdruck 1998), hrsg. v. W. Pöggeler, 1998, S. XV und XX f. Note 60). 27 Einen Überblick über die Fülle der Sekundärliteratur bieten H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Auflage 1993, S. 37 ff.; W. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IE, 1976, S. 37 ff.; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 11 ff.; F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auflage 1967, S. 348 ff. 28

F.C v. Savigny, Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft, Bd. I (1815), S. 6.

29

F.C. v. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1. Auflage 1814, S. 18. 30

F.C. v. Savigny, Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft, Bd. m (1817), S. 29 f.

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

46

Deutschland" dargestellten Kodifikationsverlangen, das in weiten Teilen den naturrechtlichen Vorstellungen widersprach und im folgenden noch zu erörtern sein wird. Ausgangspunkt der historischen Schule war eine bestimmte Vorstellung vom Verhältnis der Vergangenheit zur Gegenwart, deren Prinzip der Gedanke der dynamischen Entwicklung prägte. 31 Savigny geht davon aus, daß das Verhältnis von Werden und Sein bestimmt werde durch den unauflöslichen organischen Zusammenhang der Geschlechter und Zeitalter, zwischen denen nur Entwicklung, aber nicht absolutes Ende und absoluter Anfang gedacht werden könne. 32 Hiernach ist es also der Glaube an die unauflösliche gemeinschaftliche Verbundenheit mit der Vergangenheit im Gegensatz zu der Vorstellung, daß jedes Zeitalter seine Welt willkürlich schaffen könne, der den Schulenstreit bestimmte. 33 Das Geschichtsverständnis der historischen Schule war die Instrumentalisierung der historischen Erkenntnis zur Deutung der Gegenwart; einen Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart gab es nicht, vielmehr wurde die letztere als notwendige Konsequenz der Vergangenheit betrachtet, die als Ursache dem gegenwärtigen Rechtszustand zugrunde lag. 34 Savigny hielt das scheinbar Vereinzelte, für sich Bestehende in Wirklichkeit für einen Teil eines höheren Ganzen, bedingt und selbst bedingend zugleich: Der einzelne Mensch war Glied einer Familie, eines Volkes; jedes Zeitalter Fortsetzung aller bisherigen Zeiten. 35 Nach Savignys Ansicht war daher die Geschichte der einzige Weg zur wahren Erkenntnis des eigenen gegenwärtigen Zustandes. Die Gegenwart verstehen hieß, die Vergangenheit sich gleichsam zu vergegenwärtigen. 36 In seiner Vorrede zum „System" sagt er dazu, es sei „darauf das höchste Gewicht" zu legen, „daß der lebendige Zusammenhang erkannt werde, welcher die Gegenwart an die Vergangenheit knüpft, und ohne dessen Kenntnis wir von dem Rechtszustand der Gegenwart nur die äußere Erscheinung wahrnehmen, nicht das innere Wesen begreifen" 37.

31

w. Wilhelm, Zur Juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, 1958, S. 17; Th. Viehweg, Positivismus und Jurisprudenz, in: Positivismus im 19. Jahrhundert, hrsg. v. J. Blühdorn u. J. Ritter, S. 105, 108. 32

F.C. v. Savigny, Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft, Bd. I (1815), S. 2 f.

33

H. Thieme, Historische Rechtsschule, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), hrsg. von A. Erler und E. Kaufmann, Bd. n, 1978, Spalte 170. 34

W. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, 1976, Bd. m, S. 54; W. Pöggeler, Vom Naturrecht zum Positivismus, JA 1997, S. 339, 341. 35 F.C. v. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung u. Rechtswissenschaft, 3. Auflage 1840, S. 112 f. 36

W. Wilhelm, Zur Juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, 1958, S. 18.

37

F.C. v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, 1. Auflage 1840, Bd. I, S. XV.

Kapitel 1: Die historische Rechtsschule und der Positivismus

47

Daher beschreibt die historische Schule die Rechtsfortbildung als eine dynamische, die sich fortwährend und unaufhaltsam vollzieht, entweder unmerklich aus der gemeinsamen Überzeugung des Volkes durch Bildung von Gewohnheitsrecht oder aber unter Einwirkung der Praxis oder auch der Wissenschaft. 38 Recht kann infolgedessen nicht erst durch einen willkürlichen Gesetzgebungsakt geschaffen werden. 39 Die historische Schule sah den „Volksgeist" in Form einer einheitlichen Rechtsüberzeugung der Rechtsgemeinschaft als ursprüngliche Quelle allen Rechts an. 40 Das Recht sei zunächst im Volk, das Savigny als durch gemeinsame Bildung verbundene geistige und kulturelle Gemeinschaft betrachtet 41, als „natürliches Recht" entstanden, so wie die Sprache im Volk entsteht und entwickelt wird, und nicht von den Grammatikern erfunden wurde. In einer späteren Epoche, also auf einer höheren Kulturstufe sei dann die professionelle Rechtswissenschaft entstanden, die das bereits entstandene Volksrecht weiterentwickelte, an die jeweiligen Bedürfhisse anpaßte und das Volk so bei der Rechtserzeugung vertrat. Dieses Recht erhielt jetzt „eine wissenschaftliche Richtung, und wie es vorher im Bewußtseyn des gesammten Volkes lebte, so fallt es jetzt dem Bewußtseyn der Juristen anheim, von welchen das Volks nunmehr in dieser Function repräsentiert wird. Das Daseyn des Rechts ist von nun an künstlicher und, indem es doppeltes Leben hat, einmal als Theil des ganzen Volkslebens, was es zu seyn nicht aufhört, dann als besondere Wissenschaft in den Händen der Juristen" 42. Ohne diese Transformation vom Volksrecht zum Juristenrecht wäre die Volksgeistlehre mit der auf Gewohnheitsrecht zurückgeführten Rezeption des römischen Rechts kaum vereinbar gewesen.43 Savignys Lehre vom Volksgeist beruht letztlich auf den Lehren von Montesquieu, Voltaire und Herder, die bereits zuvor kulturelle Erscheinungen vor dem Hintergrund einer nationalen historischen Entwicklung betrachteten und erklärten. 44 Es bleibt aber zu betonen, daß Savigny und die historische Rechtsschule eine Erforschung der Rechtsquellen der Vergangenheit um ihrer selbst willen ab-

38 E. Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abt., 2. Halbbd., Text, 1910, S. 203. 39

A. Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 5. Auflage 1996, S. 213.

40

K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 13 f. Vgl. auch H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Auflage 1993, S. 42; H. Mitteis, H. Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, 19. Auflage 1992, S. 468 f. 41

F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auflage 1967, S. 393.

42

F.C. v. Savigny, Vom Berufe unserer Zeit für Gesetzgebung u. Rechtswissenschaft, 1. Auflage 1814, S. 12. 43 U. v. Lübtow, Savigny und die Historische Schule, in: Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, hrsg. v. D. Wilke, 1984, S. 381, 396 f. 44

A. Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 5. Auflage 1996, S. 214.

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

48

lehnten45. Mit Hilfe einer „streng historischen Methode" sollten die Rechtsquellen des gemeinen und partikularen Rechts für die Gegenwart wieder brauchbar gemacht werden, und das hieß Jeden gegebenen Stoff bis zu seiner Wurzel zu verfolgen, und so ein organisches Princip zu entdecken, wodurch sich von selbst das, was noch Leben hat, von demjenigen absondern muß, was schon abgestorben ist, und nur noch der Geschichte angehört" 46. Savignys Absicht war damit nicht die Dominanz der Rechtsgeschichte über das Leben, sondern eine Renovation der Rechtswissenschaft selbst durch Überwindung der unkritischen Abstraktion und der Traditionsfeindschaft des Vernunftrechts. 47 Dennoch war damit die Rechtsgeschichte von ihrer untergeordneten Funktion einer dienenden Magd der eigentlichen Rechtswissenschaft, der Dogmatik, befreit. 48 Infolge eines derartigen Verständnisses geschichtlicher Entwicklung und ihrer Bedeutung für die gegenwärtige Rechtswirklichkeit durften geschichtliche Fakten nicht einfach danach ausgewählt werden, ob sie in ein politisches Programm paßten und moralischen oder religiösen Anschauungen entsprachen, also mehr oder weniger nützliche Resultate erbrachten. Die Geschichte als Quelle aller gesellschaftlichen Erkenntnis durfte daher, wie Savigny verlangte, keine „moralisch-politische Beispielsammlung"49 sein. Ein ernsthaftes Streben nach Erkenntnis unterstellt, lieferte die Geschichtswissenschaft insofern nicht nur Belege für eine bereits im voraus gewußte Wahrheit, sondern sie brachte die Wahrheit selbst hervor. 50 Um ein vollständiges Bild von der Rechtswissenschaftsidee der historischen Schule zu erhalten, darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß Savigny in der Rezension einer Schrift Gustav Hugos 51 auch „andere" Bearbeitungen des Rechts erwähnte. Womit er neben der geschichtlichen auch andere Methoden zur Erkenntnis des geltenden Rechts zuließ. 52 Savigny schreibt dazu: „Ein

45 So schreibt Savigny in seinem ,¿System des heutigen Römischen Rechts1. Auflage 1840, S. XIV: ,J)ie geschichtliche Ansicht der Rechtswissenschaft wird völlig verkannt und entstel sie häufig so aufgefaßt wird, als werde in ihr die aus der Vergangenheit hervorgegange Rechtsbildung als ein Höchstes aufgestellt, welchem die unveränderte Herrschaft über G und Zukunft erhalten werden müsse" Instruktiv A. Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 5. Auflage 1996, S. 211. 46

F.C. v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, 1. Auflage 1814, S. 117 f.

47

F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auflage 1967, S. 395.

48

W. Wilhelm, Zur Juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, 1958, S. 19.

49

F.C. v. Savigny, Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft, Bd. I (1815), S. 3.

50

W. Wilhelm, Zur Juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, 1958, S. 18.

51

F.C. v. Savigny, Rezension: Gustav Hugo, Lehrbuch der Geschichte des Römischen Rechts, in: Vermischte Schriften, Bd. V, 1850, S. 2. 52

W. Wilhelm, Zur Juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, 1958, S. 19.

Kapitel 1: Die historische Rechtsschule und der Positivismus

49

zweyfacher Sinn ist dem Juristen unentbehrlich: der historische, um das Eigenthümliche jedes Zeitalters und jeder Rechtsform scharf aufzufassen, und der systematische, um jeden Begriff und jeden Satz in lebendiger Verbindung und Wechselwirkung mit dem Ganzen anzusehen, d.h. in dem Verhältnis, welches das allein wahre und natürliche ist." 53 Zunächst sollten aus der historischen Betrachtung bestimmte Institute, wie Ehe, Eigentum und Erbgang, die auf der geschichtlich gewachsenen Volksanschauung beruhten, herausgearbeitet und entwickelt werden. Aufgabe des „Systems", nach heutiger Klassifizierung wohl eher der Dogmatik, war es dann, diese zu definieren, ihren inneren Zusammenhang zu erfassen und als geschlossenes Ganzes darzustellen; wobei das „System" selbst aber als eine dem Recht immanente Ordnung vorgegeben war. 54 So findet sich bei Savigny als Begründer der historischen Schule bereits die Anlage für die von seinem Schüler Georg Friedrich Puchta (1798-1846) aus dem Systemgedanken entwickelte Begriffsjurisprudenz. 55

2. Carl Georg von Wächter, das Naturrecht und die Lehren der historischen Schule Anhand der bis hierher beschriebenen Grundsätze und Bedingungen der historischen Schule will die vorliegende Arbeit versuchen, den Strafrechtler Carl Georg von Wächter in das beschriebene „Koordinatensystem" einzuordnen. Zwar blieb die historische Schule innerhalb der Rechtswissenschaft weitgehend auf das Privatrecht beschränkt 56, dennoch muß dem Umstand Rechnung getragen werden, daß Wächter sowohl im Privatrecht als auch im Strafrecht gleichbedeutend wirksam war 57 . Hatte er daher eine bestimmte wissenschaftliche Methodik als richtig erkannt, mußte sie sein Rechtsdenken insgesamt durchdringen und umfassen, nicht aber nach Fachgebieten getrennt werden. Außerdem läßt sich der Einfluß der historischen Schule auf eine Vielzahl bedeutender

53 F.C. v. Savigny, Vom Berufe unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1. Auflage 1814, S. 48. 54

H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Auflage 1993, S. 43; W. Wilhelm, Zur Juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, 1958, S. 46; F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auflage 1967, S. 369 f. 55

A. Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 5. Auflage 1996, S. 217; W. Wilhelm, Zur Juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, 1958, S. 70. 56 A. Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 5. Auflage 1996, S. 210; E. Wolf, Grosse Rechtsdenker der Deutschen Geistesgeschichte, 4. Auflage 1963, S. 529 f.; R. Schröder, Die Strafgesetzgebung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Die Bedeutung der Wörter, Festschrift für S. Gagner, hrsg. v. M. Stolleis, 1991, S. 403. 57 H. Meyer, Karl Georg von Wächter, 1898, S. 25; A. Stoll, Friedrich Karl von Savigny, 1939, Bd. m, S. 66 Note 2).

4 Jungemann

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

50

Strafrechtswissenschaftler des 19. Jahrhunderts aufzeigen. 58 Sogar Wächter schreibt: „Die Wichtigkeit und das Interesse der historischen Untersuchungen über unser Strafrecht wird jetzt immer mehr anerkannt." 59 Die Abneigung gegen die Philosophie des Naturrechts teilt Wächter mit Savigny und den Anhängern der historischen Rechtsschule. Er wendet sich gegen die Ansicht, Recht willkürlich schaffen und positives Recht durch entgegenstehendes Vernunftrecht in seiner Wirksamkeit einschränken zu können, wenn er in seinem Artikel „Gesetzgebung" im Rotteck-Welckerschen Staatslexikon60 schreibt: „Nicht das, was vernünftig und was zum allgemeinen Wohl und dem der Einzelnen nothwendig und forderlich ist, kann als solches objectives Recht bilden, da ein untrügliches objectives Kriterium dafür fehlt und die Erkenntniß des Vernünftigen und Ersprießlichen stets ein rein subjectives ist." 61 An anderer Stelle spricht er von den „Einflüssen eines flachen Naturrechts" 62 oder führt aus: „Im XVIII. Jahrhundert aber ging die Richtung allerdings dahin, dem natürlichen Strafrecht Geltung im Staate beizulegen, zum Theil sogar gegen sein positives Recht, indem man davon ausging, dass ein hartes und ungerechtes Gesetz den Anforderungen der natürlichen Gerechtigkeit weichen und nach diesen vom Richter in der Anwendung modificiert werden müsse."63 Er kann dieser Argumentation nicht folgen, denn der menschlichen Vernunft hafte stets ihr subjektiver Ursprung an, für dessen allgemeinen Gültigkeitsanspruch es an einem objektiven Prüfungsmaßstab fehle. Infolgedessen könnten individuellen Vorstellungen über Rechtsverhältnisse niemals umfassende Gültigkeit im Rahmen einer Rechtsgemeinschaft zukommen. Genau dies aber praktiziere die Methodik, die „wir Naturrecht nennen."64

58

E. Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 1910, 3. Abtlg., 2. Halbbd., Text, S. 336-344. Zu nennen sind exemplarisch Jarcke, Abegg, Birnbaum und Roßhirt. Zum Einfluß der historischen Rechtsschule auf das Rechtsdenken des Strafrechtlers K.J.A. Mittermaier vgl.: K. Lüderssen, JuS 1967, S. 444, 446 f. 59 C.G. v. Wächter, Über die Reception der Carolina in den einzelnen Territorien Deutschlands, insbesondere Sachsen, in: Archiv des Criminalrechts Neue Folge (AdCNF) 1837, S. 59. 60

C.G. v. Wächter, Gesetzgebung (Deutsche), Gesetzbücher, in: Das Staatslexikon, hrsg. von K.v. Rotteck und K. Welcker, Bd. VI, 3. Auflage 1862, S. 482-517. 61 C.G. v. Wächter, Gesetzgebung (Deutsche), Gesetzbücher, in: Das Staatslexikon, hrsg. von K.v. Rotteck und K. Welcker, Bd. VI, 3. Auflage 1862, S. 482. 62

C.G. v. Wächter, Gesetzgebung (Deutsche), Gesetzbücher, in: Das Staatslexikon, hrsg. von K.v. Rotteck und K. Welcker, Bd. VI, 3. Auflage 1862, S. 482,487. 63 C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, Bd. I, S. 4. Vgl. auch C.G. v. Wächter, Gesetzgebung (Deutsche), Gesetzbücher, in: Das Staatslexikon, hrsg. von K.v. Rotteck und K. Welcker, Bd. VI, 3. Auflage 1862, S. 482, 488. 64 C G. v. Wächter, Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, 1839, Bd. I, 1. Halbbd., S. 10; vgl. auch 2. Halbbd., S. 1111.

Kapitel 1: Die historische Rechtsschule und der Positivismus

51

O b w o h l es eher kühl klingt, wenn er v o n der „sogenannten historischen Schule" spricht und einräumt, daß „ w i r , wenn w i r gerecht sein wollen, zugeben müssen", daß der i m 19. Jahrhundert eingetretene Wendepunkt für die deutsche Rechtswissenschaft vorwiegend der historischen Schule zu verdanken sei 6 5 , so finden sich doch i n seinen theoretischen Ausführungen, mehr aber i n seinen rechtspraktischen Anwendungen, Hinweise auf ein entwicklungsdynamisches Rechtsverständnis. 66 Schon der junge Wächter kritisierte i n einer Rezension des v o n Hermann Knapp verfaßten Werks „Das würtembergische Criminalrecht" 6 7 , daß das Historische zu sehr vernachlässigt worden sei, vorwiegend dort, „ w o man das Bestehende i n allen seinen Beziehungen gar nicht gehörig verstehen und anwenden kann, ohne das früher Bestandene zu kennen..." 6 8 . Er geht davon aus, daß i n den Geist des geltenden Rechts nur unter Berücksichtigung seiner besonderen Geschichte, seines eigentümlichen Wesens und einer gründlichen Exegese seiner Quellen und deren Sprache eingedrungen werden könne. 6 9 Das kodifizierte Recht war damit aus seiner historischen Entwicklung heraus zu erklären, da es direkt m i t der Vergangenheit zusammenhänge und i m wesentlichen aus dieser erklärt werden k ö n n e / 0 Infolgedessen war gerade die Geschichte das wichtigste Hilfsmittel zur Erfassung seines Sinnes und Geistes. 71 Nicht nur bei der Ausle-

65 C.G. v. Wächter, Gesetzgebung (Deutsche), Gesetzbücher, in: Das Staatslexikon, hrsg. von K. von Rotteck und K. Welcker, 3. Auflage 1862, Bd. VI, S. 482,487. 66

Allein der Hinweis darauf, daß Wächter das Gesamtwerk des Historikers Ludwig Timotheus Frhr. v. Spittler (Ludwig Timotheus Freiherrn von Spittler's sämmtliche Werke, hrsg. v. Karl Wächter, 15 Bde., 1827-1837) herausgegeben habe, und insofern Rückschlüsse auf seine Zugehörigkeit zur historischen Rechtsschule anzustellen, muß letztlich fehlgegen. Denn der Herausgeber ist nicht etwa Carl Georg von Wächter, sondern dessen Vetter Karl Wächter (1798-1874), der 1841 unter Beifügung des Namens seines Schwiegervaters Spittler in den Freiherrenstand erhoben wurde. Zur Identität des Herausgebers vgl. den Hinweis auf die Verwandschaftsverhältnisse in der Vorrede des Herausgebers, in: Ludwig Timotheus Freiherrn v. Spittler's sämmtliche Werke, Bd. I, 1827, S. VI f. Vgl. auch F. v. Eisenhart, Karl Eberhard Freiherr von Wächter-Spittler, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. XXXX, 1896, S. 435, 440. 67

Hermann Knapp, Das würtembergische Criminalrecht, dargestellt in Zusätzen zu Feuerbachs Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 2 Bände, Stuttgart 1828,1829.

68 C.G. v. Wächter, Rezension: Hermann Knapp, Das würtembergische Criminalrecht, 2 Bände, Stuttgart 1828, 1829, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft, Bd. VI (1829), S. 237, 242. In ähnlicher Weise schreibt er 6 Jahre später: „... die Ansichten, welche jetzt herrschen, bekommen ihre volle und genügende Erklärung nur durch eine genaue Entwickelung des Ganges, früheren Gesetzgebungen und die früheren Ansichten genommen hatten, und so müssen wi das, was nun besteht, gehörig und befriedigend darstellen zu können, nothwendig auf da gehen, was früher bestanden hat(C.G. v. Wächter, Abhandlungen aus dem Strafrechte, Bd. I, 1838, S. 2). 69 C.G. v. Wächter, Die Deutsche Strafrechtswissenschaft des XIX. Jahrhunderts und ihre Aufgaben, in: Jahrbücher der Deutschen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung, hrsg. von H. Th. Schletter, Bd. I (1855), S. 105, 106, 112 f.

4*

52

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

gung, sondern auch in der Frage nach den Ursprüngen des geltenden Rechts stellt sich Wächter auf den Standpunkt der historischen Schule nach Savigny, wenn er ausführt, daß das Recht seinem Wesen nach nicht gemacht, also nicht durch willkürliche Vorstellungen geformt werde, sondern sich unter Einfluß der politischen und sozialen Verhältnisse sowie der Bildung, der Religion und der Eigenart des Volkes allmählich entwickle. 72 Daher erlange man „auf dem philosophisch-historischen Weg" das Verständnis des Rechts „in seinem wahren Geist" 73 . Eine Verwandtschaft der Argumentation Wächters mit der historischen Rechtsschule klingt daher auch in Bezug auf die „Volksgeistlehre" Savignys74 an. In seinem Aufsatz im „Archiv für die Civilistische Praxis" 75 äußert sich Wächter über die Entstehungsgründe des Gewohnheitsrechts: „Es kann ein eigentliches Gewohnheitsrecht sich bilden durch die Thätigkeit der Juristen und der Gerichte, so ferne der Grundsatz ... ein Ausfluß ist der herrschenden rechtlichen Volksansichten und der bestehenden Volksverhältnisse und der von ihnen ... ausgesprochenen rechtlichen Volksüberzeugung." 76 Auch bei Wächter bilden die Juristen auf einer höheren Kulturstufe das bereits im Volk entstandene Recht weiter, auf das sich sämtliche Rechtsentwicklungen zurückführen lassen müssen. Die Volksüberzeugung ist daher ebenfalls aus einem entwicklungsdynamischen Verständnis heraus Ursprung allen Rechts. Neben diesen Äußerungen theoretischen Gehalts sind die praktischen Rechtsanwendungen in die Betrachtung mit einzubeziehen. Mit ihnen gelingt der Nachweis, daß Wächter die historischen Ausführungen ausschließlich zur Erkenntnis und Interpretation des gültigen aktuellen Rechts verwendete. Auch hier stimmt er mit dem Begründer der historischen Schule, Friedrich Carl von Savigny, überein.

70 C.G. v. Wächter, Gesetzgebung, in: Das Staatslexikon, hrsg. von K. v. Rotteck und K. Welcker, 3. Auflage 1862, Bd. VI, S. 482, 499; Ad historiam Constitutionis Criminalis Carolinae Symbolarum, Theil 1, 1835, S. 3 f. 71 C G. v. Wächter, Ueber die Reception der Carolina in den einzelnen Territorien Deutschlands, insbesondere in Sachsen, in: AdCNF 1837, S. 59. 72

C.G. v. Wächter, Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere Gemeines Deutsches Strafrecht, 1844, S. 7. 73 C.G. v. Wächter, Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere Gemeines Deutsches Strafrecht, 1844, S. 257; ähnlich äußert sich Wächter auch in seiner Vorrede zu seinem Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Band 1, Stuttgart 1825, S. VII. 74

Vgl. Teil 3 Kapitel 1 Anm. 40-44).

75

C G. v. Wächter, Beitrag zu der Lehre vom Gerichtsgebrauche, AcP 23 (1840), S. 432 ff.

76

C.G. v. Wächter, Beitrag zu der Lehre vom Gerichtsgebrauche, AcP 23 (1840), S. 432.

Kapitel 1: Die historische Rechtsschule und der Positivismus

53

So ist es für Wächter bezeichnend, daß er in der von seinem Sohn Oskar posthum herausgegebenen Skriptensammlung 77 neben der Darstellung der geltenden Regelungen des 1871 in Kraft getretenen Reichsstrafgesetzbuchs eine ausfuhrliche Erörterung der historischen Entwicklung des jeweiligen Rechtsinstituts gibt. Er nennt sie schlicht „Beilagen" und läßt sie in Form von Fußnoten drucken, wobei sie den Umfang der Ausführungen zu den Paragraphen des RStGB regelmäßig übertreffen. Für Wächter hat es entscheidende Bedeutung, die positive Rechtsnorm aus ihrer geschichtlichen Entwicklung heraus zu erklären. Er beginnt dabei stets beim römischen Recht der Justinianischen Gesetzbücher, um schließlich bei der Erläuterung der germanischen Quellen des gemeinen Rechts zu enden. Als Beispiel soll die Darstellung des Strafdelikts der Brandstiftung in der oben erwähnten „Skriptensammlung" dienen. Nach einer überblickshaften Einführung in das ehemals im 19. Jahrhundert geltende römische und germanische gemeine Recht nimmt Wächter eine eingehende Interpretation der Begehungsweise des römisch-rechtlichen Delikts des crimen incendii vor. Er legt dar, daß die Digestenstellen D.48.8.1 und D.48.19.28 das Inbrandsetzen jedes Gebäudes, also nicht nur von Wohngebäuden erfaßten. 78 Danach stellt er in einer umfangreichen Ausführung die Strafbarkeit der Brandstiftung nach Art. 125 der Constitutio Criminalis Carolina dar, um dann für den geltenden § 308 des Reichsstrafgesetzbuches vollständig auf diesen zu verweisen. Der Schwerpunkt liegt auf der Frage nach dem Vollendungszeitpunkt der Brandstiftung; auch hierbei wird das gemeine deutsche Recht als Diskussionsgrundlage herangezogen.79 Ahnlich verfährt Wächter in seinem Aufsatz „Revision der Lehre von dem Verbrechen der Gewalttätigkeit (crimen vis)" 80 . Dabei widerlegt er die Theorie Jarckes, ein besonderes Delikt der Gewalttätigkeit sei im römisch-deutschen gemeinen Recht nicht angelegt, geschweige denn normiert. Er leugnet die Rezeption des römisch-rechtlichen crimen vis, darüber hinaus seien die möglichen Begehungsformen dieses Delikts bereits in deutschrechtlichen Spezialtatbeständen, wie Aufruhr oder Landfriedensbruch, hinlänglich sanktioniert. 81 In einer ausführlichen Erörterung, die bei der Darstellung der altgermanischen Fehderechte beginnt und über die frühen römischen bis zu den Justinianischen Ge-

77

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. von O. v. Wächter, 1881.

78

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. von O. v. Wächter, 1881, S. 441-

443. 79

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. von O. v. Wächter, 1881, S. 444-

447. 80 C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Verbrechen der Gewalttätigkeit (crimen vis), in: Neues Archiv des Criminalrechts (NAdC), Bd. XH (1833), S. 341-389; Bd. XIII (1833), S. 147, 195-248, 374-415. 81

C.E. Jarcke, Handbuch des gemeinen deutschen Strafrechts, Bd. n, 1828, S. 176-185.

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

54

setzgebungen reicht, legt Wächter dar, daß das Delikt der „Gewalttätigkeit" im gemeinen deutschen Recht bereits angelegt sei, aber mangels spezieller Ausprägung auf das römische „crimen vis" zurückgegriffen werden müsse.82 Diese historisch-entwicklungsdynamischen Ausfuhrungen umfassen mehr als 2/3 der Gesamtdarstellung. Erst auf den letzten 41 Seiten stellt er das aktuell geltende gemeine römisch-deutsche Recht dar. 83 Damit wird deutlich, daß Wächter eine Erörterung des geltenden Rechts der Gegenwart ohne eine peinlich genaue Herleitung der Entwicklung des Rechtsinstituts aus der Vergangenheit nicht vornehmen will. Das Recht der Gegenwart basiert auf der Vergangenheit. Wächter geht es dabei nicht um eine isolierte Betrachtung der vergangenen Rechtsentwicklungen, sondern ausschließlich um eine rückwärts gewandte Untersuchung zur Durchdringung des Gegenwärtigen. Damit könnte Hugo Meyer zuzustimmen sein, wenn er auf die Frage, ob Wächter nun als ein Anhänger der historischen Rechtsschule bezeichnet werden könne, ausführt:,,Hat er doch fast keine geschichtliche Frage behandelt, die sich nicht als Vorfrage für die Beantwortung einer praktischen Rechtsfrage darstellt..." 84 , und damit nur „zum Zwecke der Ergründung des geltenden Rechts auf die zum Teil weit zurückliegenden Quellen desselben zurückging" 85 ; also eine geschichtliche Betrachtung um ihrer selbst willen ablehnte. Damit prägte ihn nach Windscheid ,jenes unnachsichtliche Herabdrücken aller historischen Kenntnisse auf das Niveau von Handwerkszeug und jener instinctive Zug nach dem realen Leben" 86 . Daraus schließen Windscheid und Meyer, daß Wächter nicht zu den engen Anhängern der historischen Rechtsschule zu zählen sei. 87 Dennoch ist vielleicht gerade in diesem Verständnis von der Funktion der rechtsgeschichtlichen Untersuchung eine nahe Verwandtschaft zu der oben ausgeführten Idee des Begründers der historischen Schule, Friedrich Carl von Savigny, zu beobachten. Diese Einschätzung teilt auch Julius Glaser 88, wenn er ausführt, daß Wächter mit seinem „württembergischen Privatrecht" als erster die Anwendung der Ergebnisse der von Savigny gegründeten Rechtsschule auf ein Partikularrecht unternommen und in wahrhaft mustergültiger Weise durch82

C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Verbrechen der Gewalttätigkeit, in: NAdC Xffl(1833), S. 374. 83 C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Verbrechen der Gewalttätigkeit, in: NAdC Xni(1833), S. 374-415. 84

H. Meyer, Karl Georg von Wächter, 1898, S. 38.

85

H. Meyer, Karl Georg von Wächter, 1898, S. 6.

86

B. Windscheid, Carl Georg von Wächter, 1880, S. 35.

87

B. Windscheid, Carl Georg von Wächter, S. 51; H. Meyer, Karl Georg von Wächter, S. 6,

38 f. 88 J. Glaser, Karl Georg von Wächter, in: österreichische Gerichtszeitung N.F., 17. Jg. Nr. 6 (1880), S. 1. So auch G. Kleinheyer/J. Schröder (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. Auflage 1996, S. 7.

Kapitel 1: Die historische Rechtsschule und der Positivismus

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geführt habe. In der gleichen Weise äußert sich Gustav Mandry: „Wächter steht ganz und ungetheilt auf dem Boden, den die historische Schule der deutschen Rechtswissenschaft geschaffen hat." 89

3. Zwischen „ Romanismus " und „ Germanismus " 9 0 Ebensowenig wie die Darstellung der historischen Schule ohne einen Hinweis auf ihren Vorläufer, die Philosophie des Naturrechts, auskommt, erschließt sie sich erst mit dem Blick auf ihre beiden Disziplinen, die Germanistik und die Romanistik. 91 Mit dem rückwärts gewandten Blick der historischen Forschung entstand unter den Anhängern der historischen Schule die Frage, welchen Rechtsquellen letztlich zu folgen sei, denn infolge der praktischen Rezeption der Justinianischen Gesetzbücher im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation 92 im Verlauf des 14. Jahrhunderts 93 entstand eine Konkurrenzsituation mit der deutschen Rechtspraxis und den einheimischen Gewohnheiten. „Was soll hier zur Anwendung kommen? Das römische oder das deutsche Recht? Das ist der Punkt, der noch nicht gelöst ist, der Streit, der zwischen Romanisten und Germanisten geführt wird." 9 4 Die Romanisten95 setzten sich zum Ziel, dem Corpus juris aufgrund seiner Rezeption in complexu, wie sie behaupteten96, eine umfassende Herrschaft zu 89 G. Mandry, Carl Georg von Wächter, in: Besondere Beilage des Staats-Anzeigers für Württemberg, Nr. 3 v. 18.2.1880, S. 38. Der Einschätzung Wächters als Anhänger der historischen Schule folgen ebenfalls: E. Hölder, Karl Georg von Wächter, Deutsche Juristenzeitung (14) 1909, Spalten 978-979; derselbe, Worte der Erinnerung an Karl Georg von Wächter, 1897, S. 6; H. Dernburg, Carl Georg von Wächter, 1880, S. 8 f.; O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 6, der daraufhinweist, daß Wächter in Tübingen bei Schräder, einem der bedeutendsten Vertreter der historischen Schule " gehört hatte. 90

Im Gegensatz zur modernen rechtsgeschichtlichen Wissenschaft, die von Romanistik und Germanistik spricht, wurde im 19. Jahrhundert von den „Akteuren" der historischen Schule vermehrt die Begrifflichkeit ,,Romanismus" und „Germanismusabstellend auf das dynamische Element der Entwicklung, gebraucht. Vgl. dazu etwa O. Gierke, Die historische Rechtsschule und die Germanisten, 1903, S. 17,27. 91

A. Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 5. Auflage 1996, S. 210.

92

A. Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 5. Auflage 1996, S. 48; C.G. v. Wächter, Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, 1839, Bd. I, 2. Halbbd., S. 1085. 93

H. Mitteis, H. Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, 19. Auflage 1992, S. 329.

94

Th. v.d. Pfordten, in: Verhandlungen der Germanisten zu Lübeck am 27., 28. und 30. September 1847, 1848, S. 227. 95 J.F.L. Göschen (1778-1837); A.R. v. Löhr (1784-1851); C.A. Unterholzner (1787-1838); A.W. Heffter; H.E. Dirksen; F.A. Biener; F. v. Bluhme; Th. v. Bethmann-Hollweg. Exemplarische

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

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verschaffen. Die römischen Gesetzbücher sollten daher wie deutsche behandelt und angewendet werden. Dem gewachsenen einheimischen Recht wurde lediglich die Funktion eines „Lückenbüßers" zugestanden. Die Überzeugung, daß „der germanische Volksgeist nun einmal der schöpferischen Originalität entbehre und seine Eigenart am reinsten in der Aneignung des Fremden offenbare" 97, gewann zunehmend an Bedeutung. Damit kam römisch-rechtlichen Instituten eine subsidiäre Geltungsvermutung zugute, wobei deutsche Rechtsquellen für ihre Anwendbarkeit eines expliziten Geltungsbeweises bedurften. 98 Das führte zwangsläufig zu einer weitgehenden Aushöhlung des allgemein anerkannten Anwendungsvorrangs der deutschen Rechtsinstitute vor dem subsidiären römischen Recht. 99 Zwar wies Savigny der Erforschung des römischen und germanischen Rechts sowie deren Modifikationen der Gegenwart zunächst gleiche Bedeutung zu 1 0 0 ; bei seiner Forderung nach der „Reinigung" des gegenwärtigen Zustandes des Rechts von „Unkunde und Dumpfheit" 101 aber mißbilligte er nahezu jede Umgestaltung des antiken römischen Rechts durch den Einfluß germanischer Rechtsquellen sowie deutschrechtlicher Gewohnheiten und gestand so allein dem ersteren einen uneingeschränkten Geltungsanspruch zu. 1 0 2 Die Germanisten 103 dagegen lehnten die Annahme der mittelalterlichen Rezeption des römischen Rechts in complexu ab 1 0 4 und erklärten: „Das deutsche Recht blieb auch nach der Aufnahme des römischen Rechts das vorherrschende, da sonst die ... Erscheinung nicht zu erklären wäre, daß nämlich Institute, wel-

Darstellung bei: E. Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abtlg., 2. Halbbd., Text, 1910, S. 287-307. 96 Th. v.d. Pfordten, in: Verhandlungen der Germanisten zu Lübeck am 27., 28. und 30. September 1847, 1848, S. 226. 97

O. Gierke, Die historische Rechtsschule und die Germanisten, 1903, S. 18.

98

Th. v.d. Pfordten, in: Verhandlungen der Germanisten zu Lübeck am 27., 28. und 30. September 1847, 1848, S. 227. 99 Instruktiv B. Schildt, Römisches Recht in der Rechtsprechungspraxis mitteldeutscher Kleinstaaten um die Mitte des 19. Jahrhunderts anhand der Spruchpraxis der halleschen Juristenfakultät, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 1993, S. 1,2. 100 F.C. v. Savigny, Vom Berufe unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1. Auflage 1814, S. 118; W. Pöggeler, Vom Naturrecht zum Positivismus, JA 1997, S. 339, 341f. 101 F.C. v. Savigny, Vom Berufe unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1. Auflage 1814, S. 119. 102

O. Gierke, Die historische Rechtsschule und die Germanisten, 1903, S. 14.

103

K.F. Eichhorn (1781-1854); K.A. Rogge (1795-1827); C.G. Homeyer (1795-1874); G.L.. Maurer; F.A. Nietzsche; C.W. v. Lancizolle. Exemplarische Darstellung: E. Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abtlg., 2. Halbbd., Text, 1910, S. 307-336. 104

G. Beseler, Volksrecht und Juristenrecht, 1843, S. 99 f. Vgl. auch die Stellungnahme in: Verhandlungen der Germanisten zu Lübeck am 27., 28. und 30. September 1847, 1848, S. 234. Instruktiv zu Georg Beselers: B.-R. Kern, Georg Beseler, Leben und Werk, in: Schriften zur Rechtsgeschichte, Heft 26, 1982, S. 89.

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che dem römischen Recht fremd sind, beibehalten und umgekehrt römische dem deutschen Recht fremde Institute nicht aufgenommen ... wurden." 105 Da das römische als fremdes Recht dem deutschen Volke von den Juristen aufgedrängt und daher lediglich deren Machwerk gewesen sei, bei dem das Volk abseits stand, bestehe zwischen diesem und dem deutschen „Volksgeist" eine unüberbrückbare Kluft. Dem indoktrinierten stehe das gewachsene Recht gegensätzlich gegenüber. Deshalb forderte die Mehrzahl der Germanisten, daß die Geltungsvermutung für das römische Recht aufgehoben und der Beweis der Existenz oder der Rezeption der Rechtsregel sowohl für das römische als auch für das deutsche Recht explizit geführt werden müsse 106 , um so dem letzteren den Anwendungsvorrang zu erhalten. 107 Wächter war Romanist, daran ließ er keinen Zweifel: „...so wird nicht in Abrede zu stellen seyn, daß man die Justinianischen Rechtsbücher im Ganzen recipierte, und dieses Recipieren im Ganzen sich nicht blos auf seine rein privatrechtlichen Theile beschränkte, sondern im Allgemeinen auf alle seine Theile erstreckte. Zunächst gehört hierher das Criminalrecht...". 108 Für ihn waren die römischen Rechtsquellen infolge der Rezeption zu deutschem Recht geworden. 109 Er argumentiert mit den Entstehungsgründen der Constitutio Criminalis Carolina, deren Funktion er mit der für die Praxis wichtigen Verbindung der mittelalterlichen deutschen Gewohnheiten und Statuten mit dem rezipierten römischen Recht im 16. Jahrhundert umschreibt 110 . Als Voraussetzung für einen solchen Ausgleich bei der Anwendung römischen und deutschen Rechts und für eine Eindämmung richterlicher Willkür galt aber, daß das römische Recht zu 105 Christ, in: Verhandlungen der Germanisten zu Frankfurt am Main am 24., 25. und 26. September 1846, 1847, S. 77. 106

G. Beseler, Volksrecht und Juristenrecht, 1843, S. 99 f., 105; vgl. auch Th. v.d. Pfordten, in: Verhandlungen der Germanisten zu Lübeck am 27., 28. und 30. September 1847, 1848, S. 227 f. 107 Zur Überwindung der kodifikationsfeindlichen Elemente der Theorie der historischen Schule durch die germanistische Richtung vgl. H. Getz, Die deutsche Rechtseinheit im 19. Jahrhundert als rechtspolitisches Problem, in: Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 70, 1966, S. 15. 108

C.G. v. Wächter, Beitrag zur der Lehre vom Gerichtsgebrauche, in: AcP 23 (1840), S. 432, 435; vgl. auch Revision der Lehre von dem Verbrechen der Gewalttätigkeit (crimen vis), in: NAdC XII (1833), S. 374, 385; Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts 1839, Bd. 1,2. Halbbd., S. 1091 f. 109 C.G. v. Wächter, Gesetzgebung (Deutsche), Gesetzbücher, in: Das Staatslexikon, hrsg. von K. von Rotteck und K. Welcker, 3. Auflage 1862, Bd. m, S. 482, 495. Vgl. dazu A. Laufs, „Das wirklich geltende, durch den allgemeinen Willen gesetzte Recht". Zur Rechtslehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), in: Festschrift für K. Kroeschell, 1997, S. 617, 633; ders., Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte (ZWLG), 1998, S. 285, 302. 110 C.G. v. Wächter, Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere Gemeines Deutsches Strafrecht, 1844, S. 29 f.; Ueber die Reception der Carolina in den einzelnen Territorien Deutschlands, insbesondere in Sachsen, in: AdCNF 1837, S. 59, 62.

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diesem Zeitpunkt bereits weitgehend rezipiert worden war. 111 Davon zeugten, so Wächter, die juristischen Werke des 15. und 16. Jahrhunderts, die alle, wie selbstverständlich, von der Anwendung des römischen Rechts im Ganzen ausgingen. Darüber hinaus ergebe sich eine Rezeption in complexu bereits aus der Art und Weise der Verweisungen der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. auf das römische Recht. Die Gerichte würden dabei nicht nur punktuell, sondern zur Anwendung des römischen Rechts im Ganzen als subsidiär geltendes Reichsrecht verpflichtet. 112 Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls des V. sollte daher lediglich dort Einzelheiten regeln, wo einheimisches und römisches Recht nicht zu vereinbaren waren; als zusammenhängende Grundlage der richterlichen Entscheidung sollte weiterhin das römische Recht dienen. 113 Damit stellt sich Wächter gegen die - bereits erläuterte - Ansicht des Germanisten Georg Beseler (1809-1888), wenn er für die Geltung einer einheimischen deutschen Rechtsquelle einen expliziten Geltungsbeweis verlangt. Obwohl er damit dem subsidiären römischen Recht eine Anwendungsvermutung einräumte 1 1 4 , vertrat er dabei keine extreme Position. Wichtig ist Wächter, daß der unbestrittene Anwendungsvorrang der deutschen Rechtsquellen infolgedessen nicht ausgehebelt wurde. Für das Bestehen einer deutschen Rechtsregel sollte kein Beweis in einem strengen Sinne geführt werden müssen. Vielmehr habe der Richter trotz der Anwendungsvermutung für das römische Recht genauestens zu überprüfen, ob dieses nicht durch das deutsche Recht verdrängt werde. 115 „Jene Regel und ihre Folgen überheben den Rechtsgelehrten und Richter keineswegs, vor der Anwendung eines Instituts des Römischen Rechts erst genau zu untersuchen, ob nicht besondere Gründe der Unanwendbarkeit desselben vorliegen, und zu diesen ... gehört namentlich, dass das Römische Recht ... in allen den Punkten nicht eintreten kann, über welche einheimische Gesetze ande-

111 C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Verbrechen der Gewalttätigkeit (crimen vis), in: NAdC XD (1833); S. 341, 381. 112

Vergleiche die Verweise in den Artikeln 104 und 105 CCC. Vgl.: C.G. v. Wächter, Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere Gemeines Deutsches Strafrecht, 1844, S. 25 f.: y yDiess ergibt sich schon auf das Klarste aus der Art und Weise, wie sie (die CCC, d. Verf.) die Geric an das Römische Recht weist. Sie thut diess nicht nur in vielen einzelnen Theilen und Pu sondern sie verweist auch ganz allgemein auf Dasselbe als das ergänzende und als Solch Ganzen geltende Recht". 113

C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Verbrechen der Gewalttätigkeit (crimen vis), in: NAdC XII (1833), S. 341, 382 f. 114 C G. v. Wächter, Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere Gemeines Deutsches Strafrecht, 1844, S. 187-191; Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, 1839, Bd. I, 2. Halbbd., S. 1092. 115 C.G. v. Wächter, Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere Gemeines Deutsches Strafrecht, 1844, S. 188.

Kapitel 1: Die historische Rechtsschule und der Positivismus

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re Normen an die Hand geben." 1 1 6 Daher sollten den römischen Rechtsquellen keine falsche Anwendung und Ausdehnung zur Verdrängung oder Beschränkung einheimischer Institute 1 1 7 gewährt werden, damit sie, obwohl sie unter den ergänzenden subsidiären Quellen den nachgeordneten Platz einnähmen, kein unangemessenes Übergewicht erhielten 1 1 8 . Wächter vertritt damit eine auf Ausgleich gerichtete Position, nach der das i n Deutschland lebendige Recht aus einer deutschen und einer römischen Wurzel entsprossen und aus diesen für die Gegenwart zu ermitteln s e i . 1 1 9 Dies kommt auch i n der Äußerung Wächters bei den Verhandlungen der Germanisten zu Lübeck, zu denen er gerade als ausgewiesener Romanist geladen war, zum Ausdruck: „ W e n n w i r so beides verbinden..., so werden immer mehr die Gegensätze zwischen beiden ausgeglichen, wenn w i r uns gehörig die Hand dazu bieten w o l l e n . " 1 2 0 A u c h Otto Gierke betont die vermittelnde Rolle, die der Romanist Wächter bei der Untersuchung dieses „modernen deutschen Rechts" spielte, indem er trotz Wahrung des romanistischen Standpunkts die Berechtigung der germanistischen Bestrebungen anerkannte. 1 2 1 Außer Ferdinand Elsener, der Wächter als strengen Romanisten

bezeichnet 1 2 2 , würdigen i h n Eduard Holder, Heinrich

116 C.G. v. Wächter, Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere Gemeines Deutsches Strafrecht, 1844, S. 189. 117

C.G. v. Wächter, Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, 1839, Bd. 1,2. Halbbd., S. 1092. 118 C.G. v. Wächter, Gesetzgebung (Deutsche), Gesetzbücher, in: Das Staatslexikon, hrsg. von K. v. Rotteck und K. Welcker, 3. Auflage 1862, Bd. m, S. 482,484. 119

Vgl. auch C.G. v. Wächter, Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, 1839, Bd. I, 1. Halbbd., S. V-VO. In der gutachterlichen Schrift Ad historiam Constitutionis Criminalis Carolinae Symbolarum, Theil 1,1835 stellt Wächter die römisch- und die deutschrechtlichen Regelungen als gleichberechtigte Erkenntnis- und Rechtsquellen nebeneinander, und setzt damit seine rechtstheoretische Forderung unmittelbar rechtspraktisch um. In einem Schreiben Wächters an Mittermaier vom 4. Mai 1843 formuliert er diesen Standpunkt: „Sehr freut es mich, daß Sie der Richtung einiger neuesten Germanisten nicht beipflichten, nach welcher das sche Recht aus seiner mehr als dreihundertjährigen Stellung entsetz t und unser Rechtszu eine bedrohliche Unsicherheit zurückversetzt würde. Allerdings gehen aber auch unsere sten in der Nichtbeachtung der einheimischen Fortbildung und oft Umbildung des Rechts und unsere Pandektensysteme sind zum Teil wenigstens gar nicht, was sie sein wollen, des heutige n Römischen Rechts(Handschriftenabteilung Universitätsbibliothek Heidelberg, HS 2746). 120 C.G. v. Wächter, in: Verhandlungen der Germanisten zu Lübeck am 27., 28. und 30. September 1847, 1848, S. 239. 121

O. Gierke, Die historische Rechtsschule und die Germanisten, 1903, S. 29 f.; ebenso B. Windscheid, Carl Georg von Wächter, 1880, S. 31. 122 F. Elsener, Der Jurist Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477-1977, 1977, S. 471, 482. Diese Einschätzung teilte wohl auch das Professorenkollegium der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen, indem es mit seiner Festschrift Carl Georg von Wächter zum fünfzigjährigen Amtsjubiläum zwei Beiträge aus dem römischen Recht zugedachte: G. Mandry, Über Begriff und Wesen des Peculium, S. 3-92; Her-

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Dernburg, Carl Friedrich v o n Gerber, sein Sohn Oskar v o n Wächter, Nikolaus Sandmann und A d o l f Laufs fiir seine Bestrebungen, römisches und deutsches Recht miteinander zu einem wirksamen Recht der Gegenwart vereinen zu woll e n . 1 2 3 Ernst Landsberg führt die Bedeutung Wächters dabei ausschließlich auf diesen Ansatz z u r ü c k . 1 2 4 Dabei geht Gustav Mandry einen Schritt weiter und bezeichnet ihn sogar als „Romanisten und Germanisten". 1 2 5 Wächter nimmt damit die Entwicklung und die Erkenntnisse der modernen rechtsgeschichtlichen Wissenschaft des 20. Jahrhunderts vorweg, die eine strenge Trennung der romanistischen und germanistischen Disziplinen weder vornehmen w i l l noch kann.126

4. Carl Georg von Wächter und die Kodifikationsidee Anton Justus Friedrich

Thibauts

I m Jahre 1814 erschien i n Heidelberg die Schrift A n t o n Justus Friedrich Thibauts 1 2 7 (1772-1840) „Ueber die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland". Thibaut, bei dem Wächter während seiner Hei-

mann Seeger, Über das Verhältnis der Strafrechtspflege zum Gesetz im Zeitalter Ciceros, S. 93153, in. Herrn Geheimenrath und Professor Dr. Karl Georg von Wächter in Leipzig bringt zur Feier seines fünfzigjährigen Amtsjubiläums am 13. August 1869 ihr Glückwünsche dar die Juristenfacultät in Tübingen, hrsg. v. Universität Tübingen, 1869. Als strenger Romanist wird Wächter auch von C.Fr. Roßhirt, Entwicklung der Grundsätze des Strafrechts, 1828, S. 514 eingeordnet. So wohl auch G. Kleinheyer/J. Schröder (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. Auflage 1996, S. 54. 123

E. Holder, Karl Georg von Wächter, in: Deutsche Juristenzeitung (14) 1909, Spalte 979; H. Dernburg, Carl Georg von Wächter, 1880, S. 12-16, C. F. v. Gerber, Einleitung der Festschrift für C.G. v. Wächter zum 50-jährigen Professorenjubiläum dargereicht von der Juristischen Fakultät zu Leipzig vom 13. August 1869, 1869, S. 7; O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 65 f., 131, 184; N. Sandmann, Grundlagen und Einfluß der internationalprivatrechtlichen Lehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), 1979, S. LXXX; A. Laufs, „Das wirklich geltende, durch den allgemeinen Willen gesetzte Recht". Zur Rechtslehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), in: Festschrift für K. Kroeschell, 1997, S. 617, 621; ders. Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: ZWLG, 1998, S. 285, 290. 124 E. Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abtlg., 2. Halbbd., Text, 1910, S. 612. 125

G. Mandry, Carl Georg von Wächter, in: Besondere Beilage des Staats-Anzeigers für Württemberg, Nr. 3 v. 18.2.1880, S. 33, 43. 126 F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auflage 1967, S. 124 ff.; E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage 1965, S. 107 f. 127

Aus der neueren Literatur sei exemplarisch genannt H. Hattenhauer, Anton Friedrich Justus Thibaut und die Reinheit der Jurisprudenz, in: Heidelberger Jahrbücher XXXIV, 1990, S. 20-35, mit weiteren Nachweisen.

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delberger Zeit im Jahre 1817 hörte, 128 forderte darin den Erlaß eines einfachen, deutschen, einheitlichen und den Bedürfnissen des Volkes entsprechenden Gesetzbuches. Er forderte Savigny damit zur Abfassung des oben schon mehrfach angeführten programmatischen Werkes „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft,, heraus. 129 Der geschichtliche Hintergrund, vor dem Thibaut die Kodifikation eines bürgerlichen Rechts forderte, unter dem er das Privat- und Kriminalrecht sowie den Prozeß verstand 130 , war die Völkerschlacht von Leipzig, die die Befreiung Deutschlands von der französischen Besetzung und Abhängigkeit brachte. 131 Die Gedanken der Thibautschen Schrift beruhten auf drei Argumentationskomplexen: Zunächst forderte er eine sichere Rechtsgrundlage, denn das in Deutschland als gemeines geltende römische Recht hatte den Nachteil, nicht in einer umfassenden und verbindlichen Kodifikation überliefert zu sein. Vielmehr sei man auf eine Vielzahl einander widersprechenden und lückenhaften Abschriften angewiesen.132 „... Das Römische Recht wird nie zur vollen Klarheit und Gewißheit erhoben werden. Denn die Erklärungsquellen fehlen uns bey jeder Gelegenheit, und der ganze Wust jämmerlich zerstückelter Fragmente fuhrt in ein solches Labyrinth gewagter, schwankender Voraussetzungen, daß der Ausleger selten einen ganz festen Boden gewinnen kann, der nächste beste Ausleger also immer wieder angelockt wird, neue Ideen zu versuchen, und die bisherigen umzuwerfen." 133 Schließlich stehe einer voraussehbaren und verläßlichen Anwendung des römischen Rechts dessen Abfassung in zwei fremden Sprachen, Griechisch und Latein, entgegen. Aus diesen Gründen sei ein Rechtsstreit für den Rechtssuchenden geradezu ein Glücksspiel geworden. 134

128 F. Elsener, Der Jurist Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477-1977, 1977, S. 471, 473; derselbe, Fünfhundert Jahre Tübinger Juristenfakultät, JZ 1977, S. 617, 619; F. v. Eisenhart, Carl Joseph Georg Sigismund v. Wächter, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. XXXX, 1896, S. 435; O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 10. 129

A. Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 5. Auflage 1996, S. 213.

130

Thibaut, Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland, 1814, S. 12. 131 J. Stern, Thibaut und Savigny, Die Originalschriften, 1914, S. 8. Instruktiv dazu H. Getz, Die deutsche Rechtseinheit im 19. Jahrhundert als rechtspolitisches Problem, in: Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 70, 1966, S. 17 ff., E. Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Auflage 1963, S. 502 f. 132

A.J.F. Thibaut, Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland, 1814, S. 14-32. 133 A.J.F. Thibaut, Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland, 1814, S. 17 f.

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Der zweite Argumentationskomplex beruht auf der Forderung nach der Schaffung eines nationalen Rechts. Zwar sei eine politische Trennung der deutschen Territorialstaaten nicht vermeidbar, trotzdem schaffe die Rechtseinheit ein unverbrüchliches Band zwischen den Bürgern der deutschen Staaten. Denn, so folgert er: „Gleiche Gesetze erzeugen aber gleiche Sitten und Gewohnheiten, und diese Gleichheit hat immer zauberischen Einfluß auf Völkerliebe und Völkertreue gehabt." 135 Da das römische Recht außerdem nicht in den deutschen Rechtsanschauungen wurzele und infolge seiner erheblichen inhaltlichen Rückständigkeit nicht mehr den Anforderungen einer „modernen" Gesellschaft genüge, also nicht mehr den Bedürfnissen des Volkes" entspreche, solle es ersetzt werden durch „ein einfaches Gesetzbuch, das Werk eigner Kraft und Thätigkeit," das „endlich unsern bürgerlichen Zustand ... gehörig begründen und befestigen möge ..." 1 3 6 . Thibaut will ein nationales Ehrenwerk, geboren aus nationaler Kraft und deutschem Geiste 137 . Infolgedessen sollte eine tote gelehrte Tradition in einen lebendigen politischen Besitz der Nation verwandelt werden. 138 Als drittes Argument führt er die Handelsbeziehungen zwischen den einzelnen deutschen Staaten an, die infolge des Wegfalls der Kollision der Territorialgesetze erhebliche Erleichterungen erfuhren. 139 Die damit zusammenhängenden Frage, ob Thibaut ein Vorkämpfer der bürgerlichen Rechtsordnung war, kann in diesem Rahmen nicht näher untersucht werden. 140 Dies muß wohl mit Rücksicht auf die mangelnde Anerkennung der für moderne wirtschaftliche Beziehungen unverzichtbaren Institute wie der Stellvertretung und des Vertrages zugunsten Dritter verneint werden. 141

134

A.J.F. Thibaut, Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland, 1814, S. 21. 135 A.J.F. Thibaut, Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland, 1814, S. 33. 136 A.J.F. Thibaut, Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland, 1814, S. 25. 137 H.-P. Benöhr, Politik und Rechtstheorie: Die Kontroverse Thibaut - Savigny vor 160 Jahren, JuS 74, S. 681, 682. 138 E. Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abtlg., 2. Halbbd, Text, 1910, S. 391. 139 A.J.F. Thibaut, Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland, 1814, S. 34. 140 Vgl. dazu ausführlich: H. Wrobel, Rechtsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Sozialgeschichte: Die Thibaut-Savigny-Kontroverse, in: Kritische Justiz 6 (1973); S. 149 ff.; H. Kiefner, Thibaut und Savigny, Bermerkungen zum Kodifikationsstreit, in: Festschrift für Rudolf Gmür, 1983, S. 53-85.

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Als Reaktion auf diese Forderungen Thibauts formulierte Savigny ebenfalls im Jahre 1814 die programmatische Schrift „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft", die zum Programm der historischen Schule werden sollte. Er betrachtete die Kodifikation als einen einschneidenden Eingriff in seine Rechtsquellen- und Methodenlehre. Für ihn durfte das Recht, wie oben ausführlich dargestellt, dem Volk nicht gewissermaßen wie ein Kleid übergestülpt werden, es mußte dem „Volksgeist" entwachsen sein, der ein gemeinschaftliches Denken und Tun im Volk erzeuge. In einer späteren Kulturstufe übernähmen dann die Juristen die Rechtsfortbildung, nicht aber eine umfassende Kodifikation. 142 Diese mußte er auch aus methodischen Überlegungen ablehnen, da die gegenwärtig anzuwendenden Rechtsregeln bis zu ihren historischen Wurzeln verfolgt und daraus erklärt werden müßten. Rechtsfindung müsse daher aus einer in die Vergangenheit gerichteten entwicklungsdynamischen Betrachtung erfolgen, nicht durch die Willkür eines Gesetzgebers. 143 Denn die Gegenwart sei unabdingbar mit der Vergangenheit verbunden, nur aus ihr könne das Volk das geltende Recht herleiten; andernfalls würden die organische Entwicklung des Rechts verhindert und seiner nie ruhenden Beweglichkeit und Lebendigkeit willkürliche Grenzen gesetzt. Eine Kodifikation sei nur dann zulässig, wenn sie die gesamte historische Überlieferung in sich aufnehme und die einzelnen Rechtsinstitute zu einem systematischen Ganzen verbinde, wozu der gegenwärtige Stand der wissenschaftlichen Durchdringung (noch) nicht ausreiche 144. Durch die Erfüllung dieser Bedingung werde eine solche aber gerade obsolet. 145 Als Wächter im Wintersemester 1817/18 in Heidelberg Thibaut hörte, stand dieser auf der Höhe seines Ruhms. 146 Der Student nahm die Gelegenheit wahr:

141

A.J.F. Thibaut, System des Pandektenrechts, Bd. H, 8. Auflage 1843, § 463, S. 20 f.

142

F.C. v. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1. Auflage 1814, S. 12. 143

F.C. v. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1. Auflage 1814, S. 112. 144 Zu der Frage, ob Savigny lediglich seiner Zeit den Beruf zur Gesetzgebung absprach oder diese Einschränkung auf alle Zeiten ausdehnte vgl. J. Stern, Thibaut und Savigny, 1914, S. 19 ff.; U. v. Lübtow, Savigny und die Historische Schule, in: Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1984, S. 381, 392 f. 145

F.C. v. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1. Auflage 1814, S. 26. Der Einzelgesetzgebung steht Savigny in Kapitel 3 des „Berufs" jedoch nicht ablehnend gegenüber. Sie mag eingreifen zur Erreichung politischer Zwecke und zur Beseitigung rechtlicher Unklarheiten. 146 F. Elsener, Der Jurist Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477-1977, 1977, S. 471, 473 Note 14).

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Er schrieb an den befreundeten Stuttgarter Rechtsanwalt Weishaar: Ich „studire jetzt so, daß ich mich durch eine genaue Präparation mit Thibauts ... Ansichten bekannt mache, und dabei auch, wenn es die Zeit zuläßt, auf genauere Beurtheilung der Gründe eingehe ..." 1 4 7 . Daß er dies nicht nur oberflächlich tat, bestätigt sein Standpunkt zur Kodifikationsfrage. Wächter kann zwar als gemäßigter Romanist durchaus der historischen Schule zugeordnet werden, deren Ablehnung der Kodifikationsidee teilte er zumindest, was das Strafrecht anbetrifft, nicht; im Gegenteil. Für das Privatrecht gesteht er Savigny die mangelnde Reife der Zeit für Kodifikationen zu, wenn er behauptet, „daß sie weder nöthig seien, noch zu ersprießlichen Resultaten führen werden", denn es sei unverkennbar, „daß ... frühere Zeiten über uns standen und wir den reichen Schacht dieser Zeiten noch nicht gehörig ausgebeutet haben, erst durch historische Ergründung den vorhandenen Stoff uns unterwerfen und so den Reichtum der vergangenen Geschlechter uns aneignen sollten" 148 . Diese Vorbehalte bestünden zwar dem Grunde nach ebenso für die Strafrechtswissenschaft, jedoch seien hier Umstände eingetreten, die eine umfassende und einheitliche Legislation unumgänglich machten. Wächter bezeichnet daher im Jahre 1855, obwohl er sich 1829 und 1842 noch verstärkt für einzelstaatliche Kodifikationen aussprach 149, die Vorbe-

147 So schreibt Wächter an den befreundeten Stuttgarter Rechtsanwalt Weishaar im Dezember 1817. Zitiert aus: O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 10. 148

C.G.v. Wächter, Strafgesetzgebungen (neuere), in: Das Staatslexikon, hrsg. v. K. v. Rotteck und K. Welcker, 2. Auflage 1848, Bd. XII, S. 463. 149 C.G. v. Wächter, Uebersicht über die Literatur des gesammten Württembergischen Rechts, IV. Privatrecht, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft, Bd. VI, 1829, S. 294, 307 ff.; Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, Bd. I, 2. Halbbd., 1842, S. 1056 ff.; vgl. auch den Hinweis bei C.R. Köstlin, Neue Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts, 1845, Vorrede. Den Hinweisen auf einen Gesinnungswandel Wächters hinsichtlich der Schaffung eines einheitlichen Gesetzbuches unter dem Eindruck der Ereignisse von 1848/49 sollte jedoch entgegen der Ansicht von F. Elsener, C.G. v. Wächter (1997-1880) und die Bemühungen Württembergs um eine Vereinheitlichung des Privat- und Prozeßrechts in der Zeit des Deutschen Bundes (1847/48), in: Festschrift für H. Baltl, hrsg. v. K. Ebert, 1978, S. 193, 195 keine zu große Bedeutung zugemessen werden. Trotz der Favorisierung einer Partikulargesetzgebung betont Wächter vielmehr bereits in den Jahren 1839 bis 1842 auf den Seiten 14, 15 des ersten Bandes (1839) und den Seiten 1059, 1081 des zweiten Bandes (1842) des „Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts" die einende und verbindende Kraft des in Deutschland weiterhin gültigen gemeinen deutsch-römischen Rechts. Dementsprechend weist A. Laufs folgerichtig auf die frühe Forderung Wächters nach einer engen inhaltlichen Verbundenheit der Einzelgesetzgebungen der Partikularstaaten hin. Vgl.: A. Laufs, „Das wirklich geltende, durch den allgemeinen Willen gesetzte Recht". Zur Rechtslehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), in: Festschrift für K. Kroeschell, 1997, S. 617, 627; ders., Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: ZWLG, 1998, S. 285, 297.

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reitung einer einheitlichen deutschen Gesetzgebung sogar als Hauptaufgabe der Strafrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts 150. Wächter bedient sich dazu zweier Argumentationskomplexe, deren inhaltliche Nähe zu den Ausführungen Thibauts in seiner Schrift „Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland" auffällt. 151 Mit dem ersten Argument fordert Wächter ebenfalls Rechtssicherheit. Die in den römischen und deutschen Strafrechtsquellen verankerten Grundsätze seien für ein Volk einer vergangenen Zeit und dessen Bedürfnisse verfaßt worden. Gerade die Strafgesetze seien Ausdruck einer kulturellen Entwicklung der Gesellschaft, mit der sie unbedingt Schritt halten müßten. 152 Dieser könne durch die Anwendung und Weiterentwicklung antiker und mittelalterlicher Quellen im 19. Jahrhundert nicht Genüge getan werden: „Das Strafrecht der römischen Imperatoren ... würde wahrlich für unsere Zeiten und Verhältnisse nicht passen. Eben so wenig aber können für uns Strafgesetze aus dem 16. Jahrhunderte irgend passen;... denn drei Jahrhunderte bilden schon an sich eine große Kluft... ; und diese Kluft wird immer größer, wenn ... diese Jahrhunderte zwischen Zeiten liegen, in welchen Bildung, Lebensweise, politische Verhältnisse und Anforderungen des Volkes im höchsten Grade verschieden sind." 153 Wächter schloß daraus, daß die geistige Entwicklung und Bildung seiner Zeit weit über den positiven Stoff des gemeinen Rechts hinaus gewachsen sei. 154 Auf Grund dieses Umstandes war die Wissenschaft und Praxis des gemeinen deutschen Strafrechts auf eine grundlegende Anpassung der altertümlichen Rechtsquellen an die gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedürfnisse angewiesen. Damit ging man

150 C.G. v. Wächter, Die Deutsche Strafrechtswissenschaft des XIX. Jahrhunderts und ihre Aufgaben, in: Jahrbücher der Deutschen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung, hrsg. v. H. Th. Schletter, Band I (1855), S. 105, 112. Vgl. auch F. Sturm, Wächter, Carl (Joseph) Georg (Sigismund) (von), in: HRG, hrsg. v. A. Erler, E. Kaufmann und D. Werkmüller, Bd. V, 1998, Sp. 1076, 1077. Auch Fr.C. v. Savigny stand einer Strafrechtskodifikation wohl nicht ablehnend gegenüber; vgl. dazu J. Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, 1984, S. 36, 67. 151

Vgl. dazu: F. Elsener, C.G.v. Wächter (1797-1880) und die Bemühungen Württembergs um eine Vereinheitlichung des Privat- und Prozeßrechtes in der Zeit des Deutschen Bundes (1847/1848), in: Festschrift für H. Baltl, hrsg. v. K. Ebert, 1978, S. 193, 195. Vgl. dazu G. Mayer, Württembergs Beitrag zu den rechtsvereinheitlichenden Bemühungen des Deutschen Bundes auf dem Gebiet des Privatrechts (1815-1847), 1974. 152

C.G. v. Wächter, Gesetzgebung (Deutsche); Gesetzbücher, in: Das Staatslexikon, hrsg. v. K. v. Rotteck u. K. Welcker, 3. Auflage 1862, Bd. VI, S. 482, 487. 153 C G. v. Wächter, Strafgesetzgebungen (neuere), in: Das Staatslexikon, hrsg. v. K.v. Rotteck u. K. Welcker, 2. Auflage 1848, Bd. XII, S. 463. 154

C.G.v. Wächter, Die Deutsche Strafrechtswissenschaft des XIX. Jahrhunderts und ihre Aufgaben, Jahrbücher der Deutschen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung, hrsg. v. H. Th. Schletter, Bd. I (1855), S. 105; vgl. auch den Aufsatz über Gesetzgebung im Rotteck-Welckerschen Staatslexikon, 3. Auflage 1862, Bd. VI, S. 482, 487. 5 Jungemann

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aber einer verläßlichen Rechtsgrundlage verlustig, denn letztlich entfernte sich das gemeine deutsche Strafrecht infolge umfassender Modifikationen durch die Wissenschaft und gerichtliche Praxis immer weiter von seiner legislativen Grundlage, so daß die Durchsetzung der Interessen der Bürger von der individuellen Auslegung der gemeinen Strafrechtsquellen durch die Gerichte und von akademischen Theorienstreitigkeiten entscheidend abhing. 155 Die Gerichte setzten ihre Auffassungen an die Stelle des geschriebenen Rechts, wodurch sie nahezu uneingeschränkte Macht erlangten, was willkürlichen Entscheidungen Tür und Tor öffnete. 156 Infolgedessen würden subjektive Abwehrrechte des Bürgers gegen staatliche Eingriffe ausgehöhlt157, vornehmlich im Rahmen der Definition und Durchsetzung bürgerlich politischer Freiheiten zur Zeit des Vormärz als Ersatz einer weitgehend fehlenden verfassungsrechtlichen Absicherung. 158 Daher sei lediglich eine Modifikation des Bestehenden dort nicht ausreichend, „wo der ganze Grund und Boden ... nicht mehr zu brauchen war" 1 5 9 ; dieser müsse daher notwendigerweise durch die Gesetzgebung in seinen Grundsätzen umgewandelt und erneuert werden. 160 Erst eine solche könne dann eine Norm schaffen, an die man die Gerichte binden und bei welcher der Bürger wissen könne, nach welchen Grundsätzen ihm über Leben, Ehre und Freiheit ein Urteil gesprochen werde, damit er sich der richterlichen Willkür nicht vollständig ausgeliefert fühlen mußte. 161

155

C.G. v. Wächter, Strafgesetzgebungen (neuere), in: Das Staatslexikon, hrsg. v. K. v. Rotteck u. K. Welcker, 2. Auflage 1848, Bd. XU, S. 463,465. 156 C.G. v. Wächter, Ueber Deutsche particuläre Strafgesetzgebung überhaupt, und den neuesten Baierischen Entwurf insbesondere, in: NAdC XIV (1833), S. 305, 309; Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 149. Vgl. zur judikativen Rechtsunsicherheit R. Schröder, Die Strafgesetzgebung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Die Bedeutung der Wörter, Festschrift für S. Gagner, hrsg. v. M. Stolleis, 1991, S. 403,414,420. 157 C.G. v. Wächter, Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere Gemeines Deutsches Strafrecht, 1844, S. 233. 158

Die Bedeutung des Strafrechts als Instrument und Garant politischer Rechte und Freiheiten, die die bürgerliche Gesellschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend einforderte (im Gegensatz zur wirtschaftlichen Liberalität, das vornehmlich im Zivilrecht Niederschlag fand) zeigt eindrücklich R. Schröder, Die Strafgesetzgebung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Die Bedeutung der Wörter, Festschrift für S. Gagner, hrsg. v. M. Stolleis, 1991, S. 403, 417 ff. 159

C.G. v. Wächter, Die neuesten Fortschritte der Civilgesetzgebung in Württemberg, mit legislativen Bemerkungen und vergleichender Rücksicht auf das gemeine Recht, in: AcP 23 (1840), S. 33. 160

C.G. v. Wächter, Strafgesetzgebungen (neuere), in: Das Staatslexikon, hrsg. v. K.v. Rotteck u. K. Welcker, 2. Auflage 1848, Bd. XII, S. 463, 465. 161 C G. v. Wächter, Ueber deutsche particuläre Strafgesetzgebung überhaupt und den neuesten bayerischen Entwurf insbesondere, in: NAdC XIV (1833), S. 305, 309.

Kapitel 1: Die historische Rechtsschule und der Positivismus

67

I m zweiten Argumentationskomplex fordert Wächter, ebenso wie T h i b a u t 1 6 2 , die Schaffung eines einheitlichen nationalen Rechts. 1 6 3 Dabei stellt er dessen übergeordnete Bedeutung für das Zusammengehörigkeitsgefühl

der Nation

heraus, das zwischen den deutschen Staaten das Bewußtsein einer geistigen und sittlichen Verbindung und das äußere Band der Einigkeit schaffen sollte. 1 6 4 „Gemeinsamkeit des Rechts ist eines der wichtigsten und festesten Einigungsbande für die Stämme einer Nation, ein Band, welches das Zusammengehören erst recht zum vollen Bewusstsein bringt und demselben den grössten Werth verleiht und i n Gefahr und N o t h eine Festigkeit beweisen würde, wie sie von anderen mehr äusserlichen Banden nicht gehofft werden k a n n . " 1 6 5 Wächter kann damit als Anhänger der national ausgerichteten Bewegung v o n 1848 eingeordnet werden, wobei er der Realisierung einer national einheitlichen Kodifikation als ausgesprochener Pragmatiker naturgemäß m i t Vorbehalten gegenüber t r a t 1 6 6 . A b Anfang des Jahres 1848 wirkte er i m Frankfurter Vorparlament, der „ersten Gesamtvertretung der deutschen R e v o l u t i o n " 1 6 7 ; wobei er als M i t g l i e d des Fünfzigerausschusses bis zur Entstehung der Nationalversammlung die Rechte des deutschen Volkes wahrnahm. 1 6 8

162

A.J.F. Thibaut, Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland, 1814, S. 33. 163 C.G. v. Wächter, Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere Gemeines Deutsches Strafrecht, 1844, s. vm, 10 f. 164 C.G. v. Wächter, Gesetzgebung (Deutsche); Gesetzbücher, in: Das Staatslexikon, hrsg.v. K.v. Rotteck u. K. Welcker, 3. Auflage 1862, Bd. VI, S. 484, 505-507; F. Elsener, C.G.v. Wächter (1797-1880) und die Bemühungen Württembergs um eine Vereinheitlichung des Privat- und Prozeßrechts in der Zeit des Deutschen Bundes (1847/1848), in: Festschrift für H. Baltl, hrsg.v. K. Ebert, 1978, S. 193,198,206. 165

C.G. v. Wächter, Die Deutsche Strafrechtswissenschaft des XIX. Jahrhunderts und ihre Aufgaben, in: Jahrbücher Der Deutschen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung, hrsg. v. H. Th. Schletter, Bd. I (1855), S. 105, 112. Zur Bedeutung der Strafrechtskodifikationen des frühen 19. Jahrhunderts für Recht und Rechtskultur des Vormärz vgl. R. Schröder, Die Strafgesetzgebung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Die Bedeutung der Wörter, Festschrift für S. Gagner, hrsg. v. M. Stolleis, 1991, S. 403,407 ff. 166 F. Elsener, C.G.v. Wächter (1797-1880) und die Bemühungen Württembergs um eine Vereinheitlichung des Privat- und Prozeßrechtes in der Zeit des Deutschen Bundes (1847/1848), in: Festschrift für H. Baltl, hrsg. v. K. Ebert, 1978, S. 193, 195; C. Ahcin, Zur Entstehung des bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen von 1863/65; in: IUS COMMUNE, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 85, 1996, S. 197. Vgl. auch die Ausführungen in Teil 3 Kapitel 1, I. 4.; insbesondere Anm. 149). 167 168

E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. H, 1988, S. 599.

A. Laufs, „Das wirklich geltende, durch den allgemeinen Willen gesetzte Recht". Zur Rechtslehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), in: Festschrift für K. Kroeschell, 1997, S. 622; ders., Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: ZWLG, 1998, S. 285, 290 f.; N. Sandmann, Grundlagen und Einfluß der internationalprivatrechtlichen Lehre Carl Georg von Wächters (17971880), 1979, S. LXXm. 5*

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

68

Darüber hinaus müsse, so führt Wächter weiter aus, der „Rechtssinn" eines Volkes irregeführt werden, wenn in den einzelnen deutschen Staaten trotz derselben Kulturstufe und Bildung gleichartige Delikte mit abweichenden Strafmaßen belegt würden. Infolgedessen könne der Bürger leicht zu der Überzeugung gelangen, daß das Recht etwas rein Willkürliches sei, dessen Festsetzung vom Belieben der Machthabenden abhänge, was leicht zu mangelnder Identifikation der Bürger mit dem Staat und den daraus folgenden revolutionären Ideen führen könne. 169 Wächter forderte dabei aber nicht die Schaffung eines völlig neuen Rechts, das mit seiner geschichtlichen Entwicklung bricht. Er war zu sehr in den Anschauungen der historischen Schule verhaftet, um einen Bruch mit dem bisher Gültigen zu wagen. Er wollte die geltenden Normen des gemeinen Rechts und seine Modifikationen lediglich in ein klares und verbindliches neues „äußeres Gewände" kleiden, ,jeden Zweifel über das Geltende möglichst beseitigen und dieses in einem deutschen, jedem zugänglichen Codex zusammenfassen". 170 Aber auch für die Belebung der Wissenschaft, die die Komplexität des positiven Rechts erst zur Entfaltung brächte 171 , verspricht sich Wächter durch die Schaffung eines einheitlichen nationalen Strafgesetzbuches eine neue Chance. Dann, so führt er aus, werde die Schaffenskraft der Rechtsgelehrten hingelenkt auf ein zentrales Ziel, nicht aber aufgespalten zwischen den einzelnen Partikulargesetzen und so ihrer Kraft beraubt. 172 Damit könne „die vereinte Kraft der

169 C.G. v. Wächter, Beitrag zur Geschichte und Kritik der Entwürfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, 1870, S. 4; Gesetzgebung (Deutsche); Gesetzbücher, in: Das Staatslexikon, hrsg. v. K.v. Rotteck u. K. Welcker, 3. Auflage 1862, Bd. VI, S. 482, 507. Diese Argumentation verfolgt Wächter auch in seiner Stellungnahme in den Verhandlungen des Konstituierenden Reichstages vom 20. März 1867: Jst es nicht eine Erscheinung, die auf das Rechtsgefühl unserer Völker auf das Nachtheiligste einwirken muß, daß in dem einen Staate nach s Gesetzbuche eine Handlung von der Praxis mit dem Tode bestraft wird, während sie anderen Staate mit einigen Monaten Gefängnis ... bestraft wird. ... Wie soll nun das Recht des Sachsen und des Preußen es vereinigen können, daß, wenn man drei Schritte über die geht, dieselbe Handlung als eine todeswürdige behandelt wird, ... während ein paar S jenseits der Grenze dieselbe Handlung unter eine ganz andere Beurtheilung fällt." \ in: Sten phische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes im Jahre 1867, Bd. I, 1867, S. 287 f. (16. Sitzung vom 20. März 1867). 170 C.G. v. Wächter, Gesetzgebung (Deutsche); Gesetzbücher, in: Das Staatslexikon, hrsg. v. K.v. Rotteck u. K. Welcker, 3. Auflage 1862, Bd. VI, S. 482, 487 f.; Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen, 1853, S. 1. 171 C.G. v. Wächter, Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, Bd. n, 1. Halbbd., 1842, S. 47 f.; Gesetzgebung (Deutsche); Gesetzbücher, in: Das Staatslexikon, hrsg. v. K.v. Rotteck u. K. Welcker, 3. Auflage 1862, Bd. VI, S. 482, 506; C. Ahcin, Zur Entstehung des bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen von 1863/65; in: IUS COMMUNE, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 85, 1996, S. 195. 172

Vgl. dazu die Ausführungen Thibauts in seiner Schrift „Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts1814, S. 27: „Auch wäre es unschätzbar, daß nun alle Deu schen Rechtsgelehrten einen gleichen Gegenstand ihrer Untersuchungen hätten,..., daß a trostlosen Winkelpfuschereyen, unter denen bisher unsre zahllosen Particular-Gesetze derlagen, im Wesentlichen ganz aufhöre."

Kapitel 1: Die historische Rechtsschule und der Positivismus

69

Wissenschaft ... Deutschlands sich i n dem einen neuen gemeinen Rechte concentrieren und i n dieser Concentrirung i n ganz anderer Weise ... für Auslegung, Anwendung und Fortbildung des Rechts wirksam seyn..." 1 7 3 . Infolgedessen sei eine Kodifikation nicht mehr allein m i t Rücksicht auf die „einzelnen Staaten" (des deutschen Bundes) zu verfolgen, „sondern auf das gesammte deutsche Vaterland auszudehnen" 1 7 4 . Aber auch das die territorialen Grenzen überschreitende Zusammenwirken der Wissenschaft

selbst sollte die

deutsche

Rechtseinheit maßgeblich fordern. A l s Instrument dazu betrachtete Wächter vornehmlich die Arbeit des deutschen Juristentages, den er sechsmal präsidierte. Der unmittelbare Austausch der Wissenschaftler sollte das Gefühl der rechtlichen Verbundenheit stärken und die Grundlagen gemeinsamer Rechtsprinzipien herausstellen. 175 Wächter war aber viel zu sehr Realist 1 7 6 , u m nicht zu erkennen, daß zur Zeit des Deutschen Bundes (1815-1866) vielfach der politische W i l l e fehlte, eine umfassende deutsche Rechtseinheit zu schaffen. 1 7 7 Aufgrund der gesamtpolitischen Situation bezeichnete er diese als „vorerst fromme W ü n s c h e " . 1 7 8 Daher bestand allein i n der Kodifikation von Partikulargesetzen die Möglichkeit zur Reformierung des gemeinen Strafrechts. Trotz der Vielzahl einzelner Territori-

173 C.G. v. Wächter, Beitrag zur Geschichte und Kritik der Entwürfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, 1870, S. 5 f. Vgl. auch C.G. v. Wächter, Die Deutsche Strafrechtswissenschaft des XIX. Jahrhunderts und ihre Aufgaben, in: Jahrbücher der Deutschen Rechtswissenschaft, Bd. I (1855), S. 105, 112; Gesetzgebung (Deutsche); Gesetzbücher, in: Das Staatslexikon, hrsg. v. K.v. Rotteck u. K. Welcker, 3. Auflage 1862, Bd. VI, S. 482, 506. 174 C.G. v. Wächter, Gesetzgebung (Deutsche); Gesetzbücher, in: Das Staatslexikon, hrsg. v. K.v. Rotteck u. K. Welcker, 3. Auflage 1862, Bd. VI, S. 482. 175

So Wächter in einem Schreiben an die Juristische Gesellschaft zu Graz aus dem Jahre 1864 (Zitiert nach O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 159 f.). 176 Im Jahre 1847 hatte König Wilhelm I. von Württemberg Wächter den Auftrag erteilt, mit einer Reihe deutscher Regierungen Verhandlungen über eine gemeinsame Kodifikation im Privat-, Straf- und Prozeßrecht zu führen. Wegen den Ereignissen der Jahre 1848/49 blieben konkrete Ergebnisse jedoch aus. Er hatte damit unmittelbare Einsicht in das politische Geschehen seiner Zeit. Vgl.: F. Elsener, Der Jurist Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477-1977, 1977, S. 471, 481. 177 C.G. v. Wächter, Strafgesetzgebungen (neuere), in: Das Staatslexikon, hrsg. v. K.v. Rotteck u. K. Welcker, 2. Auflage 1848, Bd. XII, S. 463, 470 Vgl. auch H. Mitteis, H. Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, 19. Auflage 1992, S. 424 f.; Wächter setzte daher in die Gründung des Norddeutschen Bund (1867) hinsichtlich der Schaffung eines wirklichen gemeinen Rechts für Deutschland durch eine Zentralgewalt große Hoffnungen. Im Protokoll der Sitzung des Konstituierenden Reichstages vom 20. März 1867 gibt er seinen dahingehenden Forderungen eindringlichen Ausdruck. Vgl. dazu Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichtstages des Norddeutschen Bundes im Jahre 1867, Bd. I, 1867, S. 287 f. (16. Sitzung vom 20. März 1867). 178

C.G. v. Wächter, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzesbuchs für das Königreich Sachsen, 1853, S. 3.

70

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

algesetze, der er erhebliche Bedenken entgegenbrachte 179 , war nach der M e i nung Wächters „materiell durch dieselben mehr ein gemeinsames Recht bewirkt worden, als i n der letzten Zeit das gemeine Recht ... b i l d e t e " 1 8 0 . Dies beruhe darauf, daß die bei der Gesetzgebung der Territorialstaaten verfügbaren Materialien größtenteils die v o n Wissenschaft und Praxis modifizierten Normen des ehemals gemeinen Rechts bildeten. 1 8 1 A l s o gingen die Gesetzgebungen letztlich sämtlich auf eine gemeinsame rechtliche Grundlage zurück. H i n z u komme, daß die sozialen, kulturellen und politischen Verhältnisse i n den einzelnen deutschen Staaten sämtlich auf gleicher Entwicklungsstufe stünden. 1 8 2 Daher seien alle „unsre Strafgesetzbücher i n Deutschland ein K i n d ihrer Z e i t " 1 8 3 . Berücksichtige man weiterhin, daß die einzelnen Territorialstaaten die legislativen Arbeiten ihrer Nachbarn oft wörtlich als Vorlage benützten, so hätten diese weitgehend ein materiell übereinstimmendes Strafrecht geschaffen. 1 8 4 Wächter betont dabei aber stets, daß allein aus dieser Gemeinsamkeit kein formal gültiges gemeines deutsches Strafrecht entstehen könne; dazu bedürfe es der Kodifikation eines kompetenten Zentralgesetzgebers. 185 Gerade deshalb sei

179 Durch die Vielzahl von Einzelkodifikationen würde die ,JCluft und Entfremdung zwischen den einzelnen Völker Stämmen" vergrößert, der Wirtschaftsverkehr verunsichert und in schwer zu bewältigenden Fesseln" gelegt. Außerdem würde es auch an der ,jum Gedeihen des Rechts unerläßlichen Fortbildung desselben durch Wissenschaft und Gerichtsgebrauch" gerade in klei Territorialstaaten mangeln. (C.G. v. Wächter, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen, 1853, S. 1). 180 C.G. v. Wächter, Strafgesetzgebungen (neuere), S. 463, 470; vgl. auch: Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere Gemeines Deutsches Strafrecht, 1844, S. 247. 181

Vgl. dazu die Forderung Wächters in dem Schreiben an C.J.A. Mittermaier vom 15. März 1836 (Handschriftenabteilung Universitätsbibliothek Heidelberg, HS 2746): „Wir müssen besonders daraufhinarbeiten, unsere Partikulargesetzgebungen möglichst zu assimilieren 182

C.G. v. Wächter, Ueber Deutsche particuläre Strafgesetzgebung überhaupt, und den neuesten Baierischen Entwurf insbesondere, in: NAdC XIV (1833), S. 305, 315. 183 C.G. v. Wächter, Strafgesetzgebungen (neuere), in: Das Staatslexikon, hrsg. v. K.v. Rotteck u. K. Welcker, 2. Auflage 1848, Bd. Xü, S. 463,470. 184 C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 189. Diese Argumentation Wächters wird von einem Anonymus, Rezension zu: C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und Thüringische Strafrecht. Ein Handbuch, Bd. I, Stuttgart 1857, in: Württembergisches Archiv für Recht und Rechtsverwaltung, Bd. I, 1858, S. 312 f. in besonderer Weise gewürdigt und deren Orginalität gelobt. 185

C G. v. Wächter, Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere Gemeines Deutsches Strafrecht, 1844, S. 241-247, 257; Ueber Deutsche particuläre Strafgesetzgebung überhaupt, und den neuesten Baierischen Entwurf insbesondere, in: NAdC XIV (1833), S. 305, 310 f. Anschaulich die folgende Stelle aus C.G. v. Wächter, Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere Gemeines Deutsches Strafrecht, 1844, S. 250 f.: ,J)enn ein positives Recht bekommt man doch wahrlich dadurch nicht, dass man aus Dem, was in den positiven Rechten vieler verschiedener, sel ger, von einander unabhängiger Staaten Ueberein-stimmendes sich findet, eine Theorie b sollten auch diese Rechte vielfach auf gemeinsamer, mittelbarer Grundlage fussen." F Wirkung der Wissenschaft schränkt er aber ein: ,JDie Wissenschaft aber hat nicht die Macht, ein gemeinsames Recht auf Gebieten zu bilden, auf denen das wirklich geltende Recht blos in

Kapitel 1: Die historische Rechtsschule und der Positivismus

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das frühere gemeine Recht keineswegs bedeutungslos; es diene nun vielmehr der Erklärung und Deutung der aktuell geltenden Partikularrechte durch die Wissenschaft. A l s gemeinsame Grundlage, auf der die geltenden territorialen Gesetzgebungen aufbauten, sei es für deren Interpretation und Auslegung unentbehrlich. „...Die Nachweisung ihrer Grundlagen und die Auffassung ihres Geistes" sei ohne Untersuchung des ehemaligen gemeinen Strafrechts unmögl i c h . 1 8 6 Damit sollte zumindest die Wissenschaft m i t der Anwendung des ehemaligen gemeinen Strafrechts auf die geltenden Partikulargesetze die innere und äußere Verbundenheit der deutschen Staaten endlich herbeiführen, die das aus politischen Gründen nicht zu realisierende einheitliche Strafgesetzbuch bewirken sollte. 1 8 7 A u c h Glaser stellt i n seiner Einschätzung heraus, daß Wächter als erster den Partikularrechten den angemessenen Stellenwert einräumte, indem er allein i n diesen das tatsächlich gemeinsame lebendige Recht zu finden versprach. 1 8 8 Daher ist m i t Rückert festzuhalten, daß Wächter die Rechtseinheit weniger unmittelbar vor sich liegen sah als sie vielmehr m i t Hilfe der Wissenschaft und der Gesetzgebung für gestaltungsbedürftig h i e l t . 1 8 9 Windscheid betont die Sehn-

des Particularismus besteht(C.G. v. Wächter, Gesetzgebung (Deutsche), Gesetzbücher, in: Das Staatslexikon, hrsg. von K.v. Rotteck und K. Welcker, Bd. VI, 3. Auflage 1862, S. 482, 506). Vgl. auch das Schreiben Wächters an Mittermaier vom 29. Juli 1844: Jch kann mich nämlich nicht davon überzeugen, daß wir aus unseren Particularlegislationen ein neues, gemeines Rec struieren können... Gleichen Inhalt hat auch das Schreiben Wächters an Mittermaier vom 2. Januar 1848. Anders hingegen Th. Marezoll, Das gemeine Deutsche Criminalrecht als Grundlage der neueren Deutschen Strafgesetzgebungen, Leipzig 1841, § 12; F.C.Th. Hepp, Commentar über das neue Württembergische Strafgesetzbuch und seine authentischen Quellen, Bd. II 1842, S. IV f., Bd. m, 1843, S. Vif.

Die Kodifikation des Reichsstrafgesetzbuches im Jahre 1871 ist Wächter Genugtuung und Erfüllung seiner Forderungen, obwohl er dessen konkreten Ausgestaltung durchaus kritisch gegenüber steht. Vgl. dazu C.G. v. Wächter, Beitrag zur Geschichte und Kritik der Entwürfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, 1870. Jedoch ist der Bemerkung F. v. Liszts zuzustimmen, Wächter sei „das Reichsstrafgesetzbuch immer mehr der Abschluß einer historisch Entwicklung als Material selbständiger systematischer Bearbeitung gewesen(F. v. Liszt, Reze sion zu: C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. H (1882), S. 150). 186

C.G. v. Wächter, Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere Gemeines Deutsches Strafrecht, 1844, S. 241; Die Deutsche Strafrechtswissenschaft des XIX. Jahrhunderts und ihre Aufgaben, in: Jahrbücher der Deutschen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung, hrsg. v. H. Th. Schletter, Bd. 1(1855), S. 105, 111-113. 187 Vgl. C.G. v. Wächter, Die Deutsche Strafrechtswissenschaft des XIX. Jahrhunderts und ihre Aufgaben, S. 105, 111, 113; Ueber Deutsche particuläre Strafgesetzgebung überhaupt, und den neuesten Baierischen Entwurf insbesondere, in: NAdC XIV (1833), S. 305, 315 f. 188 J. Glaser, Karl Georg von Wächter, in: österreichische Gerichtszeitung N.F., 17. Jg. Nr. 6 (1880), S. 1; vgl. auch H. Meyer, Karl Georg von Wächter, 1898, S. 31. 189

J. Rückert, August Ludwig Reyschers Leben und Rechtstheorie. 1802-1880, in: Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, Bd. XIII, 1974, S. 44.

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Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

sucht seines ganzen Lebens nach der Schaffung eines gemeinen deutschen Rechts, zu dessen Verwirklichung er jeden einzelnen Schritt willkommen hieß. 190 Damit ist er als Anhänger der historischen Schule in der Kodifikationsfrage, wie so manch anderer, Savigny nicht gefolgt. 191 Vielmehr stimmt Wächter mit den Forderungen Thibauts überein, dessen Argumentationsweise er sich, wie gezeigt, weitgehend zu eigen macht.

II. Der Positivismus 1. Vom philosophischen zum Gesetzespositivismus Die historische Schule hatte die Grundlagen des Naturrechts, das das Recht aus der vernunftbegabten Natur des Menschen herleitete, nicht wirklich erschüttert. Dazu hatten beide Geistesströmungen zu vieles gemein: Die historische Schule setzte den nur schwer definierbaren metaphysischen Volksgeist an die Stelle der Vernunft und Natur des Menschen. Außerdem „entdeckten" beide lediglich das ohnehin vorhandene Recht, sie „setzten" es nicht. Daher unterschieden sich beide Strömungen inhaltlich nur graduell. Trotzdem hatte die historische Schule durch die Verlagerung des Schwerpunktes ihrer Betrachtung auf die geschichtliche Entwicklung das „rein Spekulative, das Metaphysische" weitgehend aus der rechtswissenschaftlichen Betrachtung ausgeschlossen und das faktische Nachweisbare und insofern Gegebene zur Grundlage ihrer Überlegungen gemacht. Damit hatte sie bereits einen positivistischen Zug angenom192

men. Die Erschütterung des naturrechtlichen Ansatzes gelang erst dem Positivismus. 193 Als eine allgemeine europäische Geistesbewegung hat der von August Comte 194 (1798-1857) begründete philosophische „Positivismus" im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sämtliche Geisteswissenschaften, darunter

190 B. Windscheid, Carl Georg von Wächter, 1880, S. 61; vgl. auch F. Elsener, Fünfhundert Jahre Tübinger Juristenfakultät, JZ 1977, S. 617, 619; E. Kern, Karl Georg von Wächter, in: Schwäbische Lebensbilder, hrsg. v. H. Haering u. O. Hohenstatt, Bd. I 1940, S. 545, 550; E. Hoelder, Carl Georg von Wächter, 1897, S. 14, 18 f. 191 Daß sich die Kodifikationsforderung und die historische Schule nicht unbedingt ausschließen müssen, zeigt F. Elsener in: Der Jurist Carl Georg von Wächter (1797-1880) in: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477-1977, 1977, S. 471, 480 f. 192

W. Pöggeler, Vom Naturrecht zum Positivismus, JA 1997, S. 339, 343.

193

Zu den verschiedenen Spielarten des Rechtspositivismus vgl. W. Ott, Der Rechtspositivismus, 1976. 194 A. Comte erklärte die kulturelle Entwicklung in drei Stadien: das religiöse Zeitalter, das Zeitalter der philosophischen Metaphysik und die moderne Epoche des Positivismus. Vgl. H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Auflage 1993, S. 60.

Kapitel 1: Die historische Rechtsschule und der Positivismus

73

auch die Rechtswissenschaft erfaßt. 195 Dieser Rechtspositivismus leitete die Rechtssätze ausschließlich aus dem System und den Begriffen der Rechtswissenschaft ab, ohne außerjuristischen, etwa religiösen, historischen oder sozialen Wertungen und Erkenntnissen rechtserzeugende und rechtsändernde Kraft zuzugestehen.196 Daher sollte alle „Metaphysik" und die Frage nach dem ethisch Richtigen, nach „Werten" und „Gültigem" als unbeantwortbar aus der Rechtswissenschaft verbannt und diese strikt auf die empirisch zu beobachtenden Gesetzlichkeiten beschränkt werden. Aus diesen vorgefundenen Daten des Seins waren dann mehr oder weniger direkt die Sollenssätze menschlichen Verhaltens abzuleiten. 197 Diese Entwicklung, die kein inhaltliches, sondern ein formales Element zum Kriterium für den Rechtsbegriff erklärte 198 , mündete zwangsläufig in der Formulierung des Gesetzespositivismus, wonach alles Recht ausschließlich vom staatlichen Gesetzgeber gesetzt wird und sich in seinen Befehlen erschöpft. Diese These formuliert am eindruckvollsten Karl Magnus Bergbohm (1849-1927): „Damit eine praktische, Handlungen oder Verhältnisse der Menschen ... bestimmende Norm oder Regel positives Recht im Sinne der Jurisprudenz und Rechtswissenschaft ... sein könne, ist eine unerläßliche Bedingung die, dass sie zu dem wesentlichen normativen Inhalt die ebenso wesentliche Rechtsform erworben habe, was nur auf die Weise geschehen konnte, dass ihr eine kompetente rechtbildende Macht durch einen geeigneten, äußerlich erkennbaren Vorgang, der als solcher der Geschichte angehört und die formelle Rechtsquelle der betr. Norm bildet, die Rechtsqualität verlieh." 1 9 9 Damit wird die Parallele zur Forderung des philosophischen Positivismus, jede Erkenntnis müsse sich allein aus Sinneswahrnehmungen ableiten lassen, deutlich. Folgerichtig hat damit jedenfalls das Parlamentsgesetz die erforderliche Rechtsqualität, denn dieses kommt auf eine formal vorgeschriebene Weise zustande und wird von einem legitimierten Gesetzgeber gesetzt. Da Bergbohms Beschreibung der rechtsbildenden Macht vage bleibt, muß wohl auch das Gewohnheitsrecht, das zu seiner Zeit als gemeines Recht im Rechtsleben eine wesentliche, wenn nicht sogar eine entscheidende Rolle spielte, als positives

195 W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III, 1976, S. 79; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 36. 196

F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auflage 1967, S. 431; vgl. auch P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, 5. Auflage 1911, S. IX. 197 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 36; W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. m, 1976, S. 82. 198

W. Pöggeler, Vom Naturrecht zum Positivismus, JA 1997, S. 339, 343.

199

K. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Bd. I, 1892, S. 549.

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Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Recht in die Definition mit einbezogen werden. Er kann damit nicht ausschließlich als Vertreter des „reinen" Gesetzespositivismus angesehen werden. 200 Im Kreis der Rechtspositivisten waren infolgedessen ausschließlich Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht als Rechtsquellen anerkannt, wobei das letztere als „Lieblingskind der historischen Rechtsschule"201 aufgrund seiner mangelnden Bestimmtheit mit dem vorrückenden 19. Jahrhundert immer mehr an Bedeutung verlor. 202 Besondere Wirkung hatte diese strenge Bindung an das Gesetz auf dem Gebiet des Strafrechts. Nur so konnte der Satz „nulla poena sine lege" Rechtswirklichkeit werden, wenn Robert von Hippel proklamiert: „Es gibt keine Rechtssätze geltenden Rechts außerhalb des gesetzten und Gewohnheitsrechts. Was rechtlich erlaubt oder verboten ist, kann allein aus ihnen erkannt und erwiesen werden." 203 Nur mit diesem Ansatz konnte das Strafgesetzbuch zur „magna Charta" des Verbrechers erklärt werden. 204 Die Bindung der Gesetzespositivisten an das positive Recht ging aber noch weiter: Sie verlangten unbedingten Gehorsam gegenüber dem gesetzten Recht, unabhängig davon, ob sein Inhalt schädlich oder inhuman war. Denn es galt der Grundsatz: „Es ist schlechtes Recht, immerhin Recht" 205 . Infolgedessen mußten die Rechtspositivisten auch das ungerechte Gesetzesrecht, sofern es nur formell korrekt zustande kam, als gültiges und verbindliches Recht anerkennen. 206 Schon früh wurde die Gefahr erkannt, die diesem Rechtsverständnis zugrunde liegt. So mahnt Viktor Cathrein (1845-1931) den „blindesten, unbedingtesten Kadavergehorsam" der Rechtspositivisten, der schließlich in der Rechtsperversion der Nationalsozialisten seinen schrecklichen Höhepunkt finden sollte, schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts an. 207 Auch der heutige Rechtsalltag und die juristische Ausbildung sind weitgehend von der positiven Rechtsordnung geprägt. Das Naturrecht aber, so bemerkt Franz Wieacker richtig, wird immer

200

Vgl. dazu W. Pöggeler, Vom Naturrecht zum Positivismus, JA 1997, S. 339, 343. Gegenteiliger Auffassung sind: R. Kass, Karl Bergbohms Kritik der Naturrechstlehre des ausgehenden 19. Jahrhunderts, 1972, S. 105; G. Kleinheyer/J. Schröder (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. Auflage 1996, Anhang (Bergbohm) mit weiteren Hinweisen, S. 466 f. 201

W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. m, 1976, S. 95.

202

W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. m, 1976, S. 98.

203

R. v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 1,1925 (Neudruck 1974), S. 21.

204

E. Kaufmann, Rechtspositivismus, in: HRG, hrsg. v. A. Erler u. E. Kaufmann, Bd. IV, 1990, Sp. 321, 324. 205

K. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Bd. 1,1892, S. 398.

206

K. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, S. 144 (Fußnote); H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Auflage 1993, S. 77. 207

V. Cathrein, Recht, Naturrecht und positives Recht, 2. Auflage 1909, S. 299.

Kapitel 1: Die historische Rechtsschule und der Positivismus

75

dann zu Rate gezogen, wenn das Vertrauen in das gesetzte positive Recht, wie in der jüngsten deutschen Vergangenheit, zu tiefst erschüttert wird. 2 0 8

2. Carl Georg von Wächter zwischen historischer Schule und Rechtspositivismus Nimmt man die Forderung Wächters nach einer umfassenden Kodifikation eines Strafgesetzbuches in Anlehnung an die Thibautsche Argumentation ernst, so darf es nicht verwundern, wenn bei Wächter trotz der bereits aufgezeigten Verbundenheit mit der historischen Schule positivistische Ansätze zu finden sind. Das Streben nach einer sicheren Grundlage der nationalen Rechtsgemeinschaft wäre ausgehöhlt, wenn das gesetzte Recht durch historische Interpretationen in seiner allgemeinen Verbindlichkeit modifiziert und aufgehoben werden könnte. Der Ausgangspunkt der Rechtsfindung und Interpretation Wächters mußte daher immer wieder das gesetzte und verbindliche Recht sein. 209 Zum einen fand er es in den Kodifikationen der Territorialstaaten und des Reichs 210 , zum anderen in den überlieferten Urtexten des römischen und deutschen gemeinen Rechts, deren ausufernde und willkürliche Auslegung er stets entgegenzuwirken versuchte. 211 Grundlage und Quelle des geltenden Rechts waren für Wächter allein das von den verfassungsmäßig autorisierten Gesetzgebungsorganen in den vorgeschriebenen Formen erlassene Gesetz und das durch die Gerichte geschaffene und im Volk akzeptierte Gewohnheitsrecht. Nur dadurch „entsteht in einem Staate das positive, d.h. das durch den Staat gesetzte und in demselben wirklich

208

F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auflage 1967, S. 250 f., 431 f.

209

C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und Thüringische Strafrecht. Ein Handbuch, Bd. 1,1857, S. 87 f.; Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, Bd. n, 1842, S. 61. Wächter verlangt für die Auslegung und Analogiebildung der positiven Gesetze, stets auf deren Sinn und Zweck abzustellen und keine außergesetzlichen Überlegungen mit einzubeziehen. Diesen Umstand würdigt ein Anonymus, Rezension zu: C.G. v. Wächter, Abhandlungen aus dem Strafrechte, Bd. I, Leipzig 1835, in: AdCNF 1836, S. 163, 164, wenn er feststellt: „Ueberall bemerkt man in dem ersten Abschnitt das richtige Auffassen des Geistes der gemeinrec Quellen, und die Widerlegung der durch falsches Philosophieren entstandenen Ansichten 210 Vgl. zu Partikularrechten C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und Thüringische Strafrecht. Ein Handbuch, Bd. I, 1857; Über Deutsche particuläre Strafgesetzgebung überhaupt, und den neuesten Baierischen Entwurf insbesondere, in: NAdC XIV (1833), S. 305-331; Ueber den Entwurf eines Strafgesetzbuches für das Königreich Württemberg vom Jahre 1832, in: AdCNF 1834, S. 303-338. Zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871: Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, Bd. 1,1877; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881. 211 Deutlich wird dies in Auslegung der Justinianischen Rechtsquellen bei der Frage nach der Strafbarkeit des Selbstmordes. C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 75-111, 216-266.

76

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

geltende Recht." 212 Ein anderweitiges Recht, das nicht in den genannten Formen zustande kommt, läßt Wächter nicht gelten. 213 So könne insbesondere „der Grad der Gleichmässigkeit und Festigkeit, zu welcher sich die Überzeugung der Juristen condensirt, noch nicht genügen, positive Rechtsregeln zu begründen." 214 Ebensowenig wie es ein reines Juristenrecht geben durfte, gesteht er der Spruchpraxis der Gerichte rechtsetzende Kompetenz zu. In seinem Aufsatz „Beitrag zu der Lehre vom Gerichtsgebrauche" 215 verneint er nachdrücklich die Gesetzeskraft der Judikatur, sofern dieser keine gewohnheitsrechtliche Praxis zur Seite stünde. Andernfalls könne jedes Gericht eine eigene unabhängige Spruchpraxis entwickeln und damit sogar im selben Territorialstaate über ein und dieselbe Rechtsfrage zwei verschiedene „Rechtsnormen" nebeneinander zur Geltung bringen. Der Rechtsunsicherheit würde damit Tür und Tor geöffnet. 216 Wächter, dem schon bis hierher eindeutig positivistische Denkansätze nachzuweisen sind, treibt die Forderungen des Gesetzespositvismus, die Karl Magnus Bergbohm 35 Jahre später wiederholen sollte, auf die Spitze: Schon im Jahre 1857 217 betont er, daß hinsichtlich der Gültigkeit eines Gesetzes materielle Bedingungen, wie Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit, keine Rolle spielten. Es reiche aus, daß es vom zuständigen Gesetzgeber in der verfassungsmäßig vorgeschriebene Art und Weise erlassen worden sei. 218 Daraus folge speziell für das Strafrecht, daß „wir eine Handlung, welche vom positiven Rechte mit Strafe

212 C. G. v. Wächter, Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, Bd. I, 1. Halbbd., 1839, S. 10 f.; Bd. n, 1842, S. 18 f.; Gesetzgebung (Deutsche), Gesetzbücher, in: Das Staats-Lexikon, hrsg. v. K. v. Rotteck u. K. Welcker, 3. Auflage 1862, Bd. VI, S. 482; Deutsches Strafrecht, 1881, hrsg. v. O. v. Wächter, S. 4 f.; Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere Gemeines Deutsches Strafrecht, 1844, S. 114; Das Königlich Sächsische und Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 110. 213 C. Ahcin, Zur Entstehung des bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen von 1863/65; in: IUS COMMUNE, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 85, 1996, S. 194, 197. Hier wird die Ähnlichkeit mit der t yAnerkennungslehre" Welckers aus seinem Werk „Das innere und äußere System der praktischen, natürlichen und römisch-christlich-germanischen Staats- und Gesetzgebungs-Lehre", Bd. I, 1829 deutlich. 214 C. G. v. Wächter, Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere Gemeines Deutsches Strafrecht, 1844, S. 115. 215

AcP 23 (1840), S. 432 ff. Vgl. auch die Ausführungen in: Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, Bd. n, 1842, S. 40 ff. 216 C.G. v. Wächter, Beitrag zu der Lehre vom Gerichtsgebrauche, AcP 23 (1840), S. 432, 439441. Vgl. dazu: A. Laufs, „Das wirklich geltende, durch den allgemeinen Willen gesetzte Recht". Zur Rechtslehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), in: Festschrift für K. Kroeschell, 1997, S. 617, 630 f.; ders., Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: ZWLG, 1998, S. 285, 301. 217

Das Hauptwerk des Gesetzespositivisten Karl Bergbohm „Jurisprudenz und Rechtsphilosophie", Bd. I erschien erst 1892! 218 C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 83; Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, Bd. I, 1877, S. 4; Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, Bd. II, 1. Halbbd., 1842, S. 22 f.

R

Kapitel 1: Die historische Rechtsschule und der Positivismus

77

belegt wird, auch dann als Verbrechen anerkennen müssen, wenn ihre Bestrafung dem wahren Rechte widersprechen sollte." 219 Infolgedessen hatte der Richter die Pflicht, das ungerechte und unzweckmäßige Gesetz stets anzuwenden. 220 Wächter läßt ihm lediglich die Möglichkeit, den Gesetzgeber zu einer Gesetzesreform anzuregen; für das was „seyn sollte" sei dieser und die Rechtspolitik allein zuständig.221 Zu berücksichtigen bleibt, daß Wächter auch die mittelalterlichen deutschen Rechtsquellen und das rezipierte gemeine Recht römischen Ursprungs als verfassungskonform erlassenes positives Recht betrachtete 222, indem er die Rechtsnachfolge des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nicht anzweifelte. 223 Dabei erkannte er aber, wie oben gezeigt, daß das römische Recht ohne Anpassung an die gegenwärtigen Verhältnisse und Interpretation aus seiner geschichtlichen Entwicklung heraus ohne Wirkung bleiben mußte. Insofern konnte Wächter den Forderungen des Rechtspositivismus nicht streng folgen. Er war zu sehr dem entwicklungsdynamischen Ansatz der historischen Schule verhaftet, um jegliches historisches und metaphysisches Element aus dem Bereich der Rechtsfindung zu verbannen, so wie es der Rechtspositivismus strikt verlangte. 224 Wächter weist darauf hin, daß der Gesetzgeber stets unter dem Einfluß der sozialen, sittlichen und religiösen Entwicklung der Gesellschaft stehe und damit diese als Grundlage des positiven Rechts zu dessen Auslegung herangezogen werden müsse.225 Er argumentiert als Anhänger der historischen Schule 226 , wenn er darauf hinweist, daß das positiv gesetzte Recht

219

C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und Thüringische Strafrecht, S. 283 f.

220

A. Laufs, „Das wirklich geltende, durch den allgemeinen Willen gesetzte Recht". Zur Rechtslehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), Festschrift für K. Kroeschell, 1997, S. 617, 630; ders., Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: ZWLG, 1998, S. 285, 299 f. 221

C.G. v. Wächter, Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere Gemeines Deutsches Strafrecht, 1844, S. 149. 222 C.G. v. Wächter, Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, Bd I, 2. Halbbd., S. 1111 Fußnote 8). Vgl. auch E. Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abtig., 2. Halbbd., Text, 1910, S. 389. 223 C.G. v. Wächter, Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere Gemeines Deutsches Strafrecht, 1844, S. 27; Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, Bd. I, 1. Halbbd., 1839, S. 1091. 224 A. Laufs, „Das wirklich geltende, durch den allgemeinen Willen gesetzte Recht". Zur Rechtslehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), Festschrift für K. Kroeschell, 1997, S. 617, 628; ders., Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: ZWLG, 1998, S. 285, 298. 225 C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, Bd. I., 1877, S. 5; Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, Bd. 1,1. Halbbd., 1839, S. 11. 226

Die tiefe Verwurzelung Wächters in der Dogmatik der historischen Schule trotz seiner positivistischen Forderungen weist auch A. Laufs nach. Vgl.: A. Laufs, „Das wirklich geltende, durch

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

78

niemals „ein reines Erzeugnis der Willkühr" 2 2 7 sein könne. Vielmehr sei dieses nur die Fixierung eines momentanen sozialen, wissenschaftlichen, sittlichen, politischen und religiösen Zustandes in der geschichtlichen Entwicklung einer Rechtsgemeinschaft, derer es aus Gründen der Rechtssicherheit 228 und der Schaffung einer einheitlichen deutschen Nation bedürfe. Wächter ist damit nicht einfach als „ausgesprochener" Rechtspositivist einzuordnen, wie es Joachim Rückert, Ernst Landsberg, Eberhard Schmidt, Herbert Dannenberg, Otto Häcker, Robert von Hippel und Wolfgang Fikentscher tun 2 2 9 , vielmehr sind seine gesetzespositivistischen Forderungen die logische Fortsetzung eines Kodifikationsverlangens, das er als Anhänger der historischen Schule gerade nicht als zusammenhanglosen Willkürakt verstanden wissen wollte, sondern das in der geschichtlichen Entwicklung eines Volkes seinen Ursprung haben mußte. Primär dürfe die Kodifikation nicht auf eine „Umwälzung des bisherigen Rechtszustandes" hinauslaufen. 230 Wächter bleibt damit tief in den Anschauungen der historischen Schule verwurzelt, wobei ihn sein Abweichen in der Frage nach der Kodifikation eines Strafgesetzbuches zu rechtspositivistischen Äußerungen veranlaßt haben mag, ohne die eine strenge Bindung an das gesetzte Recht und die damit verbundenen Ziele nicht zu erreichen gewesen wären. Das Kodifikationsverlangen wäre ohne rechtspositivistische Forderungen hohl geblieben. Wächter ist damit - wie oben dargestellt - kein strenger, sondern eher ein pragmatischer Anhänger der historischen Schule, den lediglich die Übereinstimmung mit Thibaut in der Kodifikationsfrage zu rechtspositivistischen An-

den allgemeinen Willen gesetzte Recht". Zur Rechtslehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), in: Festschrift für Kroeschell, 1997, S. 617, 629, 634; ders., Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: ZWLG, 1998, S. 285, 298, 303. 227 C.G. v. Wächter, Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, Bd. I, l.Halbbd., 1839, S. 11. 228

Vgl. dazu: J. Rückert, August Ludwig Reyschers Leben und Rechtstheorie. 1802-1880, 1974, S. 343. 229 J. Rückert, August Ludwig Reyschers Leben und Rechtstheorie. 1802-1880, 1974, S. 343 f.; E. Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abtlg., 2. Halbbd., Text, 1910, S. 386-390, 612; E. Schmidt, Einfuhrung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage 1965, S. 284-286 (Mangels eines tiefgehenden Eindringens in die geschichtlichen Quellen will Schmidt Wächter fälschlicherweise nicht als Anhänger der historischen Schule einordnen.); H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht im 19. Jahrhundert, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, Bd. I, 1925, S. 17; O. Häcker, Die parlamentarische Tätigkeit des Kanzlers Carl Georg von Wächter, 1927, S. 72, 90, 92; R. v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. I, 1925 (ND 1974), S. 303 Anmerkung 3); W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. DI, 1976, S. 82. 230 C.G. v. Wächter, Übersicht über die Literatur des gesammten Württembergischen Rechtes aus den letzten zehen Jahren, IV. Privatrecht, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft, Bd. VI, 1829, S. 294,312.

Kapitel 1: Die historische Rechtsschule und der Positivismus

79

sichten verleitete. Wächter schlägt insofern, wie es auch Nikolaus Sandmann und Ferdinand Elsener beschreiben 2 3 1 , i n eindrucksvoller Weise den Bogen zwischen den bedeutenden rechtswissenschaftlichen Geistesströmungen des 19. Jahrhunderts und gibt dabei einen B l i c k auf die positivistische 2 3 2 Zukunft.

231 N. Sandmann, Grundlagen und Einfluß der internationalprivatrechtlichen Lehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), 1979, S. LXXX; F. Elsener, Der Jurist Carl Georg von Wächter (17971880), in: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477-1977, 1977, S. 471 ff.; C.G.v. Wächter (1797-1880) und die Bemühungen Württembergs um eine Vereinheitlichung des Privatund Prozeßrechtes in der Zeit des Deutschen Bundes (1847/1848), in: Festschrift für H. Baltl, hrsg. v. K. Ebert, 1978, S. 193,195. 232

Vgl. zum Einfluß naturrechtlichen Denkens auf den Positivismus als Folge der Krisen der jüngsten deutschen Geschichte: F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auflage 1967, S. 250 f.; W. Pöggeler, Vom Naturrecht zum Positivismus, JA 1997, S. 339, 344.

Kapitel 2

,J)ie Grundprincipien

des Strafrechts" - Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

Schon seit dem Entstehen früher menschlicher Kulturen ist die öffentliche Strafe als Ausgangspunkt gemeinschaftsrechtlichen Machtanspruchs bezeugt1, wobei ihre Bedeutung eng mit dem Wachsen eines Gemeinschaftsgeistes und der Entwicklung eines Staatswesens zusammenhängt.2 Die Anfänge der Strafrechtspflege sind dort zu suchen, wo die sich festigende Rechtsgemeinschaft die Ahndung einer Regelübertretung nicht mehr dem Verletzten selbst überläßt, sondern zur Wahrung des Gemeinschaftsfriedens für strafwürdiges Verhalten Repressalien androht und Regelverstöße unmittelbar sanktioniert, und damit das erfolgversprechende Zusammengehörigkeitsgefühl der Rechtsgemeinschaft dokumentiert. 3 Dennoch wurde der Gedanke der Rechtsstrafe als ein der Idee der Gerechtigkeit folgender staatlicher Sanktionsanspruch erstmals durch die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 formal in das deutsche Recht der frühen Neuzeit eingeführt. 4 Artikel 104 der peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karl V. proklamiert: „... die straff, nach gelegenheyt vnd ergernus der vbelthatt, auss liebe der gerechtigkeit vnd vmb gemeines nutz willenn, zu ordnen vnd zu machenn."5 Damit legte diese Reichssatzung der Rezeptionszeit den Grund für eine verwissenschaftlichte, moderne deutsche Strafrechtspflege. 6 Obwohl infolgedessen die Strafe schon seit dem Beginn der Neuzeit im Rahmen menschlichen Gemeinschaftslebens zu den entscheidenden staatlichen

1 G. Radbruch, Der Ursprung des Strafrechts aus dem Stande der Unfreien, in: Elegantiae Juris Criminalis, 2. Auflage 1950, S. 4 ff.; V. Achter, Die Geburt der Strafe, 1950, S. 10 ff. 2

W. Sellert, H. Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Bd. I, 1989, S. 49; H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. I, 2. Auflage 1962, S. 47 f. 3 K. Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. I, 6. Auflage 1983, S. 198; W. Sellert, H. Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Bd. I, 1989, S. 49 f. 4 G. Kleinheyer, Tradition und Reform in der CCC, in: Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, hrsg. v. R Landau u. Fr.-Chr. Schroeder, 1984, S. 7. 5

Zitiert nach: Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V., Constitutio Criminalis Carolina, hrsg. v. J. Kohler u. W. Scheel, 1900. 6

A. Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 5. Auflage 1996, S. 126, 131.

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

81

Machtmitteln zählte, ist die Frage nach ihrer Rechtfertigung und ihrem Wesen bis heute eine der umstrittensten. 7 Ohne daß hier einzelnen differenzierenden Ansichten in Rechtsprechung und Literatur im Detail nachgegangen werden kann, betrachtet die moderne Strafrechtswissenschaft das öffentliche sozialethische Unwerturteil über den Täter als Folge einer schuldhaft begangenen Rechtsverletzung als eigentliches Wesen der Strafe. 8 Sie gilt als unverzichtbare Grundbedingung für das Funktionieren eines menschlichen gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Ohne Strafe gibt sich die Rechtsordnung selbst preis und sänke mangels Erzwingbarkeit zu einer lediglich ethisch verbindlichen Norm herab. 9 Notwendig ist die Strafe ferner, um dem Gerechtigkeitsbedürfiiis der Rechtsgemeinschaft Genüge zu tun 1 0 und dem Täter die Möglichkeit einzuräumen, sich durch Sühneleistung von persönlicher Schuld zu befreien 11. Eine Straftheorie sucht letztlich Begriff, Wesen und Zweck der Strafe als staatliche Reaktion auf begangenes menschliches Unrecht zu erklären und zu rechtfertigen. 12 So muß eine Straftheorie zwei Elemente enthalten, aber auch differenziert definieren: Die eigentliche Rechtfertigung und die Bestimmung des Zwecks staatlicher Strafe. 13

I. Die Straftheorie Carl Georg von Wächters Unter der Maßgabe, daß die wesentlichen Marksteine der Strafrechtstheorien im 19. Jahrhundert gelegt wurden, ohne daß bis heute nennenswerte Fortschritte

7 H.-H. Jescheck, Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, S. 64. 8 A. Kaufmann, Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert, 1982, S. 265; H. Henkel, Die „richtige" Strafe, 1969, S. 7; H.-H. Jescheck, Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, S. 65; W. Kargl, Handlung und Ordnung im Strafrecht, in: Schriften zum Strafrecht, Heft 86, S. 211 ff. 9

E. Schmidhausen Vom Sinn der Strafe, 2. Auflage 1971, S. 74 ff; Th. Lenckner, Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit, in: Handbuch der forensischen Psychiatrie, hrsg. v. H. Göppinger u. H. Witter, Bd. I, Teil A, 1972, S. 21 f. 10

H.-H. Jescheck, Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996,

S. 64. 11

A. Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Auflage 1976, S. 274.

12

W. Naucke, Straftheorie, Strafzweck, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG), hrsg. v. A. Erler u. E. Kaufmann, Bd. V, 1984, Sp. 1; E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage 1965, S. 165; K. Binding, Grundriß des deutschen Strafrechts, Allgemeiner Teil, 7. Auflage 1907, S. 203. 13

W. Naucke, Kant und die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs, in: Kieler Rechts wissenschaftliche Abhandlungen Nr. 3, 1962, S. 3. 6 Jungemann

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

82

zu verzeichnen wären 14 , haben die Ausführungen Anton Bauers (1772-1843) über die Aufgaben einer tauglichen Straftheorie durchaus aktuelle Bedeutung: „Die von der Straftheorie zu lösende Aufgabe besteht überhaupt in Aufstellung einer festen Grundlage, worauf ein haltbares Gebäude der Strafrechtswissenschaft und Strafgesetzgebung aufgeführt werden kann. Sie soll das, im Einzelnen unendlich Mannichfaltige, auf die obersten Begriffe und Sätze, als die letzten Erkenntnis- und Bestimmungsgründe, zurückführen." 15 Demnach liege die entscheidende Funktion der Straftheorie in der Begründung und Rechtfertigung staatlicher Sanktionsgewalt. Für den Gesetzgeber und die Judikative lege sie die rechtlichen Grenzen und die allgemeinen Rechtsprinzipien der Strafgewalt fest. 16 Die Rechtfertigung staatlichen Sanktionsanspruchs ist damit, damals wie heute, die „Gretchenfrage" jeder strafrechtstheoretischen Erkenntnis. So auch für Carl Georg von Wächter: „Die wichtigste Frage für das Strafrecht", so formuliert er, „ist die über die Begründung des Rechts zur Bestrafung, also über den rechtlichen Grund und Zweck der Strafe." Da aus ihr „die leitenden Grundprincipien des Strafrechts" zu ermitteln seien17, müsse die Strafrechtswissenschaft der „Entwickelung der Grundsätze über Bestrafung der Verbrechen" besonderes Gewicht beimessen18. In der fundierten und philosophisch-kritischen Begründung einer Straftheorie liege sowohl das unverzichtbare Fundament jeder strafrechtlichen Argumentation als auch das über den positiven Rechtsregeln stehende Instrument zur Ermittlung der Strafgerechtigkeit. 19 Wächter sieht das Wesen der Strafe in der Bekämpfung und Aufhebung der Verletzung der bestehenden Rechtsordnung, des weiteren in dem Anspruch, dem verletzten subjektiven Recht Genugtuung verschaffen zu können, und in der Garantie der Unantastbarkeit der Rechtsordnung durch die staatliche Sanktion des individuellen rechtswidrigen Willens. 20 Begehe das Subjekt ein Unrecht, indem es den eigenen Willen höher als den kodifizierten allgemeinen 14 H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 2. 15

A. Bauer, Die Warnungstheorie nebst einer Darstellung und Beurtheilung aller Strafrechtstheorien, 1830, S. 238. 16 A. Bauer, Die Warnungstheorie nebst einer Darstellung und Beurtheilung aller Strafrechtstheorien, 1830, S. 239. 17

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 7.

18

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 3.

19

C G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, S. 40 f.

20 C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 64; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 1.

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

83

achte, so fordere die „ R e c h t s i d e e " f ü r die verletzte Rechtsposition einen über den zivilrechtlichen Ersatz- und Erstattungszwang hinausgehenden Ausgleich. Daher sei Strafe im eigentlich juristischen Sinne ein dem Täter von der Rechtsgemeinschaft wegen eines begangenen Regelverstoßes zuzufügendes Leiden oder Übel im Interesse der Rehabilitierung des verletzten Rechts.21 „Strafrechtswissenschaft ist die principielle Entwickelung der Grundsätze über Bestrafung der Verbrechen." 22 Ausgehend von dieser Umschreibung der allgemeinen Grundsätze der Straftheorie im strafrechtlichen System nimmt Wächter eine Einteilung sämtlicher Strafrechtstheorien vor, die seit des auf Seneca (Christi Geburt - 65 n.Chr.) zurückgeführten Satzes „nemo prudens punit quia peccatum est, sed ne peccetur" 2 3 in zwei Linien verläuft, zwischen denen sich die wissenschaftliche Erkenntnis bewegte: die absoluten (quia peccatum est) und die relativen (ne peccetur) Straftheorien. 24 Unter absoluten Straftheorien versteht Wächter solche, „nach welchen die Strafe sich nicht bestimmen soll durch einen besonderen für die Rechtsordnung zu erreichenden Zweck, sondern gleichsam Selbstzweck sind ...", so „daß die Schuld des Verbrechers durch Strafe wiedervergolten wird." 2 5 Zutreffend erkennt er das gemeinsame Wesen der absoluten Strafbegründungen. Danach ist das Delikt nicht lediglich Voraussetzung, sondern alleiniger Grund der Strafe, wobei diese also selbst nur Folge des Unrechts ist oder dieses vergilt. 26 Die relativen Theorien hingegen gehen davon aus, daß nur insoweit von staatlicher Seite gestraft werden dürfe, als es zur Erhaltung der Funktionsfahigkeit der Rechtsordnung als legitime Zwecksetzung notwendig sei. Die „Strafe habe ihren Sachgrund (nicht in dem begangenen Verbrechen, sondern) in einem für den Staat zu erreichenden Zweck". 27

21 e.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 2. C.R. Köstlin, Neue Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts, 1845, S. 907 Anm. 4) bemerkt zum Staatsverständnis Wächters:„.Zunächst solle der Staat strafen, - und im Interesse der Gesammtheit werde gestraft 22

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 3.

23

„Kein Vernünftiger straft allein wegen des begangenen Unrechts; der Vernünftige straft, um künftige Gefahr zu verhüten." 24 W. Naucke, Straftheorie, Strafzweck, in: HRG, hrsg. v. A. Erler u. E. Kaufmann, Bd. V, 1984, Sp. 1,2. 25

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 8; vgl. auch: Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 10 f. 26 C. Bohnert, Zu Straftheorie und Staatsverständnis im Schulenstreit der Jahrhundertwende, 1992, S. 145. 27

6*

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 8.

84

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Wächter kann dieser strengen Trennung der Straftheorien und der damit verbundenen Einseitigkeit der Begründung des strafrechtlichen Sanktionsanspruchs nicht folgen, denn beide Ansätze trügen richtige „Grundgedanken in sich". Diese müßten berücksichtigt werden, „soll nämlich die Strafe vernünftig und gerecht sein". 28 Bevor sich Wächter nun mit den maßgeblichen Straftheorien seiner Zeit kritisch auseinandersetzt und einen eigenständigen Ansatz versucht, führt er vier, für ihn unverzichtbare Elemente einer Straftheorie auf, die bereits die Grundpfeiler der Wächterschen Begründung der Strafe vorwegnehmen. Eine „vernünftige und gerechte" Strafe müsse sich stets auf begangenes Unrecht, „auf eine vorhandene Schuld als ihren Sachgrund" beziehen. Staatliche Strafe dürfe daher immer nur Reaktion auf menschliches Fehlverhalten sein und nicht allein rechtspolitische Ziele verfolgen. Dieses Maß persönlich vorwerfbaren Fehlverhaltens, also der Schuld, bestimme Größe und Ausmaß der Strafe. „Sie darf also nicht weiter gehen, als die Schuld reicht." Dieses elementare „Gebot der Gerechtigkeit" verletzten insbesondere die relativen Theorien. 29 Aber gerade in der Proportionalität von Schuld und Strafe liege das für die Legitimation strafrechtlicher Sanktionen unverzichtbare Fundament der Strafgerechtigkeit. 30 Neben dem Element einer an Gerechtigkeitsmaßstäben ausgerichteten Reaktion auf schuldhaftes Verhalten müsse die Strafe hingegen auch einen „vernünftigen Zweck" für die Rechtsordnung verfolgen, wie es die sogenannten relativen Theorien verlangten. Darüber hinaus dürfe eine Strafe nie eine ausnahmslos zwingende Folge eines Verbrechens sein. Bestimmte berechtigte Interessen der Rechtsordnung, wie Verjährung und Begnadigung, müßten als Regelabweichungen anerkannt sein.31 Ausgehend von diesen Grundsätzen entwickelte Wächter aus der „Begründung der rechtlichen Strafe" eine eigenständige Straftheorie, die er in Herleitung und Begründung im Gegensatz zu seinen sonst äußerst knappen und indi-

28

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 9.

29

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 9.

30 C G. v. Wächter, Die Deutsche Strafrechtswissenschaft des XIX. Jahrhunderts und ihre Aufgaben, in: Jahrbücher der Deutschen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung, hrsg. v. Th. Schletter, Bd. I, 1855, S. 105, 109. Insofern verwundert diesen Ausführungen entgegenstehende Aussage Wächters in den Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg auf dem Landtage von 1838, 1838, Bd. I, 8. Sitzung v. 26.1.1838, S. 20: „und ich scheue mich nicht, zu sagen, daß eine zu gelinde Strajjustiz oft viel nachtheiliger ist, als eine zu harte" Wä scheint dabei aber, vorwiegend die Überzeugungskraft seiner Argumentation unterstreichen als seinen Standpunkt zur Strafzwecklehre darlegen zu wollen. 31

C G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 9.

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

85

rekten Ausführungen zu theoretischen Grundlagen strafrechtlicher Dogmatik relativ ausführlich und umfangreich gestaltete.32

1. Hinweise auf das Staatsverständnis

Wächters als Fundament

Beginnend mit der Rechtfertigung staatlicher Strafe legt Wächter an abgelegener Stelle den Ausgangspunkt jeder Straftheorie dar: das Staatsverständnis. Jedoch wiederum nur in äußerst knappen Anmerkungen, die einen erhöhten Interpretationsbedarf wecken 33 : „Das Recht gründet sich in seiner Verwirklichung und in seinen objectiven Gültigkeiten auf freie Anerkennung und Einigung derer, unter welchen es herrschen soll. Der Friede ist die Folge, seine Erhaltung der nächste Zweck dieser rechtlichen Vereinigungen. Er ist das harmonische, jede gegenseitige Störung ausschließende Bestehen und Wirken verschiedener Kräfte und somit, angewendet auf rechtliche Verhältnisse, das ungetrübte Bestehen der Herrschaft des Rechts, der Zustand, in welchem der Freiheitsgebrauch eines jeden sich innerhalb des Rechtsgebietes hält." 34 Danach erklärt Wächter den staatlichen Zusammenschluß einer Rechtsgemeinschaft erst durch gegenseitige Willensübereinstimmung für existent, wodurch die Regeln der Rechtsordnung als Instrument des Rechtsfriedens als für jedes Individuum verbindlich festgelegt werden. Wächter setzt dabei die Existenz und Legitimität rechtlicher Regelungen innerhalb der Rechtsgemeinschaft zwingend voraus. 35 Erst durch diese könne eine freiheitliche Verwirklichung der

32 C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 20-26; Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 46-56; Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 66-69, 84-85. 33 Auch H. Müller weist in diesem Zusammenhang auf die oft die nötige Ausführlichkeit vermissen lassenden Darstellungen theoretischer Grundsätze bei Wächter hin. Vgl.: Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 304. So auch H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht im 19. Jahrhundert, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 17.

Auch die einführenden Worte des Herausgebers von „Ludwig Timotheus Freiherrn v. Spittler's sämmtliche Werke", Bd. I, 1827, obwohl theoretische Ausführungen zum Staatsverständnis des Herausgebers enthaltend (S. DC ff.), helfen letztlich nicht weiter. Der Herausgeber ist nicht, wie in Teil 3 Kapitel 1 Anm. 66) gezeigt, etwa Carl Georg von Wächter, sondern dessen Vetter Karl Wächter (1798-1874), der 1841 unter Beifügung des Namens seines Schwiegervaters Spittler in den Freiherrenstand erhoben wurde. 34 C.G. v. Wächter, Faustrecht, Fehde, Friede (Königsfriede, Burgfriede, Hausfriede, Gottesfriede, Landfriede, Religionsfriede), Friedensbruch (Landfriedensbruch, u.s.w.), in: Das StaatsLexikon, hrsg. v. K. v. Rotteck u. K. Welcker, 3. Auflage 1861, Bd. V, S. 297. 35 Vgl. auch O. Häcker, Die parlamentarische Tätigkeit des Kanzlers Carl Georg von Wächter, 1927, S. 93, 118.

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

86

individuellen Persönlichkeit garantiert werden. 36 Da nun jedes Mitglied der Rechtsgemeinschaft diese Garantie durch die „freie" Willensübereinstimmung anerkenne, muß es folgerichtig auch für die Einhaltung des Erhalts individueller Freiheit einstehen. Diese Überlegung Wächters konnte letztlich zu keinem anderen Schluß führen, als daß das einzelne Mitglied der Rechtsgemeinschaft verpflichtet sei, sich dem Sanktionsmittel zur Aufrechterhaltung der harmonischen, die individuelle Rechtssphäre achtenden Ordnung zu unterwerfen, „Es kann daher eine Norm, welcher objectiver Geltung zukommen soll, nur durch den Willen derjenigen, deren Leben sie beherrschen soll, oder durch ihre verfassungsmäßig dazu berufenen Organe bestimmt und dadurch zu wirklich geltendem, durch den allgemeinen Willen gesetztem Rechte werden." 37 Unklar bleibt jedoch, welche qualitativen Anforderungen Wächter an die Willensübereinstimmung der Staatsbürger im einzelnen stellt.

a) Johann Gottlieb Fichte Gerade wenn Wächter von , Anerkennung und Einigung" spricht, könnte trotz der Kürze der Ausführungen über das Staatsverständnis ein Einfluß der wegen ihrer extremen Pointierung in die Untersuchung einbezogene naturrechtliche Staatsvertragstheorie Johann Gottlieb Fichtes (1762-1814) in Erwägung gezogen werden. Der Staatsvertrag, der zwischen den einzelnen Bürgern und dem staatlichen Verband durch formale willentliche Übereinstimmung 38 geschlossen werde, so Fichte, diene durch die dauerhafte Verhinderung des Krieges aller gegen alle 39 der freiheitlichen Entwicklung der individuellen Persönlichkeit. 40 Dieser Vertrag garantiere sich selbst, indem er die Person, die gegen ihn verstößt, ausschließt, andererseits die pflichttreuen Bürger vollständig einbindet.41

36

Vgl. E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage 1965, S. 284; O. Hacker, Die parlamentarische Tätigkeit des Kanzlers Carl Georg von Wächter, 1927, S. 93, 118. 37

C.G. v. Wächter, Gesetzgebung (Deutsche), Gesetzbücher, in: Das Staatslexikon, hrsg. von K.v. Rotteck und K. Welcker, Bd. VI, 3. Auflage 1862, S. 482. 38 J.G. Fichte, Grundlage des Naturrechts, 1796, hrsg. v. F. Medicus, Neudruck 1922, S. 199 ff.; R. Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre J.G. Fichtes, in: Schriftenreihe zur Rechtstheorie, Heft 96, 1981, S. 77. 39

J.G. Fichte, Grundlage des Naturrechts, 1796 (ND 1922), S. 197.

40

J.G. Fichte, Grundlage des Naturrechts, 1796 (ND 1922), S. 210 f.

41

J.G. Fichte, Grundlage des Naturrechts, 1796 (ND 1922), S. 211.

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

87

Wer aber dem Vertrag nicht unterworfen sei, stehe außerhalb jedes rechtlichen Verhältnisses und gemeinschaftlichen Schutzes.42 Daher gelte: „Wer den Bürgervertrag ... verletzt, sei es mit Willen oder aus Unbedachtsamkeit, ... verliert ... alle seine Rechte als Bürger und als Mensch und wird völlig rechtlos" und „vogelfrei". 43 Was den Verlust der menschlichen Eigenschaft, Vernunftwesen zu sein, nach sich zöge. „Was aber erfolgt denn aus der Erklärung der Rechtlosigkeit? ... (Der) Verurteilte wird erklärt für eine Sache, für ein Stück Vieh." 4 4 Diese Rechtlosigkeit könne nur durch einen „Abbüssungsvertrag" wieder aufgehoben werden, in dem sich alle Bürger im vorhinein stillschweigend versprechen, wegen etwaiger Rechtsverletzungen nicht vom staatlichen Verbund ausgeschlossen zu werden, sondern anderweitig ihre Strafe verbüßen zu dürfen. 45 Der Abbüßungsvertrag gibt damit dem einzelnen die Möglichkeit, sich erneut in die Rechtsgemeinschaft als vernunftbegabte Rechtsperson einzugliedern. 46 Der Rechtsgrund der Strafe beruht bei Fichte demnach letztlich auf einer stillschweigenden, aber bewußten Einwilligung aller Bürger in die Verhängung staatlicher Strafen durch Eintritt oder Verbleib im Staat ihrer bewußten Wahl, wobei die eigentliche Intention zum Vertragsschluß in der Abwendung der vernichtenden Folge, die Rechtlosigkeit der eigenen Person, liegt. 47 Die Kritik Wächters an dieser im Naturrecht wurzelnden Vertragslehre setzt im Schwerpunkt an der Fiktion des sogenannten „/ibbüssungsvertrags " an. Es sei nicht einzusehen, warum der Rechtlose durch einen Vertrag mit dem Staat Rechte erwerben und behalten könne, wobei doch der Staat gerade an einem Verbrecher, der die geltende Ordnung mißachte, kein ernsthaftes Interesse haben könne, um diesen der Rechtsgemeinschaft zu erhalten. Außerdem sei die Annahme, ein jedes, noch so geringes Unrecht müsse den Verlust der Bürgerund sogar der Menschenrechte nach sich ziehen, „so daß er (der Täter, d. Verf.) zum rechtlosen Thiere herabsinkt", unannehmbar, weil menschenverachtend.48 Jedoch kann Wächter auch dem Teil der Theorie Fichtes nicht folgen, der die Existenz eines stillschweigend formal geschlossenen Staatsbürgervertrags als freiwillige Unterwerfung unter die staatliche Sanktionsgewalt annimmt. Denn

42

J.G. Fichte, Grundlage des Naturrechts, 1796 (ND 1922), S. 198, 264.

43

J.G. Fichte, Grundlage des Naturrechts, 1796 (ND 1922), S. 264.

44

J.G. Fichte, Grundlage des Naturrechts, 1796 (ND 1922), S. 282.

45

J.G. Fichte, Grundlage des Naturrechts, 1796 (ND 1922), S. 265.

46

R. Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre J.G. Fichtes, in: Schriftenreihe zur Rechtstheorie, Heft 96, 1981, S. 98. 47 R. Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre J.G. Fichtes, in: Schriftenreihe zur Rechtstheorie, Heft 96, 1981, S. 109. 48

C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 25.

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

88

„... die Bürger unterwerfen sich manchen Anordnungen der Staatsgewalt, ohne dass daraus ihre wirkliche Zustimmung zu denselben gefolgert werden könnte." 4 9 Die Annahme einer stillschweigend geschlossenen, für alle Bürger verbindlichen vertraglichen Einigung sei reine Fiktion.

b) Immanuel Kant Vielmehr ist aus der Wahl der Begrifflichkeit,Anerkennung und Einigung" und der Ablehnung der Vertragstheorie Fichtes eine Anlehnung an das Staatsverständnis Immanuel Kants (1724-1804) zu erkennen. 50 Von entscheidender Bedeutung in der Philosophie Kants ist der Begriff der Freiheit. Freiheit ist für ihn jedoch nicht das Belieben, so oder anders handeln zu können, sondern die Selbstbindung an das Gesetz der Vernunft. 51 Der Staat ist Ausdruck der organisierten Selbstbindung vieler durch vertragliche Bindung ohne einen formalen Akt. 5 2 Er ist danach die notwendige, aus dem unsicheren Naturzustand herausfuhrende „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen"53, bedingt durch das gemeinsame verbindliche Streben aller, im rechtlichen Zustand zu leben, in dem nach dem Prinzip der Gleichheit jeder einzelne sein Recht, insbesondere das ureigenste menschliche Recht, die Freiheit, verwirklichen kann. 54 Die einander widersprechenden Interessen der Menschen werden unter einem in der Staatsverfassung festgelegten Willen geeint und damit garantiert. 55 Diese Garantie des Gesetzes in autonomer Selbstbindung

49 C.G. v. Wächter, Beilagen, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 21; vgl. auch Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 13. 50 In der Darstellung W. Nauckes, Kant und die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs, in: Kieler Rechtswissenschaftliche Abhandlungen Nr. 3, 1962 fehlt ein Einordnungsversuch Wächters in die Straftheorie Kants. Instruktiv zum Staatsverständnis Kants, insbesondere zur Beziehung von Staatstheorie und Privatrecht K.W. Nörr, Eher Hegel als Kant, Zum Privatrechtsverständnis im XIX. Jahrhundert, in: Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen, N.F. 58, hrsg. durch die Görres-Gesellschaft, 1991. 51

E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage 1965, S. 229. 52 1. Kant, Metaphysik der Sitten, hrsg. v. K. Vorländer, unveränderter Abdruck der 4. Auflage 1922 (ND 1966), S. 163; H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 53. 53

1. Kant, Metaphysik der Sitten, 4. Auflage 1922 (ND 1966), S. 135.

54

1. Kant, Metaphysik der Sitten, 4. Auflage 1922 (ND 1966), S. 43, 133, 143; vgl. W. Naucke, Kant und die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs, in: Kieler Rechtswissenschaftliche Abhandlungen Nr. 3, 1962, S. 28. 55 W. Naucke, Kant und die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs, in: Kieler Rechtswissenschaftliche Abhandlungen Nr. 3, 1962, S. 28.

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

89

bedeute letztlich freiheitliche Verwirklichung des Individuums. 56 Stabilisierender Faktor ist dann die für die Einhaltung des Rechtsprinzips eintretende machthabende Staatsgewalt.57 Dabei enthält diese subjektive Willensübereinstimmung nicht den bei Fichte aufgezeigten formalen Vertragsgedanken im Sinne einer bewußten Einwilligung in die strafrechtliche Sanktion der Gemeinschaft im Falle einer Rechtsverletzung. 58 Das Wesen des Staates als Regulativ der bürgerlichen Gesellschaft liegt danach nicht im Wohlergehen und der Sicherheit ihrer Mitglieder, sondern vielmehr „im Zustand der Übereinstimmung mit Rechtsprinzipien ..., als nach welchem zu streben uns die Vernunft nach einem kategorischen Imperativ verbindlich macht". 59 In dieser bewußten und freien Willensübereinstimmung liegt dann auch die für die Staatsgründung notwendige vertragliche Einigung der Staatsbürger. Dabei setzt Kant als selbstverständlich voraus, daß die Gründung eines Staates nur durch einen „ursprünglichen Kontrakt" vollzogen werden kann, den er aber keinesfalls als geschichtliches Faktum anerkennen will. Für Kant bedeutet das „pactum unionis civilis" bloß eine Idee, nach der die „Rechtmäßigkeit der Staatsgründung gedacht werden kann". 60 Demnach hat bei Kant der Begriff des Staatsvertrags weitgehend geringe Bedeutung. Für das Strafrecht folgt für ihn daraus nichts.61 Damit könnten die Ausführungen Wächters ausschließlich die einheitliche Ausrichtung der widerstreitenden individuellen Interessen innerhalb einer bürgerlichen Rechtsgemeinschaft auf einen einheitlichen, die Willkür einschränkenden und die individuelle Freiheit garantierenden Willen bedeuten. Allein insofern sei eine „freie Anerkennung und Einigung", also eine selbstbestimmte Unterwerfung unter das Rechtssystem, zur objektiven Gültigkeit der Rechtsordnung erforderlich und möglich. Ohne diesen Grundkonsens der Subjekte würde der staatliche Verband nicht in die Lage versetzt, seine Aufgaben zu erfüllen: Er könnte in diesem Fall nicht „das ungetrübte Bestehen der Herrschaft des Rechts, der Zustand, in welchem der Freiheitsgebrauch eines jeden sich innerhalb des Rechtsgebietes hält..." gewährleisten. Ein Ausgleich der individuellen Interessen mit den gesamtgesellschaftlichen Anforderungen ohne die Übereinstimmung in Grundprinzipien müsse mißlingen. Damit fordert Wächter als Grund56 W. Naucke, Über den Einfluß Kants auf Theorie und Praxis des Strafrechts im 19. Jahrhundert, in: Philosophie und Rechtswissenschaft, hrsg. v. J. Blühdorn u. J. Ritter, 1969, S. 27, 31; C.L. v. Bar, Geschichte des deutschen Strafrechts und der Strafrechtstheorien, Bd. I, 1882, S. 242. 57

1. Kant, Metaphysik der Sitten, 4. Auflage 1922 (ND 1966), S. 135.

58

1. Kant, Metaphysik der Sitten, 4. Auflage 1922 (ND 1966), S. 163; vgl. auch: H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 53. 59

1. Kant, Metaphysik der Sitten, 4. Auflage 1922 (ND 1966), S. 141.

60 61

I. Kant, Metaphysik der Sitten, 4. Auflage 1922 (ND 1966), S. 138.

W. Naucke, Kant und die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs, in: Kieler Rechtswissenschaftliche Abhandlungen Nr. 3, 1962, S. 30 Anmerkung 131).

90

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Voraussetzung eines staatlichen Verbandes die „freie ... Anerkennung" 62 der Existenz gemeinsamer Grundwerte der Staatsbürger, dem wie bei Kant durchaus eine (nicht formale) vertragliche Konstruktion zugrunde liegt. 63 Für die Geltung jedes allgemein anerkannten Rechtssatzes mußte für Wächter zwingend ein gesamtgesellschaftlicher Konsens bestehen. Dem auf der freien und selbstbestimmten Unterwerfung jedes einzelnen Rechtssubjekts beruhenden geltenden positiven Recht kommt damit eine umfassende freiheitsverbürgende Garantie zu: Zunächst regelt es Umfang und Grenzen individueller Freiheitsverwirklichung, andererseits jedoch beruht diese Einschränkung auf einem gesamtgesellschaftlichen Wertekonsens privatautonomer Rechtssubjekte.64 Folglich wird für Wächter mit der Errichtung und Aufrechterhaltung des staatlichen Verbandes ein Zustand erreicht, in dem das Recht allein und ausschließlich seine bestimmungsmäßige Wirksamkeit entfalten kann. Infolgedessen bezieht sich die freie willentliche Übereinstimmung der Bürger nicht auf den formalen Abschluß eines Sanktionsvertrags, sondern auf die Erfüllung des „kategorischen Imperativs" Kants, der wegen des vernunftbedingten Sollens des Menschen ohnehin nicht zur freien Disposition stand. Außerdem betont Wächter im Zusammenhang der Rechtfertigung eines staatlichen Sanktionsanspruchs, daß die Natur rechtlicher Regelungen gerade in der finalen Steuerung menschlichen Gemeinschaftsverhaltens über den Grundwertekonsens liege, dessen unabdingbare Notwendigkeit den gemeinschaftswidrigen Willen bekämpfen und aufheben müsse.65 „Eine Rechtsordnung kann nur dadurch bestehen und erhalten werden, dass Diejenigen, unter denen sie bestehen soll, sie, gleichviel aus welchen Motiven, erhalten wollen, dass also in ih-

62

Der Schwerpunkt der Formulierung liegt damit auf „Anerkennung", nicht auf „Einigung".

63

Vgl. dazu Wächters Ausführungen zur konstitutionellen Monarchie als Staatsform, in: Verhandlungen der Württembergischen Kammer der Abgeordneten auf dem Landtage von 1848/49, 1849, Bd. I, S. 149 f. Nach Wächter ist damit der ,freie Vertrag" zwischen den Subjekten der Gesellschaft stets das entscheidende Moment für die Gründung und die fortdauernde Existenz eines Staates, unabhängig von der jeweiligen konkreten Staatsform.

64 C.G. v. Wächter, Handbuch des Privatrechts, Bd. I, 1. Halbbd., 1839, S. 9, 10 f.: „£j kann daher in einem Vereine - und somit in einem Staate - eine Norm nur dadurch äußerlich werden und alle Vereinsgenossen binden, daß sie von den Vereinsmitgliedern als objec anerkannt wird, sey es unmittelbar - ausdrücklich oder stillschweigend durch Rechtsgew ten - oder mittelbar, indem sie von dem verfassungsmäßig hierzu befugten und bestimmt ne, entweder dem Gesetzgeber unter den verfassungsmäßigen Formen, oder den Gerichte deren legale Gewohnheiten festgesetzt wird. Dadurch entsteht in einem Staate das positi das durch den Staat gesetzte und in demselben wirklich geltende Recht." Vgl. auch: Gesetzgeb (Deutsche), Gesetzbücher, in: Das Staatslexikon, hrsg. von K.v. Rotteck und K. Welcker, Bd. VI, 3. Auflage 1862, S. 482. So auch C. Ahcin, Zur Entstehung des bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen von 1863/65, in: IUS COMMUNE, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 85, 1996, S. 192. 65

C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 46.

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

91

nen die Ueberzeugung besteht, die Ordnung solle und müsse heilig gehalten werden, dass sie ihnen in der Idee als unverletzlich erscheint." 66 Im Schutz und Erhalt der Rechtsordnung liege insoweit die wesentliche Aufgabe des Staates.67 „Wer daher die Rechtsordnung zu handhaben hat, ist verbunden und eben damit auch berechtigt, das Unrecht durch die dazu nothwendigen Mittel zu bekämpfen, zu beschränken und möglichst wieder aufzuheben, soweit... das öffentliche Wohl, die Erhaltung der Rechtsordnung, es erheischt." 68 Hieraus folge nun von selbst, daß der Gesetzesübertreter allein durch dieses Interesse der Gemeinschaft am Erhalt einer funktionierenden Rechtsordnung verpflichtet sei, sich den erforderlichen staatlichen Sanktionsmaßnahmen zu unterwerfen und letztlich die Geltung der gemeinsamen Grundwerte der Rechtsgemeinschaft anzuerkennen.69 Wächter folgt damit in Grundzügen dem Staatsverständnis und der Rechtfertigung staatlicher Strafe Kants, bei dem die bewußte und willentliche Übereinstimmung in Rechtsprinzipien durch die Mitglieder der bürgerlichen Gemeinschaft - wie gezeigt - die entscheidende Voraussetzung für die Gewähr individueller Freiheit darstellt. Wächter betrachtet damit den Staat als Instrument der freiheitlichen Entwicklung des Individuums und seiner natürlichen Rechte, womit er ein durchaus liberales Staatsverständnis zeigt. 70 Er stimmt insoweit mit der Lehre Karl Theodor Welckers 71 (1790-1869) überein, der dem Staat in der gleichen Weise die Funktion der Sicherung der äußeren Freiheit zuweist, die ohne einen Wertekonsens der Subjekte nicht aus-

66

C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 50; vgl. dazu die Ausführungen eines ungenannten Rezensenten zu: C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, Stuttgart 1877, Bd. I, in: Württembergisches Archiv für Recht und Rechtsverwaltung, hrsg. v. F.Ph.F. v. Kübel und E.O.C. v. Sarwey, Bd. XVÜI, 1877, S. 427, 431. 67 P.J.A. v. Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. I, 1799, S. 31, 39. Instruktiv W. Küper, Rezension zu: J. Bohnert, Paul Johann Anselm Feuerbach und der Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht, 1982, in: Juristen Zeitung (JZ) 1984, S. 565. 68

C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 47.

69

C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 47; Rezension zu: Droste-Hülshoff, Clemens August von, Einleitung in das gemeine deutsche Kriminalrecht zum Gebrauch für akademische Vorlesungen, Bonn 1826, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft, Bd. I, Heft 2, 1826, S. 39, 42. Vgl. auch hier die Ausführungen eines ungenannten Rezensenten zu: C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, Stuttgart 1877, Bd. I, in: Württembergisches Archiv für Recht und Rechtsverwaltung, hrsg. v. F.Ph.F. v. Kübel und E.O.C. v. Sarwey, Bd. XVÜI, 1877, S. 427, 431; H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 305. 70 H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht im 19. Jahrhundert, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 8. 71

Eine detaillierte Darstellung der Straftheorie Welckers mit einem eingehenden Vergleich der Lehre Wächters erfolgt, nach der Darstellung der Strafzwecklehre Wächters in diesem Kapitel.

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

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kommt. 72 Für ihn ist der Staat die „geordnete Vereinigung eines Volkes zur fortdauernden Realisierung des anerkannten höchsten Gesetzes, oder auch des höchsten Gutes" 73 . Welcker vertritt insofern ebenfalls den Einigungsgedanken im Sinne Kants. 74

2. Der Zweck staatlicher Strafe Ausgehend von der Darstellung der Rechtfertigung staatlicher Strafe und seinem Staatsverständnis entwickelt Wächter eine Strafzwecktheorie, der er ein für seine Verhältnisse durchaus umfangreiches theoretisches Fundament legt. „Der Zweck der Strafe" bestehe „in der Erfüllung des Vernunftgebotes der Reaction gegen das Verbrechen durch Wiederaufhebung oder Bekämpfung des widerrechtlichen Willens des Verbrechers und durch eine der Schuld entsprechende Genugthuung für das verletzte Recht." 75 In dieser kurzen Umschreibung legt Wächter die zwei Grundpfeiler seiner Zwecklehre, eine subjektive und eine objektive Prämisse. Die „subjektive" Verletzung der Rechtsordnung erfolge durch die Manifestation76 eines widerrechtlichen Willens des Subjekts. Ein Unrecht könne nur dann persönlich vorwerfbar, also schuldhaft begangen werden, wenn es auf die willentliche Verursachung des Täters zurückführbar ist. 77 Dazu müsse die äußere, objektive Tat bewußt und willkürlich gesteuert werden, so daß sich der Täter der Widersprüchlichkeit seines Verhaltens mit den Normen des „allgemeinen Willens", also der Rechtsordnung, durchaus bewußt gewesen war (Vorsatztat)

72

K.Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 72 ff., 82,249 f.

73

K.Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 7.

74

Zum Einfluß I. Kants auf K.Th. Welcker vgl. H. Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 3. Auflage 1998, S. 82. 75 C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 52. An dieser Stelle findet sich bei Wächter eine naturrechtlicher Denkansatz, obwohl er ausgesprochener Gegner einer Denkschule war, die allein der menschlichen Vernunft rechtssetzende Legitimation zuspricht (vgl. Teil 3, Kap. 1, I. 2.). Als Erklärung könnte der Umstand dienen, daß auch noch parallel zur Vorherrschaft der historischen Schule naturrechtliche Theorien rege Verbreitung fanden, so daß auch Wächter davon nicht unberührt bleiben konnte. Vgl. dazu auch das 1840 (!) erschienene Lehrbuch des badischen Liberalen Karl von Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, Bd. I, 2. Auflage 1840. Vgl. dazu: W. Pöggeler, Vom Naturrecht zum Positivismus, JA 1997, S. 339, 341. 76

,J)as Innere, soweit es blos ein Inneres bleibt, ist der Herrschaft v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 48.

des Rechts entzogen

77 Über das Verhältnis von Wille und Tat als Elemente des strafrechtlichen Handlungsbegriffs vergleiche Teil 3 Kapitel 3.

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

93

oder dies hätte erkennen können (Fahrlässigkeitstat). 78 Für Wächter ist der Ausgangs» und Angelpunkt menschlichen Verhaltens stets der Wille. 7 9 Daher müsse sich eine Rechtsordnung, die sich an die Menschen als „freie Sinnenwesen" richte, stets auf deren Steuerung richten mit dem Ziel, die Übereinstimmung des individuellen Willens mit dem in der Rechtsordnung ausgesprochenen allgemeinen Willen zu fordern. 80 Diese Vermeidung und Verhinderung des widerrechtlichen Willens als Ursache eines Unrechts könne nur durch die strafgesetzliche Androhung eines zukünftigen Übels oder der Entziehung von Rechten erreicht werden, so daß der Willensträger zu der Überzeugung gelangen müsse, „daß er im Widerspruch mit dem Gesetze keine Befriedigung erlangt und nur Unlust, Leiden und Beschränkungen sich bereitet." 81 Damit wendet sich das Rechtsgesetz nach Wächter an den Willen des Menschen und fordert dessen Unterwerfung. 82 Dabei ist für ihn von entscheidender Bedeutung, daß mit dieser Zwangsausübung auf das einzelne Subjekt lediglich die Realisierung des widerrechtlichen Willens vermieden und die Übereinstimmung des Verhaltens des einzelnen mit dem normierten Willen der Allgemeinheit erreicht werde. Der Staat habe nicht das Recht, „bei Gelegenheit des Verbrechens den Menschen überhaupt und seine Gesinnung und Moralität zu richten und ihn wie ein der Erziehungszucht unterworfenes Kind zu behandeln."83 In moralischer Hinsicht ist jeder Besserungsversuch unzulässig.84 Damit fehlt dann auch in dieser Hinsicht jeder Gedanke an einen spezialpräventiven bessernden Zweck der Strafe. 85 Die Aufgabe des Richters 78

C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 48 f.

79

C.G. v. Wächter, Die Deutsche Strafrechtswissenschaft des XIX. Jahrhunderts und ihre Aufgaben, in: Jahrbücher der Deutschen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung, hrsg. v. Th. Schletter, Bd. I, 1855, S. 105, 109 f.; Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, Bd. n, 1842, S. 4; Strafgesetzgebungen (neuere), in: Das Staats-Lexikon, hrsg. v. K. v. Rotteck u. K. Welcker, 2. Auflage 1848, Bd. XII, S. 463, 468. 80 C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, S. 52; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 21. Vgl. auch E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Rechtspflege, 3. Auflage 1965, S. 285. 81

C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 49.

82

C.G. v. Wächter, Rezension zu: Droste-Hülshoff, Clemens August von, Einleitung in das gemeine deutsche Kriminalrecht zum Gebrauch für akademische Vorlesungen, Bonn 1826, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft, Bd. I, Heft 2, 1826, S. 39, 41; H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht im 19. Jahrhundert, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 23. 83 C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 15; Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 55. 84

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 3; H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 24. 85

E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage 1965, S. 284 f.

94

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

liege demnach nicht in der moralischen Verurteilung und erst recht nicht in der Besserung des Verbrechers. Durch den Ausschluß aller moralischer Momente aus der Zwecksetzung staatlicher Strafe favorisiert Wächter damit ein Tatstrafrecht, kein Täterstrafrecht. 86 Die Lehre Wächters vom Strafzweck ist damit der Inbegriff derjenigen staatlichen Regeln, durch die an das Verbrechen als Tatbestand die Strafe als Rechtsfolge geknüpft wird. 8 7 Es wird nicht der Täter, sondern die konkrete Tat bestraft 88, so daß bei der Strafzumessung keine Rücksicht auf die individuellen Eigenschaften des Täters zu nehmen ist. „Ein Wille ... fallt nur dann in das Rechtsgebiet, wenn er wirklich in einer äußeren, gegen das Gesetz gerichteten That sich manifestiert." 89 Ausgehend von diesen Grundsätzen ist es folgerichtig, wenn Wächter diesem ersten Element seiner Strafzwecktheorie eine abschreckende, präventive Wirkung zuschreibt. 90 Durch die staatliche Sanktionsandrohung soll die Realisierung rechtswidriger Willensbildung verhindert werden. Obwohl er eine Differenzierung ausdrücklich nicht vornimmt und seine Ausführungen äußerst knapp und vage gehalten sind, verfolgt er insofern sowohl einen general- als auch einen spezialpräventiven Ansatz. Die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft sollen durch die Strafandrohung allgemein von der Begehung eines Unrechts zurückgehalten werden; ebenso aber auch der überführte Täter von einer Wiederholungstat 91, worauf wohl ein Schwerpunkt liegen soll 92 .

86 Zur Begrifflichkeit vgl. R.-U. Kunze, Paul Johann Anselm von Feuerbach und das Strafrechtsverständnis in der DDR, ZNR 1997, S. 82, 87 f.; C. Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Auflage 1997, § 6. 87

F. v. Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 21. Auflage 1919, S. 1.

88

H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 306. 89

C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 48.

90

C.G. v. Wächter, Rezension zu: Droste-Hülshoff, Clemens August von, Einleitung in das gemeine deutsche Kriminalrecht, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft, Bd. I, Heft 2, 1826, S. 39, 42. Vgl. dazu: H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Fankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 305. 91 C.G. v. Wächter, Rezension zu: Droste-Hülshoff, Clemens August von, Einleitung in das gemeine deutsche Kriminalrecht, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft, Bd. I, Heft 2, 1826, S. 39, 43. 92 H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 305.

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

95

Entscheidende Bedeutung mißt Wächter jedoch dem zweiten Pfeiler seiner Strafzwecktheorie zu, neben dem Herbert Dannenberg dem präventiven Aspekt der Theorie keine eigenständige Bedeutung zugestehen will. 9 3 Durch die Bekämpfung allein des widerrechtlichen Willens mit Hilfe der staatlich autorisierten Strafhorm, „würde das Unrecht ... nur in einer, in der subjectiven Richtung aufgehoben. Es besteht aber das Unrecht noch in einer zweiten, objectiven Richtung, in der angegriffenen Herrschaft und Unverbrüchlichkeit des Rechts überhaupt, und ... in der angegriffenen Unverletzlichkeit der Rechte des verletzten Individuums." 94 Durch die Nichtahndung der Übertretung der durch die Rechtsgemeinschaft normierten Regeln entstehe ein immaterieller, moralischer Schaden: Die allgemeine Achtung der staatliche Rechtsordnung ist für Wächter - wie bereits gezeigt - der Garant der persönlichen Freiheit. 95 Daher müsse ein genereller Konsens über die Verbindlichkeit, die „Unverletzlichkeit und Heiligkeit" der festgelegten Werte gelten. Dieser könne aber seine Wirkung nur entfalten, wenn die Rechtsordnung ihre Geltung für unabdingbar erkläre. „Wenn hier nicht das Gesetz durch eine empfindliche Reaction seine Unverletzlichkeit manifestieren würde: so würde es sich selbst widersprechen, sein Ansehen und seine Unverletzlichkeit vernichten und unfähig sein, auf den Willen der Bürger einzuwirken." 96 Unsicherheit und Willkür wären die Folge. Denn durch die begangene Rechtsverletzung wären das Opfer und die Allgemeinheit in ihrem Vertrauen auf die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung enttäuscht. Sie sähen ohne staatliche Sanktion die Grundlage und Voraussetzung ihrer persönlichen Freiheit in Gefahr. Zum anderen würden aber gerade die übrigen Mitglieder des Staates dazu verleitet, der Verbindlichkeit der Rechtsordnung weniger Beachtung zu schenken und selbst Rechtsverletzungen vorzunehmen. Falls keine staatliche initiierte Sühne erfolge, wäre „das vor ihren Augen geschehene Verbrechen der Natur der Sache nach eine Anreizung zu ähnlichen Gewalttaten...". 97 Somit ist der Zweck der Strafe die Wiederherstellung der durch das Verbrechen aufgehobenen Sicherheit im Interesse des Rechts des Verletzten und der 93

H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 28. 94 C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 50; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 21; Strafgesetzgebungen (neuere), in: Das Staats-Lexikon, hrsg. v. K. v. Rotteck u. K. Welcker, 2. Auflage 1848, Bd. XU, S. 463, 468. 95

H. Meyer, Karl Georg von Waechter, 1898, S. 8, 30.

96

C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 50 f.

97 C.G. v. Wächter, Rezension zu: Droste-Hülshoff, Clemens August von, Einleitung in das gemeine deutsche Kriminalrecht, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft, Bd. I, Heft 2, 1826, S. 39,41.

96

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Rechtsordnung. In der Aufhebung und Tilgung des bereits begangenen Unrechts, des Widerspruchs mit dem „Rechtsgesetz", also des moralischen Schadens, liegt der eigentliche Zweck der Strafe. 98 Strafe ist damit Vergeltung 99 ; sie wird verhängt „quia peccatum est" 100 . Unrecht als Negation des Rechts als Ausdruck menschlicher Vernunft habe zwar eine „factische äußere Existenz", eine Geltungsberechtigung komme ihm jedoch nicht zu. 1 0 1 Insofern klingt die Vergeltungslehre Georg Wilhelm Friedrich Hegels (17701831) an, wenn dieser das Unrecht als willkürliche Negation des Rechts, die Strafe als Negation dieser Negation betrachtet, um so den positiven Rechtszustand wiederherzustellen. Das Aufheben des Verbrechens stellt also eine reine Wiedervergeltung dar. 102 Dem Unrecht kommt auch nach Hegel lediglich eine „positive äußerliche Existenz" zu, letztlich sei es aber unwirklich. Denn es vermag das Recht in seinem Wesen nicht aufzuheben, da dieses als absolutes unaufhebbar ist. 103 Der strengen Vergeltungstheorie eines Hegel oder Kant will Wächter jedoch nicht folgen. Sie forderten die Aufhebung der Negation des Rechts allein wegen der Verletzung desselben, ohne sonstige Strafzwecke zuzulassen.104 Nach Kant ist die Übertretung eines Strafgesetzes die Verletzung einer unabdingbaren Pflicht und damit ein derart schweres Vergehen, daß es ohne die Berücksichtigung anderer Momente, insbesondere Strafzwecke, Strafe verdient. 105 Der Verbrecher dürfe nur deshalb bestraft werden, weil er verbrochen habe. 106 „Eine 98 C.G. v. Wächter, Deutsche Strafrecht, S. 21 f.; Die Deutsche Strafrechtswissenschaft des XIX. Jahrhunderts und ihre Aufgaben, in: Jahrbücher der Deutschen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung, hrsg. v. Th. Schletter, Bd. I, 1855, S. 105, 110; Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 50. 99

H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 305. 100 H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 23. 101

C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 47.

102

H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 145. 103 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. v. G. Lasson, 1911, Zusatz zu § 97. Vgl. auch O.K. Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie, in: Schriften zur Rechtstheorie 42, 2. Auflage 1975, S. 91 ff. 104 1. Kant, Metaphysik der Sitten, 4. Auflage 1922 (ND 1966), S. 158 ff. Vgl. ausführlich zu Hegels Straftheorie: D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, in: Hamburger Rechtsstudien 81, 1991, S. 232 ff. 105 W. Naucke, Über den Einfluß Kants auf Theorie und Praxis des Strafrechts im 19. Jahrhundert, in: Philosophie und Rechtswissenschaft, hrsg. v. J. Blühdorn u. J. Ritter, 1969, S. 27, 31; H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 56. 106

1. Kant, Metaphysik der Sitten, 4. Auflage 1922 (ND 1966), S. 158 f.

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

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jede das Recht des Menschen kränkende Handlung verdient Strafe, wodurch das Verbrechen an dem Täter gerächt wird." 1 0 7 Das Strafmaß ergibt sich nach Kant, da es nicht nach Strafzwecken bestimmt werden darf, allein aus dem Wiedervergeltungsprinzip. 108 Die Strafe orientiert sich in ihrer Quantität und Qualität zwingend an der begangenen äußeren Rechtsverletzung. 109 An diesem Punkt setzt die Kritik Wächters an der reinen Vergeltungstheorie Kants an. Die „äußere Verletzung, die der Thäter zufügt," sei „kein Moment nach dem sich das Maß einer gerechten Vergeltung der Schuld unbedingt bestimmen könnte; denn die Schuld hängt wesentlich vom Willen ab und ist oft bei ganz gleichen äußeren Verletzungen höchst verschieden...". 110 Eine Bestrafung allein als Reaktion auf begangenes äußeres Unrecht müsse zu Ungerechtigkeiten führen, weil sie das Maß der persönlichen Verantwortlichkeit nicht ausreichend berücksichtige. Wächter fordert damit eine staatliche Strafe, deren Maß sich allein nach dem Umfang persönlich vorwerfbarer Schuld des Täters richtet.111 Diese individuelle Schuld könne aber nur durch die subjektive Willensbildung begründet werden. Durch die Bildung eines dem zur Rechtsordnung erhobenen „allgemeinen Willen" entgegenstehenden subjektiven Willens nehme die äußere Verletzung der Rechte durch Konkretisierung und Manifestation ihren Anfang. Dieser subjektive Wille als individuelles Merkmal jedes einzelnen Täterverhaltens bestimme in seinen einmaligen Eigenarten die konkrete persönliche Schuld. 112 Bei Wächter kommt daher dem „widerrechtlichen Willen" als entscheidendem Moment des Verbrechens eine Schlüsselposition in der Ermittlung der Strafgerechtigkeit zu. 1 1 3 So „ist... der widerrechtliche Wille ... Bedingung jeder

107

1. Kant, Metaphysik der Sitten, 4. Auflage 1922 (ND 1966), S. 318.

108

1. Kant, Metaphysik der Sitten, 4. Auflage 1922 (ND 1966), S. 159. Vgl. auch: R. v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. I, 1925 (ND 1974), S. 287 f. 109 H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 56. 110

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 16.

111

C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 51.

112

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 22, 68; Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 51; Rezension zu: DrosteHülshoff, Clemens August von, Einleitung in das gemeine deutsche Kriminalrecht, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft, Bd. I, Heft 2, 1826, S. 39, 42; H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 26; ungenannter Rezensent zu C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, Stuttgart 1877, Bd. I, in: Württembergisches Archiv für Recht und Rechtsverwaltung, hrsg. v. F.Ph.F. v. Kübel und E.O.C. v. Sarwey, Bd. XVID, 1877, S. 427, 431 f. 113 C.G. v. Wächter, Die Deutsche Strafrechtswissenschaft des XIX. Jahrhunderts und ihre Aufgaben, in: Jahrbücher der Deutschen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung, hrsg. v. Th. Schletter, Bd. I, 1855, S. 105, 109.

7 Jungemann

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

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Strafe. Sein Dasein genügt aber auch zur Begründung der Strafe, so bald er durch eine auf Realisierung des widerrechtlichen Entschlusses gerichtete Handlung als realer Wille sich manifestiert hat und dadurch in die Objektivität, in das Rechtsgebiet getreten ist." 1 1 4 Außerdem müsse dieser Wille in seinem Werden und seiner Existenz bereits durch staatliche Strafandrohung verhindert oder bekämpft werden. Infolgedessen könne eine Straftheorie nur dann dem unabdingbaren Gebot der Gerechtigkeit genügen, wenn sie neben der Vergeltung der äußeren Rechtsverletzung einen präventiven Zweck verfolge, der mit der Bekämpfung der individuellen Schuld als Willensschuld und Ausgangspunkt objektiver Rechtsverletzung unabdingbar verknüpft sei. 115 Eine Straftheorie der absoluten Vergeltung, ohne Verfolgung des notwendigen Zwecks der Willenssteuerung, führe zu Ungerechtigkeiten im staatlichen Sanktionsanspruch und stehe der Rechtsordnung als Garant individueller Freiheit selbst entgegen.116 „Es wird jetzt mehr und mehr anerkannt, daß nur der Wille des Menschen auf dem Rechtsgebiet eine Schuld begründen kann; daß der widerrechtliche Wille das Wesen des Verbrechens (und eben deßhalb eine wesentliche Beziehung der Strafe) bildet; und daß die Strafe eine von der Gerechtigkeit gebotene Reaktion gegen das Unrecht ist, welche aber nie weiter gehen darf, als der Verbrecher verschuldete." 117 Wächter favorisiert damit eine Strafzwecklehre, die aus Gründen der Strafgerechtigkeit einen „vergeltenden, abschreckenden, bessernden, prävenirenden Character" hat. 118 Gestraft wird nach dem Prinzip der Vergeltung unter der zusätzlichen Bedingung der Gerechtigkeit, die, relativ verstanden, der Bekämpfung des widerrechtlichen Willens entspricht. 119

114

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 22 f.

115

C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 47, 49, 51; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 22 f.; Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 64 f. 116

C.G. v. Wächter, Rezension zu: Droste-Hülshoff, Clemens August von, Einleitung in das gemeine deutsche Kriminalrecht, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft, Bd. I, Heft 2, 1826, S. 39, 42 f.; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 9. 117 C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 20; vgl. auch: Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 55 f.; Die Deutsche Strafrechtswissenschaft des XIX. Jahrhunderts und ihre Aufgaben, in: Jahrbücher der Deutschen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung, hrsg. v. Th. Schletter, Bd. I, 1855, S. 105, 110. 118

C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 63 f.; Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 55 f. 119 H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 305. Vgl. auch den Hinweis auf den Gerechtigkeitsanspruch der Strafzwecktheorie Wächters bei C.R. Köstlin, Neue Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts, 1845, S. 863 Anm. 1).

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

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Damit kann Wächter in ausreichendem Maße den verschiedenen Funktionen staatlicher Strafe gerecht werden. Es ist ihm jedoch wichtig, zu betonen, daß es nicht genüge, diese einzelnen Funktionen beziehungslos nebeneinander zu stellen, sondern der gegenseitigen Abhängigkeit und Bedingtheit präventiver und vergeltender Elemente der Strafe Rechnung zu tragen. 120 Eine Rechtsverletzung müsse vergolten werden nach dem Maß der individuellen Schuld, die in dem von staatlicher Seite zu verhindernden widerrechtlichen Willen ihren Ausgangspunkt finde. 121 Das Schuldurteil knüpft nur an den Willen und seine objektive Diskrepanz zum positiven Recht an. Für die Dogmatik Wächters ist damit ein formeller Rechtsbegriff und eine rein formale Schuldauffassung typisch. 122 Auch die moderne Rechtswissenschaft bemüht sich nach wie vor um einen gerechten Ausgleich der unvermeidbaren Antinomie legitimer Strafzwecke, die nach § 46 Absatz 1 StGB einer ausgewogenen Abstimmung bedürfen. 123 Schon der Wortlaut dieser Regelung zeigt, daß der Richter selbst in der Absicht, den Täter nachhaltig zu „bessern", keine Strafe verhängen darf, die über das Maß persönlicher Schuld hinausgeht. Diese ist demnach damals wie heute nicht nur Grundlage, sondern auch Obergrenze staatlichen Strafanspruchs. 124

3. Nulla poena sine lege Wächter vertritt damit eine Vergeltungstheorie mit lediglich präventivem Einschlag. Insofern steht er der Forderung Paul Johann Anselm v. Feuerbachs (1775-1833) „nulla poena sine lege" 125 naturgemäß skeptisch gegenüber.

120

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 18 f.

121

E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage 1965, S. 285. Wächter lehnt damit auch die „Vermittelnde Vergeltungstheorie" Albert Friedrich Berners (1818-1907) ab, die präventives und vergeltendes Element gleichwertig nebeneinander stellt. Daraus ergäben sich, so Wächter, Unstimmigkeiten in der Bestimmung des Strafmaßes. Vgl. dazu A.F. Berner, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 1. Auflage 1861, §§ 28-32; C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 35 ff.; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 18 f. 122

U. Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Auflage 1995, S. 361.

123

H.-H. Jescheck, Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, § 50IV 5; C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Auflage 1997, § 3, Rdnr. 41 ff. 124 125

BVerfGE 54, 100 (108); BGHSt 20, 264 (266).

P.J.A. v. Feuerbach, Anti-Hobbes oder über die Grenzen der höchsten Gewalt und das Zwangsrecht der Bürger gegen den Oberherm, 1797, S. 207; Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. I, 1799, S. 49 ff, 63 ff, 148 f.; Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen, peinlichen Rechts, 10. Auflage 1828, § 20. 7*

100

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Nach der Lehre Feuerbachs, die vor dem Hintergrund einer Rechtswirklichkeit der vormärzlichen Restaurationsepoche mit dem vom positiven Recht gelösten Sanktionsanspruch des Souveräns entstand126, widerspricht jede Rechtsverletzung dem Staatszweck, der auf Verwirklichung und Erhalt individueller Freiheit und Rechte gerichtet ist. 1 2 7 Wobei Feuerbach aber nie die Garantiefunktion des Strafgesetzes im Verhältnis zum Bürger postuliert, gegen den Strafe als Beschränkung der Freyheit" 128 angewandt werden darf. Zur Verhinderung von Rechtsverletzungen sei der Staat verpflichtet, „psychologischen Zwang" auszuüben.129 Dies müsse durch die Androhung eines körperlichen Übels als unmittelbare Bedingung der Tat geschehen. Zum einen um die „Sinnlichkeit" und das „Begehrungsvermögen" als Ausgangspunkt aller Widerrechtlichkeit von der Begehung eines Unrechts abhalten zu können 130 , zum anderen in der tatsächlichen Zufügung eines staatlich legitimierten Leidens als Ausdruck der Ernsthaftigkeit der generalpräventiven Drohung. 131 Daher sah Feuerbach die besondere Bedeutung des Gesetzes für das Strafrecht darin, daß es die „Strafdrohung zur allgemeinen Kenntnis bringe" und infolgedessen verhindere, daß Beleidigungen im Staate geschehen".132 Damit erhalte der Strafvollzug aber seine Rechtfertigung notwendigerweise erst durch die vorhergehende abschrekkende Drohung des Gesetzes.133 Insofern ist Vollzug lediglich Exekution. 134

126

D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Auflage 1992, § 28 m 2.

127

P.J.A. v. Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. I, 1799, S. 26. Der Staat „ist eine Gesellschaft zum Schutze der Rechte, und alle Rechte, die er besitzt, hat er nur um dieses Zweckes willen(S. 31, 39). Vgl. dazu W. Küper, Rezension zu: J. Bohnert, Paul Johann Anselm Feuerbach und der Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht, 1982, in: Juristen Zeitung (JZ) 1984, S. 565. Instruktiv zur Straftheorie Feuerbachs, W. Küper (Hrsg.), Paul Johann Anselm Feuerbach, Reflexionen Maximen - Erfahrungen, 1993, S. 153 ff. 128

P.J.A. v. Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. I, 1799, S. 31. 129 P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen, peinlichen Rechts, 10. Auflage 1828, §§ 8-20. Vgl. dazu: R. Hartmann, P.J.A. Feuerbachs politische und strafrechtliche Grundanschauungen, 1961, S. 115. 130 P.J.A. v. Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. I, 1799, S. 40, 43 f. 131

P.J.A. v. Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. I, 1799, S. 54; Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen, peinlichen Rechts, 10. Auflage 1828, § 16. 132

P.J.A. v. Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. I, 1799, S. 39. Vgl. dazu auch: E. Wolf, Grosse Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Auflage 1963, S. 555 ff. 133

P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen, peinlichen Rechts, 10. Auflage 1828, §§ 17 f. 134 W. Sellert, H. Rüping, Studien- u. Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Bd. E, 1994, S. 34.

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

101

Damit konnte nach Feuerbach der staatliche Strafanspruch nur insofern durchgesetzt werden, als ein konkretes Verhalten für den Täter durch ein Gesetz von vornherein erkennbar mit Strafe bedroht war: „Nulla poena sine lege". Wächter kann diese Ansicht nicht teilen: „Nimmt man den Satz nulla poena sine lege in dem Feuerbach'sehen Sinne: so ist er falsch ...". 135 Wächter sieht die Berechtigung zur Strafe allein in der Rechtsidee des staatlichen Verbandes begründet. Als Hüter der persönlichen Freiheit sei die Rechtsgemeinschaft schon aus eigener Autorität heraus berechtigt, Strafen anzudrohen und zu vollziehen und die hervorgerufene Rechtsverletzung wieder aufzuheben. 136 Auch daran ist zu erkennen, daß Wächter in der Strafzwecklehre den Schwerpunkt auf den Vergeltungsgedanken legt und dem präventiven Charakter eine eher untergeordnete Bedeutung zuweist. 137 Außerdem unterstellt Wächter Feuerbach, zu kurz zu greifen, wenn er die Strafandrohung zur Voraussetzung der Strafanwendung macht. Denn androhen könne der Staat nur das, was ihm ohnehin aus eigenem Recht zustehe; „das blosse Factum der Drohung macht eine gedrohte Strafe nicht zu einer rechtlichen." 138 Die Drohung ohne ermächtigende Berechtigung könne als formale Größe auf die Zulässigkeit der Strafe keinen Einfluß haben. 139 Dennoch dürfe der Staat im voraus in seinen Gesetzen verkünden, welche Verhaltensweisen mit Strafe bedroht sein sollen. Dabei ist er aber dem Gebot der Gerechtigkeit, dem Maß der individuellen Schuld verpflichtet. Für Wächter liegt der eigentliche Sinn der kodifizierten Strafdrohung allein in dem rechtsstaatlichen Gebot „des Schutzes gegen richterliche Willkühr und der Sicherung der bürgerlichen Freiheit". 140 Nur insofern könne der Drohung als Gültigkeitsvoraussetzung eines Strafgesetzes Bedeutung zukommen. 141 „Ist die Strafe aber

135

C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 52.

136

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 23 f.

137 H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 306. 138

C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 53.

139

C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S.

84 f. 140

C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 85; vgl. dazu die Ausführungen eines ungenannten Rezensenten zu: C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, Stuttgart 1877, Bd. I, in: Württembergisches Archiv für Recht und Rechtsverwaltung, hrsg. v. F.Ph.F. v. Kübel und E.O.C. v. Sarwey, Bd. XVIII, 1877, S. 427, 432. 141 C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 85. Dementsprechend muß die Forderung Wächters in den Verhandlungen der Württembergischen Kammer der Abgeordneten im Jahre 1838 verstanden werden, wenn er für die Bestrafung einer Handlung oder Unterlassung verlangt, daß diese „in einem Gesetze dessen Wort oder Sinne nach

102

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

nicht an sich als eine gerechte nachweisbar: so w i r d sie auch nicht durch eine vorausgegangene Drohung eine gerechte." 1 4 2

IL Wächter und der Liberalismus A n der bis hierhin dargestellten Straftheorie Carl Georg von Wächters zeigen sich ausgesprochen liberale Ansätze und Tendenzen. Der Ausgangspunkt liberalen Rechtsdenkens 1 4 3 des 19. Jahrhunderts als „Epoche

des L i b e r a l i s m u s " 1 4 4 liegt i n der Manifestation der

freiheitsschaffenden

und -erhaltenden Funktion des Staates gegenüber den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft, die als eigentlicher Souverän die Staatsgewalt i n Händen halten. Der staatliche Zusammenschluß übernimmt die Garantie individueller Entfaltung und Freiheitssicherung. 1 4 5 Das liberale Rechtsverständnis verlangt daher eine umfassende Freiheit v o m Staat. D i e Sicherung der inneren Freiheit des Menschen und die Möglichkeit seiner freien Entfaltung stehen i m Mittelpunkt der T h e o r i e . 1 4 6

D i e freie Entwicklung der individuellen Persönlichkeit duldet

infolgedessen grundsätzlich keinen autoritären staatlichen Eingriff, w e i l der Glaube an die Fähigkeit des Menschen zur Selbstbestimmung i m Vordergrund

mit Strafen belegt sind'. (Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten auf dem Landtage von 1838, Bd. I, 5. Sitzung v. 23.1.1838, S. 9). Vgl. ausführlich D. 4 Kapitel 1, IL, 6. 142

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 24.

143

Vgl. zum Liberalismus: L. Gall, Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft", in: Liberalismus, hrsg. v. L. Gall, S. 162 ff.; G. Köhler u. A. Klein, Politische Theorien des 19. Jahrhunderts, in: Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. v. H.-J. Lieber, 2. Auflage 1993, S. 259 ff. 144

W. Sellert, H. Rüping, Studien- u. Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Bd. D, 1994, S. 39. 145 C. Bauer, Liberalismus, in: Staatslexikon, Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, durch die GörresGesellschaft, 6. Auflage 1960, Bd. V, Sp. 370, 374.

146 O. Westphal, Welt- und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus, 1919, S. 206; R. Vierhaus, Liberalismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. v. O. Brunner, W. Conze u. R. Koselleck, Bd. HI, 1982, S. 741, 770, der außerdem auf die Vereinbarkeit von konstitutionellem und liberalem Staatsverständnis im frühen 19. Jahrhundert hinweist. Damit steht Wächters - bereits gezeigte - konstitutionelle politische Auffassung keineswegs seiner liberalen Gesinnung entgegen. Wächter äußert sich in einer Rede vor der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg auf dem Landtage von 1848/49 dahingehend, daß gerade denjenigen Politikern beizupflichten sei, „welche die bürgerliche Freiheit unter dem Banner der konstitutionellen Freiheit er wollen, ..., die Das, was wir auf dem Boden des Rechts erreichen wollen, nämlich die ausg teste Freiheit des Volkes, so weit es mit konstitutioneller Monarchie, Recht und Ordnung bar ist, zu verwirklichen suchen/" (Rede Carl Georg von Wächters auf dem Landtage von Württemberg, Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten auf dem Landtage von 1848/49, 1849, Bd. I, 11. Sitzung v. 4.10.1848, S. 134).

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

103

steht. 147 „Die Idee des Liberalismus ist die Humanität, der Gedanke der Kultur der Menschheit, nach welcher der Mensch, herausgelöst aus allen bedingten sozialen Zuständen ..., beurteilt wird." 1 4 8 Nur ausnahmsweise ist Reglementierung erlaubt. Lediglich wenn ein Individuum die Sphäre des anderen verletzt, ist der Staat zur Reaktion befugt und aufgerufen, um damit, die Worte Kants gebrauchend, die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach dem allgemeinen Gesetz der Freiheit zu vereinigen. 149 Daher darf der Staat im Falle einer Rechtsverletzung nur insoweit mit Hilfe von Sanktionsmaßnahmen in die Rechtssphäre des Täters eingreifen, als es für die Erhaltung der allgemeinen Sicherheit und Freiheit nötig ist 1 5 0 , womit das Strafrecht mangels verfassungsrechtlicher Normierung auch zunehmend den Charakter eines Garanten bürgerlicher politischer Freiheitsrechte annahm.151 Die Strafe darf keinen außer ihr liegenden Zweck erreichen wollen, sondern lediglich die bereits geschehene Schuld sühnen: Strafe ist nach liberalem Verständnis Vergeltung, „quia peccatum est". Dabei ist eine staatliche Sanktion jedoch nur zulässig, wenn und soweit sich der widerrechtliche Wille als persönlich vorwerfbare Schuld des Täters als der Auslöser des Verbrechens darstellt. 152 Ein Anspruch auf bessernden Einfluß auf die Gesinnung des Individuums steht der Rechtsgemeinschaft nicht zu. Dieses liberale Verständnis von der Funktion und Aufgabe des staatlichen Strafanspruchs ist damit mit der bereits entworfenen Strafzwecktheorie Wächters deckungsgleich. Wächter verfolgt eine typisch liberale Schuldauffassung und Straftheorie. 153 Wächters liberale Gesinnung tritt jedoch auch bei seiner ablehnenden Haltung zur Einführung von Geschworenengerichten deutlich hervor: „Ich will nicht die ungeheure Ausdehnung der Polizei in unseren Staaten, ich will nicht,

147 M. Walzer, Liberalismus und die Kunst der Trennung, in: ders., Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, 1992, S. 38 ff.; H.-H. Jescheck, Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, S. 70. 148 H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 3. 149

1. Kant, Metaphysik der Sitten, 4. Auflage 1922 (ND 1966), S. 138 f.

150

W. Naucke, Über den Einfluß Kants auf Theorie und Praxis des Strafrechts im 19. Jahrhundert, in: Philosophie und Rechtswissenschaft, hrsg. v. J. Blühdorn u. J. Ritter, 1969, S. 27, 31. 151 R. Schröder, Die Strafgesetzgebung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Die Bedeutung der Wörter, Festschrift für S. Gagnér, hrsg. v. M. Stolleis, 1991, S. 403, 417 ff. 152 H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 6. 153

U. Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Auflage 1995, S. 361.

104

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

daß sie Strafbehörde s e i . " 1 5 4 Oder: „ I c h war stets ein Gegner einer übergreifenden und Alles fesselnden, das Recht nicht achtenden Polizei; ich habe erklärt..., daß der Polizei jedes Strafrecht entzogen werden sollte, u m sie i n ihre rechten Schranken zurückzuweisen." 1 5 5 Damit trifft Eberhard Schmidts Urteil zu, wenn er Wächter „als Hauptvertreter einer rechtsstaatlich-liberalen Strafrechtsauffassung" bezeichnet. 1 5 6 Dieser Einschätzung folgen Herbert Dannenberg 1 5 7 , Ernst Landsberg 1 5 8 ,

Christian

A h c i n 1 5 9 , U l r i c h Eisenhardt 1 6 0 , Heinz M ü l l e r - D i e t z 1 6 1 , Eduard K e r n 1 6 2 sowie A d o l f L a u f s 1 6 3 . Insoweit findet die These H i n r i c h Rüpings Unterstützung, der darauf hinweist, daß auch gerade i m Strafrecht des 19. Jahrhunderts liberale

154 C.G. v. Wächter, in: Verhandlungen der Germanisten zu Lübeck am 27., 28. und 30. September 1847, 1848, S. 124.

155 C.G. v. Wächter, in: Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg auf dem Landtage von 1848/49, 1849, Bd. I, 15. Sitzung v. 24.10.1848, S. 215. Wächter setzte sich auch für die Berufung des Liberalen Robert von Mohl an die Universität Göttingen nachhaltig ein. Mohl war wegen seiner Kritik an der Regierung aus württembergischen Diensten entlassen worden; insofern bestanden in Hannover Bedenken gegen seine Lehrtätigkeit. Instruktiv dazu das Schreiben Wächters an Mittermaier vom 8. März 1846: „Die Mohlsche Sache hat mir vielen Verdruß gemacht. Ich tat amtlich und außeramtlich, was ich konnte, um ihn zu halt gewünscht hätte ich, daß er nach Heidelberg (berufen) worden wäre und ich hoffe, daß dies auch nicht gleich jetzt, doch später noch geschieht." Vgl. auch O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 61 f.; M. Stolleis, Mohl, Robert von, in: HRG, hrsg. von A. Erler und E. Kaufmann, 1997, Bd. ffl, Sp. 617-621. 156

E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage 1965,

S. 284. 157 H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 15, 17, 26, 28. 158

E. Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abtlg., 2. Halbbd., Noten, 1910, S. 183, Note 16. 159 C. Ahcin, Zur Entstehung des bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen von 1863/65, in: IUS COMMUNE, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 85, 1996, S. 190. 160

U. Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Auflage 1995, S. 361.

161

H. Müller-Dietz, Das Leben des Rechtslehrers und Politikers Karl Theodor Welcker, in: Beiträge zur Freiburger Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, Heft 34, 1968, S. 10. 162 E. Kern, Karl Georg von Wächter, in: Schwäbische Lebensbilder, hrsg. v. H. Haering u. O. Hohenstatt, Bd. 1 1940, S. 545, 552. 163 A. Laufs, „Das wirklich geltende, durch den allgemeinen Willen gesetzte Recht". Zur Rechtslehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), in: Festschrift für K. Kroeschell, 1997, S. 617, 619, 621, 634; ders., Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: ZWLG, 1998, S. 285, 287, 290, 303. Hingegen betont E. Sieber, Stadt und Universität Tübingen in der Revolution von 1848/49, 1975, S. 23 Wächters politisch konservative Haltung. So auch F. Elsener, Der Jurist Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477-1977, 1977, S. 471, 487, Anm. 28 f., m. w. N. Zum politischen Standpunkt Wächters vergleiche den biographischen Abschnitt, Teil 2.

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

105

Positionen vertreten wurden, die eine Stärkung der Rechtsposition des Individuums gegenüber dem staatlichen Sanktionsanspruch favorisierten. 1 6 4 Die aufgezeigte liberale Gesinnung Wächters gründet sich i n nicht unerheblichem Maße auf die i m Folgenden aufzuzeigende geistig-ideele Nähe zu K a r l Theodor Welcker i n rechtspolitischen Fragen. 1 6 5 Welcker gilt m i t K a r l von Rotteck (1775-1840) als einflußreichster Protagonist des deutschen Liberalism u s 1 6 6 , i m deutschen Südwesten sogar als entscheidende Stifterfigur 1 6 7 . Das von ihnen herausgegebene „Staats-Lexikon" 1 6 8 , i n dem Wächter mehrfach A r t i k e l verfaßte 1 6 9 , w i r d als „ K o m p e n d i u m des liberalen Denkens i m 19. Jahrhund e r t " 1 7 0 , als , 3 i b e l des deutschen Liberalismus i m V o r m ä r z " 1 7 1 , als liberales „Glaubensbekenntnis" 1 7 2 oder auch als „Tribüne liberaler

Programmatik" 1 7 3

bezeichnet. H i n z u kommt ein reger und inhaltsreicher Briefwechsel mit einem der bedeutendsten Strafrechtswissenschaftler des 19. Jahrhunderts, dem Liberalen Carl Joseph A n t o n Mittermaier (1787-1867). 1 7 4

164 W. Sellert, H. Rüping, Studien- u. Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Bd. H, 1994, S. 39. 165

Vgl. dazu H. Müller-Dietz, Das Leben des Rechtslehrers und Politikers Karl Theodor Welcker, in: Beiträge zur Freiburger Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, Heft 34, 1968, S. 10. 166

W. Pöggeler, Die deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht, in: Comparative Studies in Continental and Anglo-American Legal History, Bd. 16, 1995, S. 60. Vgl. auch H. Klenner, Natürliches Recht und liberaler Rechtsstaat im Vormärz, in: Rechtsphilosophie bei Rotteck/Welcker, 1994, S. 390 f. 167 H. Brandt, Das Rotteck-Welckersche „Staats-Lexikon", Einleitung zum Neudruck, in: Das Staats-Lexikon, hrsg. v. K. v. Rotteck und K. Welcker, Neudruck der 2. Auflage, 1990, S. 15. 168

Das Staats-Lexikon, Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, 12 bzw. 14 Bände, 3 Auflagen, 1834-1866. 169

Vgl. dazu die biographischen Ausführungen, Teil 2.

170

N. Hempel, Richterleitbilder in der Weimarer Republik, in: Rechtshistorische Reihe 4, 1978, S. 24. 171 Kleinheyer/Schröder (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. Auflage 1996, S. 351. 172

H. Zehntner, Das Staatslexikon von Rotteck und Welcker, in: List-Studien, Heft 3, 1929 (ND 1984), S. 61. 173 H. Fenske, Baden 1830-1860, in: Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte, hrsg. v. H. Schwarzmaier, Bd. 3, 1992, S. 79, 105. H. Brandt bezeichnet es als Katechismus des Liberalismus", in: Das Rotteck-Welckersche „Staats-Lexikon", Einleitung zum Neudruck, in: Das Staats-Lexikon, hrsg. v. K. v. Rotteck und K. Welcker, Neudruck der 2. Auflage, 1990, S. 24. Inhaltsreich dazu auch H. Klenner, Natürliches Recht und liberaler Rechtsstaat im Vormärz, in: Rechtsphilosophie bei Rotteck/Welcker, Texte aus dem Staats-Lexikon 1834-1847, hrsg. v. H. Klenner, 1994, S. 390-418. 174

Briefwechsel C.G. v. Wächter an C.J.A. Mittermaier, 1833- 1851. Vgl. dazu ausführlich die biographischen Ausführungen, Teil 2. Instruktiv zu C.J.A. Mittermaier: H. Rüping, Studien- u. Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Bd. II, 1994, S. 40; E. Schmidt,

106

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

HI. Karl Theodor Welcker als Vorbild Sucht man nach den Grundlagen und Vorbildern der Straftheorie Wächters, so gibt er selbst den entscheidenden Hinweis. Am 19. September 1819 schreibt Wächter an seinen Vater: In der mündlichen Prüfung zur ersten juristischen Staatsprüfung in Tübingen ,platte ich treffliche Gelegenheit, Welcker's Theorie durchzufechten und gegen Feuerbach etwas zu polemisieren" 175 . Auch in der höheren Dienstprüfimg für das Departement der Justiz am 30. Januar 1819 verficht Wächter im ,,Kriminalrechte" die Straftheorie Karl Theodor Welckers (1790-1869) trotz des Widerstandes seiner Prüfer. So hielt er unter demselben Datum in seinem Tagebuch fest: „Im Kriminalrecht aber habe ich mehrere Fragen unrichtig beantwortet - nämlich - nach der Welcker'schen Theorie ..." Trotz aller Anfechtung gibt er die Absicht jedoch nicht auf, sich weiterhin kritisch mit Welcker auseinanderzusetzen:,,Mit doppeltem Eifer will ich mich darauf legen, Welckers Theorie von Neuem zu prüfen; was ich aber dann als Wahrheit nach meiner festen und reinen Überzeugung gefunden habe, auch überall und immer als Wahrheit bekennen, verkünden und verbreiten, und nie sie verleugnen." 1 7 6 Außer der Überzeugung von der Richtigkeit seiner Straftheorie empfand Wächter eine tiefe Zuneigung zu seinem Heidelberger Lehrer, bei dem Wächter im Wintersemester 1817/18 hörte. 177 Aber auch nach eingehender kritischer Prüfung und Auseinandersetzung der Straftheorien bleibt er der „Wiederherstellungstheorie von Welcker" 178 treu. 179

Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage 1965, S. 288 ff.; E. Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abtlg., 2. Halbbd., Text, 1910, S. 413 ff.; K. Lüderssen, Karl Joseph Anton Mittermaier und der Empirismus in der Strafrechtswissenschaft, JuS 1967, S. 444 ff.; W. Küper (Hrsg.), Carl Joseph Anton Mittermaier, 1988; W. Küper (Hrsg.), Heidelberger Strafrechtslehrer im 19. und 20. Jahrhundert, 1986, S. 43 ff.; 69 ff.; 101 ff. 175 Zitiert nach: B. Windscheid, Carl Georg von Waechter, 1880, S. 4; O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 17. 176

Zitiert nach: O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 19.

177

,yAn Welcker glaube ich nach allen Seiten ganz Das gefiinden zu haben, was ich immer unter einem akademischen Lehrer, wie er sein sollte, vorstellte; einen Lehrer, vol für seine Wissenschaft und durchdrungen von der Wichtigkeit derselben, in seinem ... äußerst klar und im höchsten Grade gründlich, mit dem unermüdeten Streben, seine Zuhö klaren Verstehen seiner Behauptungen und zur festen Überzeugung von der Richtigkeit d ...zu bringen, und endlich ... durchaus richtig in seinen Ansichten; und dazu noch ... als Me von einem gewiß ganz herrlichen CharakterSo C.G. v. Wächter an Weishaar in Stuttgart im Dezember 1817 (Zitiert nach: O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 8 f.). 178 C G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 43; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 19.

179 Jch gehe hier jedes Mal vor dem Kolleg einen ganzen Abschnitt in Feuerbach durch, trachte sein Verhältnis zu dem ganzen Feuerbach 'sehen System und wie er aus dessen G zen folgen muß, sehe in welchen Punkten er von Welcker, wegen der verschiedenen Sy Beider, abweichen mußte, und suche ihn so nach Welckers System zu beurtheilen und zu b

107

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie I n seinem „Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts" 1 8 0

beschreibt

Wächter noch keine eigene Straftheorie. Vielmehr beschränkt er sich auf eine ausfuhrliche Darstellung der Theorie Welckers 1 8 1 unter gelegentlichen, nie aber ihren Kern treffenden M o d i f i k a t i o n e n 1 8 2 . Dabei bezeichnet er die Welckersche Lehre v o m Strafzweck als die „allein r i c h t i g e " 1 8 3 . I n der Literatur besteht weitgehend Einigkeit über die Vorbildfunktion und den Einfluß K a r l Theodor Welckers. „ K e i n geringerer als Carl Georg von Wächter bekannte sich später als sein (Welckers, d. Verf.) Schüler." So umschreibt Heinz Müller-Dietz das Verhältnis zwischen den beiden leidenschaftlichen Hochschullehrern und Wissenschaftlern. 1 8 4 Ferdinand Elsener weist insbesondere darauf hin, daß Wächter i n zahlreichen Schriften die Straftheorie Welckers verteidigt habe und v o n ihre wesentlich beeinflußt worden sei. 1 8 5 Die grundlegende Ausrichtung Wächters an der Lehre W e l c k e r s 1 8 6 i n der Straftheorie als Fundament des Strafrechts betonen Herbert Dannenberg, Eduard Hoelder, Bernhard Windscheid, Hugo Meyer, Ernst Landsberg, Nikolaus Sandmann und Joachim Rückert. 1 8 7

gen"\ C.G. v. Wächter an Weishaar in Stuttgart im Dezember 1817 (Zitiert nach: O. v. Wächter, Carl Georg von Wächter, 1881, S. 10). 180

C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, 1. Theil, 1825, S. 37-56.

181

C G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, 1. Theil, 1825, S. 51 f., 52-

182

C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, 1. Theil, 1825, S. 52-56.

183

C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, 1. Theil, 1825, S. 52.

56.

184

H. Müller-Dietz, Das Leben des Rechtslehrers und Politikers Karl Theodor Welcker, in: Beiträge zur Freiburger Wissenschpfts- und Universitätsgeschichte, Heft 34, 1968, S. 10,20. 185 F. Elsener, Der Jurist Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477-1977, 1977, S. 471, 473. 186 Dafür spricht auch eine Anmerkung in der Rezension Wächters: Droste-Hülshoff, Clemens August von, Einleitung in das gemeine deutsche Kriminalrecht zum Gebrauch für akademische Vorlesungen, Bonn 1826, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft, Bd. I, Heft 2, 1826, S. 39, 43. Dort weist er darauf hin, daß er in der Lehre über den Grund und Zweck der Strafe vollständig mit der Theorie Welckers übereinstimme. Die von C.E. v. Droste-Hülshoff vertretene Strafzwecktheorie orientiert sich inhaltlich allein an der von K.Th. Welcker vertretenen Lehre und bringt keine eigenständigen Erklärungsversuch, worauf schon Wächter in seiner oben angeführten Rezension hinweist. Daher kann C.E. v. Droste-Hülshoff als Vorbild im Rahmen der Entwicklung einer Strafzwecklehre Wächters vernachlässigt werden. Lesenswert ist jedoch das Vorwort zu. C.E. v. Droste-Hülshoff, Einleitung in das gemeine Deutsche Kriminalrecht, 1826, S. in ff. Dort findet sich ein äußerst amüsantes „Kabinettstückchen" verletzter Gelehrteneitelkeit, die Antrieb für so manche wissenschaftliche Auseinandersetzung war und sich nicht nur im vergangenen 19. Jahrhundert beobachten läßt. 187 H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 17 ff; E. Hoelder, Carl Georg von Waechter, 1897, S. 8; B. Windscheid, Carl Georg von Waechter, 1880, S. 2, 4; H. Meyer, Karl Georg von Waechter, 1898, S. 8, 30; E. Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abtlg., 2. Halbbd., Text,

108

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Diese Einschätzung wird im Rahmen einer Darstellung der Grundzüge der Straftheorie Welckers überprüft; dabei sollen die Ursprünge und Eigenarten der Lehre Wächters aufgezeigt werden.

1. Das Staatsverständnis

Karl Theodor Welckers

Der Staat ist für Welcker die „geordnete Vereinigung eines Volkes zur fortdauernden Realisierung des anerkannten höchsten Gesetzes, oder auch des höchsten Gutes". 188 Wesentliche Grundlage dieser Rechtsgemeinschaft sei die „mit Freyheit und Besonnenheit erklärte Einwilligung in das Rechtsgesetz".189 Damit klingt hier ebenfalls die - bereits bei Wächter gezeigte - Theorie Kants von der bewußten Einwilligung aller in das Rechtsgesetz als Voraussetzung der Verwirklichung individueller Freiheit an. 190 „Nur das durch Einwilligung aller, vermittelst des Grades der Cultur der Bürger und der Rechtsidee zur Realität gekommene objective Recht ist das allein gültige ... . " 1 9 1 Carl Ludwig von Bar will in dieser Willensübereinstimmung sogar die Vertragstheorie Fichtes in abgeschwächter Form wiederfinden. 192 Jedoch ist bei Welcker ein Verlust aller Rechte des Delinquenten als notwendige Folge der Rechtsverletzung nicht nachweisbar; ebenso fehlt die Konstruktion eines „Abbüßungsvertrages". Trotzdem erfolgt bei Welcker die Komposition des Staates durch Verträge zwischen dessen einzelnen zukünftigen Gliedern. 193 Er verlangt dazu jedoch

1910, S. 385; N. Sandmann, Grundlagen und Einfluß der internationalprivatrechtlichen Lehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), 1979, S. LXVI; J. Rückert, August Ludwig Reyschers Leben und Rechtstheorie. 1802-1880, in: Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, Bd. Xm, 1974, S. 37. Vgl. auch die Ausführungen eines ungenannten Rezensenten zu: C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, Stuttgart 1877, Bd. I, in: Württembergisches Archiv für Recht und Rechtsverwaltung, hrsg. v. F.Ph.F. v. Kübel und E.O.C. v. Sarwey, Bd. XVm, 1877, S. 427, 432 f. und die zeitgenössische Einschätzung C.R. Köstlin, Neue Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts, 1845, S. 770 Anm. 1), 771. 188

K. Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 7.

189

K. Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 250.

190

H. Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 3. Auflage 1998, S. 82; H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 18 Anmerkung 8). 191

K. Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 82. Vgl. die Wortlautidentität zu C.G. v. Wächter, Handbuch des Privatrechts, Bd. I, 1. Halbbd., 1839, S. 9, 10 f. Ausführlich dazu W. Dippel, Wissenschaftsverständnis, Rechtsphilosophie und Vertragslehre im vormärzlichen Konstitutionalismus bei Rotteck und Welcker, 1990, S. 434 ff. 192 C.L. v. Bar, Geschichte des deutschen Strafrechts und der Strafrechtstheorien, Bd. I, 1882, S. 265 f. 193

K.H.L. Welker, Welcker, Karl Theodor, in: HRG, hrsg. von A. Erler, E. Kaufmann und D. Werkmüller, 1998, Bd. V, Sp. 1252, 1253.

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

109

keinen formalen Vertragsschluß, sondern hält den allgemeinen „consensus omnium" für die entscheidende Voraussetzung zur Verwirklichung der Rechtsgemeinschaft. 194 Nach Welcker ist eine vernünftige Weltordnung ohne innere Harmonie ihrer Kräfte nicht vorstellbar. 195 Insofern müsse das vornehmliche Ziel allen staatlichen Handelns in der Schaffung und Erhaltung der Harmonie menschlichen Zusammenlebens liegen. 196 Das Wesen der Rechtsgemeinschaft bestehe daher in der Übereinstimmung des Individuums mit den staatlichen Gesetzen, also in der bewußten Ausrichtung des individuellen Verhaltens nach dem anerkannten Grundwertekonsens. 197 Insoweit stimmen Welcker und Wächter mit dem Staatsverständnis Kants überein.

2. Der Strafzweck

bei Welcker

Welckers Lehre 198 vom Zweck staatlicher Strafe beruht im wesentlichen auf der Wiederherstellung der Harmonie individueller Interessen im staatlichen Verband, die durch die Rechtsverletzung aus dem Gleichgewicht gebracht wird. 1 9 9 Angriffspunkt eines staatlichen Sanktionsanspruchs ist demnach der sogenannte intellektuelle Schaden, wobei die Regulierung der materiellen Schädigung in den Bereich des Zivilrechts gehöre. 200 Auch Wächter nimmt diese Trennung ausdrücklich vor. 2 0 1 Wichtig für die Form der Wiederherstellung ist der Bedeutungsgehalt des immateriellen Schadens.202 Das Verbrechen beweise beim Täter einen beste194

W. Dippel, Wissenschaftsverständnis, Rechtsphilosophie und Vertragslehre im vormärzlichen Konstitutionalismus bei Rotteck und Welcker, 1990, S. 306 f. 195 H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 18. 196

K.Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 117 f.

197

K.Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 122.

198

Die Grundlagen und Voraussetzungen der Lehre Welckers lassen sich auf die Theorie Wilhelm v. Humboldts zurückführen, in: W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, 1851. Vgl. H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 20 f. 199 K.Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 126, 130, 266. Vgl. auch H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 166. 200

K.Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 250 f. Vgl. auch C.L. v. Bar, Geschichte des deutschen Strafrechts, S. 266. 201 202

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 2.

H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 166.

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Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

henden Mangel des rechtlichen Willens bei der Achtung fremder Würde und des Rechtsgesetzes, ein Übermaß an sinnlichen Trieben und einen Mangel an Harmonie mit den Forderungen des Gesetzes. Außerdem verliert er bei den übrigen Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft das Zutrauen als tauglicher Mitbürger. 203 Durch das Hervorrufen von Verachtung, Groll oder Furcht ist das notwendige Friedensverhältnis gestört. 204 Bei den Mitgliedern der staatlichen Gemeinschaft seien jedoch ebenfalls negative Auswirkungen des Verbrechens festzustellen. Die Nichtachtung der Gesetze durch den Täter fordere die übrigen Mitbürger ebenfalls zu Rechtsverletzungen heraus, denn das schlechte Beispiel führe zu einer Schwächung der Achtung vor dem Rechtsgesetz, das seine Aufgabe als Gegenpol zu den sinnlichen Trieben des Menschen insofern nicht mehr erfüllen könne. 205 Die Achtung der Rechtsordnung leide insbesondere auch durch die Beleidigung" des Verbrechensopfers selbst, indem gerade dieses durch die erlittene Wirkungslosigkeit der Rechtsordnung enttäuscht und infolgedessen selbst zur Begehung von Straftaten veranlaßt werden könnte. 206 Bei der Darstellung des immateriellen Schadensbegriffs fallt die Bedeutung des subjektiven widerrechtlichen Willens als Ausgangspunkt der Rechtsverletzung und des Strafanspruchs auf. Nach Welcker haben die verschiedenen Zielrichtungen des immateriellen Schadens stets die Aufhebung des innerhalb der staatlichen Organisation unabdingbaren rechtlichen Willens zum Inhalt. 207 So bemerkt Ferdinand Carl Theodor Hepp zur Bedeutung des willentlichen Moments der Rechtsverletzung bei Welcker: „Dieser Schade(n) ist ein ... intellektueller, welcher in der Störung des Princips des rechtlichen Willens besteht, ohne welchen eine rechtliche Ordnung der Dinge im Staat nicht gedacht werden kann ... . " 2 0 8 Ebenso wie Wächter kann im Welckerschen System eine individuelle Schuld allein durch den widerrechtlichen Willen ausgelöst und in ihrer Wertigkeit bestimmt werden. 209 An diesem Maßstab muß sich der staatliche Strafanspruch ausrichten, um dem Gerechtigkeitsgebot zu genügen. Daher bein203

K.Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 252.

204

K.Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 253.

205

K.Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 253,255.

206

K.Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 255. So auch C.A. v. Droste-Hülshoff, Einleitung in das gemeine Deutsche Kriminalrecht, 1826, S. 8. 207

C.L. v. Bar, Geschichte des deutschen Strafrechts und der Strafrechtstheorien, Bd. I, 1882, S. 266; H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 18 f.; H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9,1984, S. 166. 208 209

F.C.Th. Hepp, Kritische Darstellung der Strafrechts-Theorien, 1829, S. 111.

K.Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 267. So auch bei C.E. v. Droste-Hülshoff, Einleitung in das gemeine Deutsche Kriminalrecht, 1826, S. 8.

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

111

haltet die Wiedervergeltung auch die von Wächter geforderte subjektive Wirkung: Die Aufhebung des widerrechtlichen Willens als Ursache jeder Rechtsverletzung. Die objektive Richtung der Strafe, die Wiederaufhebung der Rechtsverletzung, ist ebenfalls streng an den Verschuldensmaßstab gebunden, wofür die Größe der äußeren Tat nur den Erkenntnisgrund darstellt. 210 Die staatliche Strafe ist daher bei Wächter, ebenso wie bei Welcker, im Rahmen der Wiedervergeltungsfiinktion auf Aufhebung der äußeren Rechtsverletzung, als auch des subjektiven widerrechtlichen Willens als Ausgangspunkt des Verbrechens gerichtet. Welcker fordert diesbezüglich, ebenso wie Wächter, die Demonstration der „Unverletzlichkeit und Heiligkeit des Rechtes" 211 durch den staatlichen Sanktionsausspruch. 212 Neben dieser Wiedervergeltungsfiinktion weist Welcker der staatlichen Strafe auch eine generalpräventive Zweckrichtung zu. Die Strafe soll mit der Androhung eines sinnlichen Leids infolge der Verbrechensbegehung die menschliche Triebhaftigkeit bei der Verwirklichung widerstreitender Interessen eindämmen.213 Sie diene damit der vernunftbedingten Beschränkung menschlicher Sinnlichkeit 214 und der Verwirklichung des eigentlichen Zweckes des obersten Gesetzes jeden Staates, der Harmonie. 215 Da der Mensch staatliche Gebote aber nur befolge, soweit ihr Prinzip die ihn steuernden Gefühle der Lust oder Unlust anzusprechen vermag 216 , greift Welcker damit den generalpräventiven Gedanken aus der Theorie des psychologischen Zwangs Feuerbachs auf. 217 „Insofern ist die Strafe zugleich ein Abschreckungsmittel für Andere." 218

210 H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 19. 211

Vgl. die Wortlautidentität zu C.G. v. Wächter: ,ßine Rechtsordnung kann nur dadurch bestehen und erhalten werden, dass Diejenigen, unter denen sie bestehen soll, sie, gleichv welchen Motiven, erhalten wollen, dass also in ihnen die Ueberzeugung besteht, die O solle und müsse heilig gehalten werden, dass sie ihnen in der Idee als unverletzlich ers (Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 50). 212

K.Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 262. Vgl. auch C.E. v. Droste-Hülshoff, Einleitung in das gemeine Deutsche Kriminalrecht, 1826, S. 7 f. 213 K.Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 262 ff., 274. So auch C.E. v. Droste-Hülshoff, Einleitung in das gemeine Deutsche Kriminalrecht, 1826, S. 9. 214

H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 168. 215

K.Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 123.

216

K.Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 9,123.

112

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Auch hier ist die Gemeinsamkeit mit Wächters Straftheorie auffällig, die zwar das Hauptgewicht ebenfalls auf die Wiederaufhebung des nach der persönlichen Schuld zu bemessenden immateriellen Schadens legt, dabei aber durchaus die psychologische Abschreckungswirkung einer Strafandrohung erkennt und bewußt zur Erhaltung der Funktion der Rechtsgemeinschaft einsetzt. Jedoch werden die Elemente der Abschreckungs- und der Präventionstheorie nicht einfach nebeneinander gestellt, wie es Carl Ludwig v. Bar behauptet 219 , sondern es wird gemäß der Forderung Wächters die abschreckende Wirkung als logische Folge der Wiedervergeltung betrachtet. In einem wesentlichen Punkt jedoch unterscheidet sich die Theorie Welckers von der Wächters: Der staatliche Sanktionsanspruch soll den Täter bessern, ihn wieder zum tauglichen Glied menschlicher Rechtsgemeinschaft machen. 220 Durch die Sühne in Form von Strafe gelinge es dem Rechtsverletzer, die zerstörerische Wirkung seines Handelns zu erkennen und seinen inneren Willen als Ursprung allen menschlichen Tuns nach dem verbindlichen allgemeinen Grundwertekonsens neu auszurichten und zu steuern. 221 Mit der durch die bessernde Strafe erfolgten Tilgung des Mißtrauens der Mitbürger sei es möglich, das notwendige Friedensverhältnis neu zu schaffen. 222 Nur insofern hat der Täter die Gelegenheit, den Weg zurück in die für die Verwirklichung persönlicher Freiheit unabdingbare Rechtsgemeinschaft zu finden und sein Verhalten zu überdenken. Nach erfolgter Sühne als Erziehungsmittel ist der Verbrecher nach Welcker wieder in der Lage, als vollberechtigtes Mitglied an der Rechtsgemeinschaft teilzuhaben.223

217 C.L. v. Bar, Geschichte des deutschen Strafrechts und der Strafrechtstheorien, Bd. I, 1882, S. 265; H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 19; H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 168. 218

F.C.Th. Hepp, Kritische Darstellung der Strafrechts-Theorien, 1829, S. 112.

2,9

C.L. v. Bar, Geschichte des deutschen Strafrechts und der Strafrechtstheorien, Bd. I, 1882,

S. 265. 220

H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 19, 21; C.L. v. Bar, Geschichte des deutschen Strafrechts und der Strafrechtstheorien, Bd. I, 1882, S. 265 f., 268; F.C.Th. Hepp, Kritische Darstellung der Strafrechts-Theorien, 1829, S. 112. 221

K.Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 258.

222

K.Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 261, 263, 265 f.

223 H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 21.

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

113

Insofern wird bei Welcker nicht nur die Tat in Form der Wiedervergeltung, sondern auch der Täter zu Besserungszwecken gestraft. Wächter dagegen, hier zeigt sich wiederum seine liberale Gesinnung, lehnt jede Einflußnahme auf das innere Wesen des Täters - wie gezeigt - ausdrücklich ab. Die staatliche Gemeinschaft habe lediglich das äußere Funktionieren des Rechtslebens zu organisieren und zu erhalten. Letztlich hat die Strafe bei Welcker zusätzlich eine reine Sicherungsfunktion. Es gilt den Bürgerverein von den Unverbesserlichen, denen keine Achtung der Tugend und des Rechts zugetraut werden kann, zu reinigen. 224 Der Täter, der sich nachweislich und nachdrücklich als für die menschliche Gemeinschaft unwürdig erwiesen habe, müsse zum Schutze der übrigen Bürger dauerhaft von der Verwirklichung eines widerrechtlichen Willen abgehalten werden. 225 Insoweit hat die Strafzwecklehre bei Welcker auch spezialpräventive Elemente, die Wächter als zulässiges Element staatlicher Strafe nachdrücklich anerkennt. Festhalten läßt sich insoweit, daß Wächter seinem Vorbild Welcker in den wesentlichen Zügen seiner Straftheorie folgt und lediglich in einzelnen Punkten eigene Wege beschreitet. 226 Kennzeichnend ist auch in diesem Zusammenhang, daß Wächter eine Lehre favorisiert, die auf Ausgleich der gegensätzlichen Positionen im Streit um die „gerechte" Straftheorie gerichtet ist. Für die Beständigkeit Wächterschen Rechtsdenkens spricht der Umstand, daß er die Lehre Welckers von Studententagen an favorisierte und der eigenen Theorie bis zuletzt als Fundament unterlegt. Auch wenn Eberhard Schmidt Wächter als den „nach Feuerbach und vor Karl Binding bedeutendsten Dogmatiker des Strafrechts" 227 einordnen will, so gilt es doch gerade, die auf Ausgleich gegensätzlicher Positionen gerichtete, vermittelnde Tendenz seiner Straftheorie, die damit zwingend nachhaltiger Pointierung verlustig geht, gebührend zu berücksichtigen. Hierin liegt das entscheidende Moment für die Erklärung seiner bescheidenen Wirkungsgeschichte. Wächter hat letztlich, so formuliert es Eduard Hoelder, „keine neuen Bahnen

224

K.Th. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 257 f., 261, 266.

225

H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 19; F.C.Th. Hepp, Kritische Darstellung der StrafrechtsTheorien, 1829, S. 112; C.L. v. Bar, Geschichte des deutschen Strafrechts und der Strafrechtstheorien, Bd. I, 1882, S. 265. 226

Vgl. F. Elsener, Der Jurist Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477-1977, 1977, S. 471, 473. 227

E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage 1965,

S. 284. 8 Jungemann

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Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

gebrochen und keinen neuen Grund gelegt" 228 . Wächter hat durchaus keine strafrechtstheoretische Schule begründet.

IV. Der Strafvollzug Anders als die Vertreter einer ausschließlich präventiven Straftheorie ist Wächter als Anhänger der Lehre von der Wiedervergeltung nicht in der Pflicht, die Strafzufügung nach erfolgter Androhung rechtfertigen und begründen zu müssen.229 Im Gegensatz zu Feuerbach, der über die vielfach angegriffene B e dingungstheorie" 230 die rechtliche Verknüpfung zwischen der Strafandrohung und ihrem tatsächlichen Vollzug herstellt, liegt für Wächter, obwohl er eine präventive Wirkung durchaus anerkennt, gerade im Strafvollzug die eigentliche Erfüllung des Zwecks staatlicher Strafe: die Wiederaufhebung des begangenen Unrechts. Dennoch ist für ihn die Ausgestaltung des konkreten gesetzlichen Strafmaßes von entscheidender Bedeutung; insofern, als damit dem in der Begründung seiner Straftheorie entscheidenden Gerechtigkeitsgedanken zu genügen ist. Als praktisch orientierter Jurist dient die tatsächliche Ausgestaltung der positiven Gesetze als Anknüpfungspunkt seiner Argumentation; nicht nur die rein theoretische Überlegung. „Die Wahl und nähere Bestimmung der zulässigen Strafinittel überhaupt gehört zu den wichtigsten, aber auch schwierigsten legislativen Aufgaben; von der Art und Weise, wie sie gelöst wird, hängen Geist und Wirksamkeit einer Gesetzgebung wesentlich ab." 2 3 1 Jedoch muß gerade die detaillierte Ausgestaltung eines gerechten Strafinaßes jedes einzelnen Straftatbestandes mit besonderer Aufmerksamkeit erfolgen., Allein ist es nicht von der größten Wichtigkeit, wie nun das an sich gerechte und zu rechtfertigende System auf jedes einzelne Verbrechen angewendet wird? Können nicht auch beim besten Strafsystem die grellsten Ungerechtigkeiten begangen werden, wenn das Gesetz bei den einzelnen Verbrechen mit hohen Strafen, mit Infamie und dergl.

228

E. Hoelder, Carl Georg von Wächter, 1897, S. 4.

229

Zur Rechtfertigung des Vollzugs staatlicher Strafe vgl. die Ausführungen zum Staatsverständnis Wächters. 230

Auch Wächters Kritik der Feuerbachschen Lehre von der generalpräventiven Wirkung staatlicher Strafe setzt an dieser Stelle an. Vgl. C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 11 f.; Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 17 ff. Instruktiv zur Straftheorie Feuerbachs W. Küper (Hrsg.), Paul Johann Anselm Feuerbach, Reflexionen Maximen - Erfahrungen, 1993, S. 153 ff. Genauere Ausführungen zur Kritik Wächters an der Lehre Feuerbachs im folgenden Abschnitt. 231 C G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 175 f.; vgl. auch C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S. VI.

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

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zu freigiebig ist? Kann nicht durch eine Detailbestimmung der rechtlichen Freiheit der empfindlichste Eintrag gethan werden?" 232

1. Das Strafmaß als akademisches Thema 233 Ausdruck eines ungerechten Strafsystems sind für Wächter starre Strafrahmen, an die sich der Richter unbedingt zu halten habe, ohne in ausreichendem Maße den Grad der individuellen Schuld des Täters berücksichtigen zu dürfen 234 , wie noch von Feuerbach im bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 in großer Zahl favorisiert. 235 Durch absolut bestimmte Strafen und äußerst enge Strafrahmen, die der elementare Satz der Straftheorie Feuerbachs „nulla poena sine lege" unausweichlich vorzeichnete, sollte die Willkürlichkeit der richterlichen Ermessensentscheidungen durch eine enge Bindung an das positive Gesetz weitgehend eingeschränkt werden, um so eine jede Täterindividualität negierende Abstraktheit des Strafrechts zu erreichen. 236 Wächter wendet sich gegen eine solche Art der Strafrahmenbestimmung, um nicht Tätern mit unterschiedlichen persönlichen Schuldvorwürfen dasselbe Strafmaß aufzuerlegen. Zum einen würde durch diese Ungerechtigkeit das Vertrauen in die Rechtsordnung 237 erschüttert und zur Begehung schwerer Rechts-

232

C.G. v. Wächter, Die Ausübung der Gesetzgebungsgewalt unter Theilnahme von Ständeversammlungen und insbesondere die Verhandlungen der Württ. Kammer der Abgeordneten über das Königl. Württembergische Strafgesetzbuch, in: AdCNF 1839, S. 345, 354 f. 233

Vgl. dazu H. Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts, 4. Auflage 1996, Rdnr. 52. 234 C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 21,26 f.; Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 158 f., 161, 162; Beitrag zur Geschichte und Kritik der Entwürfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, 1870, S. 58 f., 71, 119; lediglich an einer Stelle spricht er sich ohne nähere Begründung im Zusammenhang der Zulässigkeit der Todesstrafe für absolut festgesetzte Strafen aus (Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 92 Anmerkung 2)). 235

Vgl. zur Kettenstrafe: Art. 60, 71, 114, 158, 238, 249, 291, 322; zur Todesstrafe Art. 146, 150, 158, 189, 239-241 des Bayerischen Strafgesetzbuches vom 6. Mai 1813 (Zitiert nach: Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, hrsg. v. M. Stenglein, Bd. I, 1858). Anschaulich W. Küper (Hrsg.), Paul Johann Anselm Feuerbach, Reflexionen Maximen - Erfahrungen, 1993, S. 153 ff. 236 R.-U. Kunze, Paul Johann Anselm von Feuerbach und das Strafrechtsverständnis in der DDR, in: ZNR 1997, S. 82, 83. 237

E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage 1965, S. 239, 264 f.; R. v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. I, 1925 (ND 1974), S. 296; E. Kipper, Johann Paul Anselm von Feuerbach, 1969, S. 183; vgl. ausführlich: N.Th. v. Gönner, Einige Motive zum Bairischen Entwurf des Strafgesetzbuchs, 1825, S. 148 ff.; W. Hassemer, Die Bindung des Richters an das Gesetz, in: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, hrsg. v. A. Kaufmann u. W. Hassemer, 6. Auflage 1994, S. 248 ff. *

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Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Verletzungen ermutigt, da dasselbe Strafmaß drohe. Andererseits bestünde die Gefahr, „Neulinge in Verbrechen", infolgedessen mit geminderter Schuldhaftigkeit handelnd, durch die rechtliche Gleichstellung mit Wiederholungstätern und Schwerverbrechern aufgrund der identischen Strafqualität erst in ihrem Rechts- und Pflichtgefühl zu verderben. 238 Wächter weist damit der richterlichen Entscheidungsbefugnis ein eigenständiges und entscheidendes Gewicht gegenüber der Legislative zu und sieht gerade in der konkret-individuellen Beund Verurteilung des Täters ein wesentliches Element eines dem Gerechtigkeitsgebot folgenden Strafsystems. Jedoch dürfe dem Richter, indem der Gesetzgeber lediglich die zu erkennende Strafart anordne, kein zu unbestimmter Ermessensspielraum zugestanden werden 239 , „damit nicht die Willkür und das individuelle Gefühl des Richters für jeden einzelnen Fall in der verschiedensten Weise sich äussert." 240 Wächter forderte schon seit 1835 die Einführung eines Strafrahmens, der durch die Bestimmung eines Minimums und Maximums bereits eine ausreichende Berücksichtigung persönlicher Schuld erlaube. 241 Dabei müsse der Gesetzgeber die für diesen Tatbestand erfahrungsgemäß vorkommende Bandbreite möglicher Begehungsarten abstecken, wobei jedoch mit Hilfe von Strafinilderungs- 242 und Strafschärfungsgründen dem Richter die Gelegenheit eingeräumt werden müsse, bei vom gesetzlich normierten Normalfall abweichenden Fälle diesen vorgegebenen Rahmen nach eigenem Ermessen zu modifizieren 243 , so daß nicht allein das der Willkür unterworfene Mittel der Begnadigung in Betracht komme. 244

Nach Feuerbach besteht eine Identität der Gründe, die den Gesetzgeber zur Festlegung bestimmter Strafmaße bewegen, und denen, die der Richter der Beurteilung der Strafbarkeit des konkreten Täters zugrundezulegen hat. Dies entspricht dem Postulat Feuerbachs, daß der Richter bloß Diener der Gesetze sei und nicht selbst die Gründe zu seinen Urteilen bestimmen dürfe. Vgl. dazu: P.J.A. v. Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. I, 1799, S. 175 ff., 192f., 196 f., 211 f., 243, 332 ff., 386. 238

C G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S. 60 f.; vgl. dazu: H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 37. 239

C G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 158 f.

240

C G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S.

253. 241

C.G. v. Wächter, Abhandlungen aus dem Strafrechte, Bd. I, 1835, S. 253 ff.

242

Die grundsätzliche Zulässigkeit von Strafmilderungsgründen vertritt Wächter schon in seinem Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1,1825, S. 211 ff. 243 C G. v. Wächter, Beitrag zur Geschichte und Kritik der Entwürfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, 1870, S. 71; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 267, 272 f., 277. 244 C.G. v. Wächter, Strafgesetzgebungen (neuere), in: Das Staats-Lexikon, hrsg. v. K. v. Rotteck u. K. Welcker, 2. Auflage 1848, Bd. XII, S. 463, 469; Beitrag zur Geschichte und Kritik der Entwürfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, 1870, S. 119.

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

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Wobei der Richter v o m mittleren Strafmaß als ordentliche Strafe auszugehen hat, u m diese dann an die konkreten Tatverhältnisse anzupassen. 245 U m innerhalb dieses durch das Gesetz bestimmten Strafrahmens ein gerechtes Urteil fällen zu können, erhält der Richter v o n Wächter entsprechend der Lehre Feuerbachs 2 4 6 zwei Kriterien an die Hand: der subjektive und der objektive Schuldmaßstab. 2 4 7 Der erstere diene dazu, das Ausmaß des Widerspruchs des subjektiven Willens des Täters m i t dem allgemeinen Willen, dem positiven Recht, festzustellen. Berücksichtigung müsse die Bestimmtheit des verbrecherischen Willens finden, die Schwere des angestrebten Unrechts, die Entschlossenheit, äußere Widerstände zu überwinden, und die Gefährlichkeit des Eingriffs für die Rechtsordnung sowie die Selbständigkeit des Tatentschlusses. Der objektive Maßstab zur Feststellung der individuellen Schuld des Täters liegt nach Wächter „ i n der i n der Handlung enthaltenen Verletzung des Rechts überhaupt und, soweit durch sie i n individuelle Rechte eingegriffen wurde, i n der Verletzung der Rechte der betreffenden Individuen". Dabei sind die Wichtigkeit der verletzten Rechte, die Tragweite des rechtswidrigen Angriffs, die Größe der Gefahr und der Umfang der Beschädigung von entscheidender Bedeutung. 2 4 8

245 C.G. v. Wächter, Abhandlungen aus dem Strafrechte, Bd. I, 1835, S. 258; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 267. 246

Bei Feuerbach richtet sich die Größe der Strafe nach der Wichtigkeit des gefährdeten Rechts, nach dem Umfang, der Intensität und der Fortdauer der Gefahr, der Art der Beteiligung an der Straftat und dem Schaden für die Gesellschaft als objektive Gründe der Strafbarkeit. Hingegen faßt er die Intensität des inneren rechtswidrigen Antriebs, die Art des dolus und der Grad der fahrlässigen Pflichtverletzung unter die subjektiven Gründe der Strafbarkeit. Vgl. P.J.A. v. Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. I, 1799, S. 295, 298; Lehrbuch des peinlichen, in Deutschland gültigen gemeinen Rechts, hrsg. v. C.J.A. Mittermaier, 14. Auflage 1847, S. 204 f., 208 f. 247

Die Abhängigkeit des zulässigen Schuldmaßstabs von der jeweils vertretenen Straftheorie versucht Wächter aufzuzeigen in: Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, S. 187-191. Die absoluten Vergeltungstheorien verwendeten meist nur objektive, die Präventionstheorien meist subjektive Maßstäbe zur Ermittlung der Strafe nach dem Ausmaß des persönlichen Schuldvorwurfs. Aufgrund der Kombination des präventiven und des vergeltenden Elements in seiner Straftheorie gelänge es ihm, subjektive wie objektive Aspekte in der Schuldzurechnung zur harmonischen Einheit zu verbinden. Die grundsätzliche Richtigkeit dieser These Wächters zeigt: H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 81. Daß aber gerade Feuerbach als Vertreter einer Präventionstheorie sowohl objektive als auch subjektive Elemente im Schuldmaßstab zwingend forderte, übersieht Wächter. 248 C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S.67 f.; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 263 ff. Ein (theoretisches) Beispiel zur Ermittlung des persönlichen Schuldvorwurfs nach objektiven und subjektiven Maßstäben bei Begehung eines Diebstahls gibt Wächter in: Diebstahl - Furtum - Entwendung, in: Rechtslexikon für die gesammte Rechtswissenschaft, hrsg. v. J. Weiske, 1841, Bd. HI, S. 354, 402408.

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Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Zur Illustration der ungerechten Wirkung starrer Strafinaße fuhrt Wächter als Beispiel die Bestrafung des Diebstahls nach sächsischem Recht an, nach dem sich die Höhe der Strafe allein nach dem Wert des gestohlenen Gutes richtet. , A u f jeden Diebstahl von mehr als 50 Thlr. setzte es unbedingt 10 Jahre Zuchthaus, mag der Diebstahl blos einige Groschen über 50 Thlr. oder Tausende betragen, mag der Dieb seine That ohne oder mit besonderer Geflissenheit (z.B. durch Einsteigen, Einbrechen) verübt haben...". 249 Ebenso lehnt Wächter die Verhängung ehrschmälemder Strafen, der sogenannten „Infamie", ab. 2 5 0 Der Gesetzgeber sollte mit der Festsetzung von Ehrschmälerungen deshalb zurückhaltend umgehen, weil diese Strafe den Betroffenen sein ganzes Leben hindurch begleite und ihm die vollberechtigte Rückkehr in die bürgerliche Gesellschaft verwehre. 251 Außerdem zerstöre die Infamie durch die öffentliche Herabwürdigung den „Ehrtrieb" des Delinquenten. 252 Insbesondere wendet sich Wächter aber gegen die automatische, starre Verknüpfung der Infamie mit der Größe der Freiheitsstrafe. Insofern habe der Richter keine Möglichkeit, im Falle geringfügiger individueller Schuld des Täters die einschneidenden Folgen einer infamen Strafe zu vermeiden. 253 Als positives Beispiel führt Wächter die Bestrafung des Aufruhrs nach Artikel 127 der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V., also nach gemeinem deutschen Recht an. Hierbei würden nach „teutscher Praxis" der Umfang der Mitwirkung des Einzelnen, die tatsächlich geschaffene Gefahr für die öffentliche Ordnung, das Maß der ausgeübten Gewalt und die persönlichen Verhältnisse des Täters mit in die Strafinaßermittlung einbezogen.254

249

C G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 22; vgl. auch: Ueber den Entwurf eines Strafgesetzbuches für das Königreich Württemberg vom J. 1832, in: AdCNF 1834, S. 303, 313 ff.; Ueber Deutsche particuläre Strafgesetzgebung überhaupt, und den neuesten Baierischen Entwurf insbesondere, in: NAdC XIV (1833), S. 303, 313 f. 250 Wächter begrüßte daher das die Anwendung der ehrschmälernden Strafen einschränkende „Gesetz über die privatrechtlichen Folgen der Verbrechen und Strafen" in Württemberg vom 2. Oktober 1839. Vgl. C.G. v. Wächter, Die neuesten Fortschritte der Civilgesetzgebung in Württemberg, mit legislativen Bemerkungen und vergleichender Rücksicht auf das gemeine Recht, in: AcP 23 (1840), S. 33, 40-44. Vgl. auch schon die frühen Ausführungen im Lehrbuch des RömischTeutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, S. 171 ff. 251

C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S.

187. 252

C .G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S.

251 f. 253 C.G. v. Wächter, Strafgesetzgebungen (neuere), in: Das Staats-Lexikon, hrsg. v. K. v. Rotteck u. K. Welcker, 2. Auflage 1848, Bd. XII, S. 463, 469; Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S. 91, 145,247 f. 254 C.G. v. Wächter, Aufruhr, Aufstand, Auflauf, Widersetzlichkeit, Unbotmäßigkeit, in: Rechtslexikon für die gesammte Rechtswissenschaft, hrsg. v. J. Weiske, 1839, Bd. I, S. 466, 471.

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

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Wächter verlangt außerdem ein graduell fein abgestuftes Strafensystem, in dem keine Lücken und die damit verbundenen unangemessenen Sprünge in der Strafzumessung vorhanden seien. 255 Wenn sich die verschiedenen Arten der Freiheitsstrafen lediglich aneinander anschlössen, nicht aber ineinandergriffen und sich überschnitten, also in ihrer Wertigkeit und Härte aufeinander abgestimmt seien, so könne oftmals die konkrete Strafe nicht an die persönliche Schuld des Täters angeglichen werden, da die Strafe zwangsläufig entweder zu mild oder zu streng ausfallen müsse. 256 „Gefängnis und Festungsarrest kann nicht über drei Monate, Arbeitshaus und Festungsstrafe nur von mehr als 3 Monaten bis an 5 Jahre, Zuchthaus nicht unter 5 Jahren verhängt werden. Dadurch entsteht ... eine bedeutende Lücke, indem jene Strafarten intensiv ungemein verschieden sind." 257 Er wendet sich ebenfalls gegen die richterliche Praxis, für eine bestimmte Art der Freiheitsstrafe absolute Zeiträume festzulegen, ohne einen fließenden Übergang zu schaffen und damit letztlich erhebliche Differenzen anzuerkennen. So erfolgte im Rahmen ungeschriebener richterlicher Praxis nach wenigen Wochen Gefängnisstrafe sogleich eine mindestens halbjährige Unterbringung im Zuchthaus. Neben der zeitlichen Differenz brächte dies eine höchst unterschiedliche Intensität des Strafvollzugs mit sich. 258

2. Rechtfertigung

der Todesstrafe

Herbert Dannenberg weist darauf hin, daß sich Wächter dennoch in einem Fall für die Festsetzung einer absolut bestimmten Strafe aussprach. 259 Und tatsächlich scheint Wächter an versteckter Stelle darauf hinzudeuten, daß es Verbrechen geben könne, für die als verbindliche Regel eine bestimmte Strafe festzusetzen sei. 260 Es handelt sich dabei um Legitimierung der Todesstrafe.

255 Ein anschauliches Beispiel gibt Wächter im Rahmen eines Vergleichs der Strafsysteme von Sachsen und Württemberg in: Ueber Deutsche particuläre Strafgesetzgebung überhaupt, und den neuesten Baierischen Entwurf insbesondere, in: NAdC XIV (1833), S. 303, 313 ff. 256 C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S. 144; Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 158 f., 162, 179; Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. 1,1857, S. 24 f. 257

C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S.

143. 258

C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 26 f.; Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 159. 259 H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 37. 260

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 92 Anmerkung 2).

120

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Die Argumentation griffe jedoch zu kurz, wenn man in der Forderung einer absolut bestimmten Strafart eine Inkonsequenz in der Strafrahmentheorie Wächters annehmen wollte. Denn er betont ausdrücklich die Bedeutung der Todesstrafe als unüberwindliche Maximalsanktion. Verbrechen, die mit der Todesstrafe bedroht seien, stünden nach dem Willen des Gesetzgebers keineswegs auf derselben Stufe der Strafbarkeit, seien keineswegs Ausdruck desselben Schuldvorwurfs. Vielmehr sei bereits das geringste der Verbrechen so gemeinschaftsschädlich, daß die Todesstrafe gerechter Weise verhängt werden dürfe; mangels einer schwereren Strafe könne nicht stärker in die Rechte des Täters eingegriffen werden. 261 Jedes einzelne dieser Verbrechen sei schon im Falle des geringsten persönlichen Schuldvorwurfs aus objektiver Betrachtung derart verwerflich, um den staatlich bedingten Tod des Täters zu legitimieren. Damit findet Wächter den Übergang zur Rechtfertigung der Todesstrafe als zulässiges und gerechtes staatliches Sanktionsmittel.262 Er ist sich der Heftigkeit der Diskussion dieser Frage in der Wissenschaft und Legislative durchaus bewußt 263 , wenn er insbesondere auf die entscheidende Bedeutung der Kodifizierung der Todesstrafe für das Zustandekommen des Reichsstrafgesetzbuches von 1871 hinweist. 264 Der Standpunkt in dieser Frage hänge weitgehend davon ab, „was man für den rechtlich nothwendigen und zuläßigen Zweck der Strafe hält." 265 Entsprechend der bereits dargestellten Straftheorie Wächters sei „das Opfer des Lebens eines Verbrechers rechtlich und sittlich geboten, sobald es nothwendig ist zur Tilgung des Unrechts und zur Sanktion des Rechts" 266 , also zur Aufrechterhaltung der Rechtsordnung. 267 Wobei diese Notwendigkeit nur bei Verbrechen geboten sei, die ein solches Maß individuellen Verschuldens verkörperten, daß nur mit dem Tod des Täters die Rechtsordnung in ihrem 261

C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 180 f.

262

C.G. v. Wächter, Beitrag zur Geschichte und Kritik der Entwürfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, 1870, S. 42. 263 Vgl. C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S. 13 f.; Strafgesetzgebungen (neuere), in: Das Staats-Lexikon, hrsg. v. K. v. Rotteck u. K. Welcker, 2. Auflage 1848, Bd. XII, S. 463, 468. Die Abschaffung der Todesstrafe favorisiert (für viele) A.F. Berner, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 7. Auflage 1874, § 122. Vgl. auch zur tatsächlichen Situation: W. Sellert, H. Rüping, Studien- u. Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Bd. n, 1994, S. 36. Zur Diskussion der Todesstrafe in der Schweiz und deren Abschaffung im 19. Jahrhundert vgl. S. Suter, Guillotine oder Zuchthaus?, 1997. Instruktiv zur Geschichte der Todesstrafe K.B. Leder, Die Todesstrafe, Ursprung, Geschichte, Opfer, 1986; J. Sewing, Studien zur Todesstrafe im Naturrecht, 1966; M. Fleckenstein, Die Todesstrafe im Werk Carl Joseph Anton Mittermaiers (1787-1867), 1992. 264

C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, 1877, S. 206-211.

265

C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, S. 164.

266

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 93.

267

H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 32.

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

121

unverbrüchlichen Geltungsanspruch garantiert werden könne und das Strafmaß dem persönlichen Schuldvorwurf entspreche. Denn das menschliche Leben sei kein absolut unantastbares Gut. Vielmehr dürfe es zu höheren sittlichen Zwekken geopfert werden, zumal nur dadurch die Verwirklichung der individuellen Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft aufrechterhalten und gesichert werden könne. 268 Ein fundamentales Gebot sieht Wächter jedoch darin, daß durch die Vollstreckung der Todesstrafe die Sittlichkeit und Humanität nicht verletzt werden dürfe. Daher fordert er, die Verhängung der Todesstrafe lediglich auf eine ganz geringe Zahl von Verbrechen zu beschränken und eine Qualifizierung, wie sie durch Schleifen des Verbrechers zur Richtstätte oder das Aufstecken des Kopfes auf einen Spieß üblich war 2 6 9 , vollständig abzuschaffen. 270 Denn diese diene lediglich dazu, die Ehre des Delinquenten herabzusetzen, nicht aber der Wiederherstellung des verletzten Rechts. 271 In diesem Zusammenhang bleibt zu beachten, daß Wächter gerade auch mit der Favorisierung der Todesstrafe den Forderungen des in seiner Straftheorie begründeten Liberalismus gerecht wird, mit der staatlichen Strafe keinen außerhalb der Strafe liegenden Zweck verfolgen zu wollen, insbesondere keinen bessernden Einfluß auf den Delinquenten auszuüben. Denn mit der Vollstrekkung der Todesstrafe verliert jeder weitergehende Zweck der Strafe als die

268 C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 93. Auf Wächter als Befürworter der Todesstrafe und seine dahingehende Argumentation weist A.D. Weber hin, Rezension zu: C.G. v. Wächter, Beitrag zur Geschichte und Kritik der Entwürfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, 1870, in: Archiv für praktische Rechtswissenschaft, Neue Folge, Bd. VII (1870), S. 219, 220. 269

C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S.

13. 270

C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 177, 179 f.; Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S. 17 f.; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 93; Strafgesetzgebungen (neuere), in: Das Staats-Lexikon, hrsg. v. K. v. Rotteck u. K. Welcker, 2. Auflage 1848, Bd. XII, S. 463, 468. Wächters Forderung nach einem humanen Strafvollzug findet seinen Ausdruck ebenfalls in der Favorisierung der Guillotine als Hinrichtungsinstrument, die einen sicheren und schnellen Tod bringe und den Verbrecher nicht unnötig in seiner Ehre herabwürdige. Den Einwand, diese Hinrichtungsmaschine sei wegen der mit ihrer Hilfe zu Zeiten der Französischen Revolution begangenen Greuel abzulehnen, läßt er nicht gelten. Das Beil lehnte er wegen seiner erheblich schmerzverursachenden Wirkung ab. Das Schwert hingegen sei, obwohl die feierlichste Hinrichtungsart, wegen der Seltenheit der Todesstrafen " anwendungsunsicher, und daher abzulehnen. (Vgl.: C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S. 14 ff.) Eine gesetzliche Festlegung des Vollziehungsinstruments fordert Wächter in: Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg auf dem Landtage von 1838, 1838, Bd. IX, 92. Sitzung v. 9.6.1838, S. 23. Ausführlich dazu Teil 4 Kapitel 1, II., 5. 271

Vgl. zur Inszenierung der Exekution der Todesstrafe: W. Sellert, H. Rüping, Studien- u. Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Bd. II, 1994, S. 37.

122

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Vergeltung des Unrechts seinen Sinn. Es bleibt nichts weiter als die Tatsache der Vollstreckung. 272

3. Die „ Bildung " als Gleichbehandlungskriterium

bei der Strafzumessung

Wächter wendet sich zwar nachdrücklich gegen eine Bevorzugung von Tätern gehobener gesellschaftlicher Stellung oder Standes hinsichtlich des Strafmaßes, wie es noch im gemeinen römisch-deutschen Recht angelegt war (D.48.8.3.5; D.48.8.16; D.48.19.38.2,3,5; D.47.9.9 und D.47.9.12.1). 273 Jedoch betrachtete er es als ein Gebot der Rechtsgleichheit und -gerechtigkeit, wenn bei der Urteilsfindung die Bildungsstufe, die bisherigen bürgerlichen Verhältnisse, die Art der Beschäftigung und die Ehrenhaftigkeit des Verbrechers Berücksichtigung finden. 274 Dieselbe Strafe treffe einen Gebildeten 275 weitaus härter, da sie für diesen eine tiefergehendere Veränderung seiner bisherigen Lebensverhältnisse zur Folge habe. Die Strafwirkung sei in diesem Fall ungleich größer. 276 Es solle verhindert werden, daß „... Verbrecher, welche in gleichem Grade schuldig sind, nicht dadurch in Wahrheit auf die verschiedenste Weise bestraft werden, dass ihnen das äusserlich gleiche Strafübel unter Verhältnissen zugefugt wird, in welchen es für den Einen ein weit härteres und empfindlicheres Uebel seyn muss als für den Anderen". 277 Darum forderte er die Einführung bzw. Beibehaltung einer Strafart, die die gesellschaftlichen Eigenarten des Täters ausreichend berücksichtigte: die Festungshaft. 278 Als Surrogat für die Arbeitshausstrafe solle sich der verurteilte Verbrecher dort hauptsächlich mit Schreib- und Übersetzungsarbeiten beschäftigen müssen oder anderen seinem Bildungsstand

272 H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 1925, S. 32 f. 273 C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 36, 111; Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 233; Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S. 110. 274 C.G. v. Wächter, Beitrag zur Geschichte und Kritik der Entwürfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, 1870, S. 116. In seinem Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1,1825, S. 235 ff. jedoch äußert er sich diesbezüglich noch eher zurückhaltend. 275 Wächter stellt bei dieser Klassifikation nicht allein auf den Bildungsgrad und Stand des Delinquenten ab, sondern allgemein auf die Würde seiner bürgerlichen Ehre; dadurch erfaßt er einen weit aus größeren privilegierten Täterkreis. Vgl. C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S. 126. 276

C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S.

llOf. 277

C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S.

233. 278

C.G. v. Wächter, Ueber Deutsche particuläre Strafgesetzgebung überhaupt, und den neuesten Baierischen Entwurf insbesondere, in: NAdC XIV (1833), S. 303, 325.

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

123

entsprechenden Tätigkeiten. Kost, Unterbringung und soziale Kontakte müßten überdurchschnittlich gewährt werden. Körperliche Züchtigung und Ehrverlust sollten für diese Tätergruppe ausgeschlossen sein. 279 Im Hinblick auf das strenge grundrechtliche Postulat der Gleichheit vor dem Gesetz, insbesondere in Anbetracht des streng begrenzten gesellschaftlichen Klassensystems des 19. Jahrhunderts, war diese Forderung Wächters letztlich nicht haltbar. Bezeichnenderweise fand sich eine derartige Privilegierung nicht im Entwurf eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, was Wächter durchaus als Mangel kritisierte. 280 Dieser Differenzierungsversuch ist ein anschauliches Beispiel für Wächters ausgesprochen sensiblen Gerechtigkeits-

4. Wächters Forderung nach einem humanen Strafvollzug Schließlich ist Wächter die Art und Weise des konkreten Strafvollzugs ein besonderes Anliegen, die neben der theoretischen Fundierung einen entscheidenden Beitrag zum unabdingbaren Gerechtigkeitsanspruch des Strafsystems leisteten. „Eine der wichtigsten, aber auch eine der schwierigsten Aufgaben ist unstreitig, das richtige Princip für (die) Einrichtung der Strafanstalten und Behandlung der Sträflinge zu finden." 282 Aus den Äußerungen Wächters 283 spricht im Ganzen eine nachdrücklich humane Einstellung, die den Täter auch nach seiner Bestrafung weiterhin als menschliches Wesen betrachtet wissen will. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit den im 18. Jahrhundert in Europa diskutierten und im 19. Jahrhundert weitgehend umgesetzten Theorien zur Organisation der Strafrechtspflege spricht er sich gegen das „pensylvanische Pönitentiarsystem" und das „Au-

279

C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S.

122 f. 280 C.G. v. Wächter, Beitrag zur Geschichte und Kritik der Entwürfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, 1870, S. 116 ff. 281

Vgl. dazu die kritische Anmerkung bei C.R. Köstlin, Neue Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts, 1845, S. 896. 282

C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S.

226. 283 C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 96 f.; Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 229. Vgl. auch das Schreiben Wächters an Mittermaier vom 9. Juni 1845 (Briefwechsel Wächter an Mittermaier 18331851: Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Heidelberg, HS 2746).

124

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

burn'sche System" aus, die den Strafgefangenen ein umfassendes Schweigen auferlegen und zur vollständigen Isolation der Gefangenen fuhren. 284 Wächter favorisiert eine Gefängnisordnung, die lediglich auf einer strengen Trennung der verurteilten Täter je nach Schwere der persönlichen Schuld beruht („Klassensystem"), so daß eine Beeinflussung der Gesinnung der unverdorbenen Verbrecher in Folge „moralischer Ansteckung" durch den „verdorbenste(n) Bösewicht" vermieden werden kann. 285 Dabei müsse jedoch der bauliche Zustand der Strafanstalten ein menschenwürdiges Dasein gewährleisten; insbesondere sei neben Heizung, Trockenheit und Sauberkeit der Gefängnisse auf ausreichend Bewegungsmöglichkeiten zu achten. 286 Unterirdische Kerker seien als menschenunwürdig abzulehnen.287 In dieselbe Richtung geht die Forderung nach ausreichender und ausgewogener Kost für die Gefangenen, die nicht ausschließlich Wasser und Brot erhalten sollten, um so die enorme Gefangenensterblichkeit von über 10 % reduzieren zu können. 288 Um den Delinquenten die Pein eines abwechslungslosen und stumpfsinnigen Alltags zu ersparen, spricht sich Wächter für ein umfassendes anstaltsinternes Beschäftigungsprogramm aus. Jedoch nicht nur „Spinnen, Stricken, Holzraspeln" 2 8 9 sollten zur Auswahl stehen, der Verbrecher sei vielmehr zu solchen Arbeiten heranzuziehen, die seinen Fähigkeiten entsprächen. Dies solle dazu

284 Vgl. ausführlich zu den Gefängnissystemen des 19. Jahrhunderts: H. Fasoli, Zum Strafverfahrensrecht und Gefängniswesen im 19. Jahrhundert. Der Jurist Ludwig von Jagemann (18051853), 1985, S. 58 ff.; A. Krebs, Freiheitsentzug, Entwicklung von Praxis und Theorie seit der Aufklärung, 1978. 285

C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S. 61, 66, 82, 92; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 96 . 286 C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S. 55 f.; Übersicht über die Literatur des gesammten Württembergischen Rechtes aus den letzten zehen Jahren, m. Strafrecht, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft, Bd. VI, 1829, S. 268, 291. 287

C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S.

55.

288 C G. v. Wächter, Übersicht über die Literatur des gesammten Württembergischen Rechtes aus den letzten zehen Jahren, DI. Strafrecht, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft, Bd. VI, 1829, S. 268, 291. Wächter beschreibt in diesem Rahmen die Ernährung der Zuchthäusler: „Als Kost bekommen sie nur einmal des Tags warme Speise (Vz - 'A Maas); außerdem 1 Vi Pfu (je Vz Pfund Morgens, Mittags und Abends...), achtmal im Jahre Fleisch ('A Pfund), u Getränke, Krankheitsfälle ausgenommen, Wasser. Ob aber diese Kost, namentlich w Fleisch betrifft, nicht zu dürftig und der Gesundheit der Züchtlinge nachtheilig sey; Grenzen der nöthigen Züchtigung überschreite, möchte doch wohl in Frage gestellt w können." (C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S. 81). 289 C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 96; vgl. auch C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S. 67.

Kapitel 2: Carl Georg von Wächter und die Straftheorie

125

führen, „daß der Züchtling sein früher betriebenes Gewerbe nicht verlerne, und etwa auch durch Erlernung eines Gewerbes die Möglichkeit erhalte, sich nach erstandener Strafe seinen Unterhalt zu verschaffen." 290 Daneben solle der „Hausgeistliche" für die sittliche und religiöse Bildung und Besserung Sorge tragen; der„Hauslehrer" müsse jedem willigen und fähigen Häftling Unterricht im Lesen, Schreiben, Rechnen und Zeichnen, aber auch in der „Pflichten- und Glaubenslehre" sowie im „Kirchengesange" geben. 291 Wächter trägt damit Sorge für das „zukünftige Fortkommen" des Täters und die Einführung staatlicher Resozialisierungsmaßnahmen. 292 Außerdem seien geleistete Überstunden zu vergüten, so daß der Täter nach seiner Entlassung über eine gewisse Summe Bargeld verfügen könne, ohne unmittelbar auf eine Einkommensquelle angewiesen zu sein. 293 Dieser Zielsetzung wirke aber gerade der Umstand entgegen, dem „Züchtling" nach verbüßter Strafe die Ernährungs- und Prozeßkosten anteilig abzuverlangen. Die Durchsetzung eines solchen zivilrechtlichen Anspruchs von staatlicher Seite stelle die Wirksamkeit der abgeleistete Freiheitsstrafe erheblich in Frage. Zum einen könne der Entlassene sich und seiner Familie nicht den nötigen Unterhalt gewähren 294 , zum anderen könne das unter staatlicher Aufsicht erfolgende Abverdienen der Prozeßkosten als „Staatsschuldner" zu groben Ungerechtigkeiten führen, wenn dies den tatsächlichen Umfang der Freiheitsstrafe unverhältnismäßig übersteige. 295 Die Forderung der Prozeßkosten verderbe somit all das, „was die erstandene Strafe am Sträflinge gebessert haben mag, daß die durch dasselbe herbeigeführte neue Noth und Sorge für seine Familie, die Erbitterung über die fortdauernde Freiheitsbeschränkung in ihm allen Eindruck der erstandenen Strafe erlöschen, und ihn am Ende zu neuen Verbrechen treiben kann." 296 Insoweit zeigt sich Wächters Nähe zu den bereits im Jahre 290

C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S.

291

C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S.

81.

83 f. 292 C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 227; Übersicht über die Literatur des gesammten Württembergischen Rechtes aus den letzten zehen Jahren, m. Strafrecht, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft, Bd. VI, 1829, S. 268, 291. 293

C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S.

294

C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S.

81.

130. 295

C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S.

133. 296

134.

C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S.

126

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

1764 von Cesare Beccaria (1738-1794) formulierten Forderungen nach einem humanen Strafrecht und -Vollzug.297 Besondere Beachtung verdient insoweit Wächters Einsatz für die Gründung und den Erhalt eines Bürgervereins zur Resozialisierung entlassener Sträflinge unter Beteiligung sämtlicher Staatsbürger. Er hatte erkannt, daß Strafgefangene verloren seien, „wenn sie, aus der Strafanstalt ohne Hülfsmittel in das freie Leben wieder hineingestoßen, überall mit Mißtrauen und Scheu empfangen, von Jedem gemieden, nicht wissen, wie sie ihr und der Ihrigen Fortkommen sichern und das Vertrauen ihrer Mitbürger wieder erwerben sollen". 298 Folge sei die stete Gefahr, wiederholt als Gesetzesbrecher dem staatlichen Sanktionsanspruch unterworfen zu werden. Um aber dem Entlassenen den Weg zurück in die bürgerliche Gesellschaft zu ebnen, bedürfe es einer großen Zahl Staatsbürger, die für die sittliche Entwicklung und den finanziellen Unterhalt gutwilliger und lernfähiger Strafgefangener Sorge tragen und ihren sozialen Status unterstützenderweise etablieren helfen. 299 Nur durch Offenheit, Toleranz und aktive Anteilnahme jedes einzelnen Staatsbürgers könne der Gesetzesübertreter den Weg zurück in die Gesellschaft finden, der andauernden Wirkung der Strafe ihre diskriminierende und ungerechte Wirkung nehmen und damit dem Gerechtigkeitsgedanken Genüge tun. Nur dann erfülle die bürgerliche Rechtsgemeinschaft ihren wahrhaften Sinn, „Frieden und Rechtssicherheit im Staate zu erhalten" und „zur Menschenrettung im edelsten Sinne des Wortes" beizutragen. 300

297

Zum Einfluß Cesare Beccarias auf die Strafrechtskodifikationen des 19. Jahrhunderts vgl. E. Weis, Cesare Beccaria und seine Wirkung auf Deutschland, insbesondere auf die Reformen des Strafrechts, in: Die Bedeutung der Wörter, Festschrift füir S. Gagner, hrsg. v. M. Stolleis, 1991, S. 535 ff. 298 C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S. 167, 170. 299

C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S.

168. 300

167.

C.G. v. Wächter, Die Strafarten und Strafanstalten des Königreiches Württemberg, 1832, S.

Kapitel 3

Carl Georg von Wächter und die strafrechtliche Handlungslehre Die moderne Strafrechtslehre bemüht sich nach wie vor um die Beantwortung der Frage, was unter einer Handlung als Ausgangspunkt der Erörterung der elementaren Merkmale einer Straftat zu verstehen ist. 1 Obwohl dieses Bemühen teilweise für fruchtlos gehalten wird 2 , ist der strafrechtliche Handlungsbegriff als tragendes Fundament der Verbrechenslehre in Form eines Bezugspunktes für die Tatbestandsmäßigkeit, die Rechtswidrigkeit und die Schuld unverzichtbar. 3 Neben der Klassifikationsfunktion, die sämtliche für das Strafrecht relevanten Arten menschlichen Verhaltens erfassen soll, hat der Handlungsbegriff die Aufgabe, menschliches Wirken, das nicht als strafbar qualifizierbar ist, aus der rechtlichen Betrachtung auszuschließen.4 Allein die menschliche Handlung als nach außen in Erscheinung tretende Größe bietet im Rahmen strafrechtlicher Sanktionierung einen sicheren, objektiv überprüfbaren Maßstab.5 Sie ist somit als übergeordnete Einheit für sämtliche Phänomene des Strafrechts Ausgangsund Angelpunkt des strafrechtlichen Systems, mit dem die Untersuchung jedes

1 Vgl. dazu grundlegend W. Kargl, Handlung und Ordnung im Strafrecht, in: Schriften zum Strafrecht, Heft 86, 1991, S. 381 ff. (zum Stand höchstrichterlicher Rechtsprechung, S. 497); H. Alwart, Recht und Handlung, 1987. 2 Exemplarisch für viele Th. Lenckner, in: Strafgesetzbuchkommentar, hrsg. v. Schönke/Schröder/Lenckner, 25. Auflage 1997, Vorbem. § 13, Rdnr. 23; K. Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau, in: Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 99, 1973, S. 199; E. v. Bubnoff, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffs von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 149 ff. 3 H.-H. Jescheck, Th. Weigend, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, S. 218; E. v. Bubnoff, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 13; W. Gallas, Zum gegenwärtigen Stand der Lehre vom Verbrechen, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. 67 (1955), S. 1. 4

H.-H. Jescheck, Der strafrechtliche Handlungsbegriff in dogmengeschichtlicher Entwicklung, in: Festschrift für E. Schmidt zum 70. Geburtstag, hrsg. v. P. Bockelmann u. W. Gallas, 1961, S. 139, 140; E. Schmidhäuser, Begehung, Handlung und Unterlassung im Strafrecht, in: Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, hrsg. v. E. Struensee, G. Dornseifer u.a., 1989, S. 131, 136. 5 M. A. Ling, Die Unterbrechung des Kausalzusammenhanges durch willentliches Dazwischentreten eines Dritten, in: Schriften zum Strafrecht 108, 1996, S. 13.

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

128

verantwortbaren menschlichen Verhaltens stets seinen Anfang zu nehmen hat.6 „Die Rede vom Handlungsbegriff ist im heute üblichen Verständnis, ... , eine Rede von einem Teil des Unrechtsbegriffs, und zwar von einem Teil, der allen Arten von Unrecht gemeinsam ist." 7 Eine Untersuchung der Geschichte des Handlungsbegriffs kommt ohne die Betrachtung der strafrechtlichen Zurechnung, der „Imputation", als Ursprung des modernen Handlungsbegriffs nicht aus.8 Über die wörtliche Bedeutung des „imputare" im Sinne einer kaufmännischen, d.h. buchmäßigen Belastung entwickelte sich die Zurechnung zu dem Urteil, einen Menschen als Ursache einer bestimmten Wirkung einordnen zu können.9 Dabei blieb die Imputation nicht beim einfachen Kausalitätsnachweis stehen, sondern bezog moralische und ethische Wertungen in ihren Definitionsumfang mitein, um letztlich bei der Frage nach der persönlichen Vorwerfbarkeit ihr (vorläufiges) Ende zu finden. 10 Strafrechtsphilosophisch auf das Wesentliche reduziert, ist unter Zurechnung das Urteil zu verstehen, zwischen einem äußeren Geschehen und dem subjektiven Moment menschlichen Verhaltens eine positive Beziehung herstellen zu können.11 Der Begriff der moralischen Zurechnung, nach dem die freie Tat eines Menschen ihrem Urheber als persönliche Schuld zugemessen wird, ist anhand ethischer und theologischer Motive und Argumente erstmals von Samuel Pufendorf (1632-1694) in die strafrechtliche Dogmatik eingeführt worden. 12 Imputatio wurde dabei als Sammelbezeichnung der subjektiven Voraussetzungen strafrechtlicher Verantwortung verwendet, um so Anfang und Ende rechtlich relevanten menschlichen Verhaltens definieren zu können.13 Dieser Ansatz, eine 6

G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S.

71 f. 7 G. Jakobs, Der strafrechtliche Handlungsbegriff, in: Schriften der Juristischen Studiengesellschaft Regensburg e.V., Heft 10, 1992, S. 11, 16. 8

G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S.

72. 9

H. Holzhauer, Imputation, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG), hrsg. v. A. Erler u. E. Kaufmann, Bd. II, 1978, Sp. 335. 10 M. Grünhut, Anselm von Feuerbach und das Problem der strafrechtlichen Zurechnung, in: Hamburgische Schriften zur gesamten Strafrechtswissenschaft, Heft 3, 1922, S. 74 f.; E. v. Bubnoff, Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 25. 11

E. v. Bubnoff, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 14. 12 13

H. Holzhauer, Imputation, in: HRG, hrsg. v. A. Erler u. E. Kaufmann, Bd. 0, 1978, Sp. 335 f.

S. Pufendorf, De iure naturae et gentium, libri octo, 1672, Uber I, Cap. IX, de actionem moralium imputatione. Vgl. dazu C.L.v. Bar, Geschichte des deutschen Strafrechts und der Strafrechtstheorien, Bd. I, 1882, S. 171. Damit unterscheidet sich die Imputatio als Ausgangspunkt der modernen Handlungslehre von der heute in Rechtsprechung und Wissenschaft weitgehend aner-

Kapitel 3: Strafrechtliche Handlungslehre

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moralische Bewertung freien menschlichen Handelns als Ausgangspunkt einer subjektiven Verantwortlichkeit zugrunde zu legen, sollte die strafrechtliche Wissenschaft lange Zeit bestimmen. Einer Abkehr von dieser Methode strafrechtlicher Zurechnung hatten sich die Anhänger der Reformbewegung gegen die naturrechtlichen Denkschulen am Ende des 18. Jahrhunderts verschrieben. 14 Zu Ihnen gehörte auch der bedeutende Kriminalist und Rechtsphilosoph Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775-1833).

I. Carl Georg von Wächter zwischen P. J. A. von Feuerbach und Christoph Carl Stübel Der frühe Wächter äußert sich lediglich in seinem Lehrbuch aus dem Jahre 1825 zum Problem der „Zurechenbarkeit der rechtsverletzenden Handlung. Der Begriff von juristischer Zurechnung". 15 Er unterscheidet dabei zwei Hauptströmungen, die das Zurechnungsproblem auf unterschiedliche Weise zu lösen versuchen. Dazu führt er einerseits Anselm von Feuerbach, andererseits Christoph Carl Stübel (1764-1828) und Karl Grolman (1775-1829) an. Es scheint daher geboten, Wächters Standpunkt zwischen diesen,,Polen" aufzuzeigen.

7. Die Handlungslehre Paul Johann Anselm von Feuerbachs Zunächst ist als Ausgangspunkt der Untersuchung festzustellen, ob im System Feuerbachs einer der strafrechtlichen Betrachtung zugrundeliegenden Handlungslehre überhaupt Bedeutung zukommt. Der Ausdruck „ H a n d l u n g "

kannten Lehre von der objektiven Zurechnung, als die Lehre, die schon im objektiven Tatbestand zwischen einem Kausalzusammenhang und einem engeren Zurechnungszusammenhang unterscheidet. Vgl. G. Jakobs, Der strafrechtliche Handlungsbegriff, in: Schriften der Juristischen Studiengesellschaft Regensburg e.V., Heft 10, 1992, S. 11. R. Maurach wiederum bestimmt die Zurechenbarkeit als Oberbegriff von Tatverantwortung und Schuld; R. Mäurach u. H. Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1. Teilbd., 8. Auflage 1992, S. 482 ff. 14

M. Grünhut, Anselm von Feuerbach und das Problem der strafrechtlichen Zurechnung, in: Hamburgische Schriften zur gesamten Strafrechtswissenschaft, 1922, S. 76; H. Holzhauer, Imputation, in: HRG, hrsg. v. A. Erler u. E. Kaufmann, Bd. D, 1978, Sp. 335, 337. 15

C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, 1. Theil, 1825, S. 108-111. Die Rezension Wächters zu: Dirksen, H.E., Über die pupillos infantiae und infantiae proximos, in: Rheinisches Museum für Jurisprudenz, Bd. I, 1828, S. 316-326, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft, Bd. IV, 1828, S. 48-51 befaßt sich lediglich mit einem Teilaspekt des Zurechnungsproblems (Zurechnungsfahigkeit Minderjähriger und Jugendlicher im gemeinen römischdeutschen Recht) auseinander, ohne dabei auf grundsätzliche Fragen und Definitionen einzugehen. 9 Jungemann

130

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

wird von Feuerbach zwar durchaus gebraucht 16, jedoch ist Grundlage und Bedingung der objektiven Strafbarkeit das Vorliegen eines Verbrechenstatbestandes, unter dem er „den Inbegriff der Merkmale einer besonderen Handlung oder Tatsache, welche in dem gesetzlichen Begriff von einer bestimmten Art rechtswidriger Handlungen enthalten sind," 17 versteht. Der Verbrechenstatbestand Feuerbachs ist damit Grundlage der Merkmale, welche zu der Handlung als solcher hinzukommen müssen, um diese als Verbrechen erscheinen zu lassen.18 Der Verbrechenstatbestand als Grundstruktur strafrechtlicher Erkenntnis wird dabei aber nicht in seine Bestandteile analysiert - etwa mit der Handlung als deren Ausgangspunkt -; es wird vielmehr gefragt, welche Merkmale machen eine Handlung zum Verbrechen? Welches sind die Merkmale des Verbrechens außer der Handlung? 19 Der Handlung kommt damit in der Verbrechenslehre Feuerbachs lediglich die Bedeutung zu, die einzelnen Merkmale des abstrahierten Verbrechens zu verknüpfen. Sie ist ein außerhalb der Verbrechenslehre stehender Begriff, dem keine tragende Rolle im System zugedacht wird 2 0 , indem er sie einfach einer Erörterung für unwürdig erachtet. 21 Ein streng und ausdrücklich definierter strafrechtlicher Handlungsbegriff ist damit im System Feuerbachs nicht existent.22 Wird dieses Ergebnis jedoch unter Zugrundelegung der Merkmale eines allgemeinen strafrechtsphilosophischen Handlungsbegriffs untersucht, so lassen sich auch schon bei Feuerbach die dafür konstitutiven und wesensnotwendigen Elemente finden, wie der Wille, die äußere Tat sowie die Beziehung zwischen Wille und Tat, also die Zurechnung. 23

16

P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen, peinlichen Rechts, hrsg. v. K.J.A. Mittermaier, 10. Auflage 1828, §§ 21, 35 f.; Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. I, 1799, S. 5, 24; Bd. H, 1800, S. 14. 17

P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen, peinlichen Rechts, 10. Auflage 1828, § 81. 18 E. v. Bubnoff, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 21. 19

G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S. 77; K. Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau, in: Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 99, 1973, S. 30. 20

E. Bubnoff, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffs von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 21. 21

G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S.

78. 22 K. Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau, in: Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, 1973, S. 30. 23

G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S. 73, 80.

Kapitel 3: Strafrechtliche Handlungslehre

131

Feuerbach versteht unter Wille im Juridischen Bereich" die Fähigkeit, sich zu der konkreten Realisierung einer subjektiven Vorstellung bestimmen zu lassen.24 Dabei sind das „untere Begehrungsvermögen", das moralische und übersinnliche Elemente gerade ausschließt, das tierische Begehren und die Willkür von entscheidender Bedeutung.25 Tierisches Begehren sei ein „Gelüsten", das aus dem Schmerz über den Nichtbesitz des erstrebten Objekts das Begehren ohne Wahl und Überlegung bestimme. Unter der Willkür versteht er das Vermögen, sich nicht bloß durch den unmittelbaren Eindruck der Lust, sondern durch vorhergehende Auswahl und Vergleichung der Mittel und des erstrebten Gegenstandes zum Verbrechen bestimmen zu lassen.26 Aus diesen beiden Elementen setzt sich nach Feuerbach die willentliche Seite der Tat zusammen. Ebenfalls unter den „notwendigen Bedingungen eines Verbrechens" 27 findet sich in der Lehre Feuerbachs das Handlungselement der „äußeren Tat", die sich als ein Vorgang in oder eine Beziehung zu der sinnlich wahrnehmbaren Außenwelt bestimmen läßt. 28 Die Beziehung zwischen Wille und äußerer Tat behandelt Feuerbach an abgelegener Stelle innerhalb der Lehre vom Strafgesetz im Zusammenhang mit der Zurechnung. 29 Das Zurechnungsproblem, also die Frage nach der Verantwortlichkeit für menschliches Verhalten, bewertet er als Beurteilung der Strafwürdigkeit, die sich wiederum aus dem Wesen und Zweck der Strafe und des Strafgesetzes ergibt. 30 Ihr Sinn liegt für ihn darin, für den Fall der Ausführung von Verbrechen ein staatlich autorisiertes Übel anzudrohen und Verbrechen

24 P.J.A. v. Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. II, 1800, S. 72, 146. 25 E. v. Bubnoff, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 23; M. Grünhut, Anselm von Feuerbach und das Problem der strafrechtlichen Zurechnung, in: Hamburgische Schriften zur gesamten Strafrechtswissenschaft Nr. 3,1922, S. 102. 26 P.J.A. v. Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. H, 1800, S. 147 ff., 155. 27

P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen, peinlichen Rechts, 10. Auflage 1828, § 32. 28 P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch, § 89; vgl. K. Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau, in: Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 99, 1973, S. 30 f.; G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S. 80. 29 H. Holzhauer, Imputation, in: HRG, hrsg. v. A. Erler u. E. Kaufmann, Bd. n, 1978, Sp. 335, 337; G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S.

80. 30 E. v. Bubnoff, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 25.

9*

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Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

durch Drohung als Gegenwirkung zur rechtswidrigen Triebfeder zu verhindern. 31 Wesentlicher Zweck des Strafgesetzes ist damit Abschreckung. 32 Diese ist jedoch nur für den Fall gegeben, daß „die psychische Möglichkeit seiner Wirksamkeit zur Verhinderung der Tat begründet ist". 33 Voraussetzung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist demnach, daß die Drohung auf den Täter überhaupt Wirkung entfalten konnte, d.h. also Abschreckbarkeit als persönliche Tätereigenschaft. Diese setzt voraus, daß der Täter durch die Drohung des Strafgesetzes nicht an der Ausführung der Tat gehindert wurde, obwohl er sich hätte abschrecken lassen können, worunter Feuerbach „schuldhaftes" Handeln versteht. 34 Dazu müssen solche Tätereigenschaften gegeben sein, durch die die psychische Wirksamkeit des Strafgesetzes begründet und bedingt ist: Bewußtsein und Kenntnis des Strafgesetzes, Subsumtion der Tat unter das Strafgesetz durch den Täter und Begründetsein der Tat in seinem Begehren desselben. 35 „Das Strafgesetz soll durch die Vorstellung des künftigen Uebels auf das Begehrungsvermögen wirken und dieses abhalten, die That zu wollen." 36 Dies heißt aber nichts anderes, als daß die äußere Tat im subjektiven Wesensmoment des Täters ihren Ausgangspunkt finden, auf ihn zurückführbar, also willentlich begangen sein muß. 37 Liegen diese Momente vor, ist das handelnde Subjekt zurechnungsfähig 38. Es ist im Falle der Begehung einer Straftat für sein Verhalten im Sinne strafrechtlicher Wertung verantwortlich.

31

Vgl. dazu Teil 3 Kapitel 2.

32

M. Grünhut, Anselm von Feuerbach und das Problem der strafrechtlichen Zurechnung, in: Hamburgische Schriften zur gesamten Strafrechtswissenschaft Nr. 3, 1922, S. 100; E. v. Bubnoff, Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 25; G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S. 80. 33

P.J.A. v. Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. H, 1800, S. 40. 34 E. v. Bubnoff, Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 27. 35

P.J.A. v. Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. II, 1800, S. 43 f. 36 P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen, in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 8. Auflage 1823, § 85. 37 K. Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau, in: Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 99, 1973, S. 31 Note 22); E. v. Bubnoff, Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 25; E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage 1965, S. 244 f.; M. Grünhut, Anselm von Feuerbach und das Problem der strafrechtlichen Zurechnung, in: Hamburgische Schriften zur gesamten Strafrechtswissenschaft Nr. 3, 1922, S. 101, 104, 110. 38

P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen, peinlichen Rechts, 8. Auflage 1823, § 84.

Kapitel 3: Strafrechtliche Handlungslehre

133

„Die Bestimmung des Begehrens zur Übertretung eines Strafgesetzes mit dem Bewußtsein der Übertretung ist der höchste und letzte Grund aller äußeren Strafbarkeit." 39 Für die Zurechnung nach Feuerbach ist insofern erforderlich, daß die Willensbestimmung, als Bezugspunkt der äußeren Tat, auch „innerlich" dem Strafgesetz widerspricht. 40 Denn das äußere Geschehen müsse vom Täter im „Bewußtsein der Strafbarkeit der Handlung, welches a) die Vorstellung des Strafgesetzes selbst in dem Momente der Willensbestimmung, und b) die richtige Subsumtion der Handlung unter das Gesetz, voraussetzt ...," vorgenommen werden 41 , was eine Entsprechung von Wille und Tat notwendig voraussetzt. An dieser Stelle findet sich nun also die für den modernen Handlungsbegriff notwendige Inbeziehungsetzung eines rechtswidrigen factums (einer äußeren Tat) zu dem Begehrungsvermögen (dem Willen) des Subjekts.42 Feuerbach legt seiner Zurechnungslehre ersichtlich einen deterministischen Gedanken zugrunde: Damit die Strafdrohung ihrer Funktion als entscheidender Kausalitätsfaktor bei der Willensbildung gerecht wird, kann Feuerbach den Menschen nicht als frei, sondern nur als kausal vorbestimmt betrachten. 43 „Damit ist eine radikale Loslösung von aller ethischen Begründung der Strafbarkeit vollzogen." 44

2. Die Lehre Christoph Carl Stübels Im Gegensatz zu Feuerbach verbannt Christoph Carl Stübel (1764-1828) die Moral nicht aus dem Bereich strafrechtlicher Beurteilung. Stübel ist Anhänger einer spezialpräventiven Strafzwecklehre, die den bereits straffällig gewordenen Menschen entweder absolut oder durch persönliche Abschreckung von einer erneuten Verbrechensbegehung abhalten will. Insofern qualifiziert er die verbotene Verwirklichung eines Verbrechens nicht lediglich als begangene Rechts-

39 P.J.A. v. Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. n, 1800, S. 66. 40 E. v. Bubnoff, Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 26. 41

P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen, in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 8. Auflage 1823, § 85. 42 K. Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau, in: Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 99, 1973, S. 31. 43

K. Lüderssen, Feuerbach, Paul Johann von, in: HRG, hrsg. v. A. Erler u. E. Kaufmann, Bd. I, 1971, Sp. 1118, 1119. 44 E. Schmidt, Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage 1965, S. 245; vgl. M. Grünhut, Anselm von Feuerbach und das Problem der strafrechtlichen Zurechnung, in: Hamburgische Schriften zur gesamten Strafrechtswissenschaft Nr. 3, 1922, S. 87.

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Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Verletzung, sondern als Äußerung einer gefahrlichen Gesinnung.45 Die strafrechtliche Bewertung sollte damit nicht auf die begangene Rechtsverletzung, sondern auf die sie auslösende subjektive Tendenz abheben.46 Zweck der Strafe war infolgedessen die Besserung der Gesinnung47, nicht aber die generalpräventive Abschreckung nach Feuerbach. Deren Funktion kann daher im System Stübels nicht greifen. Als objektives Element des allgemeinen Handlungsbegriffs verlangt Stübel begrifflich ein Geschehen in der realen Welt, das äußere Erkennbarkeit voraussetzt.48 Stübel bezeichnet dabei den Sammelbegriff, der sämtliche Merkmale der objektiven Seite des Verbrechens zusammenfaßt, als Tatbestand.49 Dieser objektiven Tatseite stellt er die subjektive Seite des Verbrechens gegenüber, die die Voraussetzungen der persönlichen strafrechtlichen Verantwortung, d.h. der Schuld umfassen, die wiederum das Bewußtsein der Gesetzwidrigkeit, Vorsatz und Fahrlässigkeit sowie die Freiheit der verbrecherischen Willensbestimmung enthält. Dieser Teil des Systems bezieht sich damit auf die innere Seite des Täterverhaltens, die Immoralität. 50 Entscheidend ist, daß dem System Stübels das die objektive und subjektive Seite des Verbrechens verbindende Element, das Feuerbach aus der Abschreckbarkeit des Täters ableitet, aufgrund der favorisierten Spezialpräventionstheorie zwangsläufig fehlen muß. Beide Elemente des Handlungsbegriffs stehen getrennt nebeneinander und werden isoliert betrachtet. 51 Die äußere Tat muß in45

Vgl. zur spezialpräventiven Theorie K. Lüderssen, Grolman, Karl Ludwig Wilhelm von, in: HRG, hrsg. v. A. Erler u. E. Kaufmann, Bd. I, Berlin 1971, Sp. 1808,1810. 46 Chr.C. Stübel, System des allgemeinen peinlichen Rechts, mit Anwendung auf die in Chursachsen geltenden Gesetze, Leipzig 1795, Teil n, S. 16 f., 32 ff.; vgl. E. v. Bubnoff, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 28 f. 47

Chr. C. Stübel, System des allgemeinen peinlichen Rechts, mit Anwendung auf die in Chursachsen geltenden Gesetze, Leipzig 1795, Teil I, S. 14 f., Teil n, S. 11. 48 Chr. C. Stübel, Über den Tatbestand der Verbrechen, die Urheber derselben und die zu einem verdammenden Endurteile erforderliche Gewißheit des ersteren, besonders in Rücksicht der Tötung, nach gemeinen in Deutschland geltenden und Chursächsischen Rechten, 1805, § 5. 49 In dieser Lehre Stübels liegen die Anfänge der modernen Tatbestands- und Unrechtslehre. Feuerbach kennt diese Einteilung nicht. Er unterscheidet notwendige und alternativ notwendige Elemente des Verbrechens. Vgl. dazu: G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S. 76 f. 50

Chr. C. Stübel, Über den Tatbestand der Verbrechen, die Urheber derselben und die zu einem verdammenden Endurteile erforderliche Gewißheit des ersteren, besonders in Rücksicht der Tötung, nach gemeinen in Deutschland geltenden und Chursächsischen Rechten, 1805, § 1, 2, 117. Vgl. dazu: E. v. Bubnoff, Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 32 f. 51

E. v. Bubnoff, Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 32 f.

Kapitel 3: Strafrechtliche Handlungslehre

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folgedessen nicht im Begehren des Täters begründet, also nicht auf den Willen des Täters zurückfuhrbar sein. 52 Auch in der Verbrechenslehre Karl Ludwig Wilhelm Grolmans, der Stübel als seinen Vorgänger bezeichnete53, finden sich lediglich die Handlungselemente äußere Tat und Wille als übergeordnete Systembegriffe. 54 Dabei sei es aber, um den „Charakter der Strafbarkeit überhaupt annehmen zu können, einerley, ob die aus der gesetzwidrigen Stimmung des Begehrens hervorgehende Rechtsverletzung die begehrte Handlung selbst, oder eine andere war." 55 Auch in diesem System findet das dritte und wesentliche Merkmal der Handlung, die Vermittlung des Willens zur Tat, noch keinen Platz. 56

3. Die Stellungnahme des „frühen " Wächter Der „frühe" Wächter hält sich in diesem Theorienstreit zurück. Eine direkte Stellungnahme dazu gibt er in seinem Lehrbuch 57 von 1825 nicht. Daher muß seine Position aus der Gliederung, dem Aufbau und seiner Kommentierung der fremden Lehrmeinungen ermittelt werden. Zunächst läßt sich unschwer erkennen, daß Wächter in der Systematik seines Verbrechensaufbaus als wesentliche Grundlage der Handlungslehre unbedingt Feuerbach 58 folgt. 59 Das Vorliegen eines Verbrechenstatbestandes überhaupt

52

K. Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau, in: Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 99, 1973, S. 31. 53 K. Lüderssen, Grolmann, Karl Ludwig Wilhelm von, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, hrsg. v. A. Erler u. E. Kaufmann, Bd. 1,1971, Sp. 1808,1810. 54

K. Grolman, Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft, 2. Auflage 1805, §§ 16, 19-38, 39-

55

K. Grolman, Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft, 2. Auflage 1805, § 44.

55. 56

G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S. 79; E. v. Bubnoff, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 35; K. Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau, in: Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 99, 1966, S. 30 f. 57

C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, 1. Theil, 1825, S. 108-111.

58

Wächter verwendete bei der Bearbeitung seines Lehrbuches die 8. Auflage des Feuerbachschen Werkes: P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen, peinlichen Rechts, Gießen 1823. Vgl. C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, Stuttgart 1825, S. X Note b). Im Folgenden wird daher diese Ausgabe zur Untersuchung herangezogen. 59

Diese Einschätzung teilt C.R. Köstlin, Neue Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts, 1845, S. 132 Anm. 1).

136

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

bedingt die objektive Strafbarkeit. 6 0 Wächter teilt die Merkmale eines Verbrechens i n „wesentliche" (essentialia, substantialia delicti) und „außerwesentliche" ein. 6 1 Unter die ersteren faßt er die „äußere Erkennbarkeit der H a n d l u n g " 6 2 und die Rechtswidrigkeit 6 3 der Tat. I n derselben Weise behandelt Feuerbach diese Elemente als „notwendige Bestandteile eines Verbrechens". 6 4 Die Täterschaft und Teilnahme, die Vollendung und den Versuch, Vorsatz und Fahrlässigkeit ordnet er unter die „alternativ notwendigen" Merkmale. 6 5 A u c h Wächter bezeichnet diese Begriffe als „außerwesentlich für ein Verbrechen." 6 6 Er folgt insofern nicht der v o n Stübel verfochtenen Lehre v o m Tatbestand 6 7 . Danach umfaßt der „Thatbestand eines Verbrechens" lediglich die objektive Seite der Strafbarkeit, das Äußere des verbrecherischen Verhaltens. 6 8 Dazu zählen die Rechtswidrigkeit, Vollendung und Versuch, Täterschaft und Teilnahme. Dieser objektiven Seite des Verbrechens steht die eben nicht zum Tatbestand gehörende Willensseite gegenüber. Stübel versteht darunter den V o r satz und die Fahrlässigkeit. 6 9 Wächter kann sich m i t der Stübelschen Definition des ,3egriff(s) v o m Thatbestand eines Verbrechens" nicht einverstanden erklären. Er weist darauf hin, daß man i n dieser Frage zwar unterschiedlicher Ansicht sein könne; er dagegen

60 P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen, peinlichen Rechts, 8. Auflage 1823, §§ 81,83. 61

C G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1,1825, § 43.

62

C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, § 48.

63

C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, §§ 49-60.

64

P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen, peinlichen Rechts, 8. Auflage 1823, §§ 21, 27 ff., 32, 84 ff. 65 P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen, in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 8. Auflage 1823, §§ 42, 44-46, 53-58. 66

Wächter beschreibt die „«außerwesentlichen" Elemente (Vorsatz und Fahrlässigkeit, Vollendung und Versuch, Teilnahme und Täterschaft) in den Kapiteln, die der Beschreibung der „wesentlichen" nachfolgen; Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, S. 125-135, 135-143, 143-155. 67 Vgl. Chr.C. Stübel, Über den Tatbestand der Verbrechen, die Urheber derselben und die zu einem verdammenden Endurteile erforderliche Gewißheit des ersteren, besonders in Rücksicht der Tötung, nach gemeinen in Deutschland geltenden und Chursächsischen Rechten, 1805.

In dieser Lehre vom Tatbestand Stübels sind durchaus Ansätze einer modernen Tatbestandslehre zu erkennen. Vgl. dazu: E. v. Bubnoff, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 31. 68 Chr.C. Stübel, Über den Tatbestand der Verbrechen, §§ 3, 19, 24; vgl. auch E. v. Bubnoff, Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 31 f. 69 Chr.C. Stübel, Über den Tatbestand der Verbrechen, die Urheber derselben und die zu einem verdammenden Endurteile erforderliche Gewißheit des ersteren, besonders in Rücksicht der Tötung, nach gemeinen in Deutschland geltenden und Chursächsischen Rechten, 1805, §§ 1 f., 117.

Kapitel 3: Strafrechtliche Handlungslehre

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von seinem Standpunkt überzeugt sei: „Da Thatbestand schon dem Wortsinn nach nichts anderes bezeichnen kann, als den Inbegriff dessen, woraus eine That besteht, also Thatbestand eines Verbrechens das, woraus eine verbrecherische That besteht: so ist es wohl am natürlichsten, unter Thatbestand eines Verbrechens zu verstehen: den Inbegriff der Merkmale eines Verbrechens, ... so daß also auch die subjectiven Merkmale nothwendig zum Thatbestand eines Verbrechens gehören ... . " 7 0 Für Wächter ist damit der Inbegriff der Merkmale, die ein Verhalten zu einem strafrechtlich relevanten Delikt werden lassen, d.h. sowohl die objektiven als auch die subjektiven, der strafrechtliche Tatbestand. Diesem Ergebnis folgt auch Gustav Radbruch, der Wächter bei der Betrachtung der Verbrechenssystematik als Anhänger Feuerbachs einordnet. 71 Ausgehend von dieser grundlegenden systematischen Betrachtung wird deutlich, daß die Handlung als strafrechtlicher Begriff bei der Definition des Verbrechens auch beim „frühen" Wächter nicht fehlt. 72 Jedoch bleibt zu untersuchen, ob die Handlung in diesem System einen eigenständigen, die Grundstruktur strafrechtlicher Erkenntnis umfassenden Begriff bildet. Der Verbrechenstatbestand Feuerbachs beinhaltet die Abstraktion des einzelnen strafrechtlich relevanten Verhaltens als Grundlage der Merkmale, die die Handlung als solche zum Verbrechen machen. Die Handlung ist damit nicht Ausgangspunkt strafrechtlicher Erkenntnis. Feuerbach fragt vielmehr danach, welche zusätzlichen Merkmale zur Handlung hinzutreten müssen, um ein Verbrechen annehmen zu können. In vergleichbarer Weise verfahrt auch Wächter bei der Darstellung des „Begriffs) Verbrechen (crimen, delictum) überhaupt" 73. Wolle man das Verbrechen nicht nur allgemein als „rechtlich strafbare Handlung" definieren, „sondern gleich in den Begriff die Bezeichnung dessen, Was eine Handlung zur rechtlich strafbaren macht, aufnehmen ..., ergeben sich hieraus so viele verschiedene Definitionen von Verbrechen, als es überhaupt verschiedene Ansichten vom Grundprincip des Strafrechts gibt." 74 Durch diesen Ansatz wird deutlich, daß der frühe Wächter der Handlung ebenfalls keine grundlegende eigenständige Bedeutung in der Verbrechenssystematik zuweist. Vielmehr ist ihm die Verwendung des Ausdrucks „Handlung" bei der Definition des Begriffs Verbrechen viel zu unbestimmt und unkonkret, 70

C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, § 46 Note 98).

71

G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S.

76 f. 72

C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, §§ 42,48.

73

C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, § 42 ,1.

74

C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, § 42 Note 95).

138

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

d.h. ohne eigentliche Bedeutung. Ihm kommt es vielmehr, ebenso wie Feuerbach, auf die Merkmale menschlichen Verhaltens an, die zur Handlung hinzutreten müssen, um strafrechtlich relevant zu werden. Einen Handlungsbegriff im modernen Sinne als Ausgangs- und Angelpunkt rechtlicher Verantwortung kennt auch das Verbrechenssystem Wächters nicht. Daher bleibt zu prüfen, ob der frühe Wächter die Elemente eines allgemeinen strafrechtsphilosophischen Handlungsbegriffs gebraucht. Dazu sind eine äußere Tat, der Wille und die Inbeziehungsetzung von Tat und Wille erforderlich. Die „äußere Erkennbarkeit der Handlung (eine äußere Handlung)" bezeichnet Wächter als allgemeines, wesentliches Merkmal des Verbrechens. 75 Im darauf folgenden Kapitel untersucht er die ,Allgemeine Verschiedenheit der Verbrechen in subjektiver Rücksicht". 76 Dort wird das subjektive Moment, der Vorsatz und die Fahrlässigkeit, als Voraussetzung einer verbrecherischen Handlung diskutiert und definiert. Objektives und subjektives Element des strafrechtlichen Handlungsbegriffs sind bei Wächter demnach vorhanden. Im Rahmen der objektiven „wesentlichen Voraussetzungen" beschreibt Wächter letztlich auch den Begriff der „imputatio juris", also der juristischen Zurechnung. 77 Bei Stübel erwies sie sich als Zusammenfassung der subjektiven Voraussetzungen der strafrechtlichen Verantwortung, also der subjektiven Strafbarkeit, und damit - wie gezeigt - der Schuld.78 Feuerbach verlangt dagegen für die Zurechnung ein Inbeziehungsetzen des rechtswidrigen factums zum Begehrungsvermögen des Subjekts als Folge seiner potentiellen Abschreckbarkeit. 79 Obwohl Wächter die juristische Zurechnung formal im Rahmen der Darstellung der objektiven Merkmale des Verbrechens untersucht, was gegen den Stübelschen Ansatz sprechen könnte 80 , bezeichnet er dagegen die Folge einer gelungenen Zurechnung als „Verschuldung" 81 der Tat, also als Element der subjektiven Strafbarkeit, ähnlich wie Stübel.

75

C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, S. 80, § 48.

76

C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, S. 125 ff.

77

C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, §§ 66 ff.

78 Chr.C. Stübel, System des allgemeinen peinlichen Rechts, mit Anwendung auf die in Chursachsen geltenden Gesetze, Leipzig 1795, Teil n, §§ 365-368; insbesondere § 365: „Urteil über die Äußerung eines gesetzwidrigen Willens des Täters des Verbrechens". 79 Vgl. E. v. Bubnoff, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 26. 80 Jedoch behandelt auch Feuerbach die Zurechnung unter den „Subjektive(n) Gründe(n) der absoluten StraßarkeitP.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen, in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 8. Auflage 1823 , §§ 84 ff. 81

C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, § 66 Note 24).

Kapitel 3: Strafrechtliche Handlungslehre

139

Entscheidend ist aber die mangelnde Differenzierung zwischen den beiden oben aufgezeigten Verbrechenssystemen: Wächter unterscheidet zwar durchaus zwischen den Zurechnungslehren Stübels und Grolmans einerseits, Feuerbachs andererseits, jedoch will er zwischen diesen keinen erheblichen Unterschied erkennen: „... Dann kann man 2 verschiedene Hauptansichten über die Grundlage der Zurechenbarkeit unterscheiden, bey denen aber freylich die Anhänger der Einen, wenn auch am Ende in den Hauptpunkten im Resultate der Sache nach übereinstimmend, doch ... in einzelnen Beziehungen von einander da und dort abweichen."82 Dabei hat Wächter die Besonderheit Feuerbachs, das Inbeziehungsetzen von Wille und Tat, keineswegs übersehen. In § 67 Note 27) seines Lehrbuches weist er ausdrücklich auf § 85 83 des Feuerbachschen Lehrbuchs des peinlichen Rechts hin, in dem die spezifischen Voraussetzungen der strafrechtlichen Zurechnung definiert werden. Wächter führt dabei ausschließlich solche Literatur an, die das „Requisit, welches Feuerbach ... aufstellt", die Relation zwischen Wille und Tat, ablehnt, ohne auf die Besonderheit seiner Zurechnungslehre und die sie formulierenden Paragraphen des Lehrbuchs, auf die stets ohne Kommentar oder Erklärung hingewiesen wird 8 4 , näher einzugehen. Es entsteht infolgedessen der Eindruck, daß Wächter die Tragweite der Innovation Feuerbachs nicht entsprechend einschätzen und damit nach kritischer Begutachtung letztlich nicht übernehmen konnte. Aufgrund der Zuordnung der Zurechnung als Element der subjektiven Strafbarkeit, der mangelnden Differenzierung zwischen den Zurechnungslehren Stübels und Feuerbachs und der Tatsache, daß Wächter der Strafzwecktheorie der Generalprävention Feuerbachs nicht folgt, diese aber den entscheidenden Ausgangspunkt für die Relation von Tat und Wille darstellt, liegt der Schluß nahe, die „imputatio juris" Wächters nicht dem Inbeziehungsetzen des subjektiven mit dem objektiven Element des Verbrechens, sondern vielmehr dem Urteil über die Freiheit des Willensentschlusses des Täters zuzuordnen. 85 Eine Vermittlung von Wille und Tat im Sinne eines allgemeinen strafrechtsphilosophischen Handlungsbegriffs ist bei Wächter in seiner frühen Phase nicht nachweisbar. Infolgedessen stehen sich die objektive und die subjektive Seite des Verbrechens unvermittelt gegenüber. Diese Einschätzung teilt wiederum Gustav Radbruch: Wächter sei zwar in der

82

C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1,1825, § 67 Note 26).

83

Wächter führt die für die Zurechnungslehre Feuerbachs wesentlichen §§ 84-89 des Lehrbuchs des gemeinen in Deutschland gültigen, peinlichen Rechts, 8. Auflage 1823 an. Vgl. C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, §§ 66-68. 84

Vgl. die Verweise auf P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen, peinlichen Rechts, 8. Auflage 1823, §§ 84-87, in: C.G. v. Wächter, Lehrbuch des RömischTeutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, S. 108-111. 85

Dies erfolgt in den §§ 68-74 des Wächterschen Lehrbuchs des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, 1825.

140

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Lehre von der Verbrechenssystematik Feuerbach gefolgt, nicht aber in der Vermittlung von Wille und Tat. 86 Bei der Betrachtung der Lehren Feuerbachs, Stübels und Wächters wurde der Versuch unternommen, aufzuzeigen, daß in diesen Verbrechenssystemen von einem strafrechtlichen Handlungsbegriff mit eigenständiger Bedeutung noch nicht gesprochen werden kann. Es wurde nicht erkannt und für wesentlich befunden, daß die strafrechtliche Wertung ohne eine Verbindung der objektiven und der subjektiven Tatseite zu einer Einheit letztlich eine gerechte Beurteilung menschlichen Verhaltens schuldig bleiben muß. Eine Wendung ergab sich diesbezüglich erst mit der Entwicklung des veränderten Unrechtsbegriffs Hegels, der die Relevanz der Handlung als strafrechtlichen Grundbegriff erkannte und in die Dogmatik einführte. Da die Hegeische Lehre bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts das Strafrecht maßgeblich prägte 87, stellt ihr Einfluß auf die Entwicklung der Lehre Wächters ein unvermeidliches Untersuchungskriterium dar.

n. Carl Georg von Wächter zwischen Hegel und den Hegelianern In der zweiten Entwicklungsperiode der deutschen Strafrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts hat die Philosophie Hegels eine ausgezeichnete und umfängliche Schule begründet. Mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) und den Lehren der sogenannten Hegelianern wurde die Handlung durch die Verschmelzung des bis dahin „namen- und gestaltlos im System umhergeisternden Handlungsbegriff(s)" 88 mit der Zurechnungslehre zum Zentralbegriff des strafrechtlichen Systems.89 Hegel kann daher, nach Radbruchs berühmter Formulierung, als „Vater des strafrechtlichen Handlungsbegriffs" 90 bezeichnet werden.

86

G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S.

80. 87 E. v. Bubnoff, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 13. 88

G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S.

85. 89 H. Holzhauer, Imputation, in: HRG, hrsg. v. A. Erler u. E. Kaufmann, Bd. n, 1978, Sp. 335, 337; E. v. Bubnoff, Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 36; E.A. Wolff, Das Problem der Handlung im Strafrecht, in: Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, hrsg. v. A. Kaufmann, 1968, S. 291, 292; K. Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau, in: Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 99, 1973, S. 30. 90

101.

G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S.

Kapitel 3: Strafrechtliche Handlungslehre

1. Hegel und die strafrechtliche

141

Handlung

Bei Hegel muß das die äußere Tat und den Willen zu der Einheit „Handlung" verbindende Element, die Zurechnung, nicht erst konstruiert werden, sondern ist das Urteil, daß die Tat eine Handlung sei. Die Zurechnung ist damit nicht etwas, was zu einer Handlung als äußeres Merkmal hinzukommen muß, um als Verbrechen zu gelten; vielmehr ist die Zurechnung in der Handlung enthalten; beide Begriffe sind deckungsgleich.91 Hegel selbst bezeichnet als Handlung „die Äußerung des subjektiven oder moralischen Willens" 92 , wobei er unter Moral die freiwillige Unterordnung des subjektiven unter den objektiven, d.h. den aus der Vernunft im menschlichen Gattungsleben herrührenden, Willen versteht. 93 Die Lehre Hegels ist von der Annahme geprägt, daß sich im äußeren Geschehen der subjektive Wille des Täters realisiert und sich dabei die Wirklichkeit des Verbrechens materialisiert. 94 Eine Handlung liegt nur bei einer Übereinstimmung des subjektiven Willens mit dem äußeren Geschehen als Einheit vor. Die Herbeiführung desselben muß mittels des subjektiven Willens erfolgen und sich mit diesem decken.95 Entscheidend für den Hegeischen Handlungsbegriff ist damit der Wille, der durch seine Zweckbestimmung eine Richtung erhält und damit steuerbar wird. Nur was der Täter in diese Zweckbestimmung aufnimmt, ist auch zurechenbar. Der Wille bricht in den Kausalverlauf ein und bestimmt durch den verfolgten Zweck dessen Richtung, um sich diesen dienstbar zu machen. Daher können nur solche Folgen dem Täter zugerechnet werden, die durch den Zweck des Verhaltens dominiert wurden und deshalb das äußere Geschehen und den Willen, die ansonsten neutral nebeneinander stehen, zu einer Einheit verbinden. 96 Diesen Zweck der Handlung, der auf ihrer subjektiven Seite seinen Ursprung fin-

91

G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S. 86, 99 f.; E. v. Bubnoff, Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 47, 50; K. Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau, in: Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 99,1973, S. 31. 92

G.F.W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. v. G. Lasson, 1911, § 113.

93

W. Windelband, Geschichte der Philosophie, 2. Auflage 1900, S. 327; vgl. D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, in: Hamburger Rechtsstudien 81,1991, S. 93 ff. 94

E.A. Wolff, Das Problem der Handlung im Strafrecht, in: Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, 1968, S. 291, 292. 95

G.F.W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. v. G. Lasson, 1911, Zusatz §

114. 96

M. Quante, Hegels Begriff der Handlung, in: Spekulation und Erfahrung, Texte und Untersuchungen zum Deutschen Idealismus, Abteilung II: Untersuchungen Bd. 32, 1993, S. 56, 134 f., 184 f., 233; D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, in: Hamburger Rechtsstudien 81, 1991, S. 94 f.

142

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

det, bezeichnet Hegel als Absicht. 97 „Daher war nicht das Kausalgeschehen als solches, sondern die zweckvolle Beherrschung des Kausalablaufs bedeutsam."98 Infolgedessen entstand ein Abgrenzungsproblem zum „Zufall", bei dem der Täter die äußeren Umstände verkannte, das tatsächliche Geschehen demnach nicht seiner Vorstellung entsprach. Als Handlung konnte somit nur das zugerechnet werden, was gewußt und infolgedessen von der vorsätzlichen Zweckbestimmung umfaßt war. 99 Daher kann nur einem Willensträger eine Tat zugerechnet werden. Der Täter muß die Fähigkeit besitzen, Zwecke festzulegen, diese zu realisieren und damit den an sich neutralen Kausalverlauf in eigenes subjektives Verhalten zu modifizieren. 100 Urheber einer Handlung kann daher nur derjenige sein, der die Zweckbestimmung seines Verhaltens willkürlich und frei bestimmt, also handlungsfähig ist. 1 0 1 Von der Frage der Zurechnung eines Geschehens als Handlung ist nach Hegel jedoch die nach der rechtlichen und moralischen Bewertung der Tat streng zu trennen. Die Feststellung des Vorliegens der Handlung an sich sei „noch ohne Bestimmung ihrer rechtlichen oder unrechtlichen Seite". 102 Die sogenannte „subjektive Zurechnung" stellt nach Hegel auf die Einsicht und die subjektive Zwecksetzung des Täters ab. Sie kennzeichnet die persönliche Verantwortlichkeit, die Schuld, die sich auf die innere Willensbestimmung des Subjekts bezieht. 103 Das Vorliegen einer Handlung ist lediglich Voraussetzung einer persönlichen Vorwerfbarkeit. Im Ergebnis läßt sich nach Hegel die Handlung als eine willens- und zweckbezogene Tätigkeit definieren. Wobei die Kausalität erheblich an Bedeutung verliert, die zweckvolle Beherrschung des Kausalablaufs dagegen zum Angel-

97

G.F.W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. v. G. Lasson, 1911, §§ 118120. Vgl. dazu E. v. BubnofF, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 44 f. 98 K. Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau, in: Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 99, 1973, S. 32. 99

G.F.W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. v. G. Lasson, 1911, § 117.

100

K. Larenz, Hegels Zurechnungslehre und der Begriff der objektiven Zurechnung, 1927, S.

67. 101

G.F.W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. v. G. Lasson, 1911, § 120. Für Hegel sind die Zurechungs- und Handlungsfähigkeit inhaltsgleich. Vgl. dazu E. v. Bubnoff, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 49. 102 G.F.W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. v. G. Lasson, 1911, Anmerkung zu § 119. 103

G.F.W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. v. G. Lasson, 1911, § 132.

Kapitel 3: Strafrechtliche Handlungslehre

143

punkt des Systems wird. 1 0 4 Den Zweck bezeichnet Hegel als „die Seele der Handlung" 105 .

2. Die spezifisch strafrechtliche Ausprägung des Hegeischen Handlungsbegriffs durch die Hegelianer Um für die Einordnung des Strafrechtlers Wächter die ausreichenden Grundlagen zu schaffen, ist eine Untersuchung unerläßlich, inwieweit durch die Anhänger Hegels den philosophisch bestimmten Begriffen der Hegeischen Lehre eine speziell juristische Prägung verliehen wurde. Dabei sind insbesondere das Inbeziehungsetzen der Rechtswidrigkeit und der Schuld zum Handlungsbegriff und die Konstruktion der Fahrlässigkeit von entscheidender Bedeutung. In Betracht kommen die Strafrechtler und Hegelianer Julius Friedrich Heinrich Abegg (1796-1868) und Albert Friedrich Berner (1818-1907), die die Lehren Hegels in zwei wesentliche und selbständige Richtungen weiterentwickelten.

a) Julius Friedrich Heinrich Abegg Zu den notwendigen Bedingungen einer Handlung gehört nach Abegg, wie bei allen Hegelianern, neben dem Willen und der äußeren Tat eine diese verbindende Zweckbeziehung. Diese Merkmale bilden die Handlung, die zunächst jeder rechtlichen Bewertung entzogen bleibt. 106 Zu diesen drei Grundelementen müssen das Moment der Widerrechtlichkeit, das Abegg als „verschuldetes Entgegentreten gegen das bestehende Recht" definiert 107 , und das Moment der Strafbarkeit hinzutreten. Wobei diese rechtlich-wertenden Elemente nicht von außen zur Handlung an sich hinzukommen, sondern diese die Grundelemente Wille, Tat und Zweckbeziehung durchdrängen und damit die eigentlich „verbrecherische Handlung" ausmachen.108 Der Wille und die Willensäußerung werden infolgedessen als dem Recht entgegengesetzt definiert. 109 Danach deckt sich die Handlung mit der Zurechnung zur Schuld, zur persönlichen Vorwerf-

104

E. v. Bubnoff, Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 50. 105

G.F.W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. v. G. Lasson, 1911, § 118.

106

J.F.H. Abegg, System der Kriminalrechtswissenschaft, 1826, § 68; Lehrbuch der Strafrechtswissenschaft, 1836, S. 104. 107

J.F.H. Abegg, System der Kriminalrechtswissenschaft, 1826, S. 36.

108

J.F.H. Abegg, System der Kriminalrechtswissenschaft, 1826, S. 35-38, 46, 51; G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S. 93. 109

J.F.H. Abegg, Lehrbuch der Strafrechtswissenschaft, 1836, S. 105, 158.

144

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

barkeit. Die Handlung entspricht vor diesem Hintergrund einer schuldhaftrechtswidrigen Handlung und ist damit ein Synonym des Verbrechens. 110 Die Zurechnung umfaßt nach Abegg sowohl die objektive Zurechnung zur Tat als auch die Schuldzurechnung, also das Verhältnis des Willens zur Tat und zum Erfolg, und damit auch des Willens zu Recht und Gesetz.111 Infolgedessen kann bei Abegg dem Handlungsbegriff, in dem Rechtswidrigkeit und Strafbarkeit als wesensnotwendige Momente enthalten sind, keine eigenständige Bedeutung in der strafrechtlichen Systematik zukommen. 112 Abegg erkannte die Schwierigkeit bei der Erfassung der Fahrlässigkeit durch den Handlungsbegriff Hegels. Dieser hatte lediglich die vorsätzliche Handlung als strafrechtliche „Handlung" als solche anerkannt. 113 Bei der Fahrlässigkeit greift das objektive Tatmoment über das Willensmoment hinaus, so daß sich Handlung und Zurechnung nur beim vorsätzlichen Delikt decken. 114 Hegel schreibt dazu: „Das Recht des Willens aber ist, ... nur dies als seine Handlung anzuerkennen, ... was er von ihren Voraussetzungen in seinem Zwecke weiß, was davon in seinem Vorsatze lag." 1 1 5 Bei Hegel hat sich der Begriff der Zurechnung auf die Zurechnung zum Vorsatz beschränkt, so daß er der Einordnung der Fahrlässigkeit keine eigenständige Bedeutung zumaß. Nach der Tradition des Strafrechts war die Fahrlässigkeit jedoch ein typisch menschliches und damit ein potentiell schuldhaftes Fehlverhalten, so daß der Strafrechtler Abegg zwangsläufig den Versuch unternehmen mußte, die fahrlässig begangene Tat unter den Handlungsbegriff zu fassen. Fahrlässigkeit definierte er als Herbeiführung eines nichtgewollten rechtswidrigen Erfolgs, wobei der Vorsatz des Täters auf einen anderen, möglicherweise rechtsneutralen Erfolg gerichtet sei. 116 Jedoch sollte auch bei der Fahrlässigkeitstat das Moment 110

G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S.

88. 111 K. Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau, in: Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 99, 1973, S. 32; E. v. Bubnoff, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 54. 112

G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S.

88. 113 E.A. Wolff, Das Problem der Handlung im Strafrecht, in: Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, hrsg. v. A. Kaufmann, 1968, S. 291, 292; K. Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau, in: Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, 1973, S. 33; G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S. 101; M. Quante, Hegels Begriff der Handlung, in: Spekulation und Erfahrung, Texte und Untersuchungen zum Deutschen Idealismus, Abteilung II: Untersuchungen Bd. 32, 1993, S. 205 ff. 114 K. Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau, in: Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 99, 1973, S. 33. 115

G.F.W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. v. G. Lasson, 1911, § 117.

116

J.F.H. Abegg, Lehrbuch der Strafrechtswissenschaft, 1836, §§ 82, 85.

Kapitel 3: Strafrechtliche Handlungslehre

145

rechtswidrigen Wollens, wenn auch nur mittelbar, in Bezug auf die verwirklichte Rechtsverletzung vorhanden sein, um sie dem Täter zurechnen zu können. 117 Dieser Umstand trete aber nur dann ein, wenn der Täter die Möglichkeit des Erfolgs vorhersehen konnte oder diesen bei Anwendung pflichtgemäßer Sorgfalt hätte vorhersehen können, und dennoch für seine Willensteuerung darin kein Grund lag, die zur Herbeiführung der Rechtsverletzung geeignete Tätigkeit zu unterlassen. 118 Radbruch formuliert: „Wer eine Bedingung will, die diese „reale" Möglichkeit des Erfolges enthält, will also die Möglichkeit des Erfolges, will, wenn auch in abgeschwächtem Maße, den Erfolg selbst." 119 Die rechtswidrige Zwecksetzung, die das objektive und subjektive Moment der Handlung verbindet, besteht damit in dem Mangel auf der subjektiven Seite, die Rechtsverletzung zu vermeiden. 120 Im Rahmen der fahrlässigen Erfolgsherbeiführung konnte Abegg daher mit „Vorsatz" nur auf den allgemeinen Handlungswillen abzielen. 121

b) Albert Friedrich Berner Auch bei Berner 122 (1818-1907) sind die notwendigen Elemente des allgemeinen rechtsphilosophischen Handlungsbegriffs 123 vorhanden: Auf der einen Seite steht das äußere Geschehen, das er als „das abgelagerte objektive Ergebnis der Handlung" bezeichnet.124 Dem stellt er die subjektive Seite menschli117

J.F.H. Abegg, Lehrbuch der Strafrechtswissenschaft, 1836, S. 136.

118

J.F.H. Abegg, Lehrbuch der Strafrechtswissenschaft, S. 127, 130. Vgl. E. v. Bubnoff, Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 57. 119

G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S.

103. 120

E. v. Bubnoff, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 56. 121

G. Henn, Zur Problematik des Unrechtsbegriffs der Hegelianer, 1950, S. 88.

122

Die zur Handlungslehre relevanten Gedanken hat A.F. Berner schon früh entwickelt. Sie wird bereits in den „Grundlinien der kriminalistischen Imputationslehre " von 1843 und der ersten Auflage seines „Lehrbuch(s) des deutschen Strafrechts " von 1861 entwickelt. Von 1843 an bis zu dessen 18. Auflage vergingen jedoch 55 Jahre, in denen das Strafrecht bedeutenden und grundlegenden Entwicklungen unterworfen war. Daher verwundert es nicht, wenn Berner in seiner Imputationslehre Änderungen und Modifikationen vornahm, die im Rahmen dieser Untersuchung aber nicht weiter von Interesse sind. Die wesentlichen Grundlagen seiner Handlungslehre dagegen, die es hier darzustellen gilt, behält er bis zuletzt bei. Vgl. dazu E. v. Bubnoff, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 68 Note 2). 123

G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S.

73, 98. 124

A.F. Berner, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 17. Auflage 1895, S. 113.

10 Jungemann

146

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

chen Verhaltens, den Willen gegenüber. In der Inbeziehungsetzung des äußeren Geschehens, der Tat, zu dem Willen des Subjekts liegt die Zurechnung, wobei wie bei Hegel die Zwecksetzung die entscheidende Rolle spielt. 125 Menschliches Verhalten in der Außenwelt werde, so Berner, veranlaßt und gesteuert durch vorgestellte Ziele. Ausgangs- und Schlußpunkt der Wirkung des Willens sei der subjektive Zweck, der auf die Herbeiführung eines bestimmten Erfolges gerichtet ist. Damit sich aber dieser übersinnliche Wille des Menschen realisieren könne, bedürfe das Subjekt eines Mittels. Dazu sei ihm als „ursprüngliches sinnliches Werkzeug" der menschliche Körper und die Objekte der Außenwelt mitgegeben worden 126 , die er entsprechend seiner zweckbezogenen Zielsetzung als Willensorgane einsetze. Das kann letztlich nichts anderes bedeuten, als daß die vom Täter planmäßig ausgesuchten Kausalverläufe dem vorgestellten Handlungsziel entgegensteuern. 127 Die Vermittlung zwischen objektivem und subjektivem Moment ist demnach immer dann gegeben, wenn der Kausal verlauf die vom Willen bestimmte Richtung einhält und das äußere Geschehen dem der subjektiven Vorstellung entspricht. 128 Zurechnung bedeutet nach Berner nicht mehr als ein formelles Urteil über die schlichte Tat-Willens-Beziehung ohne Berücksichtigung rechtlicher oder sittlicher Werte. 129 Der wesentliche Unterschied zur Handlungslehre Abeggs liegt infolgedessen in dem Umstand, in der Zurechnung lediglich ein Urteil über das Verhältnis des Willens zum Erfolg, nicht aber zu dessen Rechtswidrigkeit zu sehen.130 Die Beurteilung der Beziehung zwischen Wille und Rechtswidrigkeits- bzw. Strafbarkeitsgesichtspunkten verweist Berner aus dem Bereich des strafrechtlichen Handlungsbegriffs in die Lehre von der Strafbarkeit 131, worunter er Schuld im Sinne persönlicher Vorwerfbarkeit versteht. 132 Mit dieser Trennung des Verbrechensbegriffs in Handlung und Strafbarkeit wird bei Ber-

125

E. v. Bubnoff, Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 73. 126

A.F. Berner, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 17. Auflage, S. 111.

127

E. v. Bubnoff, Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 73. 128

A.F. Berner, Grundsätze des preußischen Strafrechts, 1861, § 91.

129

H. Holzhauer, Imputation, in: HRG, hrsg. v. A. Erler u. E. Kaufmann, Bd. n, 1978, Sp. 335, 337 f.; E. v. Bubnoff, Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 71. 130 G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S. 95; K. Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau, in: Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 99,1973, S. 32. 131 132

A.F. Berner, Grundlinien der kriminalistischen Imputationslehre, 1843, S. 43, 50, 63.

E. v. Bubnoff, Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 71.

Kapitel 3: Strafrechtliche Handlungslehre

147

ner die Handlung zum Systemoberbegriff, dem die Momente der Rechtswidrigkeit und Strafbarkeit als Attribute beigeordnet werden. Berner war damit der erste, der der Handlung die herausragende Stellung im Strafrechtssystem einräumte, die sie bis heute inne hat. 133 Dazu formulierte Berner: „ W i l l man über den allgemeinen Tatbestand einen Überblick gewinnen, so hat man davon auszugehen, daß das Verbrechen Handlung ist. Alles, was man sonst noch vom Verbrechen aussagt, sind nur Prädikate, die man der Handlung als dem Subjekte beilegt. Der Begriff der Handlung muß daher das feste Knochengerüst sein, welches die Gliederung der Lehre vom Verbrechen bestimmt." 134 Ausgangspunkt der Begründung der Thesen zum Handlungsbegriff war bei Berner, wie bei Hegel und Abegg, stets die vorsätzliche Tat, denn diese wurde von der willentlichen Zwecksetzung als verbindendes Element dominiert. Berner betrachtete diese als das geschehene Gewollte. 135 Anders als Abegg, der die Fahrlässigkeitstat als Willenshandlung definieren will, sieht sich Berner bei der „culposen" 136 Handlung zu einer Erweiterung des ursprünglichen Handlungsbegriffs gezwungen.137 „In der culpa scheint das Moment der Tat weit über das Gewollte hinweg, tief hinein in die noch unerschlossene Subjektivität." 138 Indem das Tat- das Willensmoment überwiegt, diese also nicht wie bei der Vorsatztat im Gleichgewicht stehen, berührt die Tat den Willen nur noch indirekt, wird quasi nur noch in ihn reflektiert. 139 Für die Zurechnung ist infolgedessen nicht mehr erforderlich, daß das Geschehene gewollt ist 1 4 0 , sondern es reicht aus, im äußeren Geschehen eine adäquate Ursache der Individualität des Täters feststellen zu können. Das äußere Geschehen muß sich also allein in der Subjektivität des Subjekts widerspiegeln, um der Zurechnung als verbindendes Element Genüge zu tun, um als Handlung im strafrechtlichen Verbrechenssystem zu gelten. Demnach hält Berner gerade auch bei der Fahrlässigkeit an dem

133

G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S.

134

A.F. Berner, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 1. Auflage 1861, S. 108.

95. 135

E. v. Bubnoff, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 75. 136

Das bedeutet im 19. Jahrhundert in diesem Zusammenhang eine „fahrlässige" Handlung.

137

A.F. Berner, Grundlinien der kriminalistischen Imputationslehre, 1843, S. 246.

138

A.F. Berner, Grundlinien der kriminalistischen Imputationslehre, 1843, S. 237.

139

E. v. Bubnoff, Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966, S. 75. 140

K. Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau, in: Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 99, 1973, S. 32. 10*

148

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Satze fest, daß sich Handlung und Zurechnung decken. 141 Er formuliert: „Zurechnung, das Urteil, daß eine Handlung vorliegt, erklären wir jetzt abstrakter als den Ausspruch: das Subjektive ist objektiviert, das Objektive subjektiviert." 1 4 2

3. Der „ späte " Wächter unter dem Einfluß Hegels und der Hegelianer Wächter, der sich in seiner späten Phase, erst im Jahre 1855 143 , erneut zur Handlungslehre äußerte, habe, so urteilt Eduard Kern, sein „natürlicher, praktisch-nüchterner Sinn ... vor allzutiefem Eindringen in theoretisch-dogmatische Fragen zurückgehalten und ihn vor einer ... Verquickung des juristischen Denkens mit philosophischer Denkweise bewahrt." 144 Richtig daran ist, daß der „späte" Wächter ebenso, wie in seiner frühen Phase, nicht ausdrücklich Stellung bezieht und seinen Standpunkt offen legt. Jedoch zeigt er in seinem Handbuch „Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht" 145 nicht nur gegensätzliche Positionen auf, wie noch im Jahre 1825 146 , sondern verfolgt eine favorisierte Lehrmeinung, die, wie er meint, Jetzt wohl allgemein zugegeben" ist. 1 4 7 Was Wächter darunter versteht, soll unter Zugrundelegung der Lehren Hegels sowie der Hegelianer Abegg und Berner ermittelt werden. In der Verbrechenssystematik Wächters finden sich die für den allgemeinen, rechtsphilosophischen Handlungsbegriff erforderlichen Elemente Tat und Wille: Unter der „That" sei lediglich das durch äußere Tätigkeit Bewirkte, die äußere Kausalität zu fassen, ohne daß die subjektive Seite menschlichen Verhaltens zu berücksichtigen sei. 148 Genau dieser solle aber entscheidende Bedeutung zukommen: „Wirkliche Ursache eines Geschehens ist Jemand vielmehr nur 141

G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S.

104 f. 142

A.F. Berner, Grundlinien der kriminalistischen Imputationslehre, 1843, S. 246.

143

C.G. v. Wächter, Die Deutsche Strafrechtswissenschaft des XIX. Jahrhunderts und ihre Aufgaben, in: Jahrbücher der Deutschen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung, hrsg. v. Th. Schletter, Bd. I, 1855, S. 105, 109. 144

E. Kern, Karl Georg von Wächter, in: Schwäbische Lebensbilder, hrsg. v. H. Haering u. O. Hohenstatt, Bd. I, 1940, S. 552; vgl. auch: H. Meyer, Karl Georg von Waechter, 1898, S. 33. 145

Bd. I: Einleitung und allgemeiner Theil, Stuttgart 1857, S. 283-287, 314-322, 391-396.

146

Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, Stuttgart 1825, S. 108-111.

147

C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 314 Note 2) a.A. 148 C G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, S. 315; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 130.

Kapitel 3: Strafrechtliche Handlungslehre

149

dann, wenn er sich selbst zur Realisierung desselben bestimmte .... Sich selbst zu einer That bestimmen ... kann das Subjekt nur durch seinen Willen. Es muß daher bei jedem Verbrechen zu dem Thatmoment noch das Willensmoment hinzukommen... , " 1 4 9 In der Begründung geht Wächter dabei auch auf seine Strafzwecktheorie zurück, indem er postuliert, daß ein Rechtsgesetz beim Menschen als „freies Sinnwesen" nur bei der Willensbildung desselben ansetzen könne, um normgemäßes Verhalten zu erzwingen. Denn der Wille, das subjektive Element der Handlung, sei Grund und Auslöser alles menschlichen Tuns und Unterlassens, und damit des realisierten Verbrechens. 150 Einen solchen könne aber nur das Subjekt bilden, das in der Lage sei, sich selbst und die Bedeutung seines Verhaltens zu erfassen und zu beurteilen. Darüber hinaus müsse es mit der Fähigkeit ausgestattet sein, die Rechtsordnung und die sich daraus ergebenden Anforderungen zu begreifen. 151 Dazu müßten die subjektiven intellektuellen Fähigkeiten des Täters geeignet sein, einen freien Willen zu bilden, um insofern sein Tun und Unterlassen freiheitlich bestimmt zu realisieren. 152 Hegel betrachtete die Zurechnung, als das den Willen und das äußere Geschehen verbindende Element, nicht nur als zur Handlung hinzukommendes Merkmal, sondern als kongruent. 153 Ebenso äußert sich Wächter: „Das Wort That drückt blos die äussere Causalität aus, Handlung dagegen die Beziehung des Geschehenen auf den Willen, seine Einheit mit dem Willen ...". 1 5 4 Bezeichnend dabei ist, daß Wächter den Willen und seine Beziehung auf das äußere Geschehen als entscheidenden Faktor in seiner Handlungslehre einschätzt: „Das Rechtsgesetz ist ein Willensgesetz ...". 155 Das äußere Geschehen, die äußere

149

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 129.

150

C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, Bd. I, 1877, S.

47 f. 151 C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 314, 319 f. 152 C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 131; Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 320. Vgl. dazu die einzelnen Fälle mangelnder freiheitlicher Willensbestimmung, in: C.G. v. Wächter, Deutschen Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 133-160; Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. 1,1857, S. 391-410. 153

Vgl. Anmerkung 756).

154

C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 286 Note 9), 319. 155 C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 21; Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 314; Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, Bd. n, 1842, S. 4; Strafgesetzgebungen (neuere), in: Das Staatslexikon, hrsg. v. K. v. Rotteck und K. Welcker, 2. Auflage 1848, Bd. XII, S. 463, 467 f.

150

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Kausalität, müsse ihren Grund und ihre Zweckrichtung allein im Willen des Subjekts finden. Von diesem aus nehme die äußere Tätigkeit und der bewirkte Erfolg ihren Anfang; der Wille verleihe dem Geschehen seinen finalen Charakter. 156 Nur diese Zweckrichtung, die Wächter als Bestimmung zur That" oder „Grund zur That" bezeichnet, könne das äußere Geschehen, also die „äußere That", und die subjektive Seite des Täters zu einer Einheit verbinden. 157 Entscheidend ist damit für Wächter, ebenso wie für Hegel, daß der zweckbezogene Wille in den objektiven Kausal verlauf eintritt, diesen steuert und sich zunutze macht. Lediglich diejenige „äußere Causalität, ... welche und in so weit sie in dem Willen desselben ihren Grund hat, also die durch den Willen bestimmte That des Subjekts", könne diesem im strafrechtlichen Sinne zugerechnet werden. 158 Diese Ausführungen zeigen, daß Wächter in den Grundsätzen der Handlungslehre Hegels folgt, obwohl dessen Name in seinen Schriften nicht nachzuweisen ist. Damit kann die Einschätzung Bernhard Windscheids nicht zutreffen, wenn er schreibt: „Wächter ist überhaupt von den philosophischen Strömungen seiner Zeit ganz unberührt geblieben, und auch die Hegel'sehe Philosophie, die doch während seiner Jugend- und Manneszeit die Geister so mächtig ergriff, hat nicht den mindesten Einfluss auf ihn gehabt." 159 Diese Auffassung teilen auch Ernst Landsberg und Ferdinand Elsener. 160 Dagegen gelingt die richtige Einordnung Gustav Radbruch, der Wächter als Hegelianer identifiziert, ohne dabei näher auf dessen Argumentation einzugehen. Er weist in diesem Zusammenhang eindrücklich auf die, die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts prägende, Lehre des Philosophen Hegel hin, was Auswirkungen auf die strafrechtsdogmatischen Anschauungen Wächters zwangsläufig unvermeidlich machte. 161 Herbert Dannenberg stellt zwar die Beziehung Hegel-Wächter nicht ausdrücklich her, ver-

156 C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 130; Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 314 f. 157

C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsch Strafrecht, Bd. I, 1877, S. 48; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 20 f.; Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. 1,1857, S. 320. 158

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 130.

159

B. Windscheid, Carl Georg von Wächter, 1880, S. 56.

160 E. Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abt., 2. Halbbd., Text, 1910, S. 617; F. Elsener, Der Jurist Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477-1977, 1977, S. 471, 483, wobei sich Elsener lediglich auf die Einschätzung Windscheids stützt. 161

86 f.

G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S.

Kapitel 3: Strafrechtliche Handlungslehre

151

weist aber richtigerweise auf das Willensgesetz als wesentliche Grundlage der Wächterschen Handlungslehre. 162 Inwieweit dem strafrechtliche Handlungsbegriff in der Verbrechenssystematik Wächters eine selbständige Bedeutung zugewiesen ist, hängt von der Beantwortung der Frage ab, ob Wächter in der Übertragung der philosophischen Lehren Hegels in die strafrechtliche Dogmatik den Ansätzen der Hegelianer Abegg oder Berner folgte. Nach Abegg mußten für den strafrechtlichen Handlungsbegriffs neben die drei Grundelemente Tat, Wille und Zurechnung das Moment der Widerrechtlichkeit und Strafbarkeit hinzutreten und diese durchdringen. Wille und Willensäußerung wurden infolgedessen als dem Rechtsgesetz, als dem allgemeinen Willen entgegengesetzt definiert. Für Berner dagegen bedeutete Zurechnung nicht mehr als das formelle Urteil über die schlichte Tat-Willens-Beziehung ohne Berücksichtigung rechtlicher oder sittlicher Wertungen. „In Beziehung auf die wichtigste Vorfrage, was beim Verbrechen das eigentliche strafbare Moment, der wahre Kern des Verbrechens ... sei", befaßt sich Wächter allein mit dem den Gesetzen widersprechenden Willen als Ursache allen Unrechts. 163 Eine Handlung, also die Beziehung von Tat und Wille, liege dann nicht vor, wenn die „äußere Causalität" nicht auf eine Rechtsverletzung gerichtet sei. Die Zweckrichtung erhalte der Kausalverlauf aber durch den Willen, der dann naturgemäß ebenfalls negativ gegen die Rechtsordnung gerichtet sein müsse. 164 Entscheidende Bedeutung im Verbrechensaufbau Wächters erlangt damit der subjektive rechtswidrige Wille des Täters. Damit ist die Zurechnung nicht nur ein formelles Urteil über das Verhältnis des Willens zur „äußeren Causalität", sondern auch zu deren Rechtswidrigkeit. 165 „Das Urtheil, dass ein Unrecht in dem Willen eines Subjects seinen Grund habe und desshalb ihm zur Last gelegt werden könne, ist die rechtliche Zurechnung ...". 1 6 6 Damit könne das objektive Geschehen, das im Widerspruch zu den Normen der Rechtsordnung stehe, dann nicht als Handlung des Subjekts gewertet werden, wenn der verursachende

162

H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht im 19. Jahrhundert, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, Bd. I, 1925, S. 40 f. 163 C.G. v. Wächter, Strafgesetzgebungen (neuere), in: Das Staatslexikon, hrsg. v. K. v. Rotteck und K. Welcker, 2. Auflage 1848, Bd. XD, S. 463, 467 f. 164

C.G. v. Wächter, Beilagen zu Vorlesungen über das Deutsche Strafrecht, Bd. I, 1877, S. 48.

165

Vgl. dazu G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903, S. 87 ff. 166

315.

C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S.

152

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Wille rechtlich indifferent oder gerechtfertigt sei. 167 Da Wächter die einzelnen Handlungselemente mit den Attributen der Rechtswidrigkeit und Strafbarkeit versieht, wird die Frage nach der Handlung mit der der persönlichen Vorwerfbarkeit, also des persönlichen Verschuldens, auf das Engste verknüpft. Das Urteil, daß eine Tat auf den rechtswidrigen Willen eines Subjekts zurückgeführt werden könne, bedeute auch die „Zurechnung zur Schuld auf dem Gebiete des Rechts". 168 Hinzu kommt, daß Wächter den Begriff Handlung nie im Sinne eines Schwellenbegriffs definiert, mit dem menschliches Verhalten strafrechtlicher Wertung unterworfen ist, sondern - wie gezeigt - der Zurechnung als TatWillens-Rechtswidrigkeitsbeziehung gleichsetzt. Die Handlung hat demnach zwar als Begriff in der Wächterschen Verbrechenssystematik eine eigenständige Bedeutung 169 , nicht aber im Sinne eines modernen dogmatischen Verständnisses, sondern lediglich als Synonym des Verbrechensbegriffs. Damit folgt Wächter im Rahmen der Lehre vom Verbrechen dem Handlungsbegriff Abeggs. Einen weiteren Beleg für diese Einordnung der Wächterschen Verbrechenssystematik könnte sich auch aus der Betrachtung der Definition der strafrechtlichen Fahrlässigkeitstat ergeben. Für Abegg lag in der fahrlässigen Herbeiführung eines rechtswidrigen Erfolgs ein willensgesteuerter Vorgang. Daß der Täter bei pflichtgemäßer Sorgfalt die Rechtsverletzung hätte vorhersehen und vermeiden können und trotzdem darin keinen Grund sah, die zur Herbeiführung der Rechtsverletzung geeignete Tätigkeit willentlich zu unterlassen, sei ein Defekt im subjektiven Moment der Handlung. Zwar definiert Wächter die Fahrlässigkeitstat als Erfolgsherbeiführung durch Mangel an Sorgfalt und Umsicht, letztlich aber als „Verletzung wider Willen und Wissen". 170 Dabei bezieht er sich jedoch nur auf das Fehlen des Bewußtseins der Rechtsverletzung und des final auf den Erfolg gerichteten Willens. Dennoch sei die fahrlässige Tat stets eine vorsätzliche. 171 Denn derjenige, der durch Unachtsamkeit oder Bequemlichkeit" einen Dritten verletzt habe, zeige

167

C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S.

315. 168 C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 315; Strafgesetzgebungen (neuere), in: Das Staatslexikon, hrsg. v. K. v. Rotteck und K. Welcker, 2. Auflage 1848, Bd. XII, S. 463,467 f.; Die Deutsche Strafrechtswissenschaft des XIX. Jahrhunderts und ihre Aufgaben, in: Jahrbücher der Deutschen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung, hrsg. v. Th. Schletter, Bd. I, 1855, S. 105, 109. 169 Vgl. C.G. v. Wächter, Die Deutsche Strafrechtswissenschaft des XIX. Jahrhunderts und ihre Aufgaben, S. 105, 109; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 130. 170 171

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 160.

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 160 Note 1) a.E.

Kapitel 3: Strafrechtliche Handlungslehre

153

gerade durch die Vernachlässigung seiner Sorgfaltspflicht eine Nichtachtung der Rechtsordnung, und damit einen,,Mangel an dem erforderlichen rechtlichen Willen". 1 7 2 Was genau Wächter darunter fassen will, bleibt unscharf; eine Erklärung gibt er nicht. Folgender Hinweis Wächters könnte jedoch weiterhelfen. Auch für eine strafrechtlich relevante Fahrlässigkeit müsse stets die Tat durch den zweckgerichteten Willen vermittelt werden. Was immer dann gegeben sei, wenn der Erfolg bei Anwendung pflichtgemäßer Sorgfalt hätte vermieden werden können. 173 Letztlich kann dies aber nichts anderes bedeuten als die Fahrlässigkeitsdefinition Abeggs: Das verbindende Moment zweckgerichteten rechtswidrigen Wollens liege mittelbar in der bewußt gesteuerten Unterlassung der zur Herbeiführung der Rechtsverletzung geeigneten Tätigkeit; die Vorhersehbarkeit des möglichen Erfolgs vorausgesetzt. Im Gegensatz zur Vorsatztat fehle lediglich der bewußte Angriff auf die Rechtsordnung. Daher ist es folgerichtig, wenn Wächter feststellt: „Die culpa ist daher nicht ... ein Verstandesfehler, für den man nicht verantwortlich sein konnte, sondern ein Willensfehler". 174 Indem Wächter den Handlungselementen Tat, Wille und Zurechnung im Gegensatz zu Berner einen Bezug zur Rechtswidrigkeit gibt und die strafrechtliche Fahrlässigkeit als willentliche Tat definiert, folgt er, ohne diesen Bezug ausdrücklich herzustellen, der Verbrechenssystematik Abeggs. Infolgedessen kann dem strafrechtlichen Handlungsbegriff in der Verbrechenslehre Wächters keine selbständige Bedeutung zukommen. Handlung ist letztlich nichts anderes als der Universalbegriff Verbrechen. Mit dieser Erkenntnis ist Wächter vor dem Hintergrund der Entwicklung der modernen Strafrechtswissenschaft des 20. Jahrhunderts zu betrachten und zu bewerten. Nach einer grundlegenden Diskussion der zahlreich vertretenen Handlungstheorien, wie der kausalen Handlungslehre, nach der die Handlung ein vom Willen beherrschbares menschliches Verhalten darstellt, oder der nach der Zweckgerichtetheit qualifizierenden finalen Handlungslehre 175 sowie auch des negativen, personalen oder sozialen Handlungsbegriffs 176 formuliert die moderne Strafrechtswissenschaft den resignierenden Gedanken, von der An-

172

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 161.

173

C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S.

411. 174

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 161.

175

Vgl. dazu Teil 3 Kapitel 4, H

176

Eine einführende Übersicht über die vertretenen Handlungslehren bietet H.-H. Jescheck, Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, § 23; K. Lackner, Strafgesetzbuch, 22. Auflage 1997, Vor § 13, Rdnr. 7.

154

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

nähme eines vortatbestandlichen, allgemeingültigen Handlungsbegriffs absehen zu sollen. 1 7 7

177

Th. Lenckner, in: Strafgesetzbuchkommentar, hrsg. v. Schönke/Schröder/Lenckner, 25. Auflage 1997, Vorbem. § 13, Rdnr. 37; instruktiv C. Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Auflage 1997, § 8, Rdnr. 42.

Kapitel

Strafrechtliche Einzelfragen: Internationales Strafrecht, der Umfang des Vorsatzes, die Strafbarkeit des Selbstmordes, Brandstiftung und der Gewaltbegriff der §§ 253,255 RStGB

I. Das Internationale Strafrecht Das internationale Strafrecht regelt die Frage, ob ein Sachverhalt, dem hinsichtlich der Nationalität des Täters oder des Opfers oder des im Ausland liegenden Tatorts ein internationaler Bezug zugrunde liegt, im Verhältnis zum Täter und anderen involvierten Staaten der eigenen, also innerstaatlichen Staatsgewalt unterworfen ist. 1 Es handelt sich dabei letztlich um einseitige Kollisionsnormen, die den Umfang innerstaatlicher Sanktionsbefugnis regeln, indem sie diese lediglich beschränken, ohne die Anwendung ausländischen Strafrechts vorzusehen.2 Demnach bedarf es bei Sachverhalten mit Auslandsbezug stets eines sinnvollen Anknüpfungspunktes, der die rechtstatsächlichen Verhältnisse mit den Ordnungsbefugnissen der innerstaatlichen Gewalt in Beziehung setzt.3 Die Diskussion um diesen Anknüpfungspunkt bewegte sich im 19. Jahrhundert 4 zwischen den beiden Polen des aktiven Personalitäts- und des Territorialitätsprinzips. 5 Nach dem letzteren ist es einem Staat stets erlaubt, all diejenigen menschlichen Handlungen seiner Sanktionsgewalt zu unterwerfen, die auf dem eigenen Staatsgebiet vorgenommen wurden, unabhängig von der Nationalität des Täters oder des Opfers. 6 Diesem Prinzip folgt das heute geltende Recht in 1

H.-H. Jescheck, Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, S. 163; J. Wessels, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 26. Auflage 1996, S. 13. 2

K. Lackner, Strafgesetzbuch, 22. Auflage 1997, Vor §§ 3-7, Rdnr. 1.

3

D. Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Auflage 1983, S. 123 ff.

4

Ausführlich zu dieser Thematik A. Granitza, Die Dogmengeschichte des internationalen Strafrechts seit Beginn des 19. Jahrhunderts, 1960. 5 Vgl. ausführlich zur geschichtlichen Entwicklung D. Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Auflage 1983, S. 47 ff. 6

J. Wessels, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 26. Auflage 1996, S. 13.

156

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

§ 3 StGB, indem mit dem 1. Januar 1975 durch das 2. StrRG erneut der Gebietsgrundsatz in das Strafgesetzbuch eingeführt wurde. 7 Im Gegensatz dazu steht das „aktive Personalitätsprinzip", nach dem ein Staat Handlungen eigener (!) Staatsangehöriger auch dann seiner Strafgewalt unterwerfen darf, wenn sie im Ausland vorgenommen wurden. 8 Dieser Grundsatz betont die Treuepflicht des Täters gegenüber seinem Heimatstaat und dessen Gesetzen9 und ist damit Ausdruck autoritativen Staatsdenkens10. Dementsprechend mußte die absolute Vergeltungstheorie eines Kant oder Hegel 11 , die die Forderung nach uneingeschränkter Gerechtigkeit hochhielt, letztlich zu einer ausweitenden Tendenz der Strafgewalt des Staates führen. 12 Kant formulierte: „Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflöste ..., müsste der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte." 13 Nur so könne dem Postulat eines absoluten Gerechtigkeitsgedankens Genüge getan werden. Der idealistischen Rechtsphilosophie Kants lag damit die Idee einer weitgehenden Annäherung der staatlich-strafrechtlichen Gerechtigkeit und einer absolutgöttlichen Gerechtigkeit zugrunde. Die Straftat mußte als solche ohne Rücksicht auf Zweckmäßigkeit oder Rechtssicherheit staatlich sanktioniert werden. 14 Mit diesem Streben des Staates nach absoluter Gerechtigkeit war demnach aber ein nahezu umfassender Geltungsbereich eigener staatlicher Strafgewalt zwangsläufig verbunden, der hinsichtlich des eigenen umfassenden Gültigkeitsanspruchs nicht an den Ländergrenzen halt machen durfte. Das strafrechtliche Schrifttum, obwohl durchaus vom Liberalismus geprägt, vertrat vereinzelt dieses im wesentlichen reaktionär-autoritär bestimmte aktive Personalitätsprinzip in Anlehnung an Kant. So favorisierte neben Paul Johann Anselm von Feuerbach 15 und Gallus Aloysius Kleinschrod 16 (1762-1824) auch 7

Durch die Geltungsbereichs-VO vom 6. Mai 1940 wurde bis 1974 das aktive Personalitätsprinzip als geltender Grundsatz im StGB verankert. Vgl. K. Lackner, Strafgesetzbuch, 22. Auflage 1997, Vor §§ 3-7, Rdnr. 3. 8

A. Eser, in: Strafgesetzbuchkommentar, hrsg. v. Schönke/Schröder/Lenckner, 25. Auflage 1997, Vorbem. §§ 3-7, Rdnr. 6; H.-H. Jescheck, Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, S. 169. 9

K. Lackner, Strafgesetzbuch, 22. Auflage 1997, Vor §§ 3-7, Rdnr. 2.

10

Vgl. D. Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Auflage 1983, S. 117 f., 122.

11

Dazu ausführlich Teil 3 Kapitel 2.

12

D. Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Auflage 1983, S. 117.

13

1. Kant, Metaphysik der Sitten, 4. Auflage 1922, hrsg. v. K. Vorländer (ND 1966), S. 161.

14 15

D. Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Auflage 1983, S. 118.

P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen, peinlichen Rechts, 8. Auflage 1823, § 31 f.

Kapitel : Strafrechtliche

n l g e

157

Carl August Tittmann ein umfassendes Personalitätsprinzip. Das Gesetz verpflichte den Untertanen, als auf Lebzeiten dem Souverän unterworfen, auch bei strafrechtlich relevanten Handlungen im Ausland und strafe daher nicht stellvertretend, sondern originär im Sinne einer absoluten Vergeltung. 17 Insofern müsse stets das Heimatrecht des Verbrechers zur Anwendung kommen. Entgegen dieser philosophisch-idealistischen Ausrichtung normierte erstmals das preußische Strafgesetzbuch von 1851 in § 3 unter dem starken Einfluß des weitgehend liberal geprägten französischen Rechts das Territorialitätsprinzip. 18 Die Begründung des ausschließlichen Gültigkeitsanspruchs des Territorialitätsprinzips in der deutschen Wissenschaft gab hingegen erstmals Julius Friedrich Heinrich Abegg (1796-1868). In seiner Argumentation liegt der entscheidende, unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten entwickelte Gedanke, daß der Staat nur denjenigen strafen dürfe, der seinen Gesetzen auch tatsächlich und rechtspraktisch unterworfen sei. Der staatlichen Sanktionsgewalt komme daher ein Geltungsanspruch nur auf dem eigenen Hoheitsgebiet zu, jedoch nicht außerhalb dieser Grenzen. 19 In ähnlicher Weise argumentieren August Wilhelm Heffter 20 (1796-1880) und Eduard Henke 21 (1785-1829). Sie weisen daraufhin, daß die Strafgewalt eines Staates lediglich durch die einheitliche staatsbürgerliche Ausrichtung zur Realisierung der im jeweiligen Staat anerkannten Rechtsregeln legitimiert sei. Außerdem verweisen sie auf das Fehlen einer „obligatio ex lege" außerhalb des eigenen Staatsgebietes.22 Im Vordergrund dieser Idee steht damit ein Menschenbild, das das menschliche Wesen als weitgehend selbstbestimmt betrachtet und nicht in existentieller Abhängigkeit vom konkreten staatlichen Verband sieht.

16 G.A. Kleinschrod, Entwurf eines peinlichen Gesetzbuches für die kurpfälzbaierischen Staaten, 1802, § 5. 17 C.A. Tittmann, Die Strafrechtspflege in völkerrechtlicher Rücksicht mit besonderer Beziehung auf die teutschen Staaten, 1817, S. 17 f., 28, 30 ff. 18

§ 3 des Strafgesetzbuches für die Preußischen Staaten vom 14. April 1851: „Die Preußischen Strafgesetze finden Anwendung auf alle in Preußen begangenen Verbrechen, Vergehen Uebertretungen, auch wenn der Thäter ein Ausländer ist" (Zitiert nach: Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, hrsg. v.M. Stenglein, Bd. IE, 1858); Vgl. D. Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Auflage 1983, S. 119 f. 19 J.F.H. Abegg, Über die Bestrafung der im Ausland begangenen Verbrechen, Ein Versuch, 1819, §§ 15, 28, 34, 37 ff. 20

A.W. Heffter, Lehrbuch des gemeinen deutschen Criminalrechts, 1833, S. 39 ff.

21

E. Henke, Handbuch des Criminalrechts und der Criminalpolitik, 1. Theil, 1823, S. 606 f. Den 2. Band des Handbuchs Henkes begutachtete Wächter durchaus kritisch, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft, Bd. I, Heft 3 (1826), S. 46-77. 22

A.W. Heffter, Lehrbuch des gemeinen deutschen Criminalrechts, 1833, S. 39 f.

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Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Wächter geht das „Weltrechtsordnungsprinzip" eines Robert von Mohl 2 3 (1799-1875), wonach der Staat berechtigt sein soll, jedes sanktionswürdige Unrecht beliebig mit Strafe zu belegen, unabhängig wo und von wem es auch begangen sein mag, zwar zu weit 24 , jedoch hält er das Territorialitätsprinzip für weitaus zu eng, um zu sachgerechten Ergebnissen gelangen zu können.25 Dies mag verwundern, zumal Wächters liberale Gesinnung bereits mehrfach nachgewiesen werden konnte. Ein Zugang zu Wächters Anschauung gelingt jedoch über die Betrachtung seiner Straftheorie, die von einem dominierenden Wiedervergeltungsgedanken geprägt wird, der die Forderung nach einem absoluten Gerechtigkeitsanspruch immanent ist. 26 Insofern stellt er als positiven Aspekt des „Personalitätsprinzips" gerade den Umstand heraus, daß dieses nicht nur die Rechte des Inländers, sondern auch die des Ausländers und der auswärtigen Staaten als schützenswert betrachtet. „Denn nach dem modernen Völkerrechte ist auch der Fremde als rechtsfähig anzuerkennen und ist auch die Rechtsordnung fremder Staaten zu achten. Jeder Staat hat daher gegen seine Angehörigen auch die Fremden und deren Rechte, so weit möglich und so weit es in seinem völkerrechtlichen Verhältnissen liegt, zu schützen."27 Um der Wiedervergeltung des Unrechts als objektiver Größe gerecht werden zu können, müsse jedes Unrecht staatlicher Sanktionsgewalt zugeführt werden, ohne letztlich an Ländergrenzen zu scheitern. Eine „Genugthuung" des verletzten Rechts gelte als absolutes rechtsphilosophisches Prinzip über alle „Grenzpfahle" hinweg. Außerdem bleibe der Staatsangehörige, der sich der jeweiligen Staatsmacht unterworfen habe, stets an diese gebunden, unabhängig davon, wo er sich gerade befinde und handle 28 , ohne dabei aber das Recht auf Auswanderung zu verlieren. 29 Um diesen Anforderungen genügen zu können, geht Wächter sogar noch über das „Personalitätsprinzip" hinaus 30 und entwickelt das „Princip der betheiligten (angegriffenen) Rechtsordnung und (der betheiligten) Interessen des

23

Revision der völkerrechtlichen Lehre vom Asyl, 1853, S. 58 ff., 91-115.

24

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 83; Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. 1,1857, S. 126. 25 Vgl. dahingehend auch Wächters Nachweis, daß die Entwürfe eines Strafgesetzbuches fiir den Norddeutschen Bund entgegen dem Wortlaut nicht dem Territorialitätsprinzip, sondern dem aktiven Personalitätsprinzip folgten. (C.G. v. Wächter, Beitrag zur Geschichte und Kritik der Entwürfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, 1870, S. 75 ff.). 26

Vgl. dazu ausführlich Teil 3 Kapitel 2.

27

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 85.

28

C. G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 84.

29

Vgl. dazu den 3. Abschnitt dieses Kapitels.

30

Nach dem Personalitätsprinzip sind nur Handlungen eigener Staatsangehöriger im Ausland der innerstaatlichen Strafgewalt unterworfen. Vgl.: H.-H. Jescheck, Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, S. 169.

Kapitel : Strafrechtliche

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Staates überhaupt" als eigenständige Lehre. 3 1 Dieses Prinzip weise auch i n den Fällen die Sanktionsmacht der inländischen Staatsgewalt zu, i n denen die „Rechte und Interessen" oder die „Rechtsordnung" des jeweiligen Staates oder die „Rechte seiner Angehörigen" durch Ausländer v o m Ausland her verletzt würden. Denn es sei ein Gebot der gerechten Wiedervergeltung, wenn jeder Staat das Recht verlange, „daß der Bestand seiner Rechtsordnung und die Rechte seiner Bürger überall geachtet und anerkannt werden." 3 2 A l s Voraussetzung für die Anwendbarkeit innerstaatlicher Sanktionsgewalt betrachtet Wächter damit lediglich die „Verletzung unsrer Rechtsordnung und unsrer Rechte" als Ausdruck der Unverletzlichkeit und Heiligkeit der gesetzten Rechtsordnung. 3 3 Er zieht dort aber auch ihre Grenze, u m nicht selbst eine Weltrechtsordnung zu entwerfen. 3 4 So kritisiert er die Regelung des sächsischen Strafgesetzbuchs aus dem Jahre 1855, das auch für die Fälle, daß ein Ausländer i m Ausland ausländische Rechtsgüter verletzt habe, i n den A r t i k e l n 3 und 5 3 5 eine eigene Strafgewalt begründet. 3 6 Carl L u d w i g von Bar (1836-1913) wendete sich jedoch gegen die von Wächter favorisierte Ausweitung des Strafanspruchs des Staates m i t der Be-

31 C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 85 f. Erste Andeutungen dieser Lehre finden sich bei Wächter, in: Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 125 ff, 136 Anmerkung 11); Beitrag zur Geschichte und Kritik der Entwürfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, 1870, S. 74 ff. In seinem Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, S. 59-63 findet sich noch kein Hinweis auf diese eigenständige Theorie Wächters; vgl. dazu insbesondere S. 62 Anmerkung 87). Ein namentlich nicht genannter Rezensent folgt dieser von Wächter vertretenen Ansicht in wesentlichen Zügen, in: Württembergisches Archiv für Recht und Rechtsverwaltung, Bd. I, 1858, S. 312, 316. 32 C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 86; Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 125.

33 „Ein solches die Strafgewalt des Staates in unnatürlicher Weise beschränkendes nach welchem der Bund seine Rechtsordnung und die Unverletzlichkeit seiner Angehörige das von Ausländern im Auslande Verübte nicht selbst schützen und seinem verletzten Rec selbst die nöthige Genugthuung verschaffen darf entspricht nicht der Macht und der Pfl Bundes ." „Eine blose Ausweisung aber entspricht doch in der That nicht der Stellung des und der Pflicht desselben , seinem verletzten Rechte die gehörige Genugthuung zu geben u Angehörigen, auch wenn sie im Auslande sich aufhalten, soweit möglich zu schützen(C.G Wächter, Beitrag zur Geschichte und Kritik der Entwürfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, 1870, S. 81 f., 84). 34

C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S.

125. 35 §§ 3, 5 des Strafgesetzbuches für das Königreich Sachsen vom 13. August 1855 (Zitiert nach: Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, hrsg. v. M. Stenglein, Bd. EI, 1858). Zu beachten ist C.R. Köstlin, Neue Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts, 1845, S. 741 Anm. 1) der die Lehre Wächters zu übernehmen scheint. 36

C.G. v. Wächter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 136 Anmerkung 11), 140 f.

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Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

gründung, daß die Strafbarkeit eines Handelns im Rechtsbewußtsein jedes Täters zumindest ansatzweise angelegt sein müsse. Dies sei bei einem ausländischen Täter, der im Ausland mit seinem eigenartigen Rechtssystem eine Straftat gegen einen Inländer begehe, nicht selbstverständlich. „Wie anders aber soll noch das Rechtsbewußtsein in Bezug auf ein bestimmtes Strafgesetz vermittelt werden, als entweder durch Aufenthalt oder Nationalität des Handelnden?"37 Zunächst weist Wächter darauf hin, daß es für die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Täters nicht auf das Bewußtsein der konkreten Strafbarkeit, was letztlich zu rechtspolitisch unerwünschten Strafbarkeitslücken führen würde, sondern lediglich auf das Bewußtsein der Widerrechtlichkeit des Handelns ankommen könne. Von ausschlaggebender Bedeutung sei dabei der Umstand, daß die vergleichbaren Arten von Verbrechen in nahezu allen Rechtsordnungen mit Strafe belegt würden, und somit das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit dahingehend regelmäßig zu unterstellen sei. Liege dieses Bewußtsein im Einzelfall ausnahmsweise einmal nicht vor, so sei von einer Bestrafung des Ausländers dennoch nicht pauschal abzusehen, sondern lediglich eine verminderte Schuldfähigkeit anzunehmen, was mit Wächters Standpunkt zu der umstrittenen Frage des Bewußtseins der Rechtswidrigkeit als Vorsatzelement entscheidend zusammenhängt.38 Außerdem laufe ein Täter stets Gefahr, im Rahmen der rechtlichen Bewertung seines Handelns mit auswärtigen Rechtsordnungen und deren eigenartigen Rechtsregeln in Berührung zu kommen. Insofern müsse er eine potentielle Widerrechtlichkeit seines Verhaltens zumindest in Erwägung ziehen.39

n. Der Umfang des Vorsatzes „Dolus ist der auf Verletzung des betreffenden, vom Gesetze geschützten Gutes gerichtete Wille; auf dem Gebiete des Strafrechts ist somit dolus der auf Verwirklichung Dessen, was strafbares Unrecht ist, gerichtete Wille, also wenn Das, was die Person wollte, so wie sie es wollte, den Thatbestand eines Verbre-

37

C.L. v. Bar, Bemerkungen über die internationalen und staatsrechtlichen Bestimmungen des Entwurfs eines Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund, in: Goltdammers Archiv für Preußisches Strafrecht, Bd. XVm (1870), S. 83, 87. Dagegen stellt Karl Binding das Verdienst Wächters für die Entwicklung des deutschen internationalen Strafrechts ausdrücklich heraus: ,rDie Darstellung des internationalen Strafrechts ..., welches Wächter ganz besonders interessirte welches er sich wohl von allen deutschen Juristen am Meisten verdient gemacht hat - ist noch ganz unübertroffen." (in: B. Windscheid, Carl Georg von Wächter, 1880, S. 48). 38 39

Vgl. dazu den Abschnitt n. dieses Kapitels.

C.G. v. Wächter, Beitrag zur Geschichte und Kritik der Entwürfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, 1870, S. 84 Anmerkung 6).

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chens bildet." 40 Für Wächter kommt es für die Erfüllung der subjektiven Voraussetzungen einer Straftat als Element des „Thatbestandes eines Verbrechens"41 zunächst darauf an, daß sich das Wollen des Täters auf sämtliche tatsächliche Elemente des im Gesetz beschriebenen Verbrechens bezieht; wobei es keine Rolle spielen soll, ob der reale Sachverhalt dem Vorstellungsbild des Täters entspricht. Denn der Vorsatz werde durch die Vorstellung, die sich der Handelnde vom Sachverhalt macht, und den Inhalt seines Willens, nicht aber durch die Übereinstimmung des Willens mit dem wirklichen Sachverhalt bestimmt. 42 Insoweit folgt Wächter der allgemeinen Ansicht seiner Zeit über Definition und Inhalt des strafrechtlichen Vorsatzbegriffs. 43 Umstritten war jedoch die Frage, ob diese Elemente zur Definition des Vorsatzes ausreichten oder ob ein weiteres entscheidendes Kriterium hinzutreten müsse, „nämlich die Kenntnis des Verhältnisses der gewollten Handlung zum bestehenden Recht, also das Bewußtsein, daß die Handlung eine unerlaubte und verbotene sei." 44 Im 19. Jahrhundert forderte die überwiegende Meinung in der Strafrechtslehre ein solches Bewußtsein der Rechtswidrigkeit der Handlung. 45 Begründet wurde dies vorwiegend mit dem Hinweis auf die erforderliche Widerspiegelung der objektiven Rechtswidrigkeit des Handelns in der subjektiven Willenssteuerung des Täters als Ausgangspunkt allen Unrechts. Umfasse das Bewußtsein des Täters diese Widerrechtlichkeit als objektives Element der Tat nicht, so könne der Täter in strafrechtlicher Hinsicht mangels einer willentlichen Auflehnung gegen das staatliche Normensystem nicht zur Verantwortung gezogen werden. 46 Wächter vertritt hingegen einen eigenständigen, abweichenden Standpunkt. Für die Annahme einer vorsätzlichen Begehung einer Straftat kommt es für ihn

40

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 150.

41

Vgl. Teil 3 Kapitel 3,1. 3.

42

C.G. v. Wächter, Zur näheren Bestimmung des Dolus-Begriffs, in: Der Gerichtssaal, Bd. XVI (1864), S. 56, 57. 43

Exemplarisch: A. Bauer, Lehrbuch des Strafrechts, 2. Auflage 1833, §§ 56 ff.; C.R. Köstlin, Neue Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts, 1845, §§ 93 ff.; P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen, in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 10. Auflage 1828, §§ 54 ff. 44

C.G. v. Wächter, Zur näheren Bestimmung des Dolus-Begriffs, in: Der Gerichtssaal, Bd. XVI (1864), S. 56, 63. 45 A.W. Heffter, Lehrbuch des gemeinen deutschen Criminalrechts, 1833, §§ 64 ff; Th. Marezoll, Das gemeine deutsche Criminalrecht, 1841, S. 109 f.; P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen, in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 10. Auflage 1828, § 54. 46

Th. Marezoll, Das gemeine deutsche Criminalrecht, 1841, S. 109 f.

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nicht darauf an, daß sich der Täter des Widerspruchs seines Handelns mit den Normen der Rechtsordnung oder gar dessen Strafbarkeit bewußt war. 47 Das Bewußtsein der Widerrechtlichkeit eines Handelns könne letztlich nur durch staatliche Sanktionsandrohungen hervorgerufen werden, die dem Staatsbürger als potentiellem Verbrecher im voraus öffentlich bekannt gemacht sein müßten. Bedürfe es hingegen für die Strafbarkeit des Täters des Bewußtseins der Rechtswidrigkeit oder gar der Strafbarkeit seines Tuns oder Unterlassens, so käme der staatlichen Strafandrohung die Funktion einer Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Strafe zu. „Durch die Strafdrohung ist nicht die Rechtmäßigkeit der Strafe bedingt; es kann daher auch nicht die Kenntnis der gedrohten Strafe Bedingung der Rechtmäßigkeit der Bestrafung sein." 48 Dieses Argument hängt eng mit Wächters Ablehnung des Satzes „nulla poena sine lege" aus der Strafrechtslehre Feuerbachs zusammen. Wächter sieht die Berechtigung staatlicher Strafe allein in der Rechtsidee der staatlichen Gemeinschaft der Staatsbürger begründet. Als Garant der persönlichen Freiheit und Entwicklungsfähigkeit des Individuums sei der Staat schon aus eigener Autorität heraus zur Verhängung von Strafen berechtigt und nicht an deren vorherige Androhung gebunden. Würde demnach das Bewußtsein der Widerrechtlichkeit des Handelns als Voraussetzung des Vorsatzes eingeordnet, käme der Strafandrohung als Rechtmäßigkeitsvoraussetzung staatlicher Strafe wiederum entscheidende Bedeutung zu, was Wächters Staatsverständnis und seiner Straftheorie diametral entgegenstünde. 49 Außerdem liegt Wächter daran, aufzuzeigen, daß es für den strafrechtlichen Vorsatz lediglich auf den objektiven Widerspruch des mit Wissen und Wollen verwirklichten Tatbestandes eines Verbrechens mit dem im Gesetz zum Ausdruck kommenden allgemeinen Willen ankommen könne. Denn der Wille des Täters, der auf die Verletzung des durch das Gesetz geschützten Gutes gerichtet sei, stehe in einem wirklichen Widerspruch mit dem, was das bestehende Recht für Unrecht erklärt, unabhängig davon, ob sich der Täter dessen bewußt sei oder nicht. 50 Allein mit dieser willentlichen Abkehr von den allgemein verbindlichen

47 Ausdrücklich ausgenommen sind die Fälle, in denen bereits der Wortlaut des Tatbestands das Bewußtsein des Rechtswidrigkeit des Handelns voraussetzte. (Vgl. C.G. v. Wächter, Zur näheren Bestimmung des Dolus-Begriffs, in: Der Gerichtssaal, Bd. XVI (1864), S. 56, 61). Dieser Theorie folgt ein namentlich nicht genannter Rezensent, in: Jahrbücher der deutschen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung, Bd. XI (1865), S. 54. 48

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 147.

49

Vgl. Teil 3 Kapitel 21. l.,3.

50

C.G. v. Wächter, Zur näheren Bestimmung des Dolus-Begriffs, in: Der Gerichtssaal, Bd. XVI (1864), S. 56, 66; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 146, 155.

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Normen der Rechtsordnung werde ein Grad an Rechtsfeindlichkeit dokumentiert, der eine staatliche Bestrafung des Täters zwingend nach sich ziehe.51 Letztlich kritisiert Wächter an der vorherrschend vertretenen Ansicht, daß das Unrechtsbewußtsein beim Täter allein infolge der Diskrepanz zwischen positiv rechtlicher Verhaltensnormierung und individuellem gemeinem rechtlichen Bewußtsein " fehle, das letztlich allein von ganz persönlichen Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen abhänge, und damit im Falle einer irrtümlichen Vorstellung des Handelnden mit der Gefahr erheblicher Strafbarkeitslücken unmittelbar verbunden sei. 52 Diesselbe Gefahr trete auf, wenn die vorsätzliche Begehung wegen fehlenden Rechtswidrigkeitsbewußtseins im Falle eines dahingehenden Irrtums des Täters verneint werden müsse, eine Bestrafung wegen fahrlässiger Begehung jedoch mangels entsprechender Normierung ausscheide. Eine Straflosigkeit in diesen Fällen sei rechtspolitisch unvertretbar. 53 Wächter weist jedoch, wie um die Gegensätzlichkeit der vertretenen Auffassungen abzuschwächen, darauf hin, daß das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit des Handelns des Täters nicht ausschließlich durch die positive Kenntnis der Gesetze, sondern vielmehr durch sein „sittliches und rechtliches Gewissen, Schule und Erziehung, die allgemeine Bildung, der Verkehr und Umgang mit Anderen" geprägt werde. 54 Insofern sei das Bewußtsein der Widerrechtlichkeit des Handelns ohnehin in der Regel zu unterstellen. 55 Wächter läßt das mangelnde Bewußtsein der Widerrechtlichkeit des strafrechtlich relevanten Handelns jedoch nicht unberücksichtigt. In diesem Fall lege der Täter Jedenfalls eine geringere Feindseligkeit gegen das Gesetz und eine geringere Intensität des widerrechtlichen Willens an den Tag, als wenn er dieses Bewußtsein gehabt hätte". 56 Er spricht sich wegen der geringeren persönlichen Vorwerfbarkeit der Tat und der reduzierten kriminellen Energie des Täters für die Annahme eines Schuldminderungsgrundes aus, der die willentlich begangene Rechtsverletzung zwar ausreichend berücksichtigt, aber auch dem Gebot der Gerechtigkeit Rechnung trägt. Mit dieser Theorie nimmt Wächter die zukünftige Entwicklung vorweg. Im Rahmen der Diskussion um die rechtliche Qualifizierung des Verbotsirrtums, 51

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 155.

52

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 154.

53

C.G. v. Wächter, Zur näheren Bestimmung des Dolus-Begriffs, in: Der Gerichtssaal, Bd. XVI (1864), S. 56, 67; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 155. 54 C.G. v. Wächter, Zur näheren Bestimmung des Dolus-Begriffs, in: Der Gerichtssaal, Bd. XVI (1864), S. 56, 65; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 146,154. 55 56

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 154.

C.G. v. Wächter, Zur näheren Bestimmung des Dolus-Begriffs, in: Der Gerichtssaal, Bd. XVI (1864), S. 56, 67; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 155.

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Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

den Fall also, daß ein Täter sich der Rechtswidrigkeit seines Handelns nicht bewußt wird, wurde die bis um 1930 herrschende, eindrücklich durch Karl Binding 57 begründete, „Vorsatztheorie" mit der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 18.3.195258, einem „Markstein in der neueren deutschen Strafrechtsgeschichte" 59, von der „Schuldtheorie" abgelöst. Nach der Vorsatztheorie liegt das Wesen des Verbrechens in der bewußten Auflehnung gegen die staatliche Verhaltensnorm. Insoweit nimmt sie vorsätzliche Schuld nur bei Bewußtsein der Rechtswidrigkeit an. Womit dieses - wie oben bereits beschrieben - zu einer Voraussetzung des Vorsatzes wird (dolus malus). 60 Ganz entsprechend der Argumentation Wächters qualifiziert dagegen die „Schuldtheorie" das Unrechtsbewußtsein als selbständiges Schuldelement. Vorsätzliches Handeln liegt für diese allein in der bewußten und willentlichen Steuerung des Kausal Verlaufs, also der Verwirklichung der objektiven Tatbestandsmerkmale. Diese Entwicklung ist eng mit dem Aufkommen der finalen Handlungslehre verknüpft. 61 Das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit konnte nicht an die Finalität des Handelns gekoppelt werden und erlangte damit als Schuldmerkmal für die strafrechtliche Qualität des Handelns entscheidende Bedeutung. Ebenso wie für Wächter kann ein fehlendes Unrechtsbewußtsein zur Schuldminderung, wenn nicht sogar zum Ausschluß der Schuldhaftigkeit des vorsätzlichen Handelns führen. Danach ist das Unrechtsbewußtsein Kernstück des Schuldvorwurfs, denn der Mangel der Rechtsgesinnung des Täters komme im Entschluß zur Tat trotz Kenntnis der entgegenstehenden Norm wesentlich zum Ausdruck. 62

57 58

K. Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. ü, Teilbd. 2, 2. Auflage 1926, §§ 125 ff.

BGHStGS 2, 194, 201.

59

H.-H. Jescheck, Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, S. 452. 60

Heute wird die Vorsatztheorie kaum noch vertreten. So aber J. Schmidhäuser, Unrechtsbewußtsein und Schuldgrundsatz, NJW 1975, 1807, 1810 f. 61 Als Begründer der finalen Handlungslehre gilt H. Welzel. Vgl. zu seiner Lehre: Das Deutsche Strafrecht, 11. Auflage 1969, S. 33 ff. Zu Vorläufern und frühen Vertretern der finalen Handlungslehre instruktiv C. Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Auflage 1997, § 7, Rdnr. 16. 62 Die sog. Schuldtheorie hat sich heute in der Literatur weitgehend durchgesetzt. Für viele C. Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, 3. Auflage 1997, § 7, Rdnr. 39 ff., § 21, Rdnr. 6 ff; R. Maurach, H. Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 8. Auflage 1992, S. 528, 536 m.w.N. Vgl. auch die Nachweise bei H.-H. Jescheck, Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, S. 453 Anm. 3).

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Der bundesdeutsche Gesetzgeber des 20. Jahrhunderts hat diesen Theorienstreit mit der Reform von 197563 zugunsten der sog. „Schuldtheorie" entschieden, die er in § 17 StGB seiner Irrtumslehre zugrunde legte. Damit nimmt das heute geltende Recht die Theorie und Argumentation Wächters aus dem Jahre 1864 auf und zeigt damit die bestechende Modernität des Rechtsgelehrten. Letztlich hängt Wächters Standpunkt in dieser Frage eng mit seiner liberalen Staatsauffassung zusammen.64 Im Mittelpunkt der liberalen Staatsidee steht die freie Entwicklung der individuellen Persönlichkeit. Allein zur Verwirklichung dieser Zielsetzung finden Menschen zu einer Rechtsgemeinschaft zusammen und gestatten eine staatliche Reglementierung ihrer Freiheit. Daher sei der Staat lediglich zur Wahrung dieser persönlichen Freiheit zu sanktionierenden Maßnahmen gegenüber dem rechtsverletzenden Individuum berechtigt; niemals könne er aber Selbstzweck sein. Nicht an den gesetzlichen Normen des Staates hat das Subjekt sein Verhalten auszurichten, vielmehr sind die übergeordneten Normen der Sittlichkeit und Würde die leitenden Prinzipien menschlichen Verhaltens.65 Würde nun aber das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit menschlichen Handelns im Sinne staatlicher Normen ein Element des Vorsatzbegriffs, dann läge die Verwerflichkeit der Tat zwangsläufig in der Auflehnung gegen den Staat als „Zwecksubjekt menschlichen Handelns". 66 Der Staat würde dann in seiner Bedeutung für den Einzelnen überbewertet. 67 Die Verwerflichkeit der Unrechtshandlung liegt insofern lediglich in der Verletzung einer Norm, die bloß ein formales staatliches Sanktionsmittel darstellt, und nicht mehr im Widerspruch mit der Idee der freiheitlichen Entwicklung der individuellen Persönlichkeit als oberstes Gebot menschlichen Verhaltens. 68 Wächter stellt bei dem Bewußtsein der Widerrechtlichkeit des Handelnden folgerichtig auch ausdrücklich auf das formal kodifizierte staatliche Verbot ab, wenn er formuliert: „Aber hierbei entsteht die Frage, ob dieses Wissen und Wollen zum Dolus genügt oder ob nicht zu demselben noch ein weiteres Erfordernis hinzukomme, nämlich die Kenntnis des Verhältnisses der gewollten Handlung zum bestehenden Recht, also das Bewußtsein, daß die Handlung eine

63

Strafrechtsnovelle durch das 2. StrRG vom 1. Januar 1975.

64

Vgl. ausführlich dazu C.Teil 3 Kapitel 2,1. 1.

65

E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage 1965, S. 285. 66 H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht im 19. Jahrhundert, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, Bd. 1,1925, S. 48. 67 E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage 1965, S. 285. 68

H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, Bd. I, 1925, S. 50 f.

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Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

unerlaubte und verbotene sei." 69 Wächter muß es daher als Folge seiner liberalen Gesinnung vielmehr auf das Bewußtsein des Widerspruchs gegen die Gebote der Sittlichkeit und Würde des Menschen an sich ankommen. Ein dahingehendes Bewußtsein des Täters entstehe aber nicht erst aus der Kenntnis staatlicher Verbotsnormen, sondern vielmehr aus der menschlichen Erkenntnisfahigkeit an sich. 70 Die Kenntnis dieser übergesetzlichen Normen, die dem Menschen die Achtung seiner Würde garantierten, reiche aus, um den rechtswidrigen Willen als vorsätzlich schuldhaften qualifizieren zu können.71 Damit trifft die Einschätzung Eberhard Schmidts zu, wenn er die Ablehnung des Bewußtseins der Widerrechtlichkeit als Vorsatzelement als „letzte Konsequenz liberalen Denkens" Wächters einordnet.

III. Die Strafbarkeit des Selbstmordes Als ausgewiesener Verfechter einer humanen Ausgestaltung des Strafrechts mißt Wächter der Diskussion der Frage nach staatlichen Sanktionen gegenüber Selbstmördern naturgemäß besondere Bedeutung zu. In seinem Aufsatz im Neuen Archiv des Criminalrechts 72 versucht er, „erschöpfend in den Gründen für die Ansicht, daß unsre Gesetze den Selbstmord weder strafen noch überhaupt als etwas Rechtswidriges ansehen, zu seyn ...". 73 Beim versuchten Selbstmord kannte das gemeine Recht des 19. Jahrhunderts als Strafmittel geringe Freiheitsstrafen, Verweisung oder Verpflichtung zu öffentlichen Arbeiten, beim vollendeten Selbstmord hingegen eine ehrschmälernde und diffamierende Art des Begräbnisses 74 und eine umfassende Vermögenskonfiskation. 75 Dabei war die Verweigerung des feierlichen christlichen Begräbnisses dem Einfluß des kanonischen Rechts auf die weltliche Rechtspflege 69

C.G. v. Wächter, Zur näheren Bestimmung des Dolus-Begriffs, in: Der Gerichtssaal, Bd. XVI (1864), S. 56, 63. Vgl. H. Dannenberg, Liberalismus und Strafrecht, in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, Bd. I, 1925, S. 53. 70

Vgl. C G. v. Wächter, Zur näheren Bestimmung des Dolus-Begriffs, in: Der Gerichtssaal, Bd. XVI (1864), S. 56, 65; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 146, 154. 71

E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage 1965, S. 285. 72 C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 72111,216-266, 634-680. 73

C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 72,

75. 74 Vgl. P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen, in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 10. Auflage 1828, § 243. 75

A.W. Heffter, Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts, 6. Auflage 1857, S. 181.

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zuzuschreiben, die Vermögenskonfiskation der unzutreffenden Rezeption des römischen Rechts.76 Unter den deutschen Reichsgesetzen behandelte allein die Constitutio Criminalis Carolina in ihrem Artikel 135 77 die Strafbarkeit des Selbstmordes. Dabei sollte diese Regelung jedoch keinen eigenständigen Strafbefehl aussprechen, sondern lediglich die mißbräuchliche Auslegung und Anwendung der römischen Rechtsquellen im Mittelalter durch die Praxis der weltlichen Obrigkeit verhindern. 78 Die Carolina beschränkte daher die Vermögenskonfiskation auf Selbstmörder, die bereits zuvor wegen eines Verbrechens angeklagt waren, das in der Regel mit dem Tode oder der Vermögenseinziehung bestraft wurde. Diese Vorschrift sollte lediglich vermeiden, daß ein Angeklagter durch die Selbsttötung der Straffolge der Konfiskation entgehe.79 Durch den Verweis der Carolina in ihrem Artikel 135 auf „vnsere keyserlichen geschribenen Rechte" erkennt sie die in den Justinianischen Gesetzbüchern getroffenen Regelungen weitgehend an 80 und kassiert etwaige entgegenstehende Gewohnheiten.81 Demnach entschied sich diese Frage allein durch die Auslegung der überkommenen römisch-rechtlichen Quellen. Bis ins frühe 19. Jahrhundert qualifizierte die vorherrschende Auffassung den Selbstmord als strafbares Verbrechen nach römischem Recht, insbesondere seit der von Benedict Carpzov (1595-

76

A. Wacke, Der Selbstmord im römischen Recht und in der Rechtsentwicklung, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (ZRG), Romanistische Abteilung, Bd. 97 (1980), S. 26, 31 f. 77

Artikel 135 CCC: ,Jtem wan ymandt beclagt vnnd jnn Recht erfordert oder pracht wur vom sachen wegen, so er, der vberwunden, sein leib vnnd gut verwurckt het, vnnd aus sollicher verschulldter straff sich selbst erdöt, Dess erben sollen jnn disem fall seines vehig oder empfengklich, sonnder sollich erb vnnd guter der obrigkeit, der die peinlic puss, vnd feile zusteen, heimgefallen sein; Wo sich aber eyn persone ausserhalb obge ojfenparen vrsachenn, auch inn feilen, da er sein leib alleyn verwirckt, oder sunst auss ten des leips, Melancoly, geprechlicheit jrer synne oder annder dergleichen blodigkeiten tödtet, derselbenn erben sollenn desshalb ann jrer erschafft nit verhindert werden, Vnnd kein allter geprauch, gewohnheytt oder Satzung statt haben, sonnder hiemit Revociert, vnd abgethan sein vnnd jnn dissen vnd anndern dergleichenn feilen vnser keyserlichen ge nen Rechtem gehallten werden(Zitiert nach: Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V., Constitutio Criminalis Carolina, hrsg. v. J. Köhler u. W. Scheel, 1900). 78 A. Wacke, Selbstmord, in: HRG, hrsg. v. A. Erler u. E. Kaufmann, Bd. IV, 1990, Sp. 1616, 1617; C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 185 f. 79 Vgl. dazu auch: C.G. v. Wächter, Vorlesungen, S. 185 f.; Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S.634, 639 ff.; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 185 f. 80

A. Wacke, Selbstmord, in: HRG, hrsg. v. A. Erler u. E. Kaufmann, Bd. IV, 1990, Sp. 1616,

1617. 81

Artikel 135 der CCC: „...Vnnd darwider kein allter geprauch, gewohnheytt oder Satzu statt haben, sonnder hiemit Revociert, cassiert vnd abgethan sein ..."

168

Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

1666) geschaffenen Rechtsüberzeugung. 82 So argumentierte Carolus G. Winkler, daß dem Menschen kein absolutes Verfügungsrecht über den eigenen Körper zustehe. Denn wenn dieser nicht in der Lage sei, Eigentum an seinen Gliedmaßen zu erwerben, stehe ihm aber erst recht nicht ein freies Verfügungsrecht über seinen Körper zu. Als Beleg führt Winkler den römischen Grundsatz „quoniam dominus membrorum suorum nemo videtur" (D.9.2.13, § 1) an. 83 Wächter widerlegt diese Ansicht mit einem Rechtsgrundsatz aus dem Privatrecht, der eine rechtliche Beziehung zum eigenen Körper und dessen Bestandteilen vollständig ausschließt: ,,Da nämlich von Rechten und Verbindlichkeiten eines Menschen gegen sich selbst nicht die Rede seyn kann, so wendet man auch die speciellen privatrechtlichen Bezeichnungen der Rechte nie auf unseren Körper, im Verhältnis zu uns selbst an. Deshalb sagen wir weder, daß unser Körper unser Sclave sey, noch daß wir ein Eigenthum oder ein dingliches Recht an unseren Beine, Nase usw. haben..." Das römische Recht wolle mittels dieser Digestenstelle, so Wächter, allein das Recht auf NichtVerletzung und Nichtbeschränkung der körperlichen Integrität schützen, nicht aber die persönliche Dispositionsfreiheit einschränken. 84 Da die Rechtsnormen allein das Verhältnis der Individuen zueinander regelten, könne der Mensch zu sich selbst in keiner Rechtsbeziehung stehen und damit auch kein eigenes Recht verletzen. Infolgedessen sei die Begehung eines Rechtsverbrechens gegen sich selbst naturgemäß ausgeschlossen.85 Gottfried Hermann hingegen nimmt eine Strafbarkeit der Selbstmordes allein aus der in D.48.21.3, §§ 1, 3 vorgeschriebenen Vermögenskonfiskation an. Diese Regelung betreffe nicht nur die Verhinderung der legalen Umgehungsmöglichkeit für einen zuvor angeklagten Selbstmörder, sondern sanktioniere den selbstgewählten Freitod an sich. 86

82

B. Carpzov, Practica nova, 5. Auflage 1652, quaestio 2, nr. 25; quaestio 131, nr. 48 ff. Carpzov betrachtet den Selbstmord wegen der Tötung des Leibes und der Seele als eines der schwersten Verbrechen überhaupt. Vgl. A. Wacke, Selbstmord, in: HRG, hrsg. v. A. Erler u. E. Kaufmann, Bd. IV, 1990, Sp. 1616. 83

C.G. Winkler, Commentarius juris de mortis voluntariae prohibitione ac poenis, 1775, S. 25.

84

C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 216, 229; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 184. Vgl. zum Selbstbestimmungsrecht des Individuums hinsichtlich der Disposition über höchstpersönliche Rechtsgüter die Ausführungen Wächters zum strafrechtlich relevanten Einwilligungsrecht in vorsätzliche Rechtsverletzungen Dritter: C.G. v. Wächter, Volenti non fit injuria, in: Der Gerichtssaal, Bd. XX (1868), S. 1,4. 85

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 182 f., 184; angedeutet auch schon in C.G. v. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1,1825, S. 102. Ein Hinweis auf die Beständigkeit Wächterschen Rechtsdenkens. 86

17 f.

G.G. Hermann, De autochiria et philosophice et ex legibus romanis considerata, 1819, S.

Kapitel : Strafrechtliche

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169

Die Gegenargumentation Wächters zu dieser Interpretation der römischrechtlichen Quellen kann als Wendepunkt in der deutschen Strafrechtswissenschaft bezeichnet werden. In Deutschland wurde seit dieser Zeit in der Frage nach der Strafbarkeit des Selbstmordes seiner Argumentation weitgehend gefolgt. 87 Wächter stellt dabei auf den Ausnahmecharakter des Gebots der Vermögenskonfiskation als Sonderregelung im römischen Recht ab. In den Normierungen der Digestenstellen D.48.21.3, §§ 1, 3 8 8 weist Wächter in eingehender semantisch-textkritischer Untersuchung die grundsätzliche Straflosigkeit der „Selbstentleibung" nach. Es sei zwar zutreffend, daß die römisch-rechtlichen Quellen eine Vermögenskonfiskation bei dem Getöteten anordnen könnten, jedoch nicht ohne weiteres, sondern nur bei dem Vorliegen exakt umschriebener Voraussetzungen: Der Selbstmörder müsse nach dem Wortlaut der angeführten Digestenstelle bereits der Begehung einer Straftat öffentlich angeklagt oder in Ausführung derselben „ertappt" worden sein, die als Rechtsfolge eine vollständige Vermögenskonfiskation nach sich zöge; 89 wobei jedoch kein anderweitiger Selbsttötungsgrund nachweisbar sein dürfe. 90 Der Selbstmord sollte daher keine legale Möglichkeit darstellen, die unmittelbar drohende staatliche Vermögenskonfiskation zu umgehen und das Vermögen den Erben zu erhalten. 91 Daraus folgerte Wächter das wesentliche Argument für die von ihm favorisierte grundsätzliche Straflosigkeit des Selbstmörders: ,3ei dem nicht ertappten und noch nicht angeklagten Selbstmörder trat (nach römischem Recht, d. Verf.) selbst die

87 A. Falck, Beitrag zur Lehre vom Selbstmord, in: NAdC XI (1829), S. 143; Th. Marezoll, Das gemeine deutsche Criminalrecht als Grundlage der neueren deutschen Strafgesetzgebungen, 1841, § 96; A.W. Heffter, Lehrbuch des gemeinen deutschen Criminalrechts mit Rücksicht auf die nicht exclusiven Landesrechte, 1833, §§ 226-228; derselbe, 6. Auflage 1857, S. 179 ff.; P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen, peinlichen Rechts, hrsg. v. K.J.A. Mittermaier, 14. Auflage 1847, S. 405 Anm. IV. Vgl. auch: E. Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abt., 2. Halbbd., Text, 1910, S. 390; A. Wacke, Der Selbstmord im römischen Recht und in der Rechtsentwicklung, in: ZRG, Rom. Abtlg., Bd. 97 (1980), S. 26, 40; ders., Selbstmord, in: HRG, hrsg. v. A. Erler u. E. Kaufmann, Bd. IV, 1990, Sp. 1616. Ausnahmsweise wird in diesem Zusammenhang die Bedeutung Wächters in der neueren Literatur ausdrücklich gewürdigt. 88

D.48.21.3, § 1: "Ut autem divus Pius rescripsit, ita demum bona eins, qui in reatu mo sibi conscivit, flsco vindicanda sunt, si eius criminis reus fuit, ut, si damnaretur, morte portatione adflciendus esset"', D.48.21.3, § 3: „Ergo ita demum dicendum est bona eius manus sibi intulit, flsco vindicari, si eo crimine nexus fuit, ut, si convinceretur, bonis c (Zitiert nach: Corpus Iuris Civilis, hrsg. v. Th. Mommsen u. P. Krueger, Bd. I (Digesten), 1927). 89 C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 72, 97, 99. 90

C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 72,

100. 91

C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 72, 95; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 184 f.

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Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Confiscation, wenn man ihm auch das Verbrechen nachweisen konnte, nicht ein." 92 C. G. Winkler ließ diesen Einwand hingegen nicht gelten. Zwar sei es zutreffend, daß nur unter den genannten Voraussetzungen eine Vermögenskonfiskation nach römischem Recht zulässig sei, jedoch bedeute diese Regelung keinesfalls eine grundsätzliche Straflosigkeit. Mit der Verneinung einer Vermögenskonfiskation sei nach römischem Recht nicht jede Strafe von vornherein ausgeschlossen.93 Wächter verweist jedoch auf die mangelnde Regelung der allgemeinen Strafbarkeit des Selbstmordes in den römischen Quellen. Eine ungewollte Regelungslücke liege nicht vor, da ansonsten das Corpus Iuris Einzelfalle durchaus exakt normiere. Es befremde, „daß die Römischen Juristen nirgends etwas Näheres über die Art der Bestrafung des von ihnen so oft berührten angeblichen Verbrechens des Selbstmordes anführen...". 94 Außerdem weist Wächter an anderer Stelle auf die Einschränkung der Strafbarkeit durch die in D.48.21.3, §§ 1, 3 geforderten Voraussetzungen hin: Zum einen sei ungeklärt, warum für die Strafbarkeit des Selbstmörders stets die förmliche Anklage erforderlich sei. Außerdem „möchte man weiter fragen, warum straft denn das Römische Recht nicht den Selbstmord auch in allen andern Fällen mit der gleichen, auch nach des Verbrechers Tode noch ergiblen, Strafe? Dies Alles würde, sobald man die Confiscation als Strafe des Selbstmordes in jenen Fällen darstellen will, ganz unerklärbar bleiben". 95 Außerdem will Wächter berücksichtigt wissen, daß die Erben des Selbstmörders nach römischem Recht (D.48.21.3, § 8) stets den Unschuldsbeweis leisten könnten, wodurch die Vermögenskonfiskation als Strafe abgewendet werde. Diese Regelung schließe aber die Konfiskation als Strafe des Selbstmordes an sich zwingend aus, da die Regelung des römischen Rechts offensichtlich lediglich auf die Ahndung des vorausgehenden Verbrechens des Erblassers abstelle. 96

92

C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 72,

105. 93

G.G. Winkler, Commentarius juris de mortis voluntariae prohibitione ac poenis, 1775, S.

22 ff. 94

C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 216,

222. 95

C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 216,

252. 96

C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 72, 101 f., 252 f.; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 185. Dieser Argumentation folgt Th. Marezoll, Das gemeine deutsche Criminalrecht als Grundlage der neueren deutschen Strafgesetzgebungen, 1841, S. 279 Anm. 1), 3), 280 ff.

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Dem zusätzlichen Einwand Gottfried Hermanns, das römische Recht bezeichne einen durch Selbstmord gestorbenen Sklaven als „malus servus" 97, hält Wächter entgegen, daß es sich zwar um eine allgemeine Mißbilligung dieses Verhaltens handele, jedoch keinesfalls um eine grundsätzliche strafrechtliche Sanktionierung. 98 Außerdem beweise die Regelung in D. 15.1.9, § 7 " , daß em Sklave durch seine Selbsttötung oder -Verletzung ein angeborenes natürliches Recht wahrnehme und daher kein Unrecht gegen sein Herrn begehen könne. 100 Letztlich weist C. G. Winkler darauf hin, daß gegen den verstorbenen Selbstmörder nie ein wirksames richterliches Strafurteil ergehen könne, das ihn wegen des bereits begangenen Verbrechens mittels Konfiskation sanktionierte. Lediglich ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren sei eingeleitet worden. Daher könne allein die „Selbstentleibung" der Grund für Strafe sein. 101 Winkler übersieht dabei die in den römisch-rechtlichen Quellen (D.48.21.3, §8) geregelte Geständnisvermutung hinsichtlich des zeitlich vor dem Selbstmord begangenen Verbrechens. Falls keine anderen Anzeichen entgegenstanden, galt der Selbstmord eines Angeklagten als Geständnisfiktion hinsichtlich des zur Last gelegten Verbrechens. 102 Insofern ist die Folgerung Wächters zutreffend, wenn er darauf hinweist, daß sich der Angeklagte durch den Freitod selbst „das Urtheil gesprochen" habe und damit allein wegen des so überführten Unrechts mittels der Vermögenskonfiskation bestraft werde, nicht aber wegen der Selbsttötung an sich. 103 Als Motiv für die unzutreffende Interpretation der römisch-rechtlichen Quellen führt Wächter „religiöse Ansichten, Einfluß kirchlicher Gesetze und gänzlich mißverstandenes Römisches Recht" an. So hätten vorwiegend kanonische Pflichten und Anordnungen die Auslegung bürgerlicher Rechtsquellen maßgeblich beeinflußt, um so christlich-kirchliche Interessen durchsetzen zu können. Damit habe sich die Amtskirche einen maßgeblichen Einfluß auf die

97

G.G. Hermann, De autochiria et philosophice et ex legibus romanis considerata, 1819, S. 35.

98

C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 216,

237.

99 D. 15.1.9, § 7: „licet enim etiam servis naturaliter in suum corpus saevire" (Zitiert nac Corpus Iuris Civilis, hrsg. v. Th. Mommsen u. P. Krueger, Bd. I, 1927). 100

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 184.

101

C.G. Winkler, Commentarius juris de mortis voluntariae prohibitione ac poenis, 1775, S.

19 f. 102

A. Wacke, Der Selbstmord im römischen Recht und in der Rechtsentwicklung, in: ZRG, Rom. Abtlg., Bd. 97 (1980), S. 26, 61 ff. 103 C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 216, 249 f., 258 ff.; Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, S. 101; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 184.

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Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

Rechtsordnung und damit auf die von weltlicher Macht normierten gesellschaftspolitischen Verhältnisse versprochen. 104 Auch nach dem Forschungsstand der modernen Rechtswissenschaft hatte die im römischen Recht angeordnete Vermögenskonfiskation ihren alleinigen Grund in der Verhinderung der Umgehung einer bereits drohenden Straffolge durch die Selbsttötung des Delinquenten. 105 Dabei fallt auf, daß sich die Argumentation vorwiegend auf die Ausfuhrungen Wächters aus dem Jahre 1828 stützt und nur wenig neue Erkenntnisse bringt. 106 Andreas Wacke stellt unter Berufung auf die Argumentation Wächters die besondere Bedeutung der Regelung in D. 15.1.9, § 7 heraus, in der sogar der Selbstmord eines Sklaven, obwohl im Eigentum ihres Herrn stehend, nicht als Delikt im strafrechtlichen Sinne angesehen wurde. 107 Außerdem weist er nach, daß die Tötung eines anderen Menschen bei einem mißlungenen Selbstmordversuch mangels vorsätzlicher Begehung letztlich straffrei blieb 1 0 8 , so daß von einer Strafbarkeit der Selbsttötung nach klassischem römischen Recht keine Rede sein könne. 109 Wacke zieht diese Argumente jedoch lediglich zur Unterstützung der von Wächter bereits 1828 entwickelten Auslegung der römisch-rechtlichen Regelungen heran. Insofern zeigt sich die Richtigkeit und Stringenz der Wächterschen Argumentation, die damit durchaus als Fundament einer modernen Interpretation der antiken Quellen bezeichnet werden kann. Wächter ist damit Vordenker einer der Humanität und der Wissenschaftlichkeit verpflichteten Theorie von der (Nicht-) Strafbarkeit der Selbsttötung nach dem damals als gemeines Recht geltenden römischen Recht des Corpus Iuris. Den letzten Abschnitt 110 seiner Ausführungen widmet Wächter einer von den konkreten rechtlichen Normen des gemeinen römisch-deutschen Rechts losgelö-

104 C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 634, 646; vgl. auch: K. Grolman, Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft, 2. Auflage 1805, § 283. 105

A. Wacke, Der Selbstmord im römischen Recht und in der Rechtsentwicklung, in: ZRG, Rom. Abtlg., Bd. 97 (1980), S. 26, 52 ff. 106 Vgl. insbes.: A. Wacke, Der Selbstmord im römischen Recht und in der Rechtsentwicklung, in: ZRG, Rom. Abtlg., Bd. 97 (1980), S. 26, 48 Anm. 101) u. 103), 49 Anm. 107), 55 Anm. 130), 58 Anm. 144), 60 Anm. 152). 107 Der Selbstmord im römischen Recht und in der Rechtsentwicklung, in: ZRG, Rom. Abtlg., Bd. 97 (1980), S. 26,49.

108 D.48.8.7, § 1 . Jn lege Cornelia dolus pro facto aeeipitur. neque in hac lege culpa lata p dolo aeeipitur. quare si quis alto se praeeipitaverit et super alium venerit eumque occiderit huius legis coercitionem non pertinet(Zitiert nach: Corpus Iuris Civilis, hrsg. v. Th. Mommsen u. P. Krueger, Bd. I, 1927). 109 A. Wacke, Der Selbstmord im römischen Recht und in der Rechtsentwicklung, in: ZRG, Rom. Abtlg., Bd. 97 (1980), S. 26, 50. 110

680.

C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 634-

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sten, vorwiegend am Gerechtigkeitsgedanken orientierten rechtsphilosophischen Betrachtung. Er folgt zunächst dem rechtsdogmatischen Grundsatz, nach dem für das Vorliegen eines Verbrechens unabdingbar die Verwirklichung einer Rechtsverletzung gegeben sein müsse. Bei der Begehung eines Selbstmordes scheide eine Verletzung von privaten Rechten jedoch aus, da eine Beeinträchtigung eigener Rechte durch das Rechtssubjekt strafrechtlich nicht erheblich sein könne. 111 Durch die Selbstentleibung könne hingegen der Bestand der Rechtsordnung, also der staatliche Verband in seiner Existenz bedroht werden. Die Argumentation Feuerbachs, durch den Selbstmord verletze das Individuum seine beim Eintritt in den Staat entstandene Pflicht zu dessen Erhaltung 112 , kann Wächter mit seinem Verständnis von Sinn und Zweck einer staatlichen Vereinigung 113 nicht in Einklang bringen. Nur solange das Individuum freiwillig im Staate verbleibe, sei es den entsprechenden Pflichten unterworfen. Eine Pflicht zum ewigen Verbleib würde dem Staat „seine eigene Basis, die freie rechtliche Vereinigung zerstören und sich selbst das größte testimonium pauperatis ausstellen". 1 1 4 Anders könne die staatliche Vereinigung von Bürgern ihr Ziel, die Gewährleistung der freien Entfaltung der individuellen Persönlichkeit durch eine einheitliche Interessenausrichtung, nicht gewährleisten. Insofern ist auch der Hinweis Wächters auf die Vergleichbarkeit des Rechts auf Auswanderung mit dem Recht auf Selbsttötung schlüssig.115 Er kann wegen der grundsätzlichen Vergleichbarkeit der Folgen für den staatlichen Verband in der Auswanderung ebenfalls keine Verletzung staatlicher Rechte erkennen, zumal ein freies Auswanderungsrecht nach allgemeiner tatsächlicher Erfahrung keine staatlichen Auflösungserscheinungen mit der ihr nachfolgenden Rechtsunsicherheit nach sich ziehe, wie die Beispiele Württemberg, England und Nordamerika zeigten. 116 Wenn aber die Auswanderung als wesentliche Ausprägung 111

C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 634,

655 f. 112 P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen, peinlichen Rechts, 8. Auflage 1823, § 241. 113

Zum Staatsverständnisses Wächters vergleiche ausführlich Teil 3 Kapitel 2,1. 1.

114

C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 634,

657. 115 Zur Entwicklung des Rechts auf freie Auswanderung aus dem staatlichen Verband A. Erler, Auswanderung, in: HRG, hrsg. v. A. Erler u. E. Kaufmann, Bd. I, 1971, Sp. 274 ff.; G.P. Bassler, Auswanderungsfreiheit und Auswanderungsfürsorge in Württemberg 1815-1855, in: ZWLG 33 (1974), S. 117-160. 1,6

C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 634, 659, 660 Anm. 181). Vgl. Wächters Forderung nach einem Recht auf freie Auswanderung, in C.G. v. Wächter, Beitrag zur Geschichte und Kritik der Entwürfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, 1870, S. 112.

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der bürgerlichen Freiheit 117 keine Verletzung staatlicher Rechte bedeute, dann aber erst recht nicht die Selbsttötung. Denn, so folgert Wächter: „Durch das Auswandern verliert der Staat oft ganz vorzügliche Bürger, die noch auf die wohlthätigste Weise im Staate hätten wirken können. Durch den Selbstmord dagegen wird er selten einen Bürger verlieren, dessen Verlust er zu bedauern hätte... . " 1 1 8 Außerdem folgt er der Argumentation Cesare Beccarias (17381794), des Begründers einer humanen, aufgeklärten und rationalen Strafrechtspflege in Europa 119 , wenn er formuliert, daß der Selbstmörder dem Staat schon deshalb einen geringeren Schaden zufüge als der Auswanderer, weil jener sein ganzes Vermögen im Staate belasse, letzterer dagegen seine Person und sein Vermögen dem Staat entziehe. 120 Letztlich bleibe außerdem unbeantwortet, welche Pflicht der Selbstmörder dem Staat gegenüber eigentlich verletzen sollte, wenn die Zahlung der erhobenen Abgaben und Steuern, worin sich die Pflichterfüllung des Staatsbürgers in der Regel erschöpfe, auch vom Erben geleistet werden könne. 121 Außerdem verliere die staatliche Bestrafung des Selbstmörders unter generalpräventiven Gesichtspunkten ihren Sinn und Zweck, da diese Tat keinen entsprechenden Vorbildcharakter habe, der die übrigen Staatsbürger zur Nachahmung verleite. Wegen der Höchstpersönlichkeit des verletzten Rechtsgutes hänge eine Selbsttötung von der ausnahmsweisen und momentanen individuellen Gemütsverfassung des Einzelnen ab, so daß die Gefahr einer generellen Nachahmung auszuschließen sei. 122

117

e.G. V. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 183.

118

C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 634,

661. 119

W. Naucke, Die Modernisierung des Strafrechts durch Beccaria, in: Cesare Beccaria, hrsg. v. G. Deimling, Kriminologische Schriftenreihe, Bd. 100, 1989, S. 37, 38 f. 120 C. Beccaria, Dei delitti e delle pene, 1764, cap. XXXÜ, deutsche Übersetzung v. A. Alff, Über Verbrechen und Strafen, 1966, S. 145; C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 634, 661. Vgl. auch: L. Reuther, Die Ansichten des Marchese von Beccaria zu den Strafgesetzen, Verbrechen und Strafen - Strafgesetze, Strafjustiz und strafrechtliches Denken im 18. Jahrhundert, in: Cesare Beccaria, hrsg. v. G. Deimling, Kriminologische Schriftenreihe, Bd. 100, 1989, S. 55, 70. Zum Einfluß Cesare Beccarias auf deutsche Strafrechtskodifikationen des 19. Jahrhunderts vgl. E. Weis, Cesare Beccaria und seine Wirkung auf Deutschland, insbesondere auf die Reformen des Strafrechts, in: Die Bedeutung der Wörter, Festschrift für S. Gagnör, hrsg. v. M. Stolleis, 1991, S. 535 ff. 121

C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 634,

662. 122 C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 634, 669 f.; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 183. Anders aber A. Falck, Beitrag zur Lehre vom Selbstmord, NAdC XI (1829), S. 143, 148 ff.

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Aber auch die spezialpräventive Wirkung stafrechtlicher Sanktionen verfehle beim nur versuchten Selbstmord ihre Zielsetzung. Denn der Selbstmörder fasse seinen Entschluß zu dieser Tat aus Weltschmerz, Kummer, Sorge und seelischer Not. Eine Bestrafung seiner Handlung verstärkt diesen Zustand psychischer Labilität und führe damit konsequenterweise nur zur Wiederholung seines Ansinnens. Ein Schutz der Rechtsordnung vor dem potentiellen Selbstmörder oder gar seine innere Läuterung sei damit unmöglich. 123 Die Rechtsfolgen, die Wächter mit dem Selbstmord verknüpft wissen will, sind daher weniger geprägt durch eine strafrechtliche Verfolgung des Subjekts als vielmehr von einer verständnisvollen und humanen Gesinnung zum Wohle des Lebensmüden: Den Überlebenden eines Selbstmordversuchs übergibt er der Obhut der Familie und ärztlicher Fürsorge. Hingegen will er den lebensmüden Beamten seines Amtes enthoben wissen, weil das Ansehen und die Würde des Staates leiden würde. Das Begräbnis solle zwar christlich, aber ohne Feierlichkeit begangen werden. 124 „Aber alle diese Anordnungen werden nicht in ein Strafgesetzbuch gehören, sondern mehr in Leichenordnungen, Amtsinstructionen, Dienstpragmatiken u. dgl. ihre passende Stelle finden." 125

IV. Die Strafbarkeit der Brandstiftung nach gemeinem Recht 1. Bestimmung der Schutzrichtung Die Tatbestände der Brandstiftung nach den §§ 306 ff. des Strafgesetzbuches haben in ihrer Entwicklung bis zur Neufassung vom 1. April 1998 126 durch die moderne Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur bis auf einen auszuneh-

123

C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 634, 671; Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 183.

124 Diese Forderung lehnt A. Falck, Beitrag zur Lehre vom Selbstmord, NAdC XI (1829), S. 143, 148 ff. trotz weitgehender Übereinstimmungen jedoch entschieden ab. Ein ehrenhaftes Begräbnis auf geweihter Erde müsse hinsichtlich der sonst kaum vermeidbaren Signalwirkung für die Verletzung christlicher Moral durch eine strafrechtliche Sanktion verhindert werden, so daß „iernstere Ansichten und strengere Grundsätze über die sittliche und religiöse Unzulässig Selbstmordes im Volke herrschend ' werden. 125

C.G. v. Wächter, Revision der Lehre von dem Selbstmorde, in: NAdC X (1828-29), S. 634,

675. 126 Neubekanntgabe des StGB für das Deutsche Reich vom 15.5.1871 (RGBl. S. 127) in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. März 1987, unter Berücksichtigung des Sechsten Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 26. Januar 1998 (BGBl IS. 164).

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Teil 3: Strafrechtstheoretische Lehren Carl Georg von Wächters

menden Fall den Charakter abstrakt gefahrlicher Straftaten erhalten. 127 Bei der „Schweren Brandstiftung" nach § 306a StGB n.F. spielen die Eigentumsverhältnisse keine Rolle. 128 Die vor der Neufassung geltenden beiden Unterfalle der 2. Alternative des § 308 I StGB a.F. stellten ein Gefahrdungsdelikt 129 sowie ein Eigentumsgefährdungsdelikt 130 dar, dagegen setzt die „einfache" Brandstiftung nach § 306 StGB n.F. (§ 308 I, 1. Alternative StGB a.F.) als Brandobjekt eine für den Täter fremde Sache voraus. Demnach ist sie als Eigentumsdelikt ein spezieller Fall der Sachbeschädigung.131 Bei den §§ 306a n.F. und 308 I 2. Alternative a.F. handelt oder handelte es sich dagegen um abstrakte Gefahrdungsdelikte 132 , die ein bestimmtes Verhalten strafrechtlich sanktionieren, dessen Strafwürdigkeit auf der generellen Gefährlichkeit für bestimmte Rechtsgüter beruht, dem also typischerweise die Herbeiführung einer Gefahr immanent ist. 133 Demnach fordern nicht sämtliche Straftatbestände des 27. Abschnitts des StGB entgegen der Formulierung seiner Überschrift eine Gemeingefahr als Tatbestandsvoraussetzung. 134 Insofern ist den Brandstiftungsdelikten des modernen deutschen Strafrechts der Gedanke der Gemeingefahrlichkeit der Tat fremd. Die Brandstiftung ist damit ein gegen Leben und Eigentum gerichtetes Verletzungsdelikt. 135 Das gemeine römisch-deutsche Recht des 19. Jahrhunderts konnte diese klare Klassifizierung der Schutzrichtung des Verbots der Brandstiftung nicht vornehmen. Es mangelte an einer eindeutigen Tatbestandsbeschreibung. Als Rechtsquellen kamen zum einen die römisch-rechtlichen Regelungen in D.48.8.1; D.48.19.28, § 12 und D.47.9.12, § 1, zum anderen die deutsch-

127 H. Tröndle, Strafgesetzbuch, 48. Auflage 1997, Vorbemerkung §§ 306 ff., Rdnr. 1; P. Cramer, in: Strafgesetzbuchkommentar, hrsg. v. Schönke/Schröder/Lenckner, 25. Auflage 1997, Vorbem. §§ 306 ff., Rdnr. 1, 3. 128 Vgl. RGSt 60, 136: Auch der Eigentümer selbst kommt als Täter des § 306a StGB n.F. in Betracht. 129

J. Wessels, Strafrecht, Besonderer Teil, Teil 1,19. Auflage 1995, S. 192.

130

P. Cramer, in: Strafgesetzbuchkommentar, hrsg. v. Schönke/Schröder/Lenckner, 25. Auflage 1997, § 308, Rdnr. 1. 131

J. Wessels, Strafrecht, Besonderer Teil, Teil 1, 19. Auflage 1995, S. 195; K. Lackner, Strafgesetzbuch, 22. Auflage 1997, § 308, Rdnr. 3; F. Haft, Strafrecht, Besonderer Teil, 5. Auflage 1995, S. 266. 132

P. Cramer, in: Strafgesetzbuchkommentar, hrsg. v. Schönke/Schröder/Lenckner, 25. Auflage 1997, § 308, Rdnr. 1, § 306, Rdnr. 2; BGHSt 26, 123. 133 H.-H. Jescheck, Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, S. 264; C. Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, 3. Auflage 1997, § 11, Rdnr. 127. 134 P. Cramer, in: Strafgesetzbuchkommentar, hrsg. v. Schönke/Schröder/Lenckner, 25. Auflage 1997, Vorbem. §§ 306 ff., Rdnr. 1. 135

S. 13.

R. Maurach, Fr.-Chr. Schroeder, M. Maiwald, Strafrecht, Besonderer Teil, Teilbd. 2, 1991,

Kapitel : Strafrechtliche

n l g e

177

rechtliche Quelle des Artikel 125 136 der Constitutio Criminalis Carolina in Betracht. Daher gingen die Ansichten über die Voraussetzungen einer strafbaren Brandstiftung nach gemeinrechtlichen Regeln naturgemäß auseinander. Karl Grolman (1775-1829) definiert die Brandstiftung als das „Erzeugen eines Brandes mit gemeiner Gefahr für Eigentum und Leben der Menschen". 137 Infolgedessen erfüllten nur solche Gegenstände, die zur Zeit der Tat gewöhnlicherweise zum Aufenthalt von Menschen dienten, also Häuser oder Schiffe, oder andere damit in engem Zusammenhang stehende Sachen die Voraussetzung als Tatobjekt einer strafbaren Brandstiftung. Sonstige Bauwerke, auch unbewohnte Häuser, von menschlichen Ansiedelungen entfernte Waldungen oder Früchte auf dem Feld stellten dagegen kein taugliches Tatobjekt dar. 138 Der Schwerpunkt der Strafbarkeit lag demnach auf der Schaffung einer unbeherrschbaren, eine unbestimmte Anzahl von Menschen und deren Eigentum bedrohenden, also gemeingefährlichen Situation. 139 Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775-1833) hingegen beschränkt den Tatbestand der Brandstiftung auf „die Anzündung einer Sache mit Gefahr für Eigenthum und Leben Anderer" 140 . Auf die Gemeingefährlichkeit der Tat verzichtet er. Dennoch muß die entflammte Sache entweder selbst „ein Aufenthaltsort von Menschen, oder doch ein Gegenstand seyn, der wegen seines Zusammenhangs mit menschlichen Wohnungen, diesen das Feuer mittheilen kann". 141 Es reichte demnach die Schaffung einer abstrakten Gefahr für Leben und fremdes Eigentum aus, wobei diese nicht unbeherrschbar oder in ihrem Wirkungskreis unbestimmt sein mußte. Eine strafmaßerhöhende Qualifikation der Brandstiftung lag nach Feuerbach jedoch dann vor, wenn das Inbrandsetzen eine Gefahr für eine menschliche Ansiedlung schaffe und damit eine gemeingefährliche Tendenz zeige. 142 Auch Conrad Franz Roßhirt verlangt für das erfor-

136

Art. 125 CCC: , 1822, S. 50-57 die Grundsätze diese Auslegungslehre. Allgemein zur Idee der Auswertung von Quellen und Materialien einzelner Gesetzeswerke vgl. bereits C.G. v. Wächter, Uebersicht über die Literatur des gesammten Württembergischen Rechtes aus den letzten zehen Jahren, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft, Bd. VI, 1829, S. 268, 277; Ueber die lateinischen Uebersetzungen der Carolina und ihre Wichtigkeit für die Auslegung der letzteren, in: NAdC XII (1830), S. 82-99; Beitrag zur Lehre von den Quellen der Carolina, in: AdCNF 1834, S. 82-94.

Auf den innovativen Charakter dieser Lehre Wächters weist auch B. Windscheid hin: „Zum ersten Male werden hier mit voller Klarheit die richtigen Grundsätze über die Auslegung dernen Gesetze und über das Verhältnis des Gesetzes selbst zum Wüste der sogenannte zesmaterialien entwickelt - Grundsätze, die uns leider immer noch nicht in 's Blut überg sind ' (Carl Georg von Wächter, 1880, S. 48). Vgl. dahingehend auch die Stellungnahme v. Eisenharts, Wächter, Carl Joseph Georg Sigismund v., in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. XXXX, 1896, S.435, 438. Zur Auslegungslehre F.C. v. Savignys vgl. K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 12. 51

C.G. v. Wächter, Ausübung der Gesetzgebungsgewalt unter Theilnahme von Ständeversammlungen, in: AdCNF 1839, S. 345, 348. 52 53

C.G. v. Wächter, Abhandlungen aus dem Strafrechte, Bd. 1,1835, S. 245.

Eine konsequente Anwendung der von Wächter entwickelten Lehre von den Hilfsmitteln der Auslegung findet sich in C.G. v. Wächter, Die Busse bei Beleidigungen und Körperverletzungen,

198

Teil 4: Wirkungsgeschichte des Strafrechtlers Carl Georg von Wächter

legt ihre Entwürfe mit Motiven vor, die Organe der Regierung vertheidigen den Entwurf in der Kammer, die Stände suchen ihre Amendements mit Gründen zu unterstützen, und so bekommen wir in den Vorlagen der Regierung und in den ständischen Verhandlungen ein höchst wichtiges und erspriessliches Hülfsmittel zur Eruirung des wahren Sinnes des zu Stande gekommenen Gesetzes."54 Infolgedessen seien die Motive mit äußerster Sorgfalt zu erstellen und besonders ihre Übereinstimmung mit den Regelungen des Gesetzesentwurfs zu gewährleisten, was in Württemberg nicht immer ausreichend der Fall gewesen • 55

sei. Die bedeutendste Frage im Fortgang der ständischen Verhandlungen stellt sich für Wächter jedoch dahin, inwieweit sich die Beratungen der Ständeversammlungen lediglich auf die wesentlichen Grundsätze des Entwurfs einlassen dürften, oder ob gerade auch Detailfragen den Kammern zur Verhandlung vorzulegen seien. Für Wächter sind die Einzelheiten eines Gesetzesentwurfs von ebenso entscheidender Bedeutung wie beispielsweise der Strafzweck und die Handlungslehre. „Denn es bekommt... das Allgemeine erst durch die besonderen Normen seine nähere Bestimmung und seinen scharfen Charakter, und die besten allgemeinen Principien können durch die Art und Weise, wie das Gesetzbuch im Einzelnen sie durchführt und anwendet, völlig paralysiert werde, und auf die schädlichste Weise wirken." Dabei komme es nicht darauf an, daß jede Detailfrage von der Kammer auch tatsächlich erörtert werde, sondern allein die Gewährung der Möglichkeit zu Verbesserungsvorschlägen reiche aus. 56 Für das Verhalten einzelner Mitglieder der Kammer während der Verhandlungen weist Wächter auf die Öffentlichkeit der Diskussion und die damit zusammenhängende kritische Auseinandersetzung jeder ständischen Äußerung hin. Nicht jeder Abgeordnete sei in besonderer Weise zur Verhandlung eines Strafgesetzbuches kompetent. Dementsprechend seien auch die Diskussionsbeiträge fundiert vorzubereiten und wohlüberlegt vorzutragen, was jedoch nach Wächters „leidvoller" Erfahrung in Württemberg allzu oft vernachlässigt wor-

1874, S. 17-22, 22-30; Zur Texteskritik und Auslegung des Strafgesetzbuches, namentlich der §§ 88 und 89, in: Der Gerichtssaal, Bd. XXIX (1877), S. 321-339 unter Zuhilfenahme der Reichstagsprotokolle als Auslegungshilfe. 54 C.G. v. Wächter, Abhandlungen aus dem Strafrechte, Bd. I, 1835, S. 244; vgl. auch Das Königlich Sächsische und Thüringische Strafrecht. Ein Handbuch, Bd. 1,1857, S. 11, I i i f. Eine unmittelbare Umsetzung dieser Lehre erfolge durch F.C.Th. Hepp, Commentar über das neue württembergische Strafgesetzbuch nach seinen authentischen Quellen, den Vorlagen der StaatsRegierung und den ständischen Verhandlungen des Jahres 1838, 3 Bände, 1839-1843. 55 C.G. v. Wächter, Ausübung der Gesetzgebungsgewalt unter Theilnahme von Ständeversammlungen, in: AdCNF 1839, S. 345, 349. 56

C.G. v. Wächter, Ausübung der Gesetzgebungsgewalt unter Theilnahme von Ständeversammlungen, in: AdCNF 1839, S. 345, 354.

Kapitel 1: Das Strafgesetzbuch des Königreichs Württemberg 1839

199

den sei. „Eine scharfe, oft schonungslose Entgegnung von Solchen, die zur Sache legitimiert sind" hätte die Würde der Kammer letztlich bewahrt. Jedoch lehnte er auch eine reine Gelehrtendiskussion ab. Gerade in den Beiträgen von „Laien und denjenigen, von denen man sagt, sie verstehen wenig von der Sache" könne man unmittelbar erkennen, wie das Volk eine gesetzliche Regelung verstehe und welche Bedürfnisse befriedigt werden müßten, „welche äußeren Momente, Umstände, Volksverhältnisse, die der Gesetzgeber nicht außer Acht zu setzen hat, sich geltend machen und Berücksichtigung verdienen." Gerade solche Volksansichten hätten ihn, den akademischen Gelehrten, durchaus in seiner wissenschaftlichen Meinungsbildung zu beeinflussen gewußt.57 Der Fortgang und die Qualität der ständischen Verhandlungen würden dadurch letztlich nicht beeinträchtigt, wie es dagegen Robert von Mohl ausdrücklich betont, wenn er die zahlreichen unüberlegten Beiträge der sachunkundigen und unverständigen Kammermitglieder beklagt. 58 Vielmehr seien es die Juristen selbst, so Wächter, „welche die Kammer auf Abwege führten oder sie vor Abwegen nicht wehrten, oder das Richtige nicht mit der gehörigen Kraft der Ueberzeugung und Klarheit den Laien darzustellen wüßten". 59 Wächters Ausführungen münden in die Darstellung der grundsätzlichen Bedeutung der ständischen Kammern für die gesetzgeberische Tätigkeit. Zum einen bestehe eine wesentliche Gefahr in der grundsätzlichen Gleichberechtigung von Regierung, Kammer der Abgeordneten und der Standesherren. Infolgedessen könne das „Nein" zu einem der zu beratenden Artikel nur eines Beteiligten das gesamte Gesetzeswerk gefährden. In Württemberg hätten sich beispielsweise die beiden Kammern nur über 131 von insgesamt 438 Artikeln des Entwurfs zum Strafgesetzbuch geeinigt. Über 306 sei erst nach langwierigen Verhandlungen eine Einigung zu erzielen gewesen. Das „Nein" der standesherrlichen Kammer allein zu einem Artikel hätte beinahe das gesamte Gesetzeswerk scheitern lassen.60 Zur Vermeidung dieser Gefahr empfahl Wächter der

57 C.G. v. Wächter, Ausübung der Gesetzgebungsgewalt unter Theilnahme von Ständeversammlungen, in: AdCNF 1839, S. 345, 359. Ganz anderer Ansicht ist Wächter hingegen noch in seinen Abhandlungen aus dem Strafrechte, Bd. I, 1835, S. 243, indem er in der Mitwirkung von Laien bei der Gesetzgebung die Ursache für die mangelnde Präzision und Konsequenz so mancher Strafgesetzgebungen sieht. 58

R. v. Mohl, Die Geschichte der württembergischen Verfassung von 1819, in: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, Bd. VI (1850), S. 44, 76. Dieser Argumentation Mohls schließt sich Wächter noch im 1835 ausdrücklich an; C.G. v. Wächter, Abhandlungen aus dem Strafrechte, Bd. I, 1835, S. 243 Anm. 1). 59 C.G. v. Wächter, Ausübung der Gesetzgebungsgewalt unter Theilnahme von Ständeversammlungen, in: AdCNF 1839, S. 345, 360 f. 60

Es handelt sich dabei um Artikel 378, den sogenannten Jagd-Artikel des Entwurfs. Dieser Artikel versuchte des überkommene Problem des Wildschadens zu regeln und festzuschreiben, also den Konflikt zwischen feudalem Jagdprivileg und bäuerlicher Schutzbedürftigkeit. Wächter schreibt dazu an Mittermaier vom 11. Juni 1838: Jch glaube, dass das Strafgesetzbuch zu Stande

200

Teil 4: Wirkungsgeschichte des Strafrechtlers Carl Georg von Wächter

Regierung, aus dem Gesamtwerk einzelne selbständige Gesetze zu formulieren und diese getrennt zur Verabschiedung zu bringen. 61 Dennoch betont Wächter den Gewinn, den das fertige Gesetzbuch durch die Kammerverhandlungen und die dadurch zu berücksichtigende Vielfalt von Ansichten letztlich erhalten habe. Er zeigt sich dabei ganz als Verfechter des Parlamentarismus, wenn er schreibt: „Und so gab dieses wichtige und umfassende Gesetz (Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg vom 1. März 1839, d. Verf.) einen neuen Beleg dafür, daß man, auch abgesehen von den Volkstümlichen und dem den Wünschen und der würdigen Stellung des Volkes Entsprechenden, in Hinsicht auf materielle Güte an sich den Mandataren des Volkes ruhig ein Mitwirkungsrecht bei der Gesetzgebung einräumen kann." 62 Am 19. Oktober 1838 verabschiedeten beide Kammern den debattierten Strafgesetzbuchentwurf. In der Kammer der Standesherren stimmten 22 für, 10 gegen den Entwurf. 63 In der Kammer der Abgeordneten lautete das Ergebnis 62 zu 28 für die Gesetzesvorlage. 64 Dabei wurde in letzterer die Ablehnung vornehmlich aus den Reihen der Liberalen mit 20 Abgeordneten deutlich formuliert. 65 Mit dem Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg, das am 15. Mai 1839 in Kraft treten konnte, wurde die Constitutio Criminalis Carolina auch in Württemberg durch ein zeitgemäßes Gesetzeswerk ersetzt. 66

kommen wird, wenn sich die Schwierigkeiten mit den Jagdartikeln ausführlich H. Brandt, Parlamentarismus in Württemberg 1819-1870, 1987, S. 315 ff.

beseitigen lassenVgl

61

C.G. v. Wächter, Ausübung der Gesetzgebungsgewalt unter Theilnahme von Ständeversammlungen, in: AdCNF 1839, S. 345, 367 Anm. 20). In dem Schreiben vom 11. Oktober 1838 schreibt Wächter an Mittermaier: Jch habe mich immer mehr entschieden, dass ein Gesetzbuch im Ganzen den Ständen nicht vorgelegt werden sollte. Es werden dadurch den Ständen und sehr der Regierung die Hände zu sehr gebunden, und jene ... müssten am Ende zu Dingen men, die sie an sich nicht billigen können, blos um das Ganze nicht fallen zu lassen 62

C.G. v. Wächter, Ausübung der Gesetzgebungsgewalt unter Theilnahme von Ständeversammlungen, in: AdCNF 1839, S. 345, 363 f. 63 Verhandlungen der Kammer der Standesherren des Königreichs Württemberg im Jahre 1838, Bd. 3 (Heft 6), 50. Sitzung v. 19.10.1838, S. 2077 ff. 64 Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg auf dem Landtage von 1838, Bd. X, 123. Sitzung v. 19.10.1838, S. 2 ff. 65 66

Vgl. dazu H. Brandt, Parlamentarismus in Württemberg 1819-1870, 1987, S. 321.

Die Constitutio Criminalis Carolina hatte ihre Autorität aufgrund richterlicher Eigenmacht bereits weitgehend eingebüßt. Vgl. dazu H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 192. Die Dringlichkeit der Ablösung der Constitutio Criminalis Carolina und der Schaffung moderner Partikularrechte zeigt Th. Krause, Das „Criminalgesetzbuch für das Königreich Hannover" von 1840, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 1997, S. 54, 63. Instruktiv R. Schröder, Die Strafgesetzgebung in

Kapitel 1: Das Strafgesetzbuch des Königreichs Württemberg 1839

201

Das Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg vom 1. März 1839 67 gliedert sich in einen Allgemeinen Teil, der die Strafarten, die Strafumwandlung und die Verjährung behandelt, und einen Besonderen Teil, der in einem ersten Abschnitt die Staatsverbrechen und -vergehen 68, in einem zweiten die Privatverbrechen und -vergehen 69 und in einem dritten Abschnitt die Straftaten „wider die Pflichten des öffentlichen Dienstes" 70 regelt. Als schwerste Strafe konnte weiterhin die Todesstrafe ausgesprochen werden, die öffentlich durch Enthauptung vollzogen wurde. 71 Daran schloß sich die schwerste Freiheitsstrafe, das Zuchthaus an, das 5 bis 25 Jahre oder lebenslänglich verhängt werden durfte. Es bestand der Zwang zu körperlicher Arbeit und darin, „ausgezeichnete gleichförmige Kleidung" zu tragen. 72 Die Arbeitshausstrafe war auf Freiheitsstrafen von 6 Monaten bis 6 Jahren beschränkt, wobei ebenfalls die Pflicht zu Zwangsarbeit bestand.73 Bei einem Straftäter, der einer höheren Bildungs- und Bürgerschicht angehörte, konnte die Arbeitshausstrafe in Festungshaft umgewandelt werden, so daß er zu einer Beschäftigung gemäß seiner „früheren Verhältnisse" angehalten werden konnte. 74 Die mildeste Form der Freiheitsstrafe bildeten die Kreis- und Bezirksgefängnisstrafe. 75 Für die Behandlung sämtlicher Strafgefangener schrieb Artikel 26 des Strafgesetzbuches vor, daß die Versorgung mit ausreichender und angemessener Nahrung sicher gestellt sein müsse, daß die auferlegten Arbeiten nicht gesundheitsschädlich seien, daß die Gefangenen täglich „zum Genuß der freien Luft" zugelassen würden und ihnen der persönliche sowie briefliche Verkehr mit ihren Angehörigen gestattet werde. Strafbar macht sich, „wer den Vorschriften dieses Gesetzbuches mit Vorsatz oder aus Fahrlässigkeit zuwider handelt". 76 Dabei wurde auch der Versuch eines Verbrechens ausdrücklich mit Strafe belegt. Für die Höhe der Strafe war ent-

Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Die Bedeutung der Wörter, Festschrift für S. Gagner, hrsg. v. M. Stolleis, 1991, S. 403, 414. 67 Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg vom 1. März 1839, in: Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, hrsg. v.M. Stenglein, Bd. I, 1858. 68

Art. 140-234.

69

Art. 235-398.

70

Art. 399-462.

71

Art. 9.

72

Art. 10-13.

73

Art. 14 f.

74

Art. 18 f. Vgl. dazu Teil 3 Kapitel 2, IV. 3. und Teil 4 Kapitel 1, EL 5.

75

Art. 20-22.

76

Art. 54.

202

Teil 4: Wirkungsgeschichte des Strafrechtlers Carl Georg von Wächter

scheidend, wie weit die Vorbereitung der Straftat bereits gediehen war. 77 Das Gesetz kannte bereits neben den „geminderten Strafen" bei Jugendlichen unter 16 Jahren 78 den Begriff der geistigen Unzurechenbarkeit und verminderten Zurechenbarkeit bei Volljährigen 79 . Der erste Abschnitt des Besonderen Teils befaßt sich mit den Staatsverbrechen: Hochverrat, Landesverrat und weitere den Staat in seiner Existenz gefährdenden Handlungen. Auf Hochverrat in schweren Fällen und auf die Beleidigung der „geheiligten Person des Königs" 80 stand die Todesstrafe. Alle anderen Straftaten gegen den Staat wurden mit schwersten Freiheitsstrafen belegt, um so das Ansehen der staatlichen Gewalt zu schützen81. Bei der obrigkeitsstaatlichen Ausrichtung des Königreichs Württemberg unter Wilhelm I. in der Zeit des Vormärz verwundert es nicht, wenn Straftaten, wie Ungehorsam, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Aufruhr 82 mit unverhältnismäßig harten Strafen belegt wurden. 83 Durch diese und eine Vielzahl von Deliktsgradationen wurde die Bestandskraft des Staates betont mit der Folge, daß häufig Begnadigungen ausgesprochen werden mußten.84 Ebenso wurden in diesem ersten Abschnitt die Selbsthilfe und der Zweikampf unter Strafe gestellt 85 ; aber auch Handlungen „wider öffentliche Treue und Glauben", worunter die Falschmünzerei, Urkundenfälschung, Grenzverrückung, Meineid und anderes fiel 86 . Der zweite Abschnitt des Besonderen Teils behandelt die Privatverbrechen und -vergehen. Dazu zählten Mord, Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge, Kindsmord, fahrlässige Tötung, Abtreibung der Leibesfrucht, die Aussetzung Hilfloser, Freiheits-, Sittlichkeits- und Vermögensdelikte ebenso wie Kör-

77

Art. 62-73.

78

Art. 96.

79

Art. 97 f.

80

Art. 141, 150.

81

Vgl. etwa Art. 159,160.

82

Art. 169-179.

83

P. Sauer, Im Namen des Königs, 1984, S. 130; O.-H. Elias, Wilhelm I., in: 900 Jahre Haus Württemberg, hrsg. v. R. Uhland, 3. Auflage 1985, S. 306, 319. Wächter schreibt dazu an Mittermaier (Brief ohne Datum; nach 1839, Nr. 88): „Wieviel besser und wissenschaftlicher gehalten sind z.B. Ihre Kapitel Ihres Gesetzbuches (K.J.A. Mittermaier war Präsident der 2. Kammer in Baden) über Urheber und Gehilfen, über Gewalttätigkeit, Betrug und Fälschung. Wie se Recht haben Sie andere Auswüchse unseres Gesetzbuches vermieden, z.B. unseren mons Landfriedensbruch pp" 84 A.F. Berner, Die Strafgesetzgebung in Deutschland vom Jahre 1751 bis zur Gegenwart, 1867 (ND 1978), § 124. 85

Art. 200-205.

86

Art. 206-234.

Kapitel 1: Das Strafgesetzbuch des Königreichs Württemberg 1839

203

perverletzung, Ehrdelikte und Brandstiftung. 87 Auf Mord und schwere Brandstiftung stand die Todesstrafe. 88 Der letzte Abschnitt des Strafgesetzbuches beinhaltet die Straftatbestände der „Vergehen wider die Pflichten des öffentlichen Dienstes".89 Dabei wurden genaue Vorschriften für das Verhalten der Bediensteten im öffentlichen Dienst festgeschrieben. Bei der Untersuchung des württembergischen Strafgesetzbuches nach seinen strafrechtstheoretischen Grundlagen fällt auf, daß sich die Gesetzgebungsarbeiten streng an die bayerischen Entwürfe anlehnten90, also sich auf Vorlagen bezogen, denen die Lehre vom psychologischen Zwang P.J.A. v. Feuerbachs zugrunde lag. Durch die strengen Strafdrohungen sollten in erster Linie verderbliches Verhalten gesteuert und vermieden werden, andererseits aber auch die vorherrschende Unsicherheit und Willkür der Strafrechtspflege ein Ende finden. 91 Diesem Prinzip folgt das Strafgesetzbuch für Württemberg jedoch nicht streng; so finden sich daneben auch spezialpräventive Elemente92, wie die Sicherung der Gesellschaft und moralische Besserung des Täters 93. Aus praktischen Erfahrungen und unter Berufung auf den Endzweck staatlicher Strafe wird die Anwendung einer einseitigen, strengen Straftheorie zugunsten einer Kumulation des in den verschiedenen Theorien enthaltenen Richtigen abgelehnt. 94 Als Grundlage für ein Gesetzeswerk war ein extremer Standpunkt kaum brauchbar. Staatliche Strafe soll vornehmlich das durch die Straftat begangene Unrecht in einem gerechten Maß zum Ausgleich bringen, den Rechtszustand wieder herstellen und damit letztlich die Achtung vor der Unverletzlichkeit der

87

Art. 235-398.

88

Art. 237; 378.

89

Art. 399-462.

90

A.F. Berner, Die Strafgesetzgebung in Deutschland vom Jahre 1751 bis zur Gegenwart, 1867 (ND 1978), § 114. Vgl. dazu auch die zahlreichen Hinweise bei C.Th. Hepp, Commentar über das neue württembergische Strafgesetzbuch, 3 Bände, 1839-1843. 91 H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 9, 1984, S. 193. 92

Artikel 10 StGB Württemberg: „iGefangene , welche zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurtheilt sind, werden in einem von den übrigen Züchtlingen abgesonderten Räume de hauses verwahrt ." 93 94

Artikel 12,13,22 StGB Württemberg.

Die Vielfalt der in der Strafrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts diskutierten Strafrechtstheorien scheint den Erlaß eines Strafgesetzbuches für das Königreich Württemberg erheblich verzögert zu haben, letztlich um die Erfahrungen anderer Staaten zunächst abwarten, und damit nutzen zu können. Vgl. dazu A.F. Berner, Die Strafgesetzgebung in Deutschland vom Jahre 1751 bis zur Gegenwart, 1867 (ND 1978), § 113; R. Schröder, Die Strafgesetzgebung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Die Bedeutung der Wörter, Festschrift fur S. Gagner, hrsg. v. M. Stolleis, S. 403,410,412.

204

Teil 4: Wirkungsgeschichte des Strafrechtlers Carl Georg von Wächter

Rechtsordnung garantieren. 95 Damit stimmen diese dem Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg zugrunde gelegten strafrechtstheoretischen Überlegungen weitgehend mit der Lehre Carl Georg von Wächters zu Grund und Zweck staatlicher Strafe überein, ohne daß sich aber ein unmittelbarer Einfluß auf die Ausgestaltung der Materialien zu diesem Strafgesetzbuch nachweisen läßt. 96 Otto-Heinrich Elias und Hartwig Brandt betonen in einer abschließenden Bewertung den überwiegend konservativen Charakter des Strafgesetzbuches für das Königreich Württemberg von 1839, das im Vergleich zu dem bis dahin geltenden Rechtszustand wenig Neues bringe. 97 Dagegen stellt Paul Sauer die innovative Kraft des neues Gesetzeswerkes heraus. 98 So auch Carl Georg von Wächter: „Ich glaube ..., daß unser Strafgesetzbuch das Beste ist unter den jetzt in Deutschland geltenden ... . " " Eine abschließend wertende Betrachtung des Strafgesetzbuches kommt jedoch ohne eine differenzierte Analyse des Zustandekommens dieses Gesetzeswerkes, also der Verhandlungen der Abgeordneten und deren wesentliche Diskussionsbeiträge, nicht aus. Werden doch nur so das politisch Machbare und der unmittelbare Einfluß einzelner exponierter Gelehrter deutlich. Zu diesen gehörte zweifellos auch Carl Georg von Wächter, der Kanzler der Landesuniversität Tübingen. Anhand der Protokolle der Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg auf dem Landtage von 1838 100 soll nun seine Bedeutung für die konkrete Ausgestaltung des Strafgesetzbuches untersucht und aufgezeigt werden. Dabei wird es jedoch nicht immer möglich sein, die direkte Wirkung Wächters auf das Zustandekommen des Strafgesetzbuches darzulegen, da der Gesetzesentwurf, die Debatten der Abgeordneten der 1. und 2. Kammer, die Kommissionsvorschläge und die Anträge der Staatsregierung die Vorstellungen und Argumentationen einer einzelnen Person, und seien sie noch so überzeugend, in ihrer Stichhaltigkeit und Klarheit letztlich abschwächen und verwischen müssen. Im folgenden soll dennoch der Versuch unternommen werden, die wichtigsten und richtungweisenden Stellungnahmen

95 Vgl. die Motive zum StGB-Entwurf von 1835. Ausführlich dazu A.F. Berner, Die Strafgesetzgebung in Deutschland vom Jahre 1751 bis zur Gegenwart, 1867 (ND 1978), § 118. 96

Vgl. Teil 3 Kapitel 2.

97

O.-H. Elias, Wilhelm I., in: 900 Jahre Haus Württemberg, hrsg. v. R. Uhland, 3. Auflage 1985, S. 306, 319. Zur Kritik am Criminalgesetzbuch für das Königreich Hannover von 1840 vgl. Th. Krause, Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 1997, S. 54 f. 98 P. Sauer, Im Namen des Königs, 1984, S. 125; jedoch mit dem Hinweis auf einzelne konservative Elemente. 99

So Wächter an Mittermaier in einem Schreiben ohne Datum (nach 1839; Brief Nr. 88).

100

Amtliche Herausgabe, Stuttgart 1838.

Kapitel 1: Das Strafgesetzbuch des Königreichs Württemberg 1839

205

Wächters, auch wenn sie nicht zu einer unmittelbaren Umsetzung führten, aufzuzeigen.

II. Carl Georg von Wächter in den Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten über das Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg vom 1. März 1839 Daß Carl Georg von Wächter den Gang der Verhandlungen der Abgeordneten durch seine Diskussionsbeiträge maßgeblich beeinflußte und am Zustandekommen des Strafgesetzbuches entscheidenden Anteil nahm, gilt als allseits unbestrittene Erkenntnis. 101 „Tiefgehend war der Einfluß, den Waechter bei den Verhandlungen über das württembergische Strafgesetzbuch geübt hat, dessen Entwurf schon wesentlich in seinem Sinne ausgearbeitet war und bei dessen Beratung er wichtige und mannigfache Anträge gestellt hat. Es ist besonders anziehend zu sehen, wie offen er den Anforderungen des praktischen Lebens sein Ohr leiht und mit welcher Sicherheit er anderseits die unveräußerlichen Grundsätze der Wissenschaft gegenüber nur angeblichen praktischen Anforderungen behauptet." 102 Jedoch kann erst eine bislang weitgehend unterbliebene Untersuchung einzelner, exemplarisch ausgewählter Argumentationskomplexe und Diskussionszusammenhänge den unmittelbaren Einfluß des einzigen ausgebildeten Strafrechtlers der Kammer 103 für die Ausgestaltung des württembergischen Strafgesetzbuches104 zeigen.

101 Vgl. dazu G. Mandry, Carl Georg von Wächter, in: Besondere Beilage des Staats-Anzeigers für Württemberg, Nr. 3 v. 18.2.1880, S. 33, 37 f.; O. Häcker, Die parlamentarische Tätigkeit des Kanzlers Carl Georg von Wächter, 1927, S. 69; A. Laufs, Carl Georg von Wächter (1797-1880), in: ZWLG, 1998, S. 285, 289 f.; H. Demburg, Carl Georg von Wächter, 1880, S. 11; E. Hoelder, Carl Georg von Waechter, 1897, S. 10; F.O. v. Schwarze, Dr. Carl Georg von Wächter, in: Der Gerichtssaal, Bd. XXXI (1879), S. 561, 566; E. Hoelder, Karl Georg von Wächter, DJZ (14) 1909, Sp. 978 f.; N. Sandmann, Grundlagen und Einfluß der internationalprivatrechtlichen Lehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), 1979, S. LXX; B. Windscheid, Carl Georg von Waechter, 1880, S. 9; E. Kern, Karl Georg von Wächter, in: Schwäbische Lebensbilder, hrsg. v. H. Haering u. O. Hohenstatt, Bd. 1 1940, S. 545, 547. 102

H. Meyer, Karl Georg von Waechter, 1898, S. 13 f.

103

Wächter war nach eigenem Bekunden unter den Mitgliedern der Kammer der einzige ausgebildete Strafrechtler. Vgl. Schreiben Wächters an Mittermaier vom 18. Februar 1838 und unbestimmten Datums (Brief 88) aus: Briefwechsel C.G. v. Wächter - C.J.A. Mittermaier (Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Heidelberg, HS 2746). 104

Zur Auslegung der Normen des württembergischen Strafgesetzbuches vom 1. März 1839 vgl. stets F.C.Th. Hepp, Commentar über das neue württembergische Strafgesetzbuch, 3 Bände, 1839-1843, mit einer umfangreichen Darstellung der Quellen, Vorlagen der Staatsregierung und den ständischen Verhandlungen des Jahres 1838.

206

Teil 4: Wirkungsgeschichte des Strafrechtlers Carl Georg von Wächter

1. Internationales Strafrecht Für den räumlichen und personalen Anwendungsbereich des württembergischen Strafgesetzbuches normierten die Landstände und die Staatsregierung in den Artikeln 3 bis 7 des Strafgesetzbuches für das Königreich Württemberg einen Regelungskomplex, der dem Grundsatze nach dem aktiven Personalitätsprinzip folgte. 105 Insofern waren sämtliche württembergische Staatsangehörige unabhängig vom Begehungsort der Sanktionsgewalt des heimatlichen Königreichs Württemberg unterworfen. 106 Ausnahmen sollten nur für den Fall gelten, daß ein württembergischer Staatsangehöriger durch eine strafbare Handlung die Integrität eines ausländischen Staates verletzte, dieser aber für etwaige Verletzungen württembergischer Staatsinteressen durch einen eigenen Staatsangehörigen keine Strafbestimmung kannte, oder bereits durch ein ausländisches Urteil rechtskräftig auf Strafe oder Freispruch erkannt worden war. 1 0 7 Die dritte Ausnahme von der strengen Anwendung des Personalitätsprinzips fand sich in der Verneinung der Strafbarkeit, „wenn die gegen einen fremden Staat, dessen Behörden oder Angehörige gerichtete Handlung in den Gesetzen dieses Staates mit Strafe nicht bedroht ist". 1 0 8 Diese Durchbrechung des aktiven Personalitätsprinzips war in der Kammer der Abgeordneten durchaus umstritten. Nachdem Carl Georg von Wächter die Problemstellung exakt umreißt, gibt der Abgeordnete Schwab zu bedenken, daß sich infolgedessen der württembergische Untertan an eine Verhaltensweise gewöhnen könne, die die heimische Rechtsordnung aber gerade als strafwürdig bewertet wissen wollte. 1 0 9 Wächter, der eine eigenständige und weitergehende Modifikation des Personalitätsprinzips vertritt 110 , hält diese Einschränkung für

105 Zur Entwicklung des Personalitätsprinzips in Abgrenzung zum Territorialitätsprinzip im 19. Jahrhundert vgl. Teil 3 Kapitel 4,1.

106 Art. 3 Absatz 1 Satz 1 des Strafgesetzbuches für das Königreich Württemberg vom 1. März 1839: „Nach denselben Strafbestimmungen sind alle, von Würtembergern im Auslande beg Verbrechen oder Vergehen zu richten, mögen dieselben gegen Personen des In- oder Au verübt worden sein" (Zitiert nach: Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, hrsg. v.M. Stenglein, Bd. I, 1858). In den Motiven zum Entwurf von 1835 wird der Grundsatz postuliert, „daß der württ. Unterthan, sey er wo er wolle, der vaterländischen Gesetzgebung unterworfen (Zitiert nach F.C.Th. Hepp, Commentar über das neue württembergische Strafgesetzbuch, Bd. I, 1839, Art. 3, S. 89). 107 Vgl. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Ziffer 2 u. 3 StGB für das Königreich Württemberg vom 1. März 1839. Instruktiv zu Art. 3 ff. württembergischen StGB F.C.Th. Hepp, Commentar über das neue württembergische Strafgesetzbuch, Bd. I, 1839; insbesondere die angeführten Motive zum Strafgesetzbuchentwurf. 108

Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Ziffer 1 StGB für das Königreich Württemberg vom 1. März 1839.

109

Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg auf dem Landtage von 1838, Bd. I, 5. Sitzung v. 23.1.1838, S. 29. 110

Teil 3 Kapitel 4,1.

Kapitel 1: Das Strafgesetzbuch des Königreichs Württemberg 1839

207

zulässig, obwohl er in der theoretischen Grundlegung seiner internationalstrafrechtlichen Ansichten gerade den Aspekt des Personalitätsprinzips ausdrücklich als positiv bewertet, der nicht nur die Rechte des Inländers, sondern auch die des Ausländers oder des auswärtigen Staates als schützenswert einstuft. 111 Er sieht in der zur Diskussion stehenden gesetzlichen Ausnahmeregelung eine notwendige, seine international-strafrechtliche Theorie ergänzende Einschränkung des Personalitätsprinzips, gerade weil die staatlichen Hoheitsbefugnisse ihrem Wesen nach allein dem Schutz ihres Trägers zustehen müßten. „Wir müssen alles dasjenige gegen das Ausland beachten, was die Württemberger vereint mit den Ausländern anerkennen. Warum wir aber solche Rechte anerkennen sollen, die das Ausland selbst aufgibt, sehe ich nicht ein." 1 1 2 Das württembergische Strafgesetzbuch orientierte sich ebenfalls nicht streng und ausschließlich an den Forderungen des aktiven Personalitätsprinzips. In Artikel 4 1 1 3 unterwirft es sogar ausländische Staatsangehörige, die einerseits in Württemberg strafbare Handlungen begehen, und andererseits sogar solche, die auf fremdem Territorium eine strafbare Handlung gegen den königlichen Regenten, eine staatliche Einrichtung oder einen Untertan Württembergs begehen, der heimischen Sanktionsgewalt. Damit ist diese Regelung in der Definition des Geltungsbereichs weiter als jenes in Artikel 3 als Grundsatz formuliertes Personalitätsprinzip, da es dem Staat erlaubt ist, ohne Beachtung territorialer Grenzen die Achtung seiner Rechtsordnung und die Rechte seiner Bürger einzufordern. Die Übereinstimmung mit dem von Wächter begründeten „Princip der betheiligten Rechtsordnung und Interessen des Staates überhaupt" 114 fällt auf. Darin weist er auch in den Fällen die Sanktionsmacht der inländischen Staatsgewalt zu, in denen die „Rechte und Interessen" oder die „Rechtsordnung" des betroffenen Staates oder die „Rechte seiner Angehörigen" durch Ausländer vom Ausland her verletzt werden. 115 Damit könnte sich die von Wächter begründete Lehre in Wissenschaft und Praxis bereits insofern durchgesetzt haben, als sie

111

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 85.

112

C.G. v. Wächter, in: Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg auf dem Landtage von 1838, Bd. I, 5. Sitzung v. 23.1.1838, S. 30. Zur politischen Ausrichtung seiner Argumentation vgl. O. Häcker, Die parlamentarische Tätigkeit des Kanzlers Carl Georg von Wächter, 1927, S. 70 f. 113

Art. 4 StGB für das Königreich Württemberg vom 1. März 1839: Ausländer werden nach diesem Gesetzbuche wegen aller, innerhalb des Königreiches verschuldeten, Verbrech Vergehen gerichtet, wegen der im Auslande begangenen aber nur dann, wenn Verbreche Vergehen an dem Regenten von Würtemberg, dem würtembergischen Staate, oder an de den oder einem der Unterthanen desselben verübt worden sind 114 115

Vgl. dazu Teil 3 Kapitel 4 Anm. 740) ff.

C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 86; Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, Bd. I, 1857, S. 125.

208

Teil 4: Wirkungsgeschichte des Strafrechtlers Carl Georg von Wächter

schon Eingang in den Kommissionsentwurf fand 116 , der in der Kammer der Abgeordneten nicht ernsthaft diskutiert, geschweige denn kritisiert wurde. 117 Insofern sind die Regelungen des Strafgesetzbuches für das Königreich Württemberg zu seinem internationalen Geltungsbereich in Artikel 3 bis 7 ein eindrückliches Beispiel dafür, inwieweit Wächters theoretische Argumente zu einer allgemein gültigen Gesetzesnorm werden konnten.

2. dolus eventualis / dolus generalis Artikel 51 des revidierten Strafgesetzbuchentwurfs 118, der den Landständen im Januar 1838 zur Beratung vorgelegt wurde, sollte die Zurechnung des „dolus eventualis" als vorsätzliche Handlungsform regeln. 119 Dabei wurde jedoch eine Formulierung gewählt, die die Grundsätze des „dolus eventualis" mit denen des „dolus alternativus" fälschlicherweise zu einer Einheit verband. 120 Dies mußte unweigerlich Widerspruch in der Kammer erregen. Nachdem der Abgeordnete Wocher daraufhin zur Behebung dieses Umstandes eine Neufassung des Artikels 51 forderte, kritisierte Wächter als überlegener Strafrechtsdogmatiker die Schwachstellen des Regelungsentwurfs. Eine Regelung mit dem Inhalt „Wenn Jemand mit Dolus alternativus eine Handlung begeht, so soll ihm auch der Dolus eventualis zugerechnet werden" sei, so Wächter, sinnwidrig und falsch. 121 Er weist darauf hin, daß für die Annahme des Eventualvorsatzes die Handlungsrichtung des Täters nicht ausschließlich auf die Herbeiführung einer Rechtsverletzung gerichtet sein müsse, wie es die Formulierung des Artikels 51 des Ge-

116

Die Motive zum Entwurf eines Straf-Gesetz-Buches für das Königreich Württemberg, hrsg. v. Justizministerium des Königreichs Württemberg, 1835 (HStAS E 301 Bü 178, 183) sprechen von „bestehender Gesetzgebung" und „anerkannten völkerrechtlichen Grundsätzen". F.C.Th. Hepp, Commentar über das neue württembergische Strafgesetzbuch, Bd. I, 1839, Art. 3, S.

Vgl.

88. 117

Vgl. Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg auf dem Landtage von 1838, Bd. I, 5. Sitzung v. 23.1.1838, S. 45 ff. 118

HStAS: E 301 Bü 165 und 169.

119

Vgl. die Motive zum Strafgesetzbuchentwurf bei F.C.Th. Hepp, Commentar über das neue württembergische Strafgesetzbuch, Bd. I, 1839, Art. 57, S. 478 f. 120

Artikel 51 des revidierten Strafgesetzbuchentwurfes: „Hat Jemand eine rechtswidrige Handlung, aus welcher eine größere oder eine geringere Rechtsverletzung entstehen ka gangen, um die eine oder die andere zu bewirken; so wird ihm, wenn aus seiner Handlun größere Rechtsverletzung entstanden ist, diese auch dann als vorsätzlich angerechnet, solche nicht hauptsächlich, sondern nur auf den Fall, wenn es sich nicht anders fügen w gewollt hatte" (Zitiert nach: Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg auf dem Landtage von 1838, Bd. II, 13. Sitzung v. 1.2.1838, S. 50). 121 C.G. v. Wächter, in: Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg auf dem Landtage von 1838, Bd. ü, 13. Sitzung v. 1.2.1838, S. 54.

Kapitel 1: Das Strafgesetzbuch des Königreichs Württemberg 1839

209

setzesentwurfes suggerierte. N u r bei dolus alternativus werde stets eine mehr oder weniger schwerwiegende Rechtsverletzung angestrebt: „Es ist Dolus alternativus, wenn ich eine Handlung begehe, aus welcher mehrere Rechtsverletzungen entspringen können, und es m i r v ö l l i g gleichgültig ist, welche eintritt, während i c h also jede alternativ, die eine oder die andere, gleich gut w i l l ; während beim Dolus eventualis die Absicht des Thäters zunächst bloß auf Einen Erfolg gerichtet ist, und nur wenn ein anderer als möglich vorausgesehner Erfolg eintreten sollte, auch dieser eventuell i m Voraus gebilligt w i r d . " 1 2 2 Gerade weil Wächter i n der gesetzlichen Normierung des Eventualvorsatzes eine entscheidende Notwendigkeit für die Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit sieht, was wiederum bei der Bemessung des Strafmaßes durch den Richter aus Gründen der Strafgerechtigkeit eine nicht unerhebliche Rolle spielen müsse 1 2 3 , votiert er nachhaltig für den Formulierungsvorschlag des Abgeordneten W o c h e r 1 2 4 , dessen Wortlaut m i t dem Definitionsversuch Wächters i n seinen theoretischen Ausführungen zum dolus eventualis i n den wesentlichen Zügen über125

einstimmt.

122

C.G. v. Wächter, in: Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg auf dem Landtage von 1838, Bd. n, 13. Sitzung v. 1.2.1838, S. 54. 123 C.G. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 159 f.; Der Gerichtssaal XVI (1864), S. 56, 62; Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil I, 1825, S. 127. Eine Ausnahme sollte jedoch für den Fall des Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen des Mordes nach Art. 237 StGB für das Königreich Württemberg vom 1. März 1839 mangels der Möglichkeit, auf qualifizierte Todesstrafen zu erkennen; so Wächter, in: Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg auf dem Landtage von 1838, Bd. IV, 45. Sitzung v. 16.3.1838, S. 28 f. 124

Die Existenz des Eventualvorsatzes im gemeinen römisch-deutschen Recht war keineswegs unbestritten. So behaupteten etwa K. Grolman, Grundsätze der Criminalrechts-Wissenschaft, 2. Auflage 1805, S. 52, 60 f.; H. Luden, Handbuch des teutschen gemeinen und particularen Strafrechtes, Bd. I, 1847, S. 247 ff und P.J.A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen, peinlichen Rechts, hrsg. v. K.J.A. Mittermaier, 10. Auflage 1828, S. 41, 45 f., eine unbestimmte Absicht sei etwas denkunmögliches, und insofern strafrechtlich irrelevant.

125 Der auf Vorschlag Wochers und der Argumentation Wächters daraufhin neugefaßte Art. 51 des StGB-Entwurfs für das Königreich Württemberg lautete: ,JEine Rechtsverletzung wird auch dann als vorsätzlich zugerechnet, wenn derjenige, aus dessen Handlung sie entstanden is nicht hauptstächlich, sondern nur auf den Fall, wenn es sich nicht anders fügen würde, hatte" (Vgl. Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg auf dem Landtage von 1838, Bd. II, 13. Sitzung v. 1.2.1838, S. 55. Die endgültige Fassung des Art. 57 StGB für das Königreich Württemberg vom 1. März 1839 zur Regelung der dolus eventualis weicht lediglich in seinem Wortlaut von dem dargestellten Entwurf ab. Die Staatsregierung folgte der Kritik der Kammer der Abgeordneten weitgehend; vgl. F.C.Th. Hepp, Commentar über das neue württembergische Strafgesetzbuch, Bd. 1,1839, Art. 57, S. 482.). Für C.G. v. Wächter handelt der Täter mit Eventualvorsatz, „wenn Jemand durch seine Handlung eine Verletzung herbeiführte, die er nicht zunächst wollte, selbst zu vermeiden wüns der er aber voraussah, daß sie durch seine That eintreten könnte, und die er für diesen Fa es sich nicht anders fügen würde, im Voraus billigte, die ihm also eventuell als seine T recht ist" (Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 159). Vgl. auch den

14 Jungemann

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Teil 4: Wirkungsgeschichte des Strafrechtlers Carl Georg von Wächter

Zu der in der Literatur des gemeinen Strafrechts des 19. Jahrhunderts heftig umstrittenen Frage, inwieweit ein Täter, der den mit Vorsatz angestrebten Erfolg seiner Handlung nicht durch die eigentliche Tathandlung, sondern planwidrig erst durch eine nachfolgende Verdeckungshandlung herbeiführte („dolus generalis"), strafbar sein sollte, enthielt der revidierte Strafgesetzbuchentwurf zunächst keine eigenständige Regelung. 126 Erst durch die Ausführungen Carl Georg von Wächters wurde die dringende Erforderlichkeit einer solchen Normierung deutlich, indem er auf den entscheidungserheblichen Streitstand in der Strafrechtswissenschaft hinweist. 127 In der Literatur und Rechtsprechung des 19. Jahrhunderts 128 wurden Lösungsvorschläge vertreten, die bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren haben. 129 Zum einen sollte der Täter, falls während des gesamten Tatgeschehens keine Willensänderung eintrat, wegen eines versuchten vorsätzlichen Delikts in Tateinheit mit der fahrlässigen Verwirklichung des einschlägigen Straftatbestandes zur Verantwortung gezogen werden. So stellt Albert Friedrich Berner infolge der Zweiteilung des objektiven Geschehens vornehmlich auf die zwischen Erfolg und Willen fehlende Vermittlung ab. 130 Diese Argumentation lehnt Wächter ab, weil der Täter während des gesamten Geschehens den tatbestandlichen Erfolg anstrebe, ihm lediglich das Mittel zu dessen Verwirklichung gleichgültig gewesen sei, „so daß man seine ganze Thätigkeit als Das, was sie wirklich ist, als ein durch seinen rechtswidrigen Vorsatz beherrschtes Ganzes, als einer maßgebenden Absicht untergeordnet,

frühen Definitionsversuch Wächters in seinem Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1,1825, S. 127. 126 Vgl. F.C.Th. Hepp, Commentar über das neue württembergische Strafgesetzbuch, Bd. I, 1839, Art. 56, S. 458 f. 127 C.G. v. Wächter, in: Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg auf dem Landtage von 1838, Bd. IV, 45. Sitzung v. 16.3.1838, S. 15. 128

Zur Dogmengeschichte instruktiv H. Yamanaka, Ein Beitrag zum Problem des sog. „dolus generalis", in: Kansai University Review, 1982, S. 1 ff. 129 130

Vgl. etwa C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Auflage 1997, S. 443 ff.

A.F. Berner, Grundlinien der kriminalistischen Imputationslehre, 1843, S. 193 ff, 194, 223. Ebenso argumentieren A.W. Heffter, Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechtes, 6. Auflage 1857, § 233 Anm. 2); K.J.A. Mittermaier, Der sogenannte generelle Vorsatz mit Rücksicht auf die Bestimmungen der neuesten Strafgesetzgebungen und die ständischen Verhandlungen darüber, in: AdCNF 1841, S. 24, 37 ff., mit Hinweisen auf die entsprechenden württembergischen Kammerverhandlungen. Aus der modernen Literatur des 20. Jahrhunderts vertreten diese Ansicht: K. Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage 1997, S. 448 f.; M. Hettinger, Der sog. dolus generalis: Sonderfall eines „Irrtums über den Kausalverlauf'?, Festschrift für G. Spendel, hrsg. v. M. Seebode, 1992, S. 237, 246 ff.; ders., Der Irrtum im Bereich der äußeren Tatumstände - eine Einführung, JuS 92, L 81, L 83; R. Maurach, H. Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 8. Auflage 1992, S. 330 f. m.w.N.; differenzierend Fr.Chr. Schroeder, Leipziger Kommentar, hrsg. v. B. Jähnke, H.W. Laufhütte u. W. Odersky, 11. Auflage 1994, § 16, Rdnr. 30 f.

Kapitel 1: Das Strafgesetzbuch des Königreichs Württemberg 1839

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auffassen m u ß . " 1 3 1 Andernfalls würde das Geschehen, das nach seinem Sinn und der gesamten Handlungsweise des Täters eine Einheit bilde, jedem natürlichen Rechtsempfinden widersprechend aufgespalten. Damit müsse i h m aufgrund des Umfangs des Willensmoments der Erfolg der Tat als vorsätzlich zugerechnet werden. Der Täter handle m i t dolus generalis. 1 3 2 Dieser sei damit wegen des vollendeten vorsätzlichen Delikts zu bestrafen. 1 3 3 Gerade wegen der hier aufgezeigten erheblichen Differenzen dieser Theorien für die Strafbarkeit des Täters war die Forderung nach einer gesetzlichen Regelung dieser Frage i m Kreise der Abgeordneten bald unbestritten. Durch geschickte Darstellung einzelner eindrücklicher Beispiele gelingt es Wächter, die Frage nach der Richtigkeit der Annahme eines dolus generalis gar nicht erst aufkommen zu lassen; eine Diskussion der widerstreitenden Ansichten blieb aus. „ D i e Kammer w i r d darüber m i t uns einig seyn, daß i n solchen Fällen der Thäter wegen consummierter doloser Tötung bestraft werden s o l l t e . " 1 3 4 Daraufh i n g r i f f die Überzeugung u m sich, daß der Gesetzgebungskommission die Einführung einer entsprechenden Regelung i n das Strafgesetzbuch für das K ö nigreich Württemberg vorgeschlagen werden sollte. M i t der Formulierung des A r t i k e l 56 Absatz 1 wurde dieser Forderung entsprochen. 1 3 5 Danach wurde dem

131

CG. v. Wächter, Deutsches Strafrecht, Vorlesungen, hrsg. v. O. v. Wächter, 1881, S. 232.

132

Diese Begrifflichkeit entwickelte zuerst H.B. v. Weber, Ueber die verschiedenen Arten des Dolus, in: NAdC VII (1825), S. 549, 565. Über die Unzweckmäßigkeit der Bezeichnung dieser Problemstellung als „idolus generalis " wies bereits Carl Georg von Wächter hin. Es handelt sich zutreffender Weise nicht um eine „