Caritas in veritate: Katholische Soziallehre im Zeitalter der Globalisierung [1 ed.] 9783428539963, 9783428139965

Die Enzyklika Caritas in Veritate ist das einzige soziale Rundschreiben von Papst Benedikt XVI. Hier äußert er sich zu s

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Caritas in veritate: Katholische Soziallehre im Zeitalter der Globalisierung [1 ed.]
 9783428539963, 9783428139965

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Caritas in veritate Katholische Soziallehre im Zeitalter der Globalisierung

Herausgegeben von Jörg Althammer

A Duncker & Humblot · Berlin

JÖRG ALTHAMMER (Hrsg.)

Caritas in veritate

Caritas in veritate Katholische Soziallehre im Zeitalter der Globalisierung

Herausgegeben von Jörg Althammer

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-13996-5 (Print) ISBN 978-3-428-53996-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-83996-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Am 7. Juli 2009 wurde mit Caritas in veritate (Die Liebe in der Wahrheit) die erste Sozialenzyklika Papst Benedikt XVI. der Öffentlichkeit vorgestellt. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise legt der Papst ein Rundschreiben vor, das sich mit den Fragen der Globalisierung und der sozialen Ausgestaltung moderner Gesellschaften auseinandersetzt. Der Text stellt sich dabei bewusst in die Tradition der Entwicklungsenzykliken Populorum progressio – die als die Rerum novarum unserer Zeit gewürdigt wird – und Sollicitudo rei socialis. Zur Überraschung der meisten Leser beinhaltet dieses Rundschreiben jedoch keine grundlegende Kritik am Finanzkapitalismus oder unmittelbare Handlungsanleitungen, sondern liefert vielmehr eine Rückbesinnung auf die ethischen Grundlagen sozialen Handelns aus christlicher Perspektive. Die Enzyklika stieß international auf ein breites Echo, das weit über die theologischen Fachkreise hinausging. Politik und Medien kommentierten den Text, mehrere internationale Symposien setzten sich mit den aufgeworfenen wirtschaftlichen Problemen und der spezifisch philosophisch-theologischen Herangehensweise dieser Enzyklika auseinander. Das international renommierte Jounal of Business Ethics widmete den unternehmensethischen Implikationen dieser Enzyklika eine Sondernummer ihrer Zeitschrift. Im Vergleich hierzu fiel die Rezeption des Schreibens in Deutschland eher zurückhaltend aus. Neben einigen befürwortenden Beiträgen überwogen die kritischen Stellungnahmen, die vor allem die aus ihrer Sicht unzureichende Marktkritik und den individualethischen Zugang des Rundschreibens bemängeln. Im Rahmen eines interdisziplinären Symposiums, das am 28. Oktober 2009 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt stattfand, wurden die unterschiedlichen Positionen miteinander ins Gespräch gebracht. Der vorliegende Sammelband dokumentiert diese Tagung. Mit Ausnahme der Beiträge von Manfred Spieker und Giuseppe Franco wurden alle Aufsätze speziell für dieses Symposium erarbeitet und werden hier erstmalig veröffentlicht. Bei der Auswahl der Referentinnen und Referenten wurde neben der fachlichen Expertise darauf geachtet, unterschiedliche Positionen zu Wort kommen zu lassen. Der Band möchte dazu beitragen, die wesentlichen Aspekte des Rundschreibens herauszuarbeiten und die unterschiedlichen Positionen deutlich zu machen. Damit ist die Hoffnung verbunden, in einen konstruktiven Dialog über die zentralen Aussagen des Textes einzutreten und erneut der Frage nachzugehen, welchen Beitrag diese Enzyklika zur Weiterentwickung der globalen Ethik leisten kann. Der Herausgeber dankt allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern für ihre Bereitschaft, an dem Symposium mitzuwirken. Ein besonderer Dank gilt meiner Mitarbeiterin, Frau Diplomkulturwirtin Stephanie Schuhknecht für die sorgfältige Durchsicht

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Vorwort

und die druckreife Formatierung des Manuskripts. Der Herausgeber dankt ebenfalls der Maximilian-Bickhoff-Stiftung, deren Druckkostenzuschuss die Publikation des vorliegenden Buches ermöglicht hat. Eichstätt-Ingolstadt im September 2012

Jörg Althammer

Inhaltsverzeichnis Kardinal Reinhard Marx Die Katholische Soziallehre im Kontext aktueller Herausforderungen . . . . . . . .

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Frank E. W. Zschaler Historische Verortung der Enzyklika ,Caritas in Veritate‘ von Papst Benedikt XVI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Alois Baumgartner Die Enzyklika ,Caritas in Veritate‘ im Kontext der kirchlichen Sozialverkündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Florian Bruckmann Theologische Grundlagen der Enzyklika: ,Caritas in Veritate‘ Plädoyer für einen christlichen Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Elmar Nass Normativer Humanismus als Programm Die Vision der ,Caritas in veritate‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Walter Schweidler Bemerkungen zu den philosophischen Grundlagen der Enzyklika ,Caritas in Veritate‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bernhard Sutor Die Menschenrechte in der Enzyklika Caritas in Veritate Inhalte, Begründung, Durchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Otto Depenheuer Menschenrechte und Religionsfreiheit Säkulare Staatlichkeit als Bedingung religiöser Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Arnd Küppers Globale Solidarität und globale soziale Gerechtigkeit Aspekte der theologischen und philosophischen Begründung von zwei zentralen Forderungen in ,Caritas in Veritate‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Giuseppe Franco Die Ethik des Marktes und die Aufgabe der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

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Inhaltsverzeichnis

Jörg Althammer Der Sozialstaat in der Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Elke Mack Armut im Licht der Enzyklika ,Caritas in Veritate‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 André Habisch und Cristian R. Loza Adaui Unentgeltlichkeit als Kategorie Sozialen Handelns: Gesellschaftliches Engagement nach ,Caritas in Veritate‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Hubert Weiger Globale Herausforderung Klimawandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Manfred Spieker Kontinuität und Erneuerung der katholischen Soziallehre im „Kompendium“ und in der Enzyklika „Caritas in Veritate“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Bernhard Emunds Missionierende Sozialverkündigung? Kritische Bemerkungen zur Kernbotschaft von ,Caritas in Veritate‘ . . . . . . . . . . 215 Ursula Nothelle-Wildfeuer Caritas in veritate – Fortentwicklung oder Rückschritt der kirchlichen Sozialverkündigung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

Die Katholische Soziallehre im Kontext aktueller Herausforderungen1 Von Kardinal Reinhard Marx I. Grundzüge der Katholischen Soziallehre Bevor die jüngste Sozialenzyklika ,Caritas in Veritate‘ inhaltlich näher erörtert wird, sollen zunächst die wesentlichen Elemente der Katholischen Soziallehre, insbesondere in ihrer deutschen und europäischen Tradition, und die Rezeption dieser Tradition in der jüngsten Sozialenzyklika erläutert werden. Die Katholische Soziallehre entfaltete seit dem 19. Jahrhundert besonders in Deutschland einen nachhaltigen politischen Einfluss. Der politische Katholizismus und seine parlamentarische Vertretung, die Zentrumspartei, beschäftigten sich intensiv mit sozialpolitischen Fragestellungen und brachten christliche Positionen in die parlamentarische Arbeit ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm die CDU, die in ihrer sozialpolitischen Programmatik stark von der Katholischen Soziallehre beeinflusst war, die Regierungsverantwortung. Dadurch beeinflusste die Soziallehre der Kirche die noch junge Bundesrepublik Deutschland und hier insbesondere die Ausgestaltung der Sozialen Marktwirtschaft. Dieser starke politische Einfluss der Katholischen Soziallehre stellt eine deutsche Besonderheit dar. 1. Die drei Säulen der Katholischen Soziallehre Die deutsche Tradition der Katholischen Soziallehre zeichnet sich dadurch aus, dass die Sozialverkündigung auf drei Säulen beruht. Die erste Säule ist das Magisterium, bestehend aus den Enzykliken, den Konzilstexten sowie den Ansprachen des Papstes und der Bischöfe. Die zweite Säule bildet die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Katholischen Soziallehre, verortet im Fach Sozialethik in der Theologie und in den sozialethischen Instituten. Hier werden die Anregungen der Katholischen Soziallehre konkretisiert. Denn die Enzykliken stellen kein ausformuliertes Programm dar, das direkte politische Handlungsanweisungen geben könnte. Sie sind keine wissenschaftlichen Texte im eigentlichen Sinn. Die lehramtliche Katholische 1 Dieser Beitrag geht auf weitgehend frei vorgetragene Ausführungen anlässlich der Fachtagung zur Enzyklika „Caritas in veritate“ an der Katholischen Universität EichstättIngolstadt am 28. Oktober 2009 zurück. Er wurde dann – ebenfalls weitgehend frei formuliert – an der University of Notre Dame, USA, am 7. April 2010 etwas verändert vorgetragen. Diese englischsprachige Fassung liegt dem überarbeiteten jetzigen Text zugrunde. Manche Wendungen der freien Rede sind belassen worden.

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Soziallehre liefert vielmehr Richtlinien und allgemeine Prinzipien, an denen konstant gearbeitet werden muss. So ist es zum einen notwendig, die Ideen der Katholischen Soziallehre auf reale gesellschaftliche Situationen anzuwenden, zum anderen muss sie mit wissenschaftlichen Argumenten gestützt werden. Die dritte Säule der Katholischen Soziallehre ist die katholische Sozialbewegung, die sich in den katholischen Sozialverbänden und in der sozialen Gemeindearbeit manifestiert. Dieses gesellschaftliche Handeln der Kirche ist ganz entscheidend für den praktischen Vollzug der Katholischen Soziallehre. Diese drei Säulen gehören untrennbar zusammen. Die Katholische Soziallehre besteht nicht nur aus dem Katechismus, sie ist nicht nur Verkündigung, sondern sie ist verbunden mit den beiden anderen Säulen. Soziallehre, Sozialethik und Sozialbewegung beeinflussen sich gegenseitig. Die Katholische Soziallehre kommt nicht nur „von oben“, sozusagen von einer Idee des Papstes her, die von der Wissenschaft analysiert und vervollständigt wird und nach der sich die Menschen auszurichten haben. Sie entstammt auch einem sensus fidelium sowie dem Engagement aller Gläubigen, die die Diskussion innerkirchlich in ihren Gemeinden und Gruppierungen initiieren. Erst dann kommt die Stimme des Papstes und der Bischöfe, des Magisteriums. Die gegenseitige Beeinflussung kann also sowohl von „oben“ nach „unten“ wie umgekehrt verlaufen. Wenn wir über Katholische Soziallehre sprechen ist es immer wichtig, das Ganze im Blick zu haben, nicht nur die einzelnen Teile. 2. Lehre und Sozialethik Die Katholische Soziallehre ist Lehre und Sozialethik. Gerade in Deutschland wird intensiv über den Stellenwert und die Bedeutung des Begriffs „Soziallehre“ diskutiert. Der Begriff der „Lehre“ hat dabei einen etwas negativen Beigeschmack. Deshalb verwenden viele lieber den Begriff „Sozialethik“ anstatt von einer Lehre zu sprechen. Dies ist jedoch nach meinem Dafürhalten zu sehr einengend. Der Begriff „Lehre“ verweist in diesem Zusammenhang auf eine bestimmte „Philosophie des Menschen“, er ist mehr als bloße Ethik. Der Begriff der „Lehre“ ist jedoch nicht in einem engen und exklusiven Sinn zu verstehen. Die Kirche gibt keine unhinterfragbaren Antworten auf alle sozialen Fragen. Aber es geht auch nicht nur um einen ethischen Standpunkt unter mehreren. Wir vertreten eine Anthropologie, eine Philosophie vom Menschen. Daraus ergeben sich ethische Standpunkte und Prinzipien sowie ethisch motivierte Handlungen und Initiativen. Man könnte sagen, dass die Katholische Soziallehre eine Anthropologie mit einem normativen Bezugspunkt ist. Sie ist eine Ethik, die aus Prinzipien, nicht einfach aus Lösungen besteht. Hermann-Josef Wallraff2 hat die Formel geprägt, wonach die Soziallehre ein „System offener Sätze“ sei. Sie ist kein Katechismus im engeren Sinne. Sie ist offen für neue Fragen und neue Antworten. 2

Wallraff, S. 27 – 48.

Die Katholische Soziallehre im Kontext aktueller Herausforderungen

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In Deutschland war lange Zeit umstritten, ob die Soziallehre ein Teil der Theologie sei. Der erste Professor für Soziallehre in Deutschland im 19. Jahrhundert war zwar ein Priester, Franz Hitze, aber der erste Lehrstuhl für Soziallehre wurde Ende des 19. Jahrhunderts an einer staatswissenschaftlichen Fakultät eingerichtet, nicht an einer theologischen. Eine eindeutige Hinwendung zur Theologie erfolgte erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Das erste und einzige universitäre Institut für Christliche Sozialwissenschaften wurde an der Theologischen Fakultät der Universität Münster gegründet. Professor war dort Joseph Höffner, der später als Kardinal national wie international wegweisende Impulse gesetzt hat. Aber auch dieses Institut kooperierte sehr erfolgreich mit der staatswissenschaftlichen Fakultät, um so Doktoranden die Möglichkeit zu geben, von beiden Fachrichtungen zu lernen. Insofern ist zwar die wissenschaftliche Katholische Soziallehre Theologie, ragt aber mit ihrem Instrumentarium und ihrem Anspruch darüber hinaus. 3. Theologie und Philosophie – Glaube und Vernunft Wenn Moraltheologie alles umfasst, was die Theologie zu dem, was Menschen tun sollen, sagen kann, dann ist die Katholische Soziallehre – wie es auch Johannes Paul II. in ,Centesimus Annus‘ klar hervorhob – ein Teil der Moraltheologie. Gleichzeitig ist die Sozialethik aber nicht einfach eine spezielle Moraltheologie. Der Stellenwert der Soziallehre innerhalb der theologischen Disziplinen ist damit weiterhin umstritten; es bleibt die Aufgabe, sie innerhalb des Fächerkanons zu verorten. ,Caritas in Veritate‘ versucht dies zu tun, indem sie die theologischen Akzente und die Inhalte der Katholischen Soziallehre stärkt und damit ihren theologischen Anspruch unterstreicht. Es ist offensichtlich innerkirchlich und außerkirchlich weiterhin umstritten, ob die Katholische Soziallehre einen Weg gefunden hat, universalisierbare, rational-einsichtige normative Leitsätze zu formulieren, oder ob sich ihre Aussagen nur dem gläubigen Christen erschließen, weil die Wahrheit über den Menschen nur in Christus offenbar wird. Nach ihrem Selbstverständnis hat die Katholische Soziallehre hierzu aber eine klare Position: sie wendet sich an „alle Menschen guten Willens“ und formuliert normative Ziele, die von allen geteilt werden können, die offen sind und sich auf einen vernunftgeleiteten Diskurs einlassen. Die Vernunft darf aber nicht in sich verschlossen sein, sozusagen dem Glauben das Gespräch verweigern. So sieht es auch Benedikt XVI. Aber auch die Katholische Soziallehre muss sich der Auseinandersetzung von Glaube und Vernunft – dem großen Thema Benedikt XVI. – stellen. Die soziale Sendung der Kirche leitet sich zwar aus dem Evangelium ab, aber wenn wir normative Leitsätze formulieren, die die gesamte Gesellschaft betreffen, müssen sie für alle Menschen rational nachvollziehbar sein. Das ist es, was wir früher Naturrecht nannten. Doch zu sagen, dass wir das Naturrecht erneuern wollen ist das eine – es zu tun das andere. Es ist eine notwendige, aber herausfordernde Aufgabe.

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II. Das Fundament der Liebe Damit komme ich zur jüngsten Sozialenzyklika ,Caritas in Veritate‘. Diese Enzyklika beginnt mit dem Begriff der „Liebe“. Das ist insofern überraschend, als nach gängigem Verständnis der Gegenstand der Soziallehre die soziale Gerechtigkeit ist. Die Bedeutung des Liebesbegriffs erhellt sich in diesem Zusammenhang erst nach genauerer Reflexion. Papst Benedikt beginnt mit der Liebe um hervorzuheben, dass der Ursprung des Menschen in der freien Entscheidung desjenigen liegt, der sagt „Du sollst leben“. Ausgangspunkt ist also die Freiheit Gottes, aus reiner Liebe Ja zu sagen zur Schöpfung und besonders zum Menschen. Der Mensch hat keinen Anspruch auf seine Existenz, sie ist aus Liebe geschenkt. Gott sagt: „Du sollst leben“. Das ist der Anfang, der aus Liebe gesetzt wird. In der Enzyklika betont der Papst, dass die Liebe nicht im Gegensatz zur Gerechtigkeit steht. Die Liebe ist vielmehr der Anfang von allem. Denn wenn wir realisieren, dass wir alle leben, weil Gott sagt „Du sollst leben“, dann entsteht die Norm für eine Gesellschaft, in der jeder seinen Platz finden muss. Und das ist Aufgabe der Gerechtigkeit. Die Begründung der Soziallehre über den Liebesbegriff ist eine neue Herangehensweise, sogar ein Fortschritt in der Sozialverkündigung. Das Fundament der Liebe, die grundsätzliche gegenseitige Akzeptanz, führt uns zur Leitidee der Gerechtigkeit und dann zu den ausführenden Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität. Der Auftakt mit der Liebe ist ein innovativer Akzent der Enzyklika. 1. Die Menschheitsfamilie Wenn man die Liebe als den großen Kontext begreift, als den Beginn der Überlegungen zur sozialen Gerechtigkeit, dann gibt das der Idee der Globalisierung eine neue, dynamische Kraft. Die Enzykliken der Päpste und das Zweite Vatikanische Konzil sprechen von der Menschheit als Familie, von einer weltweiten Familie. Aus sozio-biologischer Perspektive ist dieser Begriff eigentlich schwer akzeptabel. Theologisch hingegen bedeutet dies, jeden in der gleichen Situation wahrzunehmen, von Gott geliebt zu sein. Und so können wir uns durchaus etwas unter dem Begriff des bonum commune universale vorstellen, dem „Weltgemeinwohl“, wie es von den Päpsten in den Enzykliken bezeichnet wurde. Wie Johannes Paul II. sagte: Wir können nicht weltweite Solidarität erreichen, wenn wir nicht daran glauben, dass jeder Einzelne Teil dieser Gemeinschaft, dieser von Gott geliebten Menschheitsfamilie ist. Dieser Zugang ist für uns zentral. Die Menschheit so zu sehen erfordert jedoch im Grunde auch, metaphysische Realitäten anzuerkennen. Paul Kirchhoff sagte einmal, dass der revolutionärste Satz, den er jemals gelesen habe, auf der ersten Seite der Bibel stünde: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.“ (Gen 1,27) Diese Vorstellung findet man nur in der biblischen Tradition. Auch andere religiöse Traditionen verfügen über Schöpfungsberichte; doch als Abbild Gottes, als imago Dei, taucht der Mensch nur in der Bibel auf. Nach dem Untergang Jerusalems, als

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die Israeliten ins Exil gehen mussten, fragten sie sich, wie es möglich war, dass Gott ihr Scheitern, ihre Verbannung akzeptierte. Doch dann lernten sie, so wie wir heute und immer wieder, dass dieser Gott nicht nur ihr Gott war, sondern der Gott aller, dass wir alle eine große Familie sind. Manchmal wird man gefragt, ob man mit einer bestimmten anderen Person verwandt sei. „Ja, über Adam und Eva sind wir verwandt!“, ist dann die Antwort. Das ist der zentrale Punkt: Zu lernen was es bedeutet, eine Familie zu sein, Brüder und Schwestern zu sein. Wenn wir das bonum commune universale in seinem wahren Sinne verstehen wollen und es nicht nur als unrealistische Phantasie abtun, dann müssen wir an seinem Fundament beginnen. Und dieses Fundament ist die Liebe, die in der Enzyklika beschrieben ist. 2. Institutionen und Tugenden Die Analyse der Beziehung zwischen sozialen Institutionen und individuellen Tugenden sowie von Anreizsystemen ist Gegenstand der Sozialwissenschaft, insbesondere der Ökonomie. ,Caritas in Veritate‘ eröffnet hier einen zusätzlichen Weg, der jedoch in der wissenschaftlichen Rezeption dieses Schreibens noch nicht umfassend aufgearbeitet wurde. Die Enzyklika bestreitet nicht die Bedeutung von sozialen Institutionen und gerechten Strukturen in der Gesellschaft. Aber persönliche Tugenden und Institutionen können nicht voneinander losgelöst betrachtet werden. Es ist deshalb wichtig, die Liebe als den Ursprung von allem zu sehen. Jeder Einzelne muss grundsätzlich bereit sein mehr zu geben, als man im Gegenzug erhält. Ohne Altruismus ist gesellschaftliches Leben nicht möglich. Die wechselseitige Beziehung zwischen sozialen Institutionen und individuellen Tugenden spielt auch in der Diskussion um die Finanzkrise eine große Rolle. Es ist eine nach wie vor offene Frage, wie man den Finanzmarkt so regulieren kann, dass er die finanzwirtschaftlichen Ziele effizient realisiert. Dabei dürfen aber die Tugenden derjenigen, die in diesem System agieren, nicht ignoriert werden. Das System muss die richtigen Anreize setzen um Tugenden zu fördern, anstatt sie zu zerstören. Dies ist eine zukunftsweisende Aufgabe, die die Enzyklika anspricht, ohne jedoch fertige Lösungen zu präsentieren. Gerade die Finanzmarktkrise hat deutlich gezeigt, dass hier sowohl die Institutionen wie die handelnden Personen versagt haben. Es ist eine gesellschaftspolitisch zentrale Aufgabe der Wissenschaft, diese Beziehung zwischen Tugend- und Institutionenethik herauszuarbeiten. Dabei muss es das Ziel sein, Institutionen zu schaffen, die die Tugenden der Menschen stärken, und umgekehrt brauchen Institutionen Tugend und Bereitschaft der Akteure zum Guten. Die Finanzkrise zeigt ganz deutlich, dass beide gescheitert sind, die Institutionen und die Tugenden. Auch Solidarität ist eine Tugend und eine Strukturidee. Das ist zu beachten, wenn man globale Institutionen schaffen möchte.

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3. Geschenk/gratuità Papst Benedikt XVI. spricht häufig über die Theologie des Geschenks, gratuità auf Italienisch. Auch hier liegt bislang nur eine Idee vor; für die praktische Umsetzung muss noch viel konzeptionelle Arbeit geleistet werden. Die Enzyklika kann für die Diskussion nur den Anfang setzen: Es gilt anzuerkennen, dass wir nicht nur in einer Gesellschaft leben, die aus gesellschaftlichen Vertragsbeziehungen besteht. Das gilt auch in einer modernen, pluralen Gesellschaft und selbst im Bereich der Ökonomie. Der Papst macht deutlich, dass wir auch von Selbstlosigkeit, eben vom Geschenkten her leben. Der ,homo oeconomicus‘ ist kein realistisches Abbild menschlichen Handelns; so eindimensional ist der Mensch nicht. Der ,homo oeconomicus‘ ist eine theoretische Figur, ein Konstrukt, das uns befähigt, soziale und ökonomische Probleme zu identifizieren und Lösungsstrategien zu entwickeln. Doch im alltäglichen Leben verhalten wir uns nicht ausschließlich eigennutzorientiert. Es ist unmöglich, auf einem derartigen Menschenbild eine Gesellschaft zu formen und soziale Strukturen und Institutionen zu schaffen. Hier schafft der Papst Klarheit und lädt ein, daran weiter zu arbeiten. III. Eine ganzheitliche und umfassende Entwicklung Der dritte Abschnitt der Enzyklika beschäftigt sich mit dem gesellschaftlichen Handeln, der gesellschaftlichen Sendung der Kirche. Hier skizziert der Text das große Ziel einer ganzheitlichen und umfassenden Entwicklung der Gesellschaft. Seit ,Populorum Progressio‘ wurde der soziale Fortschritt von der Katholischen Soziallehre nicht nur als wirtschaftliches Wachstum verstanden, sondern in einem umfassenden Sinn interpretiert. Dies bedeutet nicht, dass wir auf wirtschaftliches Wachstum verzichten könnten. Angesichts einer weit verbreiteten Ökonomieskepsis innerhalb der Kirche gilt es, die Bedeutung des Wirtschaftswachstums für Freiheit und Menschenwürde im Sinne einer Mehrung von Beteiligungschancen hervorzuheben. Wenn man nichts zu essen hat, kann man viele Träume haben, aber leben kann man nicht von ihnen. Auch das gehört zu einer umfassenden Sicht der Dinge. 1. Kriterien einer umfassenden Entwicklung Für eine umfassende Beschreibung des Wohlstands der Nationen benötigen wir entsprechende Messkriterien. In der Ökonomie und in den Sozialwissenschaften ist eine Diskussion darüber entstanden, wie man „Wohlstand“ adäquat messen kann. Die Enzyklika geht zwar nicht explizit auf diese Diskussion ein, aber das Thema wird angesprochen. Und deshalb können wir uns mit dieser Enzyklika an den Diskussionen um das Bruttoinlandsprodukt und Kriterien für eine neue Wachstums- und Fortschrittsidee beteiligen. So müssen wir zum Beispiel fragen: Was ist mit Wachstum gemeint? Wie können die Armen berücksichtigt werden? Wie können öffentliche Güter in eine neue Messgröße für das Bruttoinlandsprodukt integriert

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werden? Die Beantwortung dieser Fragen ist weder Aufgabe der Enzyklika noch der kirchlichen Lehrverkündigung insgesamt. Auch hier sind wieder die Sozialwissenschaften eingeladen, ein neues Konzept des Wachstums zu diskutieren. In Frankreich hat Präsident Sarkozy die Nobelpreisträger Amartya Sen und Joseph Stiglitz sowie zahlreiche namhafte Ökonomen damit beauftragt, gemeinsam die Frage der Messung von Wachstum und sozialem Fortschritt zu thematisieren.3 In Deutschland wurde zwischenzeitlich die Enquete-Kommission „Wachstum – Wohlstand – Lebensqualität“ einberufen, um einen ganzheitlichen Indikator für Wohlstand und Fortschritt zu entwickeln.4 Es wird deutlich: Aus der Sicht der Katholischen Soziallehre geht es um die Entwicklung einer neuen Fortschrittsidee. Die Enzyklika ist dafür ein Impuls. 2. Wider den ökonomischen und technischen Imperativ Die Enzyklika fordert „eine neue humanistische Synthese“ (CIV 21), die sich einem ausschließlich ökonomischen und technischen Imperativ entgegen stellt. Der ökonomische Imperativ, wonach alles, was Gewinn bringt auch erlaubt sein soll, und der technische Imperativ, wonach alles, was technisch möglich ist auch getan werden soll, in Kombination mit einer Ethik des minus malum: eine solche Perspektive führt schnell in eine Sackgasse. Man benötigt andere, umfassendere normative Kriterien, die uns Orientierungsmaßstäbe liefern, welche Handlungsweisen und Verfahren als zulässig gelten können und welche nicht. Die uneingeschränkte Macht des Faktischen wäre das Ende jeder Ethik, dann ist das, was sich durchsetzt, identisch mit dem Guten. 3. Humanökologie Wenn die Enzyklika von der „Humanökologie“ (CIV 51) spricht, so verweist sie auf die Multidimensionalität menschlichen Lebens. Diese Idee findet sich bereits bei Johannes Paul II. Sie wurde bislang zu wenig beachtet, da die unterschiedlichen Strömungen in der Katholischen Soziallehre und die selektiven Interpretationen den Blick hierfür etwas verstellt haben. Einige konzentrieren sich auf die Probleme der Entwicklungspolitik, andere auf die Fragen des Lebensschutzes. Insbesondere Johannes Paul II. hat diese unterschiedlichen Aspekte zusammengefügt und in ein umfassendes Verständnis des Menschen eingebracht. Dies ist es, was Papst Benedikt als eine „neue humanistische Synthese“ bezeichnet. Es geht um den Menschen im Ganzen seiner Lebenswelt.

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Vgl. Stiglitz / Sen / Fitoussi. Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ wurde am 23. November 2010 eingesetzt. 4

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IV. Eine neue Ordnung: Staat, Markt, Gesellschaft In ,Caritas in Veritate‘ spricht der Papst über eine neue Ordnung des Zusammenwirkens von Staat, Markt und Gesellschaft. Angesichts der Finanzkrise gibt es eine Vielzahl an Diskussionen zu diesem Thema. In ,Caritas in Veritate‘ nimmt diese Diskussion einen zentralen Stellenwert ein. 1. Den Staat überdenken Es gehört zur Tradition der Katholischen Soziallehre, die Notwendigkeit und die Aufgaben des Staates immer wieder neu zu überdenken. In den vergangenen Jahrzehnten dominierte gesellschaftlich vor allem die Kritik an einem überbordenden Wohlfahrtsstaat. Diese zum Teil maßlose Kritik hat sich vor allem in der jüngsten Zeit als wenig überzeugend erwiesen. Es wäre jedoch auch falsch, angesichts der sozialen Herausforderungen der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise alle Deregulierungs- und Liberalisierungsmaßnahmen der Vergangenheit einfach wieder zurückzunehmen. Wir müssen vielmehr die Aufgaben und den Stellenwert des Staates neu verorten. Dabei ist die Katholische Soziallehre stark von aristotelischen Gedanken geprägt: Der Staat, das Gemeinwesen, „das Ganze“ ist mehr als die bloße Summe seiner Teile. Ein gutes Leben ist nicht möglich ohne den Staat im aristotelischen Sinne, denn wir sind in unserem Handeln aufeinander angewiesen. Gemeinsam mit anderen können wir mehr erreichen als alleine. Auf den ersten Seiten der Bibel findet sich der Satz: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt.“ (Gen 2, 18) Dies bezieht sich nicht nur auf die Gemeinschaft von Mann und Frau, sondern auf das menschliche Zusammenleben insgesamt. Deshalb ist für die Katholische Soziallehre der Staat eine „natürliche Institution“. Unter den Bedingungen der Globalisierung und der Europäischen Integration, aber auch vor dem Hintergrund der globalen Finanzmarktkrise ergeben sich hieraus konkrete Anfragen, wie dieses Zusammenleben zu regeln ist. Der Papst spricht in diesem Zusammenhang von einer „globalen Autorität“. Er spricht sich zwar nicht für ein supranationales Staatsgebilde aus; aber es bleibt die Aufgabe, zu überdenken, welcher gesellschaftliche Ordnungsrahmen unter den Bedingungen der Globalisierung erforderlich ist, um allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen. Dabei spielt die demokratische Verfasstheit dieser Institutionen eine entscheidende Rolle. Denn Demokratie ist nicht nur ein wertfreies politisches Verfahren, das die Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft sicherstellt. Das demokratische Prinzip hat auch ein ethisches, wertorientiertes Fundament. Und schließlich ist die relevante Frage nicht, ob wir politische Rahmenbedingungen auf globaler Ebene benötigen, sondern welche wir benötigen und wie diese Rahmenbedingungen auszugestalten sind. Das wird eine sehr wichtige Diskussion sein, auch aus Sicht der Katholischen Soziallehre. Ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen beruht auf kulturellen Voraussetzungen und es ist gebunden an eine erfahrbare Solidarität, eine „Schicksalsgemeinschaft“. Doch dieses Solidaritätsgefühl ist bereits auf der Ebene des Nationalstaats

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politisch schwer in Institutionen umsetzbar. Auf globaler Ebene haben wir dafür noch kaum Präzedenzfälle. Und dennoch müssen wir den wirtschaftlichen und politischen Ordnungsrahmen globalisieren. In einem globalisierten Markt ist der Nationalstaat als Regulierungsinstanz überfordert. Das wurde bereits von Papst Johannes XXIII. im Jahr 1960 so gesehen. Globale Verantwortung ist nicht möglich ohne politische Rahmenbedingungen. Allerdings stößt die Idee einer globalen Regulierung der Märkte sowohl im wissenschaftlichen wie im öffentlichen Diskurs auf breiten Widerstand. Dennoch müssen wir uns mit diesem Gedanken auseinandersetzen. Auch dabei ist die Katholische Soziallehre wegweisend. Denn die globale Ordnung braucht das Subsidiaritätsprinzip. Wir brauchen eine globale Verantwortungsstruktur, um die drängenden Fragen der Menschheit wie den Klimawandel, Energieversorgung oder die Unterentwicklung anzugehen. Doch wir brauchen auch einen politischen und strukturellen Rahmen, der dieses Verantwortungsgefühl in Institutionen abbildet. In den freiheitlich verfassten Demokratien können wir erkennen, dass die Demokratie eine verantwortungsvoll gelebte Freiheit ermöglicht, aber auch voraussetzt. Es ist ungleich schwieriger, dieses Prinzip auf globaler Ebene umzusetzen. Mit den Vereinten Nationen, der Welthandelsorganisation, der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds verfügen wir zwar über globale Institutionen, doch diese allein sind unzureichend. Das ist die wichtigste Erkenntnis, die wir aus der Finanzkrise gewonnen haben. Die Zukunft der Globalisierung wird sich daran entscheiden ob es gelingt, einen solchen Rahmen zu schaffen, um eine weitere Krise zu vermeiden. Wie schwer das ist, können wir selbst im europäischen Kontext verfolgen. Verantwortungsvoll gelebte Freiheit ist so etwas wie die „Achillesferse“ der modernen Gesellschaft, denn die Gesellschaft lebt von Voraussetzungen, die sie selbst gar nicht hervorbringen kann. Wenn ein Mann zu einer Frau oder eine Frau zu einem Mann sagt „Ich liebe dich“, ist das eine sehr private Aussage, doch von höchstem öffentlichem Interesse. Davon lebt die gesamte Gesellschaft. So hat es einmal Paul Kirchhoff formuliert. Die beiden versprechen sich, einander zu vertrauen und Kinder zu wollen, sich treu zu sein und gemeinsam eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Solche Versprechen sind das Fundament der Gesellschaft, doch die Entscheidung dazu ist frei. Man kann die Menschen nicht zwingen, sich so zu verhalten, man kann sie nicht dafür bezahlen. Das erinnert uns ein wenig an die Theologie des Geschenks, wie es Benedikt XVI. formuliert. 2. Der Markt: Wettbewerb als Produkt der Zivilisation Markt und Wettbewerb sind Produkte der Zivilisation. Das war die große Idee des Ordoliberalismus nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland. Die Freiburger Schule war eine Reaktion auf das Versagen des freien, von keiner Ordnungsidee geleiteten unregulierten Marktes, eben des klassischen Liberalismus oder Kapitalismus. Den Vertretern des Ordoliberalismus war natürlich klar, dass der Markt seinen Eigengesetzlichkeiten unterliegt. Wenn politische Entscheidungen ihn zu sehr beeinflussen,

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wird er zerstört. Doch der Markt benötigt eine Rahmenordnung, um funktionsfähig zu sein. Und dieser Rahmen ist stark abhängig von der zu Grunde liegenden Konzeption sozialer Gerechtigkeit, hat also einen ethischen Kontext. Die Leistung des Marktes besteht nicht nur in der Maximierung der Gewinne. Eine ausführliche sozialethische Reflexion zeigt, dass der Markt die freie Entfaltung der Person möglich macht. Dies muss die staatliche Rahmenordnung berücksichtigen. Was wir jedoch erleben, ist eine massive Verkürzung der liberalen Theorie. Der Shareholderansatz ist ein Rückschritt in der Philosophie des Marktes. In einer marktwirtschaftlichen Ordnung kommt den Shareholdern zwar eine wichtige Rolle bei unternehmerischen Entscheidungen zu, doch sind sie nicht die einzigen Stakeholder in diesem Spiel. Die Enzyklika greift den Stakeholderansatz auf und schließt sich ihm explizit an (vgl. CIV 40).5 Die deutsche Ordnungsökonomik unterscheidet bewusst zwischen der Sozialen Marktwirtschaft und dem Kapitalismus. Der Begriff des „Kapitalismus“ steht für einen unregulierten marktwirtschaftlichen Prozess und ist negativ besetzt. Die Soziale Marktwirtschaft, die konzeptionell enge Bezüge zur Freiburger Schule aufweist, war wirtschaftlich wie sozialpolitisch in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg äußerst erfolgreich. Sie war so erfolgreich, dass mittlerweile alle politischen Parteien in Deutschland – bis auf „Die Linke“ –, unabhängig von ihrer sonstigen Ausrichtung die Soziale Marktwirtschaft in ihre wirtschaftspolitische Programmatik aufgenommen haben. Der Begriff des Kapitalismus stellt bereits semantisch das Kapital in den Mittelpunkt. Dies ist jedoch eine verkürzte Perspektive. Kapital und Arbeit, die Bedarfe der Konsumenten, soziale Inklusion und Nachhaltigkeit und viele weitere Faktoren sind für eine umfassende wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung erforderlich. Hinter dem Kampf um Begrifflichkeiten stehen unterschiedliche Schwerpunktsetzungen der verschiedenen Denkrichtungen. Auch dies zeigt die Katholische Soziallehre sehr deutlich. Die Lehre des reinen Marktes – des Kapitalismus – zu überdenken, ist vielleicht die wichtigste Lehre aus der Finanzkrise. In der Analyse der Funktionsweise des Marktes und der Notwendigkeit seiner ordnungspolitischen Gestaltung liegt eine gemeinsame Aufgabe der Katholischen Soziallehre und der säkularen Ordnungstheorie. 3. Die globale Zivilgesellschaft Bei der praktischen Umsetzung dieses Ordnungsrahmens auf globaler Ebene betont die Enzyklika die Bedeutung der globalen Zivilgesellschaft. In die soziale Gestaltung der Globalisierung müssen alle Akteure – Markt, Staat und Gesellschaft –, einbezogen werden. Nicht nur der Staat und der Markt, nicht nur der Staat und das Individuum, sondern Staat, Markt und Zivilgesellschaft sind aufeinander angewiesen. Hier ist die Kirche in besonderer Weise gefordert. Ihr Anspruch muss es sein, sowohl Teil der Zivilgesellschaft in einem Nationalstaat als auch Teil der globalen 5

Vgl. dazu: Marx.

Die Katholische Soziallehre im Kontext aktueller Herausforderungen

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Zivilgesellschaft zu sein. In diesem Zusammenhang ist häufig zu hören, die Kirche sei der älteste „Global Player“ und „Global Prayer“. Bezüglich des umfassenden Sendungsauftrags der Kirche und ihrer weltweiten Ausdehnung ist das richtig. Allerdings spiegelt sich dieser globale Ansatz noch nicht hinreichend in den inneren Strukturen und im globalen Zusammenwirken der Kirche wider. Die Kirche muss ihren Stellenwert als globaler zivilgesellschaftlicher Akteur deutlich stärken. Dabei kommt auch den katholischen Universitäten und Bildungseinrichtungen eine besondere Rolle zu. Wenn sie zum Beispiel international kooperieren, sind auch sie ein wichtiger Teil der globalen Zivilgesellschaft und können so Ideen und Bewegungen voranbringen. V. Aufgabe und Sendung der Kirche und ihrer Soziallehre Die Kirche versteht sich als die umfassende Gemeinschaft aller Gläubigen. Dies zeigt sich immer wieder neu sozial und theologisch in der Feier der Heiligen Messe überall auf der Welt. Sie verfügt auch über globale Institutionen, aber es fehlt nach wie vor an effizienten Verfahren, um sich als wichtiger Akteur einer globalen Zivilgesellschaft Gehör zu verschaffen. Unsere Institutionen sind zu stark ausdifferenziert und zu wenig vernetzt. Auch die Katholische Kirche muss verstärkt lernen, global zu denken und zu agieren. Das ist nicht allein durch die römische Zentrale und den Papst zu leisten. Starke Impulse gehen auch von den Gemeinden, den Diözesen, Orden und den Initiativen der Entwicklungszusammenarbeit aus. Dazu kommen geistliche Bewegungen, katholische Bildungseinrichtungen und vieles andere mehr. Diese wegweisenden Ansätze in umfassender Weise zusammenzubringen wäre eine zentrale Aufgabe der Katholischen Kirche für das 21. Jahrhundert. Dann wäre die Kirche noch mehr ein wirklicher globaler Akteur. 1. Dialog und Interdisziplinarität Worin besteht die Sendung der Katholischen Kirche in dieser globalisierten Welt? ,Caritas in Veritate‘ verweist hier auf die Notwendigkeit des Dialogs und auch der interdisziplinären Forschung (vgl. CIV 31). Wenn wir eine umfassende Entwicklung der Gesellschaft anstreben, so gelingt dies nur in einem Diskurs, der die verschiedenen Disziplingrenzen überschreitet. Hier gilt es, bestehende methodische und auch ideologische Gräben zu überwinden – auch innerhalb der Theologie und darüber hinaus. Wenn wir von der integralen Sicht des Menschen und des Zusammenlebens sprechen, wie es der Papst tut, müssen wir uns klar machen, dass dies für die Kirche einen mutigen Schritt nach vorne in eine plurale Gesellschaft bedeutet; eine Gesellschaft, die von uns befürwortet wird und gewünscht ist. Für die Zukunft ist es sehr wichtig, dies in unserem Denken und Handeln zu zeigen.

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2. Interdisziplinäre Wege außerhalb der Kirche Für die Katholische Soziallehre bedeutet dies, in den interreligiösen Dialog und in den Diskurs mit der säkularen Wissenschaft zu treten. Der Papst macht in der Enzyklika deutlich, dass wir für diesen Diskurs einen gemeinsamen Ausgangspunkt brauchen, der auf einem Grundkonsens gemeinsamer Werte und eines gemeinsamen Vernunftbegriffs basiert. Dass ein solcher Diskurs möglich und fruchtbar ist, hat die Diskussion zwischen Kardinal Ratzinger und Jürgen Habermas 2004 in der Katholischen Akademie in München deutlich gemacht. Dieses Gespräch war ein bemerkenswertes Zeichen in Richtung des Dialogs von Theologie und säkularer Philosophie. 3. Verkündigungsauftrag Die Katholische Soziallehre muss Teil der Verkündigung sein. Für Johannes Paul II. und Benedikt XVI. ist die Soziallehre Teil der Sendung der Kirche und der Glaubensverkündigung. Und damit sind wir wieder am Anfang: Soziallehre ist nicht nur Lehramt. Das Lehramt liefert die Denkanstöße in Rundschreiben, doch Soziallehre ist auch Sozialethik, akademische Arbeit in den Universitäten und wissenschaftlichen Instituten, und sie ist auch politische und gesellschaftliche Bewegung. Sie ist Leben aus dem Glauben und Zeugnis für das Evangelium! VI. Die Rolle der Katholischen Universitäten Eine Katholische Universität ist ein guter Ort, um über die benannten Themen sowie die aktuellen Herausforderungen zu sprechen. Die Zukunft der Kirche liegt nicht in unserer Hand, Gott sei Dank. Doch wir können eine Menge tun. Und ein wichtiges Feld ist die Gestaltung der Welt mit den Impulsen des Evangeliums und der menschlichen Vernunft. Eine Katholische Universität sollte dies zusammenbringen können und so die große katholische Tradition von umfassender Bildung und Weltdeutung befördern. Manchmal sind wir ja sogar der Zeit voraus. Ich denke, die Katholischen Universitäten können uns helfen, dem wahren Fortschritt nicht hinterher zu laufen, sondern ihn zu gestalten. Literatur Marx, Reinhard: Ethik oder Profit? – Der Stakeholderansatz als Ansatz wertorientierten Managements, in: Meier, Uto / Sill, Bernhard (Hg.): Zwischen Gewissen und Gewinn. Werteorientierte Personalführung und Organisationsentwicklung, Regensburg, 2005, S. 129 – 143. Stiglitz, Joseph / Sen, Amartya / Fitoussi, Jean-Paul (Hg.): Report by the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress, Paris, 2009. Wallraff, Hermann Josef: Die katholische Soziallehre – ein Gefüge von offenen Sätzen, in: Achinger, Hans / Preller, Ludwig / Wallraff, Hermann Josef (Hg.): Normen der Gesellschaft. Festgabe für Oswald von Nell-Breuning, Mannheim, 1965, S. 27 – 48.

Historische Verortung der Enzyklika ,Caritas in Veritate‘ von Papst Benedikt XVI. Von Frank E. W. Zschaler Die am 29. Juni 2009 von Papst Benedikt XVI. unterzeichnete Enzyklika ,Caritas in Veritate‘ „Über die ganzheitliche Entwicklung des Menschen in der Liebe und in der Wahrheit“ war seit mehr als zwei Jahren erwartet worden. Sie sollte ursprünglich im Jahr 2007 aus dem Anlass des 40. Jahrestages der Enzyklika Papst Paul VI. ,Populorum progressio‘ „Über die Entwicklung der Völker“ erscheinen. Im ersten Kapitel „Die Botschaft von Populorum Progressio“ stellt der Heilige Vater seine erste Sozialenzyklika ganz in die Tradition der Soziallehre der Katholischen Kirche. Die katholische Soziallehre entstand im 19. Jahrhundert, einer widersprüchlichen Zeit. Einerseits wurde die Katholische Kirche, durch Säkularisationsprozesse, durch ein Vordringen von atheistischen und relativistischen Strömungen und durch Laizisierungsprozesse in Politik und Gesellschaft an einen gesellschaftlichen Rand gedrängt. Andererseits haben die miteinander verwobenen Prozesse der Modernisierung und der Industrialisierung in Europa zunächst nicht zu einem neuen „Wohlstand der Nationen“ geführt, wie ihn z. B. Adam Smith prognostiziert hatte. Die schnell steigenden Bevölkerungszahlen, das mit diesem Wachstum anfangs nicht mithaltende Arbeitsangebot, fehlende Regelungen zu Arbeitszeiten und Arbeitsschutz, schließlich nicht mehr abgesicherte soziale Risiken, auch als Folge eines weitgehenden Rückzugs der Staaten aus dem Politikfeld, das wir heute als Sozialpolitik bezeichnen, führten zu einem Wachstum der Kluft zwischen reich und arm, zu einer Zunahme des Elends, zur sozialen Frage. „Wollte man“, schrieb der Pariser Erzbischof Jean Cardinal Verdier (1864 – 1940) in seinem 1940 in Zürich auf Deutsch publizierten Buch ,Die Kirche und die soziale Frage‘, „den Begriff der ,Sozialen Frage‘ in seinem ganzen Umfang erfassen, müsste man antworten: Die soziale Frage ist der Inbegriff aller Probleme, die sich aus dem Zusammenleben von Individuen in einer Gemeinschaft ergeben.“ Eine so umfassende Definition mache den Begriff, so der Autor weiter, aber nur wenig operationabel. „Zum Glück“, schrieb der Erzbischof, „haben die Worte ,Soziale Frage‘ im Sprachgebrauch einen engeren, besser abgegrenzten Sinn angenommen. Denn unter den vielfältigen sozialen Problemen ist ja nur eines, das in seiner ganzen Bedeutsamkeit

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die öffentliche Meinung unserer Tage vorwiegend, ja ausschließlich in Atem hält: das Problem der Rechte und Pflichten der Arbeitenden.“1 Spätestens seit der Enzyklika ,Rerum novarum‘, deren Untertitel in offizieller deutscher Übersetzung „Über die Arbeiterfrage“, in englischer „On Capital and Labour“ lautet – die vom Heiligen Stuhl publizierte französische Übersetzung kommt ohne Untertitel aus –, war also die soziale Frage in der sich entwickelnden katholischen Soziallehre zunächst eine Arbeiterfrage. Sehr deutlich spricht das Johannes Paul II. in ,Centesimus annus‘ an: „Der Papst [gemeint ist Leo XIII.], die Kirche und ebenso die bürgerliche Gesellschaft standen vor einer durch Konflikt gespaltenen Gesellschaft. Dieser Konflikt war umso härter und unmenschlicher als er weder Regel noch Gesetz kannte. Es war der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit oder – wie es die Enzyklika nannte – die Arbeiterfrage. Eben zu diesem Konflikt wollte der Papst in den schärfsten Worten, die ihm damals zur Verfügung standen, seine Meinung kundtun.“ (CA 5) Die Enzyklika, Pius XI. bezeichnete sie anlässlich der 40. Wiederkehr ihrer Veröffentlichung als „Magna Charta der christlichen Sozialarbeit“ (,Quadragesimo anno‘, QA 39), nahm auch auf wirtschaftlichem Gebiet Erkenntnisse der Scholastik, namentlich vom Hl. Thomas von Aquin auf. Sie verband die Kritik an den Folgen einer einseitigen und isolierten Sicht der Wirtschaft und eine deutliche Absage an den marxistischen Sozialismus mit einer positiven Beurteilung des Privateigentums und einer Warnung vor staatlicher Überregulierung. Leo XIII. schrieb: „Eine unerträgliche Beengung aller, eine sklavische Abhängigkeit würde die Folge des Versuchs seiner Anwendung [des Prinzips einer allgemeinen Staatsfürsorge] sein. Es würde gegenseitiger Missgunst, Zwietracht und Verfolgung Tür und Tor geöffnet. Mit dem Wegfalle des Spornes zu Strebsamkeit und Fleiß würden auch die Quellen des Wohlstands versiegen. Aus der eingebildeten Gleichheit aller würde nichts anderes als der nämliche klägliche Zustand der Entwürdigung für alle“ (RN 12).2 Die Lösung bestand für Leo XIII. in der Achtung der Würde der menschlichen Arbeit, in der Anerkennung eines Naturrechts auf persönliches Eigentum, schließlich in der Lohngerechtigkeit, die dann gegeben ist, wenn mit einem ausreichenden Einkommen die Familien versorgt und auch kleine Summen angespart werden können, die schließlich zur Bildung von Eigentum führen. Der Papst verlangte die Absicherung der grundlegenden sozialen Risiken Krankheit, Unfall und Invalidität durch genossenschaftlich organisierte Sozialversicherungen und forderte Möglichkeiten zur Arbeitnehmermitbestimmung.3 Diese Aussagen führen zu zwei grundlegenden Prinzipien der Katholischen Soziallehre, die für das christliche Verständnis der Wirtschaft in der modernen Welt eine Schlüsselrolle einnehmen: Erstens das Subsidiarität genannte Prinzip von Selbsthilfe und Eigenverantwortung, als dessen Begründer Gustav Gundlach (1892 – 1963) gilt 1

Verdier, S. 9. Zschaler, S. 11. 3 Roos, S. 127. 2

Historische Verortung der Enzyklika ,Caritas in Veritate‘

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und das erstmals im Jahr 1931 in der Enzyklika ,Quadragesimo anno‘ dargelegt wurde. Dieses päpstliche Lehrschreiben Pius IX. „Über die Gesellschaftliche Ordnung“ war die zweite Sozialenzyklika. Nicht zufällig wurde sie in einer Zeit verfasst, in der die 1929 begonnene Weltwirtschaftskrise ihrem Höhepunkt zustrebte. Im Text von Pius XI. heißt es, dass „dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf.“ Weil „jedwede Gesellschaftstätigkeit … ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär“ ist, solle sie „die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen“ (QA 79). Vor der Folie der Totalitarismen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und eines technokratischen Menschenbildes entwickelt, wurde das Subsidiaritätsprinzip „eines der Leitmotive bei der Begründung des spezifischen westeuropäischen Wirtschafts- und Sozialmodells nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere der bundesdeutschen Sozialen Marktwirtschaft“4 Zweitens wurde in ,Quadragesimo anno‘ das Prinzip der Sozialen Gerechtigkeit als „regulatives Prinzip der Wirtschaft“ begründet (QA 88). Anders als bei traditionellen Gerechtigkeitsvorstellungen ist „die Perspektive der sozialen Gerechtigkeit gleichermaßen auf die Individual- und die Gemeinschaftsrechte gerichtet, was den solidaristischen Grundgedanken der wesenhaften Verbundenheit von Einzelnem und Gemeinschaft entspreche.“5 Damit unterscheidet sich das Verständnis von der Sozialen Gerechtigkeit aus Sicht der Katholischen Soziallehre, das auf die Menschenwürde zielt und in untrennbarem Zusammenhang mit der Subsidiarität gedacht werden muss, von einem in weiten Teilen der heutigen westlichen Gesellschaften üblichen sozialen Gerechtigkeitsverständnis, dass sich überwiegend auf Verteilungsgerechtigkeit bezieht.6 Die Festschreibung dieser Prinzipien war auch deshalb grundlegend, weil der Kommunismus nun kein Programm mehr war, wie im zu Ende gehenden 19. Jahrhundert, sondern in Gestalt der Sowjetunion bedrohliche Realität, in der Kirchen und Gläubige diskriminiert und verfolgt wurden. Die Enzyklika thematisierte auch die Frage nach einer gerechten Ordnung der Wirtschaft und setzt sich prononciert mit dem Zustand des zeitgenössischen Kapitalismus auseinander. Wie in ,Rerum Novarum‘ wird auch in ,Quadragesimo Anno‘ nicht die Marktwirtschaft an sich kritisiert, sondern die Auswüchse, die dazu geführt haben, dass die Regeln des Wettbewerbs nicht mehr funktionieren. „Die an die Stelle der Wettbewerbsfreiheit getretene Vermachtung der Wirtschaft kann aber noch weniger diese Selbststeuerung bewirken: Macht ist blind; Gewalt ist stürmisch. Um segenbringend für die Menschheit zu sein, bedarf sie selbst kraftvoller Zügelung und weiser Lenkung; diese Zügelung und Lenkung kann sie sich aber nicht selbst geben.“ Das gelinge nur durch die Kräfte „der sozialen Gerechtigkeit und der sozialen Liebe“ (QA 88). Damit 4

Nothelle-Wildfeuer, Sozialprinzipien, S. 161. Küppers, S. 168. 6 Zschaler, S. 12.

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wurden nicht nur mit einer Verbindung von Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe die „ethische Grundlagen der Wirtschaftsgesellschaft“7 definiert, sondern auch dem Staat die Aufgabe übertragen, „eine Rechts- und Gesellschaftsordnung herbei[zuführen]“ (ebd.), die diesen Grundsätzen entspricht. Diese Gedanken gehören zu den Grundlagen, auf denen der Ordoliberalismus der Freiburger Schule aufbauen konnte und damit eine enge Verbindung zur katholischen Soziallehre möglich machte, für die in besonderer Weise das wissenschaftliche und seelsorgerische Wirken von Joseph Kardinal Höffner steht.8 Zum 70. Jahrestag von ,Rerum Novarum‘ veröffentliche Papst Johannes XXIII. 1961 die Enzyklika ,Mater et Magistra‘ „Über die jüngsten Entwicklungen des gesellschaftlichen Lebens“, die hauptsächlich die immer engeren Verflechtungen zwischen den Staaten und Völkern thematisierte. Das beginnende Ende des Kolonialismus, die darauf folgende Entstehung neuer Staaten, schließlich die in den reichen Staaten jetzt allmählich wahrgenommene Verpflichtung an der Überwindung der von ihnen mitverantworteten Entwicklungsprobleme in Lateinamerika, Asien und Afrika witzurwirken, erweiterten den thematischen Fokus und Wirkungsraum der katholischen Soziallehre.9 Schlussendlich geht es um eine neue Weltordnung, in der „die Staaten, die technische und finanzielle Hilfe leisten, sie den Entwicklungsländern ohne irgendwelche Beherrschungsabsichten gewähren – und zwar so, dass diese in den Stand gesetzt werden, ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt einmal selbständig zu vollziehen“ (MM 260). In der von rasanten wirtschaftlichen Wachstum und einer immer komplexeren staatlichen Einflussnahme geprägten westlichen Welt forderte der Papst, dass das Recht auf Privatinitiative, die ihrerseits die Rechte der Anderen akzeptiert, nicht eingeschränkt wird (MM 51). Außerdem mahnt er an, die Arbeitnehmer nicht nur am Leben der sie beschäftigten Unternehmen, sondern auch an Unternehmen selbst zu beteiligen. Darüber hinaus werden neue Seiten der sozialen Frage angesprochen, die sich in Folge der politischen und ökonomischen Veränderungen der Nachkriegszeit ergeben haben.10 In der Pastoralkonstitution ,Gaudium in spes‘ des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde die Zweckbestimmung des wirtschaftlichen Fortschritts als „Dienst am Menschen, und zwar am ganzen Menschen im Hinblick auf seine materiellen Bedürfnisse, aber ebenso auch auf das, was er für sein geistiges, sittliches, spirituelles und religiöses Leben benötigt“ (GS 64) herausgestellt. Eine Wirtschaftsordnung, die diesem Grundsatz folgt, also materielle und geistig-spirituelle Bedürfnisse gleichermaßen berücksichtigt, „sieht anders aus, als eine die darauf keine Rücksicht nimmt, beispielsweise im Hinblick auf die Heiligung des Sonntags.“11 Aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, aus Freiheit, Verantwortung und Teilhabe jedes Einzelnen er7

Roos, S. 128. Vgl. Nothelle-Wildfeuer, Höffner, S. 525 – 531. 9 Vgl. Papst Johannes XXIII., S. 69 – 80. 10 Vgl. Roos, S. 130. 11 Roos, S. 131.

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Historische Verortung der Enzyklika ,Caritas in Veritate‘

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gibt sich eine zweite wirtschaftsethische Maxime, nämlich die Teilhabe möglichst vieler Menschen und aller Völker an wirtschaftlichem Wachstum und Wohlstand. ,Gaudium in spes‘ nahm damit einen Gedanken von ,Mater et Magistra‘ auf, in der – obwohl das Wort Globalisierung noch nicht gebräuchlich war – die soziale Gerechtigkeit und der wirtschaftliche Ausgleich zwischen den Völkern verschieden hoher Wirtschaftsstufen, wie bereits erwähnt, in einem eigenen Kapitel thematisiert wurden Die nächstfolgende Sozialenzyklika ,Populorum Progressio‘, von Papst Paul VI. 1967 erlassen, eröffnete eine weitere thematische Hinwendung des päpstlichen sozialen Lehramtes auf die Fragen einer gerechten internationalen Ordnung. Papst Johannes Paul II. sah darin später eine „Anwendung der Soziallehre des Konzils auf die spezifische Frage von Entwicklung und Unterentwicklung der Völker.“ (,Sollictudo rei socialis‘, SRS 7) „Heute ist“ so schreibt Paul VI. „darüber müssen sich alle klar sein – die soziale Frage weltweit geworden. Johannes XXIII. hat dies deutlich ausgesprochen, und das Konzil hat es in der pastoralen Konstitution über „Die Kirche in der Welt von heute“ bestätigt. Die darin enthaltene Lehre ist gewichtig, ihre Verwirklichung drängt.“ (SRS 3). „Entsprechend fallen die konkreten Forderungen des Papstes aus: Die Erdengüter zum Nutzen aller einsetzen, Gewalt vermeiden, Analphabetentum bekämpfen, Familien sichern, Kultur fördern.“12 Dazu bedarf es neben individualmoralischem Verhalten struktureller Lösungen, koordinierter Anstrengungen und Programme.13 1987, die Globalisierung war als sozialer, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Prozess zu einer Tatsache geworden, erschien die zweite Sozialenzyklika mit internationaler Reichweite: ,Sollictudo rei socialis‘ „Zwanzig Jahre nach der Enzyklika Populorum Progressio“ von Johannes Paul II. Im Mittelpunkt stehen die weltweiten sozialen Fragen. Ausgehend von dem ungerechten Zustand, dass die Güter, die eigentlich für alle Menschen bestimmt sind, nach wie vor ungerecht verteilt sind, das Recht auf Bildung vielerorts nicht verwirklicht wird sowie Verletzungen der Menschenrechte, darunter Unterdrückung der religiösen Freiheiten und weitere Diskriminierungen den Alltag Vieler bestimmen, wurde ein ganzheitlicher Entwicklungstypus angemahnt, der nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch „die kulturelle, transzendente und religiöse Dimension des Menschen und der Gesellschaft“ berücksichtigt.14 Johannes Paul II. würdigte den besonderen Beitrag internationaler Organisationen, insbesondere der Vereinten Nationen, die in der Erklärung der Menschenrechte die Gleichberechtigung und Freiheit der Völker betonte. (SRS 26) Zum 100. Jahrestag von ,Rerum novarum‘ schließlich verfasste Johannes Paul II. 1991 die Enzyklika ,Centesimus annus‘. In diesem Lehrschreiben bezeichnet der Papst eine marktwirtschaftliche Ordnung, die „die grundlegende und positive 12

Saberschinsky, S. 1097. Saberschinsky, S. 1099. 14 Saberschinsky, S. 1100. 13

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Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und die daraus folgende Verantwortung für die Produktionsmittel sowie die freie Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft“ (CA 42) anerkennt, als positiven Beitrag zur Entwicklung des Menschen. Eine rechtlich nicht geordnete, ungezügelte und wertfreie Marktwirtschaft wurde aber abgelehnt. Auch hier wurde die Nähe der Sozialverkündigung zur christlich orientierten Ordnungsökonomie der Freiburger Schule deutlich. Notwendig sei nämlich eine Wirtschaftsordnung, in der der freie Markt mit einer durch Regelsetzungen der staatlich-gesellschaftlichen Ordnung garantierten sozialen Gerechtigkeit verbunden ist (CA 48).15 Die jetzt vorliegende Sozialenzyklika ,Caritas in veritate‘ ist also nicht nur und nicht in erster Linie, wie man in den Tagen ihrer Unterzeichnung, in der in Italien der G8-Gipfel tagte, manchmal hören konnte, eine Reaktion des Lehramts auf die Weltwirtschafts- und Finanzkrise. Sie setzt die Tradition der katholischen Soziallehre in unserer Zeit fort. In ihr werden die Herausforderungen, die die fortschreitende Globalisierung für Kirche und Welt bedeutet, thematisiert. Als Entwicklungsenzyklika steht sie ganz besonders in der Tradition von ,Populorum progressio‘, die der Heilige Vater als das „Rerum novarum unserer Zeit“ (CIV 8) bezeichnet hat und in der Tradition der zweiten Entwicklungsenzyklika ,Sollictudo rei socialis‘.

Literatur Küppers, Arnd: Soziale Gerechtigkeit im Verständnis der Katholischen Soziallehre, in: Rauscher, Anton (Hg.): Handbuch der Katholischen Soziallehre, Berlin, 2008, S. 165 – 174. Nothelle-Wildfeuer, Ursula: Die Sozialprinzipien der Katholischen Soziallehre, in: Rauscher, Anton (Hg.): Handbuch der Katholischen Soziallehre, Berlin, 2008, S. 143 – 164. – Zur Einführung: Joseph Höffner (1906 – 1987), in: Goldschmidt, Nils / Wohlgemuth, Michael (Hg.): Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik, Tübingen, 2008, S. 525 – 531. Papst Johannes XXIII.: Die Sozialenzyklika Mater et Magistra. Über die jüngsten Entwicklungen des gesellschaftlichen Lebens und seine Gestaltung im Licht der christlichen Lehre, mit einem ausführlichen Kommentar und einer Einführung in die Soziallehre der Päpste von Leo XIII. bis zu Johannes XXIII, hrsg. von Eberhard Welty OP, 5. Aufl., Freiburg/Basel/Wien, 1964, S. 69 – 80. Roos, Lothar: Die Sozialenzykliken der Päpste, in: Rauscher, Anton (Hg.): Handbuch der Katholischen Soziallehre, Berlin, 2008, S. 125 – 142. Saberschinsky, Alexander: „Integrale Entwicklung“ und weltweite Gerechtigkeit, in: Rauscher, Anton (Hg.): Handbuch der Katholischen Soziallehre, Berlin, 2008, S. 1095 – 1104. Verdier, Jean Cardinal: Die Kirche und die soziale Frage. Mit dem Nachwort Lebendiger Katholizismus von Edgar Alexander, Zürich / New York, 1940. 15

Vgl. Roos, S. 134 – 136.

Historische Verortung der Enzyklika ,Caritas in Veritate‘

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Zschaler, Frank E. W.: Die Wirtschaft und ihre Einbettung in die Kultur, in: Kirche und Gesellschaft (Nr. 371), Köln, 2010.

Die Enzyklika ,Caritas in Veritate‘ im Kontext der kirchlichen Sozialverkündigung Von Alois Baumgartner Als Papst Johannes XXIII. aus Anlass des 70. Jahrestags des Erscheinens von ,Rerum novarum‘ die Enzyklika ,Mater et magistra‘ veröffentlichte, schrieb Eberhard Welty, einer der großen Sozialphilosophen und Sozialethiker des 20. Jahrhunderts, in der von ihm kommentierten Herder-Ausgabe des Rundschreibens: „Nun ist es Aufgabe der theologischen Wissenschaft und der kirchlichen Verkündigung, den Inhalt dieses neuen Rundschreibens genauer zu erforschen, weiter auszulegen, auf die heutigen Verhältnisse anzuwenden – eine Aufgabe, an der wir gewiss Jahre hindurch zu tun haben.“1 Als am 7. Juli des Jahres 2009 ,Caritas in Veritate‘ in Rom der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, waren Einordnung und Kritik dieser Enzyklika eine Sache weniger Stunden. Das ist der Tribut an die Schnelllebigkeit unserer medialen Welt, die von der Aktualität, der raschen Analyse und der ebenso raschen Kritik lebt. Einem Dokument wie dieser Sozialenzyklika wird das freilich nicht gerecht. Sie erschließt sich zwar relativ einfach in den praxisbezogenen Teilen des vierten und fünften Kapitels; sie liest sich flüssig im dritten Kapitel, in dem die weltweiten gesellschaftlichen Veränderungen seit 1967, dem Erscheinungsjahr des Rundschreibens ,Populorum progressio‘ referiert werden. Sie erweist sich aber als äußerst sperrig und anspruchsvoll in anderen Passagen, vor allem in der Einleitung, in der Papst Benedikt darzulegen versucht, weshalb der Begriff der Liebe im Zentrum der Soziallehre der Kirche stehen müsse.2 I. Zur Frage der Kontinuität der kirchlichen Sozialverkündigung Wie alle Sozialenzykliken ist auch ,Caritas in veritate‘ äußerst bemüht, die Kontinuität der kirchlichen Sozialverkündigung hervorzuheben. Das ist nicht nur eine 1

Welty, S. 9. Genau diese Passagen tragen deutlich die Handschrift des Papstes und bieten gleichzeitig eine gedankliche Fortführung seiner beiden ersten Enzykliken ,Deus caritas est‘ (2005) und ,Spe salvi‘ (2007). In vielen praxisbezogenen Details kommen hingegen ganz offensichtlich diverse Entwürfe zum Tragen, in denen sich die Erfahrungen und Anliegen der päpstlichen Kongregationen, Räte, Werke und die einzelner Berater widerspiegeln und die, wie die Kritik anmerkte, vielleicht weniger als die vorangegangenen Sozialenzykliken in eine einheitliche Komposition hineingebunden wurden. Vgl. Kruip, S. 388 ff. 2

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oberflächliche Tradition, gleichsam eine pflichtgemäße Verbeugung gegenüber den Vorgängern im Petrusamt. Es gibt keine Sozialenzyklika, die nicht in einem ersten Teil ausdrücklich auf das Depositum der nun fast 120-jährigen Geschichte gesamtkirchlicher Sozialverkündigung zurückgreifen würde. Dies kommt in den mehr als 150 Anmerkungen der neuen Enzyklika deutlich zum Ausdruck. Das ganze erste Kapitel ist gewissermaßen eine Recapitulatio der zentralen Aussagen der Enzyklika ,Populorum progressio‘ (1967). Papst Benedikt stellt seine Enzyklika ganz bewusst in die Tradition des Denkens von Paul VI. Ursprünglich war sogar intendiert, ,Caritas in veritate‘ mit der 40-Jahr-Feier des Erscheinens von ,Populorum progressio‘ zu verbinden – ein zu ehrgeiziges Unterfangen, wie sich im Nachhinein herausstellte, angesichts der Schwierigkeit der entwicklungsethischen Materie und schließlich auch torpediert durch die heraufziehende Finanz- und Wirtschaftskrise, die in dem Rundschreiben nicht ignoriert werden konnte. Der stetige Rückgriff auf das Rundschreiben Pauls VI., das es verdiene, als die „Rerum novarum unserer Zeit“ betrachtet zu werden3, ist nur das augenfälligste Moment in dem Bemühen um Kontinuität der doctrina socialis catholica. Andererseits gibt es aber auch keine Sozialenzyklika, die nicht neue Akzente gesetzt hätte, und zwar keineswegs nur in konkreten, anwendungsbezogenen Abschnitten, sondern durchaus mit einem grundsätzlichen Anspruch. Freilich muss man gleichzeitig einige Einschränkungen machen, wenn man versucht ist, die Geschichte der kirchlichen Soziallehre als ein sich ständig anreicherndes Kontinuum darzustellen, sozusagen als einen Baum, der Jahresringe anlegt, ohne seine Identität zu verlieren. Keineswegs alles, was in einer Enzyklika an Grundsätzlichem gesagt wurde, ist auch weiter tradiert worden. Das gesellschaftliche Ordnungsmodell von ,Quadragesimo anno‘ (1931), die sogenannte „berufsständische Ordnung“, spielt 30 Jahre danach keine Rolle mehr. Dieser Ansatz, der die industrielle Klassengesellschaft überwinden sollte, wurde zwar nach 1945 in sozialen Wochen und sozialethischen Traktaten noch hochgehalten und gegen Missverständnisse verteidigt. Aber die gesellschaftliche Entwicklung ging darüber hinweg, und die kirchliche Sozialverkündigung dachte nicht mehr an eine Rezeption dieser gesellschaftlichen Ordnungsidee. Der Gedanke der Enzyklika ,Sollicitudo rei socialis‘ von Johannes Paul II., eine wesentliche Ursache für die Unterentwicklung in der südlichen Hemisphäre sei im Antagonismus der Blöcke begründet, wird in dieser zugespitzten Weise nicht aufrecht zu erhalten sein. Das Jahr 1989 markiert weder einen Wendepunkt im Auseinanderdriften der „ersten“ und „dritten“ Welt noch einen neuen Ansatz in den entwicklungspolitischen Bemühungen. Unter dieser Rücksicht, dass es auch zwar nicht ausgesprochene, aber offensichtliche Diskontinuitäten gibt, darf man wohl darauf hinweisen, dass Benedikt XVI. die von seinem Vorgänger verwendeten Kategorien der „sozialen Sünde“4 oder der 3 4

CIV 8. Vgl. Johannes Paul II., Nr. 16.

,Caritas in Veritate‘ im Kontext kirchlicher Sozialverkündigung

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„Strukturen der Sünde“5 nicht aufnimmt. Und es ist auch keineswegs sicher, ob die Enzyklika ,Caritas in veritate‘, die in der Zuordnung sozialethischer Grundbegriffe neue Wege geht und darin eine sehr persönliche Handschrift des Theologen Benedikt XVI. erkennen lässt, auch von seinen Nachfolgern in allen Punkten rezipiert werden wird. In den Nummern 11 und 12 thematisiert die Enzyklika explizit die Frage der Kontinuität innerhalb der katholischen Sozialverkündigung. Dabei geht es dem Papst vor allem um die Rolle und die Bedeutung des II. Vatikanischen Konzils für die Fortentwicklung der katholischen Soziallehre. Er zeigt in der Würdigung des Konzilspapstes Paul VI., wie eng ,Populorum progressio‘ an das Vaticanum II anschließt. Zwei Momente hebt er hervor: erstens, dass die Kirche im Dienst der Welt stehe und dass dies für ihr gesamtes Wirken gelte – für Verkündigung und Sakramentenspendung genauso, wie für ihre augenfälligen karitativen Dienste und erzieherischen Bemühungen. Der Kirche komme als Ganzer eine öffentliche Rolle zu.6 Zweitens, dass es der Kirche um die Entfaltung des ganzen Menschen gehe, in all seinen personalen Dimensionen. Benedikt XVI. wendet sich unter Berufung auf Paul VI. und auch in Berufung auf seinen unmittelbaren Vorgänger gegen einen ökonomisch verengten Entwicklungsbegriff. Es geht um die Entwicklung des ganzen Menschen und eines jeden Menschen. Seit den Tagen Pauls VI. gälten diese Orientierungen des päpstlichen Lehramtes an den Aussagen des Konzils. Andererseits aber markiert das II. Vatikanische Konzil keinen Bruch in der Soziallehre der Kirche. Es gibt nach Papst Benedikt XVI. keine Berechtigung, von zwei Typen katholischer Soziallehre zu sprechen: einem vorkonziliaren und einem nachkonziliaren. Es gebe „eine einzige, kohärente und stets neue Lehre“.7 Natürlich wird man versuchen, vielleicht im Blick auf das in der Enzyklika wieder ins Spiel gebrachte Naturrecht, auch in der kirchlichen Sozialverkündigung Tendenzen dafür zu entdecken, die auf eine Konzilsvergessenheit hindeuten könnten. Aber innerhalb der wissenschaftlichen Disziplin der christlichen Sozialethik hat kaum die Überzeugung Platz gegriffen, dass das Konzil für das sozialethische Denken insgesamt eine Zäsur darstelle. Für das politisch-ethische Denken kann man allerdings mit Recht von einer Zäsur sprechen, die das II. Vaticanum markiert hat, und zwar durch das Dekret ,Humanae dignitatis‘ über die Religionsfreiheit. Hier wird erstmals in einem gesamtkirchlichen Dokument die Religionsfreiheit als Persönlichkeitsrecht gesehen und die alte Lehre, dass nur die Wahrheit ein Recht auf Existenz habe, nicht jedoch der Irrtum, fallen gelassen. Erstmals wird hier auch implizit die Anerkennung des säkularen Verfassungsstaates vollzogen, der als Garant der Religionsfreiheit sich selbst von der religiösen Wahrheitsfrage zurückzieht und das Ringen um Wahrheit und letzte Überzeugungen dem Bereich der Gesellschaft zuweist. 5

Vgl. die Sozialenzyklika Johannes Pauls II. ,Sollicitudo rei socialis‘, 36 f., passim. Vgl. CIV 11 mit ,Gaudium et spes‘ 42. 7 CIV 12. 6

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Gleichwohl, im Blick auf die gesamte kirchliche Sozialverkündigung kann man dem Satz der Enzyklika beipflichten: „Es ist richtig, die Besonderheiten der einen oder anderen Enzyklika, der Lehre des einen oder anderen Papstes hervorzuheben, man darf dabei aber niemals die Kohärenz des gesamten Corpus der Lehre aus den Augen verlieren.“8 Unter Kohärenz versteht der Papst nicht eine Soziallehre als in sich geschlossenes System, das auf jede gesellschaftliche Frage eine klare und eindeutige Antwort wisse und die Eigengesetzlichkeiten der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche ignorieren könne. Sie hat vielmehr – hier knüpft Benedikt unmittelbar an die Pastoralkonstitution des Konzils an – keine konkreten technischen Lösungen anzubieten. Sie beanspruche dies nicht. Die Sendung der Kirche sei es, an einer Gesellschaft mitzuwirken, die dem Menschen und seiner Würde und Berufung gerecht werde.9 Diese Selbstbeschränkung, die aber zugleich die kirchliche Sendung in ihrer ganzen Weite garantiert, sollten diejenigen zur Kenntnis nehmen, die in der Enzyklika bis in das Einzelne gehende Folgerungen vermisst haben, die aus der Finanz- und Wirtschaftskrise zu ziehen seien. Vielleicht hätte hier die Enzyklika noch entschiedener in Erinnerung rufen können, dass es im Auffinden konkreter Wege aus der Krise aus demselben christlichen Geist und auch unter Zugrundelegung derselben theologisch-anthropologischen Prämissen und derselben sozialethischen Prinzipien unter Christen eine legitime Pluralität geben kann. Es hätte noch deutlicher gesagt werden können, dass es dem kirchlichen Amt verwehrt ist, durch die Formulierung eines einzigen konkreten Weges die Entscheidungsfreiheit des christlichen Wirtschaftsführers oder christlichen Politikers zu schmälern.10 II. Die Zivilgesellschaft als Ort des Unentgeltlichen Ausgehend von der Liebe, welche die Signatur des Ungeschuldeten trägt, wendet sich die Enzyklika der Zivilgesellschaft zu. Es gibt kein kirchliches Sozialdokument, das in vergleichbarer Weise diesen Bereich der Gesellschaft hervorgehoben hätte. ,Caritas in veritate‘ lenkt, wie keine Enzyklika vorher, den Blick auf den ehrenamtlichen Einsatz und das zivilgesellschaftliche Engagement, also jenen Bereich gesellschaftlicher Wirklichkeit, der weder den Äquivalenzerfordernissen des Marktes unterworfen ist, noch allein auf die Durchsetzungskraft des Rechts vertraut. Zivilgesellschaft erscheint als der Ort, in dem Menschen sich ungezwungen und unentgeltlich engagieren und organisieren – im Bezug auf den Staat als Nicht-Regierungsorganisationen, im Blick auf die Wirtschaft als Non-Profit-Unternehmen, als gemeinnützige Unternehmensverbände usf. Gerade in der Zeit der Globalisierung komme dem Geist der Unentgeltlichkeit größte Bedeutung zu. „In der Zeit der Globalisierung kann die Wirtschaftstätigkeit nicht auf die Unentgeltlichkeit verzichten, die die Solidarität und das Verantwortungsbewusstsein für die Gerechtigkeit und das Gemein8

CIV 12. Vgl. CIV 9 mit ,Gaudium et spes‘ 36. 10 Vgl. ,Gaudium et spes‘ 43.

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wohl in seinen verschiedenen Subjekten und Akteuren verbreitet und nährt. […] Solidarität bedeutet vor allem, dass sich alle für alle verantwortlich fühlen, und daher kann sie nicht allein dem Staat übertragen werden.“11 Für die Wirtschaft erhofft sich der Papst, dass die gemeinnützigen, nicht-profitorientierten Wirtschaftstätigkeiten auf das gesamte Unternehmertum ausstrahlen und dass dadurch die Tendenzen, den Gewinn als Selbstzweck zu betrachten, zurückgedrängt werden. „Liebe in der Wahrheit bedeutet in diesem Fall, dass jenen wirtschaftlichen Initiativen Gestalt und Struktur verliehen wird, die den Gewinn zwar nicht ausschließen, aber über die Logik des Äquivalenzprinzips und des Gewinns als Selbstzweck hinausgehen wollen.“12 Die Enzyklika ist nicht marktfeindlich, genauso wie sie weit davon entfernt ist, die Ordnungsfunktion des Staates gering zu achten. Aber in der Weise, wie sie die Rolle der Zivilgesellschaft beschreibt, liegt schon eine Relativierung der bisherigen bipolaren Betrachtungsweise der Ökonomie: hier die Effizienz des Marktes – dort das ergänzende Regulativ des Staates. Die christliche Sozialethik, die sich als Institutionenethik kaum aus dieser Zweipoligkeit heraushalten konnte, wird und muss diese Enzyklika als Herausforderung verstehen. Man wird ihr vorwerfen, und hat es schon getan, sie sei institutionsvergessen. Man wird ihr übel nehmen, – der Ausgangspunkt, das Prinzip Liebe, lässt anderes kaum zu –, dass in ihr die individualethischen und sozialethischen Argumentationen nicht scharf konturiert voneinander geschieden sind. Die Prinzipienlehre der christlichen Sozialethik schließlich, die auch außerhalb der Kirche rezipiert und in den gesellschaftlichen Diskursen als deren Markenzeichen wahrgenommen wurde, wird die Prinzipien der Solidarität, der Subsidiarität und des Gemeinwohls weiter zuschärfen müssen. Man wird darüber nachzudenken haben, wo und inwieweit sie in die Denkstruktur dieser Enzyklika einzufügen sind. Denn diese Prinzipien sind sicherlich mehr als situativ zuordenbare und entsprechend einsetzbare Applikationen des Prinzips der Liebe. III. Liebe als das Prinzip der katholischen Soziallehre Reflektiert man die Enzyklika im Kontext der bisherigen kirchlichen Sozialverkündigung, dann muss man sich insbesondere dem zuwenden, was viele, die mit der katholischen Soziallehre vertrauter sind oder sich beruflich mit ihr beschäftigen, aufhorchen ließ beziehungsweise irritiert hat: die Prinzipienlehre, die in dieser Enzyklika angelegt ist. Schon heute kann man sagen, dass wir mit diesem Ansatz – um Eberhard Weltys Diktum zu wiederholen – noch Jahre hindurch zu tun haben werden. Verlässt hier der Papst nicht den Zusammenhang der bisherigen Prinzipienlehre und das System der aufeinander verweisenden sozialethischen Grundsätze? Im Mittelpunkt des Rundschreibens stehen die Reflexionen über die Liebe. „Die Liebe ist der Hauptweg der Soziallehre der Kirche“, heißt es bereits zu Beginn der 11 12

CIV 38. CIV 38.

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Nummer 2 der Enzyklika. Alles, was die Soziallehre an Verantwortung und Verpflichtung gegenüber Gott und den Menschen vorlege und lehre, gehe aus der Liebe hervor. Sie sei die Zusammenfassung des ganzen Gesetzes. Die Liebe erscheint als „das Prinzip nicht nur der Mikrobeziehungen – in Freundschaft, Familie und kleinen Gruppen –, sondern auch der Makrobeziehungen – in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen“ Kontexten.13 Freilich müsse die Liebe, um die soziale Strahlkraft zu gewinnen, von Sinnentleerungen und Entstellungen befreit werden. Vor allem müsse sie dazu aus den Verengungen einer emotionsbezogenen Sicht gelöst werden. Durch das Licht der Vernunft und des Offenbarungsglaubens, also durch ihre Rückbindung auf die Wahrheit, werde das, was die Liebe ausmacht, entdeckt: die Dynamik des Empfangens und Gebens, der Geschenkcharakter in Annahme und Hingabe, aber auch ihre gemeinschaftsbildende Kraft. Ohne diese Verbindung mit der aus Vernunft und Offenbarungsglauben fließenden Rationalität bleibt die Liebe unfruchtbar, verkommt zur folgenlosen Sentimentalität und findet so ihren Platz bestenfalls in Nahbeziehungen des Privatbereichs. Aus den Planungen und Prozessen zum Aufbau einer ganzheitlichen Entwicklung des Menschen und einer universellen Entwicklung sei sie ausgeschlossen.14 Mit diesen zum Teil äußerst abstrakt spekulativen Ausführungen zur Liebe, zu der sich die Wahrheit gesellen müsse, konterkariert Papst Benedikt genau den heute gängigen Denkansatz. Er enthüllt gleichsam die verbreitete Vorstellung, wonach die Liebe ihren Platz in der privaten Lebenswelt erlaubter Emotionalität habe. Wir ordnen die Beschäftigung mit ihr der Moraltheologie und nicht der Sozialethik zu. Die Nächstenliebe des barmherzigen Samaritans wissen wir besser im Begriff der Solidarität aufgehoben. Dabei verschließt sich die Kategorie der Solidarität keineswegs einer christlichen Deutung. Gleichzeitig dient sie in der postchristlichen Gesellschaft als säkularisiertes Substitut für Nächstenliebe. Das katholische Sozialdenken, jedenfalls in unseren Breitengraden, hat den Begriff der Liebe, weil den individualethischen Diskursen zugeordnet, ad acta gelegt. Wir begnügen uns mit den in der solidaristisch jesuitischen Tradition herausgearbeiteten Prinzipien der Personalität, der Solidarität und der Subsidiarität, wobei dem ersteren die grundlegende Bedeutung, den beiden letzteren der Charakter der Explikation des ersteren zukommt. Neigt man der dominikanischen Tradition der Sozialethik (Rudolf Kaibach, Eberhard Welty, Artur Fridolin Utz) zu, so tritt das Prinzip des Gemeinwohls an die zentrale Stelle. In beiden Traditionen erscheint aber die Liebe nicht als Ausgangspunkt des sozialethischen Diskurses. Die Enzyklika ,Caritas in veritate‘ will gerade gegen diese Eliminierung der Liebe aus dem sozialethischen Denken ankämpfen. Der Papst weiß, dass sich Liebe nur bruchstückhaft institutionalisieren lässt und dass sie nicht rechtsförmig werden kann. Und trotzdem stellt er sie in das Zentrum einer Sozial-Enzyklika – in der festen Überzeugung, dass die Liebe auch auf den gesellschaftlichen Makroebenen Gestal13 14

CIV 2 Vgl. CIV 3.

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tungskraft entfaltet. Die Enzyklika beugt sich nicht unseren sozialethischen Denkmustern. Sie rückt die Liebe ins Zentrum und ordnet ihr die Kategorien der Gerechtigkeit, des Gemeinwohls, der Solidarität und Subsidiarität zu. „Caritas in veritate ist das Prinzip, um das die Soziallehre der Kirche kreist. Ein Prinzip, das in Orientierungsmaßstäben für das moralische Handeln wirksame Gestalt annimmt. Besonders zwei von ihnen möchte ich erwähnen, die speziell beim Einsatz für die Entwicklung in einer Gesellschaft auf dem Weg zur Globalisierung erforderlich sind: die Gerechtigkeit und das Gemeinwohl.“15 Im Folgenden sei von der Idee des Gemeinwohls abgesehen. Die weiteren Überlegungen sollen vielmehr auf das in der Enzyklika immer wieder auftauchende Zuordnungsverhältnis von Liebe und Gerechtigkeit fokussiert werden. Dieses Verhältnis wird bereits in Nummer 6 der Enzyklika komprimiert dargestellt. Gibt es Traditionsstränge, auf die Papst Benedikt hier zurückgreifen kann? Diese Frage ist eindeutig zu bejahen. Bei diesem Zusammendenken von Liebe und Gerechtigkeit kann Papst Benedikt alte scholastische Traditionslinien aufnehmen, um sie gleichzeitig im Blick auf die moderne globalisierte Welt zu aktualisieren. Es lohnt sich, die Ausführungen der Enzyklika und die Passagen aus dem thomistischen Traktat ,De iure et iustitia‘ der Summa theologiae zu parallelisieren. Der erste Schritt bezieht sich auf die Gerechtigkeit. In ihr gebe ich dem anderen nichts von meinem Eigenen. Ich gebe ihm vielmehr das Seine, das heißt dasjenige, was ihm gehört, was wir ihm zu geben schulden und worauf er Anspruch hat. Die Gerechtigkeit, so die thomistische Definition im Anschluss an die nikomachische Ethik des Aristoteles, sei ein Habitus, kraft dessen man jedem sein Recht mit festem und unwandelbarem Willen zuteile.16 Der zweite Schritt wendet sich der Liebe zu, konkretisiert in den Tugenden der Hochherzigkeit (magnanimitas), der Barmherzigkeit (miserecordia), der Freigebigkeit (liberalitas). In ihnen geben wir dem anderen vom Eigenen. Diese Tugenden sind Ausdruck der freien Zuwendung und Liebe. In ihnen kommt die Logik des Schenkens zum Tragen. Die Akte der Liebe sind nicht einforderbar. Sie sind nicht verrechenbar, sondern prinzipiell unentgeltlich. In der Liebe tritt das Ungeschuldete hervor, die freie Gabe. Die Freigebigkeit bedeutet von daher bei Thomas, wie in der Enzyklika, nicht nur, dass jemand einen tugendhaften Blick für die Not der anderen hat, sondern wird Ausdruck für die Logik des Geschenkes, für die „Logik des Gebens und Vergebens“17 im Gegenüber zur Logik des Anspruchs und des Geschuldeten. 15 CIV 6. Doch auch die Prinzipien der Solidarität und der Subsidiarität finden hier ihre Zuordnung, vgl. CIV 57 f. 16 Sth II, II, 58, 1: „… habitus secundum quem aliquis constanti et perpetua voluntate ius suum unicuique tribuit.“ Das Suum cuique trägt also zunächst nicht den Akzent, dass nicht jedem das Gleiche zugeordnet werden solle, sondern eben das Seine; vielmehr liegt der Akzent darauf, dass in der Gerechtigkeit das dem anderen Gehörige zugeteilt werden soll und dass der Gerechte im Akt der Gerechtigkeit noch nichts von sich selbst bzw. vom Eigenen gibt. 17 CIV 6.

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Ein dritter Schritt, der bei Thomas für die Differenz von Gerechtigkeit und Liebe steht, findet sich in der Enzyklika nicht: Allein die Gerechtigkeit kann, weil sie als einzige unter den Tugenden den Begriff des Geschuldeten in sich schließt, in rechtliche Normen überführt und durch Gesetz festgelegt werden. Oder anders gewendet: Gesetze können keine Vorschriften formulieren außer solchen, die sich auf Akte der Gerechtigkeit beziehen. Damit trifft Thomas von Aquin eine grundsätzliche Aussage über das Verhältnis von Moral (Liebe) und Recht. Moral kann nur insoweit rechtsförmig und mit staatlicher Zwangsgewalt durchgesetzt werden, als sie sich in Gerechtigkeitssätzen ausdrücken lässt.18 Vierter Schritt: Als Freigebigkeit übersteigt die Liebe die Gerechtigkeit. Sie überführt gleichsam das moralische Tun in eine neue sittliche Qualität.19 Fünfter Schritt: Liebe ist ohne Gerechtigkeit nicht denkbar. Die Enzyklika formuliert: „Die Gerechtigkeit ist untrennbar mit der Liebe verbunden, sie ist ein ihr innewohnendes Element. Die Gerechtigkeit ist der erste Weg der Liebe oder – wie Paul VI. sagte – ihr ,Mindestmaß‘.“20 Thomas von Aquin formuliert es noch klarer: Ohne Gerechtigkeit verlöre die Großherzigkeit den Charakter einer Tugend.21 Die Gerechtigkeit erscheint bei Thomas gewissermaßen als Basistugend. Die anderen Tugenden bedürfen der Grundlegung durch Gerechtigkeit. Nur in Verbindung mit ihr und aufbauend auf sie erhalten sie ihren ethischen Rang. Nicht anders heißt es in der Enzyklika: „Ich kann dem anderen nicht von dem, was mein ist, ,schenken‘, ohne ihm an erster Stelle das gegeben zu haben, was ihm rechtmäßig zusteht. Wer den anderen mit Nächstenliebe begegnet, ist vor allem gerecht zu ihnen.“22 In einer Gegenüberstellung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit folgt Thomas von Aquin einer ähnlichen Argumentation. Die Stelle findet sich im Kommentar zum Matthäus-Evangelium. Hier versucht Thomas zwei Seligpreisungen („Selig die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit“, „Selig die Barmherzigen“) in ein Beziehungsverhältnis zu bringen, wobei hier nun auch die Gerechtigkeit deutlich als ergänzungsbedürftig erscheint. „Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit; Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist die Mutter der Auflösung.“23

18 „Sola iustitia inter alias virtutes importat rationem debiti; et ideo moralia intantum sunt lege determinabilia, inquantum pertinent ad iustitiam.“ (Sth I, II, 99, 5 ad 1); vgl. im Anschluss Sth I, II, 100, 2: „Lex humana non proponit praecepta, nisi de actibus iustitiae; et si praecipiat actus aliarum virtutum, hoc non est nisi inquantum assumunt rationem iustitiae.“ 19 Vgl. Sth II, II, 58, 12: „… magnanimitas, in quantum supervenit iustitiae, auget eius bonitatem“; vgl. CIV 6: „Die Liebe geht über die Gerechtigkeit hinaus, denn lieben ist schenken, dem anderen von dem geben, was ,mein‘ ist.“ 20 CIV 6. 21 Sth II, II, 58, 12: „Quae (magnanimitas) … sine iustitia nec virtutis rationem haberet.“ 22 CIV 6. 23 Super Matthaeum V, 6 (Marietti Ausg. Nr. 429): „Quia iustitia sine misericordia crudelitas est, misericordia sine iustitia mater est dissolutionis. Et ideo oportet quod utrumque coniugatur…“

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Thomas will sagen: Eine nur auf wechselseitige Ansprüche und Gerechtigkeitsforderungen aufbauende Gesellschaft ginge an den Bedürfnissen der Menschen vorbei. Die Menschen verlangen nach einem Mehr, das jenseits ihrer Ansprüche liegt, nach einem Mehr, das nicht verrechenbar ist. Sie verlangen im weitesten Sinn nach Liebe und hochherziger Zuwendung. Aber umgekehrt, so die Aussage des Matthäuskommentars, löst sich ohne Gerechtigkeit jedes geordnete Zusammenleben von Menschen auf. Die Enzyklika formuliert in eine ganz ähnliche Richtung: „Die Stadt des Menschen“, das heißt die Gesellschaft, „wird nicht nur durch Beziehungen auf der Grundlage von Rechten und Pflichten gefördert, sondern noch mehr und zuerst durch Verbindungen, die durch Unentgeltlichkeit, Barmherzigkeit und Gemeinsamkeit gekennzeichnet sind.“24 Und doch geht die Enzyklika in der integrativen Verhältnisbestimmung von Liebe und Gerechtigkeit einen Schritt weiter als Thomas von Aquin. Die Argumentationen liegen nahe beieinander. Aber Thomas würde die Tugend der Gerechtigkeit nicht in der Weise, wie es die Enzyklika vorgibt, in den Liebesbegriff integrieren. Sicher, auch die Enzyklika differenziert zwischen der Logik des Anspruchs (Gerechtigkeit) und der Logik des Geschenkes (Liebe). In der eher dogmatischen Sicht der Enzyklika erscheint die Liebe als das Umfassende des sittlich Geforderten. In der Liebe ist das ganze Sittengesetz aufgehoben. Bei Thomas steht neben der wechselseitigen Ergänzungsbedürftigkeit von Liebe und Gerechtigkeit doch noch die Differenz der beiden Grundgestalten des Sittlichen im Vordergrund. Für Thomas von Aquin spielt es auch eine Rolle, dass der Gesetzgeber sich in seinen Ansprüchen gegenüber dem Bürger zurückhält. Für ihn spielt die Zurückhaltung des Gesetzgebers, die sich aus dem Unterschied von Moral und Recht ergibt, eine große Rolle. Auch heute sind die ideologische Überforderung des Rechts und die falsche Einschätzung der Möglichkeiten der staatlichen Rechtsgemeinschaft eine nicht gebannte Gefahr. Bevor in einem abschließenden Punkt die Linien zu verfolgen sind, die ausgehend von dem zentralen sozialen Gestaltungsprinzip, eben der Liebe, sich durch die gesamte Enzyklika ziehen, darf doch auch auf eine gewisse Diskontinuität oder zumindest auf ein Problem in der Zuordnung der Sozialprinzipien hingewiesen werden. Dies betrifft nicht das sogenannte Personprinzip der christlichen Soziallehre. Die Aussage, dass der Mensch Ursprung, Subjekt und Ziel aller sozialen Institutionen sei und sein müsse, ist in dieses Konzept ohne weiteres integrierbar und in der Enzyklika auch faktisch integriert.25 Man kann sogar sagen, die Wahrheit über den Menschen, dessen Entfaltung, bzw. Entwicklung es institutionell zu sichern gilt, erfährt in dieser Enzyklika eine bedeutsame Vertiefung. Der Mensch verdankt sich nicht sich selber; er genügt sich nicht selber (CIV 34). Er ist nicht der Urheber seiner Selbst, seines Lebens und der Gesellschaft. Sein Leben steht unter der Signatur des Geschenkes, so dass die Enzyklika sagen kann, in der Liebe drücke sich in authentischer Weise das Menschsein des Menschen aus (CIV 3). 24 25

CIV 6. Vgl. etwa CIV 47; 57.

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Das Problem dieses Ansatzes liegt vielmehr darin, dass das Prinzip der Solidarität sein Profil oder seine eigenständige Relevanz verliert. Es wird in diesem dichotomischen Kontext zu einem anderen Ausdruck für Liebe, vielleicht dann bevorzugt eingesetzt, wenn es um die gemeinschaftsstiftende Kraft der Liebe geht, wenn die Liebe als integrative Kraft erscheint, um Ausgegrenzte und Marginalisierte wieder in die Gemeinschaft einzugliedern. Verloren geht vor allem eine Komponente im vielschichtigen Solidaritätsbegriff, der den Solidaristen von Heinrich Pesch über Gustav Gundlach bis Oswald von Nell-Breuning unaufgebbar schien, dass nämlich die Solidarität auch als rechtsethisches Prinzip zu verstehen sei, dass das Prinzip einerseits in bestehenden Rechtsordnungen identifizierbar sei, dass Solidarität andererseits als heuristisches Prinzip Gerechtigkeitslücken mit dem Ziel namhaft mache, Solidarisierungen überflüssig zu machen und Solidaritätsforderungen durch Rechtssatzungen dauerhaft zu erfüllen.26 Indem die Sozialenzyklika den Begriff der Liebe für die Sozialethik wieder entdeckt, trifft sie sich mit sozialphilosophischen und soziologischen Ansätzen der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte. Sie trifft sich mit Überlegungen über die „Stufen der Ethik“, die Walter L. Bühl in seinem großen Opus vorgelegt hat.27 Sie korrespondiert auch mit dem Forschungsansatz von Axel Honneth, der von drei Formen der sozialen Anerkennung spricht: Liebe, Gerechtigkeit, Solidarität.28 Die künftige Sozialethik tritt, indem sie die Enzyklika Caritas in veritate rezipiert und sich mit ihr auseinandersetzt, in einen möglicherweise sehr fruchtbaren Diskurs mit den zeitgenössischen Sozialwissenschaften ein.

Literatur Bühl, Walter Ludwig: Verantwortung für soziale Systeme. Grundzüge einer globalen Gesellschaftsethik, Stuttgart, 1998. Gundlach, Gustav: Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, I. Band, Köln, 1964. Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/Main, 1994. – Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt/Main, 2000. Honneth, Axel/ Rössler, Beate (Hg.): Von Person zu Person. Zur Moralität persönlicher Beziehungen, Frankfurt/Main 2008. Kruip, Gerhard: Entwicklung und Wahrheit. Die Sozialenzyklika Benedikts XVI. ermöglicht viele Lesarten, in: Herder-Korrespondenz, Jg. 63, Heft 8, 2009, S. 388 – 392. 26 Dass sich auch im Solidarismus der Jesuiten-Schule Ansätze finden, um das solidaristische Denken in den Gesamtduktus der Enzyklika ,Caritas in veritate‘ einzuordnen, sei auf knappe Äußerungen Gustav Gundlachs zum Verhältnis von Liebe und Recht verwiesen. Vgl. Gundlach, S. 144 f. 27 Bühl. 28 Honneth (1994), v. a. S. 148 – 211; vgl. auch Honneth (2000), v. a. S. 193 – 236; vgl. neuerdings auch Honneth / Rössler.

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Papst Johannes Paul II.: Apostolisches Schreiben „Reconciliatio et paenitentia“ vom 2. Dezember 1984, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 60. Welty, Eberhard: Kommentar und Einführung, in: Papst Johannes XXIII.: Mater et magistra. Über die jüngsten Entwicklungen des gesellschaftlichen Lebens und seine Gestaltung im Licht der christlichen Lehre, (= Herder-Bücherei Bd. 110), Freiburg i.Br., 1962.

Theologische Grundlagen der Enzyklika: ,Caritas in Veritate‘ Plädoyer für einen christlichen Humanismus Von Florian Bruckmann Es ist nicht leicht, die theologischen Grundlagen einer Enzyklika zu bestimmen. Um das mir gestellte Thema trotzdem zu bearbeiten, werde ich im Folgenden auf zwei Punkte näher eingehen, wobei der zweite Punkt in vier Unterpunkten abgehandelt wird. Zuerst gilt es meiner Meinung nach zu bestimmen, was überhaupt eine Enzyklika ist, denn ein Text kann nur in dem Rahmen wahrgenommen und bewertet werden, der ihm gegeben ist bzw. den er sich selber gewählt hat. Erst nach dieser eher formalen Hinwendung will ich mich mit einigen ausgesuchten inhaltlichen Äußerungen der Enzyklika beschäftigen und werde dort besonders auf das Menschenbild und das Verständnis der Liebe bzw. des Verhältnisses von Liebe und Wahrheit zu sprechen kommen. I. Lehrentwicklung in dynamischer Treue Nach allgemeinem Verständnis ist eine Enzyklika ein Lehrschreiben, mit dem der Bischof von Rom seine ordentliche Lehrautorität wahrnimmt. Interessanterweise taucht das Stichwort ,Enzyklika‘ weder im Katechismus der Katholischen Kirche noch im CIC, dem Rechtsbuch der Katholischen Kirche, auf. Eine kleine Kuriosität ist es vielleicht, dass die erste Enzyklika, die von Papst Benedikt XIV. am 1. November 1745 erlassen wurde, sich mit Wucher und Zins beschäftigt hat und diese verbietet. Vieles, was die Weltwirtschaft im Moment bewegt, wäre uns wohl erspart geblieben, wenn dieses Verbot auf aufnahmebereitere Ohren gestoßen wäre. Enzykliken werden also seit der Mitte des 18. Jahrhunderts von Päpsten geschrieben bzw. „gegeben“, wobei zu beobachten ist, dass seit dem Verlust staatlicher Gewalt und der Konzentration auf die Glaubens- und Sittenlehre im Hinblick auf die Definition päpstlicher Unfehlbarkeit ihre Häufigkeit nach 1870 erheblich zugenommen hat. Mit der Ausnahme von Papst Johannes Paul I., der wegen seiner sehr kurzen, nur 33 Tage währenden Amtszeit keine Enzyklika verfasste, haben alle Päpste seit dem Jahr 1800 Enzykliken verfasst, dies aber mit unterschiedlicher Intensität: So hat es z. B. Pius IX. in seinen 31 Pontifikatsjahren (1846 – 1878) auf 43 Enzykliken ,gebracht‘, Leo XIII. in seinen 25 Pontifikatsjahren (1878 – 1903) auf stattliche 87, wohingegen Johannes Paul II. in seinen 26 Pontifikatsjahren (1978 – 2005) lediglich 14 Enzykliken geschrieben hat. Mit ,Caritas in Veritate‘ (CIV) hat Papst Bene-

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dikt XVI. bekanntlich seine dritte Enzyklika vorgelegt. Während die Enzykliken in früherer Zeit ausschließlich an den Episkopat gerichtet waren, sind seit der Friedensenzyklika ,Pacem in terris‘, die Johannes XXIII. am 11. 4. 1963 erlassen hat, viele dieser Schreiben auch „an die christgläubigen Laien und alle Menschen guten Willens“ gerichtet. ,Caritas in Veritate‘ beschäftigt sich mit Problemen, die innerhalb des Fächerkanons der Theologie in der Soziallehre angesiedelt sind. Diese Enzyklika ist also eine Sozialenzyklika. Wenn man bedenkt, dass von den 14 Enzykliken Papst Johannes Pauls II. gleich drei Sozialenzykliken sind (,Laborem exercens‘ 14. 9. 1981; ,Sollicitudo rei socialis‘ 30. 12. 1987; ,Centesimus annus‘ 1. 5. 1991), dann wird deutlich, wie wichtig ihm die Themen der Soziallehre gewesen sind.1 Neben den sieben marianischen Enzykliken, den zehn Missionsenzykliken und den 15 Rosenkranzenzykliken stellen die nunmehr zwölf Sozialenzykliken nahezu eine eigene Untergattung mit eigener Geschichte innerhalb der Enzykliken dar. Ihren Anfang macht 1891 die Enzyklika ,Rerum novarum‘, auf die sich vierzig Jahre später Pius XI. 1931 bezieht, als er Stellung zur damaligen Wirtschaftskrise nimmt. Wichtigster Vorläufer für ,Caritas in veritate‘ ist die Enzyklika ,Populorum progressio‘, die Papst Paul VI. 1967 vorgelegt hat und sich hier im Hinblick auf die Entwicklung der Völker zur Ordnung der sozialen Verhältnisse äußerte. Dieser Enzyklika ist in der neuesten Enzyklika ein ganzes Kapitel gewidmet (Nr. 10 – 20), ohne dass Papst Benedikt XVI. die Enzyklika ,Sollicitudo rei socialis‘ seines Vorgängers Johannes Paul II. vergisst, die sich 20 Jahre nach ,Populorum progressio‘ auf diese bezieht und sie vor allem um die Beschreibung und Verwerfung des Nord-Süd-Konfliktes erweitert. In der Nr. 8 seiner Sozialenzyklika macht Papst Benedikt XVI. darauf aufmerksam, dass der ausdrückliche Bezug einer Enzyklika auf eine andere ein seltener Fall ist und dies für die Enzyklika ,Populorum progressio‘ mit seiner Enzyklika nun schon zum zweiten Mal passiert. Dies drückt seiner Meinung nach die Wichtigkeit dessen aus, was damals dargelegt wurde, macht aber auch deutlich, dass sich die Zeiten ändern, so dass die Kirche „in einem Prozess der Aktualisierung“ Neues bedenken muss. Einerseits belegt also die Tatsache, dass das päpstliche Lehramt neue Enzykliken zu Themen verfasst, zu denen es schon einmal Stellung bezogen hatte, die Dringlichkeit der traktierten Fragestellung, aber auch die Tatsache, dass die Welt sich ändert und deswegen die Lehre der katholischen Kirche einer ständigen Fortentwicklung bedarf (CIV 11). Andererseits will die Kirche aber keineswegs alle 20 Jahre etwas Neues sagen, weswegen Benedikt die Kontinuität zwischen ,Populorum progressio‘ und dem Zweiten Vatikanischen Konzil betont (CIV 12) und sich auch selber in diese Tradition stellt. Gegen alle vermeintlichen Vorwürfe tagespolitischer Flüchtigkeit betont Benedikt, dass es auch im Hinblick auf die Soziallehre der Kirche nur „eine einzige kohärente und zugleich stets neue Lehre“ (CIV 12) gebe und benennt kurz darauf die im Hinblick auf die Interpretation kirchlicher Lehre anzuwendende Methode: „Kohärenz 1 Weil Joseph Kardinal Ratzinger erst seit dem 25. 11. 1981 Präfekt der Glaubenskongregation war, hat er nur zwei der drei Sozialenzykliken von Papst Johannes Paul II. in ihrem Entstehungsprozess begleitet.

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bedeutet nicht ein Einschließen in ein System, sondern vielmehr dynamische Treue zu einem empfangenen Licht.“ (CIV 12) Indem Benedikt die Enzyklika ,Populorum progressio‘ in die gesamte Lehrtätigkeit Pauls VI. einordnet, macht er deutlich, inwiefern die Kirche dazu berechtigt und berufen ist, sich überhaupt zu sozialen Fragestellungen zu äußern. Dies hängt nach der Meinung des Papstes damit zusammen, dass (1.) Sozialethik mit der Ethik des Lebens in Verbindung steht (vgl. ,Humanae vitae‘) und (2.) „Werke der Gerechtigkeit, des Friedens und der Entwicklung … zur Evangelisierung“ (CIV 15) gehören. Was kann nach dieser ersten, eher formalen Annäherung an die Enzyklika ,Caritas in Veritate‘ festgehalten werden? Es muss meiner Meinung nach (1.) darauf hingewiesen werden, dass Enzykliken ein Werkzeug der ordentlichen Ausübung des päpstlichen Lehramtes sind, denen der Christ nicht im Glauben zustimmen muss, die er aber in religiösem Verstandes- und Willensgehorsam bedenken soll. (2.) darf nicht vergessen werden, dass es eine aktive Fortentwicklung päpstlicher Lehre gibt, die sich daraus ergibt, dass sich die Umstände verändern. II. Christlicher Humanismus Ich will meinen zweiten Punkt, in dem ich mich in inhaltlicher Hinsicht mit den theologischen Grundlagen der Enzyklika beschäftige, mit zwei kleinen Beobachtungen beginnen. Die erste Beobachtung betrifft das Wort ,Gott‘, die zweite die in der Enzyklika zitierten Texte. 1. Das Wort ,Gott‘ Zuerst einmal ist es meiner Meinung nach auffällig, dass das Wort ,Gott‘ in einigen Teilen der Enzyklika nicht vorkommt. Am häufigsten findet es sich in der Einleitung und an einigen Stellen, in denen auf ,Populorum progressio‘ Bezug genommen wird. Im zweiten Kapitel (CIV 21 – 33) taucht es nur in einem einzigen Abschnitt (CIV 29) und ganz zum Schluss wieder auf. Im dritten Kapitel (CIV 34 – 42) findet es sich lediglich im Eingangsabschnitt (CIV 34). Im vierten Kapitel (CIV 43 – 52) taucht es wieder etwas häufiger auf, um in der zweiten Hälfte des fünften Kapitels (CIV 53 – 67) wieder ganz zu verschwinden (CIV 58 – 67), bevor es zum Schluss hin wieder in Gebrauch kommt.2 Natürlich garantiert der Gebrauch des Wortes ,Gott‘ nicht, dass es in einen theologischen Zusammenhang eingebettet ist und Theologie kann auch in Teilen ohne das Wort ,Gott‘ getrieben werden. Trotzdem scheint es mir interessant zu sein, dass das Wort ,Gott‘ in den Analysen der Enzyklika genau dort fehlt, wo im zweiten Kapitel die Entwicklung des Menschen in unserer Zeit beschrieben wird bzw. im dritten Kapitel auf die Weltwirtschaftskrise eingegangen wird. In unserer heutigen Zeit und ihrer hausgemachten Krise scheint das Wort ,Gott‘ ortlos geworden zu sein und auch die Kirche tut sich mit der methodischen Gottlosigkeit dieser Welt und ihrer Geschäftspraktiken schwer. Es treten hier neue 2

Zur formalen Brüchigkeit der Enzyklika siehe Kruip, S. 389.

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Zusammenhänge auf, auf die noch Antworten gesucht werden, die man im Hinblick auf die Rechte und Pflichten und das Umweltverhalten der Menschen im vierten Kapitel, die notwendige Zusammenarbeit der Menschen im fünften Kapitel und die Beurteilung der Technik im sechsten Kapitel schon gefunden zu haben scheint. 2. Zitation Und damit zu meiner zweiten kleinen Vorbemerkung: Es gibt drei Arten von Zitaten in der Enzyklika. Es werden (1.) biblische Texte zitiert und bei diesen Zitaten ist wiederum auffällig, dass sie sich vor allem in der Einleitung und im Schluss befinden, wohingegen sie im Hauptteil sehr spärlich gesät sind.3 Neben der Zitation von Bibelstellen fallen (2.) zwei Anmerkungen und ein Zitat auf, die meiner Meinung nach auf eine direkte Bearbeitung der Enzyklika durch Papst Benedikt selbst hinweisen. Dies ist die Anmerkung 88 (CIV 34), in der der Papst in gut professoraler Art auf die Meinung des von ihm sehr geliebten hl. Augustinus hinweist, dass die Liebe etwas Größeres ist, als dass der Mensch als endliches Wesen sie hervorbringen könne. In Nr. 48 wird Heraklit von Ephesus zitiert und dafür auf die klassische deutsche Ausgabe der Fragmente der Vorsokratiker von Hermann Diels und Walther Kranz hingewiesen. Anmerkung 130 deutet im Zusammenhang mit Ausführungen zum Verhältnis von Teil und Ganzem, die trinitätstheologisch eingeholt werden, auf zwei Stellen von Thomas von Aquin hin. (3.) muss hier noch die statistisch gesehen häufigste Zitation erwähnt werden, die aus neueren Dokumenten des päpstlichen Lehramtes selbst erfolgt. Mit dieser Rückbezüglichkeit auf päpstliche Aussagen wird sichergestellt, dass es in der Verkündigung der Oberhäupter der Katholischen Kirche zu einer kontinuierlichen Lehrmeinung und Entwicklung kommt und die Gläubigen und die Welt nicht durch Neuartiges irritiert werden und den Eindruck bekommen, die Päpste wüssten selber nicht, was richtig ist und revidierten deshalb ohne Federlesen die Meinung ihrer Vorgänger oder gar ihre eigenen Aussagen.4 Nach diesen zwei Vorbemerkungen zum Vorkommen des Wortes ,Gott‘ und der Art und Weise der Zitation fremder Texte will ich im Folgenden noch näher auf die theologischen Grundlagen der Enzyklika zu sprechen kommen. Dazu bieten sich meiner Meinung nach das vertretene Menschenbild an, das nur expliziert werden kann, wenn auch auf das Vernunft-, Wahrheits- und Liebesverständnis eingegangen wird. 3. Freiheit, Wahrheit, Liebe In zwei Sätzen zusammengefasst ist der Mensch nach der Enzyklika ,Caritas in Veritate‘ ein soziales Wesen5, das das, was ihm vorgegeben ist, in Freiheit annehmen 3 Es kommen lediglich in folgenden Abschnitten Bibelzitate vor: CIV 12, 20, 27, 45, 48, 53 f, 69. 4 Zur Bewertung der Zitate aus ,Populorum progressio‘ siehe Kruip, S. 391 f. 5 CIV 53.

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sollte und dabei seine grundsätzliche Offenheit auf die Transzendenz nicht aus den Augen verlieren darf. Frei ist der Mensch aber nur, wenn er sich wahrheitsgemäß verhält und bei all seinen Entscheidungen die ethischen Konsequenzen mitbedenkt. Schon aus dieser kurzen Zusammenfassung wird deutlich, dass es Benedikt auf eine gegenseitige Durchdringung der Komponenten Freiheit – Wahrheit – Liebe ankommt, die jeweils ohne die je andere nicht wahrhaftig sind und aus deren echter Beachtung ein sittlich gutes und ethisch einwandfreies Leben resultieren wird. Mit der gegenseitigen Durchdringung der Komponenten Freiheit – Wahrheit – Liebe steht Benedikt in der platonisierenden Denk-Tradition des hl. Augustinus6, für den Wahrheitserkenntnis im Gegensatz zur akademischen Skepsis möglich war und allein der Besitz der Wahrheit den Menschen glücklich mache.7 Vielleicht kann schon der Titel der dritten Enzyklika Benedikts als Hinweis auf ihre Verortung innerhalb augustinischer Denk-Tradition gewertet werden, auf die er für die ersten zwei Enzykliken selber hingewiesen hat.8 Für die Einleitungsworte seiner dritten Enzyklika nimmt Papst Benedikt ein Wort aus der Abschlusssitzung der ersten Session des II. Vatikanischen Konzils von Papst Johannes XXIII. auf9 und bezieht sich mit ihm in souveräner Manier auf Eph 4,15 und formt diesen Vers in seinem Sinne um. In der Vulgata-Fassung lautet der erste Halbvers: „veritatem autem facientes in caritate crescamus“ – wir wollen aber wachsen, indem wir Wahrheit in Liebe erwerben / machen / erzeugen. Hier kommen also drei für die Enzyklika sehr wichtige Gedanken vor: es geht um das Wachsen, das rechte Wachsen, das nach dem zweiten Halbvers von Eph 4,15 auf Christus hingeordnet sein soll. Und dann geht es um Wahrheit und Liebe. Im Gegensatz zu seiner biblischen Grundlage gewichtet Benedikt das Verhältnis von Wahrheit und Liebe aber um, weil es ihm darauf ankommt, dass – ganz in weisheitlicher Tradition10 – die Liebe zum bestimmenden Faktor der vernunftgemäßen Wahrheitssuche wird. Er will nicht nach der allgemeingültigen Wahrheit in der Liebe des Menschen suchen, sondern er macht deutlich, dass die Liebe der Antrieb und das Ziel ist, zu dem der Mensch berufen ist und dass diese Liebe alle Lebensbereiche durchdringen muss – auch die Suche nach der Wahrheit.11 Rein vernunftgemäßes Wahrheitsstreben ist nach Benedikt unbefriedigend und nur die halbe Wahrheit, weil es der Liebe bedarf, damit die Wahrheit (und die Suche 6 Kuhn, S. 80: „In Augustin wurde ursprünglich eins, was zunächst historisch in getrennten Traditionen aufgetreten war: die Leidenschaft des Heilsverlangens und die Leidenschaft des Erkennenwollens. Das fragende Suchen in intellektueller Nachforschung (quaerere) war für ihn wesentlich ein Gottsuchen, der wahre Philosoph zugleich der wahre Gottliebende (verus philosophus amator Dei)“. Bruckmann, S. 336. 7 Enders, S. 65. 8 Papst Benedikt XVI., S. 85; vgl. CIV 32. 9 Häring, S. 508. 10 Papst Benedikt XVI., S. 25. 11 Bruckmann, S. 334: „Da die Wahrheit, die Christus ist, [bei Augustinus; FB] über dem Geist steht, ist wohl auch die Glaubenserkenntnis höher einzuschätzen als die Wissenserkenntnis.“ Vgl. Papst Johannes Paul II., S. 1551 – 1583.

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nach ihr) eine Orientierung findet.12 Die Wahrheit bedarf der Orientierung, was dazu führt, dass sie nur dann rechtgeleitet ist, wenn sie sich der Autorität Gottes unterstellt,13 die Augustinus in Auseinandersetzung mit dem Manichäismus in der katholischen Kirche gewahrt sieht.14 Aber wie Augustinus geht es Benedikt nicht vorrangig um den Aspekt, dass die Wahrheit der Autorität und dem Vertrauensvorschuss auf diese bedarf, um Orientierung zu finden, sondern vor allem um den Garanten der Wahrheit, den er in Gott erblickt, indem er diesen mit der Wahrheit identifiziert15 und Christus zum inneren Lehrer der Wahrheit macht.16 Demgemäß ordnet auch Benedikt die Liebe der Wahrheit vor und versteht sie als umfassender als die Wahrheit, ohne dass die eine ohne die andere sein könnte.17 Augustinus betont vor allem im Hinblick auf das Heil die Notwendigkeit, dass die Erkenntnis mit der Liebe verbunden sein müsse: „Der Erkenntnis folge die Liebe! Denn die Erkenntnis ohne die Liebe bringt kein Heil.“18 Gleichzeitig ist der Mensch zu Liebe und Wahrheit berufen, weil Gott dem Menschen beide Vermögen ins Herz gelegt hat (CIV 1) und der Mensch nur dann wahrhaft Mensch ist, wenn er liebt.19 Die Liebe ist nämlich nach einem Ausspruch Jesu die Zusammenfassung des ganzen Gesetzes (CIV 2), weil der Mensch aus Liebe nach Gerechtigkeit und Frieden streben soll. a) Einsatz für das Gemeinwohl Aus all dem resultiert der ethische Zusammenhang von Gerechtigkeit, Liebe und Wahrheit (CIV 6),20 die alle drei auf eine Verwirklichung im Gemeinwohl hindrän-

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„Das menschliche Wissen ist ungenügend, und die Schlussfolgerungen der Wissenschaft können allein den Weg zur ganzheitlichen Entwicklung des Menschen nicht weisen. Es ist immer nötig, darüber hinaus weiter vorzustoßen – das verlangt die Liebe in der Wahrheit.“ (CIV 30) 13 Huning, S. 8: „Nach mehreren Besuchen bei Ambrosius wird ihm [Augustinus] klar, daß der Mensch auf der Suche nach Wahrheit des ergänzenden Autoritätsglaubens bedarf.“ 14 Vgl. Augustinus (1992), z. B. S. 136 f. 15 Augustinus (2001), S. 8 f: „deus veritas est – Gott ist die Wahrheit“. Zur Durchdringung von Wahrheit, Liebe und Zeitlosigkeit im Hinblick auf Gott bei Augustinus: Beierwaltes, S. 26 f: „Der in der Immanenz des denkenden Bewußtseins erfahrene absolute Grund ist also Einheit von Zeitlosigkeit, unveränderlicher Wahrheit und sich veräußernder Liebe. Gerade die Intellektualität oder Spiritualität dieses absoluten Grundes, welcher die Wahrheit und Liebe selbst ist, soll in der gegenseitigen Durchdringung des Wesensprädikate evident gemacht werden.“ Vgl. Rief (1961), S. 291 f. 16 Bruckmann, S. 328 – 334. 17 „Die Liebe schließt das Wissen nicht aus, ja, sie verlangt, fördert und belebt es von innen her. Das Wissen ist niemals allein das Werk der Intelligenz.“ (CIV 30) 18 Augustinus (1938), S. 29. 19 Kuhn, S. 89: „Der Mensch, der liebt, ist [nach Augustinus; FB] am meisten er selbst, denn Liebe ist die Gravitation der Seele.“ 20 Rief (1961), S. 294: „Je nachdem sie [die Seele; FB] im Besitz der veritas ist oder nicht, entscheidet sie sich für das Wahre oder Falsche. Vom plotinischen Denken beeinflußt leitet

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gen,21 wie auch Augustinus ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis von Selbst-, Nächsten- und Gottesliebe benennt.22 „Sich für das Gemeinwohl einzusetzen … ist der institutionelle – wir können auch sagen politische – Weg der Nächstenliebe“ (CIV 7). Der Einsatz für das Gemeinwohl ist dabei aber kein Selbstzweck, sondern dient der Entwicklung der Völker und des Menschen,23 ohne dass Benedikt einem positivistischen Fortschrittsideal huldigt. Zwar ist der Mensch der Schöpfer der Globalisierung und der Technik und muss sich deswegen über sie erheben, sich ihrer bedienen und darf sich von ihnen nicht versklaven lassen24, aber echte Entwicklung ist ein Geschenk Gottes25 und kann nicht vom Menschen selbst hergestellt werden. So geht es der Enzyklika um eine „ganzheitliche Entwicklung des Menschen“26, die nur geschehen kann, wenn der Mensch sich selber nicht reduktionistisch sieht, sondern sich als Wesen erkennt, das auf die Transzendenz hin offen ist.27 b) Orientierungslosigkeit Benedikt sieht nur die Gefahr, dass man die Liebe sehr leicht vergessen und verdrängen kann, so dass sowohl das sittliche Handeln als auch die vernunftgeprägte Wahrheit orientierungslos werden.28 Mit diesen beiden Punkten ist er bei einer theologischen Zeitdiagnose angelangt, die seit langer Zeit sein Denken prägt: Einerseits diagnostiziert er die Gefahren des Relativismus.29 Wenn eine Gesellschaft kein klares Wahrheitsverständnis (mehr) hat und sich Widersprechendes als gleichermaßen wahr ansehen kann, dann führt dies nach Benedikt unweigerlich zu Orientierungslosigkeit Augustinus daraus die Erkenntnis ab, daß die Wahrheit auch eine ethische Dimension aufweist.“ 21 Für den Einsatz für den anderen siehe Fischer, S. 182; 186. 22 Ulrich, S. 58: „Im Konzept des ordo amoris bei Augustinus treffen sich also die konkrete Nächstenliebe, das handelnde Helfen auf der Ebene der Weltliebe einerseits, und das Ausgerichtetsein auf das alles überschreitende Innewerden des Ewigen, ein gegenstandsloses Glück, ein Genießen, das nicht mehr begehrt, weil es das Ziel erreicht hat.“ 23 Hebensperger, S. 31: „Der ordo amoris, die Ordnung der Liebe, ist also oberstes sittliches Gesetz. Wir finden wir ihn? Wir brauchen eigentlich nur unserem innersten von Gott uns gegebenen Wesen selbst zu folgen.“ 24 CIV 42, 69. „Aber die menschliche Freiheit ist nur dann im eigentlichen Sinn sie selbst, wenn sie auf den Zauber der Technik mit Entscheidungen antwortet, die Frucht moralischer Verantwortung sind.“ (CIV 70) 25 „Gott ist der Garant der wahren Entwicklung des Menschen“ (CIV 29). Vgl. CIV 79. 26 CIV 8, 9, 11, 17, 18, 23, 30, 43; vgl. CIV 48, 62, 67, 74, 77. 27 Vgl. CIV 42: „Es ist daher ein unablässiger Einsatz zur Förderung einer personalistischen und gemeinschaftlichen sowie für die Transzendenz offenen kulturellen Ausrichtung des globalen Integrationsprozesses erforderlich.“ 28 Rief (1987), S. 679 f: „Augustinus weiß, daß der Charakter der societas als jener Verbundenheit der Menschen, die durch die auctoritas der Sittlich-Guten ihre Richtung empfängt, verlorengehen kann, weil diejenigen, die diese auctoritas hätten, keine Öffentlichkeit mehr haben.“ 29 Vgl. CIV 4, 26, 61. Vgl. Papst Benedikt XVI., S. 130.

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und letztlich Sünde, als deren Auswirkung er auch die Wirtschaftskrise kennzeichnet (CIV 34).30 Benedikt diagnostiziert also zwei grundsätzliche Arten der Orientierungslosigkeit: die eine ist wahrheitstheoretischer Natur und ihr entspricht Indifferenz und Relativismus in allen Lebensbereichen. Deswegen hängt mit dieser wahrheitstheoretischen Orientierungslosigkeit die ethische Orientierungslosigkeit zusammen, die sich vor allem im falschen Umgang mit wehrlosem Leben ausdrückt und zu einer „Kultur des Todes“ (CIV 75) führt, anstatt zu einer Kultur des Lebens. Den ersten Hinweis darauf, dass das sittliche Handeln ohne Liebe seine Orientierung verliert, sieht Benedikt folgerichtig im fehlerhaften Umgang mit dem Anfang und dem Ende des Lebens, also in unsachgemäßer Empfängnisverhütung, „der tragischen Plage der Abtreibung“ (CIV 75) und in einer Haltung, die Euthanasie nahe lege.31 Wegen des angesprochenen Zusammenhangs zwischen Wahrheit und Liebe kann sich Benedikt für die Diagnose der Orientierungslosigkeit ebenfalls auf Augustinus berufen, der jegliche Liebe nur im Bezug auf Gott verwirklicht sieht. „Weil der unendliche Gott nicht aus einem Bedürfnis heraus geschaffen hat, sondern in unbedürftiger Vollkommenheit, da Gott in seiner Liebe will, daß seine Geschöpfe seien und daß sie gut seien, bedarf die Liebe der Menschen, die sich auf Menschen richtet und dem Wesen der Liebe entspricht, des Bezuges auf Gott.“32 c) Religionsfreiheit Wegen des so diagnostizierten Problems der Orientierungslosigkeit beklagt Benedikt auch alle Arten der Unterdrückung von Religion, weil dies dem wahren Wesen des Menschen widerspräche (CIV 29). Von den Staaten muss deshalb Religionsfreiheit gewährt werden, damit sich die Bürger richtig entwickeln und ihrem Wesen gemäß leben können (CIV 56). Religionsfreiheit darf nach Benedikt aber nicht zu der Annahme verleiten, dass alle Religionen gleich gültig wären, vielmehr müsse nach ihm auch von den Politikern darauf geachtet werden, welche Religion nach den Kriterien von Liebe und Wahrheit für das Gemeinwohl eines Staates nützlicher seien (CIV 55). d) Glaube und Vernunft Die Religionsfreiheit ist nach Benedikt auch deshalb notwendig und muss von den Staaten und Politikern beachtet und geschützt werden, weil eine vom Glauben abgetrennte Vernunft wiederum ohne Orientierung und damit in sich blind ist. Wie er schon in seiner Antrittsvorlesung für den fundamentaltheologischen Lehrstuhl in Bonn und als Papst in seiner berühmten Regensburger Rede betont hat, brauchen

30 Rief (1987), S. 666: „Das Argument, daß die Vielzahl der Güter kein Argument sei auf die Frage nach dem Guten, hat keine Überzeugungskraft mehr.“ 31 CIV 15, 28, 44, 50, 75. 32 Fischer, S. 184.

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und bedingen sich Glaube und Vernunft gegenseitig33 und sind wie bei Augustinus einander nicht entgegengesetzt.34 „Die Vernunft bedarf stets der Reinigung durch den Glauben und dies gilt auch für die politische Vernunft, die sich nicht für allmächtig halten darf. Die Religion bedarf ihrerseits stets der Reinigung durch die Vernunft, um ihr echtes menschliches Antlitz zu zeigen.“ (CIV 56) Der Glaube ohne Vernunft droht fundamentalistisch zu werden, die Vernunft ohne Glaube kennt kein Maß und kein Ziel. Wiederholt greift Benedikt in seiner Enzyklika auf das eben vorgeführte rhetorische Stilmittel zurück, mit dessen Hilfe er klar macht, dass in einem dialektischen Abhängigkeitsverhältnis das eine ohne das andere nichts ist.35 4. Geschöpflichkeit Wenn ich vorhin darauf hingewiesen habe, dass das Wort ,Gott‘ im dritten Kapitel, also den Analysen zur Weltwirtschaft fehlt, so ist dies kein Hinweis darauf, dass diese Analysen untheologisch wären. Neben der (augustinisch eingeführten) Kategorie der ,Sünde‘36 (CIV 34) ist es besonders der Gedanke der Unentgeltlichkeit, der in diesem Kapitel ins Auge fällt und der an Derridas Ausführungen über die reine Gabe anzuknüpfen scheint.37 Nach ,Caritas in veritate‘ ist die Unentgeltlichkeit eine zutiefst menschliche Erfahrung, weil der Mensch sich nicht sich selber verdankt38, sondern er sich von Gott geschenkt bekommt. Deshalb müsste die Kategorie der Unentgeltlichkeit eigentlich auch einen Raum innerhalb der Wirtschaftszusammenhänge gewährt werden (CIV 36). Natürlich weiß Benedikt, dass dies schwer ist und dennoch weiß er ebenso, dass auch die Wirtschaft von dieser Unentgeltlichkeit lebt und von ihr zehrt. Wie im Böckenförd’schen Paradoxon zehrt der Markt von etwas, das er selber nicht herstellen kann. „Es gibt keinen Markt der Unentgeltlichkeit, und eine Haltung der Unentgeltlichkeit kann nicht per Gesetz verordnet werden. Dennoch brauchen sowohl der Markt als auch die Politik Menschen, die zur Hingabe aneinander bereit sind.“ (CIV 39) 33 Böttigheimer, S. 149 – 154. Vgl. Augustinus (2001), S. 250 f: „Fides quaerit, intellectus invenit. – Der Glaube sucht, die Einsicht findet.“ 34 Dassmann, S. 99: „Es ist ihm [Augustinus] dabei ein besonderes Anliegen, deutlich zu machen, daß der Glaube … nicht gegen die Würde und Erkenntniskraft der Vernunft des Menschen gerichtet ist.“ 35 „Nur in der Wahrheit erstrahlt die Liebe und kann glaubwürdig gelebt werden. Die Wahrheit ist ein Licht, das der Liebe Sinn und Wert verleiht … Ohne die Wahrheit gleitet die Liebe in Sentimentalität ab. Sie wird ein leeres Gehäuse, das man nach Belieben füllen kann.“ (CIV 3) „Das Tun ist blind ohne das Wissen, und das Wissen ist steril ohne die Liebe.“ (CIV 30) „Die vom reinen technischen Tun gefesselte Vernunft ist ohne den Glauben dazu verurteilt, sich in der Illusion der eigenen Allmacht zu verlieren. Der Glaube ist ohne die Vernunft der Gefahr der Entfremdung vom konkreten Leben der Menschen ausgesetzt.“ (CIV 74) 36 ,Caritas in Veritate‘ kennzeichnet die Sünde als „Sich-in-sich-selbst-Verschließen“ (CIV 34), was der augustinischen Eigenliebe entspricht (Kuhn, S. 85). 37 Derrida. 38 CIV 74.

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Die Erfahrung der Geschenkhaftigkeit des Lebens und der Notwendigkeit, unentgeltlichen Einsatzes und Gebens, fußt letztendlich auf der Geschöpflichkeit des Menschen (CIV 68), aus der auch das allen Menschen gemeinsame Naturrecht39 und damit die „Würde des Menschen“40 als Gottes Abbild (CIV 45) herrührt. „Liebe in Wahrheit heißt hier: die grundsätzliche Anerkennung des anderen, weil er Mensch ist, und weil wir einen Gott gefunden haben, der jeden Menschen geschaffen und zu seinem Bild und Gleichnis gemacht hat.“41 Dies wirkt sich auch im Umgang des Menschen mit seiner Umwelt aus, weil er sich selber und seine Welt als Schöpfung und damit als Geschenk erfährt, das von Gott herkommt. Deswegen ist nach Benedikt auch der „neurologische Reduktionismus“ (CIV 76) und die reduktionistische Evolutionstheorie abzulehnen, weil diese das Verantwortungsbewusstsein schwäche.42 III. Resümee Nachdem ich in einem ersten Punkt die dynamische Treue der päpstlichen Lehrentwicklung betrachtet habe, habe ich meinen zweiten Punkt mit Beobachtungen zum Umgang mit dem Wort ,Gott‘ und dem Hinweis auf die in der Enzyklika zitierten Texte begonnen, bevor ich das augustinisch anmutende Durchdringungsverhältnis von Freiheit, Wahrheit und Liebe dargelegt und in diesem Zusammenhang auf den Einsatz für das Gemeinwohl, die grundlegende Orientierungslosigkeit der Moderne, die Religionsfreiheit und das Verhältnis von Glaube und Vernunft eingegangen bin, um mit ein paar Hinweisen auf die Geschöpflichkeit des Menschen meinen zweiten Abschnitt zu beenden. In ihrem Schlussteil zieht dies Enzyklika ,Caritas in veritate‘ selber ein Fazit und weist darauf hin, dass es einen „echten Humanismus“ ohne Gott nicht geben kann, so dass es eines „christlichen Humanismus“ bedarf, damit es nicht zu einem „unmenschlichen Humanismus“ komme (CIV 78). In diesem Hinweis auf nihilistische Tendenzen der Gegenwart liegt meiner Meinung nach der theologische Impetus der Enzyklika verborgen und hier entdeckt man ihre theologische Grundüberzeugung: Vom Evangelium her ist Papst Benedikt XVI. zutiefst davon überzeugt, dass nur Gott dem Menschen den Menschen offenbart, so dass der Mensch sich selber gründlich missversteht, wenn er sich ohne Gott verstehen will (CIV 75). Benedikt steht hier tief in augustinischer Denktradition, in der der Mensch seine natürliche Gotteserkenntnis verloren hat und es der Gnade Gottes bedarf, dass der Mensch sich selber und dann auch seine Ausgerichtetheit auf Gott wieder versteht.43 Eine wirkliche Entwicklung des Menschen und damit eine Verbesse39

CIV 59, 75. Zum Naturrecht: Böttigheimer et al. (Hg.), Sein und Sollen. CIV 9, 15, 29, 32, 41, 44 f, 53, 55, 57, 63, 73, 75. 41 Marx, S. 652. 42 CIV 48. Vgl. CIV 29: „Der Mensch ist nicht etwa ein verlorenes Atom in einem ZufallsUniversum, sondern ein Geschöpf Gottes, das von ihm eine unsterbliche Seele empfangen hat und von Ewigkeit her geliebt worden ist.“ Vgl. CIV 61. 43 Winger, S. 582: „Zum Gelingen bedarf es deshalb AUGUSTINS Meinung nach der ,Begnadung‘ menschlichen Handelns durch die Liebe Gottes, der begnadeten Vernunft und 40

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rung seiner Lebensumstände wird es nach Benedikt nur geben, wenn der Mensch durch die Gnade Gottes in der christlichen Offenbarung zur Erkenntnis gelangt, dass er nur mit der Hilfe Gottes seinem Wesen entsprechen und wirklich lieben und verstehen kann. Und da Gott in sich selber Gemeinschaft ist, ist auch der Mensch dazu angehalten, sich auf Gemeinschaft und damit auf Friede und Gerechtigkeit hin zu entwerfen (CIV 54). Nur in einer solidarischen und subsidiären Gemeinschaft können die den Nationalstaat übersteigenden Probleme der Welt gelöst werden, ohne dass diese Lösung vom Menschen selber hergestellt werden könnte, weil der Erfolg seines Tuns nur von Gott her gewährt wird. Aus dieser Perspektive gesehen nimmt die Enzyklika das prophetische Moment ihres Lehrauftrages wahr und hält den Menschen guten Willens den Spiegel vor, um ihnen klar zu machen, warum nach Meinung der Kirche die Sünde in der Welt perpetuiert wird – dies kommt von der Gottvergessenheit her, die sich auf alle Lebensbereiche und damit auch auf das Wirtschaften auswirkt. Nur „eine metaphysische Interpretation des humanum“ (CIV 55) könnte dem entgegenwirken, weil diese nicht den Fehler des Reduktionismus macht. Es ist bekannt, dass die vom päpstlichen Lehramt seit langem vorgetragene Analyse des praktizierten Indifferentismus bzw. des an den Tag gelegten Relativismus innertheologisch diskutiert wird, weil seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil vermehrt nach Möglichkeiten gesucht wird, Gott nicht nur im sacrum sondern auch im profanum zu finden. Aber trotz aller innertheologischen Auseinandersetzung über die Bewertung einer säkularisierten Moderne oder gar Postmoderne ist allen an dieser Diskussion Beteiligten der Glaube gemeinsam, dass es ohne Gott nicht gehen kann. Von daher ist der Streit um ein metaphysisches oder nachmetaphysisches Menschenbild im Prinzip nur eine Nebensache, weil es nicht um Verstehensmodelle gehen darf, sondern die Wahrheit im Evangelium zu finden ist. So nimmt die Enzyklika ,Caritas in Veritate‘ vor dem Hintergrund der eigenen Lehr- und Sprachtradition Stellung zu einigen bedrängenden Fragen und weist darauf hin, dass der Mensch in all seinen Tätigkeiten Gott nicht vergessen darf und ein Gewissen hat, das ihn anklagt, wenn er es doch tut. Dies immer wieder in Erinnerung zu rufen ist die Aufgabe des Lehramtes und Papst Benedikt kommt dieser Aufgabe in seiner Enzyklika nach. Natürlich würde eine nicht lehramtliche, sondern rein theologische Analyse der angesprochenen Probleme anders aussehen. So müsste z. B. auch auf das Mitwirken der Kirche an den als fehlerhaft erkannten Strukturen hingewiesen werden und zumindest der geistesgeschichtliche Zusammenhang zwischen der kirchlichen Verkündigung und der vor diesem Hintergrund entstehenden Art des Wirtschaftens untersucht werden.44 Auch würde man in einer rein theologischen Untersuchung die Macht- und Institutionskritik nicht nur auf die Politiker und Staaten anwenden, sondern auch auf begnadeten Freiheit des Menschen, die alleine erst gelingendes Handeln ermöglicht, ohne daß dieses Gelingen aber bei allem Vernunftvollzug und bei aller rechten Gesinnung im vorhinein zu garantieren wäre: Jedes sittliche Gelingen ist zugleich göttliches Geschenk.“ 44 Im Hinblick auf die Entstehung des Atheismus geht das Zweite Vatikanische Konzil ausdrücklich davon aus, dass Gläubige an ihr Anteil haben (GS 19).

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die Kirche selber.45 Von daher müsste der Theologe eine andere Sprachhaltung einnehmen, als dies das Lehramt tut, ohne dass er die notwendige Aufgabe des Lehramtes selber bestreitet. Es ist das Verdienst der Enzyklika ,Caritas in Veritate‘ ein Plädoyer für ein christliches Menschenbild abgegeben und damit in einer weltumspannenden Krise sein prophetisches Amt wahrgenommen zu haben. Dieses Verdienst ist der Enzyklika hoch anzurechnen. Literatur Augustinus: Gott ist die Liebe. Die Predigten des hl. Augustinus über den 1. Johannesbrief, übers. u. eingel. von Fritz Hofmann (Zeugen des Wortes 5/6), Freiburg, 1938. – De utilitate credendi. Über den Nutzen des Glaubens, übers. u. eingel. von Andreas Hoffmann (Fontes Christiani 9), Freiburg i. Br., 1992. – De trinitate (Bücher VIII–XI,XVI–XV, Anhang: Buch V), übers. u. mit eingel. von Johann Kreuzer (Philosophische Bibliothek 523), Hamburg, 2001. Beck, Christian: Die Sozialenzyklika Caritas in Veritate, in: Stimmen der Zeit, Bd. 227, Heft 9, 2009, S. 631 – 637. Beierwaltes, Werner: Deus est veritas. Zur Rezeption des griechischen Wahrheitsbegriffes in der frühchristlichen Theologie, in: Dassmann, Ernst / Suso, Frank, K. (Hg.): Pietas. Festschrift für Bernhard Kötting, (Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 8), Münster, 1980, S. 15 – 29. Böttigheimer, Christoph: Toleranz-Prinzip und universales Ethos. Zur Bedeutung und Universalisierbarkeit der Toleranz-Idee als Voraussetzung der Menschenrechte, in: Böttigheimer, Christoph et al. (Hg.): Sein und Sollen des Menschen. Zum göttlich-freien Konzept vom Menschen, Münster, 2009, S. 149 – 172. Böttigheimer, Christoph et al. (Hg.): Sein und Sollen des Menschen. Zum göttlich-freien Konzept vom Menschen, Münster, 2009. Bruckmann, Florian: Die Schrift als Zeuge analoger Gottrede. Studien zu Lyotard, Derrida und Augustinus, Freiburg u. a., 2007. Dassmann, Ernst: Augustinus. Heiliger und Kirchenlehrer, Stuttgart u. a., 1993. Derrida, Jacques: Falschgeld. Zeit geben I, übers. von Knop, Andreas / Wetzel, Michael, München 1993. Enders, Markus: ,Wahrheit‘ von Augustinus bis zum frühen Mittelalter: Stationen einer Begriffsgeschichte, in: Enders, Markus /Szaif, Jan (Hg.): Die Geschichte des philosophischen Begriffs der Wahrheit, (De-Gruyter-Studienbücher), Berlin u. a., 2006, S. 65 – 101. Fischer, Norbert: Amore amoris tui facio istuc. Zur Bedeutung der Liebe im Leben und Denken Augustins, in: Düsing, Edith / Klein, Hans-Dieter (Hg.): Geist, Eros und Agape. Untersuchungen zu Liebesdarstellungen in Philosophie, Religion und Kunst (Geist und Seele 5), Würzburg, 2009, S. 169 – 189. Häring, Bernhard: Die gegenwärtige Heilsstunde. Gesammelte Aufsätze – Schriften zur Moraltheologie, Freiburg, 1964. 45

Vgl. Beck, S. 632.

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Hebensperger, Johann Nepumuk: Der heilige Augustinus. Der Dreiklang der Menschenseele: Wahrheit – Liebe – Gott (Philosophische Charakterköpfe), Augsburg, 1939. Huning, Hanns: Augustinus’ Liebe zur Wahrheit als Triebkraft seines Glaubens, in: Wissenschaft und Weisheit. Zeitschrift für augustinisch-franziskanische Theologie und Philosophie in der Gegenwart, Jg. 31, 1968, S 1 – 12. Kruip, Gerhard: Entwicklung und Wahrheit. Die Sozialenzyklika Benedikts XVI. ermöglicht viele Lesarten, in: Herder-Korrespondenz, Jg. 63, Heft 8, 2009, S. 388 – 392. Kuhn, Helmut: Liebe. Geschichte eines Begriffs, München, 1975. Marx, Reinhard: Die Globalisierung gestalten – in verantworteter Freiheit, in: Stimmen der Zeit, Bd. 227, Heft 10, 2009, S. 651 – 661. Papst Benedikt XVI.: Leidenschaft für die Wahrheit. Augustinus, Augsburg, 2009. Papst Johannes Paul II.: Apostolisches Schreiben Augustinum Hipponensem zum 1600. Jahrestag der Bekehrung des hl. Augustinus (28. 8. 1986), in: Der Apostolische Stuhl 1986, Köln, o. J. Rief, Josef: Liebe zur Wahrheit. Untersuchungen zur Ethik des jungen Augustinus, in: Theologische Quartalschrift, Jg. 141, 1961, S. 281 – 318. – Die Wahrheit der Weisheit als Movens der augustinischen Wahrheitssuche, in: Baier, Walter et al. (Hg.): Weisheit Gottes – Weisheit der Welt. Festschrift für Joseph Kardinal Ratzinger zum 60. Geb., Bd. 1, St. Ottilien, 1987, S. 667 – 688. Ulrich, Jörg: Virtus est ordo amoris. Zum Prinzip des Ordnung der Liebe bei Augustinus, in: Tanner, Klaus: „Liebe“ im Wandel der Zeiten. Kulturwissenschaftliche Perspektiven (Theologie – Kultur – Hermeneutik 3), Leipzig, 2005, S. 53 – 61. Winger, Wolfram: Personalität durch Humanität: Das ethikgeschichtliche Profil christlicher Handlungslehre bei Lactanz. Denkhorizonte – Textübersetzung – Interpretation – Wirkungsgeschichte (Forum interdisziplinäre Ethik 22), Teil 2, Frankfurt u. a., 1999.

Normativer Humanismus als Programm Die Vision der ,Caritas in veritate‘ Von Elmar Nass Schon eine erste Lektüre der Enzyklika ,Caritas in veritate‘ macht deutlich, dass hier keine technisch ausgefeilten Antworten auf die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 angeboten werden. Der Blick richtet sich nicht auf Einzelphänomene und deren Lösung. Es wird vielmehr nach einem großen Zusammenhang gesucht. Diesen sieht Papst Benedikt XVI. in einer inhaltlichen Abkehr der Menschen von der Wahrheit und in einem falschen Geist, der die Nächstenliebe zerstört. Eine solche ganzheitliche Sicht ist nicht neu. Sie findet sich etwa auch bei Josef Höffner: „Im letzten geht es nicht um Verwaltungsmethoden, sondern um das gesellschaftliche Ordnungsbild, an dem die Sozialpolitik sich ausrichten muß. Dieses Ordnungsbild wird aber vom Menschenbild bestimmt, so daß der Mensch in seiner personalen Würde und in seiner sozialen Wesensanlage die Norm für den Aufbau der sozialen Sicherheit sein muß.“1 Bevor Benedikt XVI. Mut macht zu einem Humanismus, der die Menschen im Sinne der Botschaft des Evangeliums befreit, werden verschiedene Facetten der Unfreiheit vorgestellt. In der Tradition des platonisch-augustinischen Denkens werden dabei Missstände und mögliche Auswege einander gegenübergestellt. Die Schilderung des erkannten Missstandes in der Welt dient dabei als Grundlage, sich davon zu befreien, so dass die zunächst negative Sicht keineswegs deprimiert, sondern im Gegenteil um so mehr ermutigen will, erkannte Krisen erfolgreich zu überwinden. Kritisiert wird eine verbreitete egoistisch-anonyme Grundhaltung der Menschen, die mit einer sozialen Mitverantwortung und einem Geist des Miteinanders sozialer Liebe konkurriert. Denn sie nivelliert die kulturelle Identität und lässt in bioethischen Fragen zum Anfang und Ende des Lebens manche Dämme brechen. Schließlich habe eine solche egoistische Logik mit großem Einfluss in die Werthaltungen und Regelsysteme Eingang gefunden. Die Krisen von normativer Ethik und Tugendethik werden als die eigentlichen Problem erkannt. Die Menschenwürde ist die oberste ethische Referenzgröße einer Gesellschaft. Die normative Ethik fragt danach, wie die Menschenwürde zu begründen ist. Die Tugendethik thematisiert die Motivation, dem erkannten Wert zu folgen. Sie fragt nach ersten und folgenden Schritten, um die normativen Ziele zu erreichen. Begründung 1

Höffner (1956), S. 12.

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und Ethos bedingen einander: Das Ethos ist ein Leitfaden, unser Leben in Übereinstimmung mit der in unserer weltanschaulichen Vorentscheidung über das Menschsein bestimmten Wahrheit praktisch zu führen. Es bestimmt unser Denken, Erkennen, Empfinden und Handeln und ist auch selbst Vehikel für unsere Erkenntnis von Wahrheit. Moralisches Handeln folgt einem Menschenbild und einem Ethos, welches den sozialen Zusammenhalt im Sinne des Menschenbildes bestimmt. Es folgt damit einer normativen Begründung und einer motivierenden Tugend. I. Eine Krise der Begründung Die Bestimmung der Menschenwürde folgt einer weltanschaulichen Vorentscheidung. Je nach ausgewähltem Paradigma kommt es zu unterschiedlichen Begründungen, Inhalten und Konsequenzen. Eine Unantastbarkeit der Menschenwürde mit daraus abgeleiteten objektiven Rechten und Pflichten kann zwar mit der religiösen Überzeugung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und der Menschwerdung Gottes im Sinne eines Bekenntnisses begründet werden, doch ist dieser Zugang keineswegs evident. Wird etwa der Mensch ebenso wie andere lebende oder nicht lebende Materie als Produkt des Zufalls verstanden, ist die Begründung einer gegenüber der anderen Materie herausgehobenen unantastbaren Würde des Menschen schwer zu begründen. Und wäre etwa die Vernunftbegabung Grund der verfassungsrechtlich geschützten Würde, wird die Würde zu einer abhängigen Variable. Bestimmte Menschen würden herausfallen, bestimmte vernunftbegabte Tiere müssten gegebenenfalls hinzugerechnet werden. Der Übergang zwischen Menschen- und Tierwürde wird dann fließend. „Die Würde des Menschen war unantastbar.“ Mit dieser Kritik richtete sich der christlich motivierte Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde gegen eine juristische Aushöhlung der Unverfügbarkeit menschlicher Würde, die er in einem neuen Kommentar zu Art. 1 GG von Matthias Herdegen ausmachte. Dieser hatte neben dem kategorialen Würdeanspruch aller Menschen betont, Art und Maß des Würdeschutzes müssten für Differenzierungen offen sein, die den konkreten Umständen Rechnung tragen. Damit kommen wechselnde Interessen für die Auslegung der Würde ins Spiel und die von Böckenförde verteidigte axiomatische Ewigkeitsentscheidung über die Menschenwürde kommt ins Wanken. Papst Benedikt XVI. ruft zur Verteidigung der unverfügbaren Menschenwürde in seiner Sozialenzyklika ,Caritas in Veritate‘ weltweit zu einer neuen humanistischen Synthese (CIV 21) auf, die Menschen unterschiedlicher Weltanschauung in einem Grundbekenntnis unantastbarer Menschenwürde einen will. Die Implementierungsproblematik der Menschenwürde zeigt sich exemplarisch im Umgang mit der Charta der Menschenrechte. Diese wird formal von alle Staaten anerkannt. Dennoch gehören Verstöße dagegen zur Tagesordnung. Oft werden sie aus politischem oder wirtschaftlichem Interesse verschwiegen. Selbst wenn die Verstöße nicht verschwiegen werden, bleibt durchaus strittig, unter welchen Bedin-

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gungen im Namen der Menschenwürde Staaten die Souveränität von Drittländern durch Sanktionen beschneiden dürfen. Es fehlt eine universal anerkannte Weltautorität, deren Entscheidungen unbedingt bindend sind und deren Sanktionsmöglichkeiten Erfolg versprechen. Eine solche Institution ist notwendig, wenn die Charta der Menschenrechte mehr als ein Lippenbekenntnis sein soll. Der Weg dahin aber ist lang, weil sie erst dann ihren Auftrag erfüllen kann, wenn sie sich auf eine sie legitimierende normative Synthese der Weltgemeinschaft berufen kann. II. Normativer Individualismus und Kollektivismus Die weit über Finanz- und Wirtschaftswelt hinaus gehende Begründungskrise sieht der Papst darin, dass Technik und ökonomischer Nutzen zum obersten normativen Handlungs- und Denkprinzip wurden (vgl. CIV 14). Gewinn und Technik sind als „Mittel zu begreifen, um den Zweck der Humanisierung des Marktes und der Gesellschaften zu erreichen“ (CIV 47). Sie müssen für die wahre Entwicklung des Menschen in Dienst genommen werden (CIV 32). „Wenn aber die Effizienz und der Nutzen die einzigen Kriterien der Wahrheit sind, wird automatisch die Entwicklung geleugnet“ (CIV 70). Vor allem ein normativer Individualismus und ein normativer Kollektivismus haben den von ihnen je anders bestimmten Nutzen an die Stelle Gottes gesetzt und mit ihrem Menschenbild zu einer Relativierung der Menschenwürde beigetragen. Beide Programme fordern zumindest implizit ein auf sie bezogenes Bekenntnis ein, das weit über die Wirtschaft hinaus die Gesellschaft prägt. Auf der Grundlage des in der Mainstream-Ökonomie vertretenen normativen Individualismus sind Normen und Ziele allein aus den eigennützigen Bewertungen der betroffenen Individuen herzuleiten. Die Legitimität von Regeln folgt den Präferenzen der betroffenen Individuen: „… normative individualism is a meta-normative device for a ,proper‘ evaluative judgement on social states. In such context normative judgements about social states have to be derived from the judgements of the ,relevant‘ individuals“.2 Eigennützige Neigungen entscheiden über die inhaltliche Bestimmung dessen, was dem Menschen zusteht und was nicht. Eine solche Strategie normativer Ethik kommt mit hypothetischen Imperativen aus. Die Verbindlichkeit der Menschenwürde folgt keinem absoluten Wert außer dem des individuellen Nutzens. Soziale Zustände, Rechte und Pflichten sind in dem Maße legitim und damit der Menschenwürde entsprechend bzw. illegitim, wie sie von den Menschen, die von ihnen betroffen sind, auf der Grundlage ihrer rationalen Nutzenerwägungen für legitim befunden werden. In der ökonomischen Ethik findet der normative Individualismus eine Anwendung. Seine Konsequenzen für das Verständnis menschlicher Würde lassen sich am Beispiel des dort vertretenen Solidaritätsverständnisses veranschaulichen. Da2

Vanberg, S. 114.

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nach lassen sich etwa Sozialtransfers an Bedürftige allenfalls als „Duldungsprämien“ zur Minderung des gesellschaftlichen „Drohpotentials“3 konstruieren. Altersdemente, ungeborene, schwerstbehinderte Menschen, die den sozialen Frieden nicht gefährden könnten, fallen einem solchen Denken entsprechend durch das Netz solcher Solidarität. Die Sicherung eines Existenzminimums jenseits von Nutzenabwägungen kann dann nicht schlüssig begründet, sondern allenfalls postuliert werden.4 Der normative Individualismus kann zudem die menschliche Würde nicht mehr sauber über die Würde anderer Lebewesen stellen: „Daraus folgt, dass bestimmte schwerstbehinderte Kinder keine menschlichen Wesen sind, auch wenn sie von menschlichen Eltern abstammen“.5 Der australische Soziologe P. Singer fragt weiter, warum kerngesunde Primaten weniger Rechte haben sollten als schwerstens behinderte Menschen. Und das bedeutet im Namen der Menschenwürde die Abschaffung ihrer Absolutheit. Das sozialistische Gegenmodell zu diesem radikal-liberalen Paradigma denkt die Würde nicht vom Individuum, sondern vom Kollektiv her: „Die Volksmassen stellen ihre Kraft dem sozialistischen Staat nicht einfach zur Verfügung. Indem sie sich die Politik von Partei und Staat aneignen, erlangen sie dadurch in zunehmendem Maße die Macht und die Fähigkeit, ihre eigenen Interessen zu vertreten“.6 Freiheit ist das, was die absolut herrschende Partei als solche definiert. Wer als junger, gesunder Mensch etwa die DDR verlassen wollte, verstieß gegen die Freiheit des Kollektivs. Deshalb waren die so genannten Republikflüchtigen wie Freiwild. Der Wert und die Würde des Menschen bemessen sich an der materiell zählbaren Leistung für das kollektive Ganze. Deshalb wurden auch die Rentner aus der DDR ohne größere Probleme in den Westen entlassen. Die Parteiapparate hatten so die Macht zu entscheiden, wer ein menschliches Subjekt ist und was ihm zusteht: „Der fortschrittliche Teil der Intelligenz, der auf die Positionen der Arbeiterklasse übergeht, wird zum Subjekt der Politik, während solche Angehörige dieser Schicht, die diesen Übergang nicht zu vollziehen vermögen, „Objekt“ der Politik der Arbeiterklasse bleiben“.7 Das Individuum mit seinen Talenten gehört nicht sich selbst, sondern dem anonymen Kollektiv. Und dieses – vertreten durch die Partei – teilt den einzelnen zu, was ihr solidarischer Auftrag im Dienst am Kollektiv ist. Der Wert der Würde bemisst sich in einem solchen normativen Kollektivismus also wieder an einem Nutzen: diesmal aber dem für das Kollektiv. Verpflichtet ist der Mensch dem wandelbaren kollektiven Nutzen und der von der Partei bestimmten Menschenwürde. Diese Verzweckung zeigt sich darin, dass Menschen der Status des Subjektes von der Partei zu- und abgesprochen wird. Eine solche Anthropologie nimmt die Entwürdigung der Menschen systematisch in Kauf. 3

Homann/Pies, S. 220. Batthyány. 5 Nussbaum, S. 199. 6 Huar, S. 142. 7 Huar, S. 146. 4

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Schon Josef Höffner verwirft diese beiden Weltanschauungen, die nur unterschiedliche Nutzenmodelle an die Stelle Gottes gestellt haben: „Nun beginnt der sozialutopische Traum als pseudoreligiöser Mythos die breiten Massen zu faszinieren … Wie im System des aufklärerischen Liberalismus so ist auch im genuinen Marxismus kein Platz für die Sozialpolitik im engeren Sinn des Härtenausgleichs. Nur ist in der säkularisierten Eschatologie des Marxismus der kollektivistische Faktor an die Stelle des individualistischen getreten. Beiden Systemen liegt ein irriges, unwirkliches Menschenbild zugrunde, weil der echte personale Faktor ausgeschlossen wird.“8 III. Personalität als Gegenmodell Die Enzyklika folgt in ihrer Begründung der Menschenwürde den Grundgedanken der Katholischen Soziallehre, die der Papst versteht als „Dienst an der Wahrheit, die befreit. Offen für die Wahrheit, gleichgültig aus welcher Wissensrichtung sie kommt, nimmt die Soziallehre der Kirche sie auf, setzt die Bruchstücke, in der sie sie häufig vorfindet, zu einer Einheit zusammen und vermittelt sie in die immer neue Lebenspraxis der Gesellschaft“ (CIV 9). Benedikt XVI. hält selbstverständlich an den Sozialprinzipien Personalität, Solidarität und Subsidiarität fest. Die Prinzipien werden nicht zu allein moralischen Imperativen herabgestuft, die der Tugend der Liebe untergeordnet sind. Vielmehr verbriefen sie ganz im Sinne der Tradition der Katholischen Soziallehre nach wie vor einklagbare Rechte und Pflichten. So fordert im Sinne der Soziallehre etwa die Solidarität ein Rechtsverhältnis „in solidum“, mit dem jedes Mitglied für eine Gruppe von Schuldnern oder die gesamte Gruppe für jedes ihrer Mitglieder haftet. Einer solche juristischen Auslegung entsprechend wird etwa das Rechtsprinzip der Solidarität von der emotionalen Brüderlichkeit unterschieden: „Brüderlichkeit ist gewiss ein überaus hoher sittlicher Wert, aber streng genommen nicht Gegenstand eines rechtlichen Anspruchs … Solidarität … ist … Rechtspflicht. Die Übung dieser Solidarität ist ein für die Gemeinschaft hochbedeutendes Gut; darauf, dass sie geübt wird, hat jedes Glied der Gemeinschaft allen anderen gegenüber streng rechtlichen Anspruch.“9 Das christliche Menschenbild begründet solche absoluten Rechte und Pflichten. Schon dem biblischen Schöpfungsbericht zufolge ist der Mensch Abbild Gottes, von Gott zuerst geliebt und zur Liebe berufen, frei, sozial, dialogisch und verführbar mit Hang zu Egoismus, Triebsteuerung, Machtgier und doch mit Gott versöhnt. Der Mensch trägt eine wesenhafte Zielbestimmung in sich. Daraus leiten sich vom Nutzen unabhängige Rechte und Pflichten jedes Menschen ab. Der Mensch entfaltet seine Bestimmung als Person, wenn er seiner natürlichen Bestimmung als Mensch entsprechend leben kann. Jeder soll dabei subsidiär den Beitrag leisten, den er leisten kann. Im Sinne des „Einer für alle, alle für einen“ besteht zugleich die unbedingte, juristisch zu garantierende Pflicht einer Ordnung, jeden Menschen zu befähigen, ei8 9

Höffner (1960), S. 8 f. Nell-Breuning (1985), S. 116.

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genverantwortlich seine Personalität nach besten Kräften zu entfalten. Das gilt dann selbstverständlich auch für ungeborene, behinderte oder altersdemente Menschen. Jeder Mensch hat damit das in seinem Personsein begründete Recht und die Pflicht auf die Entfaltung von Sozialverantwortung wie auch die Pflicht, gut begründete Eingriffe (etwa Steuern zur Finanzierung solidarischer Sozialtransfers) in sein Privateigentum zuzulassen.10 Wenn der Mensch seine individuelle Freiheit (Kreativität und Phantasie, Fleiß und Ehrgeiz) und seine Sozialnatur (Freundschaft, Partnerschaft, Familie), Eigen- und Sozialverantwortung entfalten kann, lebt er seiner Bestimmung entsprechend. Ist dieses humane Ziel erreicht, entfaltet der Mensch sein Personsein. Die Materialisierung der Menschen- als Naturrechte realisiert die objektiv verstandene Personalität durch Abwehrrechte wie Lebensschutz, Religionsfreiheit, Pressefreiheit (negative Freiheit) sowie durch soziale Befähigungsrechte wie die auf Gesundheit, Kleidung, Bildung (positive Freiheit). Der Mensch ist von Gott zum Personsein gerufen. Aus Sicht des Papstes stellt uns unsere Gegenwart „unaufschiebbar vor Entscheidungen, die zunehmend die Bestimmung des Menschen selbst betreffen, der im Übrigen nicht von seiner Natur absehen kann“ (CIV 21). Wo der Mensch daran gehindert ist, entsprechend seiner physischen, psychischen und geistigen Möglichkeiten seine Bestimmung zu entfalten, liegt ein Verstoß vor gegen das „Prinzip der zentralen Stellung der menschlichen Person“ (CIV 47). IV. Wahrheit durch Liebe Der personale Ansatz setzt eine Erkenntnis der Wahrheit über den Menschen voraus. Die Enzyklika sieht sich im „Dienst an der Wahrheit, die befreit“ (CIV 9). Für die Erkenntnis der Wahrheit und damit die Begründung der Personalitätsidee samt der daraus abgeleiteten objektiven Rechte und Pflichten ist der Mensch nicht allein auf die Bibel angewiesen. Denn Vernunft und Gewissen sind wahrheitsfähig: „Der Mensch erkennt Gut und Böse“ (Gen 3,22). Zeitlos gültige Naturrechte und -pflichten können mithilfe der Vernunft erkannt werden: „Die Soziallehre der Kirche argumentiert von der Vernunft und vom Naturrecht her, das heißt von dem aus, was allen Menschen wesensgemäß ist“ (DCE 28). Der Mensch ist in der Lage, seine Vernunft als ,Ratio recta‘ auf Gott hin auszurichten und die gottgegebene Wahrheit über die menschliche Bestimmung zu erkennen. Diese rechte Vernunft kann die Wahrheit aber nicht vollkommen erkennen. Denn sie hat nur Teil an der göttlichen Vernunft. So also sind die Erkenntnisse über die menschliche Würde und das Personsein nicht identisch mit der göttlichen Wahrheit, aber auch nicht ganz von ihr verschieden, und deshalb analog. Es bleiben aber Fragen an diese Vernunfterkenntnis: Wie kann die Vernunft überhaupt auf Gott hin ausgerichtet werden?

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Für einen Sozialstaatsentwurf, der dieser Idee entspricht, vgl. Nass (2006).

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Da selbst die rechte Vernunft menschlich bleibt, wie kann sie dann etwas Absolutes auch nur analog erkennen? Die Erkenntnis der Wahrheit kann nicht auf die Vernunft alleine vertrauen: „Nur jener Humanismus … ist der wahre, der sich zum Absoluten hin öffnet“ (PP 42, CIV 16). Die Grundhaltung der Liebe ermöglicht eine solche Öffnung. Nicht etwa, um den juristischen Charakter der Sozialprinzipien auszuhöhlen, sondern in diesem erkenntnistheoretischen Sinne rückt die Liebe ins Zentrum: „Die Liebe ist der Hauptweg der Soziallehre der Kirche“ (CIV 2). „,Caritas in veritate‘ ist das Prinzip, um das die Soziallehre der Kirche kreist“ (CIV 6). Die Liebe ist Vehikel für die Erkenntnis der Wahrheit, indem sie die Vernunft auf Gott hin ausrichtet. Sie greift damit in die normative Ethik ein und ist sogar deren Möglichkeitsbedingung: „Es geht darum, die Vernunft auszuweiten und sie fähig zu machen, jene eindrucksvollen Dynamiken zu erkennen und auszurichten, indem man sie im Sinn jener ,Kultur der Liebe‘ beseelt, deren Samen Gott in jedes Volk und in jede Kultur gelegt hat“ (CIV 33). Personale Wahrheitserkenntnis gelingt nur mit einer Grundhaltung von Vernunft in Liebe. Der Mensch kann nur so als Person das unbedingt Wahre und Gute erkennen. Der Habitus der Liebe befreit die Vernunft auf die uns von Gott zuerst geschenkte Liebe hin. Er macht uns frei von Habgiersucht und macht uns bereit zu teilen (Armut vor Gott). Sie befreit uns von Hybris und macht uns zugänglich für die uns übersteigende Wahrheit (Gehorsam vor Gott). Sie macht uns frei von einer Sucht, unkontrolliert körperlichen Trieben nachzugeben, und schenkt uns Kreativität und Selbstwert (Leidenschaft vor Gott). Die Menschen sollen sich als von Gottes Liebe Beschenkte und deshalb als zur Liebe Berufene verstehen. Solche Verantwortung schenkt wahre Freiheit und soll die Welt durchdringen: „Jeder findet sein Glück, indem er in den Plan einwilligt, den Gott für ihn hat, um ihn vollkommen zu verwirklichen: In diesem Plan findet er nämlich seine Wahrheit, und indem er dieser Wahrheit zustimmt, wird er frei“ (CIV 1). V. Katholische Soziallehre und kantianische Deontologie Eine solche Sicht halten zahlreiche katholische Sozialethiker der Gegenwart inzwischen für ,vormodern‘. Um sich in Begründungsdiskussionen zum Thema der Würde als anschlussfähig auszuweisen, gilt die Berufung auf Kant dagegen als unproblematisch. In seiner besonderen Wertschätzung der Vernunft für die Begründung der Würde folgt Papst Benedikt XVI. aber keineswegs einen Paradigmenwechsel vom Naturrecht zu einer kantischen Vernunftethik. Bei Immanuel Kant tritt für die Begründung einer absoluten Menschenwürde eine Selbsterkenntnis der Vernunft an die Stelle naturrechtlicher Wesensschau. Sie begründet mit kategorischen Imperativen absolute ethische Normen, Rechte und Pflichten. Die Vernunft folgt in der Bestimmung der Vernunftgesetze bereits notwen-

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dig diesen Gesetzen und gibt sich also ihr Sollen selbst, indem sie ihre Denknotwendigkeiten erkennt (als transzendentale Erkenntnis) und ihnen entsprechend verfährt. Da sie objektive Gültigkeit beanspruchen, sind solche Regeln einer subjektiven Auslegung durch individuelle oder kollektive Neigungen entzogen. Die praktische Vernunft begründet im Sittengesetz die absolute, unbedingte Referenz kantischer Ethik: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte“.11 Regeln sind dann absolut weil denknotwendig, wenn sie der autonomen Vernunft folgen. Autonomie liegt dann vor, wenn die Individuen sich neigungsfrei ihre Gesetze geben. Nutzenabhängige Neigungen dagegen zerstören die Autonomie. Die Absolutheit ethischer Normen folgt aus dieser formalen Universalisierbarkeit des Wollens, so dass das Sittengesetz und die daran orientierte autonome Vernunft das absolute Prinzip der Moral sind. Kant zufolge ist jeder Mensch (nicht allein der vernünftige Mensch) immer zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel zu behandeln. Schwerstens geistig behinderte oder ungeborene Menschen rechnen im Sinne des autonomen Ansatzes aber selbstverständlich zu den Menschen. Und so gilt der absolute Anspruch zur Menschenwürde im kantischen Denkmodell zumindest als Postulat für Vernunftbegabte und für Nicht-Vernunftbegabte gleichermaßen. Theonomie und kantische Autonomie verbindet die Vorstellung einer absoluten Menschenwürde mit entsprechend absolut begründbaren Rechten und Pflichten. Einmal wird das Naturgesetz durch die rechte Vernunft in Liebe erkannt. Das andere Mal wird das Sittengesetz durch die autonome Vernunft vorausgesetzt. Solidarität als das unbedingt meinem Gegenüber geschuldete Sollen ist einmal aus der personalen Bestimmung des Menschen, einmal aus der Denknotwendigkeit der Vernunft abgeleitet. Beide Sichtweisen ließen sich christlich denken. Der autonome Ansatz aber kann eine grundlegende Unstimmigkeit nicht überwinden. Für die Vernünftigen gilt mit Kant schlüssig die absolute Würde: „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“ Anders als in dem kategorischen Imperativ, der den Selbstzweck des Menschen als denknotwendig betont, verschwimmen hier aber wieder die Grenzen zu anderen Geschöpfen. Und wie soll die Würde der Menschen begründet sein, die den Zustand der Autonomie (noch) nicht erreicht haben? Der Würdeschutz der Unvernünftigen und die daraus abzuleitende unbedingte Solidarität ihnen gegenüber folgen einer bloßen Neigung, so dass sich für diese allein ein hypothetischer Imperativ der Würde formulieren lässt. Der kategorische Imperativ zum Schutz der Würde auch für die Nicht-Vernunftbegabten beruht nicht auf transzendentaler Erkenntnis. Denn die Denknotwendigkeit der Vernunft hängt nicht von diesem Imperativ ab. Absolute Menschenwürde bleibt hier ein Postulat. Die normative Ethik im Sinne der Katholischen Soziallehre ist zwingend personal. Der theonome Ansatz begründet dazu stimmig die unantastbare Würde des Menschen mit den Sozialprinzipien, aus denen sich juristisch einklagbare Rechte und 11

Kant, Bd. IV, S. 422.

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Pflichten des Menschen (wie etwa die Hilfe zur Selbsthilfe) ergeben. In pluralistischem Kontext ist diese normative Ethik zugleich offen für humanistische Koalitionen etwa mit kantischen Ansätzen, die sich relativierenden Ethiken der Entwürdigung entgegen stellen, ohne aber ihr eigenes theonomes Verständnis leugnen zu müssen. VI. Eine Krise des Ethos „Die beiden gewaltigen Seelenübel, an denen unsere geselligen Beziehungen krank daniederliegen, sind teils die unersättliche Genuß- und Habgier, teils die Selbstsucht, welche die Nächstenliebe zerstört hat. Diese Krankheit hat die Reichen und Armen ergriffen. Was vermögen die Steuerverteilungen …, solange diese Gesinnung fortbesteht? Diesem inneren Verhältnis gegenüber ist die Welt mit allen ihren Lehren gänzlich ohnmächtig, während das Christentum die ganze Macht seiner Lehre eben auf die Gesinnung, die innere Beseelung der Menschen richtet.“12

Was Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler schon in seinen Adventspredigten 1848 anprangerte, macht Benedikt XVI. verantwortlich für die nicht allein ökonomische Fehlentwicklung in der Welt.13 Der Papst richtet seinen Blick nicht allein auf die normative Idee einer humanistischen Synthese, sondern auch auf jeden einzelnen. Er fordert einen neuen Geist der Liebe, der eine Vergötterung von Markt und Technik im Kleinen und Großen überwindet und uns durch unsere ersten Schritte im Umgang miteinander als Menschheitsfamilie mehr und mehr zusammenwachsen lässt. Die Krise des Ethos lässt sich exemplarisch in Deutschland beobachten. Wir leben aktuellen Gesellschaftsstudien entsprechend in einer Zeit der Sinnfragen. Ein Zeichen der Zeit heute ist die Suche nach erkennbaren Profilen. Traditionelle Werte und vor allem soziale Tugenden sind in der jungen Generation wieder „entstaubt“14. Zunehmend hoch im Kurs stehen Familie, Freundschaft, Treue, Fleiß, Ehrgeiz. Nur 5 % der Jugend meint, ein Leben ohne Kinder verspreche mehr Glück. Die Sehnsucht nach emotional erlebter Gemeinschaft spielt eine zunehmende Rolle. Offensichtlich wurde dies etwa bei großen Sportereignissen oder Weltjugendtagen. Was vermisst wird, sind ein Wir-Gefühl und glaubwürdige Vorbilder. Dagegen stehen Realitäten wie eine Desolidarisierung (Nehmer- und/oder Versorgungsmentalität durch alle Gesellschaftsschichten, wie es W. von Ketteler schon für seine Zeit kritisierte) und Anonymisierung (Erosion der Familien, Vereinsamung von alten Menschen, zunehmende Sinnkrisen grade bei jungen Menschen: Sucht, Depressionen). Moderne Netzwerke im Internet, die Privates im Netz verbreiten und den virtuellen Eindruck von Gemeinschaft vermitteln, heben diese Entwicklung keineswegs auf.

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Ketteler, S. 107 – 109 Die Betonung der Gesinnungsethik ist eine Position des frühen Ketteler, von der er später abwich. Vgl. Stegmann/Langhorst, S. 619 – 644 und Küppers. 14 Deutsche Shell (2006). 13

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Zu beobachten ist auch eine wachsende parteipolitische Heimatlosigkeit bei einer zunehmenden politischen Positionierung.15 Den Shell Jugendstudien entsprechend hat sich in Deutschland die Zahl der politisch Interessierten in der jungen Generation von 30 % (2002) über 35 % (2006) auf 37 % (2010) erhöht.16 Gleichzeitig hat sich der Anteil derer ohne politische Positionierung von 22 % in 2002 auf 15 % in 2006 deutlich vermindert, während die allgemeine Politikverdrossenheit auch im Jahr 2010 anhält.17 Immerhin 41 % der Jugendlichen trauen im Jahr 2006 keiner der politischen Parteien Lösungskompetenz für die wichtigen Probleme in Deutschland zu. Ein Grund dafür sind offenbar nicht eingelöste bzw. nicht lebbare soziale Werte und Tugenden (Familie, Treue etc.).18 Wo aber finden diese Menschen ihre Positionierung? Die Piratenpartei ist inzwischen in diese Lücke eingetreten, ohne überzeugende Antworten anzubieten. Es breitet sich ein Bewusstsein unterdrückter Ideale aus. Auch die Texte in der deutschen Musikszene haben sich gewandelt. Erfolgreiche Bands beklagen in ihren Texten mangelndes Ethos und verlorenen sozialen Zusammenhalt (Cassandra Steen, MIA, Silbermond, Sportfreunde Stiller, Wir sind Helden u. a.). Eine empfundene Spannung zwischen Idealen und Wirklichkeit führt zu einer inneren Distanzierung von der gesellschaftlichen Praxis: „Der Verlust übergeordneter Werte, die für den Zusammenhalt von Solidargemeinschaften notwendig sind, und die dem einzelnen eine Orientierung in Bezug auf sein Handeln geben, begünstigt die Verrohung des einzelnen sowie die gegenseitige Entfremdung“.19 VII. Gründe gesellschaftlicher Anonymität Mit seiner Forderung nach einem humanistischen Ethos wendet sich der Papst deutlich von einer Institutionenethik ab, die Gerechtigkeit und Freiheit vor allem in der Gestaltung von guten Regeln und Gesetzen sah. Er betont die Bedeutung der Tugendethik wieder mit neuer Kraft und kann sich dabei nicht allein auf den Sozialkatholizismus im 19. Jahrhundert, sondern etwa auch auf GS 11 und CA 44 berufen: „Notwendig ist ein tatsächlicher Gesinnungswandel“ (CIV 51). Die weltanschaulichen Begründung des normativen Individualismus setzt auf den sozialen Zusammenhalt einer ,moralischen Ordnung‘, wie sie von J. Buchanan in Abgrenzung zu einer ,moralischen Gemeinschaft‘ gefordert wird.20 Die moralische Ordnung unterstellt im Miteinander eine emotionale Indifferenz der Individuen zueinander. Der den sozialen Frieden garantierende Geist beschränkt sich 15 Für eine Übersicht zu dieser Entwicklung in den Jahren von 2002 bis 2010 vgl. Deutsche Shell (2010), S. 143. 16 Deutsche Shell (2010), S. 20. 17 Deutsche Shell (2010), S. 21. 18 Vgl. Nass, Werte. 19 Hegner, S. 38. 20 Buchanan.

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auf eine die Individuen verbindende gemeinsame Verpflichtung der normativ individualistisch legitimierten Menschenwürde gegenüber. Dieses Ethos soll zu einem gegenseitigen Respekt der Individuen mit Toleranz führen – ohne weitergehende affektive Gefühle. Gebunden an eine nur relative Vorstellung der Menschenwürde ist ein solches weit verbreitetes Ethos mit verantwortlich für die anfangs skizzierten Krisen. Ein kantisches Ethos will dagegen auf eine absolute Würde verpflichten. Rechtsund Tugendpflicht sind dort unterschieden. Die Rechtspflicht fordert als Loyalität zu den Gesetzen eine äußerliche Konformität, unabhängig davon, ob die Betroffenen mit den Inhalten der Gesetze übereinstimmen. Sie wird aus der Überlegung befolgt, Strafe zu vermeiden. So lässt sich auch ein Volk von Teufeln unter Wahrung einer absoluten Menschenwürde legitim regieren. Dem Menschen wohnen neben dem natürlichen Hang zum Bösen auch ein Naturstreben nach Glückseligkeit und eine Gnade inne, die dazu befähigen, empfundenen Zwang auch deshalb zu akzeptieren, weil eine solche Loyalität letztlich den Weg zum Guten weist. Die Motivation dazu folgt einer inneren Überzeugung, nicht aber der Neigung. Der autonome Mensch bejaht neigungsfrei die absoluten moralischen Gesetze, ohne dabei Zwang zu empfinden. Eine anonyme Pflichtbindung reicht also für den sozialen Zusammenhalt aus. VIII. Das affektive Gegenmodell der Liebe Die Liebe ist nicht allein Möglichkeitsbedingung normativer Ethik, sondern Benedikt XVI. zufolge zugleich der Schlüssel für die Lösung der Tugendkrise. Die Katholische Soziallehre fordert für die Umsetzung ihrer personalen Idee vom Menschen „die soziale Gerechtigkeit und die soziale Liebe“ (QA 88). Soziale Liebe ersetzt als Habitus ein „Geben um zu haben“ wie auch ein „Geben aus Pflicht“ (CIV 39). Die Einsicht in die gemeinsame personale Bestimmung bildet einen die Menschen verbindenden Geist und ebnet den Weg zu auf eine auch emotionale „Einheit des Menschengeschlechts, eine brüderliche Gemeinschaft jenseits jedweder Teilung“ (CIV 34). Wie jedes menschliche Gegenüber ist jeder als zuerst von Gott Geliebter gerufen zu einer antwortenden Liebe. Antwortende soziale Liebe erwächst dem Bewusstsein, gemeinsam von Gott geliebt zu sein. Indem wir diese Liebe in unserem Gegenüber entdecken und sie ihm auch schenken, fühlen wir uns deshalb ihm und Gott zugleich verbunden. Die Tugend personaler Liebe lässt damit schon unsere in Gott vollendete Zukunft eschatologisch in der Gegenwart wirksam werden. Eine solche Beseelung, die nicht von dieser Welt, aber in diese Welt kommt, lässt uns unserem sozialen Miteinander ein humanes Gesicht geben: „Wenn das Handeln der Menschen auf Erden von der Liebe inspiriert und unterstützt wird, trägt es zum Aufbau einer universalen Stadt Gottes bei, auf die sich die Geschichte der Menschheitsfamilie zubewegt“ (CIV 7).

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IX. Affektivität nicht um jeden Preis Auch andere Motivationen können den Menschen emotional antreiben, dem Gegenüber nicht allein anonym und aus bloßer Pflichterfüllung zu begegnen. Der Geist der Anonymität soll etwa auch in der von J. Buchanan so genannten und von ihm verworfenen ,moralischen Gemeinschaft‘ überwunden werden. In ihr herrsche ein soziales Ethos, mit dem die Mitglieder ein starkes emotionales Zusammengehörigkeitsgefühl verbindet: ein affektiver Altruismus im Dienst des Kollektivs. Weil eine solche Gemeinschaft ein hohes Maß an emotionaler Identifikation einfordert, überwindet sie die gesellschaftliche Anonymität der Mitglieder. Der Zusammenhalt definiert sich hier durch eine inhaltlich bestimmte Ausgrenzung. Traditionelle soziale Tugenden im Dienste des wie auch immer definierten Kollektivs konstituieren das verbindende Ethos. Dies verspricht eine Überwindung der Anonymität durch eine emotionale Binnensolidarität, die nach außen hin aber desintegrierend wirken muss, um so ihre affektive Identität zu bewahren. Wer nicht zum Kollektiv dazugehört, kann etwa aufgrund nationalistischer, klassenkämpferischer oder krankheitsbedingter Gründe depersonalisiert, bekämpft, unterdrückt oder missachtet werden. Dieses Ethos entspricht der weltanschaulichen Begründung des normativen Kollektivismus. Gebunden an eine nur relative Vorstellung der Menschenwürde ist ein solches Ethos eine nicht zu unterschätzende Verlockung für viele Suchende unserer Tage. Beispiele dafür sind etwa Erfolge politisch radikaler Kräfte von rechts und links, von Sekten und Islamismus mit ihren weltanschaulich zu einfachen Klarheiten. Solidarität im Sinne dieser moralischen Gemeinschaft überwindet soziale Anonymität um den viel zu hohen Preis eines emotionalen Gegeneinanders. Die soziale Liebe ist dagegen der Personalisierung aller Menschen verpflichtet und überwindet soziale Anonymität durch ein emotionales Miteinander. Sie fordert in der antwortenden Liebe ein integrierendes Ethos und grenzt sich damit von der kollektivistischen Gemeinschaftstugend ab.

X. Der visionäre Weg aus der Krise Die große Krise wird vom Papst darin gesehen, dass falsche Vorstellungen von Menschenwürde und Tugend bestimmend wurden, die mit einer christlichen Sicht konkurrieren. Die Kritik der Enzyklika richtet sich vor allem gegen das weltanschauliche Programm eines verbreiteten normativen Individualismus, der statt des göttlichen Gesetzes und der daraus abgeleiteten Menschennatur die eigennützigen Interessen zur letzten normativen Instanz erhob und die Individualmoral durch eine anonyme Ethik der Institutionen ersetzt. Der Mensch, der Wirtschaft und Technik zum normativen Selbstzweck erhebt, beraubt sich seiner Würde und Freiheit (CIV 47, 70). Diese Herrschaft wird nunmehr mit der Enzyklika in einem großen ethischen Wurf grundsätzlich zur Verantwortung gezogen, und ein visionäres Gegenmodell wird als christlich-humanistische Alternative dagegen gestellt. Der Papst

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setzt dazu auf eine humanistische Fundierung einer legitimen Ordnung und tugendethisch auf ein Ethos, das ihr entspricht. Die bislang geführte Diskussion um Wertbegründung und Ethos erlaubt jetzt eine Zusammenschau von vier grundlegenden weltanschaulichen Paradigmen der Ethik, aus der sich das Profil der vom Papst in seiner Enzyklika entworfenen Ethik zum Weg aus der Krise erschließen lässt. Die Relativierung der Menschenwürde ist zu überwinden. Daraus folgt, dass die normativ individualistische Orientierung (2), die eine anonyme Loyalität der Gesellschaft unterstellt, ebenso abgelehnt wird wie ein normativer Kollektivismus (4), der einen affektiven Zusammenhalt durch Diskriminierung erzielt. Eine im Sinne kantischer Vernunftethik autonome Pflichtbindung der Gesellschaft (1) verspricht zwar eine Begründung absoluter Menschenwürde, doch erschweren deren immanente Kohärenzprobleme sowie die Idee einer anonymen gesellschaftlichen Loyalität deren Anschlussfähigkeit an das Gesellschaftsideal, welches Benedikt XVI. im Sinne der Katholische Soziallehre vertritt. Deren Paradigma ist die Orientierung an der personalen Idee sozialer Liebe (3), welche eine stimmige Begründung absoluter Menschenwürde und das Ideal einer affektiven Tugend in der Gesellschaft eint. Tugend

Menschenwürde absolut

relativ

Anonym

autonome Pflicht (1)

normativ individualistische ,moralische Ordnung‘ (2)

Affektiv

personale soziale Liebe (3)

normativ kollektivistische ,moralische Gemeinschaft‘ (4)

Die Ethik personaler sozialer Liebe ist die Antwort auf die Begründungs- und Ethoskrise der Gegenwart. Sie steht in der Tradition der Katholischen Soziallehre, die schon Papst Paul VI. als „Humanismus im Vollsinn des Wortes“ (PP 42) bezeichnet hat. Benedikt XVI. versteht diese Ethik als einen neuen Humanismus (PP 66, CIV 19). Mit ihrer durch Vernunft in Liebe möglichen Offenheit für die Transzendenz kann Ethik sich wieder zu einer objektiven Wahrheit öffnen: „Die große Kraft im Dienst der Entwicklung ist daher ein christlicher Humanismus, der die Liebe belebt und sich von der Wahrheit leiten lässt“ (CIV 78). Die angestrebte personale Befreiung jedes Menschen (individuelle Dimension: CIV 1) sowie die Materialisierung der bislang nur formal garantierten Menschenrechte durch eine „neue humanistische Synthese“ (soziale Dimension: CIV 21) folgen einer Vision, die keine bloße Utopie sein will. Teil dieser Vision ist die politische Weltautorität. Um mit den Menschenrechten ernst zu machen, muss die Festlegung einer objektiv begründeten universal gültigen Verfassungsidee, die auch Grundlage für juristische Sanktionen gegen Verstöße (etwa von Regierungen) beinhaltet, auf internationaler Ebene verbindlich festgelegt werden. Die Weltreligionen haben dazu eine wichtige Vorarbeit zu leisten, damit sich universale Verfassungsgeber auf eine weltumspannende Idee des normativen Humanismus einigen können,

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der für alle Menschen guten Willens akzeptierbar und auch durchsetzbar ist. Vor allem wird viel davon abhängen, ob sich einflussreiche geistliche Führer des Islam in Anknüpfung an die eigene aristotelische Tradition, an gemäßigte Rechtstraditionen oder auf anderem Wege gegenüber der normativ humanistischen Menschenrechtsidee gegenüber öffnen werden. Dann erst ist der Weg frei, sich mit einiger Erfolgsaussicht gemeinsam an eine entsprechende Kodifizierung zu begeben.21 Nicht zu unterschätzen sind darüber hinaus die Hindernisse, die der Dialog mit anderen Religionen und Weltanschauungen bringen kann: etwa mit dem Buddhismus, dem Hinduismus, dem Konfuzianismus und besonders den ausdrücklich nicht humanistischen Diktaturen. Dennoch ist die Notwendigkeit der Synthese keine bloße Fiktion. Die Weltgemeinschaft steht auf dem Weg zu dieser Installierung einer starken politischen Weltautorität auf humanistischem Fundament keineswegs vor dem Nichts. Die Menschenrechts-Charta verlangt geradezu nach einer solchen Institution, um das formal bereits Beschlossene zu materialisieren. Der nächste Schritt wird also sein, mit Verweis auf die Charta auf deren Durchsetzung zu drängen, um so eine universale Synthese zu erzielen, die eine starke Weltautorität legitimiert. Ein langer, aber im Sinne des Humanismus im Vollsinn alternativloser Weg liegt vor uns: „Es ist daher ein unablässiger Einsatz zur Förderung einer personalistischen und gemeinschaftlichen sowie für die Transzendenz offenen kulturellen Ausrichtung des globalen Integrationsprozesses erforderlich“ (CIV 42). Literatur Batthyány, Philipp: Zwang als Grundübel in der Gesellschaft? Der Begriff des Zwangs bei Friedrich August von Hayek, Tübingen, 2007. Böckenförde, Ernst-W.: Die Würde des Menschen war unantastbar, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. September 2003, S. 33 – 35. Buchanan, James M.: Moral und Gemeinschaft in der offenen Ordnung des Marktes, in: Vanberg, Viktor (Hg.): Freiheit, Wettbewerb und Wirtschaftsordnung. Hommage zum 100. Geburtstag von Friedrich A. von Hayek, Freiburg / Berlin / München, 1999, S. 13 – 36. Deutsche Shell: Jugend 2006. Eine pragmatische Generation unter Druck, Frankfurt a.M., 2006. – Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich, Frankfurt a.M., 2010. Hegner, Jan: Alexander Rüstow. Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart, 2000. Herdegen, Matthias: Kommentar zu Art. 1 Abs. 1, in: Maunz, Theodor / Dürig, Günter (Hg.): Grundgesetz, Kommentar (Loseblattsammlung), München, 2003. Höffner, Joseph: Der Start zu einer neuen Sozialpolitik, Köln, 1956. – Soziale Sicherheit und Eigenverantwortung. Der personale Faktor in der Sozialpolitik, Paderborn, 1960. 21

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Bemerkungen zu den philosophischen Grundlagen der Enzyklika ,Caritas in Veritate‘ Von Walter Schweidler Spätestens seit Papst Benedikt XVI. als Implikation der Identität unseres christlichen Glaubens die Verteidigung des unverkürzten Anspruchs der Vernunft und die providentielle Bedeutung der griechischen Metaphysik für dessen begriffliche Explikation hervorgehoben hat,1 gibt es kaum einen Zweifel mehr, dass vom Heiligen Stuhl nach der Johannes Pauls II. mit der Benedikts noch einmal die Stimme eines Philosophen ertönt. Daraus kann man den Mut schöpfen, die weitgespannten und in vielschichtiger Weise auf die Tradition des Lehramts zurückgreifenden Reflexionen der Enzyklika ,Caritas in veritate‘ unter einem spezifisch philosophischen Blickwinkel zu betrachten, der natürlich nur eine Seite davon beleuchten kann. Diese, also die philosophische Seite der Enzyklika in ihren wichtigsten Elementen zu skizzieren ist das Ziel der folgenden Bemerkungen; sie können und wollen nicht hinreichend sein, um das Ganze zu umfassen. I. Liebe als Grund der Welt Die Titel und Thema bestimmende Verknüpfung von Liebe und Wahrheit konkretisiert sich in der Enzyklika durchgängig zunächst einmal als Prinzip der Präzisierung des Liebesbegriffs. Liebe ist, so könnte man die negative Ausgangsfeststellung schlagwortartig charakterisieren, nicht auf ein Gefühl reduzierbar. Eben die Wahrheit ist es, was eine Gleichsetzung von Liebe und rein subjektiver Emotion unmöglich macht. „Ohne Wahrheit gleitet die Liebe in Sentimentalität ab.“ (CIV 3) Das ist für manch psychopädagogisch verstimmtes Gehör schon ein Reizton, aber wenn man den Überblick über das Ganze unseres Glaubens behält, erkennt man in dieser zentralen Ausgangsbestimmung das Leitmotiv für jegliches Verständnis der Weite unserer Vernunft. Es geht gerade nicht darum, die Liebe in eine rationalistische Engführung zu pressen, sondern umgekehrt sie noch eine Klammer um alle Ratio ziehen zu lassen: in der Liebe erfüllt sich, was uns jeglicher Zugang zur Wahrheit eröffnet – geschehe er durch die Wissenschaften, die Religionen oder wodurch auch immer. Der positive Grund der Abgrenzung von Liebe und Emotion liegt also nicht in irgend einem gefühlsdistanzierten Rationalismus, sondern darin, dass der Ursprung der Liebe nicht in uns, sondern in Gott, dem Schöpfer, liegt, weil sie, seine Liebe, der 1 Beides exemplarisch in der „Regensburger Rede“; vgl. dazu auch Schweidler (2009), S. 93 – 104.

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Grund der Schöpfung ist wie auch die Zusammenfassung des ganzen Gesetzes (CIV 2), das uns durch diese Schöpfung gegeben ist. So ist die Liebe entscheidend dafür, dass wir die Schöpfung überhaupt zugleich als aus dem Wesen Gottes selbst hervorgehend (ursprüngliche Liebe des Vaters zum Sohn im Heiligen Geist, CIV 5) und gleichwohl absolut frei und also als Gnade (CIV 5) denken können. Hierin liegt die Bekräftigung eines enormen, auch und gerade philosophisch relevanten Erkenntnisanspruchs des Inhalts des christlichen Glaubens als einer Erklärung für den Grund der Existenz der Welt. Dass die Entstehung der Welt nicht als kausale Verknüpfung zwischen einer Ursache und ihrer Wirkung begriffen werden kann, sondern dass wir sie nur unter einem wie auch immer zu präzisierenden normativen Gesichtspunkt, dass es „so besser ist“ als existierte sie nicht, zu fassen vermögen, ist ja eine Einsicht, die die ontologische Spekulation des heiligen Thomas noch mit den Grenzreflexionen der heutigen Kosmologie und Wissenschaftstheorie verbindet.2 Mit der Liebe steht daher nicht etwa nur ein ethisches oder anthropologisches, sondern ein unüberbietbar zentrales ontologisches Prinzip des christlichen Glaubens im Zentrum dieser Enzyklika. II. Ordo amoris Das Thema der Enzyklika sind aber im Kern natürlich nicht ontologische, sondern ethische und soziale Verhältnisse. Auch auf dieser Ebene ist gleichwohl die Abgrenzung gegen jeden Gefühls- oder Spontaneitätskult vorausgesetzt. „Ein Christentum der Liebe ohne Wahrheit kann leicht mit einem Vorrat an guten, für das gesellschaftliche Zusammenleben nützlichen, aber nebensächlichen Gefühlen verwechselt werden.“ (CIV 4) Es steht also mit dem Bezug der Liebe auf die Wahrheit die Unverwechselbarkeit des christlichen Glaubens auf dem Spiel. Es geht auch auf der praktischen, der ethisch-sozialen Ebene um die Erkenntnis, die auf dem Grund ihrer Verknüpfung mit der Wahrheit das Wesen der Liebe ausmacht.3 Der Inhalt dieser Erkenntnis ist die gesamte von der Soziallehre der Kirche beschriebene Verantwortung und Verpflichtung. (CIV 2) Die positive Charakterisierung dessen, was die Liebe ist, wenn nicht Gefühl, lautet daher: sie ist Prinzip des Inhalts und der Struktur einer Ordnung, nämlich derjenigen Ordnung, die für unsere Verantwortung und Verpflichtung gegenüber unseren Mitmenschen konstitutiv ist. Liebe ist wesentlich Ordnung: das klingt zugegebenermaßen etwas zu preußisch, aber wieder muss man sich klarmachen, dass eben nur so der Sinn der Ordnung zwischen Menschen zu begreifen ist. Nur dadurch kann für ein endliches Wesen die Liebe zur Tat werden, dass es erkennt, wer gerade seines Einsatzes und wer dessen mehr als jedes andere bedarf. Es geht hier also um eine kulturell konstituierte Staf2

Vgl. dazu etwa Rescher, S. 213 ff. Vgl. ,Caritas in Veritate‘ Abschnitt 75: „Gott enthüllt dem Menschen den Menschen; die Vernunft und der Glaube arbeiten zusammen, ihm das Gute zu zeigen, wenn er es nur sehen wollte; das Naturrecht, in dem die schöpferische Vernunft aufscheint, zeigt die Größe des Menschen auf, aber auch sein Elend, wenn er den Ruf der moralischen Wahrheit nicht annimmt.“ 3

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felung, die uns erkennen lässt, wem wir je so verpflichtet sind, dass unser Leben von ihm her seine Orientierung empfängt. Der klassische Begriff für diese Ordnung ist der augustinische „ordo amoris“, wie er in neuerer Zeit von Philosophen wie Max Scheler und Robert Spaemann als ethisches Prinzip fundamental neu formuliert worden ist.4 Es ist gerade diese Ordnung, aufgrund derer wir als Christen die Liebe als allumfassend verstehen können. Wäre Liebe ein Gefühl und wäre es in unser subjektives Belieben gestellt, wem wir sie widmen, dann genau wäre sie ein Faktum unter unüberschaubar vielen anderen Fakten; denn Gefühle und Geschmackspräferenzen gibt es viele. Nur wenn die Liebe eine Gliederung des Weltganzen konstituiert, kann man sie als den Grund der Schöpfung und zugleich des diesen Grund in ihr repräsentierenden menschlichen Daseins begreifen. Darum aber hängt die Unverwechselbarkeit des christlichen Glaubens und mit ihr die genuin christliche Begründung von Solidarität und Subsidiarität als Prinzipien der Soziallehre der Kirche entscheidend an dem Objektivitätsanspruch, der die christliche Forderung der Nächstenliebe von jedem wie auch immer motivierten abstrakten Altruismus unterscheidet. Die Ordnung der Liebe als Prinzip der christlichen Auffassung von menschlicher Verantwortung ergibt sich einfach aus dem Urparadox, dass wir als zugleich vernünftige und endliche Wesen den universalen Anspruch der Humanität, also unsere Verantwortung vor der Menschheit überhaupt, prinzipiell nur gegenüber den Wenigen zu erfüllen vermögen, zu denen wir durch die Umstände unserer Geburt und unseres Lebensweges in eine konkrete Beziehung treten. Was ich der Menschheit in mir und uns allen schulde, das kann ich nur und muss ich auch gerade gegenüber meiner Familie, meiner Gemeinde, meinen Freunden, meinen Nachbarn und jenen unvoraussehbar mir Begegnenden erfüllen, die durch die Umstände meines Berufs oder der sozialen und kulturellen Verhältnisse, etwa auch als in Not befindliche Bittsteller, so zu mir in Beziehung treten, dass ich die Verantwortung für sie nicht auf jemanden abschieben kann, der zwischen ihnen und mir stünde. Diesem, wie man sagen könnte, sozialen Fokus unserer universalen Perspektive kann niemand, der moralische Verantwortung übernehmen will, entgehen; selbst eine Mutter Theresa musste entscheiden, an welchem Platz sie ihre unbegrenzte Hilfsbereitschaft zu leben hatte. Durch den ordo amoris sieht sich jeder Mensch in eine kulturell und sozial konstituierte Ordnung der Nähe versetzt, aus der er entnehmen muss, wem er primär und eher verantwortlich ist als anderen. Und zu wissen, wem man konkret verpflichtet ist, gehört zum Kern moralischer Einsicht nicht weniger als all das, wozu man sich als verpflichtet erkennt. Wer lauthals Respekt vor fremden Lebensformen fordert, aber das Grab seiner Eltern verkommen lässt, benimmt sich nicht weniger abstoßend als ein intoleranter Hetzer. Ob man wirklich weiß, was sich gegenüber Menschen überhaupt gehört, zeigt sich am Verhalten gegenüber denen, zu denen man gehört, auch und gerade wenn man sie sich nicht aussuchen kann. „Die Wahrheit muß in der ,Ökonomie‘ der Liebe gesucht, gefunden und ausgedrückt werden, aber die Liebe muß ihrerseits im Licht der Wahrheit verstanden, betätigt und praktiziert werden.“ (CIV 2) 4

Vgl. dazu Spaemann (1989), S. 141 ff. und umfassend Kruse-Ebeling.

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III. Liebe als Gemeinschaft Als ethisches Prinzip wird die Liebe nun in dieser Enzyklika insbesondere auf die Fragen der richtigen Gestaltung einer sich auf dem Weg der Globalisierung entwickelnden humanen Gesellschaft angewendet. Als die beiden wesentlichen Orientierungsmaßstäbe, die dafür die Soziallehre der Kirche bereitstellt, werden die Gerechtigkeit und das Gemeinwohl genannt. (CIV 6) Die Liebe übersteigt die Gerechtigkeit, ist aber untrennbar mit ihr verbunden und enthält sie als ihr „Mindestmaß“. Insofern bildet das grundsätzliche Bekenntnis zur staatlichen und internationalen Ordnung der menschlichen Beziehungen auf der Basis der Menschenrechte, wie es durch das II. Vatikanum und die Enzykliken Papst Johannes Pauls II. unrelativierbar bekräftigt worden ist, auch die notwendige Voraussetzung für die kirchliche Soziallehre. Aber gerade der darüber hinausgehende Faktor, der bedingt, dass eine humane Gesellschaft „nicht nur durch Beziehungen auf der Grundlage von Rechten und Pflichten gefördert“ wird, „sondern noch mehr und zuerst durch Verbindungen, die durch Unentgeltlichkeit, Barmherzigkeit und Gemeinsamkeit gekennzeichnet sind“ (CIV 6), ist das Proprium der Nächstenliebe. Rechtsbeziehungen können sich nicht selbst begründen: Es gibt einen Aspekt der Gemeinschaftlichkeit, desjenigen also, was „meine“ Gesellschaft ausmacht, ohne den ich nicht verstehen kann, warum ich Mitglied „einer“ Gesellschaft sein und mich als solches benehmen soll. Diese gemeinschaftliche Dimension ist, gemäß dem mittlerweile geflügelten Böckenförde-Wort, auch noch die Existenzbedingung eines freiheitlichen und säkularen Staates.5 Sie ist vor allem der Hintergrund für den sehr komplizierten und komplexen Zusammenhang, der in der Enzyklika nur in der fundamentalen Feststellung markiert wird, dass entgegen jeder Relativierung und Nivellierung gerade die Vielfalt und Unverwechselbarkeit der Kulturen und Gesellschaften auf dem Erdball die unverfügbare Quelle gesamtmenschlicher Solidarität ist. „Eklektizismus und kulturelle Nivellierung laufen auf die Trennung der Kultur von der menschlichen Natur hinaus. So können die Kulturen ihr Maß nicht mehr in einer Natur finden, die über sie hinausgeht und reduzieren den Menschen schließlich auf ein bloß kulturelles Phänomen.“ (CIV 26) Es heißt eben das Pferd vom Schwanz her aufzuzäumen, wenn man meint, abstrakten Respekt vor „den Kulturen“ oder „der Verfassung“ und Verantwortung gegenüber „der Gesellschaft“ oder „der Umwelt“ predigen zu können, um daraus dann so etwas wie die Identifikation der so Belehrten mit ihrer konkreten Gemeinschaft zu erzeugen. Ein Mensch achtet „die“ Umwelt, wenn und weil sie für 5 Böckenförde, S. 60: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt, mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“

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ihn seine Heimat ist, und er wird fremde Kulturen nur schätzen, wenn er zuvor in der seinigen erfahren hat, was es da zu schätzen gibt. „Ein Menschlicher überträgt seine Einstellung zu denen, die er liebt,“ so heißt es bei Menzius, „auf die, die er nicht liebt. Ein Unmenschlicher überträgt seine Einstellung zu denen, die er nicht liebt, auf die, die er liebt.“6 Damit ist eigentlich auch zum Thema Toleranz und Offenheit alles gesagt: Sie können Zeugnis der Liebe, aber auch ihrer Ersetzung, Ausdruck also von Menschlichkeit oder von Unmenschlichkeit sein. Jeder Schritt über die grundsätzliche Markierung des Werts gemeinschaftlicher Identität, wie sie in der Enzyklika gegeben wird, hinaus würde in eine höchst voraussetzungsreiche philosophische Abhandlung hineinführen. Denn worum es hier geht, das ist nicht weniger als der Grund ethischer und damit auch rechtlicher Normativität überhaupt. Warum bin ich denn als Mensch verantwortlich für dasjenige, was meinen individuellen Lebens- und Bedürfnishorizont übersteigt? Warum „schulde“ ich meiner Nation, künftigen Generationen, Mitgeschöpfen, meiner Umwelt und letztlich der Menschheit überhaupt etwas? Die Antwort kann doch nicht sein, dass diese Adressaten meiner Verantwortung wertvoller seien als mein eigenes Leben, dass ich mich für sie zu opfern hätte. Eine solche Antwort wäre nicht christlich, und zwar gerade aufgrund des Opfers, von dem uns Christus durch das seinige erlöst hat. Meine Verantwortung für dasjenige, was mein individuelles irdisches Leben übersteigt, kann sich, wenn ich nicht zum Agenten einer dunklen Macht namens Zukunft, Umwelt, Nation oder Evolution werden soll, nur darauf gründen, dass ich selbst dieses irdische Leben übersteige, dass ich also im Einsatz für das, was mich übersteigt, mich selbst transzendiere und darin erst erfülle; und diese Selbsttranszendenz ist wesentlich Liebe. Sie ist nach christlicher Auffassung damit sogar das Maß des jedem von uns bevorstehenden Gerichts.7 Wer das nicht sieht, wird in die Dialektik von Omnipotenzwahn und Selbstverdammung hineingezogen, die zur Konfrontation zwischen denen führt, die den Menschen neu erfinden und denen, die ihn am liebsten aus der Welt verschwinden sehen wollen.8 Wer es sieht, kann hingegen begreifen, dass dasjenige, was uns mit unseren Mitmenschen und Mitgeschöpfen und der Zukunft der ganzen Welt verbindet, eben nicht deren uns übergeordneter Wert und genauso wenig ihre sie uns unterstellende Machbarkeit ist, sondern: unsere Gemeinschaft mit ihnen. Es ist die Schöpfung selbst als Akt, wodurch wir mit der Schöpfung als Kosmos in Gemeinschaft stehen. Das ist der Grund von Solidarität und Subsidiarität, der Grund dafür, warum der Mensch in den Gemeinschaften, zu denen er gehört, den normativen Horizont seines Handelns codiert sieht. Nur von daher ist zu begreifen, warum der abstrakten Verrechtlichung aller kulturellen Nähebeziehungen, von der Erziehung über die Ehe bis zur Pflege der Kranken und der Ehrung der Toten, ethisch eine Grenze gezogen ist und andererseits das ethische

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Zitiert nach der Übersetzung bei Heiner Roetz. Vgl. Spaemann (2001), S. 243 – 250, insbes. S. 248. 8 Vgl. dazu etwa LaFleur. 7

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Maß jeder „Kultur“, auf deren Werte wir uns zu berufen vermögen, noch einmal die Dignität sein muss, das jeden von uns wichtiger sein lässt als seine Kultur. IV. Liebe und Gemeinwohl Das Gemeinwohl ist der übergreifende Gesichtspunkt, unter dem die kulturellen Einheiten und Verbindungen, aus denen eine menschliche Gesellschaft sich konstituiert, begriffen werden können und müssen. Unmissverständlich bekräftigt die Enzyklika den traditionellen christlichen Begriff des Gemeinwohls als derjenigen Ordnung, in welcher die menschlichen Personen die größtmögliche Entfaltung der ihnen von Gott verliehenen Talente erreichen können: es „ist nicht ein für sich selbst gesuchtes Wohl“, also kein kollektiver Selbstzweck („It is a good that is sought not for ist own sake“ heißt es in der englischen Fassung), sondern „für die Menschen, die zu der sozialen Gemeinschaft gehören und nur in ihr wirklich und wirkungsvoll ihr Wohl erlangen können“ (CIV 7). „Nach dem Plan Gottes ist jeder Mensch gerufen, sich zu entwickeln; denn das ganze Leben ist Berufung“, so wird die Enzyklika „Solicitudo rei socialis“ von Johannes Paul II. zitiert, und dann eindeutig festgehalten, dass es „genau dieses Faktum“ ist, wodurch allein sich das Eingreifen der Kirche in den Problemkomplex der Entwicklung rechtfertigt. (CIV 16) Maßstab des Einsatzes der Kirche kann nur diese spezifisch jeder menschlichen Person eigene und niemals durch ein kollektives oder geschichtliches Ziel zu definierende Kategorie von Entwicklung sein. Als solche genügt diese Kategorie aber auch vollkommen, um erhebliche Entwicklungsdefizite und -desiderate auf nationaler und internationaler Ebene festzustellen, die zum Handeln im Sinne christlicher Weltverantwortung aufrufen. Selbstverständlich sind es Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten im nationalen und internationalen Horizont, die zum christlichen Engagement im Sinne humaner Entwicklung nötigen (CIV 21 f.); aber das ändert nichts daran, dass Träger und Sinngeber solcher Entwicklung immer nur die menschliche Person sein kann. So wird der als Zielbestimmung des kirchlichen Engagements gefasste Begriff der „integralen“ bzw. „wahren“ humanen Entwicklung durch die Verpflichtung auf das Wohl jedes Menschen und des ganzen Menschen („the good of every man and of the whole man“ heißt es in der englischen Fassung) definiert. (CIV 18) Ganzheitlichkeit ist wiederum definiert durch Wahrheit, und die Wahrheit ist im christlichen Verständnis nur die eine: „Der Glaube setzt … einzig auf Christus, auf den jede echte Berufung zur ganzheitlichen menschlichen Entwicklung zurückzuführen ist.“ (CIV 18) V. Die Mission der Wahrheit Die Soziallehre der Kirche ist insofern integraler Bestandteil ihres Verkündigungsauftrags. Die „Treue zur Wahrheit“ allein ist Garant der Freiheit und einer ganzheitlichen Entwicklung jedes Menschen, und darum ist die „Sendung der Wahrheit“ (the „mission of truth“ in der englischen Fassung) der Auftrag, auf den die Kirche niemals verzichten kann. (CIV 9) Im Rückbezug auf die intrinsische Verbindung,

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die Papst Paul VI. zwischen Evangelisierung und Förderung der menschlichen Entwicklung bekräftigt hat, erklärt ,Caritas in veritate‘: „Auf diese wichtigen Lehren gründet sich der missionarische Aspekt der Soziallehre der Kirche als wesentliches Element der Sozialisierung.“ (CIV 15) Diese Stellen sind immer auch im Licht der fundamentalen Charakterisierung der Kirche in den Enzykliken von Johannes Paul II. zu sehen, insbesondere von ,Redemptor Hominis‘, wo die Kirche durch eine ontologisch dynamische Identität definiert worden ist, die sie zur Repräsentantin der Einheit aller Christen, des verbindenden Wahrheitsbezugs aller Religionen und der natürlichen Einheit der ganzen Menschheitsfamilie macht.9 Das Hinwirken der Kirche auf die Erfüllung der Verpflichtung aller staatlichen Gewalt auf das Wohl jedes Menschen ist demnach kein Akt des Engagements einer partikulären, ihre spezifischen Interessen vertretenden Organisation, sondern Wesensvollzug der Kirche als der Gemeinschaft der in der Wahrheit verbundenen Gesamtheit aller Menschen, der „menschlichen Familie“. Die Kirche muss insoweit durchaus das sein, was Tocqueville einst der Nation im Verhältnis zur real existierenden Gesellschaft zuschrieb: Anwalt der Menschheit, und zwar der Menschheit im vollumfassenden Sinne, also niemals nur der gerade existierenden Generationen.10 Jeder Rückzug aus dieser Anspruchsposition, jeder Verzicht auf die im Namen des Herrn Jesus Christus stehende Mission der Wahrheit wäre, wie immer in weltgeschichtlichen Zusammenhängen, kein Akt abstrakter Selbstbescheidung, sondern nur der Rückzug zugunsten anderer „global players“, die im Namen eines anderen Herrn missionieren. VI. Liebe und Naturrecht Dabei ist die systematische Verbindungslinie zwischen dem gläubigen und dem „rein menschlichen“11 Zugang zur universalen, alle menschlichen Personen miteinander verknüpfenden Wahrheit als zentrale philosophische Voraussetzung dieses Universalanspruch der Kirche entscheidend, nämlich die lex naturalis in ihrer Verbindlichkeit sowohl für die kirchliche Soziallehre wie für die ethische Begründung des modernen, aus dem Prozess der Säkularisierung hervorgegangenen Rechtsstaates.12 „In allen Kulturen“, so drückt ,Caritas in veritate‘ dies aus, „gibt es besondere und vielfältige ethische Übereinstimmungen, die Ausdruck derselben menschlichen, vom Schöpfer gewollten Natur sind und die von der ethischen Weisheit der Menschheit Naturrecht genannt werden.“ (CIV 59) Hier zeigt sich nur wieder derselbe Zusammenhang, den wir auf allen Ebenen unserer Reflexion über Liebe und Wahrheit 9

Vgl. Papst Johannes Paul II., Abschnitt 12. Vgl. Tocqueville, S. 250: „There is one law which has been made, or at least adopted, not by the majority of this or that people, but by the majority of all men. That law is justice. – Justice therefore forms the boundary to each people’s right. – A nation is like a jury entrusted to represent universal society and to apply the justice which is its law. Should the jury representing society have greater power than that very society whose laws it applies?“ 11 Papst Johannes Paul II., Abschnitt 17, S. 73. 12 Zum letzteren vgl. Schweidler (2004), Kapitel 3 und 7. 10

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vorfinden: Die Voraussetzung eines „Naturrechts“ und damit einer Natur des Menschen bedeutet keinen geistigen Hegemonialanspruch der christlichen Ethik, sondern umgekehrt das Bekenntnis zur rationalen Begründungsfähigkeit und damit auch Begründungsbedürftigkeit all dessen, was aus christlicher Sicht über den Menschen und seine kulturellen Lebensbedingungen zu sagen ist. Das Naturrecht ist die entscheidende ethische Verständigungsbasis für Christen und Nichtchristen. Eben wenn und weil es ein Gesetz gibt, das jedem Menschen „ins Herz geschrieben“ ist,13 kann kein Christ einem Menschen, nur weil der kein Christ ist, den ethischen Wahrheitsanspruch absprechen und muss er die Vernünftigkeit seines eigenen Denkens vor der aller Menschen rechtfertigen. Es gibt eine menschliche Natur, die sich gerade in der kulturellen Vielfalt ihrer Konkretisierung zeigt, so wie unsere „natürliche Sprache“, die uns von allen anderen Wesen unterscheidet und uns als Menschen via Übersetzung miteinander verbindet, sich nur in ihrer jeweiligen kulturellen Codierung, also als „Muttersprache“, zeigen kann. Darum ist auch der Einsatz für eine „Kultur des Lebens“, zu dem sich die Enzyklika ,Caritas in veritate‘ unmissverständlich, nicht zuletzt auch durch die Aufnahme des konstitutiven Gegenbegriffs einer „Kultur des Todes“, bekennt,14 nur sinnvoll aufgrund des unrelativierbaren Zusammenhangs, der im aristotelischen Urwort „vivere viventibus est esse“ ausgedrückt ist: Es gibt kein „Leben“, das nicht das Leben lebendiger Wesen wäre, darum auch kein „menschliches Leben“, das nicht das Leben menschlicher Wesen wäre, es gibt kein „Leben von Zellen“ und kein „Leben von Organen“, sondern jeder Einsatz für das menschliche Leben kann nur der Einsatz für das sein, worin jedes von Menschen gezeugte menschliche Wesen metonymisch für die ganze Menschheit und diese mit dem Respekt vor ihm auf dem Spiel steht. Die Vielfalt der menschlichen Kulturen ist die spezifische Weise des Menschen, sich zu seiner Natur zu verhalten; zwischen beidem besteht ein wechselseitiges Anerkennungsverhältnis. VII. Liebe und Gnade Wenn aber wiederum mit dem Naturrecht eine Christen und Nichtchristen gemeinsam umfassende ethische Anspruchbasis existiert, dann kann sich die eigentliche Unverwechselbarkeit des christlichen und damit auch des kirchlichen Wahrheitsanspruchs nur dort zeigen, wo es gilt, die Wahrheit selbst noch einmal als eine vom Menschen niemals aus eigener Kraft erzeugte Errungenschaft, sondern als die ihn von Anfang an konstituierende Gabe zu begreifen, und damit als ein Liebesgeschehen.15 Wie immer die Kirche daher zu Einzelfragen der humanen Entwicklung Stellung nehmen mag, es bleibt in jedem Fall festzuhalten, dass diese Entwicklung nicht Sache eines von irgendeiner menschlichen Instanz planbaren „Projekts“ sein kann und wird. „Die Wahrheit und die Liebe, die sie erschließt, lassen sich nicht produ13

Vgl. Waldstein; Brague. Vgl. hierzu den Beitrag von Florian Bruckmann in diesem Band. 15 Vgl. dazu nun auch Jean-Luc Marion.

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zieren, man kann sie nur empfangen.“ (CIV 52) Das Wesentliche im menschlichen Leben kann man sich nicht verdienen und erarbeiten, es wird einem geschenkt. Es gibt daher für die Kirche keinen Humanismus ohne Gott. (CIV 78) Ein Begriff vom menschlichen Leben oder seiner angeblichen Verbesserung oder Entwicklung ohne Berücksichtigung seines Transzendenzbezuges ist prinzipiell inhuman. Er führt im Vertrauen auf die Möglichkeit der Selbsterlösung zu einer „entmenschlichten“ Entwicklung. (CIV 11) Dies ist noch einmal eine klare Bekräftigung der Unrelativierbarkeit des Propriums der kirchlichen Weise der Förderung humaner Entwicklung im Horizont von Mission, Evangelisierung, Verkündigung und der Schaffung von Vertrauen des Menschen in den Menschen, wie es niemals allein durch Institutionen und Sozialsteuerung geschaffen werden kann. „Im Laufe der Geschichte hat man oft gemeint, die Schaffung von Institutionen genüge, um der Menschheit die Erfüllung ihres Rechtes auf Entwicklung zu gewährleisten. Leider hat man in solche Institutionen ein übertriebenes Vertrauen gesetzt, so als könnten sie das ersehnte Ziel automatisch erlangen.“ (CIV 11) Die Soziallehre der Kirche kann auch deshalb niemals auf eine Art biblisch gefärbte Variante des sozialwissenschaftlichen Diskurses reduziert werden. Literatur Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt am Main, 1976. Brague, Rémi: La loi de Dieu. Histoire philosophique d’une alliance, Paris, 2005. Kruse-Ebeling, Ute: Liebe und Ethik. Eine Verhältnisbestimmung ausgehend von Max Scheler und Robert Spaemann, Göttingen, 2009. LaFleur, William: Sacrificing Species: Could Homo Sapiens be an Exception?, in: Rescher, Nicholas: Die Grenzen der Wissenschaft, Stuttgart, 1985. Marion, Jean-Luc: Le phénomène érotique. Six méditations, Paris, 2003. Papst Johannes Paul II.: Redemptor Hominis, Die Würde des Menschen in Christus. Die Antrittsenzyklika „Redemptor Hominis“ Papst Johannes Pauls II., Freiburg/Basel/Wien, 1980. Rescher, Nicholas: Die Grenzen der Wissenschaft, Stuttgart, 1985. Roetz, Heiner: Die chinesische Ethik der Achsenzeit. Eine Rekonstruktion unter dem Aspekt des Durchbruchs zu postkonventionellem Denken, Frankfurt am Main, 1992. Schweidler, Walter: Der gute Staat. Politische Ethik von Platon bis zur Gegenwart, Stuttgart, 2004. – Die Weite der Vernunft, in: Thomas, Hans / Hattler, Johannes (Hg.): Glaube und Gesellschaft. Gefährden unbedingte Überzeugungen die Demokratie?, Darmstadt, 2009, S. 93 – 104. – (Hg.): Opfer in Leben und Tod. Sacrifice Between Life and Death, Sankt Augustin, 2009. Spaemann, Robert: Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart, 1989. – Person und Wiedergeburt, in: Schweidler, Walter (Hg.): Wiedergeburt und kulturelles Erbe, Sankt Augustin 2001, S. 243 – 250. Tocqueville, Alexis de: Democracy in America, London, 1966.

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Waldstein, Wolfgang: Ins Herz geschrieben. Das Naturrecht als Fundament einer menschlichen Gesellschaft, Augsburg, 2010.

Die Menschenrechte in der Enzyklika Caritas in Veritate Inhalte, Begründung, Durchsetzung Von Bernhard Sutor I. Vorbemerkungen Die Eigenart der neuen Enzyklika Benedikts XVI. bringt es mit sich, dass wir unsere drei Teilfragen zu den Menschenrechten nicht direkt angehen können. Die Enzyklika bietet keine systematische Erörterung einer sozialen oder politischen Problemfrage – so wie etwa ,Rerum Novarum‘ die Arbeiterfrage behandelte, ,Quadragesimo anno‘ die wirtschaftlich-soziale Ordnung insgesamt, ,Populorum progressio‘ die Entwicklung der Völker. Sie entwirft vielmehr eine theologische Anthropologie und betrachtet unter deren Aspekt unterschiedliche Teilthemen, Probleme unserer gegenwärtigen Welt. Wir haben es gleichsam zu tun mit Variationen des Generalthemas ,Caritas in Veritate‘. Die unter dieser Perspektive angesprochenen Fragen werden nirgends systematischer abgehandelt, also auch nicht die Menschenrechte. Wir finden dazu vielmehr punktuelle Aussagen an verschiedenen Stellen. Indem ich versuche, den Kontext, bis zu einem gewissen Grad auch den Subtext dieser Passagen zu interpretieren, gebe ich indirekt Antworten auf die mir gestellten Fragen. Ich finde im Text dazu vier Aspekte: – Menschenrechte in der Wirtschafts- und Arbeitswelt; – Menschenrechte und Solidarität; – Menschenrechte und politische Autorität; – Begründung der Menschenrechte aus Offenbarung und Naturrecht.

II. Menschenrechte in der Wirtschaftswelt – Würde der Arbeit Die Enzyklika spricht im zweiten Kapitel unter der Überschrift „Die Entwicklung des Menschen in unserer Zeit“ viele Teilfragen an, u. a. auch die Arbeitslosigkeit in den ärmeren Ländern. In Nr. 32 heißt es dazu, die Würde der Person und die Erfordernisse der Gerechtigkeit verlangten, mit Priorität das Ziel zu verfolgen, allen Zugang zur Arbeit zu verschaffen. Dafür spreche zudem die wirtschaftliche Vernunft, nämlich gesellschaftliches Kapital nicht brach liegen zu lassen. Dem folgen knappe Ausführungen über die Notwendigkeit, die humanen Ziele des Wirtschaftens zur Geltung zu bringen. Wege dazu werden nur sehr allgemein angedeutet.

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Bernhard Sutor

Die Frage taucht im fünften Kapitel im Kontext von Entwicklung noch einmal auf. Armut ist das Ergebnis der Verletzung der Würde menschlicher Arbeit, heißt es dort (Nr. 63). Würde der Arbeit wird konkretisiert anhand von Kriterien wie freie Arbeitswahl, Vermeiden von Diskriminierung, Vereinbarkeit mit Familie, mit Teilhabe am kulturellen Leben, Koalitionsfreiheit, Alterssicherung. Fürwahr ein ehrgeiziges Programm. Die Internationale Arbeitsorganisation wird dort gelobt für ihre in diese Richtung zielenden Bemühungen. Im Gesamtduktus des Textes überrascht die Einführung des Würdebegriffs beim Thema Arbeit und die Aufzählung von Arbeiterrechten nicht. Sie entsprechen der vielfältig variierten Grundaussage, wirtschaftliche Beziehungen dürften als Beziehungen zwischen Menschen nicht auf ökonomische und/oder technische Rationalität reduziert werden. Es entspricht aber auch der Tradition der Katholischen Soziallehre. Diese beginnt kirchenamtlich mit der „Arbeiterenzyklika“ ,Rerum Novarum‘. Benedikt zitiert an unserer Stelle ausdrücklich auch die „Arbeitsenzyklika“ ,Laborem Exercens‘ seines Vorgängers Johannes Pauls II. Man kann nachweisen, dass vor allem in dieser Traditionslinie die Kirche auch zur Idee der Menschenrechte einen Zugang gefunden hat. Man kann aus diesem Zugang auch erklären, warum das kirchenamtliche Verständnis von Menschenrechten sich von der liberalen Tradition der westlichen Verfassungsstaaten unterscheidet durch stärkere Betonung ihrer sozialen Seite bis hin zur Formulierung sogenannter sozialer Menschenrechte.1 In unserem Text werden zum Beispiel in Nr. 27 Ernährung und Zugang zu sauberem Wasser als allgemeine Rechte aller Menschen formuliert. Im nächsten Schritt unserer Analyse wird diese Prävalenz sozialer Menschenrechte besonders deutlich.

III. Menschenrechte und Solidarität – Rechte und Pflichten Papst Benedikt bezieht seine Enzyklika ausdrücklich auf ,Populorum Progressio‘ Pauls VI. (1967). Die Frage der Entwicklung in den Armutsregionen der Erde spielt deshalb eine große Rolle. Allerdings wird die Entwicklungsproblematik nicht systematisch erörtert, vielmehr, der schon charakterisierten Eigenart des Textes entsprechend, an mehreren Stellen angesprochen. Dabei taucht dann auch die Menschenrechtsfrage auf. Benedikt ist wie seine Vorgänger von der Sorge geleitet, dass Entwicklung auf eine ökonomisch-technische Frage reduziert wird. Dem stellt er mit Paul VI. das Konzept einer integralen Entwicklung entgegen, welche den Menschen und die menschliche Gesellschaft in allen ihren Dimensionen zu begreifen und zu berücksichtigen sucht, materiell wie ökonomisch, sozial und kulturell, auch religiös. In diesem Zusammenhang wird in Kapitel fünf über die „Zusammenarbeit der Menschheitsfamilie“ die Frage erörtert nach kulturellen und ethischen Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Kulturen. Diese Stelle wird uns später beschäftigen, wenn wir nach Begründungen für Menschenrechte in der Enzyklika fragen. 1

Vgl. Ballestrem, S. 147 – 169, mit der dort angegebenen weiteren Literatur.

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Für das spezifisch kirchliche Verständnis von Menschenrechten ist eine andere Passage am Beginn von Kapitel vier wichtiger. Das Kapitel vier trägt die weit gefasste Überschrift „Entwicklung der Völker, Rechte und Pflichten, Umwelt“. Gleich zu Beginn (Nr. 43) wird aus dem Prinzip der Solidarität die Zusammengehörigkeit von Rechten und Pflichten begründet. Nach der Feststellung, Rechte ohne Pflichten würden zur Willkür, geißelt der Papst in scharfen Worten einen bedrückenden Widerspruch: „Während man einerseits mutmaßliche Rechte willkürlicher und genießerischer Art unter dem Vorwand beansprucht, sie würden von den staatlichen Strukturen anerkannt und gefördert, werden andererseits einem großen Teil der Menschheit elementare Grundrechte aberkannt und verletzt.“ In den Wohlstandsgesellschaften werde das Recht auf Überfluss oder gar auf Laster beansprucht, während in unterentwickelten Regionen Mangel an Nahrung, Trinkwasser, Schulbildung, medizinischer Grundversorgung herrschten. Individualrechte, aus einem „sinngebenden Rahmen“ von Pflichten herausgelöst, würden praktisch grenzenlos und lösten eine Spirale von Ansprüchen aus. Rechte müssten also durch Pflichten eingegrenzt und gestärkt werden. Man kann diese moralische Philippika des Papstes verstehen. Der Widerspruch, den er geißelt, ist unbestreitbar. Unter anthropologisch-ethischem Aspekt, auf den der Text hier ausdrücklich wieder hinweist, ist auch der Bedingungszusammenhang von Rechten und Pflichten nicht zu bestreiten. Es müsste aber über die moralische Klage hinaus die rechts- und staatsethische Frage gestellt werden, ob und wie der Zusammenhang von Rechten und Pflichten rechtlich wirksam geltend gemacht werden kann, sowohl inner- wie zwischenstaatlich. Die lange und schwierige Diskussion über sogenannte soziale Menschenrechte gerät immer vor die Frage, ob diese denn wie die Freiheitsrechte einklagbar gemacht werden können und sollen, und ob das mit einem freiheitlich-marktwirtschaftlichen System vereinbar wäre. Bekanntlich versucht der liberale Rechtsstaat, seine sozialen Probleme nicht durch die Garantie einklagbarer Menschenrechte, sondern politisch auf dem Weg sozialstaatlicher Gesetze zu lösen. Verbindliche Gesetze, die in garantierte Freiheitsrechte eingreifen, bedürfen aber des Nachweises der Gemeinwohlnotwendigkeit. Daher bleibt die Frage, in welchem Maß soziale Rechte durchgesetzt werden sollen, immer ein Gegenstand politischen Streites. Deshalb sollte die kirchliche Lehre sich doch stärker, als sie es tut, mit der Frage der politisch-rechtlichen und institutionellen Vereinbarkeit liberaler Abwehrrechte und sozialer Anspruchsrechte befassen. Die Frage wird in der neuen Enzyklika, aber auch sonst, soweit ich sehe, in offiziellen kirchlichen Dokumenten nicht gestellt.2 An dieser und an ähnlichen Fragen wird deutlich, dass die Enzyklika ein Übermaß an theologisch-moralischer Argumentation enthält, aber einen Mangel an rechtlichinstitutionellem Denken. Das zeigt sich auch bei unserer nächsten Frage, nämlich der

2 Ansatzweise in Bezug auf ein „Recht auf Arbeit“ bei Johannes Paul II. in ,Centesimus Annus‘ (CA 48).

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nach der Rolle der politischen Autorität, herkömmlicherweise des Staates, für die Durchsetzung von Menschenrechten, insbesondere auch international. IV. Menschenrechte und politische Autorität Das Grunddilemma, mit dem jedes Bemühen um die Durchsetzung von Menschenrechten zu tun hat, ist Benedikt wohl bewusst. Individuelle Menschenrechte mussten und müssen auch heute in der Regel gegen staatliche Autoritäten durchgesetzt werden. Aber rechtlich wirksam machen kann sie andererseits nur der Staat. Deshalb fordert die Enzyklika im Kapitel drei über „Brüderlichkeit, wirtschaftliche Entwicklung und Zivilgesellschaft“ von der internationalen Hilfe auch einen Beitrag zur Entwicklung verfassungs- und rechtsstaatlicher Systeme, „um die dem Rechtsstaat eigenen Garantien … und wirklich demokratische Institutionen zu stärken“ (Nr. 41). Als besondere Garantien des Rechtsstaates werden genannt „ein wirksames System der öffentlichen Ordnung und des Gefängniswesens unter Einhaltung der Menschenrechte.“ Die spezielle Anführung des Gefängniswesens mag uns überraschen. Sie ist aber so abwegig nicht, wenn man bedenkt, was sich in nicht wenigen Gefangenen-Verließen von Diktaturen und Terrorregimen aller Art auch heute noch abspielt. Entwicklungspolitisch liegt der Passage die Erkenntnis zugrunde, dass gute, humane Entwicklung der Völker good governance voraussetzt. Richtig und wichtig ist auch der im Text anschließende Hinweis, dazu könnten auch gesellschaftliche Akteure viel beitragen, die man heute unter Nichtregierungsorganisationen zusammenfasst. Über deren konkrete Arbeit in einzelnen Regionen hinaus haben sie einen wichtigen Einfluss auch auf die Weltmeinung. Ein Entwicklungskonzept wird also hier andeutungsweise sichtbar, die Menschenrechte einschließend. Es wird aber nicht weiter ausgeführt. Am Schluss von Kapitel fünf über „Die Zusammenarbeit der Menschheitsfamilie“ finden wir dann die Skizze eines universalen politischen Konzepts mit der Forderung nach einer „politischen Weltautorität“ (Nr. 67). Der Text bewegt sich allerdings auf der erhabenen Höhe der Abstraktion, indem er alle globalen Probleme, alle wünschenswerten Ziele, alle einschlägigen Prinzipien und Werte ins Feld führt und so mehr Ratlosigkeit als Orientierung vermittelt, was mögliche Schritte der Realisierung betrifft. Er beginnt mit der Feststellung, eine Reform der Vereinten Nationen sei dringlich für internationale Kooperation und für die solidarische Entwicklung der Völker. Darauf folgt dann das viel diskutierte Plädoyer für eine politische Weltautorität. Diese soll die Weltwirtschaft steuern, neuen Krisen vorbeugen, vollständige Abrüstung verwirklichen, Sicherheit, Frieden und Umweltschutz gewährleisten, die Migrationsströme regulieren, sich für ganzheitliche menschliche Entwicklung einsetzen. Sie soll sich dem Recht unterordnen, sich am Gemeinwohl orientieren, gemäß Solidarität und Subsidiarität aufgebaut sein, sich von den Werten der Wahrheit und der Liebe inspirieren lassen. Sie muss von allen anerkannt sein,

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über so viel Macht verfügen, dass sie über einem Kräftegleichgewicht der Stärkeren steht; dass sie Globalisierung steuern kann und „für jeden Sicherheit, Wahrung der Gerechtigkeit und Achtung der Rechte“ gewährleisten kann. Für jeden, der auch nur einigermaßen Einblick in die Komplexität und Fülle der heutigen Weltprobleme hat, ist das die Beschreibung der Quadratur des Kreises. Es sei nicht bestritten, dass ideale Konzepte oder gar Utopien eine Funktion haben können für die Motivation und Orientierung politischen Handelns. Aber auch für Akteure, die bereit sind, sich von solchen Konzepten leiten zu lassen, bleibt immer die entscheidende Frage, wie man Schritt für Schritt vorankommen kann in der Lösung einzelner Konflikte und Probleme; was immer auch bedeutet, andere auszuklammern, sich mit Vorläufigem und mit Kompromissen zu begnügen. Deshalb durfte man legitimerweise von einer Enzyklika, die sich ausdrücklich mit der Globalisierung und mit der wünschbaren Entwicklung der Staatengemeinschaft befasst, doch auch konkretisierende Aussagen über einzelne Schritte und wohl auch eine Ermunterung für die Bemühungen bestehender internationaler Institutionen erwarten; ich nenne als Beispiel nur den neuen Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Am Beginn der Entwicklung des neuzeitlichen Völkerrechts standen christliche Denker (Fr. de Vitoria, Suarez). Daran müssen wir anknüpfen. Christliche Sozialethik muss heute dazu beitragen, das Recht der Staatengemeinschaft weiter zu entwickeln. Dazu genügt nicht der theologisch-moralische Appell. Wiederum zeigt sich: Die Enzyklika formuliert hohe Ziele, bietet aber keine Ethik der politisch-institutionellen Mittel. Auf eben diese kommt es aber an in politischen Konflikten und Problemlösungsversuchen. V. Begründung der Menschenrechte Da die Enzyklika keine zusammenhängende Erörterung der Menschenrechte enthält, finden wir im Text auch keine systematische Begründung. Diese zentrale Frage wird vielmehr an mehreren Stellen in Variationen berührt. Ganz selbstverständlich scheidet für den Papst eine positivistische Begründung als unzureichend aus. In der schon zitierten Passage über die Verbindung von Rechten und Pflichten (Nr. 43) heißt es, wenn die Rechte des Menschen ihr Fundament allein in Beschlüssen einer Bürgerversammlung hätten, könnten sie jederzeit geändert werden und stünden damit zur Disposition, national wie international. Damit würde die Objektivität und ,Unverfügbarkeit‘ der Menschenrechte missachtet. Fragt man nach der Begründung für Objektivität und Unverfügbarkeit, so begegnet dafür im Text immer wieder die Wahrheit, die der menschlichen Vernunft im Licht des Glaubens offenbar werde. Die Basis ist also die theologische Anthropologie, die in ihrer Weise eindrucksvoll den ganzen Text durchzieht. Das entspricht der Eigenart der Katholischen Soziallehre, die immer aus einer Verbindung von Vernunft- und Glaubenswahrheit argumentiert, in den letzten Jahrzehnten allerdings die theologische Dimension verstärkt hat.

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Über die Verhältnisbestimmung beider Wahrheitsquellen gibt es in der wissenschaftlichen Diskussion unterschiedliche Positionen.3 Die Soziallehre der Kirche, so Benedikt, sei interdisziplinär; sie verbinde Glauben und Theologie, Metaphysik und Wissenschaften im Dienst am Menschen (Nr. 31). Ihr besonderer Beitrag bestehe darin, dass sie sich auf die Erschaffung des Menschen als Abbild Gottes gründe. Von dieser „Tatsache“ leite sich die unverletzliche Würde der menschlichen Person her, ihr transzendenter Wert (Nr. 45; vgl. Nr. 29). Diese ausdrücklich theologische Begründung führt freilich zur Frage nach ihrer Vermittelbarkeit mit nichttheologischen, säkularen Begründungen. Das begriffliche Paradigma dafür war und ist, auch in der Enzyklika, das Naturrecht, das allerdings spät eingeführt wird. Die christliche Offenbarung über die Einheit des Menschengeschlechtes, so der Papst, setze eine metaphysische Interpretation des Humanum voraus, worin die Beziehungsfähigkeit des Menschen ein wesentliches Element sei (Nr. 55). Von daher gebe es eine Brücke zum Dialog und zur Kooperation zwischen den Kulturen und mit anderen Religionen. So deutet der Papst das Prinzip der Subsidiarität als vermittelbar, weil es Ausdruck unveräußerlicher Freiheit des Menschen sei. Es achte die Würde der Person, indem es in der Gegenseitigkeit die innerste Verfassung des Menschen anerkenne (Nr. 57). Weitergehend konstatiert die Enzyklika, in allen Kulturen gebe es besondere und vielfältige ethische Übereinstimmungen, Ausdruck der vom Schöpfer gewollten Menschennatur, die „von der ethischen Weisheit der Menschheit Naturrecht genannt wird“ (Nr. 59). Während diese Stelle das Naturrecht im Sinne eines allgemeinen ius gentium zu deuten scheint, rückt er es an anderer Stelle näher an das Vernunftrecht heran, wenn er sagt, im Naturrecht scheine die „schöpferische Vernunft“ auf (Nr. 75). Der Begriff des Naturrechts wird, was beim Theologen Ratzinger nun doch überrascht, unkritisch einführt. Das entspricht nicht dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussionsstand.4 Zuvor ist ausdrücklich wieder von der Verbindung von Vernunft und Glauben die Rede. Deren Verhältnisbestimmung bleibt offen. Gibt es Vernunftwahrheiten, die dem Glauben vorausgehen als Bedingungen seiner Möglichkeit, oder ist der christliche Glaube, sich entfaltend in der Liebe, die Bedingung wahrer Vernunfterkenntnis? Für Dialog und Kooperation von Christen und Nichtchristen in einer säkularen Welt, die für ein friedlich-rechtliches Zusammenleben auf ein Minimum an Gemeinsamkeiten angewiesen ist, scheint mir das eine nicht unerhebliche Frage.

3 Vgl. Höffner, dort die Einleitung, S. 20 ff.; differenzierter zum Verhältnis von Philosophie und Theologie Anzenbacher, S. 19 ff. 4 Vgl. Ratzinger (1964), S. 24 ff.; Ratzinger (2005), S. 28 ff. Es handelt sich um den Text aus dem Gespräch Kardinal Ratzingers mit Jürgen Habermas in München 2004. Zur Unterscheidung zwischen klassischem und neuzeitlichem Naturrecht vgl. Anzenbacher, S. 66 ff.; zu Möglichkeit und Grenzen philosophischer Begründung der Menschenwürde vgl. die Beiträge von Kobusch, S. 38 ff. und Stein, S. 170 ff. mit dort jeweils angegebener Literatur.

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VI. Fazit Nach Papst Benedikt gibt es keine zwei Typologien kirchlicher Soziallehre, eine vor- und eine nachkonziliare, sondern eine einzige, kohärente und zugleich stets neue Lehre, die dynamisch-geschichtlich ihre Tradition auf neue Situationen hin auslege (Nr. 12). Die Frage, ob die Kirche in ihrer Haltung zu den Menschenrechten nicht doch einen Bruch mit der Vergangenheit vollzogen habe, stellt er konkret nicht; er würde sie gewiss verneinen, vielleicht allenfalls von Paradigmenwechsel sprechen. Ich bin diesbezüglich entschieden anderer Meinung. Den Syllabus Pius’ IX. und die Erklärung des Konzils zur Religionsfreiheit kann man mit noch so hoher interpretatorischer Kunst nicht auf eine Linie bringen. Aber das war hier nicht mein Thema. Jedenfalls ist für Benedikt XVI. aufgrund seiner theologischen Anthropologie die Unabdingbarkeit von Menschenrechten ebenso selbstverständlich wie für seinen Vorgänger Johannes Paul II., der die Menschenrechte die „Wahrheit der Demokratie“ nannte, ihr Wertefundament (Centesimus annus 47). Freilich bewegt sich der Wahrheitsbegriff der Enzyklika in einer theologischen Höhe, die es nicht leicht macht, auf unsere Fragen hilfreiche Antworten zu finden. Das Verständnis der Menschenrechte in der kirchlichen Soziallehre ist entschieden stärker sozial grundiert als das der westlich-liberalen Tradition. Das ist aus dem Personverständnis dieser Lehre nachvollziehbar, enthält aber auch Probleme. Generell ist im neuen Dokument die Frage der Durchsetzbarkeit der Menschenrechte kein Thema, was man als einen erheblichen Mangel an politischer Rechts- und Institutionenethik bedauern muss. Benedikts theologischer Wahrheitsbegriff überblendet das alles. Dieser Wahrheitsbegriff dominiert schließlich auch die Begründung der Menschenrechte, was eine Selbstverständlichkeit ist. Es bleibt aber die Frage, wie denn Theologie und Philosophie, Offenbarung und Naturrecht miteinander verbunden werden können. Positiv hätte man erwarten können, dass die neue Enzyklika, da sie den globalen Problemen gewidmet ist, gerade von einem kritisch reformulierten, personal begründeten Naturrecht aus eine Brücke schlagen würde zu den säkular vertretenen Menschenrechten, um diesen und ihrer Durchsetzung in der heutigen Staatenwelt auch kirchlicherseits neue Impulse zu geben. Im Ganzen bleibt die Frage an die Enzyklika, ob ihre eindrucksvolle theologische Grundlegung in der Liebe nicht doch stärker in Richtung auf Fragen nach Gerechtigkeit, Recht und Institutionen hätte entfaltet werden sollen. Literatur Anzenbacher, Arno: Christliche Sozialethik, Paderborn, 1997. Ballestrem, Karl Graf: Katholische Kirche und Menschenrechte; in: Brocker, Manfred / Stein, Tine (Hg.): Christentum und Demokratie, Darmstadt, 2006, S. 147 – 169. Höffner, Joseph: Christliche Gesellschaftslehre. Herausgegeben, bearbeitet und ergänzt von Lothar Roos, Kevelaer, 1997.

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Kobusch, Theo: Nachdenken über die Menschenwürde, in: Brocker, Manfred / Stein, Tine (Hg.): Christentum und Demokratie, Darmstadt, 2006, S. 38 – 59. Ratzinger, Joseph: Naturrecht, Evangelium und Ideologie in der katholischen Soziallehre; in: Bismarck, Klaus von / Dirks, Walter (Hg.): Christlicher Glaube und Ideologie, Stuttgart, 1964, S. 24 – 30. – Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates; in: Ratzinger, Joseph Kardinal: Werte in Zeiten des Umbruchs, Freiburg i. Br., 2005, S. 28 – 40. Stein, Tine: Rechtliche Unverfügbarkeit und technische Machbarkeit des Menschen: Zur metaphysischen Begründung der Menschenwürde, in: Brocker, Manfred / Stein, Tine (Hg.): Christentum und Demokratie, Darmstadt, 2006, S. 170 – 187.

Menschenrechte und Religionsfreiheit Säkulare Staatlichkeit als Bedingung religiöser Wahrheit Von Otto Depenheuer I. ,Caritas in Veritate‘ aus staatsrechtlicher Perspektive Eine päpstliche Sozialenzyklika aus säkularer Perspektive zu kommentieren und staatsrechtlich zu kontrastieren, scheint ein verwegenes, disziplinäre Grenzen überschreitendes und damit im Ansatz seinem Untersuchungsobjekt nicht angemessenes Unterfangen zu sein. Aber nicht nur die ehrenvolle Einladung veranlaßt mich, derartige Bedenken hintanzustellen. Auch sachlich verspricht ein staatsrechtlicher Blick auf eine sozialethische Wegweisung Erkenntnisgewinn: denn beide Disziplinen – das Staatsrecht und die Sozialethik – beziehen sich auf das identische Substrat: das im Staat vereinte Volk, und verfolgen die gleiche Aufgabe: die gute Ordnung der Gesellschaft. Allerdings ist die erkenntnistheoretische Ausgangsposition und die Ordnungsperspektive von Sozialethik und Staatsrecht eine grundlegend verschiedene. Das moderne, notwendig säkulare Staatsrecht kann nicht, ja darf nicht von religiösen Glaubensüberzeugungen des Einzelnen ausgehen. Der Glaube ist für das einzelne Individuum grundrechtlich legitim, religiös unverzichtbar und theologisch notwendig: aber Verbindlichkeit vermögen diese Glaubensüberzeugungen nur für den zu erzeugen, der sie glaubt, sowie für diejenigen, die diese Glaubensüberzeugungen teilen. Wer vom christlichen Offenbarungsglauben ausgehend politische Ordnungskonzepte verfolgt und dafür wirbt, der wird in einer nicht nur religiös fragmentierten Gesellschaft daher im günstigsten Fall jene überzeugen können, die die Prämissen und Inhalte seiner Glaubensüberzeugung teilen. Das Staatsrecht aber ist ebenso wie der moderne Staat notwendig säkular: es geht aus von der – auch religiösen – Heterogenität der Menschen und erhebt den ethischen Anspruch, für alle Bürger, unabhängig von ihren Glaubensüberzeugungen und sonstigen Eigentümlichkeiten, in gleicher Weise akzeptabel zu sein. Staatsrechtliche Ordnungsentwürfe müssen daher nicht nur für die „Menschen guten Willens“, sondern – um ein berühmtes Diktum Immanuel Kants aufzugreifen – auch für ein „Volk von Teufeln“ überzeugend sein.1 Sozi1

Diese Problemstellung formuliert exakt das staatrechtliche Ordnungsproblem, vgl. Kant, S. 336: „Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar und lautet so: ,Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber insgeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung ein-

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alethische Begründungen, die auf einer religiösen oder weltanschaulichen Wahrheit beruhen, sind aus der Sicht des modernen Staates und des Grundgesetzes legitim, aber relativ: jedem Menschen steht es frei, ihnen anzuhängen, sie zu vertreten und für sie mit überzeugenden Argumenten zu werben. Aus sich heraus legitimieren sie indes keinen allgemein-verbindlichen Geltungsanspruch. Religiöse Wahrheitsüberzeugungen und sozialethische Ableitungen können sich im relativistischen demokratischen Diskurs nur im Wege von Mehrheitsentscheidungen durchsetzen. Staatsrechtlich gilt der Fundamentalsatz des modernen Staates: auctoritas non veritas facit legem.2 Im Übrigen sind Wahrheitsüberzeugungen jeglichen Inhalts grundrechtlich legitim vertretbare Sachpositionen, aber ohne jede Verbindlichkeit für diejenigen, die sie nicht teilen. II. Staatlichkeit als Bedingung von Grundrechten Ferner unterscheiden sich sozialethische und staatsrechtliche Betrachtungsweise darin, daß die Sozialethik die Menschen zu überzeugen suchen muß, das staatliche Recht hingegen zwar auch auf Überzeugung und Akzeptanz der Bürger angewiesen ist, aber im Grenzfall auf der Grundlage des staatlichen „Monopols physischer Gewaltsamkeit“ (Max Weber) auch gegen Widerstand durchgesetzt wird. Dieser Unterschied spiegelt sich auch in der Begrifflichkeit unseres Themas: Menschenrechte beruhen auf einer Idee, Grundrechte aber werden vom Staat garantiert. In diesem schlichten Satz wird die unterschiedliche Herangehensweise von Sozialethik und Staatsrecht brennpunktartig deutlich. Es stehen sich gegenüber eine unmittelbar die menschliche Natur in den Blick nehmende anthropologisch fundierte Ethik und eine institutionelle Sicht der Menschenrechte, die zuallererst nach den Bedingungen ihrer rechtspraktischen Wirklichkeit fragt. Während die Berufung auf die Menschenrechte vor allem politisch-appellative Funktionen erfüllt, haben die Grundrechte einen konkreten Garantieträger sowie einen lokalisierbaren Adressaten: den Staat, der die grundrechtlichen Freiheiten gegen sich selbst gewährt. Menschenrechte sind hingegen in dieser Form nicht rechtsförmlich durchsetzbar. Dieser Zusammenhang von rechtlich unverbindlichen Menschenrechten und rechtspraktischen wirksamen Grundrechtsverbürgungen spiegelt sich in Art. 1 des Grundgesetzes: in Abs. 2 bekennt sich das Volk zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“, die es sogleich in Abs. 3 in Grundrechte transformiert, die „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“ binden. Fazit: Wenn Menschenrechte vom Staat garantiert werden, d. h. sich in rechtlich verbindliche und einklagbare Grundrechte verwandeln, dann ändern sie ihren Begründungskontext: die Ideen, aus denen sie hervorgegangen sind, werden zum zurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten‘.“ 2 Hobbes, Part II, Chap. 26.

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philosophischen, ideengeschichtlichen Hintergrund einer nunmehr allein säkularen Gewährleistung durch das positive Verfassungsrecht. Effektiv funktionierende Staatlichkeit wird damit zur Bedingung der Möglichkeit rechtspraktisch wirksamer Menschenrechte in Gestalt der Grundrechte. Demgegenüber setzte die Enzyklika einen stabilen Zustand des Gemeinwesens voraus, ohne ihn auch nur ansatzweise zu thematisieren. Sie ist damit gleichsam blind für die institutionellen Bedingungen von rechtspraktischer Freiheit. Auf der Sicherung des Friedens nach Innen aber beruhen Idee und Wirklichkeit des modernen Staates. Nur unter dieser Voraussetzung können Grundrechte „zum Leben kommen“. Die Friedlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse ist die erste und unverzichtbare Bedingung der Möglichkeit, über die gute Ordnung des Gemeinwesens in Freiheit zu diskutieren und demokratisch zu entscheiden. Zwar thematisiert auch die Enzyklika immer wieder den Frieden, ohne dieses Ziel allerdings konsequent in einen institutionellen Rahmen einzubauen. Just darin aber besteht die staatsrechtliche Herausforderung, den Menschenrechten eine institutionelle Rahmenordnung zur Seite zu stellen, die ihre effektive Geltung erst ermöglicht und garantiert. So hat die staatliche Funktion der Friedenssicherung strukturelle Voraussetzungen und rechtliche Konsequenzen, die jeder sozialethischen Diskussion über die Menschenrechte vorausliegen und von ihr zugrundegelegt werden müssen, will sie den Anspruch erheben, in der säkularen Diskussion über die gute Ordnung des Gemeinwesens anschlußfähig zu bleiben und gehört zu werden. Ebensowenig wie man Menschenrechte ohne Staat haben kann, so kann man auch die friedenswahrende Funktion des Staates nicht haben, ohne seine wesensbestimmenden Strukturelemente zu akzeptieren, zu denen auch die verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte zählen. Die Geschichte rechtlich positivierter und staatlich garantierter Menschenrechte ist vielfältig verwoben mit der Herausbildung des modernen Staates. Dessen Entstehung sei daher nachfolgend skizzenhaft in Erinnerung gerufen.3 III. Strukturelemente moderner Staatlichkeit Der moderne Staat verdankt seine Entstehung der Überwindung konkurrierender universalistischer Wahrheitsansprüche, d. h. der Neutralisierung der religiösen Wahrheitsfrage im Zuge der Säkularisation.4 Aufstieg, Siegeszug und Erfolg der Idee von Grundrechten und Demokratie – die Freiheit des Einzelnen zur Selbstbestimmung sowie zur kollektiven Mitbestimmung5 – treten an die Stelle der durch die Reformation auseinandergebrochenen einen, Politik und Recht umgreifenden sowie kirchlich verwalteten religiösen Wahrheit. Deutlicher formuliert: die Idee der Freiheit setzte 3

Vgl. Depenheuer (1999), S. 5 ff.; auch Hillgruber, S. 67 ff.; Ladeur/Augsberg, S. 55 ff., S. 59 ff. 4 Vgl. zum folgenden: Böckenförde (1967), S. 75 ff.; wieder abgedruckt in: Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 92 ff.; Schlink, S. 301, 306 ff.; Gärditz, § 6. 5 Isensee (1981), S. 161 ff.

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den Sieg des säkularen Staates über die religiösen Wahrheiten und die politische Depotenzierung ihrer Protagonisten voraus: die Wahrheit wurde vom Thron gestoßen, auf daß die Freiheit des Individuums sei. Dieser ungeheure Vorgang kann als staatliche Erfolgs-, kann aber auch als religiöse Niedergangsgeschichte beschrieben werden. Wie dem auch sei: das Ergebnis bildet die Realität freiheitlicher und säkularer Verfassungsstaatlichkeit. Dieser Säkularisierungsprozeß vollzog sich in drei Schritten. 1. Der Weg zur Säkularität des Staates Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation hatte seine einheitsstiftende Kraft ursprünglich daraus gezogen, daß es eine societas perfecta im aristotelischen Sinne darstellte: eine heilige Ordnung, die alle Lebensbereiche umfaßte und ungeschieden geistlich-religiös und weltlich-politisch war. Kaiser und Papst waren nicht Repräsentanten einerseits der geistlichen, andererseits der weltlichen Ordnung, sondern Inhaber verschiedener Ämter der einen res publica christiana. Aufgelöst wurde diese Einheitsvorstellung vor allem von der sich zur rationalen Wissenschaft bildenden Theologie: diese erarbeitete die Trennung von geistlicher und weltlicher Macht. Theoretische Verselbständigung, Trennung und Konkurrenz der beiden Teilsysteme Staat und Kirche beinhalteten aber auch die reale Möglichkeit des Konfliktes zwischen ihnen. Tatsächlich führten die hermeneutischen Disputationen und die daraus resultierenden kritischen Anfragen zu Divergenzen über den Inhalt der Offenbarung. Konnte sich das päpstliche Lehramt noch eine Zeitlang gegenüber diesen behaupten: mit dem Thesenanschlag Martin Luthers im Jahre 1517 und dem Postulat „sola scriptura“, deren maßgeblicher Interpret der Gläubige selbst sei, brach die Einheit des katholischen Glaubens auf und entlud sich in den religiös-konfessionellen Bürgerkriegen des 16. und 17. Jahrhunderts.6 Der weltliche Staat stand dabei zunächst ganz im Dienste der geistlichen Parteien und des von diesen vertretenen Wahrheitsanspruchs. Exemplarisch zeigt sich dieses Selbstverständnis im Gelöbnis, das Ferdinand II. von Österreich bei Antritt seiner Regierung in der Steiermark ablegte: „Lieber über eine Wüste herrschen, lieber Wasser und Brot genießen, mit Weib und Kind betteln gehen, seinen Leib in Stücke hauen lassen, als ein Unrecht gegen die Kirche, als die Ketzerei zu dulden.“7 In dieser – logisch konsequenten, aber blutig-brutalen – Logik der Wahrheit waren sich alle damaligen Konfliktparteien – Katholiken wie Augsburger Konfessionsverwandte – einig. Der religiöse Konflikt wurde zum politischen Kampf und mußte als solcher ebenso gnadenlos und total werden, wie er als religiöser kompromißlos war. Er stürzte große Teile Europas in jahrzehntelange Massaker und entvölkerte ganze Landstriche. Gerade dadurch aber legte er ungewollt und unbewußt den Grund für den praktischen Durchbruch der theoretischen Idee des modernen, d. h. des souveränen und säkularen Staates. Denn der Ausweg aus der Krise konnte nur in der Depotenzierung der religiösen Mächte liegen. Zu diesem Zweck mußte ein absolut sicherer Punkt jenseits der hermeneutischen Disputationen über den Wahrheitsgehalt 6 7

Vgl. Depenheuer (1997), S. 485 ff. Zit. nach Burger, S. 172, 177.

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von Offenbarungstexten, d. h. eine kultur- und konfessionsunabhängige Form der Wahrheit gefunden werden, deren Wahrheit alle Menschen einsehen können, gleichgültig welcher Kultur, Religion, Nation oder welchem Volk sie angehörten. Inhalt dieser säkularen Wahrheit war der Frieden, ihr Sachwalter der absolutistische, säkulare Staat.8 Thomas Hobbes, der große Theoretiker dieser Emanzipation der weltlichen von der geistlichen Macht, ging dabei von einem unprätentiösen, formellen und äußerlichen Begriff des Friedens aus, der nicht auf das Leben in der Wahrheit abstellte, sondern auf das Schweigen der Waffen.9 Diesen Frieden als das Ende des bellum omnium contra omnes kann nur der Staat als souveräne Entscheidungseinheit und Ordnungsmacht garantieren. Der moderne Staat ist seither neutrale Instanz, die über den streitenden Religionsparteien steht. Mit der französischen Revolution hörte der Staat schließlich gänzlich auf, Religion und Kirche zu seiner Sache zu machen. Religion wird Privatangelegenheit des Einzelnen und damit ist die Entwicklung zur Säkularität des modernen Staates strukturell abgeschlossen. Über viele Jahrzehnte hinweg verweigerte sich die katholische Kirche indes der modernen Welt.10 Erst mit der Erklärung des II. Vatikanischen Konzils über die Religionsfreiheit („Dignitatis humanae“) im Jahre 1965 vollendete die Kirche ihr Aggiornamento an die Realität säkularer Staatlichkeit. 2. Frieden statt Wahrheit In der Wahrung des Friedens liegt die „Wahrheit“ des säkularen Staates. Nur kann der Staat für seine Wahrheit nicht mehr eine übergreifende transzendente ins Feld führen, sondern nur eine transzendentale, gerichtet auf die formellen und verfahrensmäßigen Bedingungen der Möglichkeit eines friedlichen und freien Zusammenlebens der Bürger. Sie besteht in der staatlich garantierten prinzipiellen Ergebnisoffenheit des politischen Prozesses, dessen Resultate um des Friedens willen von allen akzeptiert werden müssen. Der weltanschaulich neutrale Staat begnügt sich mit dieser vorletzten Wahrheit der Vernunft, um nicht in den letzten Dingen Partei ergreifen zu müssen. Als Staat entsagt er letzter Erkenntnis prinzipiell: nicht aus erkenntnistheoretischer Skepsis, sondern aus vernunftgeleiteter Überzeugung. Im Dienste seines unbedingten Friedensauftrages beschränkt er seine Aufgabe darauf, die allen gleiche Freiheit unter Friedlichkeitsbedingungen zu garantieren. Der moderne Staat verdankt seine Rechtfertigung rationaler Vernunft, ist daher kultur- und konfessionsunabhängig und damit anderen Erkenntnisformen – narrativen oder hermeneutischen – insoweit überlegen, als die rationale Wahrheit des Staates alle Menschen einsehen können müssen.11 Als abstrakte und formale Wahrheit verbindet sie die Menschen und eint sie durch die Zivilisation des Friedens: während 8

Zur Entchristlichung des Staatsbegriffs: Quaritsch, S. 293 ff. Vgl. Isensee (2004), § 15 Rn. 61 ff.; Böckenförde, Die Entstehung des Staates, S. 105 f. 10 Vgl. Isensee (1987), S. 138 ff. 11 Depenheuer (1999), S. 19 f.

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konkrete Kulturen und Religionen die Menschen trennen, vereint sie die Zivilisation des Staates, indem er die Bedingungen der Möglichkeit friedlichen Zusammenlebens bereitstellt und garantiert. Getragen wird diese staatliche Friedensordnung durch das staatliche Gewaltmonopol: dieses hindert den Bürger an privater Durchsetzung seiner vermeintlichen Rechte und Wahrheiten. Allein der Staat spricht in und durch seine Gerichte „Recht“, allein er setzt dieses Recht im Grenzfall auf der Grundlage seines Monopols physischer Gewalt gegen Widerstand effektiv durch, und allein er vermag deshalb auch grundrechtliche Freiheit rechtspraktisch zu garantieren. Damit haben die staatlich garantierten Grundrechte im Staat sowohl ihren Adressaten – Freiheit gegen den Staat – wie ihren Gewährsträger – Grundrechte durch den Staat – gefunden.12 Allerdings spiegelt sich im Siegeszug des modernen Staates keine historische Notwendigkeit, sondern seine Säkularität bleibt wie alle Zivilisationsleistungen gefährdet. Die Absage an eine für alle verbindliche Wahrheit zugunsten einer alle Bürger umfassenden Friedensordnung hat weder eine logische noch eine historische Notwendigkeit für sich; sie hat sich historisch-kontingent in Europa herausgebildet, läßt sich aber nicht auch rational und universal als „wahr“ beweisen. Für die Säkularität des modernen Staates als des institutionalisierten Vorrangs des Friedens im Inneren streitet nur die historische Erfahrung blutigster Kriege und die durch sie gesättigte Überzeugung vom Wert des Friedens. In Gestalt des islamischen Fundamentalismus wird gegenwärtig diese Überzeugung sowohl theoretisch wie politisch prinzipiell in Frage gestellt. Dessen Plädoyer für die unbedingte und kompromißresistente Geltung der religiösen Wahrheit weist die europäische Antwort in Gestalt des modernen Staates und seiner Friedensordnung prinzipiell zurück. Und tatsächlich wiederholen sich die europäischen Diskussionen des 16. Jahrhunderts nunmehr global und wieder mit militärischer Hintergrundmusik im 21. Jahrhundert. Warum eine religiöse, von Gott geoffenbarte Wahrheit und die mit ihr verbundene transzendente Heilserwartung vor irdischen Herausforderungen und Gefährdungen zurückweichen sollte, dafür gibt es in der Tat wenig plausible logische Gründe. Hier liegt auch heute der Keim für ein latentes und jederzeit aktualisierbares Märtyrertums, das den Tod nicht fürchtet, weil sein Glaube ewige Erlösung im Jenseits verheißt. Um das latente, aber jederzeit eskalationsfähige Spannungsverhältnis von Staat und Religion zu erfassen, muß man diese ebenso spezifischen wie gegenläufigen Logiken beider Systeme verstehen. Die Logik religiöser Wahrheit und die Logik säkularer Staatlichkeit sind fundamental gegensätzlich und auch nicht ineinander überführbar. An religiösen Überzeugungen bricht sich jede staatliche Gewalt nach wie vor: gerade weil Religion ihre Wahrheit „nicht von dieser Welt“ herleitet, kann der Staat sie nicht besiegen. Er steht einem Gegner gegenüber, den er nicht versteht, er kämpft mit Mitteln, die der religiösen Sphäre inkompatibel sind, und er kämpft gegen eine Wirklichkeit, die außerhalb seiner Mächtigkeit liegt: das jenseitige Heil.13 12 13

Kirchhof, S. 9 ff. Vgl. Depenheuer (2008), S. 940 f.

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Angesichts seiner aktuellen Herausforderung durch einen religiösen Fundamentalismus ist der moderne Staat auch zur Selbstbehauptung aufgerufen. Gerade weil er als institutionalisierte Absage an eine materiale Fundierung seiner selbst in einer religiösen Wahrheit zu begreifen ist, kann auch der freiheitliche Verfassungsstaat der Logik einer gegenläufigen „säkularen Wahrheit“ nicht entgehen. Auch die Wahrheit des säkularen Staates ist nicht kompromißfähig. Seine Funktion als Friedensgarant steht nicht zur Disposition, ist nicht verhandlungs- und kompromißfähig, solange der moderne Staat seinen Strukturtypus mit seinen Fundamentalwerten – Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat – gegen Anfeindungen behaupten will.14 So schützt die freiheitlich-demokratische Grundordnung als wehrhafte Demokratie die Offenheit seines Entscheidungsverfahrens, die grundrechtliche Freiheit zur Beliebigkeit und die Relativität demokratischer Mehrheitsentscheidungen. Diese Logik kleidet sich in das Paradox: Keine Freiheit den Feinden der Freiheit, bzw. keine Toleranz gegenüber Intoleranz.15 IV. Der moderne Staat in staatsrechtlicher und sozialethischer Perspektive Zu diesen institutionellen Voraussetzungen des modernen Staates verhält sich die Sozialenzyklika ,Caritas in Veritate‘ nicht expressis verbis; sie setzt sie voraus. Dies ist nicht ohne Gefahren für die logische Kohärenz der Argumentation: denn die Leistungen des modernen Staates – Säkularität, Frieden im Inneren, staatliches Gewaltmonopol, Freiheit und Demokratie, Herrschaft des Rechts – sind nicht zu haben, ohne den dafür zu entrichtenden Preis zu zahlen. Man kann seinen theoretischen wie praktischen Frieden mit dem modernen Staat nicht schließen, ohne dessen strukturelle Konsequenzen mit zu bejahen. So setzt die effektive staatliche Garantie der Grundrechte eine verallgemeinerungsfähige Konstruktion des Staates voraus (1.). Ferner ist die rechtspraktische Freiheitsgewähr gegen den Staat nur um den Preis inhaltlicher Leere dieser – negatorischen – Rechte zu haben. Als negatorische Freiheit enthalten sich die als Grundrechte positivierten Menschenrechte positiver Inhaltsbestimmung zum richtigen Gebrauch der Freiheit, sondern setzen – gerade um der Freiheit des Einzelnen willen – bewußt einen Relativismus von individueller Freiheit- und demokratischer Mehrheitsentscheidung frei (2.). 1. Allgemeinheits- und Verbindlichkeitsanspruch Staat, Verfassung und Gesetze sind in der Demokratie von allen Bürgern des Staates getragen, legitimiert und für alle verbindlich. Darin unterscheidet sich die staatsrechtliche Perspektive deutlich von der sozialethischen der Enzyklika. Staatsrechtlich muß und ist „das Problem der Staatserrichtung […] selbst für ein Volk von Teu14 15

Vgl. Depenheuer (2007). Übersicht: Becker, § 167 Rn. 46 ff.

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feln auflösbar“.16 Weder bedarf es dazu des Wohlwollens und der Mitwirkung der „Menschen guten Willens“,17 noch können Widersprüche der modernen Gesellschaft allein unter Verweis auf die „Liebe“18 aufgelöst werden. Gesellschaftliche Konflikte können staatsrechtlich nicht anders denn in rechtlichen Verfahren abgearbeitet und nach Maßgabe des allein verbindlichen Gesetzesrechts entschieden werden. Staatsrechtlich stehen demokratisch legitimierte Amtsträger in der Pflicht, die ihnen gesetzlich zugewiesenen Kompetenzen nach Maßgabe des demokratisch legitimierten Gesetzes pflichtgemäß wahrzunehmen. Als moralische Aufforderung und ethische Maxime mag das Vertrauen auf das Wohlwollen der Menschen sowie der Appell an die Liebe und den Ethos dem Einzelnen bei der Erfüllung der ihm anvertrauten Aufgaben hilfreiche Orientierung bieten. Aber sie bieten keinen Titel, demokratische Legitimation und Amtsgehorsam sowie rechtlich definierte Kompetenzgrenzen zu überspielen.19 Bedeutung erlangen können sie aber für den einzelnen Grundrechtsträger, indem sie ihm für die Frage nach dem rechten Gebrauch der Freiheit Hinweise, Hilfestellungen und Anregungen geben. 2. Grundrechtlich legitimierter Relativismus Vor allem aber unterscheidet sich der Freiheitsbegriff in den Menschenrechtserklärungen der Kirche markant vom dem der positivierten Grundrechte des Grundgesetzes. Die säkulare Idee individueller Freiheit wurde seit italienischer Renaissance und deutscher Reformation sowohl als Lebenseinstellung wie als Typus des Denkens für die politische Theorie immer mehr dominant.20 Jakob Burckhardt hat diesen Umbruch des Denkens prägnant auf den Punkt gebracht:21 während der mittelalterliche Mensch sich „nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen“ kannte, erwacht jetzt das Bewußtsein seiner Persönlichkeit als einer von allen anderen besonderen, von diesen scharf zu unterscheidenden. Das Prinzip der Individualität durchdringt seither alle Lebensformen, im sittlichen ebenso wie im geselligen Leben. Gegenüber Schranken und Gesetzen aller Art hat der neuzeitliche Mensch „das Gefühl eigener Souveränität“. Er bestimmt seither selbständig, ob er sich zu überkommenen Bindungen bekennt, sie übernimmt, sich in sie einfügt oder sie rational neu gestaltet. Das Martin Luther zugeschriebene Diktum in seiner Rede auf dem Reichstag 1521 in Worms – „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ – steht repräsentativ für das Selbstbewußtsein des sich souverän verstehenden Individuums, das sich dem institutionalisierten Lehramt der Kirche und einem 16

Kant, S. 336. CIV 57. 18 So das Leitmotiv und der gesamte Duktus der Enzyklika, z. B. „Liebe ist der Hauptweg der Soziallehre der Kirche“ (CIV 2). 19 Zu Idee und Begriff des Amtes: Depenheuer (2005), § 36 Rn. 26 ff. 20 Zur Geschichte der individualistisch-mechanistischen Staatstheorie vgl. mit weiteren Nachweisen Depenheuer, Solidarität, S. 241 ff. 21 Burckhardt, S. 95 ff., 328 f. 17

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heteronomen Wahrheitsanspruch nicht mehr beugt. Der Mensch wird zum letzten, nicht mehr hinterfragbaren Baustein allen sozialen, von religiösen Implikationen befreiten, säkularen Lebens. So wurde die Menschenwürde auch im säkularen Staat unantastbar und die Menschenrechte unverfügbar.22 Die souveräne Freiheit des Individuums gegen jegliche Art von – staatlicher, kirchlicher oder sonstiger sozialer – Bevormundung ließ die Idee der Freiheit zur negatorischen, inhaltsleeren „Freiheit von“ werden, einer Freiheit zur Beliebigkeit. Aus den unkoordinierten Handlungen dieser souveränen Individuen erwächst eine Gesellschaft, die in fortschreitender Ausdifferenzierung begriffen ist,23 die in der komplexen Welt der Gegenwart zu einer Vorherrschaft des Relativismus führt,24 die den Einzelnen vor wachsende Zumutungen bei der Bewältigung seines Lebens stellt. 3. Die Zumutung der Moderne: Leben in Differenz Was aber bleibt in dieser modernen, hochgradig ausdifferenzierten Welt vom Begriff der sinnerfüllten, positiven Freiheit? Kann es noch eine umfassende, alle Lebensbereiche abdeckende Wahrheit geben, die dem Einzelnen in einer Welt des Relativismus Orientierung gibt, die die negatorische Freiheit mit positivem Inhalt füllt? Zwei Problemstellungen sind im Hinblick auf diese naheliegenden Fragen, die zugleich gesellschaftliche Grundprobleme der westlichen Verfassungsstaaten darstellen, abzuschichten: zum einen geht es um das Verhältnis von rechtlich gewährleisteter negativer Freiheit gegen den Staat und dem existentiellen Bedürfnis positiver Umsetzung dieser Freiheit durch den Einzelnen, also um die Frage, was der Einzelne mit seiner Freiheit tun soll, um ein seiner Menschenwürde gemäßes Leben selbstbestimmt zu führen (V.). Zum anderen geht es um das Problem, wie die verschiedenen Religionsgemeinschaften in ihrer Funktion als Orientierungsmoderatoren mit der Frage ihrer unterschiedlichen Wahrheitsansprüche umgehen, da doch Wahrheit begrifflich keinen Kompromiß kennt und einen Plural gleichberechtigter Wahrheiten nicht anerkennen kann (VI.).

22 Vgl. Isensee (2006), S. 173 ff.; Depenheuer (2003), S. 7 ff.; Depenheuer, Die Kraft des Mythos, S. 7 ff. 23 Zusammenfassende Analyse: Luhmann. 24 Vgl. Interview mit René Girard, Gardels: „Die heute so offensichtliche Vorherrschaft des Relativismus hat ihre Ursachen zum Teil in den Erfordernissen unserer Zeit. Eine Gesellschaft, in der derart viele Völker leben, ist zwangsläufig heterogen. Man muß die Balance zwischen den verschiedenen Religionen halten und nicht Partei ergreifen. Jede Religion muß als gleichwertig anerkannt werden. Sogar, wenn man kein Relativist ist, muß man wie einer klingen, wenn nicht sogar handeln.“

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V. Religiöse Wahrheit in säkularer Staatlichkeit 1. Grundrecht auf Wahrheit Im modernen freiheitlichen Verfassungsstaat ist die Erfüllung grundrechtlich garantierter Freiheit nicht objektiv vorgegeben und kann es auch nicht sein. Vielmehr ist die Erfüllung der Freiheit dem einzelnen Bürger aufgegeben. Liberale Freiheit gibt dem Einzelnen die Freiheit zur Suche, zum Finden und zum Leben der je eigenen – subjektiven – Wahrheit des Glaubens, insbesondere auch der „im transzendenten wurzelnden, erfüllten Freiheit“:25 „Dazu gehört auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln“.26 Diese subjektiven Wahrheiten der einzelnen Grundrechtsträger sind zwar nur „Möglichkeiten des Denkens“, sie schaffen aber „die Wirklichkeiten des Seins“ (Viktor E. Frankl). Wer auf diesem Wege seine Wahrheit gefunden hat, weiß, daß ihn „die Wahrheit frei machen wird“ (Joh. 8, 32). Das ist indes nicht mehr die staatsgerichtete liberale „Freiheit von“ der Verfassung, sondern das ist die Freiheit von Widrigkeiten des irdischen Lebens in Ansehung des ewigen. Soweit der Einzelne nicht das Glück hat, durch Erziehung und Sozialisation in Familie, Schule und Freundeskreis in eine religiöse Welt mit ihren Werten und Sinnstiftungen hineingewachsen zu sein, bedeutet staatlich eingeräumte liberale negatorische „Freiheit von“ für jeden Menschen eine zweifache praktische Zumutung. Zum einen mag er bei Durchsicht religiöser und sonstiger Sinnangebote sowie verlockender freiheitlicher Emanzipationsoptionen schon wegen deren Vielzahl schier verzweifeln. Er muß sich entscheiden, ohne sich in einem empirisch-positivistischen Sinne sicher sein zu können, ob seine Entscheidung zu einer Glaubenswahrheit „wahr“ ist. Er ist vielmehr darauf verwiesen, sich seiner getroffenen Wahrheitsentscheidung anzuverwandeln und das im Bewußtsein, daß er es war, der sich zu dieser Wahrheit subjektiv bekannt hat. Sein konkreter Glauben wurzelt allein in seiner Subjektivität, ist ihm also nicht objektiv vorgegeben, sondern kann durch einen actus contrarius jederzeit revidiert werden. Jeder Glaube ist und bleibt für den Menschen ein Wagnis – und viele scheuen daher das Bekenntnis zur Wahrheit und unterwerfen sich statt dessen lieber einer kurzweiligen und verführerischen „Diktatur des Relativismus“. 2. Gefahr der Diktatur des Relativismus In der Wirklichkeit der westlichen Staaten wächst der negatorischen „Freiheit von“ eine neue und durchaus fragwürdige Bedeutung zu: Freiheit wird weithin nicht mehr in der Weise ausgeübt, sich in eigener Verantwortung und auf eigenes Risiko für eine Antwort auf seine Freiheitsoptionen und Sinnfragen zu entscheiden, sondern besteht stattdessen im bewußten und gewollten Nichtentscheiden, im Offen25 26

CIV 56. BVerfGE 32, 98 (106 f.).

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halten für möglichst viele Antworten: man genießt und perpetuiert seine Freiheit, sich frei zu entscheiden, indem man sich nicht entscheidet. Tatsächlich hält man sich, solange man beispielsweise nicht heiratet, alle Chancen für alle potentiellen Partner offen, läuft aber zugleich Gefahr, seine Freiheit praktisch nie zu realisieren, die abstrakte Freiheit nie konkret mit realem Leben zu erfüllen.27 Dieses jederzeitige Offenhalten für alles, das Nichtentscheiden-Wollen um einer falsch verstandenen Freiheit willen, verfehlt aber nicht nur die in jeder Freiheitsoption angelegte praktische Erfüllung, sondern kann auch zu jener „Diktatur des Relativismus“ entarten, vor der der Papst seit langem und immer wieder warnt.28 Liberale Freiheit gibt dem Einzelnen also nicht nur die Freiheit zur Suche, zum Finden und zur Erfüllung der Freiheit. Sie erwartet vom Freiheitsberechtigten auch diese die Freiheit erfüllende und dadurch verbrauchende Entscheidung zum Glauben, der dann buchstäblich „Berge zu versetzen“ vermag. Die Tatsache, daß es staatsrechtlich und erkenntnistheoretisch keine objektive Wahrheit mehr gibt, ist kein Titel für den Einzelnen, alle Wahrheiten gleich zu behandeln und in der Sache banal und oberflächlich zu bleiben. Vielmehr muß man sich einer Sache wirklich „mit Haut und Haaren“ verschreiben, für etwas unbedingt da sein, sich für eine Person oder Sache als ganze Person hingeben. Die Verantwortung des Menschen sich selbst gegenüber verlangt also, sich einer Position zu verschreiben und sie mit ganzem Einsatz zu Ende führen.29 Zwar sind diese subjektiven Wahrheiten der Menschen – um es noch einmal zu wiederholen – nur „Möglichkeiten des Denkens“, sie haben aber in Vergangenheit und Gegenwart „die Wirklichkeiten des Seins“ (Viktor E. Frankl) geschaffen. Und tatsächlich: die bedeutendsten Zeugnisse der Menschheit in der Welt sind in aller Regel „Wirklichkeit gewordene Möglichkeiten des Denkens“, Stein gewordene Zeugnisse religiöser Glaubensüberzeugungen vergangener Generationen. Der Himmeltempel in Peking, die Pyramiden von Gizeh oder der Kölner Dom sind großartige Zeugnisse gelebten Glaubens und verkörpern die Sehnsucht der Menschen nach dem verlorenen Paradies. Sie geben uns eine Anschauung von dem, was religiöse Wahrheit an kreativer Schöpfungskraft freizusetzen in der Lage ist, und vermitteln dadurch zugleich auch eine Ahnung von der Wahrheit, aus der heraus sie geschaffen wurden. 3. Keine Freiheit gegen die Wahrheit Rechtliche, staatlich garantierte negatorische Freiheit darf also nicht abstrakt bei sich bleiben, sondern zielt auf erfüllende Praxis. Das bedeutet, sich in Freiheit für eine Option ohne Alternative zu entscheiden. Die einmal getroffene Entscheidung bildet fortan die Grundlage der subjektiven Wahrheit des Einzelnen und hat sich 27 Ein Kompromiß zwischen Entscheidung und Nichtentscheidung votiert für eine zeitlich begrenzte und jederzeit widerrufliche Option: so wird aus dem Ehe- der Lebensabschnittspartner. 28 Es entstehe eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt, so Ratzinger. 29 So Girard.

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damit – zumindest zeitweise – verbraucht. Gegenüber dieser frei getroffenen Wahrheitsentscheidung gibt es logischerweise aber keine subjektive „Freiheit von“ mehr: Freiheit erfüllt sich in der konkreten Entscheidung und ist damit die Absage an jeglichen Relativismus: wer sich frei entschieden hat, ist fortan immun gegen die Zumutungen des Relativismus. VI. Die Kirche und die Pluralität der (Un-)Wahrheiten Die Beliebigkeit grundrechtlicher Freiheitsausübung zu kanalisieren, handlungsleitende Werte zu vermitteln und Orientierungsperspektiven zu zeichnen, ist vornehmste Aufgabe der Sozialisationsagenturen Familie, Schule, Universität, und nicht zuletzt der Religionsgemeinschaften. Doch die Vielfalt existenter, grundrechtlich legitimierter Religionsgemeinschaften führt auch diese in ein Dilemma. Sie verstehen sich als Verwalter einer religiösen Wahrheit und finden sich wieder in Konkurrenz zu anderen Wahrheitsagenturen. Das bedeutet für jede Religionsgemeinschaft die denkbar größte Herausforderung. Denn Wahrheit, insbesondere eine von Gott geoffenbarte Wahrheit, ist logischerweise einem Kompromiß nicht zugänglich. Wie verträgt sich dann aber der eigene Wahrheitsanspruch mit den gleichzeitig von anderen vertretenen abweichenden Wahrheitsansprüchen, die ja logisch nur „unwahr“ sein können? Wie kann ein vermittelnder Weg gefunden werden von der einer Relativierung ebenso wie einem Kompromiß nicht zugänglichen „einen Wahrheit“ zur gleichzeitigen Postulierung der Religionsfreiheit? Wird durch die Anerkennung der „Wahrheit Dritter“ der eigene Wahrheitsanspruch nicht notwendig relativiert, jedenfalls aber „verdunkelt“? Die Antwort liegt nach der Logik des modernen Staates in einer grundlegenden Differenzierung der Fragestellung. Aus der Perspektive des modernen Staates genießen einerseits alle Religionsgemeinschaften die gleiche Freiheit ihres Wirkens. Sie dürfen ihre Wahrheit leben, für sie werben und missionieren, aber nur in den Grenzen der Verfassung, also insbesondere unter Achtung des Friedlichkeitsgebots. Gewalt ist nämlich im modernen Staat unter keinen Umständen zu rechtfertigendes Mittel der Glaubensverkündigung. Aus der Perspektive der Religionsgemeinschaften hingegen haben diese andererseits das Recht, ihren Wahrheits- und den daraus abgeleiteten Vorranganspruch nach ihrem Selbstverständnis unverkürzt zu behaupten und zu praktizieren. So formuliert denn auch ,Caritas in Veritate‘ deutlich diesen Vorranganspruch der katholischen Wahrheit: „Religionsfreiheit bedeutet nicht religiöse Gleichgültigkeit und bringt nicht mit sich, daß alle Religionen gleich sind“.30 Im Bereich der religiösen Glaubenswahrheiten besteht im modernen Staat also eine Art Arbeits- und Gewaltenteilung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften: die Kirchen dürfen in Ausübung ihrer Religionsfreiheit kompromißlos ihren Glauben an ihre Wahrheit verkünden und vorbildlich vorleben, der Staat aber erwartet von ihnen und erzwingt es gegebenen-

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falls, daß sie alle wechselseitig Toleranz gegenüber anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften üben und auf Gewalt verzichten.31 VII. Leitsätze 1. Der moderne Staat als Garant der Grundrechte a) Der moderne säkulare Staat findet seine erste Aufgabe in der Wahrung des Friedens zwischen den Bürgern. In der Wahrung des Friedens liegt die einzige, nicht verhandelbare „Wahrheit“ des säkularen Staates. Im Übrigen werden religiöse und andere Wahrheiten in einem freiheitlichen Gemeinwesen durch Grundrechte und Demokratie pluralisiert. b) Idee und Gestalt, Begründung und rechtspraktische Wirksamkeit der Grundund Menschenrechte sind Derivate der Herausbildung moderner säkularer Staatlichkeit. Sie sind signifikanter Ausdruck und Motor eines bis heute ungebrochenen Ausdifferenzierungsprozesses der Gesellschaft. Die fragmentierte Gesellschaft ist ebenso wie die „Diktatur des Relativismus“ unabweisliche Konsequenz eines freiheitlichen Gemeinwesens. c) Individuen sind in einem freiheitlichen Gemeinwesen die einzig möglichen und zulässigen Bausteine einer staatlichen Zwangsordnung, Grundrechte und Demokratie der Modus ihrer Wirksamkeit. Das Gemeinwohl wird durch demokratische Mehrheitsentscheidung formal bestimmt, die Grundrechte setzen formal Freiheit zur Beliebigkeit frei. Ethische Bindungen kennt das staatliche Recht nur als – rechtlich, d. h. zwangsbewehrt, nicht durchsetzbare – Grundrechts- oder Verfassungserwartungen. 2. Religionsfreiheit und das Risiko der Wahrheit d) Der Wahrheitsbegriff hat sich parallel zur Ausbildung säkularer Staatlichkeit aufgespaltet in einen naturwissenschaftlich-positivistischen und einen geistesgeschichtlich-interpretatorischen: in diesem geht es um die Beantwortung von Sinnbedürfnissen („Die Wahrheit wird euch frei machen“ [Johannes 8, 31]), in jenem um empirisch gesichertes Wissen. e) Aus grundrechtlicher Sicht bilden religiös fundierte Wahrheitsaussagen nichts anderes als – verfassungsrechtlich legitime – Ausübung von Religions- resp. Meinungsfreiheit. Es gilt der Satz: „Grundrechtliche Freiheit eröffnet den Weg zur persönlich zu findenden Wahrheit“. f) Staatlich eingeräumte liberale negatorische „Freiheit von“ läßt die entscheidenden Lebens- und Wahrheitsfragen des Menschen unbeantwortet. Während der Staat diese Wahrheitsfragen nicht beantworten darf und will, müssen die Religionsge31 Zum Friedlichkeitsvorbehalt menschenrechtlicher wie religiöser Mission, vgl. Depenheuer, Risiken und Nebenwirkungen, S. 81, 98 ff.

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meinschaften sie beantworten – freilich der Religionsfreiheit wegen in Konkurrenz zu konkurrierenden Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. g) Die Beantwortung von Sinnfragen bedeutet für den Einzelnen eine nicht auszuräumende Zumutung. Er muß sich subjektiv für eine objektive Wahrheit entscheiden, ohne sich ihrer in einem empirisch-positivistischen Sinne sicher sein zu können. Jeder Glaubensentscheid ist ihm nicht objektiv vorgegeben, sondern wurzelt in seiner Subjektivität. h) Eine verbreitete Alternativstrategie vieler Menschen in freiheitlichen Staaten besteht im Nichtentscheiden, d. h. im Offenhalten für möglichst viele Optionen. Dieses Offenhalten gegenüber den relativen Antworten auf die ewigen Fragen meint der Papst mit seinem Feldzug gegen die Diktatur des Relativismus. Das ist zutreffend: denn wer sich alles offenhält, bekommt eines nie: Erfüllung. Freiheit bedeutet, sich in Freiheit verantwortungsvoll für eine Option (Wahrheit) – allerdings auf eigenes Risiko – zu entscheiden. i) Wer sich in Freiheit für eine Wahrheit entscheidet, ist gegenüber dieser Wahrheit nicht mehr frei. Erfüllte Freiheit bindet. 3. Das Recht des Menschen und die Pluralität der Wahrheiten j) Der Staat hat mit der Vielfalt der religiösen Wahrheiten kein Problem; er steht ihnen inhaltlich indifferent gegenüber. Er fördert Religionsgemeinschaften, wenn und insoweit sie seiner Struktur kompatibel sind, sie das staatliche Letztentscheidungsrecht und den Relativismus von Demokratie und Grundrechten akzeptieren, die Verfassungserwartungen mit konkreten Inhalten erfüllen und auf jede Form der Gewaltausübung verzichten. k) Historisch haben sich die Religionen mit der Vielfalt anderer (Un-)Wahrheiten stets schwer getan. Insbesondere missionarische Wahrheitsansprüche bergen polemogene Implikationen. Tatsächlich ist Wahrheit aus sich heraus kompromißunfähig. l) Die Aufrechterhaltung des eigenen kirchlichen Wahrheitsanspruchs bei gleichzeitiger Postulierung der Religionsfreiheit des Einzelnen bedeutet eine permanente und nur schwer auszuhaltende Herausforderung. Akzeptanz, Toleranz und Wertschätzung anderer (Un-)Wahrheiten läuft Gefahr, den eigenen Wahrheitsanspruch zu relativieren und zu „verdunkeln“. m) Angesichts dieses Dilemmas besteht die Aufgabe der Kirche darin, in Konkurrenz mit anderen den Einzelnen bei der Überwindung der „Diktatur des Relativismus“ die bessere und überzeugendere Hilfestellung und Wegweisung zu geben. So können und dürfen die Kirchen einerseits kompromißlos ihre Wahrheit verkünden und leben. Der Staat andererseits erwartet von ihnen und erzwingt gegebenenfalls wechselseitige Toleranz gegenüber anderen Religionsgemeinschaften und prinzipiellen Verzicht auf Gewalt.

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Literatur Becker, Jürgen: Die wehrhafte Demokratie des Grundgesetzes, in: Isensee, Josef /Kirchhof, Paul (Hg.): Handbuch des Staatsrechts, Band VII, Heidelberg, 1992, § 167 Rn., S. 309 – 360. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie. Erbacher Studien, Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, 1967, S. 75 – 94. – Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt/Main, 1992. – Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt/Main, 1992, S. 92 – 114. Burckhardt, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien, Gesamtausgabe Bd. V, Berlin und Leipzig, 1930. Burger, Rudolf: Multikulturalismus im säkularen Rechtsstaat. Eine zivilisationstheoretische Grenzbestimmung, in: Leviathan, Jg. 25, Heft 2, 1997, S. 172 – 185. Depenheuer, Otto: Auf dem Weg in die Unfehlbarkeit? Das Verfassungsbewußtsein der Bürger als Schranke der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Festschrift für Martin Kriele, 1997, S. 485 – 505. – Wahrheit oder Frieden. Die fundamentalistische Herausforderung des modernen Staates, in: Essener Gespräche, Bd. 33, 1999, S. 5 – 60. – Tabu und Recht – ein Problemaufriß , in: Depenheuer, Otto: Recht und Tabu, Wiesbaden, 2003, S. 7 – 26. – Das öffentliche Amt, in: Isensee, Josef /Kirchhof, Paul (Hg.): Handbuch des Staatsrechts, Band III, Heidelberg, 2005, § 36 Rn., S. 87 – 130. – Selbstbehauptung des Rechtsstaats, Paderborn, 2007. – Kirche – Staat – Gesellschaft, in: Rauscher, Anton (Hg.), Handbuch der Katholischen Soziallehre, 2008, S. 935 – 956. – Solidarität im Verfassungsstaat. Grundlegung einer normativen Theorie der Verteilung [1991], Norderstedt, 2009. – Die Kraft des Mythos und die Rationalität des Rechts. Einführung, in: Depenheuer, Otto: Mythos als Schicksal, Wiesbaden, 2009, S. 7 – 23. – Risiken und Nebenwirkungen menschenrechtlicher Universalität, in: Isensee, Josef (Hg.): Menschenrechte als Weltmission, Berlin, 2009, S. 81 – 100. Gardels, Nathan: Das Christentum ist allen anderen Religionen überlegen. Interview mit René Girard, in: Die Welt vom 14. Mai 2005. Gärditz, Klaus Ferdinand: Säkularität und Verfassung, in: Depenheuer, Otto/Grabenwarter, Christoph (Hg.), Verfassungstheorie, Tübingen, 2010, S. 153 – 198. Hillgruber, Christian: Staat und Religion, Paderborn u. a., 2007. Hobbes, Thomas: Leviathan, 1651. Isensee, Josef: Grundrechte und Demokratie – Die polare Legitimation im grundgesetzlichen Gemeinwesen, in: Der Staat, Jg. 20, 1981, S. 161 – 176.

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– Die katholische Kritik an den Menschenrechten – Der liberale Freiheitsentwurf in der Sicht der Päpste des 19. Jahrhunderts, in: Böckenförde, Ernst-Wolfgang/Spaemann, Robert (Hg.): Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, Stuttgart, 1987, S. 138 – 174. – Staat und Verfassung, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hg.): Handbuch des Staatsrechts, Band II, Heidelberg, 2004, § 15 Rn., S. 3 – 106. – Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, in: Archiv des öffentlichen Rechts, Jg. 131, Heft 2, 2006, S. 173 – 218. Kant, Immanuel, Zum ewigen Frieden [1795], in: Kant’s gesammelte Schriften (Akademieausgabe), Bd. VIII, 1912. Kirchhof, Paul: Der Staat als Garant und Gegner der Freiheit, 2004. Ladeur, Karl-Heinz/Augsberg, Ino: Toleranz – Religion – Recht, Tübingen, 2007. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main, 1997. Quaritsch, Helmut: Staat und Souveränität, Frankfurt/Main, 1970. Ratzinger, Joseph: Hl. Messe Pro eligendo Pontifice, in: L’Osservatore Romano, deutsche Ausgabe vom 22. April 2005. Schlink, Bernhard: Zwischen Säkularisation und Multikulturalität, in: Stober, Rolf (Hg.):, Recht und Recht. Festschrift für Gerd Roellecke, Stuttgart u. a., 1997, S. 301 – 316.

Globale Solidarität und globale soziale Gerechtigkeit Aspekte der theologischen und philosophischen Begründung von zwei zentralen Forderungen in ,Caritas in Veritate‘ Von Arnd Küppers Die grundlegenden Werte der Aufklärung, auf denen die Ideen der Demokratie und der Menschenrechte aufruhen, sind „unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik.“ Auch die in weitem Maße säkularen Gesellschaften der Moderne zehren „nach wie vor von dieser Substanz. Alles andere ist postmodernes Gerede.“1 Diese Aussage von Jürgen Habermas stammt aus dem Jahr 1999. Auf die darin zum Ausdruck kommende Überzeugung des Nestors der zeitgenössischen deutschen Philosophie wurde das breite Publikum jedoch erst aufmerksam im Jahre 2001, als Habermas anlässlich seiner Ehrung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, kurz nach den verheerenden Anschlägen Al Qaidas in den USA, das Thema des Verhältnisses von Religion und säkularer Gesellschaft in seiner Dankesrede erörterte.2 Manche seiner Anhänger ebenso wie manche seiner Gegner waren irritiert durch die dabei zum Ausdruck kommende Sympathie für das jüdischchristliche Erbe. Dieses freilich, so Habermas, sei in der Geschichte „immer wieder kritisch angeeignet und neu interpretiert worden.“3 In seiner Dankesrede spricht er von der Notwendigkeit der „Übersetzung“ religiöser Sinngehalte. Dass etwa der neuzeitliche Wert der Solidarität aus einer solchen Übersetzung und Neuinterpretation der Nächstenliebe hervorgegangen ist, meint auch der Tübinger Philosoph Otfried Höffe. Allerdings glaubt Höffe, dass Solidarität nicht als politisches Prinzip tauge. Denn der Begriff der Solidarität bezieht sich seinem Verständnis nach auf jenen Bereich der Sozialmoral, der das nichtgeschuldete, tugendhafte Handeln abdeckt, das zwar verdienstvoll, aber nicht einklagbar ist, auch nicht vor dem Forum der Moral. Im Verhältnis zur Solidarität komme der Gerechtigkeit, die sich auf den geschuldeten Teil der Sozialmoral beziehe, eindeutig der Vorrang zu. Denn Gerechtigkeitspflichten hätten einen ganz anderen Verbindlichkeitscharakter als Solidaritätsforderungen. „Während wir um das wohlwollende, großzügige oder

1

Habermas (2001a), S. 175. Vgl. Habermas (2001b). 3 Habermas (2001a), S. 175. 2

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Arnd Küppers

solidarische Handeln eines anderen bitten oder darauf hoffen dürfen, ist die gerechte Praxis etwas, das die Menschen voneinander verlangen können.“4 Unabhängig davon, ob diese Position nicht auch aus sozialphilosophischer Perspektive heraus hinterfragt werden kann – der Kieler Philosoph Wolfgang Kersting etwa stützt seinen Ansatz Politischer Ethik ganz wesentlich auf das Prinzip der kollektiven Solidarität einer politischen Gemeinschaft5 – ist hier festzustellen: Papst Benedikt XVI. jedenfalls teilt Höffes Auffassung ganz ausdrücklich nicht. Er sieht weder begrifflich noch tatsächlich eine strikte Trennung zwischen Solidarität und Gerechtigkeit, sondern im Gegenteil eine enge Verbindung beider Werte. I. Gerechtigkeit, Solidarität und Liebe – Christologische Grundierung der Soziallehre Diese Verbindung ergibt sich bei ihm schon deshalb, weil er Solidarität und Gerechtigkeit eben nicht allein als sozialphilosophische, sondern auch – aber nicht ausschließlich – als theologische Begriffe thematisiert. Und theologisch, das ist eine der zentralen Aussagen von Caritas in Veritate, sind Solidarität und Gerechtigkeit wie überhaupt alle herkömmlichen Begriffe der Soziallehre von der Grundbotschaft des Evangeliums her zu deuten: Von der Liebe Gottes, die in Christus auf einzigartige Weise offenbar geworden und vollendet ist, und die die Menschen „[a]ls Empfänger der Liebe Gottes“ dazu einsetzt, „Träger der Nächstenliebe zu sein“ und „selbst Werkzeuge der Gnade zu werden, um die Liebe Gottes zu verbreiten und Netze der Nächstenliebe zu knüpfen. Auf diese Dynamik der empfangenen und geschenkten Liebe geht die Soziallehre der Kirche ein. Sie ist ,caritas in veritate in re sociali‘: Verkündigung der Wahrheit der Liebe Christi in der Gesellschaft“ (CIV 5). Und an anderer Stelle heißt es: „,Caritas in veritate‘ ist das Prinzip, um das die Soziallehre der Kirche kreist“ (CIV 6). Das bedeutet nun aber keineswegs, dass für Benedikt Gerechtigkeit, Solidarität und Liebe in eins fallen. Er sagt vielmehr: Die Liebe geht „über die Gerechtigkeit hinaus und vervollständigt sie in der Logik des Gebens und Vergebens. Die ,Stadt des Menschen‘ wird nicht nur durch Beziehungen auf der Grundlage von Rechten und Pflichten gefördert, sondern noch mehr und zuerst durch Verbindungen, die durch Unentgeltlichkeit, Barmherzigkeit und Gemeinsamkeit gekennzeichnet sind. Die Nächstenliebe offenbart auch in den menschlichen Beziehungen immer die Liebe Gottes; diese verleiht jedem Einsatz für Gerechtigkeit in der Welt einen theologalen und heilbringenden Wert“ (CIV 6). Papst Benedikt teilt ganz offensichtlich die Auffassung von Nikolaus Monzel, der einmal geschrieben hat, die Liebe sei die „Sehbedingung“ und die „treibende Kraft“

4 5

Höffe (1988), S. 68. Siehe hierzu Kersting, S. 376 ff.

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der Gerechtigkeit.6 Hier liegt für Benedikt nicht nur der Grund dafür, dass es überhaupt eine kirchliche Soziallehre gibt, sondern von diesem Punkt aus bestimmt er auch die Aufgabe dieser Soziallehre, ihre Möglichkeiten und ebenso ihre Grenzen. Bereits in seiner Antrittsenzyklika ,Deus Caritas est‘ heißt es dazu: „Die gerechte Gesellschaft kann nicht das Werk der Kirche sein, sondern muss von der Politik geschaffen werden. Aber das Mühen um die Gerechtigkeit durch eine Öffnung von Erkenntnis und Willen für die Erfordernisse des Guten geht sie zutiefst an“ (DCE 28a). Dass nach Benedikt die Liebe, die christliche Caritas, die grundlegende heuristische und hermeneutische Kategorie zur Entfaltung und zum Verständnis der kirchlichen Soziallehre ist, mag ein wesentlicher Grund dafür sein, dass mancher geargwöhnt hat, der Papst verweigere in seiner Sozialenzyklika den Dialog mit der säkularen Welt. „Soziallehre als katholisches Selbstgespräch – ein Trauerspiel“, so lautete das wenig schmeichelhafte Urteil von Daniel Deckers in seinem Leitartikel, der am Tag nach der Veröffentlichung der Enzyklika in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien.7 In der Tat war es immer ein Anspruch der kirchlichen Soziallehre, dass in ihr kein hermetischer, nur im Binnenraum der Kirche verständlicher Diskurs geführt wird. Seit ,Pacem in Terris‘ (1963) richten sich die Sozialenzykliken deshalb auch explizit nicht nur an die Glieder der Kirche, sondern an „alle Menschen guten Willens“, wie es auch in der Adresse von ,Caritas in Veritate‘ heißt. Erreicht werden sollte diese universale Diskursfähigkeit der Soziallehre herkömmlich dadurch, dass ihre wesentlichen Aussagen nicht genuin theologisch, sondern naturrechtlich begründet wurden. Die ersten Sozialenzykliken waren dabei stark von dem neuscholastischen Naturrechtsdenken geprägt, dessen Fokus auf der Frage nach der Schaffung der rechten Gemeinwohlordnung lag.8 Zwar finden sich auch in ,Rerum Novarum‘ (1891) und ,Quadragesimo Anno‘ (1931) eine ganze Reihe Zitate aus der Heiligen Schrift, aber eine systematische bibeltheologische Begründung oder gar Entfaltung der Soziallehre findet hier nicht statt. Das ändert sich erst im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils. Insbesondere die Pastoralkonstitution ,Gaudium et Spes‘ (1965) greift systematisch auf die Heilige Schrift zurück. Das hat seine wesentliche Ursache darin, dass sich der Fokus der Soziallehre mit der Zeit gewandelt hat. Das traditionelle Naturrechtsparadigma der Soziallehre wurde „personalisiert“ und die Menschenwürde zur fundamentalen Bezugsgröße der Sozialverkündigung.9 Abstrakte Überlegungen zu der sich in sozialer 6

Monzel, S. 68. Vgl. Deckers. 8 Allerdings liegt der Schwerpunkt der römischen Sozialverkündigung von Anfang an auf der Auseinandersetzung mit der konkreten Sozialen Frage, was dazu führt, dass auch in den ersten Sozialenzykliken keineswegs, wie gelegentlich unterstellt, der neuscholastische Deduktionismus dominiert, sondern vielfach eher induktiv argumentiert wird, nämlich ausgehend von einer genauen Beschreibung wirtschaftlicher, rechtlicher und sozialer Probleme. 9 Bereits Papst Pius XII. hat – vor allem auch unter dem Eindruck der Menschenverachtung von Nationalsozialismus und Stalinismus – den abstrakten Gemeinwohlbegriff, auf den das 7

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Gemeinschaft verwirklichenden Wesensnatur des Menschen traten dabei in dem Maße mehr in den Hintergrund, in dem das christliche Menschenbild und die theologische Anthropologie in den Vordergrund traten. Die christologisch-anthropologische Spitzenaussage in ,Gaudium et Spes‘, dass „sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft“ aufklärt (GS 22), hat dann vor allem Johannes Paul II. entfaltet, zunächst und gleichsam programmatisch in seiner Antrittsenzyklika ,Redemptor Hominis‘ (1979) und eben nicht zuletzt in seiner Sozialverkündigung. „So können wir“, stellt Otfried Höffe deshalb bereits 1983 fest, „von ,Rerum novarum‘ über ,Gaudium et spes‘ bis heute in der Soziallehre einen Fortschritt an ,Christlichkeit‘ und gleichzeitig ein Zurücktreten des Naturrechtsdenkens im engeren Sinne beobachten.“10 traditionelle neuscholastische Naturrechtsdenken fokussiert war, personalistisch reformuliert und die Menschenwürde zum zentralen Bezugspunkt der Soziallehre erklärt. Erstmals in einer Sozialenzyklika entfaltet wird dieser Gedanke in ,Mater et Magistra‘ (1961) von Papst Johannes XXIII., wo es heißt: „Nach dem obersten Grundsatz dieser Lehre muss der Mensch der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein. […] Dieses oberste Prinzip trägt und schützt die unantastbare Würde der menschlichen Person“ (MM 219 f.). Der Papst betont ausdrücklich, dass „die Soziallehre der katholischen Kirche ein integrierender Bestandteil der christlichen Lehre vom Menschen ist“ (MM 222). Von diesem personalistischen Grundsatz ausgehend, knüpft Johannes XXIII. in seiner Enzyklika an die herkömmlichen Grundsätze und Prinzipien der Soziallehre seiner Vorgänger an, löst diese aber in ihrer Begründung von dem neuscholastischen Modell einer Sozialmetaphysik. Das ist beispielsweise an dem Verständnis des Gemeinwohlbegriffs abzulesen, das sich in ,Mater et Magistra‘ findet. Noch in der Enzyklika ,Mit brennender Sorge‘ (1937), in der Papst Pius XI. Stellung gegen Nationalsozialismus und Rassismus bezieht, begegnet eine Gemeinwohldefinition, deren Abstraktheit in einer irritierenden Spannung zu den konkreten, dramatischen Fragen steht, um die es in dem Text geht. Es heißt dort, dass „das wahre Gemeinwohl letztlich bestimmt und erkannt wird aus der Natur des Menschen mit ihrem harmonischen Ausgleich zwischen persönlichem Recht und sozialer Bindung, sowie aus dem durch die gleiche Menschennatur bestimmten Zweck der Gemeinschaft“ (Mit brennender Sorge 35). Gerade die Einsicht, dass die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts innerhalb der überkommenen neuscholastischen Terminologie nur schwer einzufangen und zu widerlegen waren, war ein Grund für die bereits von Pius XII. eingeleitete und dann unter dem Pontifikat Johannes XXIII. bzw. während des Zweiten Vatikanischen Konzils vollzogene „Personalisierung“ der Soziallehre. Entsprechend definiert ,Mater et Magistra‘ das Gemeinwohl als den „Inbegriff jener gesellschaftlichen Voraussetzungen, die den Menschen die volle Entfaltung ihrer Werte ermöglichen oder erleichtern“ (MM 65). Siehe dazu Nothelle-Wildfeuer (1991). 10 Höffe (1983), S. 18. Höffe unterscheidet zwischen einem Naturrechtsdenken im engeren Sinne und einem im weiteren Sinne. „Das Naturrechtsdenken im engeren Sinn geht von Aussagen über die Natur des Menschen und der Dinge aus, um von ihnen sittliche Verbindlichkeiten über die Gesellschafts- und Rechtsverhältnisse abzuleiten“ (ebd., S. 15). Demgegenüber „vertritt das Naturrechtsdenken in einem weiteren Sinne die These, dass es allgemeine und unbedingt verbindliche Grundsätze der Sittlichkeit (Gerechtigkeit) gibt, an denen wir die Gesellschafts-, Rechts- und Staatsverhältnisse zu messen haben, Grundsätze, die, der menschlichen Verfügung entzogen, absolut gültig sind und mit den natürlichen Fähigkeiten der Vernunft erkannt werden können“ (ebd., S. 12; im Original z. T. Hervorhebungen). Während in der Terminologie Höffes also die Naturrechtsphilosophie im engeren Sinne ein bestimmtes (durchaus in verschiedenen Ansätzen entfaltetes) sozialethisches Denksystem bezeichnet, steht dem Naturrechtsdenken im weiteren Sinne als einzige Alternative der Rechts-

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Diese Entwicklungslinie setzt sich bei Papst Benedikt XVI. fort. Wenn er die in Christus offenbar gewordene Liebe Gottes, die den Menschen zur Nächstenliebe drängt, wenn er ,Caritas in Veritate‘ als den entscheidenden Ausgangs- und Fluchtpunkt der Soziallehre erklärt, dann buchstabiert er letztlich einen Gedanken aus, der sich schon in ,Gaudium et Spes‘ findet und der bereits der Basso Continuo der Sozialverkündigung seines Vorgängers war. Es fällt jedoch auf, dass trotz der christologischen Grundierung der Soziallehre bei Benedikt XVI. an dem traditionellen Naturrechtsparadigma festgehalten wird.11 Gerhard Kruip spricht sogar von einer „Wiederaufwertung des Naturrechtsdenkens“12. Dabei hat der Papst allerdings nicht das rationalistische Naturrecht der Neuscholastik vor Augen, als dessen Kritiker sich seinerzeit der junge Theologieprofessor Joseph Ratzinger hervorgetan hatte.13 Er greift vielmehr auf die Konzeption der Kirchenväter, vor allem des Augustinus, zurück, bei denen das Naturrecht christologisch grundgelegt ist.14 positivismus gegenüber. Wer eine allgemein verbindliche, normative Sozialethik für möglich hält, ist für Höffe damit automatisch ein Naturrechtsdenker im weiteren Sinne: „[E]rkenntnistheoretisch gesehen, gehören der Wahrheitsanspruch und der weitere Begriff des Naturrechtsdenkens untrennbar zusammen“ (ebd., S. 13). 11 Siehe vor allem CIV 59: „In allen Kulturen gibt es besondere und vielfältige ethische Übereinstimmungen, die Ausdruck derselben menschlichen, vom Schöpfer gewollten Natur sind und die von der ethischen Weisheit der Menschheit Naturrecht genannt wird. Ein solches universales Sittengesetz ist die feste Grundlage eines jeden kulturellen, religiösen und politischen Dialogs und erlaubt dem vielfältigen Pluralismus der verschiedenen Kulturen, sich nicht von der gemeinsamen Suche nach dem Wahren und Guten und nach Gott zu lösen. Die Zustimmung zu diesem in die Herzen eingeschriebenen Gesetz ist daher die Voraussetzung für jede konstruktive soziale Zusammenarbeit.“ 12 Kruip, S. 391. 13 Siehe Ratzinger (1964). Er schreibt dort, die neuscholastische Soziallehre habe sich dem „Faktum der Geschichtlichkeit weitgehend entzogen und in abstrakten Formeln eine überzeitliche Sozialdogmatik zu formulieren versucht, die es so nicht geben kann“ (ebd., S. 29). 14 Dabei folgt Benedikt keineswegs der klassischen reformatorischen Augustinus-Interpretation, die den Menschen nach dem Sündenfall ganz versunken im status corruptionis wähnt, völlig unfähig zur vernünftigen Einsicht in das Gute und auch im Bereich der Sittlichkeit ganz auf die Gnade göttlicher Erleuchtung durch Gesetz und Evangelium angewiesen. Benedikt hingegen interpretiert Augustinus so und macht sich diese Position in seiner Theologie zu eigen, dass der Mensch auch nach dem Sündenfall auf das Gute ausgerichtet und zur Erkenntnis des in sein Herz eingeschriebenen Sittengesetzes in der Lage bleibt. Aber in seiner natura lapsa ist er nicht mehr fähig, dieses Ziel aus eigener Kraft voll und ganz zu erreichen. Das Ideal der Selbstvervollkommnung des Menschen durch Bildung – in ganz unterschiedlichen Formen vertreten etwa in der Stoa, dem Neuhumanismus und auch der Reformpädagogik – ist von diesem theologischen Standpunkt aus nicht zu erreichen. Das Gute wird vielmehr nur erlangt und der Inhalt des sittlich Guten wird nur vollkommen erkannt sub luce Evangelii, in der Rückbindung an Gott und seine Selbstoffenbarung in Christus. Siehe dazu Schallenberg. Zum augustinischen Naturrecht siehe Demmer. Insofern vertritt Papst Benedikt eine „mittlere“ Position zwischen den Extremen eines rein offenbarungstheologischen Naturrechts und eines rationalistischen Naturrechts in der Tradition der Neuscholastik. Das wiederum ist eine Variation eines seiner Lebensthemen, das bereits den jungen Theologen Ratzinger in seiner

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Damit soll aber nicht das von Daniel Deckers befürchtete „katholische Selbstgespräch“ initiiert werden. Sicher geht es dem Papst einerseits darum, in die Kirche hinein an die Gründe, auch die theologischen Gründe von Solidarität und Gerechtigkeit zu erinnern. Aber auch im Gespräch mit den nicht-christlichen „Menschen guten Willens“, im interkulturellen Diskurs sind für ihn die genuin theologischen Motive nicht verzichtbar oder gar hinderlich, sondern notwendig, weil sie auf den historischen-kulturellen Entstehungskontext und Begründungshorizont dieser Werte verweisen. Das aber ist nun gerade nicht die von Deckers augenscheinlich befürchtete Reminiszenz an den katholischen Integralismus der Vergangenheit. Von der Perspektive der ethischen Theorien- und Methodendiskussion her könnten hier vielmehr Verbindungen zu den höchst aktuellen Ansätzen hermeneutischer oder narrativer Ethik hergestellt werden. Es geht letztlich um die Frage, wie die faktische kulturelle Abhängigkeit und damit Kontingenz auch basaler Wertvorstellungen15 anerkannt, aber dennoch der Gedanke universaler Werte aufrechterhalten und begründet werden kann. II. Solidarität, Reziprozität und die Notwendigkeit einer „civil economy“ Damit ist in groben Zügen skizziert, vor welchem weiteren theologischen Hintergrund die Begriffe globaler Solidarität und globaler sozialer Gerechtigkeit in der Enzyklika begegnen. Die Entgrenzung von Solidarität und Gerechtigkeit, die globale Perspektive, ist dabei in dem christlichen Verständnis dieser Werte in gewisser Weise immer schon angelegt. Im Neuen Testament wird Solidarität nicht durch Zugehörigkeit zur Polis-Bürgerschaft, durch Abstammung oder Ritus bestimmt, sondern sie besteht aufgrund des Glaubens und des Lebens aus dem Glauben. Die zwischenmenschliche Solidarität ist in christlicher Perspektive eine Antwort auf die in Jesus Christus endgültig offenbar gewordene radikale, unüberbietbare Solidarität Gottes mit den Menschen, auf seine Liebe zu den Menschen. „Solidarität“, so schreibt Benedikt, „bedeutet vor allem, dass sich alle für alle verantwortlich fühlen“ (CIV 38). An dieser Stelle wird besonders gut deutlich, inwiefern der Papst in der beschriebenen Kontinuität zur herkömmlichen kirchlichen Soziallehre steht und wie er sie zugleich weiterentwickelt. Die traditionelle katholische Soziallehre begründet das Solidaritätsprinzip mit der „Gemeinverstrickung“ und „Gemeinverhaftung“ der Mitglieder einer Gemeinschaft.16 In Zeiten der Globalisierung, das zeigte zuletzt die internationale Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, hat diese schicksalhafte Verknüpfung von Einzelwohl und Gemeinwohl eine weltweite Dimension angenommen. Dissertation beschäftigt hat: die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Vernunft. Siehe dazu Menke, S. 13 – 26. 15 Ratzinger (2005), S. 37, spricht in seinem Dialog mit Habermas von der „faktische[n] Nichtuniversalität der beiden großen Kulturen des Westens, der Kultur des christlichen Glaubens wie derjenigen der säkularen Rationalität“. 16 Siehe hierzu etwa Nell-Breuning, S. 54.

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Der Papst sieht diese Entwicklung keineswegs als fatal an, sondern betrachtet sie grundsätzlich als eine „große Chance“ (CIV 33), die allerdings ergriffen und gestaltet werden muss: „In einer Gesellschaft auf dem Weg zur Globalisierung müssen das Gemeinwohl und der Einsatz dafür unweigerlich die Dimensionen der gesamten Menschheitsfamilie, also der Gemeinschaft der Völker und der Nationen, annehmen, so dass sie der Stadt des Menschen die Gestalt der Einheit und des Friedens verleihen und sie gewissermaßen zu einer vorausdeutenden Antizipation der grenzenlosen Stadt Gottes machen“ (CIV 8). In solchen Sätzen fließen genuin theologische Motive mit den traditionellen Begriffen der Soziallehre zusammen. Dabei entsteht nach der festen Überzeugung des Papstes kein Amalgam von Unvereinbarkeiten, sondern ganz im Gegenteil: Es wächst letztlich zusammen, was zusammengehört. Schon 1964 hatte Joseph Ratzinger betont, dass „implizit der ,naturrechtliche‘ Maßstab stark von christlichen Leitideen her gefärbt und geformt ist und ohne sie so nicht denkbar wäre.“17 Gerade in dem heutigen pluralen Diskurs sollten diese Voraussetzungen aber explizit gemacht werden. Das bewahrt die Soziallehre der Kirche einerseits vor einer Ideologisierung und dogmatischen Erstarrung, andererseits vor der Vorstellung, sie sei eine Art Soziotechnik oder Sozialarchitektur. Matthias Drobinski schrieb in seinem kritischen Kommentar für die Süddeutsche Zeitung zum Erscheinen der Sozialenzyklika: „,Caritas in Veritate‘ ist zunächst eine Kulturenzyklika und erst dann eine Sozialenzyklika“18. Papst Benedikt geht aber eben gerade davon aus, dass die in dieser Kritik vorausgesetzte Trennung zwischen einem kulturellen Diskurs und einem im engeren Sinne sozialethischen Diskurs, der nach den institutionellen und strukturellen Voraussetzungen sozialer Missstände und nach auf der gleichen Ebene liegenden Lösungsstrategien fragt, in die Irre führt. Eine reine „Institutionenethik“ ist für ihn keine Option.19 Er beklagt vielmehr, dass man in der Vergangenheit in die „Institutionen ein übertriebenes Vertrauen gesetzt“ habe, „so als könnten sie das ersehnte Ziel automatisch erlangen. In Wirklichkeit reichen die Institutionen alleine nicht aus, denn die ganzheitliche Entwicklung des Menschen ist vor allem Berufung und verlangt folglich eine freie und solidarische Übernahme von Verantwortung“ (CIV 11). Für den Papst liegen auch im Wirtschaftsleben die entscheidenden Fragen dort, wo sie einst der berühmte Ökonom Wilhelm Röpke (1899 – 1966) verortete: Jenseits von Angebot und Nachfrage20. Bereits 1955 schrieb Röpke, dass „die nüchterne Welt des reinen Geschäftslebens aus sittlichen Reserven schöpft, mit denen sie steht und fällt und die wichtiger sind als alle wirtschaftlichen Gesetze und nationalökonomischen Prinzipien. Markt, Wettbewerb und das Spiel von Angebot und Nachfrage er17

Ratzinger (1964), S. 29. Drobinski. 19 Siehe dazu auch Roos. 20 Röpke (1958).

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zeugen diese Reserven nicht, sondern verbrauchen sie und müssen sie von den Bereichen jenseits des Marktes beziehen“21. Das heißt aber nicht, dass der Papst hinter die zentrale Einsicht der modernen Sozialethik zurückfallen möchte, dass Sozialethik primär Institutionen-, Strukturenbzw. Ordnungsethik ist. Karl Homann, der in Deutschland wie kein Zweiter den Ansatz der Institutionen- bzw. Anreizethik bekannt gemacht hat, nimmt Benedikt XVI. bzw. Joseph Ratzinger sogar regelmäßig als „Gesinnungsgenossen“ in Anspruch, indem er sehr häufig einen Satz von diesem aus dem Jahr 1985 zitiert, zuletzt beispielsweise im Rahmen seiner Münchener Abschiedsvorlesung: „Moral muss anreizkompatibel ausgestaltet werden, wenn sie im Wettbewerb bestehen können soll. Oder noch anders und mit den Worten des Repräsentanten einer Institution gesagt, die schlechte Erfahrungen mit dem Versuch gemacht hat, Moral gegen die Gesetzmäßigkeiten der Welt zur Geltung zu bringen: ,Eine Moral, die die Sachkenntnis der Wirtschaftsgesetze überspringen zu können meint, ist nicht Moral, sondern Moralismus, also das Gegenteil von Moral‘.“22 Allerdings zitiert Homann dieses Zitat, so oft er es auch zitiert, nie vollständig. Dadurch gibt er dem Satz Ratzingers einen anderen „Spin“. Vollständig lautet das Zitat: „Eine Moral, die die Sachkenntnis der Wirtschaftsgesetze überspringen zu können meint, ist nicht Moral, sondern Moralismus, also das Gegenteil von Moral. Eine Sachlichkeit, die ohne das Ethos auszukommen meint, ist Verkennung der Wirklichkeit des Menschen und damit Unsachlichkeit. Wir brauchen heute ein Höchstmaß an wirtschaftlichem Sachverstand, aber auch ein Höchstmaß an Ethos, damit der wirtschaftliche Sachverstand in den Dienst der richtigen Ziele tritt und seine Erkenntnis politisch vollziehbar und sozial tragbar wird.“23 Die unterschiedlichen gesellschaftlichen Sektoren in der funktional differenzierten Gesellschaft der Moderne zeichnen sich nicht nur durch unterschiedliche Aufgabenbereiche, sondern auch durch unterschiedliche Rationalitätstypen aus. Es existiert eine ökonomische Rationalität, die sich von einer ethischen Rationalität unterscheidet und diese unterscheiden sich beide wiederum etwa von der ästhetischen Rationalität. Die Notwendigkeit dieser Unterscheidung ist plausibel und unstrittig; sie wird auch von Ratzinger bzw. Papst Benedikt nicht in Frage gestellt. Bereits in seinem Vortrag von 1985 und ebenso in seiner Enzyklika von 2009 wendet er sich allerdings gegen die Vorstellung, dass es zwischen ethischer und ökonomischer Rationalität keine Übergänge und Schnittmengen gibt, dass also in moralischer Hinsicht zu wirtschaftlichen Entscheidungen nichts gesagt werden könne. Ein soziotechnisches bzw. deterministisches Verständnis der Wirtschaft, das allein auf das Wirken der Marktgesetze vertraut, lehnt er ab.

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Röpke (1981), S. 448. Homann, S. 14. 23 Ratzinger (1985), S. 58. 22

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Papst Benedikt erkennt sehr wohl an, dass sich derjenige, der unter den Bedingungen des Wettbewerbs unternehmerisch tätig ist, der also in der Regel Gewinne erwirtschaften möchte, grosso modo nicht nach einem ethischen, sondern nach einem ökonomischen Kalkül wird richten müssen. Das heißt aber nicht, dass er in seinem Handeln als Unternehmer von der ethischen Rationalität gänzlich absehen dürfte, weil „jede wirtschaftliche Entscheidung eine moralische Konsequenz“ (CIV 37) hat. Und Benedikt geht noch weiter, indem er von der Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Betätigung spricht, die nicht primär vom Profitinteresse, sondern zuerst von dem Geist der Solidarität und der Geschwisterlichkeit geleitet ist: „In der Zeit der Globalisierung kann die Wirtschaftstätigkeit nicht auf die Unentgeltlichkeit verzichten, die die Solidarität und das Verantwortungsbewusstsein für die Gerechtigkeit und das Gemeinwohl in seinen verschiedenen Subjekten und Akteuren verbreitet und nährt“ (CIV 38). Gerade solche Passagen mögen von manchem deutschen Leser zunächst als kryptisch, vielleicht sogar realitätsfern empfunden worden sein, weil sie quer zu dem zu stehen scheinen, was in der Sozial- und Wirtschaftsethik gemeinhin kolportiert wird; dass eben, wie Homann zum Beispiel sagt, unter den „Bedingungen der modernen Wirtschaft und Gesellschaft gilt: Wettbewerb ist solidarischer als Teilen.“24 Der Papst spricht dagegen davon, „dass in den geschäftlichen Beziehungen das Prinzip der Unentgeltlichkeit und die Logik des Geschenks als Ausdruck der Brüderlichkeit im normalen wirtschaftlichen Leben Platz haben können und müssen“ (CIV 36). Als Protagonisten solcher damit angesprochenen „Formen solidarischen Wirtschaftslebens“ (CIV 39) sieht er – vor allem, aber nicht ausschließlich – die Zivilgesellschaft, die er als dritten Akteur neben Staat und Markt so prominent wie nie zuvor in der Sozialverkündigung herausstellt.25 Der Papst knüpft mit diesen Überlegungen an die wirtschaftswissenschaftliche Theorie der economia civile bzw. civil economy an, deren prominenteste Vertreter die italienischen Ökonomen Stefano Zamagni und Luigino Bruni sind.26 Zamagnis wichtige Rolle im Hinblick auf den Entstehungsprozess von ,Caritas in Veritate‘ wurde auch dadurch unterstrichen, dass dieser bei der offiziellen Vorstellung des Dokuments anwesend war. Innerhalb der civil economy, so die Grundidee des Ansatzes, herrscht nicht das marktliche Tauschprinzip, es regiert aber auch nicht der reine Altruismus. Die „Zivilwirtschaft“ ist vielmehr bestimmt vom Prinzip der Reziprozität, bei dem jemand ohne unmittelbare Vor- und Gegenleistung im Interesse eines anderen handelt, dabei aber darauf baut, dass durch sein Handeln eine vertrauensvolle Beziehung geschaffen 24

Homann/Blome-Dree, S. 16. Siehe dazu auch Nothelle-Wildfeuer (2009), S. 7. 26 Siehe dazu v. a. Bruni/Zamagni. Martin Schlag vermutet, dass die Enzyklika in Teilen der Öffentlichkeit vor allem auch deshalb auf Verständnisschwierigkeiten gestoßen sei, weil diese ökonomische Denkschule außerhalb Italiens noch nicht genügend bekannt sei. Siehe Schlag. 25

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wird, von der er die begründete Erwartung haben kann, dass sie ihm selbst in Zukunft dienlich sein wird. Zamagni und Bruni, und darin folgt ihnen der Papst, sind nicht der Auffassung, dass das marktliche Tausch- und das Wettbewerbsprinzip in allen wirtschaftlichen Sektoren durch das Prinzip der Reziprozität ersetzt werden könnten oder sollten.27 Sie meinen aber, dass das Vorhandensein zivilwirtschaftlicher Akteure auf dem Markt zu einer Humanisierung der Wirtschaft insgesamt beitragen könnte: „Neben den gewinnorientierten Privatunternehmen und den verschiedenen Arten von staatlichen Unternehmen sollen auch die nach wechselseitigen und sozialen Zielen strebenden Produktionsverbände einen Platz finden und tätig sein können. Aus ihrem Zusammentreffen auf dem Markt kann man sich erhoffen, dass es zu einer Art Kreuzung und Vermischung der unternehmerischen Verhaltensweisen kommt und dass in der Folge spürbar auf eine Zivilisierung der Wirtschaft geachtet wird.“ (CIV 38). Der Papst erkennt erste Anzeichen einer solchen Zivilisierung der Wirtschaft darin, dass in den letzten Jahren die Grenzen zwischen Profit- und Nonprofit-Unternehmen nicht mehr so eindeutig wie früher verliefen (vgl. CIV 46). Auch traditionelle Profit-Unternehmen haben den Nonprofit-Sektor als Betätigungsfeld für sich erschlossen. Diese Tendenzen sind nach Auffassung Benedikts unerlässlich, damit die der Globalisierung innewohnenden Entwicklungschancen realisiert und die mit ihr einhergehenden Gefahren einer noch stärkeren Spaltung der Welt gebannt werden können. Damit sich die Entwicklungsländer aus der Falle der Armut und Machtlosigkeit befreien können, ist die Solidarität der reichen Länder erforderlich, nicht nur der Staaten, sondern auch der Unternehmen und der Zivilgesellschaft, wobei der Papst letztere als treibende Kraft sieht und erhofft. Der moralische Antrieb zu solcher Solidarität mit den Ärmsten der Armen kann nach seiner festen Überzeugung letztlich nicht aus abstrakten Überlegungen zur „Gemeinverstrickung“ und „Gemeinverhaftung“ erwachsen, sondern nur aus dem vom Glauben erfassten Gewissen kommen: „Die zunehmend globalisierte Gesellschaft macht uns zu Nachbarn, aber nicht zu Geschwistern. Die Vernunft für sich allein ist imstande, die Gleichheit unter den Menschen zu begreifen und ein bürgerliches Zusammenleben herzustellen, aber es gelingt ihr nicht, Brüderlichkeit zu schaffen. Diese hat ihren Ursprung in einer transzendenten Berufung durch Gott den Vater, der uns zuerst geliebt hat und uns durch den Sohn lehrt, was geschwisterliche Liebe ist“ (CIV 19).

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Zu den verschiedenen Prinzipien siehe Bruni/Zamagni, S. 163 ff.

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III. Soziale Gerechtigkeit als Beteiligungsund Befähigungsgerechtigkeit Die prominente Anknüpfung an die Theorie der civil economy, die starke Betonung der Bedeutung der Zivilgesellschaft und insbesondere von Formen solidarischen Wirtschaftens in der Sozialenzyklika Benedikts XVI. machen zweierlei deutlich: Erstens, der Papst ist kein Libertärer, der sein ganzes Vertrauen in die Selbstregulierungskräfte des Marktes setzt. Aber, zweitens, der Papst ist auch kein Etatist, der alle Hoffnung auf die Steuerungsfähigkeit des Staates wirft. Das heißt aber nicht, dass er die Notwendigkeit von Markt und Staat in Zweifel ziehen würde. Er würdigt vielmehr die Allokationsleistung des Marktes28 (vgl. CIV 35) und betont die ordnungspolitische Bedeutung des Staates (vgl. CIV 24) bzw. der Staatengemeinschaft (vgl. CIV 67). Er verfällt nicht in den undifferenzierten Antikapitalismus mancher Globalisierungsgegner, sondern betont, dass keineswegs immer der Markt, sondern oftmals gerade die Aushebelung der Marktmechanismen durch politische Machtinstrumente die wirtschaftliche Marginalisierung der Entwicklungsländer bedingen, zum Beispiel und in besonderem Maße im Agrarbereich (vgl. CIV 58). Dennoch betont er die Bedeutung solcher politischer Machtinstrumente, von denen er freilich verlangt, dass sie nicht zur rücksichtslosen Durchsetzung nationaler Interessen, sondern zur Erreichung einer gerechten Weltwirtschaftsordnung eingesetzt werden. Er fordert die Errichtung einer „einer echten politischen Weltautorität“, worunter er „eine übergeordnete Stufe internationaler Ordnung von subsidiärer Art“ versteht, die der Globalisierung einen rechtlichen, sanktionsbewehrten Rahmen geben soll. Auf diese Weise soll „eine der moralischen Ordnung entsprechende Sozialordnung“ (CIV 67) geschaffen werden, die das Ziel globaler sozialer Gerechtigkeit verfolgt.29 In der Katholischen Soziallehre wird der Begriff der sozialen Gerechtigkeit herkömmlich als übergeordnetes sozialethisches Leitbild und Ordnungsprinzip verstanden, das in engem Zusammenhang mit dem Wert des Gemeinwohls steht.30 Soziale Gerechtigkeit wird deshalb in der Tradition häufig mit „Gemeinwohlgerechtigkeit“ übersetzt. Oswald von Nell-Breuning etwa schreibt: „,Sozial gerecht‘ ist, was das Gemeinwohl erfordert oder mindestens ihm nicht zuwider ist; wer dem Gemeinwohl zuwiderhandelt, der versündigt sich damit gegen die soziale Gerechtigkeit. So sind ,soziale Gerechtigkeit‘ und ,Gemeinwohl‘ geradezu zwei Namen für ein und dieselbe Sache.“31 28 Wiemeyer meint jedoch, dass Benedikt angesichts der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise die Marktwirtschaft wieder kritischer einschätze als sein Vorgänger Johannes Paul II. Siehe dazu auch Küppers (2009). 29 Der Münchener Erzbischof Reinhard Marx spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Katholische Soziallehre eine „Weltordnungspolitik“ fordert. Papst Benedikt verwendet diesen Begriff nicht, meint aber ganz offensichtlich genau dies. Vgl. Marx, S. 270 f. 30 Siehe dazu und zum Folgenden Küppers (2008). 31 Nell-Breuning, S. 361.

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Gemeinwohl wiederum wird in der personalistischen Reformulierung des scholastischen bonum-commune-Begriffs, wie sie sich lehramtlich so erstmals in der Enzyklika ,Mater et Magistra‘ von 1961 findet, verstanden als der „Inbegriff jener gesellschaftlichen Voraussetzungen, die den Menschen die volle Entfaltung ihrer Werte ermöglichen oder erleichtern“ (MM 65). Das Gemeinwohl ist in diesem Verständnis also keine quantitative Größe, meint nicht die Summe der Einzelwohle. Das wäre der Gemeinwohlbegriff des Utilitarismus oder des Marxismus, die von der Möglichkeit des planerischen Kalküls gesamtgesellschaftlicher Nutzenmaximierung ausgehen. Das Gemeinwohl, von dem die kirchliche Soziallehre spricht, ist demgegenüber eine qualitative Größe, die darauf gerichtet ist, die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Einzelnen ihre je eigenen Ziele in der sozialen Kooperationsgemeinschaft bestmöglich verfolgen und erreichen können. Die herrschende Terminologie ist heute eine andere. Heute werden auch in der Christlichen Sozialethik weithin Gerechtigkeitsbegriffe bevorzugt, die nicht den Umweg über die personalistische Interpretation des Gemeinwohls beschreiben, sondern unmittelbar den zentralen Bezug der Gerechtigkeit auf den Menschen und auf sein Recht zu personaler Entfaltung herausstellen. In der christlichen Sozialethik ist hier der Begriff der Beteiligungsgerechtigkeit zu nennen.32 Mit diesem Begriff wird auch versucht, die ökonomistische Verengung zu durchbrechen, die in der Rede von der Verteilungsgerechtigkeit liegt. Dass zur Realisierung sozialer Gerechtigkeit Umverteilung in einem gewissen Maß notwendig ist, bleibt dabei selbstredend unbestritten. Aber der Fluchtpunkt ist ein anderer: Die Katholische Soziallehre fragt nicht primär danach, wie faire Distributionsverhältnisse zu erreichen sind, sondern welche sozialen Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit jeder Mensch eine würdige, demütigungsfreie Existenz als anerkanntes Mitglied der sozialen Gemeinschaft führen kann. In diesem Sinne wird soziale Gerechtigkeit nicht alleine durch eine materielle Versorgung aller realisiert, sondern erst durch die Teilhabe aller an den wesentlichen politischen, ökonomischen und kulturellen Vollzügen innerhalb der Gesellschaft. Einen ganz ähnlichen Ansatz vertritt der Ökonom und Gerechtigkeitstheoretiker Amartya Sen mit seinem „capability-based assessment of justice“33, in dem er die personalen und sozialen Verwirklichungschancen der Menschen und damit deren Freiheit in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt. In seiner Antrittsenzyklika ,Deus Caritas est‘ wendet sich Papst Benedikt vor dem Hintergrund dieses Gerechtigkeitsverständnisses gegen den „totale[n] Versorgungsstaat, der alles an sich zieht“ (DCE 28). Hierbei knüpft er direkt an die scharfe Kritik des bürokratischen Wohlfahrtsstaates durch Johannes Paul II. an, der in ,Centesimus Annus‘ (1991) schreibt: „Der Wohlfahrtsstaat, der direkt eingreift und die Gesellschaft ihrer Verantwortung beraubt, löst den Verlust an menschlicher Energie und 32 33

Vgl. Küppers (2008), S. 171. Sen, S. 81.

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das Aufblähen der Staatsapparate aus, die mehr von bürokratischer Logik als von dem Bemühen beherrscht werden, den Empfängern zu dienen“ (CA 48). Wie sein Vorgänger mahnt Benedikt XVI. die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips an. Anders als der fürsorgende Wohlfahrtsstaat, der sich an einem abstrakten Ideal materieller Gleichheit orientiert und die Hilfeempfänger alimentiert, ist der subsidiäre Sozialstaat, wie ihn die Katholische Soziallehre fordert, dem Ideal der Hilfe zur Selbsthilfe verpflichtet.34 In diesem Konzept geht es nicht nur darum, materielle Armut zu beseitigen, sondern vor allem darum im Sinne der Beteiligungsgerechtigkeit Freiräume zu personaler Selbstentfaltung zu eröffnen. Unverkennbar steht dieses Gerechtigkeitsverständnis auch im Hintergrund der Überlegungen Benedikts zur globalen sozialen Gerechtigkeit. Den Prozess der Entwicklung versteht Papst Benedikt dabei so, dass die armen Länder dazu ermächtigt und befähigt werden, innerhalb der zu schaffenden globalen Ordnung eigenen Wohlstand zu erwirtschaften. Dafür ist freilich zunächst einmal Hilfe von außen durch die reichen Länder erforderlich. Aber auch dort, wo es nicht schon um die Schaffung günstiger Entwicklungsbedingungen geht, sondern zunächst einmal um die basalen Existenzbedingungen, bei der Bekämpfung des Hungers, betont der Papst die Notwendigkeit, die Hilfeempfänger in die Entscheidungen über die Hilfsmaßnahmen einzubeziehen (vgl. CIV 27). Wie er den Paternalismus des Fürsorgestaates ablehnt, so lehnt er auch ein paternalistisches Verständnis von Entwicklungshilfe ab. Natürlich müssen hochentwickelte Länder den Entwicklungsländern helfen, damit günstige Entwicklungsbedingungen entstehen. Neben fairen Welthandelsregeln nennt der Heilige Vater beispielsweise den Zugang zu Energieressourcen (vgl. CIV 49). Es geht dabei aber vor allem darum, die Grundlagen für eine erfolgversprechende Eigentätigkeit und Selbsthilfe der Menschen in den armen Ländern zu schaffen. Deswegen betont Benedikt gerade in einer Entwicklungsenzyklika so sehr die Bedeutung der Zivilgesellschaft. Von der Zivilgesellschaft in den reichen Ländern erhofft er sich Initiativen, die Formen solidarischen Wirtschaftens im Sinne der Reziprozität in den armen Ländern anregen und fördern, wodurch auch in den Entwicklungsländern eine aktive Zivilgesellschaft entstehen kann und ein Netz wechselseitigen Vertrauens geschaffen wird. IV. Fazit Papst Benedikt vertritt einen personalistischen und ganzheitlichen Begriff von Entwicklung. Zustimmend zitiert er Papst Paul VI., der in ,Populorum Progressio‘ (1967) schreibt: „Wahre Entwicklung muss umfassend sein, sie muss jeden Menschen und den ganzen Menschen im Auge haben“ (PP 14). Auch mancher, der diesen Ansatz der Enzyklika würdigt, beklagt, dass der Papst keine Konzepte zum Verändern der Unterentwicklung auf der Höhe der herrschenden sozialwissenschaftlichen Diskurse anbiete.35 Die Rezeption des innovatorischen ökonomischen 34 35

Siehe dazu Nothelle-Wildfeuer (2004), S. 84 ff. Siehe etwa Gabriel.

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Konzepts der civil economy durch Benedikt, die vor allem in Deutschland von den ersten Kommentatoren der Enzyklika gar nicht erkannt wurde, lässt dieses scharfe Urteil zumindest zweifelhaft erscheinen. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Zamagni und Bruni im Zusammenhang mit der Rezeption von ,Caritas in Veritate‘ steht in der deutschsprachigen Sozialethik jedenfalls noch aus. Der Schwerpunkt der Enzyklika aber liegt zweifellos tatsächlich nicht im sozialwissenschaftlichen Diskurs. „Die Gefahr unserer Zeit besteht“ nach Auffassung Benedikts „darin, dass der tatsächlichen Abhängigkeit der Menschen und der Völker untereinander keine ethische Wechselbeziehung von Gewissen und Verstand der Beteiligten entspricht, aus der eine wirklich menschliche Entwicklung als Ergebnis hervorgehen könnte.“ Hier vor allem sieht er sich in seinem Amt als Oberhaupt der katholischen Weltkirche und weltweit geachtete moralische Autorität gefordert. Er möchte vor allem moralische und geistliche Orientierung in der Globalisierung bieten möchte. Dafür, so betont er, hat die Kirche „keine technischen Lösungen anzubieten […]. Sie hat aber zu allen Zeiten und unter allen Gegebenheiten eine Sendung der Wahrheit zu erfüllen für eine Gesellschaft, die dem Menschen und seiner Würde und Berufung gerecht wird“ (CIV 9). Literatur Bruni, Luigino/Zamagni, Stefano: Civil Economy. Efficiency, Equity and Public Happiness, Oxford u. a., 2007. Deckers, Daniel: Katholisches Selbstgespräch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. 7. 2009. Demmer, Klaus: Ius Caritatis. Zur christologischen Grundlegung der augustinischen Naturrechtslehre, Rom, 1961. Drobinski, Matthias: Der weltfremde Papst, in: Süddeutsche Zeitung vom 08. 07. 2009. Gabriel, Karl: Globalisierung, Entwicklung und die Rolle der Religion. Anmerkungen zur Enzyklika Caritas in veritate, in: Amos. Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik, Heft 3, 2009, S. 10 – 16. Habermas, Jürgen: Ein Gespräch über Gott und die Welt, in: Habermas, Jürgen: Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX, Frankfurt a.M., 2001, S. 173 – 196. – Dank, in: Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hg.), Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001 Jürgen Habermas. Ansprachen aus Anlass der Verleihung, Frankfurt a.M., 2001, S. 37 – 56. Höffe, Otfried: Erkenntnistheoretische Überlegungen zur kirchlichen Soziallehre, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, Jg. 24, 1983, S. 9 – 28. – Das Prinzip Gerechtigkeit, in: Maydell, Bernd v./Kannengießer, Walter (Hg.), Handbuch Sozialpolitik, Pfullingen, 1988, S. 66 – 78.

Globale Solidarität und globale soziale Gerechtigkeit

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Homann, Karl: Was bringt die Wirtschaftsethik für die Ethik? Abschiedsvorlesung an der Ludwig-Maximilians-Universität München am 17. Juli 2008 (Wittenberg-Zentrum für Globale Ethik. Diskussionspapier, Nr. 2008 – 4, Wittenberg, 2008. Homann, Karl/Blome-Drees, Franz: Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen, 1992. Kersting, Wolfgang: Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart/Weimar, 2000. Kruip, Gerhard: Entwicklung und Wahrheit. Die Sozialenzyklika Benedikts XVI. ermöglicht viele Lesarten, in: Herder Korrespondenz, Jg. 63, 2009, S. 388 – 392. Küppers, Arnd: Soziale Gerechtigkeit im Verständnis der Katholischen Soziallehre, in: Rauscher, Anton (Hg.) Handbuch der Katholischen Soziallehre, Berlin, 2008, S. 165 – 174. – Jenseits von Angebot und Nachfrage. Die Enzyklika „Caritas in Veritate“ und die Wirtschaftskrise, in: IKaZ Communio, Jg. 38, 2008, S. 419 – 427. Marx, Reinhard: Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen, München, 2008. Menke, Karl-Heinz: Der Leitgedanke Joseph Ratzingers. Die Verschränkung von vertikaler und horizontaler Inkarnation, Paderborn, 2008. Monzel, Nikolaus: Die Sehbedingung der Gerechtigkeit, in: Monzel, Nikolaus: Solidarität und Selbstverantwortung. Beiträge zur christlichen Soziallehre, München, 1959, S. 53 – 71. Nell-Breuning, Oswald von: Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, Wien, 1980. Nothelle-Wildfeuer, Ursula: „Duplex ordo cognitionis“. Zur systematischen Grundlegung einer Katholischen Soziallehre im Anspruch von Philosophie und Theologie (Abhandlungen zur Sozialethik 31), Paderborn u. a., 1991. – Subsidiäre Defizite des Sozialstaats, in: Rauscher, Anton (Hg.), Der Sozialstaat am Scheideweg (Mönchengladbacher Gespräche, Bd. 24), Köln, 2004, S. 69 – 100. – Liebe und Wahrheit, Gerechtigkeit und Gemeinwohl als Leitlinien von Entwicklung. Die Grundaussagen der neuen Enzyklika im Kontext der katholischen Soziallehre, in: Amos. Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik, Heft 3, 2009, S. 3 – 9. Ratzinger, Joseph: Naturrecht, Evangelium und Ideologie in der katholischen Soziallehre. Katholische Erwägungen zum Thema, in: Bismarck, Klaus von/Dirks, Walter (Hg.): Christlicher Glaube und Ideologie, Stuttgart u. a., 1964, S. 24 – 30. – Marktwirtschaft und Ethik, in: Roos, Lothar (Hg.): Stimmen der Kirche zur Wirtschaft, Köln, 1985, S. 50 – 58. – Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische Grundlagen eines freiheitlichen Staates, in: Ratzinger, Joseph: Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg i.Br., 2005, S. 28 – 40. Roos, Lothar: Menschen, Märkte und Moral. Die Botschaft der Enzyklika „Caritas in veritate“ (Kirche und Gesellschaft, Nr. 362), Köln, 2009. Röpke, Wilhelm: Jenseits von Angebot und Nachfrage, Erlenbach u. a., 1958. – Ethik und Wirtschaftsleben, in: Stützel, Wolfgang u. a. (Hg.), Grundtexte zur Sozialen Marktwirtschaft, Stuttgart-New York, 1981, S. 439 – 450.

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Schallenberg, Peter: Fortschritt in der Wahrheit. Zum augustinischen Naturrecht in der Enzyklika „Caritas in veritate“, in: Die Neue Ordnung, Jg. 64, 2010, S. 96 – 101. Schlag, Martin: Katholische Soziallehre in Kontinuität? Wirtschaftsethische Anmerkungen zu „Caritas in Veritate“, in: Die Neue Ordnung, Jg. 64, 2010, S. 84 – 95. Sen, Amartya: Inequality reexamined, New York, 1992. Wiemeyer, Joachim: Marktwirtschaft und Gemeinwohl. Benedikt XVI. zu den Defiziten und Möglichkeiten der Abhilfe, in: Amos. Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik, Heft 3, 2009, S. 17 – 22.

Die Ethik des Marktes und die Aufgabe der Wissenschaft Von Giuseppe Franco1 Mit Caritas in veritate hat Papst Benedikt XVI. die katholische Soziallehre erneuert und inhaltlich bereichert. Mit dieser Enzyklika betont der Papst das Proprium der Soziallehre der Kirche, das darin besteht, die christliche Perspektive im sozialen Bereich zu verorten und eine Interpretation der menschlichen Wirklichkeit aus der Sicht eines handlungsorientierten Glaubens vorzuschlagen. Die Enzyklika bietet eine theologisch-anthropologische Analyse der aktuellen sozialen und wirtschaftlichen Situation. Sie ist kein ökonomisches Traktat, sondern eine lehramtliche Verlautbarung, die pastorale Absichten verfolgt und auf die ganzheitliche Entwicklung des Menschen ausgerichtet ist. Sie soll nicht nur als eine soziale Enzyklika betrachtet werden, sondern ist mit den spezifischen Zügen seines Lehramts zu verbinden.2 Im Mittelpunkt steht die Beziehung zwischen Glaube und Vernunft und die Idee der Wahrheit und der Liebe, innerhalb derer die aktuelle kulturelle, soziale und wirtschaftliche Situation zu betrachten ist. Das Schreiben liefert eine theologische Reflexion der Herausforderungen der Globalisierung. Caritas in veritate hat neue Aspekte in die soziale Reflexion der Kirche eingebracht,3 so z. B. die Erörterung globaler Finanztransaktionen, den ethischen Umgang mit natürlichen Ressourcen, das Prinzip der Unentgeltlichkeit und die Logik des Geschenks. Bereits unmittelbar nach ihrer Veröffentlichung wurde diese Enzyklika international intensiv erörtert.4 Sie hat vielfältige Diskussionen hervorgerufen. Theologen, Ökonomen, Philosophen, Politiker und Intellektuelle aller Art haben sich mit ihr beschäftigt. Sie hat sowohl Christen wie Nichtchristen angesprochen. Sie bietet eine Interpretation und eine Kritik der gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart im Lichte des Glaubens an und erweitert den Horizont auf die gesamte Menschheitsfamilie. Damit hat die katholische Soziallehre eine neue Orientierung bekommen, mit der sie ihr „Duc in Altum“ vollziehen kann. Diese Enzyklika ist ein komplexes und vielschichtiges Dokument. Sie lässt Raum für verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Der Text verlangt deshalb eine eingehende und aufmerksame Lektüre. Durch 1 Für wertvolle Anregung und für die sprachlichen Verbesserungen des deutschen Textes bedanke ich mich herzlich bei Herrn Prof. Dr. Jörg Althammer. 2 Semeraro, S. 24 f. 3 Bei der Themenvielfalt der Enzyklika fällt jedoch auf, dass bestimmte Problembereiche – wie beispielsweise die Rolle der Frau in der modernen Gesellschaft, die Stellung der Familie oder auch das Thema Krieg und Rüstungsausgaben – nicht behandelt werden; vgl. Salvini (2009), S. 469 f. 4 In Deutschland war die wissenschaftliche Resonanz jedoch eher verhalten.

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die teilweise schwer nachvollziehbaren Formulierungen fällt dies nicht immer leicht.5 Im Folgenden wende ich mich zunächst den in Caritas in veritate enthaltenen Überlegungen über die Rolle und die Grenze des Marktes und seinen notwendigen institutionellen und ethischen Voraussetzungen zu. Es wird besonders der institutionelle und politische Weg der Nächstenliebe hervorgehoben, die der Papst in diesem Schreiben ausdrücklich betont. Dabei wird die Übereinstimmung dieser Idee mit den konzeptionellen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft – insbesondere wie sie von Wilhelm Röpke formuliert wurden – aufgezeigt. Danach werde ich einen der neuen und bedeutenden Aspekte dieser Enzyklika behandeln, d. h. das Prinzip der Unentgeltlichkeit und die Logik des Geschenks. Schließlich wird auf die Bedeutung der epistemologischen Dimension der Soziallehre und auf den unentbehrlichen Dialogprozess zwischen Theologie und Ökonomie eingegangen. I. Soziale Marktwirtschaft und der institutionelle Weg der Liebe Wenn man einen Blick auf die Geschichte der Soziallehre der Kirche – von Rerum novarum bis zu Caritas in veritate – wirft, kann man feststellen, dass diese eine Annäherung an die Prinzipien und Inhalte der Sozialen Marktwirtschaft vollzogen hat.6 Diese Entwicklung verlief allerdings nicht immer linear; sie war vielmehr von Spannungen, gegenseitigen Missverständnissen und Vorbehalten geprägt. Wenn man jedoch den positiven und reziproken Einfluss beider Denkströmungen anerkennt, so kann man von einer Konvergenz zwischen den Prinzipien der Soziallehre der Kirche und denen der Sozialen Marktwirtschaft sprechen. Der Höhepunkt dieser gegenseitigen Würdigung findet in der Enzyklika Centesimus annus von Johannes Paul II. ihren Ausdruck. Obwohl sie nicht explizit den Ausdruck „Soziale Marktwirtschaft“ verwendet, greift sie dennoch deren Inhalte und Prinzipien auf. Die Nähe in Bezug auf die anthropologischen, sozialen und ethischen Voraussetzungen der politischen und ökonomischen Ordnung ist offensichtlich. Wohlbekannt ist die positive Haltung von Johannes Paul II. dem freien Markt gegenüber, der als eine der wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen betrachtet wird, und zugleich eine soziale Dimension besitzt. Der freie Markt scheint „[…] das wirksamste Instrument für die Anlage der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse zu sein“ (CA 34). Gleichzeitig betont diese Enzyklika aber auch die Grenzen des Marktes und die Notwendigkeit seiner ethischen Fundierung. Eine ad5

Wenn die lehramtlichen Rundschreiben zukünftig „allen Menschen guten Willens“ zugänglich gemacht werden sollen, ist auf einen verständlichen Sprachstil zu achten. 6 Für eine Rekonstruktion und Beurteilung der Beziehungen zwischen christlicher Soziallehre, dem Neoliberalismus und Sozialen Marktwirtschaft vgl. folgende Beiträge: NothelleWildfeuer/Steger (2006); Roos (2008); Rauscher (1985), (2006), (2008). Vgl. auch die Artikel von Lothar Roos in: Unterberg (2010), S. 15 – 57.

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äquate Interpretation des freien Marktes und des Prinzips des freien Wettbewerbs sind die Grundsätze der ökonomischen Ordnung. Johannes Paul II. fragte sich zu Recht, ob der Kapitalismus nach dem Scheitern des Kommunismus das „siegreiche Gesellschaftssystem“ sei, das den Ländern der Dritten Welt als Modell dienen soll. „Die Antwort ist natürlich kompliziert. Wird mit „Kapitalismus“ ein Wirtschaftssystem bezeichnet, das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die Produktionsmittel, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt, ist die Antwort sicher positiv. Vielleicht wäre es passender, von „Unternehmenswirtschaft“ oder „Marktwirtschaft“ oder einfach „freier Wirtschaft“ zu sprechen. Wird aber unter „Kapitalismus“ ein System verstanden, in dem die wirtschaftliche Freiheit nicht in eine feste Rechtsordnung eingebunden ist, die sie in den Dienst der vollen menschlichen Freiheit stellt und sie als eine besondere Dimension dieser Freiheit mit ihrem ethischen und religiösen Mittelpunkt ansieht, dann ist die Antwort ebenso entschieden negativ.“ (CA 42)

Der Papst bot eine ausgewogene Anerkennung und Wertschätzung der Rolle des Marktes und des Wettbewerbs an und betonte die Notwendigkeit einer sozialen Rahmenordnung, in die der Markt gestellt werden soll: „Die Wirtschaft, insbesondere die Marktwirtschaft, kann sich nicht in einem institutionellen, rechtlichen und politischen Leerraum abspielen.“ (CA 48) Welche Bedeutung schreibt Caritas in veritate der Logik des Marktes zu? Welche sind seine positiven Leistungen und worin bestehen die Grenzen der ökonomischen Logik? Welche sind die ethischen Prämissen des Marktes? Kann man von einer Konvergenz zwischen Caritas in veritate und den Grundsätzen des Ordoliberalismus und der Sozialen Marktwirtschaft sprechen? In Caritas in veritate finden sich neben einer ausdrücklichen Würdigung des Marktes auch die Betonung seiner Grenzen und die Hervorhebung seiner ethischen Voraussetzungen. Die Enzyklika unterstreicht die anthropologische Dimension des Marktes. Bedeutend und zentral sind hierfür die Textziffern 35 und 36. Benedikt XVI. stellt fest: „Der Markt ist, wenn gegenseitiges und allgemeines Vertrauen herrscht, die wirtschaftliche Institution, die die Begegnung zwischen den Menschen ermöglicht, welche als Wirtschaftstreibende ihre Beziehungen durch einen Vertrag regeln und die gegeneinander aufrechenbaren Güter und Dienstleistungen austauschen, um ihre Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen“ (CiV 35). II. Der Markt als Ort der Begegnung der Menschen und der Ideen Wenn man den Prozess der Globalisierung betrachtet und die außergewöhnlichen historischen und kulturellen Zusammenhänge berücksichtigt, drängt sich eine Analogie zu Ursprung und Entstehung der abendländischen Philosophie auf. Mit ein wenig hermeneutischer Gewalt kann man eine Parallele zwischen der durch die Globalisierung geschaffenen Situation und den günstigen Bedingungen, die zur Geburt

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der Philosophie und des Aufschwungs des kritischen Denkens führten, ziehen. Aristoteles sagte, dass die Philosophie eine freie und göttliche Wissenschaft sei. Sie ist entstanden, als die Menschen ihre ersten materiellen Bedürfnisse erfüllt haben, als sie eine gewisse Freiheit von den unmittelbaren Bedürfnissen des Lebens erreicht haben. Karl Popper argumentiert, dass mit den Vorsokratikern die Tradition des kritischen Diskurses eingeleitet wurde. Daraus hat sich die rationale Haltung der abendländischen Philosophie und Wissenschaft entwickelt. Popper bietet eine psychologische und soziologische Erklärung für die Entstehung der Philosophie. Die Griechen waren der Ursprung unserer westlichen Gesellschaft. Sie haben eine große Revolution hervorgerufen, die nicht nur kulturell, sondern auch geistig ist. Sie bestand im Übergang von der geschlossenen zu der offenen Gesellschaft.7 Gerade die griechischen Kolonien haben durch den Handel die Grundlagen für neuen kulturellen Austausch und Begegnungen geschaffen. Der Handel und die Entwicklung der maritimen Kommunikation ließen das dogmatische Bild der philosophischen Tradition und die Idee einer magischen, kollektivistischen Stammes- und Gesellschaftsordnung erodieren. Durch den Markt und den Handel wurden nicht nur Güter ausgetauscht, sondern auch Informationen, Ideen sowie philosophische und religiöse Auffassungen. Der Warenverkehr führte zu kulturellem Austausch und beförderte einen Pluralismus von Ideen. Vor allem die Ionische Schule erarbeitete eine Tradition, die darauf abzielte, sich der Wahrheit durch kritische Diskussion anzunähern. Insofern hat sich die Philosophie als unbeabsichtigte Folge einer absichtlichen Handlung entwickelt. Die auf Gewinnerzielung ausgerichteten Handlungen der Marktakteure schufen die Voraussetzungen für den Austausch von Ideen. In den Häfen der griechischen Kolonien in Kleinasien, wie Milet, trafen sich die Griechen, die Phönizier und die Syrer. Hinter jedem Produkt gab es Ideen, Konzepte und unterschiedliche kulturelle und religiöse Auffassungen und verschiedene Gottesbilder. Die Poleis und die griechischen Kolonien haben sich durch den Handel geöffnet und sind in Kontakt mit neuen Traditionen und Kulturen getreten. Philosoph wurde derjenige, der die traditionelle Struktur der geschlossenen Gesellschaft in Frage stellte und für eine offene Gesellschaft plädierte. Es waren die Händler und die Kaufleute, die unbeabsichtigt die Philosophen erzeugten. Der Handel führt den Menschen zur Begegnung mit anderen Kulturen. Dadurch wird auch der Mensch aufgefordert, zwischen verschiedenen Vorstellungen zu wählen und den Logos, die Vernunft auszuüben. Von daher führt der Markt den Mensch dazu, sich mit anderen philosophischen, kulturellen, religiösen Traditionen auseinanderzusetzen und sie zu kritisieren und zu diskutieren.8 Wie der Handel im antiken Griechenland die Poleis zur Begegnung mit anderen Kulturen führte, so beinhalten die heutigen Globalisierungsprozesse das Potential für Begegnungen mit Menschen und Kulturen. Diesem Prozess soll aber – worauf Benedikt XVI. hinweist – eine Globalisierung der Solidarität folgen. Die durch Globalisierung ermöglichte weltweite Vernetzung der Menschheit hat eine „Wechselwir7 8

Vgl. Popper, S. 175 – 197; S. 218 – 222. Vgl. Antiseri.

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kung zwischen den Kulturen“ (CiV 26) bewirkt. Der interkulturelle und interreligiöse Dialog stellt eine Herausforderung für die Globalisierung dar und kann als ein potentieller Entwicklungsfaktor betrachtet werden. Er kann dazu beitragen, Wirtschaftsprobleme zu lösen: er kann einerseits ein neues ethisches Bewusstsein und Verständnis des Marktes und des Wirtschaftslebens motivieren und fördern, und anderseits einen sozialen, kulturellen und politischen Beitrag leisten. Es geht um fruchtbare Aspekte, die die soziale Reflexion der Kirche stärker berücksichtigen und thematisieren sollen.9 In der Enzyklika Caritas in veritate werden der Markt und die Globalisierung nicht dämonisiert. Aber sie weist auf die Risiken hin, die die Globalisierung mit sich bringt. Die Globalisierung ist an sich „a priori weder gut noch schlecht. Sie wird das sein, was die Menschen aus ihr machen“ (CiV 42). Sie ist ein vielschichtiges Phänomen, das die Möglichkeit einer Entwicklung durch „Beziehung, Gemeinschaft und Teilhabe“ (CiV 42) eröffnet. Daher tragen die Erfahrung der Globalisierung nicht nur negative Züge, sondern sie bieten auch „Anlass zu Unterscheidung und neuer Planung“ (CiV 21). Bei der Generalaudienz am 08. Juli 2009, in der der Papst die Enzyklika erörterte, sagte er, dass das Phänomen der Globalisierung eine echte Gelegenheit für die Entwicklung der Völker bilden könne, die aber „eine tiefgreifende moralische und kulturelle Erneuerung“ braucht: „Eine bessere Zukunft für alle ist möglich, wenn sie auf der Wiederentdeckung der fundamentalen ethischen Werte gründet. Das heißt, es bedarf einer neuen wirtschaftlichen Planung, die die Entwicklung in globaler Weise neu festlegt und sich dabei auf das ethische Fundament der Verantwortung vor Gott und dem Menschen als Geschöpf Gottes stützt.“10 In Caritas in veritate werden der Wert des Marktes und dessen soziale Funktion betont. Der Markt stellt eine Bedingung für eine beständige Entwicklung dar und kann zum Gemeinwohl und zum Wohlergehen des Menschen beitragen. Gleichzeitig verweist der Papst auch auf die Notwendigkeit des Einbezugs der marktwirtschaftlichen Ordnung in eine gesellschaftliche Gesamtordnung. Neben der ausgleichenden Gerechtigkeit des Marktes betont die Soziallehre der Kirche auch die Rolle der distributiven Gerechtigkeit und die Rolle der Liebe als Grundlage der Marktwirtschaft „nicht nur weil diese (die Marktwirtschaft, Anm. d. Verf.) in das Netz eines größeren sozialen und politischen Umfelds eingebunden ist, sondern auch aufgrund des Beziehungsgeflechts, in dem sie abläuft“ (CiV 35). Damit macht die Enzyklika deutlich, dass die soziale Gerechtigkeit nicht nur Ergebnis, sondern auch eine Voraussetzung für eine funktionsfähige Marktwirtschaft ist. Obwohl der Markt seinen Eigengesetzlichkeiten unterliegt, ist es für die soziale Akzeptanz der Wettbewerbswirtschaft unerlässlich, ein gewisses Maß an sozialem Ausgleich und an Beteiligungsmöglichkei9

Vgl. hierzu das Projekt Weltethos des Theologen Hans Küng (1990); (1997); (2006); (2010). 10 http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/audiences/2009/documents/hf_benxvi_aud_20090708_ge.html Zugriff: 19 Oktober 2011.

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ten zu schaffen. Die Enzyklika spricht in diesem Zusammenhang vom „institutionellen […] Weg der Nächstenliebe“ (CiV 7). An dieser Stelle wird deutlich, dass Caritas in veritate nicht nur die Individualethik betont, sondern ausdrücklich auf die Rolle der Sozialethik verweist.11 Der Papst spricht explizit von dem institutionellen und politischen Weg der Caritas, die Ausdruck des Gemeinwohls und der sozialen Gerechtigkeit ist: „Sich für das Gemeinwohl einzusetzen bedeutet, die Gesamtheit der Institutionen, die das soziale Leben rechtlich, zivil, politisch und kulturell strukturieren, einerseits zu schützen und andererseits sich ihrer zu bedienen, so daß auf diese Weise die Polis, die Stadt Gestalt gewinnt. […] Jeder Christ ist zu dieser Nächstenliebe aufgerufen, in der Weise seiner Berufung und entsprechend seinen Einflußmöglichkeiten in der Polis. Das ist der institutionelle – wir können auch sagen politische – Weg der Nächstenliebe, der nicht weniger tauglich und wirksam ist als die Liebe, die dem Nächsten unmittelbar, außerhalb der institutionellen Vermittlungen der Polis entgegenkommt.“ (CiV 7)

Bei seiner Ansprache an die Mitglieder der Stiftung „Centesimus Annus“ am 22. Mai 2010 kommt Benedikt XVI. auf diese institutionelle Dimension des Gemeinwohls zurück.12 Diese institutionelle und politische Dimension der Nächstenliebe besteht darin, genaue Regeln zu bestimmen und Raum für Institutionen zu geben, die geeignet sind, das Gemeinwohl zu fördern und unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips den Bedürfnissen der Menschen entgegenzukommen.13 Die Verfassung dieser Regeln trägt dazu bei, die eigennützigen wirtschaftlichen Aktivitäten so zu kanalisieren, dass das Gemeinwohl gefördert wird. Gerade durch die Wirtschaftskrise sind wir gefordert, „neue Regeln“ mitzugestalten und zu finden, um die Verzerrungen der Entwicklung zu korrigieren und eine „neue humanistische Synthese“ zu schaffen (CiV 21). Unter dieser neuen humanistischen Synthese ist ein Menschenbild zu verstehen, das das Wohl des Menschen im Blick hat, aber gleichzeitig für die Transzendenz offen ist. Der Bereich der Wirtschaft ist „weder moralisch neutral noch von seinem Wesen her unmenschlich und antisozial“, aber er muss „nach moralischen Gesichtspunkten strukturiert und institutionalisiert werden“ (CiV 36). Es ist ein Erfordernis des wirtschaftlichen Denkens und Ausdruck der sozialethischen Prinzipien, dass die wirtschaftlichen Entscheidungen die Unterschiede „im Besitztum nicht in übertriebener und moralisch unhaltbarer Weise vergrößern“. Es ist erforderlich, „neue Lösungen“ zu finden, die auf wirtschaftlicher Ebene jene Gesamtheit „von Beziehungen wiedererlangen, die auf Vertrauen, Zuverlässigkeit und Einhaltung der Regeln gründen und die unverzichtbar sind für jedes bürgerliche Zusammenleben“.

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Diese sozialethische Dimension ist insbesondere in der deutschsprachigen Rezeption des Textes nicht ausreichend gewürdigt worden. 12 http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2010/may/documents/hf_ben xvi_spe_20100522_centesimus-annus_ge.html, Zugriff: 19 Oktober 2011. 13 Vgl. Felice (2010a), S. 261 – 284.

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III. Für eine menschenwürdige Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung Über diesen moralischen und geistigen Rahmen, in den das wirtschaftliche Geschehen eingebettet werden soll, und den Verweis auf die Regeln als Garant für das zivile Zusammenleben lässt sich eine Affinität zwischen den von Caritas in veritate entwickelten Anforderungen und den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft ableiten. Der Ordoliberalismus, der als ein „Regel-Liberalismus“14 aufgefasst werden kann, hat bestimmte Prinzipien ausgearbeitet, die auf der Einheit von politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ordnung beruhen, in deren Mitte die Würde des Menschen steht.15 Die Väter des Ordoliberalismus hatten sich eine Aufgabe gestellt, die zum moralischen und kulturellen Wiederaufbau in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zielte. In ähnlicher Weise schlägt Benedikt XVI. im wirtschaftlichen Bereich die Förderung einer neuen Weltordnung vor. Obwohl nicht ausdrücklich Bezug auf die Soziale Marktwirtschaft und auf den Ordoliberalismus genommen wird, fordert Caritas in veritate eine Erneuerung der sozialen und wirtschaftlichen Ordnung, die eine juristische und eine moralische Grundlage haben muss, d. h. eine Rahmenordnung, die für das Funktionieren des Marktes erforderlich ist. Die ökonomische Ordnung – die sowohl die Ordoliberalen als auch der Papst fordern – braucht einen rechtlichen und politischen Rahmen und moralische Institutionen, die sowohl als Grundlage als auch als Begrenzung des Marktes dienen. Sowohl die Vertreter des Ordoliberalismus und der Sozialen Marktwirtschaft, aber auch die Enzyklika Caritas in veritate fordern einen humanistischen und wirtschaftlichen Liberalismus, dessen Mittelpunkt die menschliche Würde ist und der sich die Prinzipien der Solidarität, der Subsidiarität und des Gemeinwohls zu eigen macht. Erforderlich ist eine Rahmenordnung, in der einerseits die Freiheit des geregelten Marktes und des Wettbewerbs und andererseits die Freiheit und die Verantwortung des Menschen zum Ausdruck kommen. Die von Alfred Müller-Armack vorgeschlagene Definition der Sozialen Marktwirtschaft schließt ein politisches Programm und Ideal in sich ein, das mit den Prinzipien der katholischen Soziallehre und den Anforderungen von Caritas in veritate übereinstimmt: „Der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft kann als eine ordnungspolitische Idee definiert werden, deren Ziel es ist, auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden.“16 In diesem Zusammenhang kann auch auf die Überlegungen von Wilhelm Röpke über die Grenzen und Möglichkeiten der Marktwirtschaft verwiesen werden. Röpke hat stets in seinen Schriften betont, dass „die Marktwirtschaft nicht alles“ ist. Das gesellschaftliche Leben ist nicht ausschließlich auf die Gesetze von Angebot und 14

Forte/Felice, S. 26. Vgl. auch über die Übereinstimmung mit dieser These: Felice (2010b); Goldschmidt/Habisch. 15 Vgl. das von Franz Böhm, Walter Eucken und Hans Großmann-Dörth unterzeichnete Manifest des Ordoliberalismus in: Böhm, S. VII-XXI. 16 Müller-Armack, S. 245.

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Nachfrage ausgerichtet.17 Die Wirtschaft ist nur ein Teil der Gesellschaft, wenngleich ein wichtiger. Tatsächlich gilt: die Marktwirtschaft „muß in einen höheren Gesamtzusammenhang eingebettet sein, der nicht auf Angebot und Nachfrage, freien Preisen und Wettbewerb beruhen kann. Sie muß von einer Gesamtordnung gehalten sein, die nicht nur die Unvollkommenheiten und Härten der Wirtschaftsfreiheit durch Gesetze korrigiert, sondern auch dem Menschen die seiner Natur gemäße Existenz nicht verweigert. Der Mensch aber kann nur dann volle Erfüllung seiner Natur finden, wenn er sich freiwillig in eine Gemeinschaft einfügt und sich ihr solidarisch verbunden fühlen kann. Sonst führt er eine elende Existenz, und er weiß es.“18 Insofern müssen Markt und Wettbewerb in einer umfassenden Gesamtordnung integriert werden, in der Moral, Recht, Politik und das individuelle Wohl ihren Platz finden. Das Wirtschaftsleben erfordert eine ethische Fundierung, weil es „sich selbstverständlich nicht in einem moralischen Vakuum“ abspielt.19 Röpke, wie auch Papst Benedikt, hält fest, dass der Marktprozess und das Wirtschaftsleben aus „sittlichen Reserven“ „schöpft“. In Formulierungen, die das „Böckenförde-Diktum“ vorwegnehmen, hält Röpke fest: „Die außerökonomische, geistig-moralische und gesellschaftliche Integration ist immer die Voraussetzung der wirtschaftlichen, national wie international. […] Markt, Wettbewerb und das Spiel von Angebot und Nachfrage erzeugen jene sittlichen Reserven nicht. Sie setzen sie voraus und verbrauchen sie. Sie müssen sie von den Bereichen jenseits des Marktes beziehen, und kein Lehrbuch der Nationalökonomie kann sie ersetzen […]“20. In Übereinstimmung mit den Überlegungen von Papst Benedikt betont Röpke, dass „[…] die letzte Stütze der Marktwirtschaft als eine moralische außerhalb des Marktes selber gesucht werden muß. Markt und Wettbewerb sind weit davon entfernt, die ihnen notwendigen moralischen Voraussetzungen autonom zu erzeugen“21. Diese Auffassung findet sich auch in Caritas in veritate. Der Markt kann aus sich heraus diese Voraussetzungen und moralische Kräfte nicht bilden. Bezug nehmend auf Populorum Progressio stellt Benedikt XVI. fest, dass der wirtschaftliche und gesellschaftliche Fortschritt eine Berufung ist und er „nicht in der Lage ist, sich selbst seinen letzten Sinn zu geben“ (CiV 16). Die Wirtschaft, so der Papst, braucht für ihr korrektes Funktionieren die Ethik, jedoch nicht „irgendeine Ethik, sondern eine menschenfreundliche Ethik“ (CiV 45): „Es ist im Interesse des Marktes, Emanzipierung zu fördern, aber um dies zu erreichen, darf er sich nicht nur auf sich selbst verlassen, denn er ist nicht in der Lage, von sich aus das zu erreichen, was seine Möglichkeiten übersteigt. Er muß vielmehr auf die moralischen Kräfte anderer Subjekte zurückgreifen, die diese hervorbringen können“ (CiV 35). Der Markt ist durch eine Rechtsordnung, durch moralische Kräfte und ethische Institutionen zu regeln. Dies können Fa17

Röpke (2009), S. 130 f. Ebd., S. 131. 19 Ebd., S. 168. 20 Ebd., S. 169. 21 Ebd., S. 171.

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milien und intermediäre Gruppen sein, die die Aufgabe haben, die reine Marktlogik zu begrenzen. Der Papst fügt hinzu, dass der Markt „in einer Reinform“ nicht existiert, weil er durch die kulturellen Gegebenheiten gestaltet wird. Damit wird die moralische Verpflichtung des Menschen betont und eine neue Grundlage des moralischen Engagements des Menschen gefordert: „So können an sich gute Mittel in schadenbringende Mittel verwandelt werden. Doch diese Konsequenzen bringt die verblendete Vernunft der Menschen hervor, nicht die Mittel selbst. Daher muß sich der Appell nicht an das Mittel, sondern an den Menschen richten, an sein moralisches Gewissen und an seine persönliche und soziale Verantwortung“ (CiV 36). Marktwirtschaft und Wettbewerb sind somit eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für eine menschenwürdige Wirtschaftsordnung. Eine zentrale Bedeutung in der Enzyklika spielt die Förderung der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen. Es geht um ein Menschenbild, das nicht in Widerspruch zur Rationalitätsannahme der ökonomischen Theorie steht. Das christliche Verständnis des Menschen akzeptiert durchaus eigennutzorientiertes Handeln, geht aber darüber hinaus. Die christliche Idee der menschlichen Würde und ihrer Transzendenz akzeptiert einerseits die Bedeutung des homo oeconomicus bei der Verwirklichung seiner Ziele und seines Rechtes auf Freiheit und bei der Erfüllung seiner Bedürfnisse. Anderseits zieht das christliche Menschenbild auch Grenzen und bietet eine Korrektur der ausschließlich egoistischen Konzeption des Menschen. Caritas in veritate wendet sich gegen die egoistischen Übertreibungen dieser Rationalitätsannahme, gegen die „Gier nach Profit“ (Sollicitudo rei socialis 37), d. h. gegen „[…] das ins Maßlose gesteigerte Bemühen, alle Wünsche und Bedürfnisse um jeden Preis befriedigen zu können. Um jeden Preis – das meint dann auch um den Preis des Menschen und seiner Würde willen.“22 Der Mensch lebt nicht vom Brot allein und von der Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse. Er verwirklicht sich, wenn er sich auch um die moralische, die spirituelle und die kulturelle Dimension bemüht. Man könnte das Verhältnis zwischen christlichem Menschenbild und dem Nutzenmaximierungsprinzip des homo oeconomicus in Analogie zur theologischen Verhältnisbestimmung zwischen Gnade und Natur beschreiben: das christliche Menschenbild setzt das ökonomische Prinzip zwar voraus, aber es überschreitet es. Die christliche Anthropologie vollendet das Bild vom Menschen, hebt das Streben des Menschen nach Eigennutzen aber nicht auf.

IV. Unentgeltlichkeit und Logik des Geschenks Benedikt XVI. hat nicht nur die Rolle und die Bedeutung der ethischen, rechtlichen, politischen und institutionellen Rahmenordnung für die Lösung der wirtschaftlichen Probleme hervorgehoben, er hat auch die Wichtigkeit der persönlichen Verantwortung und die Rolle der Zivilgesellschaft unterstrichen. Bei seiner Analyse der sozialen und institutionellen Rolle des Marktes, dessen Grenzen und Möglichkei22

Nothelle-Wildfeuer (2010), S. 13.

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ten führt Benedikt XVI. ein Prinzip ein, das als innovativer und origineller Beitrag dieser Enzyklika zur katholischen Soziallehre gelten kann: das Prinzip der Unentgeltlichkeit. Dieser Begriff erscheint zum ersten Mal in einer Sozialenzyklika, obwohl die Reflexion über den Stellenwert des Geschenks in der Ökonomie bereits seit mehreren Jahrzehnten in der Wirtschaftsphilosophie zu finden ist23. Mit dem Prinzip der Unentgeltlichkeit drückt der Papst den Wert der Gegenseitigkeit und der Brüderlichkeit in der Gesellschaft aus. Dies provoziert unmittelbar die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Prinzip der Unentgeltlichkeit und dem ökonomischen Prinzip der Gewinnmaximierung. Darüber hinaus geht es um die Verortung dieses Prinzips in den Konzepten der sozialen Gerechtigkeit und der Sozialen Marktwirtschaft. Dazu wird zunächst die Darstellung dieses Prinzips in Caritas in veritate präsentiert, anschließend erfolgt eine kritische Würdigung im Lichte der allgemeinen Grundorientierung dieser Enzyklika. Die Idee der Unentgeltlichkeit wird bereits im ersten Kapitel der Enzyklika angekündigt, in dem die theologischen Grundlagen des Schreibens entfaltet werden. Hier wird hervorgehoben, dass die Gerechtigkeit „der Liebe nicht nur in keiner Weise fremd“ ist, sondern dass sie „der erste Weg der Liebe“ ist. Der Papst betont jedoch, dass die Liebe über die Gerechtigkeit – hier zu verstehen als justitia commutativa – hinausgeht, „[…] denn lieben ist schenken, dem anderen von dem geben, was „mein“ ist; aber sie ist nie ohne die Gerechtigkeit, die mich dazu bewegt, dem anderen das zu geben, was „sein“ ist, das, was ihm aufgrund seines Seins und seines Wirkens zukommt. Ich kann dem anderen nicht von dem, was mein ist, „schenken“, ohne ihm an erster Stelle das gegeben zu haben, was ihm rechtmäßig zusteht“ (CiV 6). Von daher gilt, dass die Liebe zum einem „die Anerkennung und die Achtung der legitimen Rechte der Einzelnen und der Völker“ erfordert; zum anderen bietet die Liebe mehr als die Gerechtigkeit, sie „vervollständigt sie [die Gerechtigkeit, Anm. d. Verf.] in der Logik des Gebens und Vergebens“. Das Prinzip der Unentgeltlichkeit wird explizit im dritten Kapitel „Brüderlichkeit, wirtschaftliche Entwicklung und Zivilgesellschaft“ weitergeführt. Die Rolle und Funktion des Marktes (CiV 35 – 36) wird in die Reflexion über die Logik des Geschenks und des Prinzips der Unentgeltlichkeit eingebettet (CiV 36 – 39). Nach der christlichen Anthropologie ist der Mensch Ebenbild Gottes. Ihm ist das Leben von Gott geschenkt. Diese Erfahrung des Geschenks weist auf die transzendente Eigenschaft des Menschen hin: „Der Mensch ist für das Geschenk geschaffen, das seine transzendente Dimension ausdrückt und umsetzt“ (CiV 34). Am Ende der Textziffer 34 greift die Enzyklika die Ausführungen in Abschnitt 6 auf, wonach „[…] eine wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entwicklung, die wahrhaft menschlich sein will, dem Prinzip der Unentgeltlichkeit als Ausdruck der Brüderlichkeit Raum geben muß“ (CiV 34). Darüber hinaus sollen Räume für wirtschaftliche Tätigkeiten geschaffen werden, in denen dieses Prinzip Platz haben muss, „ohne auf wirtschaftliche Werte zu verzichten“ (CiV 37). 23

Vgl. Titmuss; Donati; Bruni (2006a), Bruni (2006b).

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In Caritas in Veritate findet sich jedoch keine explizite Definition dieses Prinzips der Unentgeltlichkeit. Die Enzyklika öffnet damit den Raum für unterschiedliche Interpretationen dieser Idee und ihrer Anwendungsmöglichkeiten. Die Konkretisierung und die systematische Einordnung dieses Prinzips ist eine Aufgabe für die wissenschaftliche Reflexion der Soziallehre der Kirche. Der Papst bekräftigt, dass das Prinzip der Unentgeltlichkeit und die Logik des Geschenks als Ausdruck der Brüderlichkeit zu betrachten sind. Er steckt auch den weiteren Kontext und den Rahmen ab, in den dieses Erfordernis der Liebe und der Wahrheit gestellt werden soll. Dabei bezieht er sich auf die Enzyklika Centesimus annus. Hier verweist Johannes Paul II darauf, dass sich die wirtschaftliche Tätigkeit in einem „System mit drei Subjekten“ vollzieht: Dem Markt, dem Staat und der Zivilgesellschaft. Die Zivilgesellschaft ist der am besten geeignete Bereich für eine Wirtschaft der Unentgeltlichkeit, obwohl diese nicht für die anderen Bereiche ausgeschlossen ist. In allen drei Bereichen, so Benedikt XVI., muss „in unterschiedlichem Ausmaß und in spezifischer Weise […] das Erscheinungsbild der brüderlichen Gegenseitigkeit vorhanden sein“ (CIV 38). Die Logik des Marktes, erklärt Caritas in veritate, besteht in der Logik des Tausches, in der Logik vom „Geben, um zu haben“. Die Logik des Staates basiert auf der Logik des „Gebens aus Pflicht“. Die Logik der Unentgeltlichkeit dagegen ist die „Logik des Geschenks ohne Gegenleistung“ (CiV 37 – 39). Hierzu korrespondieren unterschiedliche gesellschaftliche Institutionen: Neben dem Vertrag, der den Tausch zwischen den Vertragsparteien regelt, zählen hierzu auch „gerechte Gesetze, von der Politik geleitete Mechanismen zur Umverteilung“ und schließlich Werke, „die vom Geist des Schenkens geprägt sind“ (CiV 37).24 Um eine menschenwürdige Wirtschaftsordnung zu realisieren, reichen die Strukturen Markt und Staat nicht aus. Erforderlich ist darüber hinaus auch Solidarität, nach der „sich alle für alle verantwortlich fühlen“ (CiV 38), und die nicht allein „dem Staat übertragen werden“ kann. Benedikt XVI. fordert einen offenen und inklusiven Markt, der Formen der wirtschaftlichen Tätigkeit einschließt, „die sich durch einen Anteil von Unentgeltlichkeit und Gemeinschaft auszeichnen“ (CiV 39). Es sind also Unternehmen notwendig, die durch unterschiedliche Betriebsziele charakterisiert sind. Es geht nicht nur um „gewinnorientierte Privatunternehmen“ sondern auch um „Produktionsverbände“, die soziale Ziele anstreben und die zu einer „Zivilisierung der Wirtschaft“ beitragen können: „Liebe in der Wahrheit bedeutet in diesem Fall, daß jenen wirtschaftlichen Initiativen Gestalt und Struktur verliehen wird, die den Gewinn zwar nicht ausschließen, aber über die Logik des Äquivalenzprinzips und des Gewinns als Selbstzweck hinausgehen wollen“ (CIV 38). Die Formen solidarischen Wirtschaftslebens finden ihren „fruchtbarsten Boden“ im Bereich der Zivilgesellschaft. Denn diese sozialen Aktivitäten leiten sich aus altruistischen Motiven ab: „Es gibt keinen Markt der Unentgeltlichkeit, und eine Haltung der Unentgeltlichkeit kann nicht per Gesetz verordnet werden“ (CiV 39). Mit seinen Überlegungen will der Papst die Familie als Vorbild

24

Vgl. Nothelle-Wildfeuer (2010).

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und Paradigma der Logik der Liebe, der Unentgeltlichkeit und des Geschenks auf eine universale Dimension stellen.25 Die Reflexion über das Prinzip der Unentgeltlichkeit und die Logik des Geschenks muss in Zusammenhang mit der zugrundeliegenden Idee und dem theologischen Fundament dieser Enzyklika gesehen werden. Die Herausforderungen, vor denen Caritas in veritate steht, zeichnen sich durch die Prozesse der Globalisierung aus.26 Die Enzyklika verurteilt die Logik des Marktes und der Globalisierung nicht an sich, sondern fordert die notwendige menschliche und ethische Sichtweise der Wirtschaft ein. Caritas in veritate hebt die ontologischen Beziehungen der Person, das Verhältnis zu sich selbst, seine Beziehung mit der Familie und seine Beziehung mit Gott hervor. Diese ontologisch-personalistischen Relationen werden zum Maßstab der sozialen Beziehungen und finden in der Logik des Geschenks ein weiteres ethisches Fundament. Diese Logik steht nicht im Gegensatz zu dem in Centesimus annus enthaltenen Grundsatz, „die soziale Gerechtigkeit nach Recht und Freiheit zu realisieren“, aber sie fügt die Perspektive der Caritas als weitere Grundlage der Gerechtigkeit hinzu.27 Das Prinzip der Unentgeltlichkeit drückt die moralische Basis der persönlichen Verantwortung aus. Es umfasst diejenigen moralischen Ressourcen und Kräfte, die der Markt von sich aus nicht schaffen kann und der Staat nicht gewährleisten kann, die aber die grundlegenden Aspekte der Gesellschaft darstellen (vgl. CiV 35; 38). Der Papst möchte eine moralische Verstärkung der Zivilgesellschaft und bietet eine Reflexion über die drei Ebenen der Gerechtigkeit: Die ausgleichende Gerechtigkeit, die distributive Gerechtigkeit und die soziale Liebe. Auf die erste Ebene – die des Marktes – stützen sich die sozialen Beziehungen der Tauschgerechtigkeit. Die Wirtschaftstätigkeit darf nicht als „antisozial angesehen werden“ (CiV 36); sie verweist vielmehr auf die gegenseitige Achtung und Wertschätzung, auf der diese Tauschverträge basieren. Über die ausgleichende Gerechtigkeit hinaus fordert der Papst die distributive Gerechtigkeit, die charakteristisch für den Staat ist und durch die Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität zum Ausdruck kommt. Der distributiven Dimension der Gerechtigkeit fügt der Papst die individuelle Verantwortung hinzu, die über die Gerechtigkeit hinausgeht und die sich durch die Logik des Geschenks auszeichnet. Diese Logik des Geschenks ist jedoch nicht als Ersatz für die ausgleichende und die distributive Gerechtigkeit anzusehen, sondern als deren Voraussetzung und ethische Grundlage, „weil ohne die Unentgeltlichkeit auch die Gerechtigkeit nicht erreicht werden kann“ (CiV 38). Dazu kommentiert Krienke:

25

Vgl. seine Rede, die er am 15 Oktober 2011 vor der Stiftung Centesimus annus gehalten hat: http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2011/october/documents/hf_ben xvi_spe_20111015_centesimus-annus_it.html 26 Vgl. hierzu und zum folgenden die Ausführungen von Krienke, die ich zusammenfasse. 27 Krienke, S. 44.

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„Man könnte sagen, dass der Sichtweise der Gesellschaft nach der „sozialen Gerechtigkeit“ – die sich durch die Solidarität verwirklicht – die Dimension der Caritas hinzugefügt wird. Tatsächlich bildet sich auf dieser Ebene die Zivilgesellschaft nicht nur durch die Individualität ihrer Mitglieder aufgrund der Beziehung des Menschen zu sich selbst. Aber es sind genau die anderen zwei ontologische Relationen – d. h. die der Familie und die der Transzendenz, die der Staat nicht verlangen und garantieren kann – die das gesellschaftliche Gefüge und die moralische Grundlage der Zivilgesellschaft ausmachen. Es ist nicht zufällig, dass genau in diesen Dimensionen die Logik des „Gebens“ (in der Familie) und des „Vergebens“ (transzendentale Relation) ihren Platz finden. Diese sind die zwei Dimensionen, die Benedikt XVI. als die notwendige Grundlage der Brüderlichkeit und der Caritas für die Gesellschaft gelten macht.“28

Die Logik des Geschenks integriert darüber hinaus die Dimensionen von Freiheit und Pflicht. Sie ergänzt die anderen zwei Bereiche, d. h. die ausgleichende und die verteilende Gerechtigkeit. Die Brüderlichkeit und die Nächstenliebe sind nicht „ein direktes Kriterium der politischen, rechtlichen und sozialen Ordnung“ wie die soziale Gerechtigkeit, sondern sie sind die Voraussetzung der Gerechtigkeit. Gleichzeitig jedoch können sie ohne die Gerechtigkeit nicht auskommen, weil „nicht nur der Vertrag das Geschenk voraussetzt, sondern auch das Geschenk den Vertrag voraussetzt. Die Rede über die Logik des Geschenks ersetzt die der Freiheit nicht. Aber die erste setzt die zweite voraus, genauso wie die Freiheit sich nur in der Wirklichkeit der Gabe realisiert – beide sind als komplementär zueinander zu verstehen.“29 Diese Interpretation wird vom Text der Enzyklika gestützt, wenn sie feststellt, dass die Logik des Geschenks die Gerechtigkeit nicht ausschließt oder ihr – gleichsam in einem zweiten Moment und von außen – hinzugefügt wird (CiV 34). Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Kategorie des Geschenks „kein regulatives Prinzip des Marktes“ ist, „eine Art Faktor oder quid etico, der in der Lage wäre, den Markt auszugleichen“30. Von daher ist die Logik des Geschenks grundlegend und ergänzend zum Markt, aber kein regulatives Prinzip, das von innen heraus im Markt wirkt. In diesem Zusammenhang sei an Röpke verwiesen, der sich ebenfalls mit der Frage der Verortung von Caritas und Brüderlichkeit in der Ökonomie auseinander gesetzt hat. Er stellt fest, dass „Caritas moralisch ein völlig unvergleichlicher Wert, wertvoller als das neue Ideal des Wohlfahrtsstaates“31 sei. Es geht dabei um einen Aspekt der Logik des Geschenks, der, wenn er falsch verstanden wird, zum Risiko führen kann, die „Caritas“ zu zerstören oder zum reinen Sentimentalismus zu machen. Röpke schreibt: „Es gibt verschiedenen Arten der Philanthropie. Es gibt eine sentimental unweise und falsche, es gibt eine wahre, weil sie verantwortungsbewußt und überlegt ist. Die Frage ist jedoch nicht allein, wie wir unseren noblen Drang, unsere eigene Selbstachtung durch Schen28

Ebd., S. 48 – 49, eigene Übersetzung. Ebd., S. 50 – 51, eigene Übersetzung. 30 Felice (2010b), S. 213. 31 Röpke (1960), S. 87.

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ken zu geben, befriedigen, sondern vor allem die andere, wie wir dem Helfenden am besten helfen, ohne zugleich dem Ganzen zu schaden und ohne ihn zu demütigen. Caritas ist ohne Zweifel immer heilsam und gut für die Seele des Gebenden. Aber mir scheint es eine höhere Form der Caritas zu sein, sich zu überlegen, ob das Schenken immer das Beste für den Nehmenden ist. Die größte Wohltat ist für ihn zweifellos die, ihn von eigentlicher Wohltätigkeit unabhängig zu machen. Hier liegt die Grenze zwischen Sentimentalismus und wirklicher moralischer, verantwortungsbewußter Brüderlichkeit.“32

Bereits Röpke wendet diese Überlegung auf die internationale Entwicklungszusammenarbeit an. Für ihn besteht die beste Entwicklungshilfe darin, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten: „Das ist nicht mit Geschenken getan, sondern mir Ratschlägen, mit Hilfen, die an den rechten Stellen angesetzt werden.“33 Diese Idee findet sich analog in Caritas in veritate. Das Ziel, die weltweite Armut und Unterernährung zu bekämpfen, erfordert „solidarisch ausgerichtete Finanzierungspläne, die arme Länder wirtschaftlich unterstützt, damit sie selber dafür sorgen, die Nachfrage ihrer Bürger nach Konsumgütern und Entwicklung zu befriedigen“ (CiV 27). Durch die Würdigung der Logik des Marktes und die Analyse seiner Möglichkeiten und Grenzen steht Caritas in veritate in Kontinuität mit den früheren Sozialenzykliken. Insofern ist die Kritik einiger Rezensenten34 an der Enzyklika nicht gerechtfertigt, die behaupten, dass es ihr an einer positiven Bewertung und Anerkennung des Marktes fehlt. Das ist durchaus der Fall. Aber der Papst führt mit seiner Reflexion über das Prinzip der Unentgeltlichkeit und die Logik des Geschenks ein weiteres wichtiges Element für die Fortentwicklung der Soziallehre der Kirche ein. Das Prinzip der Unentgeltlichkeit bedeutet keine Rückkehr zu vormodernen Wirtschaftsformen,35 weil – wie zuvor dargestellt wurde – der Papst explizit darauf hinweist, dass die Unentgeltlichkeit die Freiheit, Austauschbeziehungen über die Märkte und die distributive Gerechtigkeit voraussetzt und ergänzt. Das Prinzip der Unentgeltlichkeit liefert einen neuen Interpretationsschlüssel für die Enzyklika Caritas in veritate, der ein neues Licht auf die Würde des Menschen wirft. Man kann aus diesem Prinzip einige wichtige Aspekte ableiten. Zunächst bezieht es sich primär auf die Sphäre der Zivilgesellschaft, in der dieses Prinzip seinen höchsten – wenn nicht den einzigen und ausschließlichen – Ausdruck findet. Es verweist auf die transzendente Dimension des Menschen und auf den Geschenkcharakter der Liebe. Die Liebe ist nicht als bloße Ergänzung der sozialen Gerechtigkeit zu verstehen, sondern als ihre Voraussetzung. Gleichzeitig bedeutet die Anwendung dieses Prinzips im Wirtschaftsleben nicht, eine rechtliche Ordnung auszuarbeiten, die durch Gesetze einen „Markt der Unentgeltlichkeit“ vorschreiben würde. Wenn der freie, sich selbst überlassene Wettbewerb, der sich seiner Grenzen und ethischen Voraussetzungen nicht bewusst ist, kein regulatives Prinzip der Ökonomie sein kann, 32

Röpke (1964), S. 87. Ebd., S. 88. 34 Vgl. Greven; Wiemeyer. 35 Vgl. Schlag, S. 88.

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so kann auch ein reines Prinzip der Unentgeltlichkeit tout court kein inneres regulatives Prinzip der Wirtschaftstätigkeiten sein. Die Logik des Geschenks kann also als eine „höhere und edlere Kraft“ – wie die soziale Gerechtigkeit und die soziale Liebe (vgl. Quadragesimo anno Tz. 88) – betrachtet werden. Eine solche Logik des Geschenks soll vom menschlichen Herzen aus hervorgehen, die sich als Solidarität, Brüderlichkeit in den Mikro-Beziehungen – wie Freundschaft und Familie – in seinem Verhältnis zu Gott und in den Makro-Beziehungen, „in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen“ (CiV 2) ausdrücken soll. Theoretisch hat dieses Prinzip mit der moralischen Grundlage des Menschen und seiner transzendenten Dimension zu tun. In der sozialen und wirtschaftlichen Praxis wird es zu einem moralisch-grundlegenden Prinzip der Logik des Marktes. Dadurch wird die ethische Perspektive nicht nur auf der sozialen und politischen Ebene, sondern auch auf der individuellen Ebene gewonnen. Mit dem Prinzip der Unentgeltlichkeit bietet Benedikt XVI. eine Möglichkeit, die Soziale Marktwirtschaft in dem aktuellen globalen Kontext durch eine „tugendethische Fundierung“ neben den grundlegenden Prinzipien der Freiheit, Solidarität und Subsidiarität zu „modernisieren“.36 Die Realisierung einer Wirtschaftsordnung im Dienst des ganzen Menschen kann man durch das moralische Engagement der drei Akteure erreichen: Markt, Staat und Zivilgesellschaft. Diese ethische Fundierung des Marktes und der Wirtschaftspolitik besteht in der Wiederentdeckung und Durchsetzung einer individuellen moralischen Verantwortung in der Ökonomie: „In ihrem Verständnis einer sozialen Marktwirtschaft widerlegen Johannes Paul II. und Benedikt XVI. gleichermaßen die Vorstellung einer Wirtschaft ohne persönliche Moral“.37

V. Die Aufgaben der Wissenschaft In Caritas in veritate wird mehrfach auf die Notwendigkeit der interdisziplinären Wissenschaft für die Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme verwiesen. Obwohl die Kirche „keine technische Lösung anzubieten“ (CiV 9) hat, optiert der Papst für bestimmte sozialethische und ökonomische Vorschläge und bietet Orientierungsperspektiven, Werte und Prinzipien, durch die konkrete Entscheidungen getroffen werden können. Er entscheidet sich z. B. für konkrete Hilfe für die Bedürfnisse der armen Völker, für das Recht auf das Leben und für den Umweltschutz. Für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen und der Völker fordert der Papst, die wissenschaftliche Seite der Soziallehre der Kirche zu stärken und sich zu bemühen, „die verschiedenen Ebenen des menschlichen Wissens“ zu integrieren (CiV 67). Benedikt XVI., der sich auf Centesimus annus von Johannes Paul II. bezieht, schreibt: „Die Soziallehre der Kirche, die „eine wichtige interdisziplinäre Dimension“ hat, kann aus dieser Perspektive eine Funktion von außerordentlicher Wirksamkeit erfüllen. Sie gestattet dem Glauben, der Theologie, der Metaphysik 36 37

Roos (2010), S. 10. Ebd.

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und den Wissenschaften, ihren Platz innerhalb einer Zusammenarbeit im Dienst des Menschen zu finden.“ Und weiter betont er: „Die übertriebene Aufteilung des Wissens in Fachbereiche, das Sich-Verschließen der Humanwissenschaften gegenüber der Metaphysik, die Schwierigkeiten im Dialog der Wissenschaften mit der Theologie schaden nicht nur der Entwicklung des Wissens, sondern auch der Entwicklung der Völker, denn in diesen Fällen wird der Blick auf das ganze Wohl des Menschen in den verschiedenen Dimensionen, die es charakterisieren, verstellt. Die „Ausweitung unseres Vernunftbegriffs und -gebrauchs“ ist unerlässlich, um alle Elemente der Frage nach der Entwicklung und der Lösung der sozioökonomischen Probleme angemessen abwägen zu können“ (CiV 31). Diese Überlegungen über die interdisziplinäre Beziehung der Wissenschaften haben wichtige Implikationen für die Epistemologie und für die Aufgabe der Theologie von heute, jedoch auch für die Wirtschaftswissenschaft. Die erste Form des Dialogs zwischen Wirtschaft und Theologie betrifft die methodologische Ebene. Keine Einzeldisziplin kann aus sich heraus die ethischen Probleme lösen. Sowohl die Theologie als auch die Wirtschaftswissenschaft sind zu einer kritischen Rezeption der Ergebnisse der anderen Disziplinen aufgerufen. Aus dem interdisziplinären Charakter der Soziallehre der Kirche gehen eine Anregung und ein Beitrag für die theologische Arbeit hervor. Es handelt sich um die Notwendigkeit einer umfassenderen epistemologischen Betrachtung. Die Theologie muss den kritischen Diskurs mit den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften suchen. Die Wirtschaftswissenschaft braucht „eine neue und vertiefte Reflexion“ über ihren „Sinn“ und ihre „Ziele“ (CiV 32). Dies erfordert, dass die Wirtschaftswissenschaft den Beitrag, aber auch die Grenzen ihrer Disziplin erkennt. Sie hat nicht nur die Aufgabe, ökonomisches Verhalten zu beschreiben, sondern sie muss sich der ethischen Dimension ihrer Aussagen bewusst sein, diese mit einer ganzheitlichen Sicht der Menschenwürde in Verbindung bringen. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass die heutige Wirtschaftskrise auch eine Krise des ökonomischen Denkens ist.38 Deshalb ist es notwendig, dass die Wirtschaftswissenschaft die philosophische und wissenschaftstheoretische Reflexion in ihrem Forschungsprogramm rezipiert und thematisiert. Umgekehrt hat die Philosophie den Auftrag, Mittel und Beiträge zu den erkenntnistheoretischen, methodologischen und ethischen Aspekten der Wirtschaft zu liefern. Die methodologische Reflexion ist ein unentbehrliches und grundlegendes Element, um Brücken zwischen den unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen zu schlagen. Bei einem im Jahr 1985 an der Päpstlichen Universität Urbaniana veranstalteten Symposium forderte der damalige Kardinal Ratzinger den notwendigen Dialogprozess zwischen Ökonomie und Theologie ein und betonte das Verhältnis zwischen den ökonomischen Prinzipien und ihrer ethischen Reflexion: „Eine Moral, die dabei die Sachkenntnis der Wirtschaftsgesetze überspringen zu können meint, ist nicht Moral, sondern Moralismus, also das Gegenteil von Moral. Eine Sachlichkeit, die ohne das 38

Vgl. Gadenne/Neck.

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Ethos auszukommen meint, ist Verkennung der Wirklichkeit des Menschen und damit Unsachlichkeit. Wir brauchen heute ein Höchstmaß an wirtschaftlichem Sachverstand, aber auch ein Höchstmaß an Ethos, damit der wirtschaftliche Sachverstand in den Dienst der richtigen Ziele tritt und seine Erkenntnis politisch vollziehbar und sozial tragbar wird.“39 Auch an dieser Stelle zeigt sich eine Parallele zu den Positionen von Röpke. In seinem Kommentar zur Enzyklika Mater et Magistra geht Röpke auf die Bedeutung des Sachwissens in wirtschaftlichen, sozialen und ethischen Fragen ein. Er behauptet, dass die christliche Lehre vom Menschen und von der Gesellschaft „etwas Festes und Verbindliches“ ist, während ihre spezifische Anwendung aber unterschiedlich ausfällt, weil sich die Umstände der Zeit sowie die Probleme ändern, die im Licht der Soziallehre der Kirche „zu erkennen und zu lösen sind“. Sie ist eine „verbindliche und feste Lehre“, eine „Landmarke unserer Orientierung, aber sie reicht nicht aus“: „Sachkunde, das lumen naturale und wissenschaftliche Überlegungen sind unentbehrlich, ja es wäre ein unchristlicher und unmoralischer Mangel an Verantwortungsbewußtsein, wenn wir uns nicht unvoreingenommen darum bemühen würden, diese Sachkunde in wirtschaftlichen und sozialen Fragen zu erwerben, wenn wir mitreden wollen, und uns von den Wissenschaften, die auf die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse das Licht der Vernunft fallen lassen, belehren lassen würden. […] Leider aber gibt es nichts häufiger als eine Art von frommem Dilettantismus von Leuten, die, statt darauflos zu predigen, es eher für ihre moralische Pflicht hätten halten sollen, einen Elementarkurs in Nationalökonomie zu besuchen. Nichts ist schädlicher und daher mehr im Widerstreit mit den Pflichten eines guten Christen. Ein moralisch abgestumpfter Ökonomismus ist schlimm. Aber ein ökonomisch unwissender Moralismus ist nicht weniger schlimm. Wir müssen uns vor dem einen so gut wie vor dem anderen hüten.“40 Eine Aufgabe der Ökonomen im Lichte von Caritas in veritate besteht in einem größeren Interesse für die epistemologischen Grundlagen der Wirtschaftswissenschaften, in einem umfassenderen Dialog und in einer größeren Aufmerksamkeit hinsichtlich der wissenschaftlichen Ergebnisse aus anderen Disziplinen sowie in einer lebendigen Sensibilität der ethischen Dimension ihrer Disziplin gegenüber. Den Vertretern der Soziallehre und den Theologen überhaupt stellt sich jedoch der Auftrag der Wiederentdeckung und der Untersuchung ihrer Identität und der Relevanz in der heutigen Gesellschaft. Es ist nötig, dass die Theologie ihren Dialog mit der Philosophie, der Sozialwissenschaft und der Ökonomie intensiviert und den Zusammenhang berücksichtigt, in dem die Probleme der Menschen und der Gesellschaft entstehen und sich entwickeln. Es geht um eine kontextuelle Theologie und Ökonomie, die sich darum bemühen müssen, einen Beitrag zum Verständnis des Menschen zu leisten. Dabei muss ihnen jedoch bewusst bleiben, dass weder der Theologe noch der Ökonom im Besitz eines Erkenntnisprivilegs ist. 39 40

Ratzinger, S. 58. Röpke (1962), S. 313 – 314.

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Schlussbemerkungen Die Hoffnung der Völker, die Caritas in veritate aufruft und für die sie sich einsetzt, möchte eine Einladung zum Dialog zwischen den Kulturen und zur Brüderlichkeit der Menschen sein, um eine Gesellschaft der Liebe aufzubauen – in dem Bewusstsein „Wer glaubt, ist nie allein“. Caritas in veritate betont sowohl die sozialethische wie die individualethische Perspektive. Die Enzyklika verweist darauf, dass die Freiheit des Menschen immer eine moralische Rückbindung verlangt. Sie zeigt, dass es keine endgültigen Antworten auf gesellschaftliche Probleme gibt, denn diese sind immer kontingent-, zeit- und kontextabhängig. Die Enzyklika betont das Prinzip des Personalismus und des Anti-Perfektionismus, das von einem falliblen Wissenschaftsverständnis ausgeht. Daraus folgt, dass es keine „ultimativen Rezepte, die das Entstehen neuer Krisen verhindern können“41, gibt. Aber selbst in Zeiten der Krise ist das Entscheidungskriterium, das Ordnungs- und Leitungsprinzip, die menschliche Würde. Der Mensch ist „Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft“ (GS 63). Das Kriterium des Wirtschaftslebens ist und bleibt der Mensch in seiner Ganzheit, das auch die transzendente Dimension einschließt. Man kann diese Überzeugung mit einer Bemerkung ante litteram zu Caritas in veritate zum Ausdruck bringen: „Das Maß der Wirtschaft ist der Mensch; das Maß des Menschen ist sein Verhältnis zu Gott“.42 Literatur Antiseri, Dario: Il mercante e il filosofo (1992), in: ders., Ragioni della razionalità. Interpretazioni storiografiche, Rubbettino, Soveria Mannelli 2005, S. 893 – 917. Benedikt XVI.: Ansprache an die Mietglieder der Stiftung „Centesimus annus“, 22 Mai 2010, unter:http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2010/may/documents/ hfbnxvi_spe_20100522_centesimus-annus_ge.html, Zugriff: 19 Oktober 2011. Böhm, Franz/Eucken, Walter/Großmann-Dörth, Hans (1936): Unsere Aufgabe, in: Böhm, Franz: Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, (= Ordnung der Wirtschaft, Heft 1) Kohlhammer, Stuttgart – Berlin 1937, S. VII-XXI. Bruni, Luigino: Il prezzo della gratuità, Città Nuova, Roma 2006. – Reciprocità. Dinamiche di cooperazione economia e società civile, Mondadori, Milano 2006. Donati, Pierpaolo: Il dono in famiglia e nelle altre sfere sociali, in Scabini, Eugenia – Rossi, Giovanna (Hrsg.): Dono e perdono nelle relazioni familiari e sociali, Vita e Pensiero, Milano 2000, S. 55 – 102. Felice, Flavio (2010a): Persona, impresa e mercato, Lateran University Press, Città del Vaticano 2010. 41

Felice (2009), S. 17 f. Diese Formulierung stammt von Martin Hoch aus der Laudatio auf Wilhelm Röpke bei der Verleihung der Willibald-Pirckheimer-Medaille 1962, abgedruckt in: Röpke (1964), S. 355. 42

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Der Sozialstaat in der Globalisierung Von Jörg Althammer Die Globalisierung stellt die soziale Ordnungspolitik vor völlig neue Herausforderungen. Die gängigen Konzeptionen sozialer Sicherheit, Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Partizipation wurden im nationalstaatlichen Kontext entwickelt und umgesetzt. Das dominierende Verständnis von sozialer Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Teilhabe und Sozialstaatlichkeit hat sich unter den Bedingungen relativer Autarkie bei hoher Standortgebundenheit der Produktion herausgebildet. Die Entwicklung des Sozialstaats wurde dadurch begünstigt, dass hohe Mobilitätskosten die steuer- und abgabeninduzierten Ausweichreaktionen der privaten Wirtschaftssubjekte beschränkten und so die gesellschaftlichen Kosten der Verteilungspolitik reduzierten. Und es ist auch kein Zufall, dass die Entwicklung des modernen Sozialstaats mit der des demokratischen Rechtsstaats zusammenfällt. Denn durch das Demokratieprinzip besteht nicht nur die Möglichkeit zur effektiven Durchsetzung sozialer Interessen breiter Bevölkerungsschichten. Über den demokratischen Willensbildungsprozess sind die Träger staatlicher Sozialpolitik auch gesellschaftlich legitimiert; ihre Eingriffe in die Eigentumsordnung und in den Wirtschaftsprozess erfolgen nicht willkürlich, sondern sind das Ergebnis deliberativer Prozesse und eines gesellschaftlichen Diskurses, über dessen Verfahren ein gesellschaftlicher Konsens herrscht. Diese Bedingungen der Entstehung und Entwicklung staatlicher Sozialpolitik sind im globalen Kontext nicht gegeben. Dieses Akteurs- und Legitimitätsdefizit wirkt sich sowohl auf die Definition des sozialpolitischen Zielsystems wie auf die Implementationsbedingungen sozialstaatlicher Maßnahmen aus. So besteht weder in der Theorie noch in der politischen Praxis Konsens darüber, welche sozialen Ziele in welcher Intensität auf globaler Ebene zu verfolgen sind und wie der Zielerreichungsgrad operationalisiert werden kann. Der technische Fortschritt und die Tertiarisierung der Wirtschaft haben dazu geführt, dass die Produktion weitgehend standortungebunden erfolgen kann. Durch die gestiegene Faktormobilität erhöht sich die Preiselastizität auf den Faktor- und Gütermärkten, wodurch die Umverteilungskosten staatlicher Sozialpolitik in die Höhe getrieben werden. Und schließlich existiert auf supranationaler Ebene bislang noch keine demokratisch legitimierte Institution, die sozialpolitische Regelungen verbindlich festlegen und ihre effektive Durchsetzung garantieren könnte. Wenn der Prozess der Globalisierung sozial gestaltet werden soll, so müssen die gängigen Kriterien staatlichen Handelns daraufhin überprüft werden, ob sie im globalen Kontext weiterhin aussagekräftig und politisch umsetzbar sind; gegebenenfalls

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müssen neue Formen der Implementierung jenseits staatlicher Regulierung gefunden werden. Diese kritische Überprüfung des Zielsystems wie der Regelungsebenen gilt für die politischen Kriterien von sozialer Gerechtigkeit und Sozialstaatlichkeit ebenso wie für die normativen Forderungen, welche die katholische Soziallehre an Wirtschaft und Gesellschaft stellt. Denn auch die Aussagen der katholischen Soziallehre haben sich vor einem jeweils spezifischen wirtschafts- und sozialhistorischen Kontext entwickelt, so dass sie unter den Bedingungen des globalen Wettbewerbs neu auszudeuten sind. Hierzu müssen zunächst die Bestimmungsgründe des gesellschaftlichen Wohlstands untersucht werden, um anschließend die Notwendigkeit und die Möglichkeiten einer politischen Beeinflussung des Entwicklungsprozesses unter den Bedingungen der Globalisierung zu analysieren.

I. Determinanten der sozialen Entwicklung 1. Wirtschaftliche und soziale Entwicklung Wie die Wirtschafts- und Sozialgeschichte zeigt, ist die Verbesserung der Lebenslage breiter Bevölkerungsschichten im Wesentlichen eine Folge der wirtschaftlichen Entwicklung. Die positive Korrelation zwischen Sozialausgaben und Pro-Kopf-Einkommen gilt als stilisiertes Faktum der empirischen Sozialstaatsforschung. Dies betrifft nicht nur das Niveau der Sozialleistungen, sondern auch den Anteil der Sozialausgaben am Sozialprodukt, also die Sozialleistungsquote.1 Ökonomisch formuliert stellen soziale Leistungen somit ein „superiores Gut“ dar, das bei zunehmendem gesellschaftlichem Wohlstand überproportional nachgefragt wird („Wagner’sches Gesetz“). Gleichzeitig lässt sich zeigen, dass die Globalisierung in den vergangenen Jahrzehnten für alle beteiligten Gesellschaften mit zum Teil erheblichen Wohlstandsgewinnen verbunden war. Deshalb vertrauen zahlreiche Ökonomen auf die prinzipiellen armutsbekämpfenden Effekte des durch die Globalisierung induzierten Wachstums (trickle down Effekt). Maßnahmen zur politischen Gestaltung der Globalisierung sind nach dieser Auffassung bestenfalls überflüssig, wirken sich in Regel aber eher verlangsamend auf das Wachstum aus.2 Allerdings besteht zwischen der wirtschaftlichen und der sozialen Entwicklung kein einfacher Automatismus wie ihn das „Wagner’sche Gesetz“ unterstellt. Die Beziehung zwischen beiden Größen wird vielmehr durch die institutionellen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft moderiert. Ein umfassendes Bild ergibt sich erst, wenn der Einfluss der politischen Institutionen auf diese Entwicklung explizit berücksichtigt wird. Ein allgemein gehaltener Ansatz zur Erklärung der Entwicklungs1

Der positive Zusammenhang zwischen der Höhe des Pro-Kopf-Einkommens und den Sozialaufwendungen wurde sowohl in Querschnitt- wie in Zeitreihenuntersuchungen und in nationalen wie international vergleichenden Studien festgestellt. Zur empirischen Evidenz vgl. Cichon sowie die dort angegebene Literatur. 2 Vgl. hierzu die in Dollar/Kraay zusammengetragene empirische Evidenz zum Einfluss politischer Maßnahmen auf das Wirtschaftswachstum.

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bedingungen staatlicher Sozialpolitik liefert die Theorie von Heinz Lampert (1990). Nach diesem Modell erfolgt die Entwicklung der staatlichen Sozialpolitik durch das Zusammenwirken von sozialen Bedarfslagen (Problemlösungsdringlichkeit), ökonomischer Leistungsfähigkeit (Problemlösungsfähigkeit) und politischen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft (Problemlösungsbereitschaft). Der Einfluss der Globalisierung auf die soziale Entwicklung einer Gesellschaft lässt sich damit nicht mehr ausschließlich über die Wachstumseffekte, d. h. über die Entwicklung des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens einer Gesellschaft, darstellen. Eine gegebene Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens (Problemlösungsfähigkeit) kann sich je nach politischer und sozialer Verfasstheit einer Gesellschaft unterschiedlich stark auf die Lebenslage der Bevölkerung auswirken. Wirtschaftliches Wachstum ist damit eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Verbesserung der sozialen Situation breiter Bevölkerungsschichten. Gleichzeitig wird mit diesem Ansatz aber auch deutlich, dass soziale (Fehl-)Entwicklungen einer Gesellschaft nicht ausschließlich der Globalisierung angelastet werden dürfen. Neben weiteren ökonomischen Faktoren – wie beispielsweise einem qualifikationsspezifischem technischem Fortschritt – ist auch die politische Verfasstheit der Entwicklungsund Schwellenländer zu berücksichtigen, um den entwicklungspolitischen Beitrag der Globalisierung adäquat abbilden zu können. 2. Empirische Evidenz a) Globalisierung und globale Einkommensverteilung Der Einfluss der Globalisierung auf das wirtschaftliche Wachstum und auf die zwischen- wie innerstaatliche Verteilung des Wohlstands ist seit etwa zwei Jahrzehnten Gegenstand intensiver empirischer Forschung. Diese Forschungsrichtung hat sich in diesem Zeitraum hinsichtlich der verfügbaren Daten, der empirischen Methoden und der zugrundeliegenden Theorie deutlich weiterentwickelt. Dollar und Kraay identifizieren in ihrem Literaturüberblick fünf stilisierte Fakten, die die langfristige globale Entwicklung kennzeichnen.3 So ist – bei allen Unterschieden in methodischer Hinsicht der jeweiligen Studien – zunächst festzustellen, dass sich die bevölkerungsgewichtete durchschnittliche Wachstumsrate der am wenigsten entwickelten Volkswirtschaften erkennbar erhöht hat und deutlich über den Wachstumsraten der entwickelten Volkswirtschaften liegt. Dieses Ergebnis ist kompatibel zu den Aussagen der neoklassischen Wachstumstheorie4, wonach das globale Wachstum langfristig zu einer Angleichung der Pro-Kopf Einkommen führt (Konvergenz). Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass es weiterhin zahlreiche unterentwickelte Staaten gibt, die nicht in den Prozess der Globalisierung eingebunden sind und somit auch nicht an den Vorteilen der globalen Arbeitsteilung partizipieren. Insgesamt betrachtet ist die Zahl der absolut Armen jedoch seit den 1990er Jahren rückläufig und die globale Ein3 4

Siehe hierzu auch den Beitrag von Elke Mack in diesem Band. Vgl. Barro/Sala-i-Martin sowie Acemoglu.

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kommensungleichheit hat ebenfalls geringfügig abgenommen. Gleichzeitig lässt sich aber auch feststellen, dass das Qualifikationsdifferential der Entlohnung in den vergangenen Jahrzehnten erkennbar gestiegen ist. Der technische Fortschritt hat somit auch in den weniger entwickelten Volkswirtschaften mit dazu beigetragen, dass sich die Löhne für qualifizierte Arbeit deutlich dynamischer entwickelt haben als für unqualifizierte Tätigkeiten. Somit ist auch in den Schwellen- und Entwicklungsländern ein skill biased technological progress zu beobachten. Dennoch sind die Unterschiede im verfügbaren Einkommen innerhalb der Entwicklungsländer weitgehend konstant geblieben. Dieses auf den ersten Blick kontraintuitive Ergebnis ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass kontraktbasierte Lohneinkommen in den am wenigsten entwickelten Staaten einen im Vergleich zu den Industrienationen deutlich geringeren Anteil am Gesamteinkommen der Haushalte ausmacht. In den Schwellenländern wirken sich die qualifikationsspezifischen Lohndifferentiale hingegen stärker auf die Einkommensverteilung aus. Insgesamt lassen sich somit gegenläufige Entwicklungen ausmachen: die Ungleichverteilung der Pro-Kopf-Einkommen zwischen den Staaten ist tendenziell gesunken, während die innerstaatliche Einkommensungleichverteilung vielfach zunimmt. b) Globalisierung und Sozialstaat Obwohl die Globalisierung im politischen Diskurs auch dafür verantwortlich gemacht wird, dass entwickelte Sozialstaaten ihr Leistungsniveau absenken und sozialpolitische Maßnahmen einschränken, ist der Einfluss der Globalisierung auf den Sozialstaat in den entwickelten Volkswirtschaften bislang noch wenig empirisch untersucht. Allerdings sind die unterstellten Kausalitäten äußerst komplex; sie sind in der Regel nicht direkt beobachtbar und durch Drittvariable konfundiert. So wäre es beispielsweise verfehlt, jede Kürzung im Sozialbereich in den vergangenen Jahrzehnten unmittelbar auf die Globalisierung zurückzuführen. Die Entwicklung des Sozialstaats muss zusätzlich vor dem Hintergrund der soziodemographischen Entwicklung und der politischen Mehrheitsverhältnisse des jeweiligen Landes betrachtet werden. Aber die empirische Evidenz liefert zumindest keinen unmittelbaren Anhaltspunkt für die Vermutung, dass die Sozialstaaten ihr Leistungsniveau im Zuge der Globalisierung signifikant eingeschränkt hätten.5 Dies gilt – soweit man die nur sporadisch vorhandenen Untersuchungen als belastbar unterstellt – für die Staaten mit ausgebauten sozialen Sicherungssystemen ebenso wie für die weniger entwickelten

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Dies ist natürlich kein Beleg dafür, dass die Globalisierung keinen moderierenden Einfluss auf die Entwicklung des Sozialstaats gehabt hätte. So wäre es bspw. auch vorstellbar, dass neue soziale Problemlagen – also eine Erhöhung der Problemlösungsdringlichkeit – unter status quo Bedingungen einen Anstieg der Sozialleistungen zur Folge gehabt hätten, der aufgrund der Globalisierung unterblieben ist.

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Sozialstaaten.6 Auch umfassendere ökonometrische Untersuchungen stützen bislang diesen Befund.7 II. Zur Notwendigkeit supranationaler Sozialpolitik Wenn man die bislang verfügbare empirische Evidenz zusammenfasst, ist die in den vergangenen Jahren wieder verstärkt geführte Diskussion um die Einführung globaler Mindeststandards zunächst überraschend. Denn insgesamt betrachtet stellt sich die Globalisierung als Erfolgsgeschichte dar. Es ist auch auffallend, dass die Diskussion um globale Sozialstandards vor allem in den entwickelten Volkswirtschaften geführt wird, die von diesem Maßnahmen gar nicht betroffen wären. Die in den Industriestaaten weit verbreitete Befürchtung vor einem sozialen Unterbietungswettbewerb lässt sich im Wesentlichen auf drei Faktoren zurückführen. Zum einen hat sich die Dynamik der Globalisierung deutlich verschärft. Technischer Fortschritt und die Tertiarisierung der Wirtschaft verringern die Standortgebundenheit der Produktionsprozesse, so dass sich die komparativen Sozialkosten in stärkerem Maße als bisher auf die Standortentscheidung der Unternehmen auswirken. Des Weiteren traten durch den Fall des Eisernen Vorhangs auch die ehemaligen Ostblockstaaten in die internationale Arbeitsteilung ein. Dadurch entstanden für die entwickelten Volkswirtschaften neue Absatzmärkte; gleichzeitig traten aber auch neue Wettbewerber auf den Güter- und Faktormärkten auf. Und schließlich erwachsen den entwickelten Industriestaaten in den Schwellenländern neue Konkurrenten um Marktanteile und Beschäftigungsfelder. Bereits diese Aufzählung macht deutlich, dass die Diskussion um die Einführung globaler sozialer Mindeststandards nicht ausschließlich entwicklungspolitisch motiviert ist, sondern dass hier auch internationale Verteilungskonflikte eine maßgebliche Rolle spielen. 1. Wettbewerb der Sozialsysteme Es ist deshalb zu prüfen, unter welchen Bedingungen eine politisch gesetzte supranationale Sozialordnung besser geeignet ist, die soziale Lage in den Entwicklungs- und Schwellenländern zu erhöhen, als das unter einer dezentralen Lösung der Fall ist. Diese Fragestellung wird in der Ökonomik unter dem Stichwort des fiskalischen Föderalismus thematisiert.8 Die Befürworter einer dezentralen, marktgesteuerten Lösung übertragen die positiven Allokationseffekte eines funktionsfähigen Gütermarktwettbewerbs auf die politische Gestaltung der Sozialordnung. Danach weisen dezentrale, im Prozess 6

Für die sozialen Sicherungssysteme Südeuropas vgl. Guillen/Matsaganis, für Lateinamerika Kay. 7 Busenmeyer. 8 Vgl. hierzu die einschlägigen Arbeiten von Tiebout, Oates (1973, 2002), Tanzi und Wildasin.

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des institutionellen Wettbewerbs9 entstandene soziale Sicherungssysteme gegenüber politisch gesetzten Lösungen sowohl statische wie dynamische Vorteile auf. In statischer Hinsicht garantiert ein funktionsfähiger Wettbewerb sozialer Ordnungssysteme eine optimale Anpassung der Sozialordnung an heterogene kollektive Präferenzen. Wie auf den Märkten, so liegt auch im politischen Bereich das Wissen dezentral vor. Deshalb sind nur dezentrale Systeme in der Lage, den Umfang und die Struktur der Sozialleistungen an die unterschiedlichen verteilungspolitischen Präferenzen der jeweiligen Gesellschaft anzupassen. Denn die Systeme sozialer Sicherung differieren nicht nur in ihrer Höhe; sie umfassen auch einen spezifischen Mix von Geld- und Sachleistungen auf der Leistungsseite sowie von Steuer- und Beitragszahlungen auf der Einnahmeseite. Diese systemischen Unterschiede sind nicht nur das zufällige Ergebnis von „Pfadabhängigkeiten“ staatlicher Sozialpolitik. Sie spiegeln vielmehr unterschiedliche sozialhistorische Erfahrungen und heterogene gesellschaftliche Präferenzen wider und sind somit Ausdruck konstitutiver sozialer Werthaltungen in einer Gesellschaft. Ein effizienter institutioneller Wettbewerb stellt sicher, dass sich diese Unterschiede auch in der Ausgestaltung des Sozialstaats wiederfinden. Die wesentliche Leistung des Systemwettbewerbs liegt jedoch in seiner Funktion als „Entdeckungsverfahren“.10 Die soziale Problemlagen, aber auch die verfügbaren Problemlösungsmöglichkeiten sind einem ständigen Wandel unterworfen, der die permanente Überprüfung des institutionellen Gefüges und seine Anpassung an geänderte Rahmenbedingungen erfordert. Dezentrale und institutionell divergente Lösungen bieten die Möglichkeit, die Leistungsfähigkeit unterschiedlicher institutioneller Arrangements empirisch zu überprüfen, effiziente Strukturen zu identifizieren und ineffiziente Regelungen im Sinne eines best practice Ansatzes zu reformieren. Nur ein funktionsfähiger Systemwettbewerb und die damit verbundene Möglichkeit des institutionellen Lernens ermöglicht die notwendige Anpassung der Sozialordnung an aktuelle und zukünftige Herausforderungen. 2. Defizite des Systemwettbewerbs Wie die umfassende Literatur zum fiskalischen Föderalismus zeigt, ist ein effizienter institutioneller Wettbewerb an Voraussetzungen gebunden, die im Bereich der Sozialpolitik in der Regel nicht erfüllt sind. So setzt ein funktionsfähiger Systemwettbewerb voraus, dass die staatlichen Sozialleistungen lokale öffentliche Güter sind, d. h. dass sie keine spill over Effekte zwischen den Jurisdiktionen generieren. Das bedeutet, dass Änderungen des Leistungsrechts in einem Staat keine Auswirkungen auf das Verhalten der Wirtschaftssubjekte in anderen Staaten haben. Bei national 9

Unter institutionellem Wettbewerb werden der fiskalische und der regulatorische Wettbewerb von Jurisdiktionen verstanden; vgl. Eickhof. 10 Die Idee des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahrens geht auf v. Hayek zurück. Die folgende Übertragung dieses Gedankens auf die Sozialordnung stützt sich auf die Theorie der Entwicklungsbedingungen staatlicher Sozialpolitik von Lampert; vgl. hierzu Lampert und Lampert/Althammer.

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unterschiedlichen Umverteilungspräferenzen und mobilen Produktionsfaktoren muss jedoch davon ausgegangen werden, dass sich Unterschiede im Leistungsund Beitragsrecht auf die Niederlassungsentscheidung der Wirtschaftssubjekte auswirken. Umverteilungsaktive Sozialstaaten wirken in diesem Fall wie „Wohlfahrtsmagneten“11, d. h. sie stoßen die Nettozahler ab und attrahieren Nettoempfänger. Freie Migration löst bei national divergenten Verteilungssystemen somit einen politisch induzierten Prozess der adverse selection aus, der nicht nur das Umverteilungsvolumen auf ein ineffizient niedriges Niveau senkt, sondern auch Auswirkungen auf die Leistungs- und Finanzierungsstruktur des Sozialstaats hat. Leistungsseitig sind Versicherungssysteme aufgrund des Äquivalenzprinzips resistenter gegen wanderungsbedingte Belastungen als staatliche Fürsorgesysteme. Finanzierungsseitig werden unter der Bedingung freier Faktormobilität letztlich nur noch jene Einkommen belastet, die immobil sind und sich deshalb dem fiskalischen Zugriff nicht entziehen können. Die Steuerstruktur orientiert sich damit nicht mehr an den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit und der steuerlichen Gleichbehandlung, sondern an der inversen Elastizitätsregel der Besteuerung. Die Steuerbelastung ist damit umgekehrt proportional zur Elastizität der Steuerbemessungsgrundlage. Finanzwissenschaftlich formuliert erzwingt der fiskalische Systemwettbewerb einen Wechsel von der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit hin zu einem System der Optimalbesteuerung. Neben dem fiskalisch induzierten Prozess der adverse selection ist die strategische Sozialpolitik eine weitere Möglichkeit, wie die freie Migration der Faktoren zur Absenkung von Sozialstandards führen kann. Bei freier Mobilität zwischen den Jurisdiktionen kann die einzelne Gebietskörperschaft ihre sozialpolitische Nutzen-Kostenrelation zu ihren Gunsten verändern, indem sie durch eine Absenkung des Leistungsumfangs Wanderungsbewegungen von Nettoempfängern und Nettozahlern induziert. Die belasteten Länder können dem nur ausweichen, indem sie ihre Sozialstandards ebenfalls absenken. Letztlich stellen sich alle Staaten dadurch schlechter; sie befinden sich in einer typischen Gefangenendilemma-Situation. Die „strategische Sozialpolitik“ liefert das theoretische Argument für die Diskussion des „Sozialdumping“.12 Allerdings ist nach wie vor unklar, welche Bedeutung die strategi11 Der Begriff des Sozialstaats als „Wohlfahrtsmagneten“ geht auf Moffit zurück. Sozialleistungsbedingte Wanderungsbewegungen sind insbesondere für sozial und kulturell homogene Föderationen wie die USA gut belegt; vgl. Rom/Peterson, Borjas sowie Levine/Zimmermann. Eine Anwendung dieses Ansatzes auf die sozialpolitischen Regulierungen innerhalb der Europäischen Union findet sich bei Kolmar. 12 Der Begriff „Sozialdumping“ wird auch in der Literatur nicht immer trennscharf verwendet. Alber/Standing (S. 99) fassen unter Sozialdumping allgemein „…situations in which standards in one country are lowered relative to what they would have been because of external pressure from all or part of the global economic system“. Nach dieser weiten Definition fällt jede Form der durch Globalisierung induzierten Sozialreform unter den Dumpingbegriff. Der Begriff des „Dumping“ ist in der Wettbewerbstheorie jedoch eindeutig als strategisches Instrument der Wettbewerbsverzerrung besetzt und liegt vor, sofern der Verkaufspreis eines Gutes unter seinen Produktionskosten liegt. Übertragen auf den Sozialstaat bedeutet dies, dass von Dumping nur gesprochen werden könnte, wenn die Absenkung sozialstaatlicher Standards aus den o. a. strategischen Motiven resultiert.

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sche Sozialpolitik in der Praxis hat. Denn empirisch ist es nicht möglich zu differenzieren, ob eine bestimmte sozialpolitische Reform strategisch motiviert oder extern induziert ist. Das zentrale theoretische Argument gegen den Systemwettbewerb und damit für eine supranationale Sozialpolitik findet sich bei Hans-Werner Sinn (1994, 1999). Sinn rekonstruiert den Sozialstaat als gesellschaftliche Reaktion auf bestimmte Formen des Marktversagens. Danach bildet sich der Sozialstaat in jenen Politikfeldern heraus, in denen der Markt nicht in der Lage ist, soziale Problemlagen adäquat zu lösen (Selektionsprinzip). Insofern ist es bereits im Grundsatz verfehlt, in diesen Fällen den Marktmechanismus sozusagen „durch die Hintertür“ des Systemwettbewerbs zum Tragen kommen zu lassen. Sozialpolitik entzieht sich damit systematisch dem kompetitiven Paradigma und der Marktlogik; sie ist eine evident politische Aufgabe. 3. Alternative Formen sozialstaatlicher ex-ante Harmonisierung Unabhängig davon, ob die Angleichung sozialstaatlicher Regelungen kompetitiv oder über den politischen Prozess erfolgt, hat sich gezeigt, dass divergente sozialpolitische Regelungssysteme in einem integrierten Wirtschaftsraum dysfunktional sind. Dies wurde vor allem im Zuge der europäischen Integration deutlich; hier ist die erwünschte innereuropäische Migration nicht zuletzt aufgrund institutioneller Barrieren erkennbar hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Gleichzeitig lassen sich am Beispiel der Europäischen Union die Bedingungen zeigen, die erfüllt sein müssen, um einheitliche Sozialstandards zu implementieren. a) Ex-ante Harmonisierung durch supranationale Regulierung Unter einer ex-ante Harmonisierung nationaler Sozialpolitik ist ein supranationaler politischer Prozess zu verstehen, der die divergenten nationalen Sozialsysteme auf einem einheitlichen Niveau egalisiert. Diese Form der ex-ante Harmonisierung sozialer Sicherungssysteme ist in der Realität jedoch wenig verbreitet. Selbst in dem wirtschaftlich wie politisch vergleichsweise hoch integrierten Wirtschaftsraum der Europäischen Union ist die Vereinheitlichung sozialer Standards durch supranationale Vorgaben die Ausnahme und beschränkt sich auf relativ eng abgegrenzte Politikbereiche. Lediglich im Bereich des Arbeitnehmerschutzes existiert seit dem Vertrag von Lissabon ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren, bei dem die Europäische Kommission ein Initiativrecht besitzt und das Europäische Parlament seine Zustimmung erteilen muss. Aber auch hier ist für eine Entscheidung die qualifizierte Mehrheit des Europäischen Rats erforderlich. Der quantitativ bedeutsame Bereich der sozialen Sicherung unterliegt weiterhin dem sog. Anhörungsverfahren, bei dem das Europäische Parlament lediglich eine Stellungnahme abgibt und im Europäischen Rat das Einstimmigkeitsprinzip gilt. Insofern kommt auch in der Europäischen Union in Fragen der Sozialpolitik weiterhin das Prinzip der intergouvernementalen Einigung zur Anwendung.

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Eine abgeschwächte Form supranationaler Regulierung, die für die Entwicklungspolitik von erheblicher Bedeutung ist, ist die Konditionalisierung wirtschaftlicher Hilfen durch supranationale Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank. Beiden Institutionen kommt entwicklungspolitisch eine zentrale Rolle zu: Sie sind nicht nur die größten Kreditgeber für Entwicklungsländer, die Mehrzahl bilateraler oder privater Entwicklungsprogramme ist zudem an Programme der Weltbank oder des IWF gebunden. Mit der Konditionalisierung internationaler Programme auf Armutsminderungsstrategien und gute Regierungsführung (good governance) weist die supranationale Entwicklungspolitik seit einigen Jahren in eine Richtung, die von Entwicklungshilfeorganisationen seit langem gefordert wird.13 b) Ex-ante Harmonisierung durch soft law Die Tatsache, dass selbst in einem hochintegrierten Wirtschaftsraum wie der Europäischen Union supranationale sozialpolitische Regulierungen kaum praktiziert werden hat in der Policyforschung dazu geführt, neben den traditionellen Regulierungsstrategien auch alternative Ansätze auf ihren Beitrag zur Lösung des sozialpolitischen Koordinierungsproblems zu analysieren. In der Governanceforschung stehen hier vor allem Regulierungsmodelle unterhalb der Ebene von Rechtsakten (soft law-Ansätze) sowie der Beitrag der zivilgesellschaftlichen Akteure im Vordergrund. Ein Versuch der sozialpolitischen ex-ante Harmonisierung durch soft law ist die „Offene Methode der Koordinierung“ der Europäischen Kommission. Hier werden sozialpolitische Ziele zunächst definiert und anhand geeigneter Indikatoren operationalisiert. Anschließend erfolgt ein benchmarking der jeweiligen Mitgliedstaaten. Dieses benchmarking verfolgt das Ziel, besonders leistungsfähige institutionelle Arrangements zu identifizieren und ihren Vorbildcharakter im Sinne eines best practice approach hervorzuheben. Bei deutlicher Zielverfehlung einzelner Mitgliedsstaaten greifen zwar keine formellen Sanktionen; die Kommission versucht jedoch, durch die Publikation und Kommunikation der Ergebnisse Einfluss auf den politischen Willensbildungsprozess innerhalb des jeweiligen Mitgliedsstaats zu nehmen. Die Wirksamkeit der Offenen Methode der Koordinierung als sozialpolitische Kohäsionsstrategie ist jedoch umstritten. Unabhängig davon machen die europäischen Erfahrungen jedoch deutlich, dass eine Harmonisierung staatlicher Sozialpolitik durch soft law ebenfalls an politische Voraussetzungen gebunden ist. So muss das sozialpolitische Zielsystem definiert sein und Konsens über die Operationalisierung der Zielgrößen bestehen. Des Weiteren muss die Bereitschaft zur Umsetzung sozialstaatlicher Maßnahmen seitens der politischen Akteure gegeben sein. 13 Die Strategie der Konditionalität hat durch den Washington Consensus und die hier festgelegte Deregulierungsstrategie deutlich an Reputation verloren. Erst durch die Verabschiedung der Milleniumsentwicklungsziele, durch die Konzepte der Partnerschaft und Eigenverantwortung der Nehmerländer (Ownership) und die stärkere Berücksichtigung sozialer Aspekte konnte die Akzeptanz der Konditionalisierung zurückgewonnen werden. Zu den entwicklungspolitischen Zielen der Europäischen Union vgl. Zanger.

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c) Ex-ante Harmonisierung durch zivilgesellschaftliche Akteure Diese Voraussetzungen effektiver soft law governance sind in den am wenigsten entwickelten Staaten in der Regel nicht gegeben. In diesen Fällen ist es die Aufgabe der zivilgesellschaftlichen Akteure, auf akute soziale Problemlagen zu reagieren und auf eine Schließung von Regulierungslücken hinzuwirken. Die hier praktizierten Ansätze sind vielfältig. Sie reichen von den entwicklungspolitischen Programmen der halbstaatlichen Träger der freien Wohlfahrtspflege über das soziale Engagement freier karitativer Organisationen und Stiftungen bis hin zum Engagement von Privatpersonen und Unternehmen. Letztlich liegt hier auch eine ethische Verantwortung der Konsumenten in den entwickelten Volkswirtschaften. Durch ihr Nachfrageverhalten können sie mit dazu beitragen, dass multinational agierende Unternehmen normative Vorgaben bei ihren unternehmerischen Entscheidungen mit berücksichtigen müssen. Ethik wird so zum business case, d. h. ethisches Verhalten liegt im rationalen Eigeninteresse des Unternehmens. Der Papst hatte wohl insbesondere diesen Bereich des zivilgesellschaftlichen Engagements im Blick, als er mit der „Ökonomie der Unentgeltlichkeit“ ein neues Element in die katholische Soziallehre einführt. Denn trotz des teilweise hohen Grades an Professionalisierung sind diese Aktivitäten von altruistischer Motivation getragen und werden in der Regel ohne Gewinnerzielungsabsicht erbracht. III. Sozialstaat und Globalisierung – zu den sozialpolitischen Positionen der Enzyklika Caritas in Veritate 1. Zur sozialen Dimension der Marktwirtschaft Die Enzyklika ,Caritas in Veritate‘ befasst sich insbesondere im dritten und im fünften Kapitel mit den Fragen der Marktwirtschaft und des Wettbewerbs sowie den sozialen Folgen der ökonomischen Globalisierung. Hier stellt sich dieser Text ganz in die Tradition der sozialen Rundschreiben der Kirche, welche die Verkehrswirtschaft zwar nicht als intrinsisch unsozial verwirft, aber auch stets darauf verweist, dass der Markt der Gestaltung durch eine an normativen Kriterien ausgerichteten Ordnung bedarf.14 Bereits in der „Arbeiterenzyklika“ ,Rerum Novarum‘ (RN) finden die beiden Grundpfeiler der Marktwirtschaft – Vertragsfreiheit und das Recht auf Privateigentum – eine positive Würdigung. Das Recht auf Eigentum wird hier sogar – bei aller Kritik an den sozialen Verwerfungen in der Frühphase der Industria14 Es ist deshalb schwer nachvollziehbar, dass Wiemeyer in seiner kritischen Würdigung der Enzyklika an dieser Stelle einen „Bruch mit einer über 100-jährigen marktkritischen Tradition“ ausmacht. Es ist zwar richtig, dass die unternehmerische Tätigkeit in ,Caritas in Veritate‘ – ebenso wie zuvor in ,Centesimus Annus‘ – eine explizit positive Würdigung erfährt, die sich in dieser Form in den älteren Enzykliken noch nicht findet. Die Position der katholischen Soziallehre zum Recht auf Eigentum und zu einer sozial verfassten Verkehrswirtschaft war jedoch schon immer grundsätzlich positiv.

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lisierung – naturrechtlich begründet und dadurch mit einer lehramtlichen Institutsgarantie versehen.15 Diese Garantie gilt jedoch nicht uneingeschränkt, sondern ist an die Forderung der „natürlichen Gerechtigkeit“16 und an das Gemeinwohlprinzip gebunden; besondere Bedeutung kommt dabei dem Gemeinwohlprinzip zu, an dem sich sowohl die Gerechtigkeitskriterien als auch die individuellen Rechte auszurichten haben.17 In diese Tradition fügen sich die wirtschaftsethischen Aussagen in den Textziffern 35 und 36 von ,Caritas in Veritate‘ ein. Hier wird zunächst der Verelendungstheorie des Kapitalismus – die im globalisierungskritischen Diskurs weiterhin eine große Rolle spielt – eine deutliche Absage erteilt: „Es muß […] die Sichtweise jener als unrichtig verworfen werden, nach denen die Marktwirtschaft strukturell auf eine Quote von Armut und Unterentwicklung angewiesen sei, um bestmöglich funktionieren zu können “.18

Zu den sozialen Implikationen der Wettbewerbswirtschaft heißt es dann in Textziffer 36: „Die Kirche vertritt seit jeher, daß die Wirtschaftstätigkeit nicht als antisozial angesehen werden darf. Der Markt ist an sich nicht ein Ort der Unterdrückung des Armen durch den Reichen […]. Die Gesellschaft muß sich nicht vor dem Markt schützen, als ob seine Entwicklung ipso facto zur Zerstörung wahrhaft menschlicher Beziehungen führen würde. Es ist sicher richtig, daß der Markt eine negative Ausrichtung haben kann, nicht weil dies seinem Wesen entspräche, sondern weil eine gewisse Ideologie ihm diese Ausrichtung geben kann.“

Die Marktwirtschaft wird in der kirchlichen Soziallehre nicht nur durch die effiziente Ressourcenallokation und die damit verbundene Erhöhung des gesellschaftlichen Wohlstands legitimiert. Neben diesen ökonomischen Effekten kommt einer funktionsfähigen marktwirtschaftlichen Ordnung auch eine inhärente sozialethische Qualität zu. Der freiwillige Tausch über kompetitive Märkte stellt ein Entsprechungsverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung her und garantiert ausgleichende Gerechtigkeit (iustitia commutativa). ,Caritas in Veritate‘ eröffnet darüber hinaus eine theologische Perspektive, indem sie in Tz. 35 den Markt als eine Institution bezeichnet, die „Begegnungen zwischen den Menschen ermöglicht“ und zur Emanzipation der Marktteilnehmer beiträgt. Eine offene und freie Tauschwirtschaft gewährleistet somit nicht nur individuelle Freiheit und persönliche Selbstentfaltung; ihr ist auch ein communio-Aspekt inhärent, der sich in einer zentral verwalteten Zuteilungsökonomie in dieser Form nicht findet. Diese soziale Dimension wird der Marktwirtschaft jedoch nicht als naturgegeben unterstellt. Damit der Markt seine sozialen Effekte entfalten kann, sind entsprechende gesellschaftliche Rahmenbedin15

Vgl. insbes. RN 4 – 9 und 16. RN 34. 17 Zum Gemeinwohlprinzip vgl. insbes. ,Gaudium es Spes‘, GS 26. 18 CIV 35. 16

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gungen zu setzen.19 Auf die Bedeutung der Ordnungspolitik wird verwiesen, wenn der Text die Setzung gemeinwohlorientierter ordnungspolitischer Rahmenbedingungen als den institutionellen bzw. politischen „Weg der Nächstenliebe“ bezeichnet, der „nicht weniger tauglich und wirksam ist als die Liebe, die dem Nächsten unmittelbar […] entgegen kommt“20. Darüber hinaus wird das Prinzip der Tauschgerechtigkeit auf dem Markt als in zweifacher Weise ergänzungsbedürftig angesehen. Zum einen setzt die ausgleichende Gerechtigkeit voraus, dass gleiche Zugangschancen auf den Märkten bestehen; Leistungsgerechtigkeit setzt also Startgerechtigkeit voraus. Gegen dieses ordoliberale Prinzip der Offenheit der Märkte wird gerade im globalen Kontext durch künstliche Marktzugangsbeschränkungen verstoßen. Dies wird besonders deutlich in Tz. 58, in der die „volle Teilnahme“ der Entwicklungsländer am internationalen Wirtschaftsleben eingefordert wird. Zum anderen ist das Kriterium der Tauschgerechtigkeit durch das der Verteilungsgerechtigkeit zu ergänzen.21 2. Bewertung der Globalisierung durch ,Caritas in Veritate‘ Obgleich ,Caritas in Veritate‘ die globale Ungleichverteilung des Wohlstands mit sehr deutlichen Worten verurteilt, ist sie keine globalisierungskritische Enzyklika. Die Globalisierung wird vielmehr als ambivalenter Prozess begriffen, der „a priori weder gut noch schlecht“22 ist, sondern den ethischen Gehalt aus seiner konkreten Ausgestaltung bezieht. Zwar spart der Text nicht mit Kritik an der globalen Ungleichverteilung, die – unter Rekurs auf ,Populorum Progressio‘ – als „Skandal schreiender Ungerechtigkeit“23 bezeichnet wird. Besonders scharf fällt diese Kritik gegenüber den hochentwickelten Gesellschaften aus; ihnen wird vorgeworfen, für sich ein „Recht auf Überfluss“ zu beanspruchen, dem ein „Mangel an Nahrung, Trinkwasser, Schulbildung oder medizinischer Grundversorgung in manchen unterentwickelten Weltregionen“24 gegenübersteht. Diese scharfe Kritik am globalen Wohlstandsgefälle entspricht der Tradition der Sozialverkündigung. Bemerkenswert ist, dass zwischen der weltweiten Über- und Unterversorgung ein Zusammenhang postuliert wird, der jedoch nicht näher ausgeführt wird.

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CIV 35 – 36. Vor diesem Hintergrund sind auch die marktkritischen Passagen zu lesen, die sich in allen Sozialenzykliken finden, besonders ausgeprägt in Quadragesimo anno und Populorum progressio. So kritisiert PP (26) ausdrücklich einen „ungehemmten Liberalismus“, der das Privateigentum als absolutes, schrankenloses Recht ohne gesellschaftliche Verpflichtungen versteht und dessen soziale Ergebnisse als eine Form von „Diktatur“ bezeichnet werden. 20 CIV 7. 21 CIV 37. 22 CIV 42. 23 PP 9. 24 CIV 46.

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Trotz dieser Kritik verweist ,Caritas in Veritate‘ explizit auf die Chancen, die die Globalisierung gerade für die Entwicklungs- und Schwellenländer bereitstellt. Die durch die Globalisierung bislang induzierten Wohlfahrtseffekte werden in der Enzyklika durchaus differenziert betrachtet. So bleibt nicht unerwähnt, dass sich der weltweite Wohlstand im Zuge der Globalisierung erhöht hat und dass es zahlreichen Volkswirtschaften gelungen ist, Anschluss an die entwickelten Ökonomien zu finden.25 Es wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Unterentwicklung in den ärmeren Ländern nicht ausschließlich der Globalisierung angelastet werden kann, sondern primär ein Ergebnis der instabilen politischen Strukturen innerhalb dieser Länder ist. Wenn ,Caritas in Veritate‘ also kritisiert, dass der weltweite Reichtum absolut gesehen zunimmt, dass sich aber gleichzeitig die Ungleichheiten in der Verteilung des Wohlstands vergrößern, dann entspricht das cum grano salis den empirischen Fakten zur Entwicklung des Pro-Kopf-Einkommens. Dass die Enzyklika aus diesem Befund keine unmittelbaren Konsequenzen für die Entwicklungspolitik ableitet, ist eher eine Stärke als eine Schwäche des Textes. Denn das Bild bliebe unvollständig, wenn man nicht hinzufügen würde, dass der größte Teil dieser Ungleichheit nicht auf die Verteilung zwischen den Ländern zurückzuführen ist, sondern seine Ursache in der Ungleichverteilung innerhalb dieser Länder hat. 3. Politische Implikationen Wenn man die Globalisierung als gestaltungsbedürftig, aber prinzipiell gestaltungsfähig ansieht, wirft das unmittelbar die Frage nach der Implementierung der erforderlichen Rahmenordnung auf. Wie bereits oben ausgeführt, sind supranationale sozialpolitische Regulierungen in der Literatur äußerst umstritten, und zwar sowohl normativ wie prozedural. In normativer Hinsicht positioniert sich die Enzyklika – wie bereits ,Populorum Progressio‘ und ,Sollicitudo Rei Socialis‘ – eindeutig: der Text lässt keinen Zweifel daran, dass globale Regeln erforderlich sind, um das Geschehen auf den Märkten zu kanalisieren und die Ergebnisse des ökonomischen Prozesses sozialverträglich auszugestalten. Hinsichtlich der prozeduralen Dimension zeigt sich der Text hingegen zurückhaltend. Das liegt zum einen an der generellen Zielsetzung, die die Sozialenzykliken mittlerweile verfolgen. Spätestens seit ,Pacem in Terris‘ ist es nach dem Selbstverständnis der sozialen Rundschreiben nicht die Aufgabe der lehramtlichen Verlautbarungen, konkrete Handlungsempfehlungen zu formulieren und diese den politischen Entscheidungsträgern vorzugeben.26 Dies wird in ,Caritas in Veritate‘ bereits zu Beginn des Textes nochmals deutlich gemacht wenn es unter Verweis auf ,Gaudem et Spes‘, ,Centesimus Annus‘ und ,Populorum Progressio‘ heißt, die Kirche habe keine „technischen Lösungen anzubieten und beansprucht keineswegs, sich in die staatli25

CIV 22 f. Sehr deutlich wird dies in ,Pacem in Terris‘, PT 67 ff., wo selbst für die Frage der staatlichen Ordnung keine letztgültige Antwort gegeben wird. 26

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chen Belange einzumischen“27. Aus dieser Zurückhaltung in praktisch-politischen Fragen folgt zwingend, dass die Enzyklika auch kein eigenständiges Konzept für die Implementierung supranationaler Regelsysteme formuliert. In CIV 67 ist zwar unter Verweis auf Johannes XXIII. von einer „politischen Weltautorität“ die Rede. Hier bezieht sich der Text offensichtlich auf ,Pacem in Terris‘, wo eine „universale politische Gewalt“ um der „sittlichen Ordnung willen“ gefordert wird.28 Ebenso wie in den vorangegangenen Sozialschreiben wird diese supranationale Autorität aber auch in ,Caritas in Veritate‘ inhaltlich nicht näher bestimmt. Vielmehr werden die Bedingungen genannt, die eine derartige Institution aufweisen müsste, um die an sie gesetzten normativen Anforderungen zu erfüllen. Neben der faktischen Möglichkeit, Beschlüsse zu fassen und durchzusetzen, unterliegt diese Institution sowohl einer formale Struktur wie einer inhaltlichen Zielbestimmung. Sozialstrukturell ist das Prinzip der subsidiären Kompetenzzuweisung zu wahren, normativer Beurteilungsmaßstab aller Beschlüsse ist das Gemeinwohl. Mit diesem normativ-ontologischen Ansatz grenzt sich die Soziallehre der Kirche entschieden von den politischen Theorien des Realismus ab, die ausschließlich in Kategorien politischer und ökonomischer Macht argumentieren.29 Gleichzeitig weist sie aber auch eine gewisse Distanz zum Konstruktivismus auf. Denn die konstruktivistische Theorie akzeptiert zwar ein kollektives Normgefüge als politisch handlungsleitend, ist hinsichtlich der jeweils verfolgten ethischen Ziele jedoch offen. Insofern repräsentiert der Konstruktivismus einen „Normativismus ohne Ontologie“30, während es das primäre Ziel der kirchlichen Soziallehre ist, diese Normen auch inhaltlich zu verorten. Da die bestehenden supranationalen Institutionen diese weitreichenden Anforderungen offensichtlich nicht erfüllen, liegt hier eher eine Defizitbeschreibung des bestehenden Institutionengefüges denn eine konkrete politische Handlungsaufforderung vor. Eine größere praktische Bedeutung kommt den zivilgesellschaftlichen Akteuren zu, insbesondere in Gestalt der Gewerkschaften. Zwar verkennt die Enzyklika nicht die mit der Globalisierung verbundenen Einschränkungen des Handlungsspielraums für die organisierte Arbeitnehmerschaft.31 Aufgrund ihrer internationalen Vernetzung und der nach wie vor existenten Marktmacht sind die Gewerkschaften jedoch auch weiterhin in der Lage, einen Beitrag zur sozialen Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen und der Beschäftigungsbedingungen auf globaler Ebene zu leisten. Als ein leistungsfähiger Mechanismus zur Transmission internationaler Mindeststandards haben sich insbesondere multinational agierende Unternehmen erwiesen. Aufgrund der starken Stellung der Gewerkschaften in den Leitungsorganen und durch 27

CIV 9. PT 137. 29 Diese Abgrenzung wird bereits zu Beginn des Textes in Tz. 5 sehr deutlich herausgearbeitet. Hier wird gesellschaftliches Handeln ohne normative Verankerung als ein „Spiel privater Interessen und Logiken der Macht“ charakterisiert, das „zersetzenden Folgen für die Gesellschaft“ aufweist. 30 Reese-Schäfer. 31 CIV 25. 28

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öffentlichen Druck haben sich fast alle Unternehmen verpflichtet, die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zu übernehmen und in ihren Tochtergesellschaften und Zweigniederlassungen anzuwenden. Zahlreiche Unternehmen fordern im Rahmen des ethical supply chain managements darüber hinaus die Einhaltung dieser Regeln auch von ihren Zulieferbetrieben. Eine effiziente Durchsetzung ethischer Standards durch zivilgesellschaftliche Akteure setzt jedoch voraus, dass die dort handelnden Akteure Eigenrationalitäten zu einem gewissen Grad überwinden und Gemeinwohlinteressen verfolgen. Für die Arbeitnehmervertreter in den Industriestaaten bedeutet dies, dass sie bei der Festsetzung global verbindlicher Sozialstandards die Interessen der Beschäftigten in den Entwicklungs- und Schwellenländern berücksichtigen. Für die Arbeitnehmerbewegung insgesamt stellt sich das Problem, die Interessen der Nichtorganisierten und der Arbeitslosen zu beachten. Auch für die zivilgesellschaftlichen Akteure gilt, dass sich eine gemeinwohlorientierte Ausgestaltung der Rahmenordnung nicht aus der Binnenlogik der gesellschaftlichen Teilsysteme ergibt, sondern einer normativen Grundlegung bedarf. IV. Fazit Die jüngste Sozialenzyklika ,Caritas in Veritate‘ interpretiert die Positionen der katholischen Soziallehre unter den Bedingungen der Globalisierung. In ihren analytischen Aussagen zu den Wirkungen der Globalisierung auf die Ungleichverteilung der Lebensbedingungen und auf die Entwicklung der Sozialstaatlichkeit ist sie auf der Höhe der einschlägigen Literatur; eine fehlerhafte Faktenanalyse wird man ihr nicht vorwerfen können. In ihren ordnungstheoretischen Aussagen ist sie weder prinzipiell globalisierungs- noch grundsätzlich marktkritisch, sondern verweist auf die gesellschaftliche Ambivalenz ökonomischer Prozesse und auf die Notwendigkeit, die Wirtschaft in eine normativ-ontologisch begründete Gesamtordnung der Gesellschaft einzubinden. Mit dieser Position steht ,Caritas in Veritate‘ ganz in der Tradition der katholischen Soziallehre. Bezüglich der konkreten Schritte zur Umsetzung dieser Sozialordnung hält sich der Text zurück; Politikgestaltung ist nicht die Aufgabe des Lehramts. Das Schreiben enthält jedoch zahlreiche Anregungen zu den normativen Grundlagen und zur praktischen Ausgestaltung einer gemeinwohlorientierten Wirtschaftspolitik im globalen Kontext. Da auf globaler Ebene jedoch die wesentlichen Voraussetzungen für die Entwicklung eines umfassenden, gemeinwohlorientierten sozialen Ordnungssystems fehlen und eine rein an den individuellen Interessen ausgerichtete Politik lediglich die bestehenden Machtverhältnisse reproduziert, aber keinen sozialen Ausgleich herbeiführt, erfordert jede Form globaler Sozialpolitik ein bestimmtes Maß an Uneigennützigkeit der handelnden Akteure. Dies gilt für jede der in Frage kommenden Regelungsebenen und governance-Strukturen. Es ist das Verdienst dieser Enzyklika, auf dieses bislang vernachlässigte Element in der ordnungspolitischen Literatur hingewiesen zu haben.

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Armut im Licht der Enzyklika ,Caritas in Veritate‘ Von Elke Mack Die Bekämpfung absoluter Armut ist neben der ökologischen Problematik eines der wichtigsten sozialethischen Probleme unserer Zeit, denn sie ist gleichzusetzen mit Hunger, frühzeitigem Sterben, Leiden und Not von konkreten Menschen, die heute leben. „,Der Skandal schreiender Ungerechtigkeit‘ (Paul VI., Enzyklika ,Populorum progressio‘, 9) hält an.“1, so kommentiert Benedikt XVI. globale Armut mit den Worten seines Vorvorgängers. Auch wenn die Enzyklika ,Caritas in Veritate‘ das Problem der Armut nicht in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen stellt, so geht Benedikt XVI. ganz konkret auf das Thema der hungernden Armen ein: „Den Hungrigen zu essen geben (vgl. Mt 25, 35.37.42) ist ein ethischer Imperativ für die Weltkirche, die den Lehren ihres Gründers Jesus Christus über Solidarität und Teilen entspricht. Den Hunger in der Welt zu beseitigen, ist darüber hinaus in der Ära der Globalisierung auch ein Ziel geworden, das notwendigerweise verfolgt werden muss, um den Frieden und die Stabilität auf der Erde zu bewahren.“2 Dies ist eine theologische und friedensethische Bewertung der globalen Armutssituation, die der Papst kritisiert und deren Veränderung er anmahnt. Bezüglich konkreter Zahlen und einer sozialwissenschaftlichen Auswertung kann folgendes ergänzt werden: In keinem anderen Lebensumstand werden den Betroffenen täglich derart viele elementare Menschenrechte vorenthalten wie bei dem Problem der absoluten Armut (Recht auf Leben, Recht auf Nahrung, Recht auf Unterkunft, Recht auf Soziale Sicherheit, Recht auf Gesundheit …). Deshalb sterben jährlich rund 18 Millionen Menschen an armutsbedingten Ursachen, darunter rund 11 Millionen Kinder.3 Kinder und Frauen sind deutlich stärker betroffen als Männer. Ein Drittel aller Todesfälle weltweit ist auf armutsbedingte Ursachen zurückzuführen, wie anhaltende Unterernährung, Hunger und Durst, verschmutze Umwelt, mangelnde Hygiene, fehlende Unterkunft und schlechte oder gar nicht vorhandene Gesundheitsversorgung. Rund eine Milliarde Menschen leben derzeit von weniger als 1,25 US-Dol-

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CIV 22. CIV 27. 3 Vgl. Pogge (2002), S. 2; Pogge (2009), S. 59. 2

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lar pro Tag (in regionalen Kaufkraftparitäten)4, also unter der von der Weltbank festgelegten Schwelle absoluter Armut. Darüber hinaus lebt ein Drittel der Menschheit derzeit von weniger als 2 US-Dollar pro Tag (in KKP), was konkret immer noch Hunger, Unterernährung, hohe Kindersterblichkeit und geringe Lebenserwartung bedeutet oder bedeuten kann.5 Diesen zutiefst armen Menschen fehlen meist der Zugang zu ausreichender Ernährung und Wasser, zu Obdach, zu Schulen, zu medizinischer Versorgung und elementarer Infrastruktur. Diese Form der absoluten Armut ist nicht vergleichbar mit der relativen Armut in westlichen Industrieländern, die sich am Durchschnittseinkommen der heimischen Gesellschaft bemisst und z. B. in Deutschland Menschen betrifft, die weniger als 60 % des durchschnittlichen nationalen Einkommens beziehen, was international betrachtet eine immer noch erheblich überdurchschnittliche Einkommenssituation darstellt.6 Die Zahlen der globalen Armut sind deshalb so ernst zu nehmen, da es sich um eine Katastrophe für jeden betroffenen Menschen handelt. Jede Minute stirbt ein Mensch auf der Welt an den Folgen absoluter Armut, täglich sind es rund 50.000 Tote. Dabei sind besonders Menschen in der Sub-Saharazone Afrikas und in Südostasien die Opfer dieses anhaltenden moralischen Dilemmas. Diese haben in den seltensten Fällen eine Chance, dieser multifaktoriell bedingten Zwangssituation zu entkommen, weil sie nicht die personenbezogenen Fähigkeiten oder Möglichkeiten besitzen, sich selbst zu befreien und der Armutsfalle zu entkommen. I. Wie entwickelt sich die globale Situation der Armut weiter? Die Zahl der in äußerster Armut lebenden Menschen stieg nach Prognosen von IWF und Weltbank im Rahmen der Finanzkrise von 2008/2009 kurzfristig um mehr als 90 Millionen an und die Zahl der hungernden und unterernährten Menschen

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Die aktuellsten absoluten Zahlen von 2005 belegen global rund 1,4 Mrd. Menschen, die in absoluter Armut leben. Die Weltbank geht davon aus, dass 2015 diese Zahl auf rund 883 Mio. reduziert ist, wenn weiterhin an den Milleniums-Entwicklungszielen (MDG) festgehalten wird, vgl. The World Bank (2011), S. 14. Um internationale Vergleiche erfassen zu können, führt das ICP alle fünf Jahre umfangreiche kaufkraftparitätische Vergleichsstudien durch. Das Armutskriterium der Weltbank ergibt sich aus dem Durchschnitt der kaufkraftparitätisch bereinigten Existenzminimums (PDL) der einzelnen Länder. Um ökonomische Gesamtmengen und -variablen international real vergleichen zu können, ist die Berechnung eines durchschnittlichen internationalen Preisniveaus notwendig. Bei Berücksichtigung dieser Daten, wird die Kaufkraft von 1,25 USD dann für jedes Land vergleichbar. 5 Vgl. The World Bank (2011), S. 14. 6 Relative Armut in Industrieländern sollte dennoch als soziales Problem ernst genommen werden, weil sie mangelnde soziale und gesellschaftliche Beteiligung der Betroffenen nach sich zieht und soziale Fürsorge sowie staatliche Beteiligungsgerechtigkeit verlangt.

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stieg auf den Wert von deutlich mehr als einer Milliarde.7 Die extreme Erhöhung der Rohstoff- und Nahrungsmittelpreise seit Mitte 2010 verschärfte die Situation erheblich.8 Allerdings gibt es – mittelfristig betrachtet – auch positive Trends in der Gesamtentwicklung: Zwischen 1981 und 2007 hat sich im Rahmen der fortschreitenden Globalisierung die absolute Zahl der Personen, die in Haushalten mit einem Einkommen unter 1,25 US-Dollar pro Tag und Kopf leben, um knapp ein Drittel auf etwa eine Milliarde reduziert. Nach einer Erhöhung während der Finanzkrise 2008/2009, ist davon auszugehen, dass die Anteile der absolut Armen bis zum Jahr 2015 auf 14 % der Weltbevölkerung zurückgehen werden.9 Dies sind Trends der Armutsreduktion weltweit, die trotz erheblicher Rückschläge anhalten und langfristig auch die absolute Zahl der Armen reduzieren werden. Aufgrund der steigenden Bevölkerungszahlen ist die relative Entwicklung der Armut zur Einschätzung der Situation aussagekräftiger als die Benennung von absoluten Zahlen. Gemessen an der Weltbevölkerung hat sich die Zahl der Personen, die in Haushalten mit einem Einkommen unter einem bzw. zwei US-Dollar pro Tag und Kopf leben, während der letzten 15 Jahre mit der genannten Ausnahme verringert, also während der eigentlichen Phase der Globalisierung. Vor allem Ostasien mit seinen erfolgreichen Schwellenländern hat den größten Anteil an dieser Reduzierung (besonders China). Hingegen hat sich die Situation in Schwarzafrika, südlich der Sahara, eher perpetuiert und die Zahl der Armen ist dort absolut gesehen gestiegen.10 Die Hauptgründe für die extreme Armutssituation des südlichen Afrika liegen in politischer Instabilität, geographischer Benachteiligung, mangelnder rechtsstaatlicher Institutionenbildung und der nicht stattfindenden ökonomischen Integration der ärmsten Entwicklungsländer in die Globalisierung.11 Eine Beseitigung absoluter Armut gelänge bei einer substantiellen Änderung der Rahmenbedingungen für die betroffenen Länder, einer steigenden Wertschöpfung vor Ort durch Erhöhung des Kapitalstocks und nachhaltige Investitionen in private sowie öffentliche Güter (Landwirtschaft, Bildung, Gesundheit, Infrastruktur …). Die Makroentwicklung stellt trotz erheblich wachsender Ungleichheit weltweit eine Konsolidierung von unten dar, also von der Basis der Pyramide her.12 Von ihrer generellen Tendenz bestätigt dies einen erheblichen ethischen Fortschritt im Rahmen der Globalisierung, der jedoch ethisch nicht zufrieden stellen kann, solange 7 Im Jahr 2010 schätzte die Weltbank eine der Krise geschuldete Erhöhung der Zahl von in absoluter Armut lebenden Menschen auf 64 Mio., vgl. The World Bank (2010), S. viii. 8 The World Bank (2011), S. 46. 9 The World Bank (2011), S. 14. 10 Vgl. Milanovic, S. 111 – 112. 11 Vgl. Klasen (2008). 12 Das Thema „Base of the Pyramid“ (BoP) steht für eine wirtschaftsethische Debatte, in der es darum geht, die gesamte Einkommenspyramide von der Basis her zu verbessern. Vgl. Hahn / Wagner, S. 86 – 105.

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Grafik 1: Eigene Darstellung, Datenquelle: Weltbank

als noch ein Kind frühzeitig an den Folgen absoluter Armut verstirbt oder ein Mensch eine geringere Lebenserwartung aufgrund seiner nicht gewählten Armut hat; also solange, bis global gesehen, absolute Armut nicht beseitigt ist. Hierbei ist zu bedenken, dass die Globalisierung zwar durch makroökonomische Wohlfahrtssteigerung und globalen Kapitaltransfer unverzichtbar für Armutsbeseitigung ist, Märkte allein jedoch – ohne soziale Korrekturen, rechtsstaatliche Institutionen, Demokratisierung und dezidierte Förderung der am meisten Benachteiligten – nicht ausreichend sind, um die absolut Armen schnell und rechtzeitig aus ihrer lebensbedrohlichen Situation zu retten. Das erklärt, warum sich die herrschende Meinung in der christlichen Wirtschaftsethiktradition (katholisch und protestantisch) immer nur bedingt für freie Märkte ausgesprochen hat und Globalisierung nur zusammen mit sozialen Institutionen befürwortet.13 II. Welche Chancen zur Beseitigung von Armut bestehen? Seit Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts haben sich die UNO und auch die Weltbank sowie der IWF die Armutsbekämpfung zum Hauptziel gesetzt. Im Jahr 2000 wurden die sogenannten Millenniumsziele (MDGs) durch die UNO proklamiert: Bekämpfung von extremer Armut, Hunger, Garantie einer Elementarbildung, Geschlechtergleichheit, Senkung der Kindersterblichkeit, der Müttersterblichkeit, Zugang zu sauberem Wasser, Zugang zu sanitären Anlagen. Das erste MDG umfasst präzise folgendes Ziel: Den Anteil der Weltbevölkerung bis zum Jahr 2015 zu halbie-

13

Vgl. Graafland (2008), S. 41 – 57.

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Grafik 2: Eigene Darstellung, Datenquelle: Weltbank

ren, deren Einkommen weniger als einen Dollar am Tag beträgt und den Anteil der Menschen, die unter Hunger leiden.14 Doch nun stellt sich die Frage: Wer ist hierfür verantwortlich und ist dieses Millenniumsziel heute überhaupt noch realistisch? Noch vor nicht allzu langer Zeit konnten die meisten von uns als Bürgerinnen und Bürger der westlichen Welt die moralische Verantwortung für die Beseitigung absoluter Armut mit dem Argument des „ultra posse nemo tenetur“ zurückweisen: Die weltweit verfügbaren Ressourcen würden nicht ausreichen, um die Situation der Armen substantiell und nachhaltig zu verändern. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts und nach einer langen und erfolgreichen Periode der Globalisierung und des ökonomischen Wachstums ist jedoch die Möglichkeit, alle absolut Armen aus ihrer lebensbedrohlichen Situation zu bringen, real geworden, und die Ursachen, die schwere Armut verursachen, sind im 21. Jahrhundert ressourcentechnisch und ökonomisch vermeidbar15. Tatsächlich müsste niemand mehr verhungern, an heilbaren Krankheiten sterben, sich von schmutzigem Trinkwasser vergiften lassen, eine extrem kurze Lebenserwartung aufgrund von unzureichender Versorgung haben oder unter anderen armutsbedingten Einschränkun14

Vgl. United Nations (2000). Leider ist seit 2000 eine Aufweichung der Ziele zu konstatieren, die sich nun nur noch auf die Hälfte des Prozentsatzes der Armen und nicht mehr auf die absolute Anzahl bezieht. 15 Vgl. Sachs (2005), S. 226. Seine strak auf Finanztransfers ausgerichtete These reflektiert allerdings wenig die Wirkung von politischen Institutionen und unterschätzt daher den gewaltigen Einfluss institutioneller Faktoren für Armut. Vgl. Risse (2005), S. 365.

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gen leiden, wenn das Problem einzig die ausreichende ökonomische Versorgung wäre. Bei einer besseren Verteilung von Reichtum und wirtschaftlichen Gütern weltweit, wäre die zurzeit vorhandene Armut reduzierbar und substantiell veränderbar, weil die Weltgesellschaft ausreichende Ressourcen besitzt, die jetzige Weltbevölkerung zu ernähren und zu versorgen. Nach Berechnungen von Thomas Pogge wären hierzu 1,2 Prozent des weltweiten Bruttosozialproduktes ausreichend, was rund 300 Milliarden Dollar umfassen würde.16 Absolute Armut könnte mit diesem Betrag ad hoc beseitigt werden, weil sie überwiegend auf Unterernährung und spezifische Krankheiten zurückzuführen ist. Ob sie mit diesen Mitteln jedoch strukturell und nachhaltig verschwindet, ist allerdings eine noch offene Frage, denn Entwicklungsökonomen führen sie auf multifaktorielle Ursachen zurück, hierunter auch Faktoren, die erst durch Migration in andere geographische Regionen oder ernsthaften Aufbau von demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen veränderbar wären.17 Zu derartigen kaum zu beseitigenden Gründen zählen erhebliche geographische oder klimatische Nachteile mancher Regionen dieser Erde (beispielsweise manche Binnenregionen Schwarzafrikas in der Subsahararegion), ebenso wie eine häufige Heimsuchung durch Umweltkatastrophen (z. B. Bangladesch, Haiti…). Die meisten Armutsgründe sind jedoch behebbar, auch wenn sie struktureller und institutioneller Natur sind: Insbesondere politische Instabilität, Rechtsunsicherheit, mangelnde gesellschaftliche Institutionen, mangelhafte Infrastruktur (Elektrizität, Straßen und Kanalisation, Unterkunft, sanitäre Einrichtungen), mangelnde landwirtschaftliche Entwicklung, mangelnde Bildungsinstitutionen, mangelnde Gesundheitsversorgung und vieles mehr. Nach Angaben der Weltbank weisen insbesondere „fragile States“ und „failed States“ die höchsten Armutsquoten auf, also Staaten, die keine ausreichenden rechtlichen Institutionen, Wachstumsvoraussetzungen bzw. extreme ökonomische und soziale Ungleichheiten sowie politische Instabilitäten oder Nichtregierbarkeit aufweisen.18 Vor diesem Hintergrund ist es offensichtlich, dass christliche Ethiker und Ethikerinnen die vermeidbaren Ursachen dieses sich ständig vergrößernden Grabens zwischen den Reichsten und Ärmsten der Welt untersuchen müssen und gleichzeitig den ethischen Kernfragen nachzugehen haben, wer für die endgültige Beseitigung von absoluter Armut in welcher Extensität verantwortlich ist und auf welchem moralischen Grund diese Verantwortung besteht.19 16

Thomas Pogge gibt an, dass 300 Milliarden USD die Situation der Armen dramatisch verbessern würde (Pogge (2002), S. 7). Vergleicht man seine „300 Milliarden Dollar Einschätzung“ mit den hunderten von Milliarden, die westliche Regierungen zur Verfügung stellten, um die Effekte der Finanzkrise im Herbst 2008 zu bekämpfen, verdeutlicht das die anhaltende Relevanz der fiskalischen Machbarkeit seiner Einschätzung, zumindest auf der Geberseite. Vgl. auch Pogge (2009). 17 Vgl. Klasen (2003). 18 Vgl. The World Bank (2010), S. 23. 19 Vgl. Mack (2007a).

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In einer globalisierten Welt, die von starken wechselseitigen Abhängigkeiten in ihrer kulturellen, ökonomischen und politischen Konfiguration gekennzeichnet ist, scheint es keinen Grund mehr für eine klassische Einschränkung der Hilfeleistungspflicht auf Nachbarn, Mitbürger oder regionale Beziehungen zu geben. Stattdessen ergibt sich zunehmend die Notwendigkeit, moralische Verantwortungen und Verpflichtungen auf globale Ebenen hin auszudehnen, ohne eine überbordende Verantwortlichkeit zu fordern, die das Subsidiaritätsprinzip der Christlichen Sozialethik missachten würde.20 Diesbezüglich besteht völkerrechtlich von Seiten der UNO seit 2001 die Auffassung, dass es eine Pflicht zur Verantwortung gibt, Völkern in extremer Bedrohungslage zu helfen – gemäß einer „Responsibility to Protect“.21 Das schwierigste moralphilosophische Problem ist dabei augenscheinlich die Tatsache, dass noch nicht alle Völker oder Staaten sich auf eine universelle Verpflichtung zur Auslöschung lebensbedrohlicher Armut durch unterschiedliche Instrumentarien geeinigt haben, seien dies nun politische Gegenmaßnahmen einschließlich bestimmter Verteilungssysteme, ökonomische Investitionen für ein Pro-Poor Wachstum22 oder andere Möglichkeiten der internationalen Zusammenarbeit. Die meisten erkennen noch nicht, dass es zum wechselseitigen Vorteil aller Beteiligten wäre, die Armen gezielt in globale Austauschprozesse einzubeziehen. Entwicklungsökonomen gehen mehrheitlich davon aus, dass drei globale ökonomische Maßnahmen am vordringlichsten sind, die ich zusammenfassen möchte: 1. Die Inklusion der am wenigsten entwickelten Staaten in den Prozess der Globalisierung und deren Beteiligung an weltweiten Wachstumsprozessen, so dass zumindest die ökonomischen Ursachen der Armut behoben werden können. 2. Eine Reduktion der globalen Ungleichheit, die nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch auf globaler Ebene entwicklungshemmend wirkt. 3. Eine stabile und freie Weltwirtschaftsordnung, in der es weder Protektionismen noch Marktbarrieren gibt, so dass Entwicklungsländer eine faire Partizipationschance im globalen Wettbewerb haben. Politikwissenschaftlich betrachtet, sind sicherlich der Prozess der Demokratisierung, das Schaffen von Rechtssicherheit und die politische Stabilisierung von fragilen Staaten die wichtigsten politischen Maßnahmen. Hierzu gibt es jetzt von philosophischer Seite ausgehend Vorschläge, die den korrupten Regimen ihre Rohstoffprivilegien sowie ihre Kreditprivilegien nehmen und sie so in die globale Isolation treiben würden.23 Andere, eher ethisch-grundsätzliche Vorschläge macht die Katholische Soziallehre. 20

Vgl. Mack (2007a, b). Vgl. International Commission on Intervention and State Sovereignty (2001), S. 29. 22 Vgl. Klasen (2003). 23 Vgl. Wenar (2001), bes. S. 76 f.: Wenar verweist hier auf T. M. Scanlon, der die „positiven Pflichten“ die Notleidenden zu unterstützen immer im Zusammenhang mit den „negativen moralischen Pflichten“ sieht, jenen Pflichten, die sich gegen jedweden Betrug, Ver21

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III. Armut und Entwicklung in der Katholischen Soziallehre Wenn die Katholische Soziallehre von Armut spricht, so hat diese immer etwas mit Strukturen zu tun, die diese Armut hervorrufen, wenngleich sich die konkreten Ausgestaltungen und die Schwerpunktsetzung im Laufe der Jahrzehnte auch in der Sozialverkündigung ändern. Während die inhaltlichen Schwerpunkte bei ,Rerum novarum‘ und ,Quadragesimo anno‘ den zügellosen Kapitalismus für Armut verantwortlich machen, sind für ,Gaudium et spes‘ ungerechte Handelsbedingungen ursächlich.24 ,De iustitia in mundo‘ kritisiert die Unterdrückung der Armen, ,Laborem exercens‘ ungerechte Arbeitsstrukturen und ,Solicitudo rei socialis‘ die Spaltung der globalisierten Welt in reich und arm.25 In allen Dokumenten wird davon ausgegangen, dass extreme Armut die Würde der menschlichen Person in derartiger Weise verletzt, dass sie mit allen der Menschheit zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft werden müsse. Was darüber hinaus alle theologischen Reflexionen von Armut ausmacht, ist die Überzeugung, dass Armut nie ausschließlich mit ökonomischen Mitteln beseitigt werden kann, sondern weitreichende, andere materiale Entwicklungsdimensionen von Menschen erfasst werden müssen. In sozialwissenschaftlichen Kontexten wird hier analog und mit anderer Begrifflichkeit von people lead development und empowerment gesprochen.26 Denn neben materiellen, liegen nämlich auch immer soziale, politische, kulturelle und personale sowie existentielle Defizite vor, die menschliche Existenz und das Wohlergehen des Menschen so fundamental beschränken, dass eine menschliche Weiterentwicklung in den wenigsten Fällen glücken kann. So äußert sich bereits die Enzyklika ,Populorum progressio‘ sehr konkret über menschliche Entwicklung: „Entwicklung ist nicht einfach gleichbedeutend mit wirtschaftlichem Wachstum. Wahre Entwicklung muss umfassend sein, sie muss jeden Menschen und den ganzen Menschen im Auge haben“.27 Das Elend und die Ungerechtigkeit ließe sich nicht beseitigen, wenn nur die äußeren Lebensverhältnisse verbessert würden. Vielmehr müsse auch am geistigen und sittlichen Fortschritt aller gearbeitet werden. Diese Bestimmungen von Entwicklung würden den Inbegriff jener gesellschaftlichen Voraussetzungen erforderlich machen, die den Menschen die volle Entfaltung ihrer Werte ermöglichen oder erleichtern.28

tragsbruch, leere Versprechungen usw. durch die Hilfeempfänger richten. Vgl. Pogge (2009): Er schlägt eine internationale Rohstoffdividende sowie einen Global Impact Fund zur Armutsbeseitigung vor sowie den Ausschluss totalitärer Regime aus dem Welthandel. 24 Vgl. RN 16 f., RN 33 f.; QA 54.58; GS 85.86b. 25 Vgl. Römische Bischofssynode (1971); LE 15.17; SRS 14 f. 26 Vgl. International Development Association (2010). 27 PP 14.65.76; Vgl. auch PP 6; JM 61; SRS 9 – 10.28. 28 Vgl. ebd.

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,Solicitudo rei socialis‘ zählt in diesem Sinne eine Reihe von Gütern auf, die für die menschliche Entwicklung wichtig sind. Die Enzyklika betrachtet verschiedene Sektoren: die Erzeugung und Verteilung von Lebensmitteln, Hygiene, Gesundheitswesen, Wohnung, Trinkwasserversorgung, Arbeitsbedingungen (vor allem jene für Frauen), die Lebenserwartung sowie andere wirtschaftliche und soziale Indikatoren. Die Bilanz ergebe von diesen Überlegungen ausgehend ein enttäuschendes Gesamtbild, so die Enzyklika, sei es in sich selbst betrachtet oder in Bezug auf die entsprechenden Daten der stärker entwickelten Länder.29 Das hier beschriebene Bild sei darüber hinaus unvollständig, wenn man neben den wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren der Unterentwicklung nicht weitere kulturelle und soziale Faktoren mit bedenken würde: z. B. Analphabetismus, die Schwierigkeit, für viele Menschen eine höhere Bildung zu erlangen, die Unmöglichkeit der politischen Partizipation am eigenen Gemeinwesen teilzunehmen, die verschiedenen Formen der Ausbeutung oder wirtschaftlicher, sozialer, politischer und auch religiöser Unterdrückung und Diskriminierungen in jeder Form.30 Hier ist die Enzyklika der 80er Jahre nach wie vor aktuell. Dem ganzheitlichen Charakter menschlicher Existenz entsprechend, braucht der Mensch also gemäß dieser Einschätzung der Katholischen Soziallehre eine Reihe von materiellen und geistigen Gütern, wenn man im christlichen Sinne von Abwesenheit der Armut sprechen will. Dabei können materielle Güter alleine eine wahre Beseitigung von Armut noch nicht bewirken, sie sind jedoch die Bedingung der Möglichkeit für eine weitere menschliche Entwicklung.31 Der Anspruch auf eine umfassende Entwicklung ist nach Einschätzung der Katholischen Soziallehre ein Recht eines jeden Menschen.32 Johannes Paul II. ergänzt das Konzept der „Entwicklung“ durch das Konzept der „Befreiung“ und lenkt damit die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von struktureller Gewalt und Machtzusammenhängen für die menschliche Entwicklung.33 Entwicklung wird in manchen Dokumenten sogar in der Rhetorik von Menschenrechten beschrieben34, in anderen wird von Freiheitsräumen gesprochen, die zu sichern erste Aufgabe des Staates sei.35 Diese Freiheit darf – ähnlich wie dies Amartya Sen und Martha Nussbaum in der philosophischen Debatte hervorheben36 – nicht auf ökonomische Freiheit reduziert werden, weshalb unterschiedliche individuelle Ausgangsbedingungen und

29

Vgl. SRS 14 f.; vgl. auch CA 57. Vgl. ebd. 31 Vgl. MM 179; GS 63.71; PP 18 – 21; SRS 27 – 30; LE 14. 32 Vgl. JM 15. 33 Vgl. SRS 46. 34 Vgl. PT 8 – 35; IM 64.1. 35 Vgl. PT 104. 36 Vgl. Sen (2009), S. 382 ff.; Nussbaum (2007), S. 284 f.

30

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Befähigungen von Menschen auch in der Katholischen Soziallehre moralisch relevant sind.37 Papst Benedikt XVI. führt in seiner ersten Enzyklika „Deus caritas est“ im Dezember 2005 diese Tradition fort, wenn er sagt: Die Kirche sei Gottes Familie in der Welt. In dieser Familie dürfe es keine Notleidenden geben. Er ist sich hierbei bewusst, dass die Pflicht zur Fürsorge diesen Menschen gegenüber die Grenzen der Kirche überschreitet: „Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter bleibt Maßstab, gebietet die Universalität der Liebe, die sich dem Bedürftigen zuwendet, dem man ,zufällig‘ (vgl. Lk 10, 31) begegnet, wer immer er auch sei.“38 Er konkretisiert diese Fürsorgepflicht den Armen gegenüber in seiner zweiten Sozialenzyklika ,Caritas in veritate‘ weiter, wenn er sagt: Es sei notwendig, dass menschliche Entwicklung vor allem echt und ganzheitlich ist. Das Heraustreten aus dem wirtschaftlichen Entwicklungsrückstand, ein an sich positives Faktum, löse nicht die komplexe Problematik der Förderung des Menschen: „weder für die unmittelbar von diesem Fortschritt selbst betroffenen Länder, noch für die wirtschaftlich bereits entwickelten, und auch nicht für die noch armen Länder, die nicht nur unter den alten Formen der Ausbeutung, sondern auch unter den negativen Konsequenzen eines durch Verzerrungen und Unausgeglichenheiten gekennzeichneten Wachstums leiden können.“39 Benedikt XVI. ist darüber hinaus auf dem neuesten Stand der Entwicklungsökonomie, wenn er die globale Einkommens- und Vermögensungleichheit als entwicklungshemmend begreift: Die systembedingte Zunahme der Ungleichheit unter Gesellschaftsgruppen innerhalb eines Landes und unter den Bevölkerungen verschiedener Länder bzw. das massive Anwachsen der relativen Armut neigten nicht nur dazu, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu untergraben, sie brächten auf diese Weise auch die Demokratie in Gefahr. Auch auf wirtschaftlicher Ebene wirke sie sich negativ aus, nämlich „(d)urch fortschreitende Abtragung des ,Gesellschaftskapitals‘ bzw. durch Untergrabung jener Gesamtheit von Beziehungen, die auf Vertrauen, Zuverlässigkeit und Einhaltung der Regeln gründen und die unverzichtbar für jedes bürgerliche Zusammenleben sind.“40 Die Enzyklika ,Caritas in veritate‘ entlarvt in diesem Kontext auch ein altes Vorurteil: Lange Zeit habe man gedacht, dass arme Völker in einem unterentwickelten Entwicklungsstadium verbleiben und sich mit der Hilfsbereitschaft der entwickelten Völker begnügen müssten. Benedikt XVI. hebt hingegen hervor, dass gegen diese Mentalität bereits Papst Paul VI. in der Enzyklika ,Populorum progressio‘ Stellung bezogen habe. Benedikt geht wie die moderne Entwicklungsökonomie davon aus, dass heute die zur Verfügung stehenden materiellen Möglichkeiten, um armen Völ37

Vgl. QA 97, 118 f., 137; PP 6.47.34. Vgl. DCE 25b. 39 CIV 17. 40 CIV 32. 38

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kern aus der Armut herauszuhelfen, potentiell deutlich größer sind als früher. Die Wachstumspotentiale und Wohlstandsgewinne hätten sich jedoch überwiegend die Industriestaaten zu Nutze gemacht, sowie auch den Prozess der Liberalisierung der Kapitalmärkte und der Allokation von Arbeit. Die weltweite Ausbreitung des Wohlstands dürfe darüber hinaus nicht durch protektionistische Einzelinteressen gebremst werden, sondern solle vorzugsweise durch die Einbeziehung der Schwellenund Entwicklungsländer gekennzeichnet sein.41 „Die zum Globalisierungsprozess gehörende Veränderung bringt große Schwierigkeiten und Gefahren mit sich, die nur dann überwunden werden können, wenn man sich der anthropologischen und ethischen Seele bewusst wird, die aus der Tiefe die Globalisierung selbst in Richtung einer solidarischen Humanisierung führt“42. IV. Entwicklungsethische Schlussfolgerungen Die Verantwortung für die Beseitigung absoluter Armut, die insbesondere der westlichen wohlhabenden Welt zukommt, muss aus einer theologischen Perspektive deutlich hervorgehoben werden und sollte entsprechend den vorhandenen ökonomischen und politischen Möglichkeiten deutlich stärker ausgeübt werden. Die Enzyklika ,Caritas in veritate‘ beschreibt bezüglich der Frage der globalen Gerechtigkeit und der absoluten Armut den aktuellen Stand der Forschung und zeichnet sich durch eine solide volkswirtschaftliche Kenntnis aus. Markt und Caritas werden erstmals nicht als Gegensätze begriffen, sondern als komplementäre entwicklungspolitische und entwicklungsethische Optionen. Der globale Markt wird als ein Mittel zur Humanisierung von Gesellschaft und als klare Chance zur Armutsreduktion betrachtet.43 Dennoch wird selbst in dieser, ökonomiekundigen Enzyklika ,Caritas in veritate‘ die Tradition der katholischen Soziallehre deutlich, dass nämlich Märkte nie nur allein die Lösung für fundamentale menschliche Problem liefern können, wie dies die Situation der extremen Armut darstellt. Kritisch angemerkt werden kann allenfalls, dass die Dramatik der weltweiten Armutsproblematik und ihr ethisches Skandalon nicht den Mittelpunkt der Enzyklika darstellt, die ein deutlich weiteres Themenfeld bearbeitet. Dennoch wird auch in dieser Enzyklika wie in der ganzen Tradition der katholischen Soziallehre und im Übrigen auch der evangelischen Sozialethik deutlich, dass die Armen der Welt das primäre Subjekt einer christlichen globalen Ethik sind und sein müssen. Motiviert durch die Theologie der Befreiung und ihre Option für die Armen kann dies seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in der Enzyklika ,Populorum progressio‘ und jetzt in ,Caritas in veritate‘ deutlich aus den Dokumenten herausgelesen werden. Einen entscheidenden systematischen Schritt weiter geht Benedikt XVI. allerdings, wenn er die Armen nicht nur als personale Subjekte anerkennt 41

Vgl. CIV 42. CIV 42. 43 Vgl. CIV 35 – 36. 42

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und hervorhebt, sondern sogar als „Ressourcen, auch unter streng wirtschaftlichen Gesichtspunkten“44 bezeichnet. Diese Sprache der Ökonomik überrascht in einer päpstlichen Enzyklika, weil neben theologischen auch ökonomische Reflexionen angestellt werden, die langfristige Nutzenerwägungen akzeptieren und das produktive und konsumtive Kapital der Armen betonen, also generell die Rentabilität von Investitionen in arme Gesellschaften und den Tausch mit ihnen als wechselseitigen Vorteil hervorheben. Dies dürfte vor allem Pragmatiker, Politiker und Wirtschaftler überzeugen und unterstreicht, dass es sich beim Problem der absoluten Armut um eine lösbare Problematik handelt, die auch für die westlichen Industrieländer nicht nur ein Opfer oder eine dauerhafte Verpflichtung zur Hilfeleistung, sondern eine langfristige Investition mit positiven Wechselwirkungen für beide Seiten darstellt. Investitionen in Afrika von Seiten der Schwellenländer wie China und Indien machen dies bereits deutlich, sind dahingehend jedoch auch kritisierbar. Die wirtschaftliche Interdependenz bedeutet nämlich noch nicht, dass sich das Problem absoluter Armut ethisch hinreichend durch wechselseitige Vorteilsnahme beheben lässt. Insgesamt wird gerade beim Problem der globalen Armut deutlich, dass sich die Sozialverkündigung der katholischen Kirche auf die gesamte Menschheit richtet und von einer kosmopolitischen Verantwortung ausgeht, theologisch gesprochen, alle Menschen unsere Nächsten sind, nicht nur diejenigen unserer eigenen Volksgruppe oder Nation. Alle Unterdrückten, Armen und Benachteiligten sind die primären Subjekte der einen, zu Solidarität und Liebe verpflichteten Menschheitsfamilie, weil die am meisten Benachteiligten ohne Kooperation und Öffnung unsererseits ihrer Zwangssituation ausgeliefert bleiben. Allerdings ist die global-ethische Verpflichtung in der Tradition der Katholischen Soziallehre keine überbordende, sondern eine subsidiäre. Sie ist fokussiert auf eine grundlegende Befähigung der Armen, damit sie die Armutsfalle überwinden und nachhaltig ökonomisch, politisch und sozial dazu in die Lage versetzt werden, die Ursachen ihrer unwürdigen Lebenssituation zu beseitigen sowie effektive Maßnahmen zu ergreifen, um ihr Leben existentiell und dauerhaft zu verbessern. Literatur Graafland, Johan J.: Christian Perspectives on the Market, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik, Jg. 9, Heft 1, 2008, S. 41 – 57. Hahn, Rüdiger / Wagner, Gerd Rainer: Menschenwürde und Unternehmensverpflichtung an der Base of the Pyramid, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik, Jg. 10, Heft 1, 2009, S. 86 – 105. International Commission on Intervention and State Sovereignty: The Responsibility to Protect, Ottawa 2001. International Development Association (2010), Community Driven Development – Empowering People to Lead their Development, Washington 2010, online: http://siteresources.world 44

CIV 35.

Armut im Licht der Enzyklika bank.org/IDA/Resources/73153 – 1285271432420/IDA_AT_WORK_CDD_2010.pdf, griff 25. 07. 2011.

171 Zu-

Klasen, Stephan: In Search of the Holy Grail: How to Achieve Pro-Poor Growth?, Göttingen 2003, in: http://econpapers.repec.org/paper/wpawuwpma/0401005.htm, Zugriff: 09. 09. 2010. – Poverty, Undernutrition, and Child Mortality. Some Inter-regional Puzzles and their Implications for Research and Policy, in: Journal of Economic Inequality, Jg. 6, Heft 1, 2008, S. 89 – 115. Mack, Elke: A Theory of Global Justice Focussing on Absolute Poverty, in: Homann, Karl / Koslowski, Peter / Lütge, Christoph (Hg.), Globalisation and Business Ethics, Aldershot / London 2007a, 145 – 158. – Globale Solidarität mit den Armen, in: Gabriel, Karl (Hg.): Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaft 48, Solidarität, Münster 2007b, S. 297 – 336. Milanovic, Branko: Worlds Apart, Measuring International and Global Inequality, Princeton 2005. – The Haves and the Have-Nots: A Short and Idiosyncratic History of Global Inequality, 2011. Nussbaum, Martha: Frontiers of Justice, Disability, Nationality, Species Membership. The Tanner lectures of human values, Cambridge/Mass., 2007. Papst Benedikt XVI.: Enzyklika „Deus caritas est“, 25. 12. 2005 (zit.: DCE). – Enzyklika „Caritas in veritate“, 29. 06. 2009, (zit.: CIV). – Enzyklika „Mater et magistra“, 15. 05. 1961 (zit.: MM). Papst Johannes XXIII.: Enzyklika „Pacem in terris“, 11. 04. 1963 (zit.: PT). Papst Johannes Paul II.: Enzyklika „Laborem exercens“, 14. 09. 1981 (zit.: LE). – Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“, 30. 12. 1987 (zit.: SRS). – Enzyklika „Centesimus annus“, 01. 05. 1991 (zit.: CA). Papst Leo XIII.: Enzyklika „Rerum novarum“, 15. 05. 1891 (zit.: RN). Papst Paul VI.: Enzyklika „Populorum progressio“, 26. 03. 1967 (zit.: PP). Papst Pius XI.: Enzyklika „Quadragesimo anno“, 15. 05. 1931 (zit.: QA). Pogge, Thomas: Gerechtigkeit in der einen Welt, Essen, 2009. – How World Poverty is Measured and Tracked, in: Mack, Elke / Schramm, Michael / Klasen, Stephan / Pogge, Thomas, Absolute Poverty and Global Justice, Empirical Data – Moral Theories – Initiatives, Farnham 2009. – World Poverty and Human Rights, Cambridge, 2002. Risse, Mathias: How Does the Global Order Harm the Poor?, in: Philosophy and Public Affairs, Jg. 33, Heft 4, 2005, S. 349 – 376. Römische Bischofssynode: Der priesterliche Dienst. Gerechtigkeit in der Welt. Trier 1972 (zit.: JM). Sachs, Jeffrey: Das Ende der Armut. Ein ökonomisches Programm für eine gerechtere Welt, München 2005.

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Sen, Amartya: The Idea of Justice, London 2009. The World Bank: Global Monitoring Report 2010. The MDGs after the Crisis, Washington 2010, online: http://web.worldbank.org/WBSITE/EXTERNAL/EXTDEC/EXTGLOBAL MONITOR/EXTGLOMONREP2010/0,,contentMDK:22529228~page PK:64168445~piPK:64168309~theSitePK:6911226,00.html – Global Monitoring Report 2011. Improving the Odds of Achieving the MDGs, Washington 2011a, online: http://web.worldbank.org/WBSITE/EXTERNAL/EXTDEC/EXTGLOBAL MONITOR/EXTGLOMONREP2011/0,,contentMDK:22887500~page PK:64168445~piPK:64168309~theSitePK:7856232,00.html, Zugriff: 23. 07. 2011. – World Development Indicators, Washington 2011b, online: http://siteresources.worldbank. org/DATASTATISTICS/Resources/wdi_ebook.pdf, Zugriff: 26. 07. 2011. United Nations: United Nations Millenium Declaration, New York 2000, online: www.un.org/ millennium/declaration/ares552e.htm, Zugriff: 08. 09. 2010. Wenar, Leif: Contractualism and Global Economic Justice, in: Pogge, Thomas (Hg.): Global Justice, Malden / Oxford 2001, S. 76 – 90.

Unentgeltlichkeit als Kategorie Sozialen Handelns: Gesellschaftliches Engagement nach ,Caritas in Veritate‘ Von André Habisch und Cristian R. Loza Adaui I. Einführung: Genese der katholischen Soziallehre im Zeitalter der Industrialisierung Die Industrialisierung des späten 19. Jahrhunderts hat die radikalste Veränderung der Lebensbedingungen eingeleitet, die je in der menschlichen Zivilisationsgeschichte zu verzeichnen war. Das betrifft insbesondere die nachhaltige Erhöhung des Lebensstandards und die Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Metastudie des Wirtschaftshistorikers an der Universität Stanford K. Clark1 hat umfangreiche statistische Nachweise jener epochalen Veränderungen zusammen getragen, die die Industrialisierung etwa für die Arbeitseinkommen mit sich brachte. Damals sind nicht nur einige wenige Unternehmer reich geworden, sondern auch Millionen einfacher Arbeiter und ihre Familien konnten ihren Lebensstandard tiefgreifend verbessern. Zum Beispiel verachtfachten sich in England von 1860 bis 2000 die Stundenlöhne für Bauhilfsarbeiter. In Deutschland verdreifachte sich von 1870 bis 1914 das durchschnittliche Einkommen knapp von 265 auf 728 Reichsmark pro Kopf.2 In dem gleichen Zeitraum verdoppelte sich die Bevölkerung von 35 bis 62 Millionen Einwohner: eine Entwicklung, die das einfache exponentielle Wachstums-Modell des Bevölkerungstheoretikers Thomas Malthus durchkreuzte. Die enormen wirtschaftlichen Überschüsse der Industrialisierung bleiben – bis heute – ein großer Treiber der sozialen und kulturellen Modernisierung. Allerdings stellten und stellen diese Veränderungen zugleich enorme Herausforderungen an das kulturelle Leben der Menschen. Alte Muster der sozialen Ordnung, die auf traditionellen Rollenmustern basierten und die gegenseitige Kontrolle in engen sozialen Netzen erforderten, wurden obsolet. Große Völkerwanderungen in die Städte, die als Motoren der Industrialisierung angesehen werden können, brachten deren Bevölkerungszahlen in nur kurzer Zeit zur Explosion. Empirische Befragungen in bestimmten Innenstadtbezirken Berlins aus dem frühen 20. Jahrhundert3 zeigen, dass über 90 Prozent der selbständigen Handwerker dort Einwanderer waren, die mit ihren Familien in der ersten Generation in der Stadt lebten. Dieser überwältigende Zustrom der Bevölkerung auf unregulierte Arbeitsmärkte ging mit sozialer Not 1

Clark. Kaufhold, S. 24. 3 Briefs. 2

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und Elend einher und bedrohte auch die kulturelle und moralische Orientierung der Menschen. Im Angesicht dieser Entwicklungen stellte sich für viele Zeitgenossen die Frage nach dem Wert der christlich-abendländischen Ethiktradition nach dem Zerfall der feudalen Welt in aller Deutlichkeit. Sie war unmittelbar mit dem Wort vom „Tod Gottes“ und dem Aufstieg des „Übermenschen“ in Nietzsches Philosophie oder im atheistischen Sozialismus verbunden. Auch für große Teile der kulturellen und technischen Eliten blieb das Christentum eine altmodische und überholte Lehre und vermochte keine normative Orientierung für die Praxis der modernen Industriegesellschaften mehr beizusteuern. Die katholische Soziallehre (KSL) entstand in dieser Zeit der Industrialisierung und ist bis heute auf diesem Hintergrund zu verstehen. Denn die elende Situation der Arbeiterschaft stellte – als ,Soziale Frage‘ – das allgegenwärtige Hauptthema ihres Ringens dar. Die KSL, eine relativ junge theologische Disziplin, war dabei nie ein rein intellektuelles Unterfangen. Vielmehr muss sie im Kontext des sozialen Katholizismus im frühen 19. Jahrhundert und seiner innovativen ethischen und kulturellen Praxis verstanden werden. Auch in der skizzierten Situation radikaler sozialer Umbrüche sollte die Gültigkeit der christlichen Auffassung vom Menschen bekräftigt werden. Doch dazu dann mussten im Zeitalter der Industrialisierung neue Konzepte und neue Formen sozialer und kultureller Praxis entwickelt werden. Dies stellte die Herausforderung für die Christen im kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Leben jener Jahre dar. Namen von christlich motivierten Verantwortungsträgern in Wirtschaft, Politik, Arbeiterbewegung und Wissenschaft wie Franz Brandts, Heinrich Brauns, Matthias Erzberger und Franz Hitze stehen für ein Engagement in der kulturellen Bewältigung der Industrialisierung mit Hilfe christlicher Werte; sie waren an einem Gleichklang von sozialpolitischen Strukturreformen (,Zuständereform‘) und der Herausbildung neuer, zeitgemäßer Ethosformen der verschiedenen Berufsgruppen (,Gesinnungsreform‘) orientiert. Die akademische Sozialethik hat ihre grundlegenden Kategorien – etwa in Form der dominanten Sozialprinzipien Personalität, Solidarität, Subsidiarität – nicht autonom, sondern als sekundäre Reflexionsformen dieser innovativen und kulturprägenden Praxis gewonnen. II. Caritas in Veritate: Katholische Soziallehre im Zeitalter der Globalisierung Der ,Inkulturationsprozess‘ des Katholizismus der früheren Industriegesellschaft ist ein Vorbild für heute. Denn die Globalisierung bringt auch heute eine radikale Verwandlung der Lebens- und Arbeitsbedingungen mit sich. Die Sozialenzyklika ,Caritas in Veritate‘ (2009) antwortet auf die aktuellen Herausforderungen im Zeitalter der Globalisierung auf eine ähnlich grundlegende Art und Weise wie ,Rerum Novarum‘ in seiner Zeit auf die ,Soziale Frage‘ geantwortet hat.

Gesellschaftliches Engagement nach ,Caritas in Veritate‘

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,Caritas in Veritate‘ steht in der Tradition der Katholischen Soziallehre und erneuert den Diskurs von Paul VI in der Enzyklika ,Populorum Progressio‘. Auch sie bietet vielfältige Innovationen für die Analyse und Bewältigung der Globalisierung angesichts einer ganzheitlichen Entwicklung des Menschen. Im Folgenden werden wir uns mit einigen dieser Innovationen auseinandersetzen: am Beginn steht eine Neuentdeckung der Rolle der Bürgergesellschaft in den Wirtschafts- und Entwicklungsprozessen und – davon abgeleitet – die Unentgeltlichkeit als legitimes Prinzip des sozialen Handelns. III. Erneuerte Würdigung der Bürgergesellschaft Verglichen mit ihren Ursprüngen ist die Geschichte der christlichen Sozialethik im 20. Jahrhundert durch einen Rückgang der Verankerung in bürgerschaftlichen Netzwerken gekennzeichnet. Dadurch gingen Bezüge sowohl zur Herausbildung neuer Ethosgestalten als auch zu sozialstrukturellen Reformprozessen in Politik und Wirtschaft verloren. Nationale Regierungen und/ oder internationale Organisationen werden dagegen als Adressaten kirchlicher Schreiben und Initiativen immer wichtiger. Eine Begründung für diese Entwicklung lag darin, dass dominante Makrotheorien wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung (sowohl in der Politologie und Sozialwissenschaft als auch in der Ökonomik und Wirtschaftsethik) bürgergesellschaftlichem Handeln keine Bedeutung zu maßen.4 Dem entspricht eine Institutionentheorie, die nur von der autoritativen Errichtung durch staatliche Instanzen her denkt, nicht aber nach der Evolution einer entsprechenden Praxis im vorpolitischen Raum fragt – frei nach Thomas Hobbes: „Auctoritas non Veritas fecit legem“. In einem solchen intellektuellen Umfeld, das mehr an formaler Geltung als an inhaltlicher Stimmigkeit orientiert ist, wird zivilgesellschaftliches Handeln konzeptionell zur Marginalie, zum Raum ,bloß privater Interessen‘. Auf diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass die Enzyklika ,Caritas in Veritate‘ grundsätzlich neu ansetzt und im Kontext der neueren Texte der Christlichen Sozialethik vergleichsweise explizit die Bedeutung der Zivilgesellschaft für die Gestaltung der Globalisierung heraus arbeitet.5 Gerade im internationalen Raum, wo (noch kein) ordnungspolitischer Handlungsrahmen zur Verfügung steht und es selbst an gemeinsamen moralischen Orientierungspunkten mangelt, sind wertebasierte Initiativen richtungweisend. Gerade hier ist der systematische Ort der Unentgeltlichkeit als Handlungskategorie.

4 5

Vgl. ausführlich Habisch (2008), (2009). Goldschmidt/Habisch, Habisch/Loza Adaui.

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IV. Unentgeltlichkeit als Kategorie des sozialen Handelns Mit der Enzyklika ,Caritas in Veritate‘ führt Benedikt XVI. den Begriff Unentgeltlichkeit in die Christliche Soziallehre ein, wobei sich andere Einweisungen in das Konzept der Unentgeltlichkeit oder in die Logik des Schenkens schon in ,Fides et Ratio‘ (FR 15), in ,Centesimus Annus‘ (CA 40) und in ,Pastores Dabo Vobis‘ (PDV 8) finden. Dieser Begriff wird zum ersten Mal im Zusammenhang mit wirtschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Themen präsentiert. Das zeigt sich schon in der Struktur der Enzyklika, in der das Wort Unentgeltlichkeit zwölf Mal benutzt wird: einmal in der Einleitung (CIV 6) und elf Mal im 3. Kapitel, das der Brüderlichkeit, wirtschaftlicher Entwicklung und der Zivilgesellschaft gewidmet ist (CIV 34, 36, 38). Andere verwandte Begriffe werden ebenfalls öfter benutzt, zum Beispiel die Logik des Schenkens (erscheint zweimal dort wo Unentgeltlichkeit als Prinzip genannt wird) und der Begriff Gegenseitigkeit (erscheint neunmal). In der Enzyklika ist keine genaue Begriffsbestimmung von Unentgeltlichkeit zu finden. Jedoch werden ihre Wichtigkeit und einige ihrer Charakteristika an verschiedenen Stellen genannt. Die Unentgeltlichkeit wird also als Prinzip behandelt (CIV 34, 36). Außerdem wird sie zusätzlich auch in direkter Beziehung mit Aktionen und Haltungen (CIV 39) gesehen. Meistens ist sie jedoch als ein eigenständiges Konzept behandelt. Dies könnte der Grund dafür sein, dass der Begriff vielseitig interpretiert wurde: Zum Beispiel als eine Dimension der Rolle der Non-for-profit Organisations6 oder im Kontext der Realität der social enterprises.7 Fragt man dagegen nach genuin wissenschaftlichen Forschungen zur Unentgeltlichkeit, dann erkennt man, dass in den letzten Jahren in philosophischen Kreisen eine relative neue Diskussion zu diesem Konzept entstanden ist, die aber an ältere Beiträge anknüpft. Zum Beispiel präsentieren J. Baudrillard (Symbolic Exchange and Death, 1976) und J. Derrida (Donner le temps, 1991, The Gift of Death, 1995) die Unentgeltlichkeit als eine „unmögliche Gestalt“ oder als etwas „undenkbares“. Dagegen sieht der südamerikanische Philosoph J. C. Scannone8 in der „Logik der Unentgeltlichkeit“ die Motivation und den Weg, um soziale Probleme zu überwinden. Denn für ihn beweist das ungelöste Problem der Armut die Marginalisierung der Unentgeltlichkeit als unabsichtliche Konsequenz der Modernität. Innerhalb der Sozialwissenschaften sind die Arbeiten von P. P. Donati und seine „relationale Soziologie“ (Sociologia Relazionale) zu beachten. Er würdigt die Rolle der Unentgeltlichkeit in jedem Raum und jeder Situation sozialen Lebens.9 In der Wirtschaftspraxis und der Betriebswirtschaftslehre hat die Unentgeltlichkeit dagegen bislang keine große Rolle gespielt – auch wenn ihre Wichtigkeit immer anerkannt wurde. Behandlung fand sie lediglich im Rahmen einer Analyse des Altruis6

Heimbach-Steins. Nothele-Wildfeuer. 8 Scannone; Scannone/Remolina. 9 Donati, S. 251. 7

Gesellschaftliches Engagement nach ,Caritas in Veritate‘

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mus und der Reziprozität, hat dort jedoch eine andere Stoßrichtung (Familie und Freundeskreis), auf die die Enzyklika ausdrücklich nicht beschränkt werden will. Erst in den letzten 10 Jahren ist – insbesondere in der italienischen Diskussion – der Begriff Unentgeltlichkeit stärker in den Vordergrund der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussionen getreten: Zum einem mit dem erneuerten Studium der Civil Economy und zum anderem durch die Wiederentdeckung der Arbeiten von Antonio Genovesi (1757 – 1758). Tatsächlich behauptet das Konzept der Civil Economy, dass die Unentgeltlichkeit und damit auch die Gegenseitigkeit „entscheidende Elemente des normalen wirtschaftlichen Lebens“10 sind. Als unentgeltlich wird hier „die innere Haltung verstanden, die ein Mensch zu jeder anderen Person, zu jedem Sein und zu sich selbst einnimmt, in dem Bewusstsein, dass diese Person, dieses Lebewesen, diese Aktivität und ich selber nicht Sachen zum Benutzen sind, sondern Realitäten mit denen man in ein respekt- und liebevolles Verhältnis eintritt“11. Im Kontext der wirtschaftlichen Praxis hat sich die Analyse der Unentgeltlichkeit am Studium der Gegenseitigkeit oder Reziprozität kristallisiert. So argumentiert Bruni12, dass die Unentgeltlichkeit sich an einem besonderen Typ der Reziprozität am besten erklären lässt: an der bedingungslosen Gegenseitigkeit. Dieser besondere Typ der Gegenseitigkeit ist „eine Handlung, die nicht von der reziproken Antwort der anderen auf der Ebene der Wahlhandlungen abhängt, sondern von der entsprechenden Reaktion der anderen auf der Ebene der Ergebnisse konditioniert ist. Mit anderen Worten: ein Agent handelt in diesem Sinne reziprok, wenn seine Aktionen unabhängig von der Wahl der anderen (mithin nicht strategisch) motiviert sind, aber sein Wohlergehen (oder sein Nutzen) auch von der Anwesenheit oder Abwesenheit einer reziproken Reaktion abhängt. Ein Subjekt, das einer solchen Handlungslogik folgt, lässt sich nicht als eine unbeirrbare und gegen die Antwort der anderen gleichgültige Monade modellieren. Seine/Ihre Realität bleibt wesentlich relational auch wenn einige seiner/ihrer Handlungen nicht durch die reziproke Antwort anderer bedingt sind, weil sie/er diesen Verhaltensweisen einen intrinsischen Wert zuschreibt. Aus diesem Grund nenne ich ein solches Verhalten eine Form der Gegenseitigkeit, obwohl es weit entfernt von der traditionellen Art des Verstehens der Gegenseitigkeit in den heutigen Wirtschaftswissenschaften ist“.13 Um die Logik dieses besonderen Typs von Gegenseitigkeit zu verstehen, ist die Logik der Unentgeltlichkeit mit der Logik des Tausches zu vergleichen, die wir von den alltäglichen wirtschaftlichen Beziehungen her kennen. Nach S. Zamagnis Meinung14 gibt es drei wichtige Unterschiede zwischen der Logik des Tausches und der Logik der Unentgeltlichkeit: • Die Freiheit ex ante und ex post der Agenten in der Beziehung: 10

Bruni/Zamagni, S. 17, eigene Übersetzung. Bruni, Il prezzo, S. 44, eigene Übersetzung. 12 Bruni, Reciprocità. 13 Bruni, Reciprocità, S. 97, eigene Übersetzung. 14 Zamagni. 11

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André Habisch und Cristian R. Loza Adaui

In einer Beziehung, die der Logik des Tausches folgt, entscheidet ein Agent A freiwillig (Freiheit ex ante) etwas zu geben bzw. zu verkaufen, und ein Agent B entscheidet freiwillig (Freiheit ex ante) etwas zu nehmen bzw. zu kaufen. Das deutsche Vertragsrecht, das den wirtschaftlichen Austausch gedanklich in zwei (bzw. drei) Vertragsakte aufteilt, trägt dieser Unabhängigkeit Rechnung. Der Austausch findet statt, wenn sowohl A als auch B sich auf einen Preis einigen: die Preisgestaltung und die Akzeptanz des Preises geschieht also vor der Übertragung des Gutes. Sobald der Vertrag abgeschlossen ist, sind A und B verpflichtet, den Vertrag einzuhalten (keine Freiheit ex post). In einer Beziehung, die der Logik der Unentgeltlichkeit folgt, entscheidet A freiwillig (Freiheit ex ante) etwas an B zu geben; B entscheidet freiwillig (Freiheit ex ante) es zu akzeptieren. A erwartet, dass B in der Zukunft etwas Ähnliches für A oder vielleicht für einen anderen Agent C tut. In dieser Handlung gibt es also keinen „Vertrag“ und auch keinen „Preis“, es gibt auch keine Verpflichtung für B zu einer Gegenleistung für A. Der Agent A hat zwar eine Erwartung und diese Erwartung kann entweder erfüllt oder enttäuscht werden; B aber bleibt frei (Freiheit ex post) und verantwortlich dafür, ob er auf die Gabe antwortet oder nicht. • Die Wertvorstellung: Nach der Logik des Tausches bezeichnet der Preis einer Ware oder Dienstleistung jenen monetären Betrag, der im Gegenzug bezahlt wird. Ware und Geldleistung werden prinzipiell äquivalent sein. Nach der Logik der Unentgeltlichkeit muss der Wert von dem, was B in der Zukunft an A oder an C gibt (sofern er überhaupt etwas gibt) nicht unbedingt äquivalent mit dem sein, was er anfänglich von A bekommen hat. Wenn von B eine Gegenleistung erbracht wird, dann könnte ihr Wert eher proportional als äquivalent sein: d. h. dass B nicht verpflichtet ist, eine genau gleichwertige Gegenleistung zurück- oder weiterzugeben; erwartet wird vielmehr eine Gabe entsprechend den Möglichkeiten des B. • Der Beweggrund der Handlung (primum movens): Das primum movens einer Handlung, die der Logik des Tausches folgt, ist ein legitimes Eigeninteresse; die unentgeltliche Handlung ist dagegen aus sich selbst heraus (intrinsisch) motiviert. Eine Darstellung dieser Unterschiede impliziert nicht, dass sich jedes alltägliche wirtschaftliche Handeln entweder der einen oder der anderen Logik zuordnen lässt; vielmehr können in einer Handlung auch beide Logiken leitend sein. Dies meint Benedikt XVI., wenn er in ,Caritas in Veritate‘ schreibt, dass: „die Logik des Geschenks die Gerechtigkeit nicht ausschließt oder ihr in einem zweiten Moment und von außen hinzugefügt wird … (dass mithin) eine wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entwicklung, die wahrhaft menschlich sein will, dem Prinzip der Unentgeltlichkeit als Ausdruck der Brüderlichkeit Raum geben muss“ (CIV 34). „wir müssen in unseren Denken und Handlungen zeigen, … dass in den geschäftlichen Beziehungen das Prinzip der Unentgeltlichkeit und die Logik des Geschenks als Ausdruck der

Gesellschaftliches Engagement nach ,Caritas in Veritate‘

179

Brüderlichkeit im normalen wirtschaftlichen Leben Platz haben können und müssen“ (CIV 36).

Wie lassen sich diese beiden Logiken im konkreten Alltag wirtschaftlicher Entscheidungen erkennen? Um diese Frage zu beantworten, werden wir die Unentgeltlichkeit als Kategorie des sozialen Handels auf drei verschiedenen Ebenen analysieren. V. Ebenen christlicher Verantwortung nach ,Caritas in Veritate‘ Bisher sind sowohl die neue Wertschätzung der Zivilgesellschaft als auch das Prinzip der Unentgeltlichkeit als Kategorie sozialen Handelns vorgestellt worden. Im Folgenden wird nun das gesellschaftliche Engagement nach ,Caritas in Veritate‘ dargestellt. Hilfreich hierfür kann eine Art Typologie der Räume des sozialen Handelns sein. So wird das gesellschaftliche Engagement auf einer Mikroebene, einer Mesoebene und einer Makroebene dargestellt. Diese Typologie basiert auf den verschiedenen Freiheitsräumen der Agenten in ihrem sozialen Umfeld. 1. Mikroebene – Individuum Auf dieser Ebene werden das Individuum und seine Entscheidungen analysiert. Insbesondere stellt sich dabei die Frage: Inwiefern können einzelne Entscheidungen ein gesellschaftliches Engagement widerspiegeln? In der Enzyklika ,Caritas in Veritate‘ sind dazu zwei wichtige Argumente zu finden: Zunächst verweist der Papst auf die Wichtigkeit der ethischen Dimension in der Wirtschaft: „Der Bereich der Wirtschaft ist weder moralisch neutral noch von seinem Wesen her unmenschlich und antisozial. Er gehört zum Tun des Menschen und muss, gerade weil er menschlich ist, nach moralischen Gesichtspunkten strukturiert und institutionalisiert werden“ (CIV 36).

Weiterhin erinnert Benedikt XVI. – der Enzyklika seines Vorgängers Johannes Paul II. in ,Centesimus Annus‘ folgend – an die moralische Bedeutung individueller wirtschaftlicher Entscheidungen. Er macht darauf aufmerksam, dass Konsum-, Sparund Investitionsentscheidungen auch eine Dimension sozialen Engagements aufweisen können (CIV 51). Aber der Papst belässt es nicht bei generischen Hinweisen. An verschiedenen Orten der Enzyklika werden vielmehr konkrete Beispiele dafür gegeben, etwa wenn auf die Einflussmöglichkeiten neuer Finanzformen hingewiesen wird: „Sowohl eine Regulierung des Bereichs, welche die schwächeren Subjekte absichert und skandalöse Spekulation verhindert, als auch der Versuch neuer Finanzformen, die zur Förderung von Entwicklungsprojekten bestimmt sind, bedeuten positive Erfahrungen, die vertieft und gefördert werden müssen und zugleich an die Eigenverantwortung des Sparers appellieren“ (CIV 65).

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An anderer Stelle wendet sich die Enzyklika an die soziale Verantwortung der Konsumenten und Verbraucher: „Es ist gut, dass sich die Menschen bewusst werden, dass das Kaufen nicht nur ein wirtschaftlicher Akt, sondern immer auch eine moralische Handlung ist. Die Konsumenten haben daher eine soziale Verantwortung, die mit der sozialen Verantwortung des Unternehmens einhergeht“ (CIV 66).

Schließlich nennt die Enzyklika auch die Investoren, etwa wenn sie daran erinnert, dass „eine Investition neben der wirtschaftlichen immer auch eine moralische Bedeutung hat“ (CIV 40). Ein Beispiel kann besser darstellen, wie eine Konsum-, Investitions- oder Sparentscheidung auch soziales Engagement implizieren kann. Stellen wir uns vor, ein Wirtschaftsakteur will etwas kaufen, in einen besonderen Fond investieren oder einfach nur sparen. In einem vereinfachten Modell, in dem nur begrenzte Informationen (Preis und Qualität) zur Verfügung stehen, existieren dann nur 3 mögliche Szenarien. Diese sind in Tabelle 1 dargestellt: Tabelle 1 Entscheidung ohne moralisch relevante Informationen Szenario A

Szenario B

Szenario C

Szenario D

Information / Produkte

X

Y

X

Y

X

X

Preis

E 5.–

E 5.–

E 5.–

E 3.–*

E 5.–

E 5.–

E 5.–

E 3.–*

Qualität

A1

A1

A1

A1

B1**

A1

A1

B1**

Optimal Entscheidung

Gleichgültig

Y

Y

Y

Y

X?

* E 3.– < E 5.– ** B1 < A1

Im Szenario A sind Preis und Qualität der beiden Angebote X und Y genau identisch; im Szenario B ist der Preis eines Angebotes (Y) bei gleicher Qualität niedriger, im Szenario C ist die Qualität eines Angebotes (X) bei gleichem Preis schlechter, im Szenario D ist für ein Angebot (Y) der Preis niedriger und die Qualität schlechter. Die Entscheidung hat den Anschein, ausschließlich einer wirtschaftlichen Logik zu folgen; doch auch sie beinhaltet schon eine moralische Dimension: Denn bewusster Konsum verändert aufgrund des Wettbewerbsdrucks zukünftige Handlungsbedingungen der Produzenten positiv oder negativ. Auch der Preis und die Qualität an sich sind also – im Gegensatz zu einer isolierten ökonomischen Betrachtung – schon moralisch relevante Informationen. In vielen Fällen besitzt der Verbraucher aber für seine Spar-, Konsum- und Investitionsentscheidungen weitere moralisch relevante Informationen, z. B.: Wie ist ein Produkt hergestellt worden? Wie waren die sozialen und ökologischen Produktionsbedingungen der Arbeiter? Wie wird mein Geld von einem Anleger weiter investiert? Wie arbeitet die Bank mit meinen Ersparnissen? Solche Information können zum Beispiel in einem CSR Bericht des Unternehmens zu finden sein. Sind sie verfügbar, dann verändern sich die Entscheidungsszenarien wie in Tabelle 2 dargestellt:

Gesellschaftliches Engagement nach ,Caritas in Veritate‘

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Tabelle 2 Entscheidung mit moralisch relevanten Informationen Szenario Szenario E F

Szenario G

Szenario H

Szenario I

Info / Prod.

X

Y

X

Y

X

X

Y

X

Y

Preis

E 5.–

E 5.–

E 5.–

E E E 5.– 5.– 3.–*

E 3.–*

E 5.–

E 5.–

E 3.–*

Qualität

A1

A1

A1

A1

B1** A1

B1** A1

B1** A1

moralisch relevante Informationen

+

-

+

-

+

+

-

Entscheidung

X

?

?

Y

-

?

-

+

Y

* E 3.– < E 5.– ** B1 < A1

Die scheinbare „moralische Neutralität“ wirtschaftlicher Entscheidungen wird durch das Hinzutreten weiterer Informationen problematisiert. Vermögen es aber die neuen Informationen, das Entscheidungskalkül zu verändern? In den Szenarien E (gleicher Preis, gleiche Qualität, positive moralisch relevante Informationen für das Produkt X und negative moralisch relevante Informationen für das Produkt Y) und I (niedriger Preis, bessere Qualität und positive moralisch relevante Informationen für das Produkt Y) kann man vielleicht noch davon ausgehen, dass die Entscheidung angesichts der neuen Informationslage nunmehr zugunsten der Produkte X und Y gefällt wird. Im (häufigen) Szenario F hängt die Entscheidung für X allerdings von den wirtschaftlichen Möglichkeiten und auch von der Stärke moralischer Motivationen der Entscheider ab. Wie stark ist die Bereitschaft ausgeprägt, z. B. humanere oder nachhaltige Produktionsbedingungen durch eine höhere Zahlungsbereitschaft zu honorieren? Empirische Befunde rechtfertigen hier eine gewisse Skepsis, weil sie regelmäßig eine Differenz zwischen der Selbstauskunft von Kunden bei Befragungen und dem tatsächlichen Kaufverhalten (,revealed preferences‘) dokumentieren (vgl. zum sog. Social desirability bias King/Brunner (2000)). Der Wunsch, sich moralisch zu verhalten, kontrastiert häufig mit den wirtschaftlichen Möglichkeiten oder der eigenen Willenskraft in der Entscheidungssituation. Immerhin lädt die Enzyklika dazu ein, auch solche Konsum- und Investitionsentscheidungen im Horizont christlicher Verantwortung zu reflektieren. An dieser Stelle könnte die Einbindung in eine Kultur der Unentgeltlichkeit eine große Rolle spielen, in der – in christlichen Gemeinden? – diese wichtige Handlungsdimension christlicher Existenz stärker reflektiert wird. In jedem Fall gilt: Um bessere Entscheidungen treffen zu können, ist die Quantität und die Qualität der verfügbaren Information fundamental wichtig.15 Präzise Information ist eine notwendige – wenngleich nicht hinreichende – Entscheidung für moralisches Kaufverhalten. 15

Loza Adaui (2009a), (2009b).

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2. Mesoebene – Organisationen Auf dieser Ebene fokussieren wir auf die Organisationen und ihre Aktionen. Hierfür nennt die Enzyklika Beispiele, in denen sich gesellschaftliches Engagement – als Konkretisierung der Unentgeltlichkeit – widerspiegelt. In Bezug auf das Unternehmen als Organisation weist die Enzyklika darauf hin, dass sich „das Verständnis des Unternehmens tiefgreifend verändern muss“ (CIV 40). Mit dieser Forderung nach einem neuen Verständnis ist auch die Bemerkung von der „mehrwertige(n) Bedeutung der unternehmerische(n) Tätigkeit“ (CIV 41) verbunden. Welche Veränderungen bezüglich des Verständnisses der Unternehmen sollen stattfinden? Papst Benedikt bringt die Diskussion auf zwei Punkte: a) Die Notwendigkeit, Räume für neue Typen ,sozialer‘ Unternehmen (vgl. ausführlich Mion/Loza Adaui (2011))zu öffnen: „Es bedarf daher eines Marktes, auf dem Unternehmen mit unterschiedlichen Betriebszielen frei und unter gleichen Bedingungen tätig sein können. Neben den gewinnorientierten Privatunternehmen und den verschiedenen Arten von staatlichen Unternehmen sollen auch die nach wechselseitigen und sozialen Zielen strebenden Produktionsverbände einen Platz finden und tätig sein können. Aus ihrem Zusammentreffen auf dem Markt kann man sich erhoffen, dass es zu einer Art Kreuzung und Vermischung der unternehmerischen Verhaltensweisen kommt und dass in der Folge spürbar auf eine Zivilisierung der Wirtschaft geachtet wird. Liebe in der Wahrheit bedeutet in diesem Fall, dass jenen wirtschaftlichen Initiativen Gestalt und Struktur verliehen wird, die den Gewinn zwar nicht ausschließen, aber über die Logik des Äquivalenzprinzips und des Gewinns als Selbstzweck hinausgehen wollen.“ (CIV 38) „Betrachtet man die mit der Beziehung zwischen Unternehmen und Ethik befassten Themenbereiche sowie die Entwicklung, die das Produktionssystem durchmacht, so scheint es, dass die bisher allgemein verbreitete Unterscheidung zwischen gewinnorientierten (profit) Unternehmen und nicht gewinnorientierten (non profit) Organisationen nicht mehr imstande ist, über die tatsächliche Situation vollständig Rechenschaft zu geben oder zukünftige Entwicklungen effektiv zu gestalten. In diesen letzten Jahrzehnten ist ein großer Zwischenbereich zwischen den beiden Unternehmenstypologien entstanden. Er besteht aus traditionellen Unternehmen, die allerdings Hilfsabkommen für rückständige Länder unterzeichneten; aus Unternehmensgruppen, die Ziele mit sozialem Nutzen verfolgen; aus der bunten Welt der Vertreter der sogenannten öffentlichen und Gemeinschaftswirtschaft. Es handelt sich nicht nur um einen ,dritten Sektor‘, sondern um eine neue umfangreiche zusammengesetzte Wirklichkeit, die das Private und das Öffentliche einbezieht und den Gewinn nicht ausschließt, ihn aber als Mittel für die Verwirklichung humaner und sozialer Ziele betrachtet. Die Tatsache, dass diese Unternehmen die Gewinne nicht verteilen oder dass sie die eine oder andere von den Rechtsnormen vorgesehene Struktur haben, wird nebensächlich angesichts ihrer Bereitschaft, den Gewinn als ein Mittel zu begreifen, um eine Humanisierung des Marktes und der Gesellschaft zu erreichen. Es ist zu wünschen, dass diese neuen Unternehmensformen in allen Ländern auch eine entsprechende rechtliche und steuerliche Gestalt finden. Ohne den herkömmlichen Unternehmensformen etwas von ihrer wirtschaftlichen Bedeutung und Nützlichkeit zu nehmen, bewirken die neuen Formen, dass sich das System zu einer klareren und vollkommeneren Übernahme der Verpflichtungen seitens der Wirtschaftsvertreter entwickelt. Nicht nur das. Gerade die Vielfalt der institutionellen Unterneh-

Gesellschaftliches Engagement nach ,Caritas in Veritate‘

183

mensformen sollte einen humaneren und zugleich wettbewerbsfähigeren Markt hervorbringen.“ (CIV 46)

b) die besondere Aufmerksamkeit für neue Managementformen ,traditioneller‘ Unternehmen, in dem Sinne dass: „… die Führung des Unternehmens nicht allein auf die Interessen der Eigentümer achten darf, sondern auch auf die von allen anderen Personenkategorien eingehen muss, die zum Leben des Unternehmens beitragen: die Arbeitnehmer, die Kunden, die Zulieferer der verschiedenen Produktionselemente, die entsprechende Gemeinde.“ (CIV 40).

Diese Bemerkung macht einen klaren Verweis auf die soziale Verantwortung der Unternehmen (Corporate Social Responsibility (CSR) oder das gesellschaftliche Engagement von Unternehmen Corporate Citizenship (CC)). Auch wenn die Enzyklika feststellt, dass nicht alle Ansätze über CSR im Einklang mit der Katholischen Soziallehre stehen (CIV 40), spiegelt sich in dieser Passage doch eine positive Würdigung dieser relativ neuen Dimension unternehmerischer Verantwortung wider und es zeigt sich darin ein prinzipielles Interesse der KSL an gesellschaftlichem Engagement von Unternehmen. Damit wird die Forschung über die moralische Grundlagen der CSR sowie seine Kohärenz mit der KSL auch seitens des Lehramtes16 legitimiert – hier durchaus in Abgrenzung von der prinzipiellen Ablehnung etwa bei Miller (2008) und anderen. Gesellschaftliches Engagement auf der Mesoebene ist das Gegenstück des persönlichen Engagements durch kritische Konsum-, Spar- und Investitionsentscheidungen auf der Mikroebene. Denn ein Teil verantwortlicher Unternehmenstätigkeit beinhaltet auch ein zusätzliches Maß an Transparenz durch die Freigabe von Information insbesondere bezüglich der internen Strategien und über die Engagement Projekte in einem bestimmten sozialen Umfeld. Die Berichterstattung (Reporting) der Unternehmen über seine CSR Aktivitäten und seine Projekte gesellschaftlichen Engagements ermöglich nicht nur eine bessere Kontrolle moralisch relevanter unternehmerischer Entscheidungen (Umweltschutz, Menschenrechte etc.) für den Verbraucher. Sie erweitert auch die Handlungsspielräume von Unternehmen, moralisch wichtige Information über die Art und Weise seiner Tätigkeiten weiter zu geben. Die Glaubwürdigkeit dieser Information ist zugleich abhängig von der Reputation der Unternehmen. Um diese Glaubwürdigkeit zu gewinnen, lassen Unternehmen ihre sozialen Reports oder ihre CSR oder CC Berichte auch durch unabhängige Dritte (z. B. Nichtregierungsorganisationen) überprüfen. Diese noch nicht sehr weit verbreitete Praxis stellt eine Investition in die Gestaltung eines wettbewerbsfähigen Marktes dar. Schon heute existieren verschiedene Initiativen, die auf eine Standarisierung von CSR oder CC Berichterstattung hin arbeiten: Zum Beispiel die Global Reporting Initiative (GRI) als ein Netzwerk von Organisationen, das das weltweit bedeutendste Schema für die CSR-, CC- und Nachhaltigkeit Berichterstattung entwickelt hat. Daneben hat das lateinamerikanische Programm für die soziale Verant16

Alford/Compagnoni; Alford/Rusconi/Monti; Habisch (2005).

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wortung der Unternehmen (Programa Latinoamericano de Responsabilidad Social Empresarial – PLARSE) die CSR Indikatoren von Ethos (Indicadores Ethos de RSE) vorgestellt: ein Projekt, dass sich an der CSR Berichterstattung von Unternehmen in Lateinamerika orientiert. Wichtig ist zu bemerken, dass an diesen Initiativen nicht nur Unternehmen, sondern auch NGOs und andere Organisationen der Zivilgesellschaft mitwirken, wie etwa das UN Umweltprogramm und der UN Global Compact. Dadurch erhalten diese Initiativen Einflussmöglichkeiten auch auf einer globalen Ebene. 3. Macroebene – Globale Zivilgesellschaft Die Bürger- oder Zivilgesellschaft war bis vor einigen Jahren auf die Grenzen des Nationalstaates beschränkt: sie war wesentlich nationale Zivilgesellschaft. Die heutige Bedeutung schließt demgegenüber auch die globale Dimension mit ein. Zwar erscheint es auch heute noch nicht gerechtfertigt, von einer globalen Zivilgesellschaft zu sprechen. Jedoch weist die zunehmende internationale Verflechtung eindeutig Entwicklungstendenzen in diese Richtung auf. Aus ordnungspolitischer Sicht sprengt das Konzept einer Globalen Bürgergesellschaft die ausschließliche Identifikation globaler Ordnung mit den bekannten internationalen Organizationen (UNO, ILO, World Bank, etc.). Es weist darauf hin, dass unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts auch Institutionen wie Berufsgenossenschaften, Konsumenten- und Interessenverbände, Nichtregierungorganizationen (NGOs), Medien- und Kommunikationsmittel, Unternehmen etc. eine Ordnungsfunktion übernehmen – und entsprechende Verantwortung tragen. Papst Benedikt XVI widmet sein Interesse der Rolle dieser Institutionen in der Verbreitung von Demokratie und Entwicklung (CIV 66, 67, 73); er ist sich allerdings auch ihrer Grenzen bewusst und reflektiert ausdrücklich die Notwendigkeit der Steuerung und Gestaltung der Globalisierung (CIV 42, 57). Hier gilt es allerdings zugleich, gewisse Missverständnisse über den grundsätzlichen Ansatz der Enzyklika auszuräumen: auch nach ,Caritas in Veritate‘ läuft das Ziel einer ,Humanisierung der Globalisierung‘ nicht auf die Schaffung einer universellen und monokratischen Macht hinaus. Das Postulat eines Weltstaates nach dem Muster des – auf globale Ausmaße ausgedehnten – Nationalstaats wäre utopisch und die Geschichte lehrt, dass Utopien schnell in Totalitarismen umschlagen können. Die Arbeit an einer Humanisierung der Globalisierung zielt hier auf das mehr oder weniger koordinierte Zusammenwirken einer Vielzahl von Akteuren ab. Sie muss sich orientieren an einer ganzheitlichen Entwicklung, die wirtschaftliche und soziale Ziele mit dem Streben nach umfassender Verwirklichung der Persönlichkeit des einzelnen Menschen verbindet (CIV 54). Was könnte nun Unentgeltlichkeit als Kategorie auf einer globalen Handlungsebene bedeuten? Einige der genannten internationalen Organisationen stellen Plattformen für global wahrnehmbares ehrenamtliches Engagement einzelner oder klei-

Gesellschaftliches Engagement nach ,Caritas in Veritate‘

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ner Gruppen zur Verfügung. Individuen, die sich nachhaltig ehrenamtlich engagieren und unentgeltlich an Projekten und Initiativen mitwirken, erreichen so ein Ausmaß an internationalem Einfluss, das sie im Kontext ihrer Nationalstaaten nie hätten erreichen können. In ihrer international vergleichenden Studie zur Zivilgesellschaft weisen Anheier / Glasius / Kaldor darauf hin, dass die heutige Zahl demokratisch gewählter nationaler Regierungen größer ist als jemals zuvor; umgekehrt haben die Bürger aber kaum mehr eine Kontrolle oder einen direkten Einfluss auf das, was die Regierenden auf internationaler Ebene entscheiden.17 In dieser Situation kommt dem unentgeltlichen Engagement im internationalen Rahmen – zum Beispiel im Kontext entsprechender Nichtregierungsorganisationen – eine gewachsene Bedeutung zu. VI. Schluss Die christliche Soziallehre nimmt auch am Beginn des 21. Jahrhunderts – wie an ihrem Anfang bei ,Rerum Novarum‘ im späten 19. Jahrhundert – wieder die Arbeit von Initiativen, Organisationen und Persönlichkeiten auf, die sich inspiriert durch christliche Werte sozial engagieren. Dieser Prozess der Innovation innerhalb der Tradition führt Benedikt XVI. heute in Zeiten der Globalisierung zu einer neuen Würdigung der Bürgergesellschaft und zum Vorschlag des Prinzips der Unentgeltlichkeit als Kategorie des sozialen Handelns. Am Beispiel der Unentgeltlichkeit haben wir dargestellt, wie sich eine solche Fortschreibung der Traditionen christlicher Sozialethik in wirtschaftliche Entscheidungen hinein konkretisieren lässt. Die Kategorisierung auf den drei Ebenen sozialen Handelns ermöglicht nun eine systematische Darstellung. Dabei sind natürlich Interdependenzen und wechselseitige Abhängigkeiten zwischen diesen Ebenen möglich, die wir hier nicht ausarbeiten konnten. In diesem Sinne kann dieser Beitrag nur ein kurzes Streiflicht auf die innovativen Möglichkeiten der christlichen Soziallehre in Zeiten der Globalisierung werfen, auf die die Enzyklika von Papst Benedikt XVI. hinweist. Literatur Alford, Helen / Compagnoni, Francesco (Hg.): Fondare la responsabilità sociale d’impresa. Contributi dalle scienze umane e dal pensiero sociale cristiano, Rom, 2008. Alford, Helen / Rusconi, Gianfranco / Monti, Eros (Hg.): Responsabilità sociale d’impresa e dottrina sociale della Chiesa Cattolica, Mailand, 2010. Anheier, Helmut / Glasius, Marlies / Kaldor, Mary: Introducing Global Civil Society, in: Anheier, Helmut, Glasius, Marlies / Kaldor, Mary (Hg.): Global Civil Society 2001, Oxford, 2010. Papst Benedikt XVI.: Caritas in Veritate, Vatikan-Stadt, 2009. 17

Anheier/Glasius/Kaldor, S. 16 – 17.

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Briefs, Götz: Der Untergang des Abendlandes. Christentum und Sozialismus. Eine Auseinandersetzung mit Oswald Spengler, Freiburg i. Br., 1920. Bruni, Luigino: Il prezzo della gratuità, Rom, 2006. – Reciprocità. Dinamiche di cooperazione economia e società civile, Mailand, 2006. Bruni, Luigino / Zamagni, Stefano: Civil Economy: Efficiency, Equity, Public Happiness, Oxford [u.a.], 2007. Clark, Gregory: Farewell to alms: A brief economic history of the world, Princeton, 2008. Donati, Pierpaolo: Giving and Social Relations: The Culture of Free Giving and its differentiation today. International Review of Sociology, Jg. 13, Heft 2, 2003, S. 243 – 272. Goldschmidt, Nils / Habisch, André: Was die Wirtschaftsethik vom Papst lernen kann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 36, 12. 02. 2010, S. 14. Habisch, André: „Der Dualismus von Markt und Staat zerstört den Gemeinsinn“. Zivilgesellschaft und Unternehmensethik nach „Caritas in Veritate“, in: Meier, Uto / Sill, Bernhard (Hg.): Führung. Macht. Sinn: Ethos und Ethik für Entscheider in Wirtschaft, Gesellschaft und Kirche, Regensburg, 2010, S. 367 – 378. – Gesellschaftliches Unternehmertum (Social Entrepreneurship) und seine Tradition in der Christlich-Sozialen Bewegung, in: Rauscher, Anton (Hg.): Der Unternehmer – eine Schlüsselfigur der Industriegesellschaft, Mönchengladbacher Gespräche, Nr. 29, Köln, 2009, S. 65 – 87. – Gemeinwirtschaftlicher Sektor / Non-Profit-Unternehmen, in: Rauscher, Anton (Hg.): Handbuch der Katholischen Soziallehre, Berlin, 2008, S. 631 – 640. – Unternehmergeist in der Bürgergesellschaft. Entwicklungsperspektiven christlicher Sozialethik in Praxis und Lehre, in: Meier, Uto / Sill, Bernhard (Hg.): Zwischen Gewinn und Gewissen, Werteorientierte Personalführung und Organisationsentwicklung, Regensburg, 2005, S. 157 – 168. Habisch, André / Loza Adaui, Cristian R.: Seasoning business knowledge: challenging recent Catholic social thought, in: Journal of Management Development, Jg. 29, Heft 7/8, 2010, S. 660 – 668. Heimbach-Steins, Marianne: Die Sozialverku¨ ndigung der Kirche angesichts der Globalisierung. Zur Sozialenzyklika Caritas in veritate, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim, Jg. 60, Heft 4, 2009, S. 61 – 62. Kaufhold, Karl-Heinrich:Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland seit der Industrialisierung (1800 – 1963), in: Rauscher, Anton (Hg.): Soziale und Politische Katholizismus: Entwicklungslinien in Deutschland (1800 – 1963). München, Wien, 1981, S. 9 – 51. King, Maryon F./Brunner, Gordon C.: Social desirability bias: A neglected aspect of validity testing, in: Psyschology and Marketing 17 (2000), S. 79 – 103. Loza Adaui, Cristian R.: Responsabilidad social empresarial: Modificando la competencia y el mercado en términos morales, in: Illustro, Jg. 2, Heft 2, 2009a, S. 24 – 39. Loza Adaui, Cristian R. / Habisch, André: Empresa, empresario y consumidor al servicio del desarrollo humano integral según la Caritas in Veritate, in: Persona y cultura, Jg. 7, Heft 7, 2009b S. 22 – 34.

Gesellschaftliches Engagement nach ,Caritas in Veritate‘

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Miller, Michael: Business as a moral enterprise, in: Harper, Ian R. / Gregg, Samuel, (Hg.): Christian Theology and Market Economics, Cheltenham [u.a.], 2008, S. 113 – 128. Mion, Giorgio/Loza Adaui, Cristian R.: Verso il metaprofit: gratuità e profitto nella gestione d’impresa, 2001, Siena. Nothelle-Wildfeuer, Ursula: Liebe und Wahrheit, Gerechtigkeit und Gemeinwohl als Leitlinien von Entwicklung. Die Grundaussagen der neuen Enzyklika im Kontext der katholischen Soziallehre, in: Amos International, Heft 3, 2009, S. 3 – 9. Scannone, Juan Carlos: La irrupción del pobre y la lógica de la gratuidad, in: Scannone, Juan Carlos / Remolina, Gerardo (Hg.): Filosofar en situación de indigencia, Madrid, 1999, S. 107 – 127. Scannone, Juan Carlos / Remolina, Gerardo (Hg.): Ética y Economía: Economía de Mercado, Neoliberalismo y Ética de la Gratuidad, 1998, Buenos Aires. Zamagni, Stefano: La gratuidad en la vida económica: una exigencia del mercado, in: Boletín de Doctrina Social de la Iglesia, Jg. 4, Heft 4, 2008, S. 116 – 121.

Globale Herausforderung Klimawandel Von Hubert Weiger Der Kampf gegen den Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Wird der Ausstoß klimaschädlicher Treibhausgase nicht umgehend stark reduziert, drohen durch die globale Erwärmung katastrophale Folgen für unseren Planeten und damit für Mensch und Natur. Schon jetzt sind die Folgen des Klimawandels, die tiefgreifende soziale, ökologische und ökonomische Probleme für Millionen von Menschen bringen, spürbar. Die Meeresspiegel steigen an, Stürme und Hitzewellen nehmen zu, Nahrungsgrundlagen werden in Frage gestellt, Hunger und Armutswanderungen verschärfen sich. Und der Klimawandel vergrößert die Ungerechtigkeit auf dieser Erde: verantwortlich für den Klimawandel sind die Industrieländer, die ihren Wohlstand einer auf fossilen Energieträgern basierenden Entwicklung verdanken, während die Menschen, die in den ärmsten Ländern leben und den niedrigsten Energieverbrauch aufweisen, am stärksten unter dessen Folgen leiden. Ein konsequenter Natur- und Umweltschutz und damit einhergehend Klimaschutz gebietet sich aus der Achtung vor der Schöpfung und der Sorge um die heute lebenden und die künftigen Generationen. Dies wird auch in der Sozialenzyklika ,Caritas in Veritate‘ von Papst Benedikt XVI. deutlich: „Das Thema Entwicklung ist heute stark an die Verpflichtungen gebunden, die aus der Beziehung des Menschen zur natürlichen Umwelt entstehen. Diese Beziehung wurde allen von Gott geschenkt. Der Umgang mit ihr stellt für uns eine Verantwortung gegenüber den Armen, den künftigen Generationen und der ganzen Menschheit dar. […] Aber es muss auch betont werden, daß es der wahren Entwicklung widerspricht die Natur für wichtiger zu halten, als die menschliche Person. […] Allerdings muß man auch die gegenteilige Position zurückweisen, die eine vollständige Technisierung der Natur anstrebt. […] Die Projekte für eine ganzheitliche menschliche Entwicklung dürfen daher die nachfolgenden Generationen nicht ignorieren, sondern müssen zur Solidarität und Gerechtigkeit zwischen den Generationen bereit sein, indem sie den vielfältigen Bereichen – dem ökologischen, juristischen, ökonomischen, politischen und kulturellen – Rechnung tragen.“ (CIV 48, Hervorhebung im Original)

Es besteht aber nicht nur eine direkte Verantwortung für die Menschheit, sondern auch für Pflanzen und Tiere, denn jede Form von Leben ist alleine auf Grund seiner Existenz erhaltens- und schützenswert.1 Darüber hinaus ist das Netz des Lebens – die 1 Dieser Ansatz hat mittlerweile auch Eingang in die Gesetze der Menschen gefunden: In §1 Abs. 1 des Bundesnaturschutzgesetzes steht: „Natur und Landschaft sind auf Grund ihres

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Hubert Weiger

Schöpfung Gottes so eng gewoben, dass jede Masche wichtig ist. Jedes noch so kleine Tier hat seinen Platz in der Nahrungskette, seine Funktion im jeweiligen Ökosystem, so dass sein Verlust die Vielfalt und damit die Schöpfung Gottes schmälert. Auch in der Sozialenzyklika wird explizit auf den Schutz der Natur eingegangen: „Es ist dem Menschen gestattet, eine verantwortungsvolle Steuerung über die Natur auszuüben, um sie zu schützen, zu nutzen und auch in neuen Formen und mit fortschrittlichen Technologien zu kultivieren, so dass sie die Bevölkerung, die sie bewohnt, würdig aufnehmen und ernähren kann.“ Und weiter „Wir müssen jedoch auf die sehr ernste Verpflichtung hinweisen, die Erde den neuen Generationen in einem Zustand zu übergeben, so daß auch sie würdig auf ihr leben und sie weiter kultivieren können.“ (CIV 50)

Gerade beim Thema Klimawandel wird unsere Verantwortung für zukünftige Generationen besonders klar, da unser heutiges Handeln sich erst in einigen Jahrzehnten voll auswirken wird. Seit 1850 ist die Durchschnittstemperatur um 0,7 Grad Celsius gestiegen. Allerdings tritt die Temperaturerhöhung, die durch Treibhausgase verursacht wird, mit einer Verzögerung von etwa 30 bis 40 Jahre ein, denn zunächst werden vor allem die Oberflächen der Meere erwärmt. An Land ist nur eine geringere Erwärmung zu spüren. Erst danach, wenn sich der Temperaturausgleich zwischen Meer und Land vollzogen hat, kommt der volle Effekt der Erwärmung zur Geltung. Der Temperaturanstieg setzt weitere Prozesse in Gang, die den Klimawandel zusätzlich verstärken: Zum Beispiel bilden sich verstärkt Wasserdampf und Wolken, aufgetaute Permafrostböden setzen klimaschädliches Methan frei und schmelzende Eismassen strahlen weniger Sonnenlicht in den Weltraum zurück und heizen die Atmosphäre weiter auf. Die Kohlendioxid-Konzentration der Atmosphäre hat einen entscheidenden Einfluss auf den Wärmehaushalt der Erde. So stehen Warm- und Eiszeiten in einem engen Zusammenhang mit dem Kohlendioxid (CO2)-Gehalt. Im Vergleich mit allen anderen Treibhausgasen trägt CO2 mehr als 75 % zum Klimawandel bei. Die CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre ist seit 1750 um etwa 36 % gestiegen und lag 2005 bei 375 ppm. Die gegenwärtige CO2-Konzentration wurde in den vergangenen 650.000 Jahren (180 – 300 ppm) und wahrscheinlich auch in den letzten 20 Mio. Jahren nicht erreicht. Die derzeitige jährliche Anstiegsrate ist die höchste der letzten 20.000 Jahre.2

eigenen Wertes (…) zu schützen, dass (…) die Vielfalt, Eigenart und Schönheit (…) auf Dauer gesichert sind.“. 2 Die quantitativen Angaben in diesem Beitrag stützen sich auf die Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie aus dem Jahr 2008, herausgegeben durch Bund fu¨ r Umwelt und Naturschutz Deutschland / Brot fu¨ r die Welt, Evangelischer Entwicklungsdienst.

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Führende Klimaforscher fordern die Begrenzung des jährlichen pro-Kopf-Treibhausgasausstoßes auf maximal 2 Tonnen CO2-Äquivalente3 im Durchschnitt weltweit in den nächsten Jahrzehnten, um die globale Erwärmung auf 2 8C im Vergleich zum vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Diese Position wird seit dem Klimagipfel von Cancun 2010 auch zur Grundlage weltweiter Klimaschutzempfehlungen von der weltweiten Staatengemeinschaft gemacht. Der gegenwärtige Pro-Kopf-CO2-Ausstoß Deutschlands beträgt ca. 10 Tonnen. Spitzenreiter sind die USA mit 19 Tonnen, dicht dahinter Australien. Bisher haben nur wenige Länder, die das Kyoto-Protokoll von 1997 ratifiziert haben, das dort für sie festgelegte Ziel erreicht. Unter diesen ist auch Deutschland, das sich bis zum Jahr 2012 zu einer Reduktion seiner Treibhausgasemissionen um 21 % im Vergleich zu 1990 verpflichtet hat und 2008 bereits eine Reduktion von 22,3 % erreicht hatte. Angemerkt werden muss jedoch, dass diese Reduktion mehr auf Betriebsschließungen in der ehemaligen DDR nach deren Zusammenbruch und – wie auch bei einigen anderen Ländern, die ihr Ziel ebenfalls erreicht haben – auf Wirtschaftskrisen zurückzuführen sind als auf zielgerichtete Klimaschutzmaßnahmen. Viele andere Länder wie zum Beispiel Spanien, das seine Treibhausgasemissionen bis 2012 nur um 15 % im Vergleich zu 1990 hätte steigern dürfen und bereits 2008 bei einer Zunahme von 47,2 % lag, sind weit davon entfernt, ihr Ziel zu erreichen. Dies ist jedoch nur die Spitze des Eisberges, wie ein Blick in Schwellenländer, die nicht vom Kyoto-Protokoll erfasst werden, offenbart: China hat seine Treibhausgasemissionen 2008 im Vergleich zu 1990 um 189 % und Indien um 146 % gesteigert. Ein Bevölkerungswachstum von rund 79 Millionen Menschen pro Jahr, mit dem im Zeitraum von 2005 bis 2015 gerechnet wird, wird diesen Trend noch verschärfen. Es ist deshalb von Jahr zu Jahr unwahrscheinlicher, dass die im weltweiten Überlebensinteresse liegenden Klimaschutzziele erreicht werden, wenn es nicht gelingt, das Bevölkerungswachstumsproblem zu lösen und die Klimaschutzmaßnahmen drastisch zu erhöhen. I. Folgen des Klimawandels Die bereits beobachtbaren Folgen des Klimawandels sind alarmierend: Beispielsweise ist der Meeresspiegel von 1900 – 2000 aufgrund des Abschmelzens von Gletschern und vor allem durch die erhöhten Meerwassertemperaturen um 18,5 cm angestiegen. Der Klimawandel wird dramatische Folgen auf der Nord- und Südhalbkugel haben. Selbst wenn die auch von den führenden Industrienationen der Erde geforderte Begrenzung der Erwärmung um 2 Grad Celsius eingehalten werden könnte, drohen unter anderem verheerende Dürren mit beispielsweise 30 – 40 % Ernteverlusten 3 Das CO2-Äquivalent oder relative Treibhauspotenzial gibt an, wie viel eine festgelegte Menge eines Treibhausgases zum Treibhauseffekt beiträgt. Als Vergleichswert dient Kohlendioxid.

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in Afrika, dramatische Hochwässer und Sturmschäden und ein weiterer Anstieg des Meeresspiegels. Der vom Menschen verursachte Klimawandel unterscheidet sich von natürlichen Klimaschwankungen vor allem durch seine Geschwindigkeit. Dies hat zur Folge, dass sich viele Tier- und Pflanzenarten nicht schnell genug anpassen können: Die Verschiebung der Klimazonen kann 600 km in 100 Jahren betragen, wohingegen die Ausbreitungsgeschwindigkeit beispielsweise von Gehölzarten 100 km in 100 Jahren beträgt. Es liegen erste Hinweise auf Bestandsrückgänge bei Zugvögeln vor. Mögliche Ursache ist eine aus dem Rhythmus geratene zeitliche Abstimmung des Nahrungsangebotes mit den Aufzuchtzeiten der Jungvögel. Durch den Klimawandel sind weltweit bis zu 50 % der Tier- und Pflanzenarten bedroht. In Deutschland können bis zu 30 % der Arten verloren gehen. Dieser erhebliche Verlust an biologischer Vielfalt hat unabsehbare Konsequenzen für den gesamten Naturhaushalt. Im landwirtschaftlichen Bereich kann es zu erheblichen Ertragsausfällen wegen zunehmender Wetterextreme, zu neuen Schadorganismen und zur Gefährdung der Böden durch veränderte Klimaeinflüsse kommen. Damit ist auch die Ernährung der Menschheit gefährdet. Mit dem Klimawandel ist auch eine gesundheitliche Gefährdung des Menschen verbunden: Es kann zu hitzebedingte Gesundheitsbeeinträchtigung in Ländern mittlerer geografischer Breite kommen (2003 allein in Europa 20.000 Hitzetote), zur Ausbreitung von Infektionskrankheiten und zu Allergien durch erhöhten Pollenflug. Unter Umständen werden viele 100.000 Flüchtlinge auf Wassersuche sein. II. Eine neue sicherheitspolitische Herausforderung Damit wird der Klimawandel zu einer neuen sicherheitspolitischen Herausforderung, der mit den „klassischen“ sicherheitspolitischen Instrumenten nicht begegnet werden kann. Bereits bestehende Umweltkrisen wie Dürren, Wasserknappheit und Bodendegradation werden verschärft, Landnutzungskonflikte verstärkt und zusätzliche Umweltmigration, insbesondere in den Entwicklungsländern, ausgelöst. Ohne entschiedenes Gegensteuern wird der Klimawandel bereits in den kommenden Jahrzehnten die Anpassungsfähigkeit vieler Gesellschaften überfordern. Dies kann zur Zunahme von Instabilität und Konflikten führen. So werden die Zahl schwacher und fragiler Staaten zunehmen, die Entwicklung der Weltwirtschaft geschwächt, die Migrationsproblematik verstärkt und sich Verteilungskonflikte, insbesondere auch über natürliche Ressourcen, häufen. Die wesentlichen Ursachen für den erhöhten Ausstoß von Treibhausgasen und damit für die bisher aufgezeigte Entwicklung sind ein zu hoher Verbrauch fossiler Energieträger, die Vernichtung von Wäldern und die industrialisierte Landwirtschaft. Die Industrieländer sind mit ca. 80 % des weltweiten Ressourcenverbrauchs und einem Bevölkerungsanteil von ca. 17 % hauptverantwortlich für diese Entwicklung,

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wobei aber Schwellenstaaten und bevölkerungsreiche Staaten wie Indien und China eine immer bedeutendere Rolle spielen. In Rio de Janeiro verpflichteten sich 1992 100 Staaten zu einer nachhaltigen Entwicklung – und gingen bald wieder zur Tagesordnung über. Der Begriff Nachhaltigkeit wurde zu einem Schlüsselbegriff und erlebte zugleich eine Inflation. Alles und Jedes wurde „nachhaltig“, und die Politik machte weiter wie bisher: Wachstum war und ist das Credo. Die Umweltbewegung in Deutschland hat zwar erreicht, dass beispielsweise der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung erfreulich schnell wächst oder dass Bio- und Fairtrade-Produkte inzwischen sogar in Discountern verkauft werden und die Marktanteile wachsen. Doch es überwiegen die schlechten Nachrichten. Der ökologische Fußabdruck4 unserer Exportnation hat sich nicht verringert. Täglich werden in Deutschland immer noch ca. 120 Hektar Fläche versiegelt. Die weltweit verfügbare Fläche zur nachhaltigen Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse wird insgesamt um 23 % überschritten. Beim gegenwärtigem Verbrauch werden pro Person 2,2 ha (Hektar) beansprucht, es stehen allerdings lediglich 1,8 ha zur Verfügung (Global Footprint Network, European Environment Agency). Deutschland beansprucht 2,6mal mehr Fläche als in Deutschland zur Verfügung steht. Allein die Agrarwirtschaft in Deutschland beansprucht über 20 % mehr landwirtschaftliche Fläche als in Deutschland vorhanden ist. Die Hauptursache sind Futtermittelimporte: Infolge der Intensivierung der Landwirtschaft – vor allem der bodenunabhängigen Tierhaltung – und den jüngsten Entwicklungen von Biomasseanbau für die energetische Nutzung landeten 2007 in deutschen Futtertrögen 5 Millionen Tonnen Soja – meist in Form von Mischfuttermitteln. Aus Brasilien und aus Argentinien stammten davon über 65 Prozent. Dafür wurde nach Berechnungen des BUND eine Fläche von rund 2,8 Millionen Hektar an Sojaplantagen überwiegend in den Ländern des Südens beansprucht. Zwei Drittel des nach Deutschland importierten Sojas stammen aus Brasilien und Argentinien. Dies führt in den Exportländern zu fortschreitender Regenwaldabholzung. Allein in Brasilien geht jährlich Regenwald in der Größe Schleswig-Holsteins plus Thüringens verloren. Infolgedessen spitzen sich in Brasilien und Argentinien Landverteilungskonflikte zwischen Soja-Plantagenbetreibern und landlosen Hungernden zu. Daher müssen die Anstrengungen für eine regionale Futtermittelversorgung der Nutztierbestände verstärkt werden. Es muss eine bodengebundene Tierhaltung auch durch einen verstärkten Anbau von Eiweißfutter in der EU angestrebt werden. Zusätzlich muss der Fleischkonsum sinken und die Devise „Teller statt Tank“ gelten: Es darf kein Biomasseanbau zu Lasten der Nahrungsmittelproduktion erfolgen. 4 Ökologischen Fußabdruck = Fläche auf der Erde, die notwendig ist, um den Lebensstil und Lebensstandard eines Menschen (unter Fortführung heutiger Produktionsbedingungen) dauerhaft zu ermöglichen. Das schließt Flächen ein, die zur Produktion seiner Kleidung und Nahrung oder zur Bereitstellung von Energie, aber z. B. auch zum Abbau des von ihm erzeugten Mülls oder zum Binden des durch seine Aktivitäten freigesetzten Kohlendioxids benötigt werden.

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Des Weiteren ist zwischen 1995 und 2005 der Primärenergieverbrauch um 1,4 Prozent gestiegen. Die Armut in den Ländern des Südens ist nicht weniger geworden. Die Vielfalt an Tieren und Pflanzen schwindet weiterhin und inzwischen ist amtlich, was man in den 90er Jahren nur ahnte: Das Fördermaximum für Öl ist erreicht. Während weltweit der Energiehunger zunimmt, wird von nun an die Fördermenge sinken. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Hauptursachen für den Klimawandel ein wachsender materieller Wohlstand der Industrienationen, die Ausbeutung knapper Ressourcen, die Verschwendung von Energie und die Übernutzung von Ressourcen im Allgemeinen sowie das Wachstum der Weltbevölkerung sind.

III. Industrienationen haben eine zentrale Verantwortung Zur Lösung der dargestellten Probleme sind im Energiesektor gerade der Industrienationen eine drastische Reduktion des Energieverbrauchs, eine Steigerung der Energieeffizienz sowie ein massiver Ausbau der regenerativen Energieträger, welche bis zum Jahr 2050 mindestens 90 % der Energieversorgung sichern müssen, erforderlich. Im Bereich der Land- und Forstwirtschaft muss eine Optimierung der biologischen Produktionsprozesse das Ziel sein. Es gibt Klimaschutzmaßnahmen mit „Win-Win“-Effekten wie zum Beispiel Neu- und Wiederaufforstung, Vermeidung von Waldvernichtung, Agroforstwirtschaft oder den Ökolandbau. Dabei schließt sich ,Ökolandbau‘ und ,Sicherung der Nahrungsgrundlage bei steigender Weltbevölkerung‘ entgegen der Aussagen vieler Lobbyisten der Agroindustrie nicht aus. Bei der Umstellung von ehemals extensiv bewirtschafteten Landnutzungssystemen auf Methoden des Ökolandbaus wurden weltweit Ertragssteigerungen von durchschnittlich 20 – 30 % (10 – 250 %) beobachtet. Insbesondere die Kombination des Ökolandbaus mit einem Mischfruchtanbau stellt eine extensive klima- und naturverträgliche Landnutzung dar. Diese Anbauform dient in besonderem Maße dem Humusaufbau, welcher wieder einen Kohlenstoff-, Wärme- und Wasserspeicher darstellt. Damit ist entgegen der Behauptungen der Agrogentechnikindustrie auch keine Gentechnik zur Sicherung der Welternährung notwendig, die die Ungerechtigkeiten zwischen Nord und Süd sogar noch verschärfen würde. Die Industrienationen haben dabei eine zentrale Verantwortung, denn ihr Lebensstil ist wesentlich energie- und ressourcenintensiver und der Pro-Kopf-Treibhausgasausstoß wesentlich höher als in Entwicklungsländern. Denn gegenwärtig emittieren wir pro Person im Durchschnitt ca. 10 Tonnen Kohlendioxid im Jahr. Manche weit über 15, achtsame Menschen ca. 5 Tonnen. Um das IPCC-Ziel von jährlich 2 Tonnen pro Einwohner zu erreichen, müssten die Emissionen in Deutschland um 80 % sinken. Ein Beispiel mag genügen, um zu verdeutlichen, welche Herausforderung sich hinter dem 2-Tonnen-Ziel verbirgt: Ein VW Golf produziert etwa 150 Gramm CO2 pro gefahrenen Kilometer. Bereits nach rund 13.000 gefahrenen Kilometern wäre das

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individuelle „Kontingent“ von 2 Tonnen CO2 jährlich alleine durch das Autofahren erschöpft. Die Ausbeutung nicht erneuerbarer Ressourcen in Entwicklungsländern, insbesondere von fossilen Energieträgern, findet ebenfalls in ,Caritas in Veritate‘ Erwähnung. Hier wird die Rolle der Industrienationen für die Lösung der Energieproblematik und für Energieeffizienz hervorgehoben (vgl. CIV 49). Zudem müssten die wirtschaftlichen und sozialen Kosten für die Benutzung der allgemeinen Umweltressourcen offen dargelegt werden und diese Kosten nach demVerursacher- oder Nutznießerprinzipgetragen werden. Es ist aus der Sicht Papst Benedikts XVI. Aufgabe der Ökonomie einen effizienten Gebrauch der Ressourcen zu gewährleisten und Verschwendung zu vermeiden (vgl. CIV 50).

IV. Neues Leitbild für Wirtschaft und Gesellschaft Es braucht ein neues Leitbild für Wirtschaft und Gesellschaft, das ohne quantitatives Wachstum auskommt, das auf die anderen Qualitäten, die das Leben ausmachen, setzt. Wir müssen erkennen, dass ein „Weiter so“ angesichts der Endlichkeit der Erde unverantwortlich gegen künftige Generationen ist. Papst Benedikt XVI. stellt dazu fest, dass „[d]ie derzeitigen internationalen wirtschaftlichen Dynamiken mit ihren schwerwiegenden Verzerrungen und Mißständen erfordern, daß sich auch das Verständnis des Unternehmens tiefgreifend verändern muß.“ (CIV 40) Zur Messung von Wachstum ist bis heute als völlig unzureichender Maßstab das Bruttoinlandsprodukt üblich, welches nur den monetären Wert der Güterproduktion und des Dienstleistungssektors misst. Es erfasst jedoch nicht, ob dieses Wachstum durch zunehmende volkswirtschaftliche Schäden verursacht wird (wie wachsende Krankheitskosten infolge von Umweltbelastungen, wie Schäden durch den Individualverkehr oder die Beseitigung der Schäden klimabedingt zunehmender Stürme). Denn diese Folgen umweltschädlichen Wirtschaftens sind ja tatsächlich nicht wohlstandsmehrend, auch wenn dadurch das Bruttosozialprodukt wächst und dieses Wachstum zur zentralen Messlatte für den Erfolg oder Misserfolg der Politik geworden ist. Doch ist es zu kurz gesprungen, statt eines quantitativen Wachstums nur ein qualitatives Wachstum oder ein Nullwachstum zu fordern. Lernen können wir dabei aus den Erkenntnissen der Ökologie als der Lehre vom „Wirtschaften“ der Natur. Denn die grundsätzlich positive Belegung des Begriffs Wachstum hängt ja nicht zuletzt damit zusammen, dass Wachstum der zentrale mit dem Leben zusammenhängende Begriff ist, ob es sich um das Wachstum der Individuen im Laufe ihres Lebens oder um das der Lebensgemeinschaften handelt. Dabei unterscheidet sich allerdings das Wachstum junger Systeme durch erheblich größere Wachstumsraten von dem reifer Systeme mit geringeren Raten bei gleichzeitig erheblich größerer Diversität: In den frühen Phasen der Ökosystementwicklung fließt ein großer Teil der verfügbaren Energien in neues Wachstum. Es dominieren Arten mit hoher Reproduktionskapazi-

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tät und lineare Nahrungsketten. Die gesamte lebende und tote organische Substanz nimmt über den Reifeprozess hin im Ökosystem zu. Mit dem fortschreitenden Aufbau organischer Strukturen wird jedoch immer mehr Energie benötigt, um diese Strukturen zu erhalten. Für die Produktion steht zunehmend weniger Energie zur Verfügung, das Wachstum verlangsamt sich. Das bedeutet, dass dieBruttoprimärproduktion, d. h. die Brutto-Produktion von Biomasse z. B. der Pflanzen mit Hilfe von Licht, nur noch einen geringen Zuwachs hat. Dafür werden die Nahrungsketten komplexer, die Stoffkreisläufe geschlossener. Die internen Kreisläufe und die Nährstoffrückführung nehmen zu, genauso wie Symbiosen und Artenzusammensetzung. Die Arten der Klimaxgesellschaften haben differenzierte Anpassungsstrategien an einzelne Teillebensräume mit begrenzten Ressourcen. Eigenschaften wie größere Körper, erhöhte Speicherkapazität, spezialisierte Nischen, längere und komplexere Lebensabläufe und stärkere Kooperation zwischen verschiedenen Arten gewinnen gegenüber dem bloßen Fortpflanzungspotential an Bedeutung, wenn das Ökosystem reift. Aus diesen Zusammenhängen in der Entwicklung natürlicher Systeme können wertvolle Erkenntnisse für das Wirtschaften der Menschen gezogen werden: Die zentrale Bedeutung der Kreislaufwirtschaft, die Tatsache, dass materiell weitgehend gesättigte Volkswirtschaften quantitatives Wachstum durch qualitatives, vernetztes und immaterielles, das heißt Informationswachstum ersetzen müssen und die Tatsache, dass in reifen Systemen nicht nur das Prinzip der Konkurrenz, sondern das der Symbiose dominiert. Übertragen auf unsere Art der Wirtschaftens bedeutet das, dass »reife« Industriegesellschaften, in denen – wie bei uns – die Hälfte aller Bürger einen PKW besitzt (während nur 2 % aller Chinesen einen PKW besitzen, entsprechend Deutschland nach dem Krieg), ein geringeres Wachstum haben müssen. Die Natur zeigt aber auch, dass es kein unendliches Wachstum gibt, sondern nur dynamische Gleichgewichtssysteme, in denen neues Leben immer auch mit dem Tod verknüpft ist. Vor diesem Hintergrund und in dem Wissen, dass Umweltbelastungen untrennbar mit der Zahl und den Ansprüchen der Menschen verknüpft sind, gilt es, diese neue Wachstumsdebatte zu führen. V. Zivilgesellschaft spielt eine entscheidende Rolle Generell beinhalten alle Lösungsansätze, dass die Industrienationen zu einem nachhaltigen Lebensstil wechseln müssen. Jeder von uns kann und muss durch sein alltägliches Verhalten beitragen, das Güter- und Konsumwachstum zu stoppen. Die Enzyklika unterstützt gerade diese Position ausdrücklich: „Die Verhaltensmuster, nach denen der Mensch die Umwelt behandelt, beeinflussen die Verhaltensmuster, nach denen er sich selbst behandelt, und umgekehrt. Das fordert die heutige Gesellschaft dazu heraus, ernsthaft ihren Lebensstil zu überprüfen, der in vielen Teilen der Welt zum Hedonismus und Konsumismus neigt und gegenüber den daraus entstehenden Schäden gleichgültig bleibt.“ (CIV 51)

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Es müssen vor allem auch weltweit ökologische und soziale Leitplanken für das Wirtschaften nach dem Grundsatz „Leben und Teilen“ durchgesetzt werden. Zentrale Forderung an die Politik ist in diesem Zusammenhang die Schaffung eines strukturellen Rahmens zur Gewährleistung einer nachhaltigen Entwicklung. Elemente dieses Rahmens sind die Verknüpfung ökologischer und sozialer Fragen durch die Umsetzung einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft, die Integration von Wirtschafts- und Umweltpolitik (Abschaffung umweltschädlicher Subventionen), die Durchsetzung des Verursacherprinzips, die Sicherung des Gemeinwohles als zentrale Aufgabe des Staates, ein fairer Handel als Maßstab für die Weltwirtschaft sowie die Förderung dezentraler und regionaler Strukturen. Die Zivilgesellschaft spielt zur Durchsetzung dieser Forderungen eine entscheidende Rolle. Sie kann der Motor einer nachhaltigen Entwicklung sein. Dafür ist auch ein weiterer Ausbau demokratischer Elemente notwendig. Der einzelne Bürger kann dazu durch sein Engagement beispielsweise in lokalen Agenda-21-Gruppen (lokal handeln – global denken) beitragen und er kann seinen Lebensstil nach dem Motto ,gut leben statt viel haben‘ umstellen. In seiner Bundestagsrede vom 22. September 2011 hat Papst Benedikt XVI. Bezug auf die Entstehung des ökologischen Bewegung in der 70er Jahren in Deutschland genommen: „Jungen Menschen war bewußt geworden, daß irgend etwas in unserem Umgang mit der Natur nicht stimmt. Daß Materie nicht nur Material für unser Machen ist, sondern daß die Erde selbst ihre Würde in sich trägt und wir ihrer Weisung folgen müssen. […] Die Bedeutung der Ökologie ist inzwischen unbestritten. Wir müssen auf die Sprache der Natur hören und entsprechend antworten.“5

VI. Schlüsselrolle der Kirche Den Kirchen kommt bei der Bewusstseinsbildung der breiten Bevölkerung eine Schlüsselrolle zu. Sie steht aber auch selbst in unmittelbarer Verantwortung für ein tatsächlich nachhaltiges Leben und für Gerechtigkeit aus einer Mitverantwortung für die Schöpfung heraus. Die Enzyklika „Caritas in Veritate“ von Papst Benedikt XVI. gibt eine Vielzahl von Hinweisen, die diese Position unterstützen. Nach der Enzyklika steht die Kirche in der „Verantwortung für die Schöpfung“ und „muss diese Verantwortung auch öffentlich geltend machen.“ Es ist deshalb laut der Enzyklika die katholische Kirche aufgefordert nur einen echten Fortschritt, der nicht zu Lasten kommender Generationen geht, aktiv zu unterstützen. Der BUND begrüßt den durch die Enzyklika angestoßenen weltweiten Diskussionsprozess, mit dem Ziel „jenen Bund zwischen Mensch und Umwelt zu stärken, der ein Spiegel der Schöpferliebe Gottes sein soll.“ (CIV 50) 5 Papst Benedikt XVI. Diese naturrechtliche Argumentation wird hier in ihrer ökologischen Dimension herangezogen. Aus sozialethischer Perspektive ist der vertretene Naturrechtsansatz nicht unumstritten. Hierzu beispielhaft Spaemann, S. 274 und Böckle/Böckenförde.

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Die Enzyklika sollte deshalb auch Anlass sein, gerade die kirchlichen Einrichtungen zu Leuchttürmen der Nachhaltigkeit und der Schöpfungsverantwortung zu machen und z. B. durch das eigene kirchliche Beschaffungswesen und durch die daraus entstehende Nachfrage nach Produkten, deren Produktion die Kriterien der Nachhaltigkeit beachtet wurden zu einer Stärkung der öko-sozialen Wirtschaft beizutragen. Die katholische Kirche sollte aber auch in Folge der Umsetzung der Papstenzyklika sich mutig vor die Schöpfung stellen und diese vor der weiteren Zerstörung retten, um der „Verantwortung für die Schöpfung“ gerecht zu werden. Eine intensive Diskussion der Papstenzyklika ist dafür eine sehr gute Basis. Denn wenn die Kirche diese Verantwortung wahrnimmt, dann „muss sie nicht nur die Erde, das Wasser und die Luft als Gaben der Schöpfung verteidigen, die allen gehören. Sie muss vor allem den Menschen gegen seine Selbstzerstörung schützen.“ (CIV 51) Literatur Böckle, Franz / Böckenförde, Ernst-Wolfgang (Hg.): Naturrecht in der Kritik, Mainz, 1973. Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland / Brot für die Welt, Evangelischer Entwicklungsdienst: Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt. Ein Anstoß zur gesellschaftlichen Debatte. Eine Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, Frankfurt am Main, 2008. Papst Benedikt XVI.: Rede im Deutschen Bundestag am 22. September 2011, unter: http:// www.bundestag.de/kulturundgeschichte/geschichte/gastredner/benedict/rede.html. Spaemann, Robert: Aktualität des Naturrechts, in: Böckle, Franz / Böckenförde, Ernst-Wolfgang (Hg.): Naturrecht in der Kritik, Mainz, 1973, S. 262 – 276.

Kontinuität und Erneuerung der katholischen Soziallehre im „Kompendium“ und in der Enzyklika „Caritas in Veritate“1 Von Manfred Spieker Als Globalisierungsenzyklika war ,Caritas in Veritate‘ (CIV) über eineinhalb Jahre hinweg angekündigt worden, als Globalisierungsenzyklika war sie erwartet worden und als Globalisierungsenzyklika wurde sie am 7. Juli 2009 der Öffentlichkeit präsentiert. Der Termin der Veröffentlichung einen Tag vor Beginn eines G 8Gipfels, der Konferenz der führenden Industriestaaten der Welt, in Italien verstärkte noch den Eindruck, es handle sich um das Lehrschreiben von Papst Benedikt XVI. zur Globalisierung. Dieser Eindruck ist nicht falsch, aber er ist nur die halbe Wahrheit. CIV ist weit mehr als eine Globalisierungsenzyklika. Sie ist die Enzyklika, die zeigt, dass die entscheidenden Weichenstellungen für die Gesellschaft der Zukunft nicht auf den Feldern der Ökonomie und der Politik vorgenommen werden, sondern im Bereich der Biomedizin. Sie ist die Sozialenzyklika, die die Bioethik in die Sozialethik integriert. Doch zunächst soll nach dem gefragt werden, was die Enzyklika zur Globalisierung sagt, die ja auch schon ein Thema des Kompendiums der Soziallehre der Kirche sowie der Sozialenzykliken von Papst Johannes Paul II., vor allem von ,Centesimus Annus‘ (1991) und von ,Sollicitudo Rei Socialis‘ (1987), und nicht zuletzt der Lehrschreiben Papst Pauls VI. – seiner Enzyklika ,Populorum Progressio‘ (1967) und seines Apostolischen Schreibens ,Octogesima Adveniens‘ (1971) – war. Der 40. Jahrestag von ,Populorum Progressio‘ war der Anlass für CIV. Wie wird das reiche Erbe der Soziallehre der Kirche zu dieser Problematik entfaltet und eventuell neu akzentuiert? Diese Frage ist in zwei Schritten zu beantworten: Erstens im Hinblick auf die anthropologischen und theologischen Grundlagen der Globalisierung und zweitens im Hinblick auf ihre ökonomischen, sozialen und politischen Aspekte. I. Die anthropologischen und theologischen Grundlagen der Globalisierung In der sozialethischen Literatur finden sich im Hinblick auf die Bewertung der Globalisierung Ende der 90er Jahre extreme Differenzen. Wird sie auf der einen 1 Vortrag bei der Konferenz des Päpstlichen Rates Justitia et Pax und der Justitia et PaxKommissionen der afrikanischen Bischofskonferenzen „Caritas in Veritate: The Social Doctrine of the Church as a Leaven of Integral Development“ in Accra/Ghana am 26. September 2010.

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Seite als neuer Turmbau zu Babel verurteilt, so wird sie auf der anderen Seite als neues Pfingsten gepriesen, das der Menschheit eine neue Einheit und neuen Wohlstand schenken würde.2 CIV ist demgegenüber nüchterner: Mit dem Kompendium und Papst Johannes Paul II. hält die Enzyklika fest: „Die Globalisierung ist a priori weder gut noch schlecht. Sie wird das sein, was die Menschen aus ihr machen“ (CIV 42; Kompendium 310). Die Globalisierung gibt neuen Hoffnungen Nahrung, wirft jedoch auch beunruhigende Fragen auf (Kompendium 362).3 Benedikt XVI. verharrt aber nicht in einer Haltung unbeteiligter Äquidistanz gegenüber den Chancen und Risiken der Globalisierung. Er fordert die Christen vielmehr eindrucksvoll und überzeugend auf, sich an der Gestaltung der Globalisierung zu beteiligen, und er begründet diese Aufforderung – durchaus neue Akzente setzend – nicht politisch oder sozialethisch, sondern anthropologisch und theologisch. Die Vorstellung einer Welt ohne Entwicklung drücke „Misstrauen gegenüber dem Menschen und gegenüber Gott aus“ (CIV 14). Der Mensch sei zur Entwicklung berufen (CIV 16). Von seiner Natur aus sei er „in dynamischer Weise auf die eigene Entwicklung ausgerichtet. Dabei handelt es sich nicht um eine von natürlichen Mechanismen gewährleistete Entwicklung, denn jeder von uns weiß, dass er imstande ist, freie und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen“ (CIV 68). Im Übrigen sei es „ein schwerer Irrtum, die menschlichen Fähigkeiten zur Kontrolle von Auswüchsen in der Entwicklung gering zu schätzen oder sogar zu ignorieren, dass der Mensch konstitutiv dem ,Mehr-Sein‘ entgegenstrebt“ (CIV 14). Benedikt XVI. greift eine Feststellung von Papst Paul VI. in ,Populorum Progressio‘ auf, die auch unter Christen gelegentlich für Irritationen sorgt: Jeder sei „seines Glückes Schmied, seines Versagens Ursache, wie immer auch die Einflüsse sind, die auf ihn wirken“ (CIV 17/PP 15). Für Irritationen sorgt diese Feststellung, weil auch Christen manchmal dazu neigen, sich als Opfer von Systemen oder Strukturen der Sünde zu betrachten. Dass es solche Strukturen der Sünde sowohl in den Industrieländern als auch in den Entwicklungsländern, mithin in den reichen und den armen Ländern gibt, daran lässt CIV keinen Zweifel (CIV 22). Gerade Afrika bietet eine Fülle von Beispielen für interne wie externe Entwicklungshemmnisse, die auch auf der Afrika-Synode 2009 angesprochen wurden.4 Papst Paul VI. sah selbst die „Hindernisse und Bedingtheiten“, die eine menschenwürdige Entwicklung hemmen 2 Mit dem Turmbau zu Babel wird die Globalisierung in der Sozialdoktrin der RussischOrthodoxen Kirche vom 15. 8. 2000 verglichen (Kap. XVI.3). Die Justitia et Pax-Kommission der Französischen Bischofskonferenz sieht in ihrem Papier „Maitriser la mondialisation“ von 1999 (La documentation catholique 2201 vom 4. 4. 1999) in der Globalisierung sowohl das Risiko eines babylonischen Turmes als auch die Chance für ein neues Pfingsten, letzteres vor allem dann, wenn eine globale Stärkung der Sozialdemokratie eine „Amerikanisierung“ verhindere. Auch unter Autoren des Jesuitenordens finden sich extreme Bewertungsdifferenzen. Vgl. dazu Spieker (2001), S. 4 ff. 3 Schon die im Auftrag des Päpstlichen Rates Justitia et Pax von Robert A. Sirico und Maciej Zieba im Jahr 2000 herausgegebene Soziale Agenda, mit der das Kompendium der Soziallehre vorbereitet wurde, sieht die Globalisierung in Ziffer 357 nüchterner. 4 Afrika-Synode, Elenchus finalis propositionum, propositio 25.

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können. Aber ungeachtet aller Hindernisse, Bedingtheiten und Einflüsse hält die Soziallehre der Kirche, halten Paul VI. und Benedikt XVI. am Subjektcharakter der Person fest, die, „mit Verstand und freiem Willen begabt“, für ihren Fortschritt ebenso verantwortlich ist wie für ihr Heil (PP 15), die zur Entwicklung berufen ist und ihres Glückes Schmied und ihres Versagens Ursache bleibt. „All dies gründet sich … auf die Sicht des Menschen als Person, das heißt als aktives Subjekt, das gemeinsam mit der Gemeinschaft, der es angehört, für seinen eigenen Wachstumsprozess verantwortlich ist“ (Kompendium 133). Die Person ist deshalb nicht nur zur Entwicklung berufen, sondern zur Entwicklung verpflichtet. Das gilt dann ebenso für die Völker, die „die Baumeister ihres eigenen Fortschritts sind“ und deshalb „an erster Stelle die Last und Verantwortung dafür tragen“ müssen (PP 77; CIV 47). Das Subjekt der Entwicklung ist aber nicht der selbstherrliche Mensch der Aufklärung, der Prometheus, den Karl Marx als den „vornehmsten Heiligen und Märtyrer im philosophischen Kalender“ rühmte.5 Das Subjekt der Entwicklung ist der Mensch, der sich selbst verschenkt. Manchmal sei, schreibt Benedikt XVI., „der moderne Mensch fälschlicherweise der Überzeugung, der einzige Urheber seiner selbst, seines Lebens und der Gesellschaft zu sein“. Diese Überheblichkeit sei „eine Folge des egoistischen Sich-in-sich-selbst-Verschließens“ und rühre, „in Begriffen des Glaubens gesprochen, von der Ursünde her“ (CIV 34). Wir sind „nicht Ergebnis einer Selbsterzeugung … Gegenüber dieser prometheischen Anmaßung müssen wir die Liebe zu einer Freiheit stärken, die nicht willkürlich ist, sondern durch die Anerkennung des ihr vorausgehenden Guten menschlicher geworden ist“ (CIV 68). Der Mensch sei „für das Geschenk geschaffen“ (CIV 34) und „immer imstande …, anderen etwas zu geben“ (CIV 57). In dieser Anthropologie gründet das von CIV so sehr betonte Prinzip der Unentgeltlichkeit, dessen Relevanz Benedikt XVI. auch für die ökonomischen und sozialen Verhältnisse deutlich zu machen versucht. Mit diesem Prinzip der Unentgeltlichkeit will Benedikt XVI. nicht die für die ökonomischen und sozialen Beziehungen so zentralen Grundsätze der iustitia commutativa, der iustitia distributiva und der iustitia socialis, der ausgleichenden, der austeilenden und der sozialen Gerechtigkeit in Frage stellen, sondern darauf hinweisen, dass für eine humane Entwicklung mehr notwendig ist als Gerechtigkeit. Diese „Mehr“ heißt Vertrauen, Anerkennung, Erbarmen und Liebe. Die Liebe in der Wahrheit, (Caritas in Veritate), ist der Schlüssel für eine Entwicklung des ganzen Menschen und aller Menschen, also für eine menschenwürdige Globalisierung. „Lieben ist schenken, dem anderen von dem geben, was ,mein‘ ist; aber sie ist nie ohne die Gerechtigkeit, die mich dazu bewegt, dem anderen das zu geben, was ,sein‘ ist, das, was ihm aufgrund seines Seins und seines Wirkens zukommt“ (CIV 6). Unentgeltlichkeit bedeutet in der von Benedikt XVI. rezipierten Denkschule „nicht einseitige Zuwendung ohne Gegenleistung, sondern eine persönliche Beziehung, die aus meiner unentgeltlichen Handlung Gegenseitigkeit in Form von Freundschaft entstehen

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Marx, S. 263.

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lässt“.6 Mit der Betonung des Prinzips der Unentgeltlichkeit greift Benedikt XVI. einen Grundsatz auf, der auch im Kompendium mehrfach anklingt (Kompendium 47, 193, 196, 390, 583), und der sich wie ein roter Faden durch das Pontifikat Johannes Pauls II. zieht. George Weigel hat ihn in seiner großen Biographie Johannes Pauls II. sehr schön herausgearbeitet7: nicht die Selbstverwirklichung, sondern die Selbsthingabe ist der Schlüssel zum Gelingen des menschlichen Lebens, die Selbsthingabe, die Johannes Paul II. in seinem ganzen Pontifikat vorgelebt hat, die in Jesu Menschwerdung und in seinem Tod am Kreuz gründet und von der das II. Vatikanische Konzil in ,Gaudium et Spes‘ sagt, dass nur durch sie der Mensch sich selbst vollkommen finden kann (GS 24). Benedikt XVI. widmet dieser Grundwahrheit des Glaubens, die in der Fußwaschung Jesu beim Abendmahl einen weiteren bildhaften Ausdruck findet, seine erste Enzyklika ,Deus Caritas Est‘ vom 25. Dezember 2005. Aus diesen anthropologischen und theologischen Grundlagen ergibt sich für das Verständnis der Globalisierung, dass eine menschenwürdige Entwicklung den ganzen Menschen und alle Menschen erfassen muss. Das wesentliche Kennzeichen der „wahren Entwicklung“ bestehe darin, schreibt Benedikt XVI. mit dem Kompendium und Paul VI., dass sie umfassend sei sowie den ganzen Menschen und die gesamte Menschheit im Auge habe (CIV 18; PP 14; Kompendium 82, 373, 446). „Wenn die Entwicklung nicht den ganzen Menschen und jeden Menschen betrifft, ist sie keine wahre Entwicklung. Das ist die zentrale Botschaft von ,Populorum Progressio‘, die heute und immer gilt“ (CIV 18). Eine Entwicklung, die den ganzen Menschen betrifft, heißt für Benedikt XVI. wie für seine Vorgänger, dass sie nicht nur die Beseitigung von Hunger, materieller Armut und endemischen Krankheiten sowie das Angebot von Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten enthalten muss, sondern auch offen ist für „eine transzendente Sicht der Person“ und damit für Gott (CIV 11). Paul VI. stützte sich auf Jacques Maritains „integralen Humanismus“8, einen Humanismus, der dem Menschen im Gegensatz zum in sich verschlossenen und deshalb unmenschlichen Humanismus ein Hinausschreiten über sich selbst ermöglicht (PP 42). Benedikt XVI. greift dies in seinem Schlussappell in CIV auf: „Nur ein für das Absolute offener Humanismus“ könne uns bei der Verwirklichung einer menschlichen Entwicklung leiten (CIV 78). Er verweist auf die „große Wahrheit“, die Paul VI. mit dem Konzil der Welt mitgeteilt habe, dass nämlich die Kirche selbst, wenn sie das Evangelium verkündet, die Eucharistie feiert und in der Liebe wirkt, die ganzheitliche Entwicklung des Menschen fördert (CIV 11). Die Verkündigung Christi ist „der erste und hauptsächliche Entwicklungsfaktor“ (CIV 8). Eine Entwicklung schließlich, die allen Völkern zu Gute kommt, bedeutet für Benedikt XVI. wie für Paul VI. ökonomisch die Integration der Völker in den Weltmarkt unter paritätischen Bedingungen, sozial die Entstehung gebildeter und solidarischer Gesellschaften und politisch die „Konsolidierung demokratischer Regime“ 6

Schlag, S. 90 f. Weigel (2002); Weigel (2010). 8 Maritain.

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(CIV 21). Gleich zweimal warnt Benedikt XVI. aber vor einer Überschätzung von Institutionen und Strukturen. Im Laufe der Geschichte habe „man oft gemeint, die Schaffung von Institutionen genüge, um der Menschheit die Erfüllung ihres Rechts auf Entwicklung zu gewährleisten. Leider hat man in solche Institutionen ein übertriebenes Vertrauen gesetzt, so als könnten sie das ersehnte Ziel automatisch erlangen. In Wirklichkeit reichen die Institutionen allein nicht aus, denn die ganzheitliche Entwicklung des Menschen ist vor allem Berufung und verlangt folglich von allen eine freie und solidarische Übernahme von Verantwortung“ (CIV 11). Die zweite Warnung findet sich einige Abschnitte später: „Die ganzheitliche menschliche Entwicklung setzt die verantwortliche Freiheit der Person und der Völker voraus: keine Struktur kann diese Entwicklung garantieren, wenn sie die menschliche Verantwortung beiseite lässt oder sich über sie stellt“ (CIV 17). Diese Mahnungen richten sich nicht nur gegen Entwicklungsideologien, die den Fortschritt von bestimmten Institutionen und Strukturen erwarten, sondern auch gegen eine verbreitete Strömung in der Wirtschaftsethik, die Wirtschaftsethik allein als Ordnungsethik konzipiert und davon ausgeht, dass die richtigen Strukturen und Institutionen automatisch das richtige Verhalten zur Folge hätten. II. Ökonomische, politische und soziale Aspekte der Globalisierung Die sozialethischen Erörterungen zur Globalisierung, ihren ökonomischen, politischen und sozialen Aspekten, beginnt Benedikt XVI. mit einer Feststellung voller Optimismus und Zuversicht: Es treffe zu, „dass die Entwicklung ein positiver Faktor war und weiterhin ist, der Milliarden von Menschen aus dem Elend befreit und in letzter Zeit vielen Ländern die Möglichkeit gegeben hat, wirksame Partner in der internationalen Politik zu werden“ (CIV21). Zwar folgt sogleich eine Aufzählung dramatischer Probleme, die die Globalisierung belasten, aber die Enzyklika verliert darüber nie den Blick für die Chancen und die positiven Resultate der Globalisierung. So habe die Globalisierung auch dazu geführt, dass ganze Regionen der Erde aus der Unterentwicklung herausgetreten seien (CIV 33) und dass „eine noch nie da gewesene große Neuverteilung des Reichtums“ in weltweitem Maßstab möglich geworden sei (CIV 42). Eine derart positive Einschätzung nicht nur der Chancen, sondern auch der Resultate der Globalisierung lässt sich im Kompendium der Soziallehre, das dennoch als gelungenes und überaus hilfreiches Mittel der sozialethischen Verkündigung, eben als „Vademecum“, zu rühmen ist, nicht finden. Aber die Hinweise auf die positiven Faktoren der Globalisierung verstellen auch Benedikt XVI. nie den Blick auf ihre vielfältigen Probleme. 1. Ökonomische Aspekte Die ökonomische Vernetzung der Welt ist gegenüber der Zeit Pauls VI. wesentlich intensiver geworden – nicht nur die des Handels, sondern auch die der Produktion

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und des Finanzmarktes. Dies habe, stellt Benedikt XVI. fest, zu einer großen Zunahme des weltweiten Reichtums, aber auch zu neuen Ungleichheiten sowohl zwischen den Staaten als auch innerhalb der Staaten und zugleich zu einer Begrenzung der politischen Regelungskompetenz der einzelnen Staaten geführt (CIV 22). Von der Integration der Entwicklungsländer in den Weltmarkt unter paritätischen Bedingungen ist die ökonomische Globalisierung noch weit entfernt. Diskriminierende Abschottungen der Industrieländer gegenüber Entwicklungsländern, desaströse Spekulationen auf dem globalen Finanzmarkt, die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen der Erde, unkontrollierte Migrationsströme und neue Formen von Kolonialismus und Abhängigkeit von alten und neuen Hegemonialländern kennzeichnen die Wirtschafts- und Finanzkrise der Welt 2008/09 (CIV 22). Zur Lösung oder wenigstens Milderung der Probleme ruft Benedikt XVI. einen zentralen Grundsatz der Soziallehre der Kirche in Erinnerung: Die Soziallehre habe immer bekräftigt, „dass die Gerechtigkeit alle Phasen der Wirtschaftstätigkeit betrifft … Die Beschaffung von Ressourcen, die Finanzierung, die Produktion, der Konsum und alle übrigen Phasen haben unvermeidbar moralische Folgen. So hat jede wirtschaftliche Entscheidung eine moralische Konsequenz … Das Wirtschaftsleben braucht ohne Zweifel Verträge, um den Tausch von einander entsprechenden Werten zu regeln. Ebenso sind jedoch gerechte Gesetze, von der Politik geleitete Mechanismen zur Umverteilung und darüber hinaus Werke, die vom Geist des Schenkens geprägt sind, nötig“ (CIV 37). Die Wirtschaft braucht für ihr korrektes Funktionieren die Ethik (CIV 45), wie Benedikt in seiner Rede vor den Vertretern von Politik und Gesellschaft Großbritanniens in Westminster Hall am 17. September 2010 erneut unterstrichen hat.9 Benedikt XVI. zieht aus diesem Grundsatz eine etwas ambivalente Konsequenz im Hinblick auf die in den vergangenen Jahren in vielen Industrieländern entstandene Bewegung der ethischen Zertifizierung von Banken und Investitionsfonds. Einerseits lobt er diese Bewegung. Sie verdiene „breite Unterstützung“, da ihre positiven Wirkungen „auch in weniger entwickelten Zonen der Erde wahrzunehmen“ seien (CIV 45). Andererseits mahnt er, dass „die ganze Wirtschaft und das ganze Finanzwesen“ und „nicht nur einige ihrer Bereiche“ nach ethischen Maßstäben gestaltet werden müssen (CIV 65) und dass „die Regeln der Gerechtigkeit von Anfang an beachtet werden (müssen), während der wirtschaftliche Prozess in Gang ist“, nicht erst danach (CIV 37). Was den Finanzmarkt betrifft, dessen von der amerikanischen Hypothekenblase und der amerikanischen Notenbankpolitik verursachte Krise der Anfang der Weltwirtschaftskrise 2008/09 war, so fordert Benedikt XVI. einerseits eine Erneuerung der Strukturen mit dem Ziel, den instrumentalen Charakter des Finanzmarktes für die Realwirtschaft deutlich werden zu lassen, andererseits eine Reform der Einstellungen der Investmentbanker. „Die Finanzmakler müssen die … ethische Grundlage ihrer Tätigkeit wieder entdecken, um nicht jene hoch entwickelten Instrumente zu missbrauchen, die dazu dienen können, die Sparer zu betrügen“ (CIV 65). In der Be9

Papst Benedikt XVI., S. 14.

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schreibung der krisenhaften Entwicklung des globalen Finanzmarktes war das Kompendium schon sehr deutlich, ja – bedenkt man das Erscheinungsjahr 2004 – geradezu prophetisch: „Die Entwicklung des Finanzwesens, dessen Transaktionen den Umfang der realen Transaktionen schon längst hinter sich gelassen haben, läuft Gefahr, einer immer starker auf sich selbst bezogenen Logik zu folgen, die nicht mehr auf dem Boden der wirtschaftlichen Realität steht. Eine Finanzwirtschaft, die zum Selbstzweck wird, ist dazu bestimmt, ihren Zielsetzungen zu widersprechen, weil sie sich von ihren eigenen Wurzeln und dem eigentlichen Grund ihres Bestehens, das heißt von ihrer ursprünglichen und wesentlichen Aufgabe löst, der realen Wirtschaft und damit letztlich der Entwicklung der menschlichen Personen und Gemeinschaften zu dienen“ (Kompendium 368; 369). Zur Lösung oder wenigstens Milderung der ökonomischen Probleme der Globalisierung fordert Benedikt XVI. auch eine tief greifende Veränderung im Verständnis des Unternehmens. Er macht sich den Stakeholder-Ansatz zu eigen, dem gemäß „die Führung des Unternehmens nicht allein auf die Interessen der Eigentümer achten darf, sondern auch auf die von allen anderen Personenkategorien eingehen muss, die zum Leben des Unternehmens beitragen: die Arbeitnehmer, die Kunden, die Zulieferer der verschiedenen Produktionselemente, die entsprechende Gemeinde“ (CIV 40). Er räumt neben den gewinnorientierten Privatunternehmen auch staatlichen Unternehmen sowie unternehmerischen Mischformen eine Rolle bei der Implementierung des Prinzips der Unentgeltlichkeit in der Wirtschaft ein. Die unternehmerischen Mischformen, die von der Idee der Wirtschaft der Gemeinschaft der Fokolar-Bewegung inspiriert wurden,10 sollen „den Gewinn zwar nicht ausschließen, aber über die Logik des Äquivalenzprinzips und des Gewinns als Selbstzweck hinausgehen“ (CIV 38/39). Mit der Tradition der katholischen Soziallehre fordert Benedikt XVI. die Mitbestimmung der Arbeiter im Unternehmen (CIV 41), den Zugang zum Trinkwasser für alle (CIV 27), den Schutz der Umwelt, der Ressourcen und des Klimas (CIV 50) und die Überprüfung des Lebensstiles in den reichen Ländern (CIV 51). Etwas unterbelichtet bleibt in CIV der von Johannes Paul II. in ,Centesimus Annus‘ und auch vom Kompendium so sehr betonte Gedanke von der universalen Bestimmung der Güter (CA 30 f.; Kompendium 176 ff.). Von zentraler Bedeutung für jede wirtschaftliche Entwicklung und damit auch für die ökonomische Globalisierung bleibt der Markt, dem Benedikt XVI. wie schon das Kompendium und Johannes Paul II. grundlegende Aussagen widmet. Die positiven Würdigungen von Markt und Wettbewerb in der Soziallehre der Kirche sind noch sehr jung. Sie sind die Res Novae von ,Centesimus Annus‘ (CA 43, 40), die im Kompendium aufgegriffen werden (Kompendium 347 und 348). Benedikt XVI. stellt zwar fest, dass es den Markt in seiner „Reinform“ nicht gibt, dass er seine Gestalt vielmehr „durch die kulturellen Gegebenheiten“ erhält (CIV 36). Er hängt also von Voraussetzungen ab, die er selbst nicht schaffen kann. Das entspricht exakt 10 Vgl. Zamagni, S. 467 ff. Vgl. auch Schlag, S. 84, der auf weitere Publikationen von Zamagni hinweist.

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den Konzepten der Väter der Sozialen Marktwirtschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus einem christlichen Geist heraus das Wirtschaftssystem in Deutschland grundlegend und mit Erfolg reformiert haben.11 Aber Benedikt XVI. würdigt die Funktion des Marktes wie schon Johannes Paul II. mit Recht überaus positiv: Der Markt sei „an sich nicht ein Ort der Unterdrückung des Armen durch den Reichen und darf daher auch nicht dazu werden“. Die Gesellschaft müsse „sich nicht vor dem Markt schützen, als ob seine Entwicklung ipso facto zur Zerstörung wahrhaft menschlicher Beziehungen führen würde“ (CIV 36). Der Markt sei, „wenn gegenseitiges und allgemeines Vertrauen herrscht, die wirtschaftliche Institution, die die Begegnung zwischen den Menschen ermöglicht, welche als Wirtschaftstreibende ihre Beziehungen durch einen Vertrag regeln und die gegeneinander aufrechenbaren Güter und Dienstleistungen austauschen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen“ (CIV 35). Benedikt XVI. unterstreicht die Bedeutung des gegenseitigen Vertrauens für das Funktionieren des Marktes. „Ohne solidarische und von gegenseitigem Vertrauen geprägte Handlungsweisen in seinem Inneren kann der Markt die ihm eigene wirtschaftliche Funktion nicht vollkommen erfüllen“ und er beklagt, dass eben dieses Vertrauen in der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 verloren gegangen sei (CIV 35). 2. Politische und soziale Aspekte Das zentrale politische Problem in CIV ist die Regelungskompetenz des Staates. Benedikt XVI. spricht wiederholt über diese Kompetenz, die dem Staat um des Gemeinwohles willen zusteht. Er erörtert die Beschränkungen, die sie durch die Globalisierung erfahren hat, und er fragt nach den neuen Formen, die sie um der Regelung dieser Globalisierung willen erhalten müsse. Er rühmt mit Recht die Enzyklika ,Rerum Novarum‘, mit der Papst Leo XIII. 1891 den „damals sicher fortschrittlichen Gedanken“ präsentierte, „dass der Fortbestand der gesellschaftlichen Ordnung … eines umverteilenden Eingreifens des Staates bedarf“ (CIV 39). Noch zur Zeit Pauls VI. seien die Staaten relativ autonom gewesen. Mittels ihrer Regelungskompetenz hätten sie „die Prioritäten der Wirtschaft festsetzen“ können (CIV 24). Die Globalisierung habe jedoch zu Einschränkungen der staatlichen Souveränität und damit zu einem Kompetenzverlust der Regierungen und Parlamente geführt. Die große Krise der Jahre 2008/09 habe dann die Notwendigkeit deutlich werden lassen, die Rolle des Staates neu zu bestimmen (CIV 24). Was Benedikt XVI. zu dieser Neubestimmung der Rolle des Staates bei der Gestaltung der Globalisierung anbietet, wirft jedoch eine Reihe von Fragen auf. Die Feststellung, die Weltwirtschaftskrise habe dazu geführt, dass der Staat „viele seiner Kompetenzen wiedererlangt“ habe (CIV 41), lässt offen, an welche Kompetenzen hier gedacht ist. Sie lässt auch offen, ob die Liberalisierung der globalen Handelsbeziehungen und die Privatisierung staatlicher Dienstleistungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten als gemeinwohldienlich oder als gemeinwohlschädlich betrachtet 11

Vgl. Spieker (2010), S. 167 ff.

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werden. Hat die Übernahme großer Banken oder Automobilunternehmen durch den Staat etwas mit der Wiedererlangung staatlicher Kompetenzen zu tun? Wohl kaum. Hier handelte es sich um Feuerwehrmaßnahmen verschiedener Regierungen, die allerdings sofort zu der weiteren Frage zwingt, warum in den USA zum Beispiel das Automobilunternehmen General Motors des Feuerwehreinsatzes würdig war, die Bank Lehman Brothers aber nicht. Zu derartigen staatlichen Interventionen hat bereits Papst Johannes XXIII. in ,Mater et Magistra‘ 1961 das Notwendige gesagt. Der Staat müsse dafür sorgen, dass der „Raum der Privatinitiative der einzelnen Bürger nicht nur nicht eingeschränkt, sondern vielmehr ausgeweitet“ werde (MM 55) und wenn er einmal selbst stellvertretend wirtschaftliche Unternehmungen in Angriff nehme, müsse er dafür sorgen, sie „sobald als möglich privaten Händen zur Weiterführung“ zu überlassen (MM 152). Johannes Paul II. hat in ,Centesimus Annus‘ diese staatliche „Vertretungsfunktion“ im Hinblick auf die postkommunistischen Transformationsprozesse ebenfalls bejaht, aber zugleich betont, dass sie ein zeitlich begrenzter Ausnahmefall sein müsse, andernfalls sie „sowohl für die wirtschaftliche wie für bürgerliche Freiheit schädlich“ sei (CA 48). Muss die engere Zusammenarbeit, zu der die Globalisierung und die Weltwirtschaftskrise die Staaten unter Einbeziehung der Schwellen- und Entwicklungsländer zwingen (CIV 41, 42), zu einer Weltregierung führen? Benedikt XVI. greift diese alte Forderung der katholischen Soziallehre auf, die schon Johannes XXIII. (PT 137), Paul VI. (PP 78) und das Kompendium (Nr. 441) gestellt hatten. „Um die Weltwirtschaft zu steuern, die von der Krise betroffenen Wirtschaften zu sanieren, einer Verschlimmerung der Krise und sich daraus ergebenden Ungleichgewichten vorzubeugen, um eine geeignete vollständige Abrüstung zu verwirklichen, die Sicherheit und den Frieden zu nähren, den Umweltschutz zu gewährleisten und die Migrationsströme zu regulieren“ sei eine „echte politische Weltautorität … dringend nötig“ (CIV 67). Wirft schon der Aufgabenkatalog, der dieser Weltautorität zugeordnet wird, eine Reihe von Fragen auf, zum Beispiel die Frage, wie die Steuerung der Weltwirtschaft mit der Marktwirtschaft zu vereinbaren ist, so erheben sich weitere Fragen im Hinblick auf die Struktur dieser Weltautorität selbst. Sie soll einerseits „echt“ sein, also entscheidungs- und durchsetzungsfähig, andererseits aber soll sie „auf subsidiäre und polyarchische Art und Weise organisiert“ sein (CIV 57). Wie ist das vereinbar? Das auch in CIV mehrfach bestätigte Subsidiaritätsprinzip verlangt ja den Vorrang der kleineren Gemeinwesen vor den nächst höheren (QA 79).12 Im Hinblick auf die Weltautorität bedeutet dies, dass eine solche Autorität im zweiten Glied zu verbleiben hat – im Dienst der an der Front stehenden Subjekte, der Bürger, der Kommunen, der Staaten und der Staatenverbindungen. Und der etwas fremde und in der Soziallehre der Kirche bisher nicht vorkommende Begriff „polyarchisch“ bedeutet, dass die Weltautorität auf eine Vielzahl von Entscheidungszentren verteilt 12 Gegen den Vorschlag einer „steuerlichen Subsidiarität“ (CIV 60) wäre einzuwenden, dass er nicht nur der Budgethoheit des Parlaments widerspricht, sondern auch einem Populismus die Türen öffnet, der beim Verwendungszweck der Steuer an vieles, nur nicht an die Entwicklungshilfe denkt.

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sein soll. Was bleibt dann aber von einer „echten politischen Weltautorität“? Benedikt XVI. hat in ,Deus Caritas Est‘ selbst schon eine gewisse Distanz zur Weltautorität erkennen lassen, als er feststellte: „Nicht den alles regelnden und beherrschenden Staat brauchen wir, sondern den Staat, der entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip großzügig die Initiativen anerkennt und unterstützt …“ (DCE 28). Auch eine Formulierung von Johannes Paul II. in ,Sollicitudo Rei Socialis‘ ist besser geeignet, einerseits dem Erfordernis globaler Regelungen und andererseits dem Subsidiaritätsprinzip gerecht zu werden. Die Menschheit brauche heute „angesichts einer neuen und schwierigen Phase ihrer echten Entwicklung, für den Dienst an den Gesellschaften, den Wirtschaften und den Kulturen der ganzen Welt einen höheren Grad internationaler Ordnung“ (SRS 43). Die Forderung Benedikts XVI. nach einer Ausweitung staatlicher Kompetenz hat jedoch noch einen anderen Aspekt, dem gerade im Kontext Afrikas eine große Bedeutung zukommt. Mit der Tradition der katholischen Soziallehre fordert er „die Festigung der Verfassungs-, Rechts- und Verwaltungssysteme in den Ländern, die sich dieser Güter noch nicht vollkommen erfreuen“ (CIV 41). Ein funktionierender Rechtsstaat ist in der Tat ein „Schlüssel“ der Entwicklung, ein Rechtsstaat, der die Menschenrechte gewährleistet, demokratische Partizipation ermöglicht und Korruption bekämpft (CIV 41). Benedikt XVI. macht sich hier die Forderung nach einer „good governance“ zu Eigen, die auch die Afrika-Synode 2009 in ihrer Schlussbotschaft an das Volk Gottes und in ihren Propositiones unterstrichen hat (Ziffer 6; Propositio 24). Schon Johannes Paul II. hatte in ,Sollicitudo Rei Socialis‘ die Bedeutung rechtstaatlicher, demokratischer und korruptionsfreier Strukturen für die Entwicklung unterstrichen. Manche Entwicklungsländer bräuchten, so schrieb er, „die Reform einiger ungerechter Strukturen, insbesondere der eigenen politischen Institutionen, um korrupte, diktatorische und autoritäre Regime durch demokratische Ordnungen der Mitbeteiligung zu ersetzen. Das ist ein Prozess, von dem wir wünschen, dass er sich ausbreite und verstärke; denn die ,Gesundheit‘ einer politischen Gemeinschaft – insofern sie sich ausdrückt in der freien und verantwortlichen Teilnahme aller Bürger am öffentlichen Leben, in der Rechtssicherheit sowie in der Achtung und Förderung der Menschenrechte – ist die notwendige Bedingung und sichere Garantie der Entwicklung jedes Menschen und aller Menschen“ (SRS 44).13 Diese Worte haben auch 23 Jahre später nichts von ihrer Aktualität verloren. Nicht nur den Entwicklungsländern, sondern allen Staaten gilt eine Forderung Benedikts, die seit Leo XIII. im Mittelpunkt der katholischen Soziallehre steht: die Forderung, die Menschenrechte zu beachten, die im Naturrecht gründen und die Legitimitätsbasis für jede staatliche Autorität sind. Diese Rechte sind unverfügbar. Ihre Geltung verdanken sie nicht parlamentarischen Mehrheiten, sondern der „Grammatik“, die Gott der Natur des Menschen eingeschrieben hat (CIV 48). Jede politische 13 Bei einem Symposion über SRS im August 1989 in Benin zur Zeit der Agonie der marxistischen Militärdiktatur von Präsident Kérékou wurde von den afrikanischen Teilnehmern über nichts so ausführlich und so zustimmend diskutiert wie über die Nummer 44.

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Autorität hat deshalb das Recht auf individuelle und institutionelle Religionsfreiheit zu achten (CIV 29 und 55) sowie Ehe und Familie zu respektieren und zwar die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau. Die Gesellschaft hat „keine Verfügungsgewalt über die eheliche Verbindung“, das heißt keine Definitionshoheit über die Ehe (Kompendium 216), die sich viele Parlamente und Gerichte westlicher Staaten in diesen Jahren unter dem Vorwand der Antidiskriminierung anmaßen. Jeder Gesetzgeber hat den Vorrang der Eheleute bei der Sexualerziehung ihrer Kinder zu respektieren und sich politischer Maßnahmen der Geburtenplanung zu enthalten. Er hat das Recht auf Leben von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod zu respektieren. „Die Offenheit für das Leben steht im Zentrum der wahren Entwicklung“ (CIV 28). Benedikt XVI. kritisiert die „lebensfeindlichen Gesetzgebungen“, die in den reichen westlichen Ländern schon sehr verbreitet sind und dazu beigetragen haben, „eine geburtenfeindliche Mentalität zu lancieren, die man häufig auch auf andere Staaten zu übertragen sucht, als stelle sie einen kulturellen Fortschritt dar“ (CIV 28). Besonders aktiv ist auf diesem Gebiet der United Nations Population Fund (UNFPA), der mit Unterstützung von Planned Parenthood, der größten Abtreibungsorganisation der Erde, diese geburtenfeindliche Mentalität weltweit zu verbreiten sucht. Michel Schooyans hat diese Förderung einer Kultur des Todes schon 2001 mit seinem Buch „La face cachée de l’ONU“ zu demaskieren versucht.14 Austin Ruse arbeitet mit dem Catholic Family and Human Rights Institute in Washington und New York seit Jahren an der Offenlegung der lebensfeindlichen Aktivitäten der UNO und ihrer Unterorganisationen.15 Die Afrika-Synode hat in ihrer Schlussbotschaft an das Volk Gottes und in ihren Propositiones die Kritik an diesen Aktivitäten internationaler Organisationen aufgegriffen und insbesondere Artikel 14 des MaputoProtokolls verurteilt, der unter dem Deckmantel der reproduktiven Rechte der Frau ein Recht auf Abtreibung propagiert (Ziffer 30; Propositio 20). Benedikt XVI. widmet diesem Kampf zwischen einer Kultur des Todes und einer Kultur des Lebens wie schon Johannes Paul II. große Aufmerksamkeit. Schon als Präfekt der Glaubenskongregation hat er Johannes Paul II. in diesem Einsatz für die Kultur des Lebens unterstützt – nicht zuletzt in den Auseinandersetzungen um die Schwangerschaftskonfliktberatung in Deutschland, in denen sich der deutsche Episkopat gespalten zeigte.16 III. Weit mehr als eine Globalisierungsenzyklika Die wahre Entwicklung der Welt, die „ganzheitliche Entwicklung des Menschen in der Liebe und in der Wahrheit“ entscheidet sich nicht auf dem Feld der Steuerung der Globalisierung oder der Regulierung der Finanzmärkte. Sie entscheidet sich auf dem Feld der Biomedizin. Das ist das Neue an CIV. Die dramatische Alternative zwischen einer Kultur des Lebens und einer Kultur des Todes verändert auch die Agenda 14

Schooyans. Vgl. Spieker (2012). 16 Vgl. Spieker (2008). 15

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der Soziallehre der Kirche. Sie muss erkennen, dass die Ethik des Lebens, genauer die Ethik des Lebensschutzes zu ihren Kernaufgaben gehört. Eine Gesellschaft, die die Missachtung des Lebensrechtes duldet oder gar legalisiert, wie das in vielen Ländern nicht nur der westlichen Welt seit Anfang der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts der Fall ist, kann keinen dauerhaften Bestand haben. Die Verteidigung des Lebensrechtes vom Anfang bis zum Ende des Lebens muss deshalb für die Soziallehre der Kirche die zentrale Konsequenz ihres Bemühens um eine humane Entwicklung sein. Damit tut sich die Christliche Gesellschaftslehre in manchen Ländern, nicht zuletzt in den deutschsprachigen, noch sehr schwer.17 „Die Kirche betont mit Nachdruck den Zusammenhang zwischen der Ethik des Lebens und der Sozialethik“, schreibt Benedikt XVI. und zitiert Evangelium Vitae, „denn sie weiß: Unmöglich kann eine Gesellschaft gesicherte Grundlagen haben, die – während sie Werte wie Würde der Person, Gerechtigkeit und Frieden geltend macht – sich von Grund auf widerspricht, wenn sie die verschiedensten Formen von Missachtung und Verletzung des menschlichen Lebens akzeptiert oder duldet, vor allem, wenn es sich um schwaches oder ausgegrenztes Leben handelt“ (CIV 15). Benedikt ruft die leider auch innerhalb der Kirche weithin tabuisierte Enzyklika ,Humanae Vitae‘ von Paul VI. in Erinnerung und würdigt sie als die erste Enzyklika, die diesen Zusammenhang aufgezeigt hat (CIV 15).18 Er greift den Appell auf, den schon Johannes Paul II. an den Anfang seiner Enzyklika ,Evangelium Vitae‘ stellte: Die Soziallehre der Kirche nehme sich vor allem jener Menschen an, die keine Stimme haben. Am Ende des 19. Jahrhunderts seien dies die Arbeiter gewesen, derer sich Leo XIII. in ,Rerum Novarum‘ angenommen habe. Am Ende des 20. Jahrhunderts seien dies die ungeborenen Kinder (EV 5). ,Evangelium Vitae‘ ist deshalb eine zentrale Sozialenzyklika. Als solche wird sie aber weithin nicht wahrgenommen. Sie gilt als wichtiges päpstliches Lehrschreiben für die Moraltheologie. Dies ist angesichts der gesellschaftlichen und politischen Veränderungen seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Verkürzung. Sie ist eine Sozialenzyklika, fehlt aber in fast allen Sammlungen der Sozialenzykliken. Auch das Kompendium ignoriert sie in seiner kurzen Übersicht „Von ,Rerum Novarum‘ bis heute“, die bei ,Centesimus Annus‘ endet (Kompendium 89 – 103). Benedikts Mahnung, die Sozialethik mit der Ethik des Lebensschutzes zu verbinden, zieht sich wie ein roter Faden durch CIV. Das Thema der Achtung vor dem Leben könne heute „in keiner Weise von den Fragen bezüglich der Entwicklung der Völker getrennt werden“. Es verpflichte, „die Begriffe von Armut und Unterentwicklung auf die Fragen auszudehnen, die mit der Annahme des Lebens verbunden sind“ (CIV 28). Benedikt weist darauf hin, dass „die moralisch verantwortungsvolle Offenheit für das Leben … ein sozialer und wirtschaftlicher Reichtum (ist)“, dass es „unkorrekt“ sei, „in der Bevölkerungszunahme die Hauptursache der Unterentwicklung zu sehen“ und er fordert dazu auf, „den jungen Generationen wieder die Schön17 18

Vgl. Spieker (2011a), S. 223 ff. Vgl. Spieker (2011b).

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heit der Familie und der Ehe vor Augen zu stellen sowie die Übereinstimmung dieser Einrichtungen mit den tiefsten Bedürfnissen des Herzens und der Würde des Menschen“ (CIV 44). Die bis heute nicht überwundene Distanzierung von ,Humanae Vitae‘hat die Vorbereitung auf Ehe und Familie in der Verkündigung sowie in der Pastoral der Kirche sehr erschwert. Bei der Erörterung der Probleme der Ökologie spricht Benedikt XVI. erneut über den Zusammenhang zwischen der Sozialethik und der Ethik des Lebensschutzes. Er kritisiert „einen neuen Pantheismus“ in der Ökologie-Debatte, der die Natur für wichtiger hält als die menschliche Person (CIV 48), um dann festzustellen: „Wenn das Recht auf Leben und auf einen natürlichen Tod nicht respektiert wird, wenn Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt des Menschen auf künstlichem Weg erfolgen, wenn Embryonen für die Forschung geopfert werden, verschwindet schließlich der Begriff Humanökologie und mit ihm der Begriff der Umweltökologie aus dem allgemeinen Bewusstsein“ (CIV 51). Die Sorge Benedikts XVI. um die Kultur des Lebens kulminiert mit eindringlichen Worten in den Ziffern 74 und 75 von CIV. „Der wichtigste und entscheidende Bereich der kulturellen Auseinandersetzung zwischen dem Absolutheitsanspruch der Technik und der moralischen Verantwortung des Menschen ist heute die Biomedizin, wo auf radikale Weise die Möglichkeit einer ganzheitlichen menschlichen Entwicklung selbst auf dem Spiel steht. Es handelt sich um einen äußerst heiklen und entscheidenden Bereich, in dem mit dramatischer Kraft die fundamentale Frage auftaucht, ob sich der Mensch selbst hervorgebracht hat oder ob er von Gott abhängt“. Die Welt stehe „vor einem entscheidenden Entweder-Oder“ (CIV 74). Die soziale Frage sei „in radikaler Weise zu einer anthropologischen Frage geworden …, insofern sie die Möglichkeit selbst beinhaltet, das Leben, das von den Biotechnologien immer mehr in die Hände des Menschen gelegt wird, nicht nur zu verstehen, sondern zu manipulieren“. In der Förderung von InVitro-Fertilisation, Embryonenforschung, Möglichkeiten des Klonens und der Hybridisierung des Menschen finde der Absolutheitsanspruch der Technik seinen massivsten Ausdruck. Die beunruhigenden Szenarien für die Zukunft des Menschen und die neuen mächtigen Instrumente, die der ,Kultur des Todes‘ zur Verfügung stehen, könne man nicht bagatellisieren. „Zur verbreiteten tragischen Plage der Abtreibung könnte in Zukunft – aber insgeheim bereits jetzt schon in nuce vorhanden – eine systematische eugenische Geburtenplanung hinzukommen“ und auf der anderen Seite wird „einer mens ethanasica der Weg bereitet“ (CIV 75). Die sich aus der assistierten Reproduktion ergebenden bioethischen Probleme hat auch das Kompendium schon erörtert – allerdings noch mehr auf der moraltheologischen Argumentationsebene von ,Donum Vitae‘, der Instruktion der Glaubenskongregation über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung vom 10. März 1987. Aber auch das Kompendium weist bereits darauf hin, dass die Methoden der assistierten Reproduktion zu einer „totalen Herrschaft des Reproduzierenden über das reproduzierte Individuum“ führen (Kompendium 236). Die Fortschreibung von ,Donum Vitae‘, die Instruktion ,Dignitas Personae‘ über einige Fragen der Bioethik vom 8. September 2008 geht in der Heraus-

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arbeitung der sozialethischen Probleme der assistierten Reproduktion einen Schritt weiter. Sie zeigt, dass diese Form der Reproduktion, insbesondere die von einer eugenischen Mentalität gesteuerte Gentherapie, die ontologische Gleichheit der Menschen zerstört. Die einen werden zu Produzenten der anderen. Die Reproduktionsingenieure werden zu Herren ihrer Geschöpfe. Damit wird die Symmetrie der Beziehungen in der Gesellschaft zerstört, worauf aus einer säkularen Perspektive auch schon Jürgen Habermas und Francis Fukuyama hingewiesen haben.19 Die Nutzung von „verwaisten“ Embryonen für die Forschung, die Medizin oder die Pharmazie lässt auch die Frage aufkommen, ob die Embryonen, die keine Chance mehr auf einen Transfer in eine Gebärmutter haben, wie ein Eigentum der Reproduktionsmediziner behandelt werden können, ob sie mit anderen Worten als die Sklaven des 21. Jahrhunderts gelten. Die gentechnologischen Träume von der Optimierung des Menschen führen zur Herrschaft einiger über die Freiheit vieler. Sie schaden dem Gemeinwohl (DP 27) und gefährden die Zukunft der Demokratie. Die „schöne neue Welt“ (Aldous Huxley) zu vermeiden, ist die Herausforderung des 21. Jahrhunderts, der sich die Soziallehre der Kirche stellen muss. Die Frage drängt sich auf, ob die Kirche nicht neben den Justitia et Pax-Kommissionen in allen Ländern und auf allen Ebenen auch Pro-Life-Kommissionen errichten soll. Der Episkopat der USA hat hier Vorbildliches geleistet. Die Pro-Life-Committees der US Bischofskonferenz wie auch der meisten Diözesen sind mit ihrer Arbeit zu Säulen der Lebensrechtsbewegung geworden.20 Die Soziallehre, von der Benedikt XVI. im ersten Band seines Jesus-Buches sagte, dass die Christenheit sie immer wieder „neu ausarbeiten“ müsse, um je neue Entwicklungen in der Gesellschaft zu korrigieren,21 verleiht der christlichen Religion seit ,Rerum Novarum‘ das „Statut des Bürgerrechts“ in der Gesellschaft (CIV 56; CA 5). Nicht zuletzt durch sie übt der Glaube seine korrigierende Funktion gegenüber der Vernunft aus. Die Soziallehre ist „Verkündigung der Wahrheit der Liebe Christi in der Gesellschaft“ (CIV 5). Dem christlichen Glauben dieses Recht der Präsenz in der Gesellschaft zu verweigern, verhindere, so Benedikt XVI., eine wahre Entwicklung. „Wenn die Kirche die unbedingte Achtung vor dem Recht auf Leben jedes unschuldigen Menschen – von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Tod – zu einer der Säulen erklärt, auf die sich jede bürgerliche Gesellschaft stützt, will sie lediglich einen humanen Staat fördern. Einen Staat, der die Verteidigung der Grundrechte der menschlichen Person, besonders der schwächsten, als vorrangige Pflicht anerkennt“ (EV 101). Benedikt XVI. hat der Soziallehre mit CIV den Weg gewiesen, auf dem sie ihren Beitrag zur Verteidigung eines humanen Staates leisten kann.

19

Habermas; Fukuyama. Spieker (2006), S. 110 ff. 21 Ratzinger, S. 160. 20

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Missionierende Sozialverkündigung? Kritische Bemerkungen zur Kernbotschaft von ,Caritas in Veritate‘ Von Bernhard Emunds Als Papst Benedikt XVI. im Sommer 2009 die Sozialenzyklika ,Caritas in Veritate‘ veröffentlichte, fand sie im deutschsprachigen Raum kaum positive Resonanz. Nach einem halben Jahr stellte der Vorsitzende der deutschen Kommission Justitia et Pax, Bischof Dr. Stephan Ackermann, fest, „dass der öffentliche Diskurs und Teile der Politik mit der Enzyklika und ihrer Kernbotschaft ,fremdeln‘.“1 Besonders enttäuscht zeigten sich – bis auf wenige Ausnahmen – die Vertreterinnen und Vertreter des Fachs Christliche Gesellschaftsethik. Und das aus gutem Grund! Die Zentralaussage von ,Caritas in Veritate‘ weicht deutlich von dem theologisch-sozialethischen Profil ab, das die universalkirchliche Sozialverkündigung in den letzten 45 bis 50 Jahren entwickelt hat. Aus Sicht der meisten Sozialethikerinnen und Sozialethiker unterbietet sie das dort bereits erreichte Reflexionsniveau bezüglich der Gestaltung von Institutionen, des Verhältnisses zwischen Kirche und säkularer Gesellschaft sowie der Mitwirkung von Christen und kirchlichen Organisationen an der Lösung sozialer und internationaler Probleme. Zwar finden sich in dem deutlich über 100 Seiten langen Dokument, das die meisten aktuellen sozialen und globalen Herausforderungen zumindest kurz streift, Passagen, durch deren Zitation man ein überschwängliches Lob des Textes plausibel machen könnte. Starke Aussagen enthält ,Caritas in Veritate‘ m. E. zum politischen Engagement aus dem Glauben2, (CIV 6 f.), zum übertriebenen Schutz geistigen Eigen1

Ackermann, S. 7. „Die Nächstenliebe offenbart in den menschlichen Beziehungen immer die Liebe Gottes; diese verleiht jedem Einsatz für Gerechtigkeit in der Welt einen theologalen und heilbringenden Wert“ (CIV 6). Der Einsatz für das Gemeinwohl eines Gemeinwesens „ist der institutionelle – wir können auch sagen: politische – Weg der Nächstenliebe“ (CIV 7). Vgl. a. die letzten Sätze von CIV 78. Die Zitate sind vor allem als Korrektur der einschlägigen Aussagen in den beiden ersten Enzykliken Benedikts XVI. bemerkenswert. In ,Deus Caritas Est‘ [DCE] hatte er die Gerechtigkeit ganz dem profanen Bereich zugeordnet und das politische Engagement der Christen scharf von deren (offenbar nur in persönlichen Begegnungen möglichen) Nächstenliebe getrennt, die er als konstitutiv für den Selbstvollzug der Kirche begreift (DCE 8 f.). Gegenläufig dazu, aber immer noch in dem Bemühen, den politischen Einsatz für gerechte Strukturen aus dem Glauben (und aus der Kirche) herauszuhalten, hatte er in ,Spe Salvi‘ [SPS] das Schaffen von Gerechtigkeit ausschließlich als Handeln Gottes am Ende der 2

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tums bei Medikamenten (CIV 22), zur Verlagerung von Arbeitsplätzen in periphere Länder und zu den Wettbewerbsstrategien einiger Entwicklungsländer, die auf eine Reduktion der Arbeitskosten durch Sozialabbau setzen (CIV 25, 33, 40), zu Arbeitslosigkeit und prekärer Erwerbstätigkeit als Armutsursachen (CIV 32, 63), zur Verabsolutierung des betriebswirtschaftlichen Denkens und zum „disembedding“ unternehmerischen Wirtschaftens (CIV 21, 37, 40), zur Fixierung auf den optimalen Mitteleinsatz unter Vernachlässigung der Ziele (CIV 70) sowie zu der von ,Populorum Progressio‘ inspirierten Sicht, dass bei jedem Menschen die Entfaltung der Persönlichkeit seine – auf Gott zurückgehende – Berufung ist (CIV 16). Besondere Beachtung verdienen jene Passagen, die den Einfluss des italienischen Ökonomen Stefano Zamagni erkennen lassen. Diese heben die Bedeutung der Reziprozität für das Wirtschaftsleben hervor und entdecken in der Ausbreitung kooperativer Betriebe und anderer alternativer Unternehmensformen eine Chance, die kapitalistische Marktwirtschaft zu zivilisieren (CIV 35 f., 38, vgl. CIV 46).3 Zugleich finden sich aber auch nicht wenige Einzelaussagen, die – ausgiebig zitiert – die Enzyklika sehr schlecht aussehen ließen.4 Das liegt teilweise an der schwachen deutschen Fassung5, aber auch in den Versionen anderer Sprachen weist die Sozialenzyklika zahlreiche handwerkliche Mängel auf. Zentrale Begriffe wie „Natur“6 oder „Technik“ bzw. „technisch“7 werden mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen verwandt. Die Gliederung vermag in keiner Weise zu überzeugen. Die Kapitel 2

Zeiten begriffen und damit den Versuch der Menschen, schon jetzt Gerechtigkeit herzustellen, zum Inbegriff der Sünde stilisiert (SPS 41 f.). 3 Vgl. Bruni/Zamagni. Vgl. dazu auch Schlag, S. 84, 90 – 92. 4 Ohne Bezug zur zentralen Botschaft u. a.: CIV 25 (Gründung von Gewerkschaften als „Vorschlag seitens der Soziallehre der Kirche“), CIV 28 („Begriffe von Armut und Unterentwicklung“ auf Lebensschutzfragen ausdehnen), CIV 60 (Reduktion sozialstaatlicher Ausgaben sowie Einführung des Rechts, dass jeder Bürger über die Verwendung eines Teils der von ihm bezahlten Steuern bestimmen darf, um mit den eingesparten Mitteln die Entwicklungshilfe zu erhöhen). 5 Darin wird z. B. „Vermögen“ – und nicht, wie offenbar gemeint: Wohlstand oder Reichtum – geschaffen oder zerstört (CIV 21, 25, 60), oder es ist von „Gesellschaftskapital“ statt von „Sozialkapital“ (CIV 32) die Rede. Auffällig sind auch einige nebulöse Formulierungen, z. B. in CIV 42: „Es ist daher ein unablässiger Einsatz zur Förderung einer personalistischen und gemeinschaftlichen sowie für Transzendenz offenen kulturellen Ausrichtung des globalen Integrationsprozesses erforderlich.“ 6 Vgl. Kruip, S. 97. 7 Vgl. CIV 21 („des rein technisch orientierten Menschen“), CIV 40 („in einer Investition nur einen technischen Vorgang und nicht auch eine menschliche und ethische Handlung zu sehen“), CIV 44 („Sexualerziehung nicht auf eine technische Anleitung reduzieren“), CIV 71 („Häufig wird die Entwicklung der Völker … letztlich als eine rein technische Frage gesehen.“) mit CIV 68 (u. a. „,Wunder‘ der Technik“) und den meisten Aussagen in CIV 69. Zumindest zu Beginn von CIV 70 werden die verschiedenen Bedeutungsebenen miteinander verschmolzen: „Die technologische Entwicklung kann zur Idee verleiten, dass sich die Technik selbst genügt, wenn der Mensch sich nur die Frage nach dem Wie stellt und die vielen Warum unbeachtet lässt, von denen er zum Handeln angespornt wird.“

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bis 5 lassen keine Logik erkennen, nach der sie gereiht wären.8 Jedes von ihnen behandelt recht heterogene Inhalte. Manches Thema wird ohne erkenntlichen Grund in verschiedenen Kapiteln abgehandelt, die Unternehmensethik z. B. in III (CIV 35 – 41) und IV (CIV 45 f.), ohne dass Verbindungslinien zwischen den Passagen gezogen würden. Bei der in der öffentlichen Debatte stark rezipierten Forderung nach einer politischen Steuerung des Globalisierungsprozesses (CIV III: 41, V: 57, 67) hat man nicht einmal gegenläufige Aussagen vermieden. Die Auflistung einzelner Mängel – oder einzelner gelungener Passagen – begründet aber noch keine überzeugende Gesamteinschätzung. Aus diesem Grund versuche ich im Folgenden zuerst, die Kernbotschaft der Sozialenzyklika herauszukristallisieren [I]. Anschließend verdeutliche ich anhand zweier, aus meiner Sicht besonders markanter Eigenschaften der Enzyklika, die These, dass ,Caritas in Veritate‘ einen Rückschritt in der Geschichte der universalkirchlichen Sozialverkündigung markiert [II]. Der Beitrag endet mit der Skizze eines möglichen, allerdings hochproblematischen missionierenden Profils der Sozialverkündigung, dem ,Caritas in Veritate‘ leider teilweise recht nahe kommt [III]. I. Die Kernbotschaft von ,Caritas in Veritate‘ Zu Beginn möchte ich die zentrale Botschaft der neuen Enzyklika in fünf Sätzen zusammenfassen: Die aktuellen sozialen und internationalen Problemlagen sind Symptome für die tiefgreifende Krise einer Kultur, in der ausschließlich nach optimalen technischen Lösungen gesucht wird – unter Ausblendung sowohl der Verantwortung des einzelnen als auch der Frage nach den Zielen des Handelns. Diese kulturelle und moralische Krise wurzelt letztlich in der prometheischen Anmaßung der Menschen, in deren sündhaftem Versuch, die Entwicklung aus eigener Kraft zu schaffen. Deshalb bedarf die Entwicklung der Menschheit einer Neuausrichtung, die allein möglich ist durch die Nächstenliebe, die sich von der Wahrheit der Vernunft und des christlichen Glaubens leiten lässt. Ohne den christlichen Glauben gibt es keine wirkliche Entwicklung. In ihm wird nicht nur die Wahrheit über den Menschen und seine ethischen Pflichten klar erkannt, sondern auch die Liebe Gottes angenommen, die zu Nächstenliebe und damit auch zu brüderlicher Reziprozität und unentgeltlichem Tun des Guten führt.

Dass dies die zentralen Inhalte der Enzyklika sind, wird – abgesehen vom Titel – darin deutlich, dass sich Aussagen wie diese immer wieder im Text finden – und zwar an besonders prominenten Stellen: in der Einleitung und im Schluss der Enzyklika 8 Kruip, S. 87 f. bemüht sich, im Chaos der Gedankenketten eine Struktur zu entdecken, und hat in der Abfolge der Kapitel II – III und IV – V den Dreischritt „Sehen – Urteilen – Handeln“ identifiziert, „auch wenn er nicht durchgängig sichtbar bleibt“ (ebd. S. 87). Abgesehen davon, dass es in Kapitel II tatsächlich deutlich mehr beschreibende Aussagen als in den Folgekapiteln gibt, finde ich im Gesamttext keine solche Struktur. Allerdings ist die Entwicklung des Gedankengangs auch in anderen Dokumenten der Römischen Sozialverkündigung (z. B. in ,Centesimus Annus‘ [CA], der vorhergehenden Sozialenzyklika) nicht stringent.

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sowie in den ersten Ziffern der Kapitel II, III und VI (CIV 21, 34, 68) und in den letzten Ziffern der Kapitel II, IV und VI (CIV 32 f., 52, 77). Die Überlegungen spielen auch in Kapitel I, das eine vertikalistische Relecture von ,Populorum Progessio‘ bietet, eine wichtige Rolle (CIV 11, 16 – 19). Diese Kernbotschaft der Enzyklika möchte ich im Folgenden in drei Schritten verdeutlichen. Papst Benedikt interpretiert in ,Caritas in Veritate‘ die gegenwärtigen Herausforderungen als eine tiefgreifende kulturelle Krise [1] und deutet diese dann als eine religiöse Krise [2]. Die Lösung dieser Krise sieht er in der Nächstenliebe, die – vom christlichen Glauben informiert und gestärkt – das überkommene Entwicklungsmodell transformiert [3]. 1. Kulturelle Krise Der stark kulturkritische Duktus der Enzyklika war in der deutschsprachigen Rezeption sofort herausgestellt worden. In einem vielzitierten Kommentar in der Süddeutschen Zeitung hatte Matthias Drobinski unmittelbar nach der Veröffentlichung kritisiert: „,Caritas in Veritate‘ ist zunächst eine Kulturenzyklika und erst dann eine Sozialenzyklika, weil die Interessen des Autors in erster Linie kulturell und erst in zweiter Linie sozial sind. Sie ist vielfach kulturpessimistisch defensiv, sie verteidigt die katholischen Wahrheitskonzepte, sie verheddert sich in kirchlicher In-sichLogik, wenn sie Hungertod und Geburtenkontrolle als zwei Seiten der gleichen Unmoral darstellt. Sie verliert dadurch die Kraft, die sie hätte haben können.“9 Lothar Roos dagegen wertete den starken Akzent, den die Enzyklika auf „kulturanthropologische Neubesinnung“10 legt, als Stärke. Die kulturelle Deutung der aktuellen Krisenphänomene tritt zu Beginn von Kapitel II besonders deutlich zu Tage. Der entsprechenden Ziffer 21 kommt m. E. eine besondere Bedeutung zu; sie fungiert als Scharnier zwischen dem Rückblick auf ,Populorum Progressio‘ und dem Inhalt von Kapitel II, der Beschreibung heutiger Entwicklungsprobleme (CIV 22 – 33). Unter Bezugnahme auf die Hoffnungen Papst Pauls VI. bezüglich Wachstum und globaler wirtschaftlicher Integration sowie seiner Warnungen vor einem verkürzten Verständnis menschlicher Entwicklung wird hier festgestellt, das bisherige Entwicklungsmodell, das durchaus Milliarden von Menschen die Überwindung von Elend ermöglicht habe, weise tiefgreifende Strukturprobleme auf. Offenbar mit Blick auf die globale Finanzkrise11 heißt es, nun werde deutlich, „dass die Befürchtungen der Kirche bezüglich der Fähigkeiten des rein technisch orientierten Menschen, sich realistische Ziele zu setzen und die zur Verfügung stehenden Mittel in angemessener Weise zu handhaben, begründet waren“. Darüber hinaus lasse die „augenblickliche Krisensituation“ die Probleme des Entwicklungsmodells noch deutlicher zutage treten; sie stelle „uns unaufschiebbar vor Entschei9

Drobinski. Roos, S. 3. 11 Das lässt vor allem die Bemerkung zum gewinnorientierten Wirtschaften vermuten.

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dungen, die zunehmend die Bestimmung des Menschen selbst betreffen“. Realwirtschaftliche Schäden schlechter Finanzspekulationen, Migrationsströme, unkontrollierte Ausbeutung von Ressourcen usw. – mit diesen Stichpunkten wird „das Szenario einer Welt“ heraufbeschworen, „die einer tief greifenden kulturellen Erneuerung und der Wiederentdeckung von Grundwerten bedarf, auf denen eine bessere Zukunft aufzubauen ist“. Im gleichen Duktus wird dann gegen Ende des Kapitels „eine tiefgreifende und weitblickende Revision des Entwicklungsmodells“ (CIV 32) gefordert. „Tatsächlich ist dies ein Erfordernis der ökologischen Gesundheit des Planeten; und vor allem ist es eine Notwendigkeit, die sich aus der kulturellen und moralischen Krise des Menschen ergibt, deren Symptome seit langem in aller Welt sichtbar sind“ (CIV 32). 2. Religiöse Krise Die kulturelle Krise wird in ,Caritas in Veritate‘ darauf zurückgeführt, dass sich die Menschen von Gott abgekehrt haben und dass sie die transzendente Dimension der menschlichen Person und damit auch einer ganzheitlichen menschlichen Entwicklung leugnen. Wenn Menschen ohne Transzendenzbezug leben wollen, wenn sie persönliche Entfaltung oder gesellschaftlichen Fortschritt ohne Gott anzielen, Entwicklung aus sich selbst schaffen statt sich von Gott schenken lassen zu wollen (CIV 79, vgl. CIV 8, 18), dann prognostiziert Benedikt XVI. in seiner theologischen Anthropologie die zwangsläufige Degeneration zu einer von zwei extremen Lebenseinstellungen:12 entweder Resignation, Entwicklungsverweigerung (CIV 11) und Fatalismus, der z. B. auch die Globalisierung als einen unveränderlichen, nach feststehenden Gesetzmäßigkeiten ablaufenden Prozess und nicht als menschlich zu gestaltende Entwicklung begreift (CIV 42), oder blindes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Selbstüberschätzung und „Anmaßung der Selbst-Erlösung“ (CIV 11; vgl. CIV 17, 34, 68 u.ö.). Dabei konzentriert sich Papst Benedikts Krisendiagnose auf die Selbstüberschätzung des Menschen, die sich u. a. in der – für die Neuzeit charakteristischen13 – trügerischen Hoffnung auf Fortschritt, auf die Verwirklichung einer gerechten Gesellschaft aus eigener Kraft zeige. In dieser Haltung und in diesem Selbstverständnis sieht er die Ursache für so viele gegenwärtige Tendenzen, die er als „entmenschlichte Entwicklung“ (CIV 11) deutet. In den Passagen zu diesem Thema ist zu spüren, dass hier das Herzblut Benedikts XVI. fließt: „Die Entwicklung des Menschen verkommt, wenn er sich anmaßt, sein eigener und einziger Hervorbringer zu sein. Ähnlich gerät die Entwicklung der Völker aus den Bahnen, wenn die Menschheit meint, sich wiedererschaffen zu kön12 Vgl. auch SPS 35: „der tägliche Einsatz für das Weitergehen des eigenen Lebens und für die Zukunft des Ganzen ermüdet oder schlägt in Fanatismus um, wenn uns nicht das Licht jener großen Hoffnung leuchtet, die auch durch Misserfolge im kleinen und durch das Scheitern geschichtlicher Abläufe nicht aufgehoben werden kann“. 13 Vgl. SPS 17, 42 sowie Einstieg in SPS 44; Ratzinger (2005), S. 23.

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nen, wenn sie sich der „Wunder“ der Technik bedient. So wie sich die wirtschaftliche Entwicklung als trügerisch und schädlich herausstellt, wenn sie sich den „Wundern“ der Finanzwelt anvertraut, um ein unnatürliches und konsumorientiertes Wachstum zu unterstützen. Gegenüber dieser prometheischen Anmaßung müssen wir die Liebe zu einer Freiheit stärken, die nicht willkürlich ist, sondern durch die Anerkennung des ihr vorausgehenden Guten menschlicher geworden ist. Dazu muss der Mensch wieder zu sich kommen, um die Grundnormen des natürlichen Sittengesetzes zu erkennen, das Gott ihm ins Herz geschrieben hat“ (CIV 68; vgl. auch CIV 11, 17). In dem eindrücklichen Zitat wird das düstere Bild bereits recht deutlich, das ,Caritas in Veritate‘ von dem sündigen (CIV 34), sich Gott verschließenden und allein auf sich selbst vertrauenden Menschen zeichnet. Dazu sollen jedoch noch zwei wichtige Motive eigens herausgestellt werden. Erstens sieht Papst Benedikt mit der Leugnung der Transzendenz auch das Bewusstsein für die Grenzen der Freiheit schwinden (CIV 68). Wenn die Wirklichkeit „ganz zur Verfügung“ (CIV 17) zu stehen scheint, dann steigt die Gefahr, dass Mitmenschen unterdrückt und selbst „zu einem Mittel der Entwicklung herabgewürdigt“ (CIV 17) werden, dann wird das menschliche Leben selbst manipuliert (CIV 75). Das Bewusstsein für jenes „moralische Bezugssystem“ (CIV 45) geht verloren, das – so ist die Enzyklika offenbar zu deuten – über die „Würde der menschlichen Person“ hinaus auch noch andere unbedingte, überzeitlich gültige Pflichten enthält (vgl. CIV 45), welche der „Grammatik“ (CIV 48) der Schöpfung, dem „Buch der Natur“ (CIV 51), zu entnehmen sind.14 Zweitens wird in ,Caritas in Veritate‘ in verschiedenen Schattierungen ausgemalt, dass der allein auf die eigenen Fähigkeiten vertrauende Mensch die Tendenz habe, sich auf technische Lösungen zu beschränken. Dem „rein technisch orientierten Menschen“ gelingt es nicht, „sich realistische Ziele zu setzen und die zur Verfügung stehenden Mittel in angemessener Weise zu handhaben“ (CIV 21). Er treibt die Optimierung der Mittel immer weiter und verliert darüber die Frage nach den Zielen ganz aus den Augen (CIV 70); er verwechselt Ziele und Mittel: „der Unternehmer wird als einziges Kriterium für sein Handeln den höchsten Gewinn der Produktion ansehen; der Politiker die Festigung der Macht; der Wissenschaftler das Ergebnis seiner Entdeckungen. So geschieht es, dass oft unter dem Netz der Wirtschafts-, Finanz- oder politischen Beziehungen Unverständnis, Unbehagen und Ungerechtigkeiten weiterbestehen“ (CIV 71). Mit seiner Kritik an der „Verabsolutierung der Technik“ (CIV 71) warnt Benedikt XVI. vor allem vor zwei Entwicklungen:15 einerseits vor der Biotechnologie und den immer umfassenderen technischen Eingriffsmöglichkeiten am Anfang und Ende des Lebens (CIV 74 f.), andererseits vor einer – vermeintlichen – Tendenz, „die Entwicklung der Völker (…) als eine rein technische Frage“ (CIV 71) zu sehen. Bei letzterem geht es um ein „übertriebenes Vertrauen“ (CIV 11) in die Wahl der richtigen Institutionen, also z. B. in das Etablieren von 14

Vgl. Kruip, S. 96 – 98. Wie in der Einleitung bereits erwähnt, wird der Begriff „technisch“ in ,Caritas in Veritate‘ äquivok verwendet. 15

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Märkten und die geschickte politische Gestaltung von Rahmenbedingungen. Damit gerate die Freiheit der Menschen aus dem Blick; es werde vergessen, dass Entwicklung ohne die „freie und solidarische Übernahme von Verantwortung“ (CIV 11; vgl. CIV 34, 71) und ohne Nächstenliebe (d. h. ohne unentgeltliches Tun des Guten über das in Institutionen Geschuldete hinaus; CIV 6, 11, 19, 34, 38 f.) nicht gelingen kann. 3. Überwindung der Krise Die von Papst Benedikt avisierte Lösung dieser tiefgreifenden Krise wird bereits in den ersten Worten der Enzyklika ausgesagt: ,Caritas in Veritate‘. Die Bedeutung dieser Formel kann man in drei Schritten entfalten. Gemäß der Enzyklika kann die Krise erstens nur mit Nächstenliebe überwunden werden. Aus Nächstenliebe setzen sich Menschen für das Gemeinwohl, insbesondere für gerechtere Institutionen und ein friedliches Zusammenleben ein (CIV 1, 6, 78). Aus Nächstenliebe tun Menschen Gutes, übernehmen sie Verantwortung, tragen sie zum Gemeinwesen bei – ohne eine Gegenleistung zu erwarten (CIV 34, 71). Aus Nächstenliebe knüpfen Menschen ein auf freiwilliger Gegenseitigkeit beruhendes Beziehungsnetz,16 ohne das andere Formen der Interaktion, auch das auf Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung beruhende Markthandeln, nicht möglich wäre (CIV 35 – 37). Die Stärkung solcher Beziehungsnetze im Bereich der wirtschaftlichen Leistungserstellung führt auch – so die Hoffnung in ,Caritas in Veritate‘ – zur Überwindung der ausschließlichen Orientierung am Gewinn und damit zu einer ethischen Transformation der Wirtschaft (CIV 37 – 40, CIV 45 – 47). Zweitens betont Benedikt XVI., dass die Liebe nur dann die Krise überwinden kann, wenn sie durch die Wahrheit der Vernunft und des christlichen Glaubens gelenkt wird (CIV 2, 3).17 Dabei geht es offenbar vor allem um eine ethische Wahrheit – die zu respektierende Personenwürde, zu beachtende Normen (vgl. CIV 45) und zu realisierende Werte (CIV 4) –, deren unbedingte Verpflichtungskraft er gegen jeden Relativismus verteidigt. Mit Blick auf die notwendige Revision des Entwicklungsmodells beinhaltet diese ethische Wahrheit darüber hinaus auch die zentrale Botschaft von ,Populorum Progressio‘. „Die Wahrheit der Entwicklung besteht in ihrer Ganzheit: Wenn die Entwicklung nicht den ganzen Menschen und jeden Men16

In Stefan Zamagnis Wirtschaftsphilosophie bedarf es zur Entstehung von Beziehungen der Reziprozität zwar des Austauschs von Gaben und damit auch einer ersten Gabe. Aber Reziprozität als Prinzip eines Beziehungsnetzes, in dem jeder in der Erwartung gibt, dass alle anderen auch irgendeinem Beteiligten geben werden, wird deutlich von Altruismus als Geben ohne Erwartung irgendeiner Gegengabe unterschieden (vgl. Bruni/Zamagni, S. 166 – 171). Solche – für die Wirtschaftsethik nicht ganz unwichtigen – begrifflichen Differenzierungen sind in dem überschwänglichen Loblied, das ,Caritas in Veritate‘ auf die Nächstenliebe anstimmt, verlorengegangen. 17 Zu der schillernden Verwendung des Wahrheitsbegriffs in ,Caritas in Veritate‘ vgl. die Bestandsaufnahme bei Hengsbach (2010), der „mindestens acht abweichende Bedeutungsfelder“ identifiziert hat.

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schen betrifft, ist sie keine wahre Entwicklung“ (CIV 18).18 Anders als Paul VI.19 rückt Benedikt XVI. dabei sehr deutlich das erste Ziel in den Vordergrund. Er fordert vor allem, bei den Bemühungen um Entwicklung den „ganzen Menschen“ in allen seinen Dimensionen im Auge zu behalten (CIV 11, 19, 31, 77) und insbesondere den Transzendenzbezug des Menschen nicht zu verleugnen bzw. zu verdrängen oder Religion politisch zu unterdrücken (CIV 17, 29, 34, 55 f.). Solche ethischen Vorstellungen von einer ganzheitlichen Entwicklung des Menschen sind eng mit einem bestimmten Menschenbild verbunden, so dass die Wahrheit, um die ,Caritas in Veritate‘ kreist, nicht nur eine ethische, sondern auch eine anthropologische Wahrheit ist:20 Der Mensch ist auf Gott hin ausgerichtet, er verdankt sich Gott, sein Menschsein gelingt ihm nicht im „Sich-in-sich-selbst-Verschließen“ (CIV 34), sondern nur, wenn er sich auf sein Verdankt-Sein einlässt, wenn er Gottes Liebe annimmt und selbst „wahrhaft zu lieben“ (CIV 1) versucht (vgl. u. a. CIV 19, 34, 78).21 Schließlich hat die Wahrheit, welche die Liebe lenken soll, in der Enzyklika auch noch eine ontologische Komponente, insofern nur derjenige ethisch handelt, der auch die „Ordnungen“ (CIV 48) respektiert, die der Schöpfung innewohnen (vgl. CIV 45, 51). Drittens ist in der Enzyklika für die „vorgeschlagene“ Lösung der Krise durch „Liebe in der Wahrheit“ der christliche Glaube notwendig. Nach der bisherigen Darstellung der Kernbotschaft ist es wenig überraschend, dass in ,Caritas in Veritate‘ ein Gottesglaube bzw. ein expliziter Transzendenzbezug für die richtige Entwicklung notwendig ist; schließlich kann für Benedikt XVI. nur der Glaube den Menschen sowohl vor Fatalismus und Resignation als auch vor dem prometheischen Versuch bewahren, sich aus eigener Kraft selbst zu erlösen. Mehr noch, in dieser Sicht „stellen die ideologische Verschlossenheit gegenüber Gott und der Atheismus der Gleichgültigkeit, die den Schöpfer vergessen und Gefahr laufen, auch die menschlichen Werte 18

Vgl. CIV 21, 55, 77 sowie ,Populorum Progressio‘ [PP] 14, 42. Paul VI. suchte in PP die beiden Forderungen, „den ganzen Menschen“ zu berücksichtigen und „jeden Menschen“ einzubeziehen, in der Balance zu halten. 20 M.E. ist die Wahrheit, um die ,Caritas in Veritate‘ kreist, vorrangig nicht – wie Kruip, S. 102 f. annimmt – die Wahrheit über Gott. Trotzdem kritisiert er völlig zu Recht „die fehlende Differenzierung zwischen theologischen und moralischen Geltungsansprüchen“ (ebd., S. 104). Diese ist m. E. in einem Konzept theologischer Ethik begründet, das – im Unterschied zum scholastischen Naturrecht – kein Interesse an einer von der Annahme des christlichen Glaubens unabhängigen Ethik erkennen lässt, geschweige denn Instrumente enthält, mit denen man sich an der Suche nach einem begründeten Konsens in moralischen Fragen zwischen Menschen verschiedener Weltanschauungen, Kulturen und religiösen Überzeugungen beteiligen könnte. Wie bei solchen Voraussetzungen der „Dialog zwischen Glaube und Vernunft“ gelingen und „das Werk der sozialen Nächstenliebe wirksamer machen“ (CIV 57) kann, bleibt unklar. 21 Gerade bei der anthropologischen Seite der Wahrheit, welche die Liebe richtig lenken soll, drängt sich die Frage auf, welche philosophischen Aussagen hier zum Tragen kommen. Eine eigenständige philosophische Anthropologie, die in der Lage wäre nicht nur andere Religionen (vgl. CIV 56), sondern auch den eigenen, christlichen Glauben zu reinigen, ist nicht zu erkennen. 19

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zu vergessen, heute die größten Hindernisse für die Entwicklung dar. Der Humanismus, der Gott ausschließt, ist ein unmenschlicher Humanismus. Nur ein für das Absolute offener Humanismus kann uns bei der Förderung und Verwirklichung von sozialen und zivilen Lebensformen – im Bereich der Strukturen, der Einrichtungen, der Kultur, des Ethos – leiten, indem er uns vor der Gefahr bewahrt, zu Gefangenen von Moden des Augenblicks zu werden“ (CIV 78). Aber letztlich ist es nicht nur irgendein Gottesglaube, sondern der christliche Glaube, der für Papst Benedikt für eine wirkliche Entwicklung notwendig ist. Und damit ist dann nicht nur gemeint, dass die Christen und ihre Kirche einen unverzichtbaren Beitrag zur Entwicklung leisten (CIV 18, 51, 79). Vielmehr ist die christliche Verkündigung „der erste und hauptsächliche Entwicklungsfaktor“ (CIV 8, vgl. CIV 1) und bei beiden Aspekten der von Benedikt XVI. angezielten Überwindung der Krisen – also sowohl bei der Liebe als auch bei der Wahrheit – ist der Glaube für eine „echte ganzheitliche Entwicklung“ (CIV 4) unerlässlich; denn einerseits sei die universale brüderliche Gemeinschaft, ohne die der globale Integrationsprozess bzw. das ihm entsprechende Entwicklungsmodell nicht auf den richtigen Weg gebracht werden kann, letztlich nur möglich in der gläubigen Antwort auf die liebende Offenbarung Gottes (CIV 19, 34), und andererseits sei „die Zustimmung zu den Werten des Christentums ein nicht nur nützliches, sondern unverzichtbares Element für den Aufbau einer guten Gesellschaft und einer echten ganzheitlichen Entwicklung des Menschen“ (CIV 4).22 II. Ein Rückschritt der Sozialverkündigung Nachdem ich versucht habe, die Kernbotschaft der neuen Sozialenzyklika zu ermitteln, stellt sich die Frage, wie sich das so konturierte Dokument in die Geschichte der Sozialverkündigung einordnet. Dass die an der Erarbeitung der Enzyklika Beteiligten nicht die Absicht hatten, einen Text vorzulegen, der ganz in der Linie der letzten Sozialenzykliken liegt, zeigt die Äußerung des – an der Erarbeitung des Textes offenbar beteiligten – deutschen Kurienkardinals Dr. Paul Josef Cordes, ,Caritas in Veritate‘ stelle „die überkommene katholische Soziallehre vom Kopf auf die Füße des Glaubens“23. Im Folgenden möchte ich anhand zweier Beispiele herausarbeiten, wie der – offenbar bewusste – Bruch mit der eigenen Geschichte in ,Caritas in Veritate‘ zu Rückschritten gegenüber dem in den letzten fünf Jahrzehnten ausgebildeten

22 Vgl. auch CIV 5, in der es offenbar von der „Wahrheit der Liebe Christi in der Gesellschaft“, deren Verkündigung die Soziallehre der Kirche sei, heißt: „Für die Entwicklung, den gesellschaftlichen Wohlstand und eine angemessene Lösung der schweren sozioökonomischen Probleme, welche die Menschheit plagen, ist diese Wahrheit notwendig.“ Und in CIV 9 heißt es: „Nur mit der vom Licht der Vernunft und des Glaubens erleuchteten Liebe ist es möglich, Entwicklungsziele zu erreichen, die einen menschlicheren und vermenschlichenderen Wert besitzen.“ 23 Als wörtliches Zitat gekennzeichnete Äußerung Kardinal Dr. Cordes’ in Bremer.

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Profil der universalkirchlichen Sozialverkündigung geführt hat.24 Die beiden Aspekte sind zum einen die geringe Ausprägung und zugleich Abwertung der Institutionenethik in der Enzyklika [2.] und zum anderen das in ihr greifbare Selbstverständnis der Kirche als einer Festung der Wahrheit in feindlicher Umwelt [3.]. Damit diese Besonderheiten von ,Caritas in Veritate‘ als Rückschritte verständlich werden, muss ich aber zuerst die beiden bisherigen Phasen der universalkirchlichen Sozialverkündigung skizzieren [1.]. 1. Zwei Phasen der Römischen Sozialverkündigung Unter den Begriff „Sozialverkündigung“ werden hier alle Texte subsumiert, mit denen sich Amtsträger und Gremien der Kirche sowie Vertreterinnen und Vertreter kirchlicher Organisationen zu gesellschaftlichen und internationalen Herausforderungen zu Wort melden. Der Begriff „Römische Sozialverkündigung“ steht für die thematisch einschlägigen Äußerungen auf der Ebene der römisch-katholischen Universalkirche. Anders als der verbreitete Ausdruck „Päpstliche Sozialverkündigung“ umfasst er nicht nur Sozialenzykliken und die anderen päpstlichen Verlautbarungen zu diesen Themenbereichen, sondern auch die entsprechenden Beiträge von Konzilien und allgemeinen Bischofssynoden25 sowie anderer römisch-katholischer Einrichtungen und Organisationen der universalkirchlichen Ebene (z. B. des Päpstlichen Rates ,Justitia et Pax‘). Trotz der in den Dokumenten selbst verbreiteten Kohärenzund Kontinuitätsbehauptungen26 heben sich in der Geschichte der Römischen Sozialverkündigung recht deutlich zwei Phasen voneinander ab.27

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Auch Kruip, S. 87 spricht von einem „Bruch zur Tradition der kirchlichen Sozialverkündigung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil“ und nennt für diese Diagnose zum Teil ähnliche, zum Teil auch andere Argumente. 25 Bisher sind dies vor allem die Pastoralkonstitution ,Gaudium et Spes‘ [GS] des Zweiten Vatikanischen Konzils (1965) und das Dokument ,De Justitia in Mundo‘ [JM] der Römischen Bischofssynode (1971). 26 Bezeichnenderweise ist es dem Autor von ,Caritas in Veritate‘, der offensichtlich eine neue Form von Sozialverkündigung etablieren will, besonders wichtig, die Kohärenz der gesamten Tradition zu betonen: „Es gibt nicht zwei Typologien von Soziallehre, eine vorkonziliare und eine nachkonziliare, die sich voneinander unterscheiden, sondern eine einzige kohärente und zugleich stets neue Lehre“ (CIV 12). Allerdings heißt es auch, es sei „richtig, die Besonderheiten der einen oder der anderen Enzyklika (…) hervorzuheben (…). Kohärenz bedeutet nicht ein Einschließen in ein System, sondern vielmehr dynamische Treue zu einem empfangenen Licht.“ So wird also auch hier – wie in den einschlägigen Passagen früherer Enzykliken (z. B. ,Sollicitudo Rei Socialis‘ [SRS] 3; CA 11) – nicht grundsätzlich die Berechtigung bestritten, verschiedene Stile zu unterscheiden oder Veränderungen und Phasen herauszuarbeiten. Käme es dazu, dann wäre dies – was die Arbeit mit der Römischen Sozialverkündigung angeht – das Ende jeglichen wissenschaftlichen Anspruchs in der katholischen Sozialethik. 27 Zum Folgenden vgl. u. a. Chenu; Hengsbach (1982), S. 276 – 283; Anzenbacher, S. 151 – 154.

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In der ersten, neuscholastischen Phase, in der den beiden Enzykliken ,Rerum Novarum‘ (1891) und ,Quadragesimo Anno‘ (1931) besondere Bedeutung zukommt, argumentieren die Autoren primär philosophisch-naturrechtlich. Sie erheben den Anspruch, dass sie exakt und verlässlich nicht nur das zu allen Zeiten und in allen Kulturen gültige Wesen sozialer Gebilde – z. B. die „natura“ des Staates oder der Eigentumsordnung – erkennen, sondern auch die daraus folgenden Handlungspflichten: was zu tun ist, damit die mit der Schöpfungsordnung immer schon vorgegebene „natura“ in der Gegenwart ganz realisiert wird. Obwohl sie faktisch zumeist höchst zeitgebundene und nicht selten bereits überholte Ordnungsvorstellungen präsentierten28, erweckten die beiden Enzykliken und die päpstlichen Verlautbarungen dieser Phase den Eindruck, in ihnen werde aus abstrakten Prinzipien ein System von Aussagen deduziert. Dieses sei nicht nur unwiderlegbar vernünftig, sondern zugleich auch das – mit höchster päpstlicher Autorität verkündete – christliche Modell zur Gestaltung der Gesellschaft.29 Dabei wurden die eigenen Aussagen in scharfer Absetzung von liberalen und sozialistischen Vorstellungen vorgestellt und die katholische Kirche in einem einfachen Innen-Außen/Gut-Schlecht-Schema als das Bollwerk der Wahrheit gegen alle ideologischen Verirrungen in Szene gesetzt. Letztlich sollte „die Welt“ daran „genesen“, dass das christliche und einzig vernünftige Gesellschaftsmodell politisch durchgesetzt wird und sich im alltäglichen Leben, vor allem im Verhältnis zwischen Arbeitern und Unternehmern, christliche Tugenden ausbreiten.30 Die zweite, anthropologische Phase beginnt mit Papst Johannes XXIII. und dem Zweiten Vatikanischen Konzil.31 Zentral ist die Wende zum Subjekt, d. h. im Bereich der Sozialethik: weg von der überzeitlich gültigen Schöpfungsordnung, hin zur Personenwürde und zu den Menschenrechten. Mit ihren Sozialenzykliken wenden sich die Päpste nun an „alle Menschen guten Willens“32. Die Autoren legen das einfache Innen-Außen/Gut-Schlecht-Schema der ersten Phase ab und betrachten außerkirchliche Gruppen und Organisationen nicht zuerst als zu bekämpfende Gegner, sondern als Dialog- und potentielle Kooperationspartner. Statt unumstößliche Wahrheiten zu deduzieren und diese gegen ideologische Positionen aller Art abzugrenzen, versuchen sie eher orientierende Einsichten induktiv, im Hören auf die „Situation und die Wertdynamik“33 ihrer Gegenwart, zu erschließen. Bemühungen der Zeitgenossen, die Lage der Menschen zu verbessern, werden dann als „Zeichen der Zeit“ be28 So die Kritiken von Chenu, S. 89, 93 f. und Ratzinger (1964), S. 27 – 29, die hier ausnahmsweise einmal gleichgerichtet sind. 29 Chenu, S. 75, 93 f. 30 Vgl. ,Rerum Novarum‘ [RN] 13 – 24, 43 f sowie ,Quadragesimo Anno‘ [QA] 41 – 43, 76 f., 96 f., 127 – 147. 31 Wichtige Texte sind ,Mater et Magistra‘ (1961), ,Pacem in Terris‘ [PT] (1965), GS (1965), PP (1967), ,Octogesima Adveniens‘ (1971), JM (1971), ,Laborem Exercens‘ (1981), SRS (1988) und CA (1991). 32 So erstmals PT. 33 Hengsbach (1982), S. 278.

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griffen, die einerseits im Lichte des Evangeliums zu deuten sind, andererseits ein neues, dem „Heute“ angemessenes Verständnis des Evangeliums ermöglichen. Zum Teil entsteht so das beeindruckende Bild einer Kirche, die mit den Menschen, vor allem mit den Armen und Benachteiligten, unterwegs ist, ihre Nöte teilt und allen Menschen guten Willens ihre Mitarbeit anbietet um zu helfen, dass soziale oder internationale Probleme durch Bekehrung der Herzen und Beseitigung ihrer strukturellen Ursachen überwunden werden können. 2. Geringe Ausprägung und explizite Abwertung der Institutionenethik Auffällig ist, wie stark Benedikt XVI. in ,Caritas in Veritate‘ die Individualethik in den Vordergrund rückt.34 Das hängt auch mit dem Hauptmotiv der Enzyklika zusammen, der Liebe, die ja in Verbindung mit der Wahrheit die Überwindung der vielen Krisenphänomene ermöglichen soll. Abgesehen von kurzen Passagen in der Einleitung und im Schluss legt ,Caritas in Veritate‘ die Liebe kaum als engagiertes Eintreten für gerechte Strukturen aus; das in diesem Zusammenhang eigentlich naheliegende Konzept der Option für die Armen35 greift Benedikt XVI. gar nicht auf. In den Vordergrund rückt er stattdessen die Unentgeltlichkeit, den Geschenkcharakter der Liebe, und ihr Hinausgehen über das, was Menschen sich in Institutionen wechselseitig schulden (u. a. CIV 6, 34, 36 – 39, 79), also letztlich das, was die Liebe – zumindest im landläufigen Verständnis – von der Gerechtigkeit abhebt. Vor allem aufgrund dieser Zuspitzung des Liebe-Motivs bietet die in der Enzyklika dominante Argumentationsform, „die gemäß der Grundformel ,Liebe in der Wahrheit‘ zwischen Dogmatik und Tugendethos oszilliert“36, keine Anknüpfungspunkte für institutionenethische Reflexionen. Die individualethische Schieflage der Enzyklika zeigt sich auch darin, dass die Klage über Verantwortungslosigkeit und der Appell, Verantwortung zu übernehmen, ständig wiederholt werden.37 Hinzu kommen Ermahnungen zu bestimmten Einstellungen und Haltungen, die der Liebe in der Wahrheit entsprechen. Während sich solche individualethischen Textabschnitte in ,Caritas in Veritate‘ häufen, sind nur selten kurze Passagen zu finden, in denen für ein Problem strukturelle Ursachen oder politische Maßnahmen, die zu seiner Beseitigung führen könnten, benannt werden.38 Wie wenig die institutionenethische Argumentationsform ausgeprägt ist, zeigt sich besonders deutlich in den Abschnitten, in denen es um Unrecht im Bereich der Wirt34

Vgl. Heimbach-Steins; Kruip, S. 98 – 102; Sutor, S. 327 – 330; Hengsbach (2010). Vgl. SRS 42; CA 11, 57. 36 Heimbach-Steins, S. 62. 37 Vgl. CIV 11, 17, 21, 27, 33, 36, 40 – 43, 45, 47 – 50, 57, 65 f., 70, 74. Zum Begriff „Verantwortung“ in der Enzyklika vgl. Hengsbach (2010). 38 Einsprengsel mit Aussagen zu den Ursachen sozialer, ökonomischer oder ökologischer Problemlagen habe ich in CIV 25, 32 f., 40, 49, 58, 63 und 65 entdeckt; mehr oder minder deutliche Politikvorschläge zu solchen Herausforderungen in CIV 27, 32, 41, 49, 60, 63, 67. 35

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schaft geht. Wenn es in Ziffer 36 heißt „Der Markt ist an sich nicht ein Ort der Unterdrückung des Armen durch den Reichen und darf daher auch nicht dazu werden“, dann folgt auf diesen Gedanken nicht etwa die – sonst in der Römischen Sozialverkündigung allgemein verbreitete39 – Forderung nach gerechten gesetzlichen Regelungen (z. B. für die Erwerbsarbeit), sondern der Hinweis darauf, dass auch in der Wirtschaft „wahrhaft menschliche Beziehungen in Freundschaft und Gemeinschaft, Solidarität und Gegenseitigkeit“ möglich seien.40 Auch die Finanzkrise führt Benedikt XVI. nicht zuerst auf riskante Finanzprodukte zurück oder auf die mit dem Finanzmarktkapitalismus strukturell vorgegebenen Renditeziele, welche die Banken in die übermäßige Akkumulation von Risiken trieben, sondern auf die ausschließliche Orientierung vieler Banker am Gewinn und darauf, dass sie – offenbar aus dieser inneren Haltung heraus – die hoch entwickelten Finanzinstrumente missbraucht hätten (CIV 65, vgl. CIV 21, 36).41 Wichtiger noch als die starke Gewichtung tugendethischer Aussagen ist die völlig untergeordnete Rolle institutionenethischer Überlegungen, die offenbar auf eine bewusste Entscheidung des Autors zurückgeht. Letzteres legen die beiden Passagen nahe (CIV 11, 71), in denen die Bemühungen, Entwicklung durch institutionelle Reformen voranzutreiben, kritisiert werden: Sie spiegelten ein trügerisches Vertrauen in Automatismen der Entwicklung wider, weil sie das Moment der Übernahme individueller Verantwortung in den Hintergrund drängten. Abgesehen davon, dass die Enzyklika nicht zugleich auch vor der gegenläufigen Gefahr einer Individualisierung und Moralisierung struktureller Probleme warnt,42 stellt sich die Frage, auf welche Befürworter institutioneller Reformen dieser pauschale Vorwurf denn zutrifft. Zu39 Wenn in CIV 36 „die Transparenz, die Ehrlichkeit und die Verantwortung“ als „die traditionellen sozialethischen Prinzipien“ bezeichnet werden, legt sich sogar die Frage nahe, ob die Ghostwriter des Papstes wirklich alle mit den Traditionen der Sozialverkündigung und der mit ihr verbundenen Sozialethik vertraut waren. 40 Auch in CIV 35 wird das Thema „Gerechtigkeit in der Wirtschaft“ primär von dem die Markt-Interaktionen umfassenden Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen, von Handlungsweisen der einzelnen und dem damit aufzubauenden Vertrauen her angegangen. Eine institutionenethische Perspektive ergibt sich in diesem Zusammenhang dadurch, dass der Autor zur Förderung solcher menschlicher Beziehungen in der Wirtschaft auf die Ausbreitung alternativer Betriebs- und Unternehmensformen setzt (CIV 38 f., 46). Allerdings fehlt auch hier jeder Hinweis auf den Bedarf einer Förderung dieser Formen des Wirtschaftens durch speziell für sie günstige Rahmenbedingungen, welche die Regierungen setzen müssten. 41 Es entspricht der zentralen Botschaft der Enzyklika, dass die individualethischen Überlegungen manchmal unter der Hand zu spirituellen Aussagen werden, bei denen z. T. alles Weltliche oder Materielle abgewertet wird. Z.B. wird behauptet, die zentrale Ursache von Unterentwicklung sei nicht etwa materieller Art, sondern das Fehlen einer brüderlichen Gesinnung (ähnlich PP 66, wo es allerdings allgemein um das Kranksein der Welt geht), wobei Brüderlichkeit „ihren Ursprung in der transzendenten Berufung durch Gott, den Vater“ (CIV 19, vgl. CIV 34) habe. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Einstieg in Kapitel V (die ersten drei Sätze von CIV 53), der Einsamkeit zu einer „der schlimmsten Arten von Armut“ erklärt und auch „die anderen Arten der Armut, einschließlich der materiellen“ darauf zurückführen möchte. 42 Vgl. Kruip, S. 99.

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mindest in demokratischen Gesellschaften dürfte es vielen, wenn nicht den meisten gerade darum gehen, die reale Freiheit der Menschen zu erhöhen,43 m.a.W.: die individuellen Möglichkeiten, Verantwortung zu übernehmen, zu erweitern! Wenn – wie in ,Caritas in Veritate‘ – die institutionenethischen Überlegungen in den Hintergrund treten, dann ist dies in der ethischen Reflexion gesellschaftlicher und internationaler Herausforderungen von Nachteil. Wer solche Makro-Problemlagen primär dadurch zu lösen sucht, dass er die einzelnen bei ihren alltäglichen Interaktionen in den Institutionen zu Verhaltensänderungen auffordert, übersieht, dass solches Handeln weithin die Regeln dieser Institutionen reproduzieren muss. Zwar können die Interagierende in ihrem alltäglichen Handeln diese Regeln variieren; aber das ist nur dann von Dauer, wenn viele von ihnen die impliziten Regeln in der gleichen Weise verändern. Da dies selten gelingt, sind Bemühungen, das alltägliche Handeln vieler Individuen zu verändern, im Allgemeinen nur dann aussichtsreich, wenn – durch andere Handlungen als die alltäglichen institutionsinternen Interaktionen, häufig eben durch politische Maßnahmen – zugleich auch die expliziten Regeln der Institutionen verändert werden. Änderungen des Handelns der Individuen werden dann durch die veränderten institutionellen Regelungen unterstützt. Wer dies übersieht und ausschließlich oder weitgehend auf individuelle Verhaltensänderungen setzt, überfordert mit seinen individualethischen Appellen die angesprochenen Personen. Die starke Betonung individualethischer Überlegungen in ,Caritas in Veritate‘ und die geringe Bedeutung, welche die Enzyklika politischen Veränderungen von Institutionen zumisst, wären allerdings dann nicht als Rückschritt in der Entwicklung der Römischen Sozialverkündigung zu werten, wenn auch die (meisten der) vorhergehenden Dokumente die gleiche Einseitigkeit aufwiesen. In dieser Richtung weist Bernhard Sutor in seinem Beitrag „Tugend- oder Institutionenethik?“. Darin wirft er zwar ,Caritas in Veritate‘ vor, dass sie in den „vielen Aussagen zu Einzelproblemen, vor allem zu ihrer politisch-institutionellen Seite (…) blaß bleibt“44. Aber zugleich entdeckt er in allen lehramtlichen Dokumenten einen „Primat der christlichsittlichen Erneuerung vor äußeren Reformen“45. Außerdem notiert er seinen „Eindruck“, dass „die offizielle Sozialverkündigung“ nach ,Quadragesimo Anno‘ „ihre theologisch-moralischen Grundlagen immer stärker betonte, mit Vorschlägen und Forderungen zu sozialen und politischen Ordnungsfragen aber immer zurückhaltender wurde“46. Auch wenn sich in den jüngeren Dokumenten der Römischen Sozialverkündigung einzelne Aussagen finden, in denen die Bedeutung der „Gesinnungs-

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Der derzeit wichtigste säkulare Ansatz einer Entwicklungsethik, Amartya Sens Capibility-Approach, der im Übrigen auch primär nach der Verbesserung gesellschaftlicher Strukturen fragt, definiert Entwicklung gar als (Erweiterung von) Freiheit. 44 Sutor, S. 330. 45 Sutor, S. 330. 46 Sutor, S. 331. Dabei nimmt Sutor ausdrücklich PT aus.

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reform“ besonders hervorgehoben wird,47 sehe ich – was die schwache Gewichtung und explizite Abwertung der Institutionenethik angeht – in ,Caritas in Veritate‘ einen deutlichen Rückschritt hinter die Sozialverkündigung der zweiten Phase. Obwohl die historische Bedeutung von ,Rerum Novarum‘ gerade darin liegt, dass Papst Leo XIII. darin staatliches Eingreifen zur Lösung der Arbeiterfrage befürwortet, spielt im Gesamtduktus der Enzyklika die „Gesinnungsreform“ eine wesentlich wichtigere Rolle als die „Zuständereform“. Das zeigt sich z. B. quantitativ, also im Verhältnis zwischen den ausschließlich auf die christliche Gesinnung zielenden Textpassagen und denen, die den Staat zu bestimmten Maßnahmen auffordern. Seit ,Quadragesimo Anno‘ jedoch nahmen in keinem Dokument der Römischen Sozialverkündigung die rein individualethischen Erwägungen mehr Raum ein als jene Aussagen, in denen es um Institutionen und deren Ausgestaltung geht. Das bedeutet nicht, dass die Reflexionen der römischen Dokumente über politische Herausforderungen bzw. über die Gestaltung gesellschaftlicher oder internationaler Institutionen mehrheitlich beeindruckend wären. Zwar wird in ,Sollicitudo Rei Socialis‘ und ,Centesimus Annus‘, den beiden letzten Sozialenzykliken, das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Einstellungen in dem Konzept „Strukturen der Sünde“ – das ,Caritas in Veritate‘ ebenfalls meidet – eigens theologisch bedacht.48 Aber dann, wenn die Dokumente überhaupt ursachenanalytische Aussagen enthalten, beschränken sich die Autoren zumeist darauf, einzelne Problemursachen kurz zu benennen. Häufig changieren die Reflexionen politischen Herausforderungen zwischen individuellen und strukturellen49 Aussagen. Immerhin finden sich in den Texten zahlreiche Passagen, in denen die Autoren Mängel von Institutionen oder den Bedarf institutioneller Veränderungen identifizieren. In einigen wenigen Dokumenten gibt es auch längere Passagen, in denen ausführlich eine bestimmte Institution ethisch reflektiert wird, in ,Quadragesimo Anno‘ z. B. die Höhe des Lohns im Arbeitsvertrag (QA 63 – 75) und in ,Populorum Progressio‘ die Regeln des Güterhandels (PP 56 – 65). Der erwähnten Einschränkungen zum Trotz ist für die meisten Dokumente der Römischen Sozialverkündigung ein institutionenethischer Impetus unverkennbar. Die Päpste und gesamtkirchliche Bischofsversammlungen lassen zumeist deutlich erkennen, dass sie sich durch konkrete soziale oder politische Missstände gedrängt sehen, das Wort zu ergreifen. Ihnen lassen Armut, wirtschaftliche Not oder konkrete politische Konflikte keine Ruhe. Leo XIII. z. B. geht es in ,Rerum Novarum‘ um die 47 Kurz sei vermerkt, dass JM explizit die herausragende Bedeutung des Einsatzes für Gerechtigkeit für das Handeln der Kirche betont. 48 SRS 36 – 40; CA 38. Vgl. auch die Rede von gesellschaftlichen Mechanismen, die von (einem Teil der) Menschen im eigenen Interesse gelenkt werden und zugleich menschliches Handeln lenken: SRS 16 f., 35, 40; CA 13. 49 Sutors, S. 333 f. scharfe Unterscheidung zwischen Institutionen und Strukturen, die vor allem in seinem sehr engen Strukturbegriff (Strukturen sind bei ihm offenbar nur Sozialstrukturen) begründet ist, übernehme ich nicht. Für einen weiten Strukturbegriff (Medium und Ergebnis sozialen Handelns) vgl. Giddens.

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Lösung der Arbeiterfrage, Johannes XXIII. in ,Pacem in Terris‘ um eine von den Menschenrechten bestimmte Weltordnung, Paul VI. in ,Populorum Progressio‘ und den Teilnehmern der Römischen Bischofssynode in ,De Justitia in Mundo‘ um die Überwindung des Elends in den Entwicklungsländern, Johannes Paul II. in ,Sollicitudo Rei Socialis‘ um die Verbesserung der durch den Ost-West-Konflikt blockierten Entwicklung peripherer Länder. Hier schreiben Kirchenführer, weil sie sich in grundlegenden politischen Debatten ihrer Zeit zu Wort melden wollen, weil sie davon überzeugt sind, darin etwas zu sagen zu haben. Zum Teil scheuen sich die Päpste nicht einmal, mit einer Enzyklika bei einer konkreten politischen Streitfrage, deren Entscheidung aus ihrer Sicht gerade in der Schwebe ist, das Gewicht ihres Amtes in die Waagschale zu werfen – so z. B. Paul VI. mit ,Populorum Progressio‘ beim Ringen der Entwicklungsländer um eine gerechte Weltwirtschaftsordnung oder Johannes Paul II. mit ,Laborem Exercens‘ beim Kampf der Solidarnosz gegen die kommunistische Nomenklatura. Im Vergleich zum Profil dieser Dokumente wirken die institutionenethischen Passagen der neuen Sozialenzyklika ziemlich blass. Da wird vieles angesprochen, aber keine einzige Frage der Gestaltung von Institutionen ausführlich ethisch reflektiert. Einige Themen wie die Position der Entwicklungsländer im Globalisierungsprozess oder die Bedeutung der Biotechnologie mögen stärker gewichtet sein als andere, aber an keiner Stelle spürt die Leserin oder der Leser, dass Papst Benedikt ein bestimmtes soziales oder ökonomisches Thema am Herzen läge, dass er dazu unbedingt etwas sagen möchte,50 dass es ihn drängt, hier einen bestimmten Aspekt der Thematik hervorzuheben oder einer bestimmten Gruppe von Betroffenen den Rücken zu stärken. So erhält der Text nur durch die theologisch-individualethische Kernbotschaft ein erkennbares Profil. Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass Benedikt XVI. in ,Caritas in Veritate‘ deutlich weniger Interesse an institutionenethischen Reflexionen – einschließlich struktureller Ursachenanalysen und klarer Politikvorschläge – zeigt als die Päpste und gesamtkirchlichen Bischofsversammlungen, welche die Dokumente der Römischen Sozialverkündigung zwischen ,Rerum Novarum‘ und ,Caritas in Veritate‘ veröffentlicht haben. Außerdem äußert er ausdrücklich den Wunsch, die Menschen mögen in Zukunft bei ihren Entwicklungsanstrengungen die Bemühungen um Verbesserungen von Institutionen weniger stark gewichten als bisher. Die geringe Gewichtung der Institutionenethik und ihre explizite Abwertung halte ich für einen eklatanten Rückschritt in der Geschichte der Römischen Sozialverkündigung.

50 Das ist bezeichnenderweise bei einem nicht sozio-ökonomischen Thema, der Entwicklung biotechnologischer Möglichkeiten, anders. Hier findet sich eine recht fundamental angelegte Attacke auf den „Absolutheitsanspruch der Technik“ (CIV 77).

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3. Eine theologisch abgesicherte Festung für die Wahrheit Ein zweiter, aus meiner Sicht fundamentaler Rückschritt ist die Wiederkehr des Innen-Außen/Gut-Schlecht-Schemas. In der ersten, naturrechtlichen Phase hatte die Römische Sozialverkündigung gegen den Liberalismus und Sozialismus die Katholische Kirche als Bollwerk der Wahrheit über den Menschen und die Gesellschaft profiliert und sich zur Untermauerung dieses Anspruchs vor allem philosophischer Argumente bedient. Der Durchbruch des Zweiten Vatikanums hatte – auch in Bezug auf die Sozialethik – vor allem darin bestanden, dieses ängstliche Schwarz-WeißDenken abzulegen, die positiven Bestrebungen der Menschen außerhalb der Kirche als solche anzuerkennen und diese ggf. zu unterstützen. Kein Fremdkörper, sondern Teil dieser Öffnung bzw. dieses Dialog- und Kooperationsangebots an „alle Menschen guten Willens“ war die Kritik jener individuellen Haltungen (z. B. Gier und Machtversessenheit) und jener strukturellen Schieflagen, die positive Entwicklungen der Gesellschaft und der internationalen Zusammenarbeit, insbesondere eine umfassende Verwirklichung der Menschenrechte, erschweren oder gar blockieren. In den Enzykliken Johannes Pauls II. nahmen solche „zeitkritischen“ Passagen breiteren Raum ein als in den Dokumenten des konziliaren Aufbruchs, aber die Wahrnehmung einzelner Bewegungen und politischer Bestrebungen des säkularen Raums mit Sympathie und grundsätzlicher Kooperationsbereitschaft, ihre Würdigung als Kräfte, die in die richtige, dem Evangelium gemäße Richtung ziehen, blieb auch in seinen Enzykliken erhalten. Die im ersten Kapitel ermittelte Kernbotschaft von ,Caritas in Veritate‘ lässt demgegenüber deutlich erkennen, dass Papst Benedikt in der neuen Sozialenzyklika das Innen-Außen/Gut-Schlecht-Schema der Pianischen Epoche wiederbelebt. Trotz der überraschend positiven Würdigung des Naturrechts, das ,Caritas in Veritate‘ offenbar als umfassende Schöpfungsordnung begreift,51 werden in der neuen Sozialenzyklika die Mauern der kirchlichen Wahrheitsfestung allerdings nicht mehr mit Hilfe der Philosophie, sondern der Theologie aufgeschichtet. Die Gegner, von denen man sich abgrenzt, sind nun nicht mehr die gegenläufigen Weltanschauungen des Liberalismus und Sozialismus, sondern Atheisten und religiös Gleichgültige, letztlich alle, die ihr tägliches Handeln rein weltlich verstehen. Zweifellos, in der jüngeren Römischen Sozialverkündigung wurde mehrfach herausgestellt, dass das ganzheitliche, auch die transzendente Dimension umfassende Menschenbild der Kirche einen wichtigen und spezifisch-christlichen Beitrag zur menschlichen Entwicklung darstellt.52 In ,Populorum Progressio‘, dessen 40. Jahrestag ,Caritas in Veritate‘ inspiriert hat, wird der zum Absoluten hin geöffnete Humanismus als der „wahre“ Humanismus bezeichnet und mit einem Zitat des französischen Jesuiten Henri de Lubac von dem Humanismus ohne Gott als „unmenschlicher 51 52

Vgl. Kruip, S. 96 – 98. Vgl. z. B. GS 41; CA 41, 44, 53.

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Humanismus“ (PP 42) abgegrenzt. Aber dies hindert Paul VI. nicht, in seiner Enzyklika in immer neuen Anläufen all jene säkularen Bestrebungen positiv zu würdigen, die der Entwicklung aller Dimensionen des Menschseins – nicht nur der materiellen – und der Entwicklung aller Menschen förderlich sind. In ,Caritas in Veritate‘ dagegen wird die Unterscheidung zwischen dem Handeln von Christen und dem Handeln von Menschen, die sich nicht explizit religiös verstehen, zu der zentralen Konfliktlinie stilisiert; auf sie hinzuweisen erscheint als das Hauptanliegen des Papstes. Handeln ohne Transzendenzbezug wird gegenüber dem Handeln aus „Liebe in der Wahrheit“, das – wie oben gezeigt – letztlich als Handeln aus dem christlichen Glauben zu verstehen ist, als minderwertig bezeichnet.53 Dabei wird das Handeln von Menschen, die nicht glauben, unter den Generalverdacht gestellt, ein Versuch der Selbsterlösung, eine „prometheische Anmaßung“ (CIV 68), zu sein – ausschließlich am Technischen orientiert, was zwangsläufig zu einer Verwechslung von Zielen und Mitteln führe. Auf diese Weise werden Atheismus und areligiöses Selbstverständnis gemeinsam mit Handlungsweisen und Haltungen, hinter denen man sie vermutet (z. B. ausschließlich gewinnorientiertes Wirtschaften, Eingriffe am Anfang und Ende des Lebens, übermäßiges Vertrauen in institutionelle Reformen), als Haupthindernisse einer echten Entwicklung identifiziert.54 Die teilweise scharfe Kritik der Enzyklika an denjenigen, die sich weder zum christlichen noch zu einem anderen Gottesglauben entscheiden können, dürfte an den Erfahrungen vieler Christen in säkularen Gesellschaften, in denen die weltan53 Das ist besonders auffällig, wenn es um eigentlich positiv zu würdigende Handlungsweisen geht, z. B. in CIV 7, in der dem „von der Liebe beseelt(en)“ Einsatz für das Gemeinwohl „eine höhere Wertigkeit“ zugesprochen wird als dem „nur weltliche(n), politische (n)“. Nicht weniger irritierend ist CIV 34, in der es eigentlich um die „schädlichen Auswirkungen der Sünde“ im Bereich der Wirtschaft geht, dann aber ein Einschub dafür sorgt, dass en passant auch noch soziales Engagement ohne Transzendenzbezug kritisiert wird: „Die Überzeugung, sich selbst zu genügen und in der Lage zu sein, das in der Geschichte gegenwärtige Übel allein durch das eigene Handeln überwinden zu können, hat den Menschen dazu verleitet, das Glück und das Heil in immanenten Formen des materiellen Wohlstands und des sozialen Engagements zu sehen.“ 54 Das Innen-Außen/Gut-Schlecht-Schema der Kernbotschaft scheint die Enzyklika auch da zu prägen, wo es um die frühere Einschätzung jener Entwicklungen geht, die in die Wirtschafts- und Finanzkrise führten: „Wir erkennen (…), dass die Befürchtungen der Kirche bezüglich der Fähigkeiten des rein technisch orientierten Menschen, sich realistische Ziele zu setzen und die zur Verfügung stehenden Mittel in angemessener Weise zu handhaben, begründet waren. Der Gewinn ist nützlich, wenn er in seiner Eigenschaft als Mittel einem Zweck zugeordnet ist (…). Die ausschließliche Ausrichtung auf Gewinn läuft, wenn dieser auf ungute Weise erzielt wird und sein Endzweck nicht das Allgemeinwohl ist, Gefahr, Wohlstand zu zerstören und Armut zu schaffen“ (CIV 21, hier allerdings mit „Wohlstand zu zerstören“ statt „Vermögen zu zerstören“ für „divitias destruendi“). Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland dagegen gesteht in seinem Wort „Wie ein Riss in einer hohen Mauer“ Fehleinschätzungen ein: Es „gab, auch in der weltweiten Christenheit und hierzulande, seit langem Stimmen, die auf tiefgreifende Änderungen auf den Finanzmärkten und in der Wirtschaftspolitik drängten. Aber die angenehmen und beruhigenden Botschaften wurden vorgezogen.“ Rat der EKD, S. 11 f.; vgl. auch die noch deutlichere Passage im Vorwort des damaligen Ratsvorsitzenden, Bischof Dr. Wolfgang Huber: Rat der EKD, S. 6.

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schaulichen und konfessionellen Milieus erodieren, vorbeigehen. Natürlich ist es für unseren christlichen Glauben auch heute auf die Dauer unentbehrlich, dass wir mit anderen Christen zusammen leben und tätig sind, beten und liturgisch feiern; natürlich tut es uns gut, überraschend in nicht religiös geprägten Handlungszusammenhängen religiöse Menschen kennen zu lernen. Trotzdem machen viele Christen heute die Erfahrung, dass sie nicht nur mit religiösen Menschen oder gar nur mit bekennenden Christen im Alltag gut kooperieren oder politische Projekte vorantreiben können. Aus meiner persönlichen Perspektive kann ich hinzufügen, dass zu den Menschen, deren Engagement, Warmherzigkeit und ethische Sensibilität mich beeindruckt, auch solche gehören, die sagen, dass sie nicht glauben können, oder die sich als Atheisten bezeichnen.55 Der hier herausgearbeitete zweite Rückschritt, den ,Caritas in Veritate‘ in der Geschichte der Römischen Sozialverkündigung markiert, lässt sich unter Bezugnahme auf die bekannte Titelformel von Sozialenzykliken so zusammenfassen: Zwar wendet sich Papst Benedikt mit ,Caritas in Veritate‘ wie seine Vorgänger in der zweiten, anthropologischen Phase mit ihren Sozialenzykliken nicht nur an katholische Christen, sondern an „alle Menschen guten Willens“. Aber zugleich wird – wenn die Kernbotschaft des Dokuments hier richtig ermittelt wurde – den nicht religiös orientierten Gesprächspartnern indirekt vor allem gesagt, dass sie religiös werden und am besten den christlichen Glauben annehmen sollten: Ohne Transzendenzbezug und letztlich ohne die Wahrheit des christlichen Glaubens sowie ohne die beharrliche Motivation zur Nächstenliebe, die sich aus der glaubenden Annahme der Liebe Gottes ergibt, könne es keine echten Entwicklungsfortschritte geben.56 Natürlich ist auch von wirtschaftlicher Not und Elend, von Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung oder von Umweltproblemen die Rede, aber die entsprechenden Passagen machen im Gesamtduktus der Enzyklika z. T. den Eindruck, als sollten sie vor allem die Dringlichkeit der religiösen Bekehrung und letztlich der Annahme des christlichen Glaubens illustrieren.

55 Sollte es Papst Benedikt nicht um die Unterscheidung zwischen glaubenden und nichtglaubenden Menschen gehen, sondern um bestimmte Handlungsweisen, dann stellt sich die m. E. in der Enzyklika nicht beantwortete Frage, worin sich – jenseits platonisierender Annahmen über das „Eigentliche“, das Wesen bestimmter Handlungen – das Handeln mit Transzendenzbezug von dem ohne Transzendenzbezug unterscheidet, sich also z. B. die von der Liebe in der Wahrheit beseelten Formen von den „immanenten Formen (…) des sozialen Engagements“ (CIV 34) abheben. 56 Dabei werden Kooperationen über die Grenzen der Kirche hinweg natürlich nicht ausgeschlossen (z. B. CIV 57). Daran ändert auch eine Passage aus dem Schluss nichts, in der es mit Blick auf enorme Entwicklungsprobleme heißt: „Angesichts der Arbeitsfülle, die zu bewältigen ist, werden wir im Glauben an die Gegenwart Gottes aufrechterhalten an der Seite derer, die sich in seinem Namen zusammentun und für die Gerechtigkeit arbeiten“ (CIV 78, Hervorhebung vom Verfasser, B.E.).

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III. Missionierende Sozialverkündigung? ,Caritas in Veritate‘ spricht vom „missionarische(n) Aspekt der Soziallehre der Kirche“ (CIV 15). Damit liegt die Enzyklika ganz im Duktus von Bemühungen der katholischen Kirche in Europa, die Selbstgenügsamkeit vieler Gemeinden und die Beschäftigung zahlreicher kirchlicher Institutionen mit innerorganisatorischen Fragen zu überwinden und die Sendung der Kirche in „die Welt“ und zu den nicht-kirchlichen Zeitgenossen in den Vordergrund zu rücken. Dieses Anliegen wird heute gerne im Leitbild einer missionarischen Kirche zum Ausdruck gebracht.57 Dabei gibt es natürlich verschiedene Auffassungen darüber, worin die Mission, also das Missionarische an der missionarischen Kirche, besteht. Man kann – wie ich das hier im Folgenden zu skizzieren versuche – Mission in einem sehr umfassenden Sinn verstehen, nämlich parallel zum Verständnis von Pastoral in ,Gaudium et Spes‘ sowie zum Begriff der Evangelisierung in dem Schreiben ,Evangelii Nuntiandi‘ Papst Pauls VI. (1975): als die Sendung der Kirche zu den Menschen ihrer Zeit.58 In dieser Perspektive wird die Kirche als Sakrament des Heils für die Welt begriffen, wobei dieses Heil nicht allein in einer – jenseits des Todes offenbar werdenden – Erlösung der Menschen besteht, sondern zugleich auch in ihrem umfassenden Wohl. Zu letzterem gehören auch ein Leben ohne existenzielle Sorgen und eine Lebenslage, die – bezogen auf das Wohlstandsniveau der Gesellschaft – gute Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung und gesellschaftlichen Beteiligung bietet. Mission ist das vielfältige auf dieses umfassende Heil und Wohl aller Menschen ausgerichtete Handeln der Glaubensgemeinschaft59 oder – da es um das Heil und Wohl aller Menschen, letztlich um das Geschick der Welt insgesamt geht: Mission ist das, was in ,Gaudium et Spes‘ als Pastoral bezeichnet wird, nämlich „das Verhältnis der Kirche zur Welt und zu den Menschen von heute“.60 Weil für uns Christen zum Ganz- und Heilsein des Menschen auch gehört, dass wir uns als Glaubende verstehen und zugleich vom Evangelium her zu leben versuchen, beinhaltet Mission natürlich auch die Verkündigung der Frohbotschaft einschließlich 57 Für das Folgende vgl.: Klinger, S. 100 f., 122 f. u. ö.; Sander (1997); Sander (2005) und Bucher (2010), S. 205 – 212 zu GS sowie u. a. John und Bucher (2004) für ein entsprechendes Verständnis von missionarischer Kirche. 58 Bucher (2004), S. 272, versucht, zwischen Pastoral und Mission zu unterscheiden: „Was das Evangelium heute bedeutet, das muss die Kirche immer wieder selbst lernen. (…) ,Pastoral‘ ist genau dieses Entdeckungsgeschehen in Wort und Tat, Mission aber ist dieses Entdeckungsgeschehen in seiner Ausstrahlungskraft.“ Allerdings stellt sich u. a. die Frage, ob diese Unterscheidung zu dem – auch von ihm selbst herausgestellten – Pastoralbegriff in GS passt (vgl. z. B. Bucher (2010), S. 209: Pastoral als „die kirchenkonstitutive Aufgabe aller in der Kirche an und für die Welt“). 59 Das gleiche Verständnis von Mission sehe ich z. B. auch in dem Dokument „Allen Völkern sein Heil“ der Deutschen Bischofskonferenz. Darin wird Mission konsequent als „Dienst an der Freiheit“ und „Dienst an der Wahrheit“ ausgelegt, vgl. vor allem CIV 20, 38 f., 60. 60 So die Anmerkung zum Titel der Pastoralkonstitution ,Gaudium et Spes‘.

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all jener begleitenden Aktivitäten, welche helfen sollen, das Angebot des christlichen Glaubens möglichst vielen Menschen bekannt zu machen. Aber Mission im Sinne des Leitbilds einer missionarischen Kirche ist nicht auf die Verkündigung von Glaubensinhalten61 beschränkt, sondern schließt darüber hinaus auch solches Handeln der Christen und ihrer Kirche ein, das auf andere Dimensionen des Heil- oder Wohlseins aller Menschen bezogen ist und dessen Mühen sich Christen gerade um dieser anderen Dimensionen willen unterziehen, also nicht in der Absicht, die Inhalte des christlichen Glaubens besser bekannt zu machen oder die Attraktivität der Kirche zu steigern.62 Einige – wenn auch nicht alle63 – lehramtlichen Texte geben der Verkündigung von Glaubensinhalten einen Vorrang vor den auf das Wohl der Menschen gerichteten Aktivitäten. Wird ein solcher Vorrang ausgesagt, dann zeigt dies eine Gewichtung an, die aber keineswegs gleichbedeutend mit der Position ist, dass die Verkündigung der Inhalte des Glaubens (z. B. in glaubwürdiger Form an möglichst viele Menschen) das oberste Ziel sei, von dem allein her sich alle anderen Ziele kirchlichen Handelns herleiten ließen. In diesem Fall nämlich wären im Kontext der Kirche nur diejenigen Aktivitäten legitim, die diesem einen Ziel dienen, und sie wären dies eben auch nur, insofern sie ihm dienen. Eine solche Konzeption von Mission liefe darauf hinaus, dass Christen hilfsbedürftigen Menschen nur zur Seite stehen – und vor allem: dass die Kirche dies nur wertschätzt, ermöglicht und fördert –, insofern es dem Auftrag der Verkündigung von Glaubensinhalten dient und nicht weil es den Menschen einfach guttut. Zugleich kämpften Christen nicht deshalb gegen Ungerechtigkeit, die Kirche ergriffe nicht deshalb Partei, weil Ausbeutung, Unterdrückung und strukturelle Benachteiligung Menschen zerstören oder „kleinmachen“, ihnen Lebensmöglichkeiten oder wichtige Entfaltungs- und Beteiligungschancen nehmen, sondern nur deshalb, weil – und in dem Maße, wie – dieser Einsatz der Kirche hilft, ihrem kerygmatischen Auftrag gerecht zu werden. Das käme einer Instrumentalisierung der individuellen und der strukturellen Diakonie der Kirche, also einerseits der Caritas, andererseits des politischen Engagements von Christen, der Sozialverkündigung der Kirche und der Christlichen Sozialethik, gleich. Die Kirche würde das diakonische Handeln für 61 In der Absicht, die hohe Bedeutung diakonischen Handelns herauszustellen, wird dieses in der Katholischen Theologie auch häufig als unverzichtbarer Teil der Verkündigung des Evangeliums begriffen. Dann ist z. B. von Verkündigung „in Wort und Tat“ die Rede. Der Begriff „Verkündigung“ umfasst bei diesem Verständnis nicht nur alle Bemühungen, die Inhalte des Glaubens bekannt zu machen, sondern auch caritative Aktivitäten und politisches Engagement für Gerechtigkeit, welche die Wirklichkeit des Evangeliums bereits antizipieren. Mein Anliegen ist es jedoch, verständlich zu machen, dass diakonales Handeln vor einer Instrumentalisierung geschützt werden muss. Damit dies verständlich wird, verwende ich hier den engen Begriff einer Verkündigung von Glaubensinhalten. Ausschließlich auf diesen engen Begriff bezieht sich das Adjektiv „kerygmatisch“. 62 In der diakonischen Praxis wird dies auch gerne so ausgedrückt, dass die Hilfe „absichtslos“ sei (für eine Reflexion vgl. Rottländer, S. 203 – 224). 63 Vgl. vor allem JM.

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ihr eigenes institutionelles Interesse an einer Ausbreitung des Glaubens und an einer Steigerung der Mitgliederzahlen verzwecken, statt mit ihm die sich vorbehaltlos verschenkende Liebe Gottes zu vergegenwärtigen. Genau in diesem Sinne hat auch Papst Benedikt in seiner ersten Enzyklika, ,Deus Caritas Est‘, das „umsonst“ der Caritas, welche die Liebe Gottes bezeugt, gegen jede Instrumentalisierung verteidigt (DCE 19, 31). Diese Einsicht gilt für die Diakonie der Kirche als ganze, also nicht für ihre individuell-unterstützende, sondern auch für die auf strukturelle Veränderungen ausgerichtete Dimension. Andernfalls verlöre die Diakonie der Kirche ihre Glaubwürdigkeit und würde damit auch eines Teils ihrer nachhaltigen Wirkung beraubt, was letztlich auch dem Heil und Wohl der Hilfebedürftigen und Benachteiligten schaden könnte. Wenn die Caritas, das politische Handeln von Christen, die Sozialverkündigung oder die Sozialethik ausschließlich von einer dienenden Funktion für die Verkündigung von Glaubensinhalten begriffen und entwickelt werden, dann bezeichne ich diese Konzeption hier – in deutlicher Absetzung von einem missionarischen, d. h. ganzheitlich auf das Heil und Wohl der Menschen ausgerichteten, Verständnis von Diakonie – als missionierend.64 Abschließend möchte ich festhalten, dass mit der Wahl eines missionierenden Profils von Sozialverkündigung die große Gefahr verbunden wäre, die Sozialverkündigung für die Verkündigung von Glaubensinhalten zu instrumentalisieren. Dadurch würde sie – gerade für nicht-kirchliche Zeitgenossen – unglaubwürdig und erheblich an Wirkung einbüßen. Die Untersuchung von ,Caritas in Veritate‘ hat aufgezeigt, dass die Kernbotschaft der Sozialenzyklika dem Profil einer – in dem beschriebenen Sinne – missionierenden Sozialverkündigung nahekommt. Sollten die Verantwortlichen im Vatikan wirklich ein solches Profil der Sozialverkündigung anstreben und in weiteren Dokumenten entfalten, könnte die Römische Sozialverkündigung in eine Sackgasse geraten. Literatur Texte der Sozialverkündigung Papst Paul VI.: Apostolisches Schreiben ,Evangelii Nuntiandi‘ an den Episkopat, den Klerus und alle Gläubigen der Katholischen Kirche über die Evangelisierung in der Welt von heute (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 2), Bonn, 1975. Papst Benedikt XVI.: Enzyklika ,Deus Caritas est‘ an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die gottgeweihten Personen und an alle Christgläubigen über die christliche Liebe (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 171), Bonn, 2005. – Enzyklika ,Spe Salvi‘ an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die gottgeweihten Personen und an alle Christgläubigen über die christliche Hoffnung (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 179), Bonn, 2007. 64 Eine Unterscheidung zwischen missionarisch und missionierend habe ich z. B. – wenn auch mit einem andern Inhalt – bei dem protestantischen Religions- und Missionswissenschaftler Hermann Brandt, S. 305 f. gefunden.

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– Enzyklika ,Caritas in veritate‘ an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen gottgeweihten Lebens, an die christgläubigen Laien und an alle Menschen guten Willens über die ganzheitliche Entwicklung des Menschen in der Liebe und in der Wahrheit (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 186), Bonn, 2009. Lateinische Fassung aus dem Internet: http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/encyclicals/documents/hf_benxvi_enc_20090629_caritas-in-veritate_lt.html (eingesehen am 15. August 2010). Deutsche Bischofskonferenz: Allen Völkern Sein Heil. Die Mission der Weltkirche (Die Deutschen Bischöfe 76), Bonn, 2004. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland: Wie ein Riss in einer hohen Mauer. Wort zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise (EKD-Texte 100), Hannover, 2009. Alle Dokumente der Römischen Sozialverkündigung, die hier nicht eigens genannt werden, nach: Bundesverband der KAB (Hg.): Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, 9. Aufl., Köln – Kevelaer, 2007. Weitere Literatur Ackermann, Stephan: Die Wahrheit über die Welt heißt Liebe – nur sie überwindet globale Krisen, in: icep Berichte 2007 – 2009, Berlin, 2009. Anzenbacher, Arno: Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien, Paderborn, 1997. Brandt, Hermann: Vom Reiz der Mission (Missionswissenschaftliche Forschungen – Neue Folge 18), Neuendettelsau, 2003. Bremer, Jörg: Liebe in der Wahrheit. Die Sozialenzyklika Benedikts XVI. wird erst jetzt wirklich wahrgenommen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. 10. 2009, S. 10. Bruni, Luigino / Zamagni, Stefano: Civil Economy. Efficiency, Equity, Public Happiness, Bern, 2007. Bucher, Rainer: Theologie im Risiko der Gegenwart. Studien zur kenotischen Existenz der Pastoraltheologie zwischen Universität, Kirche und Gesellschaft (Praktische Theologie heute 105), Stuttgart, 2010. – Neuer Wein in alte Schläuche? Zum Innovationsbedarf einer missionarischen Kirche, in: Sellmann, Matthias (Hg.): Deutschland – Missionsland. Zur Überwindung eines pastoralen Tabus (Quaestiones Disputatae 206), Freiburg/Br., 2004, S. 249 – 282. Chenu, Marie-Dominique: Kirchliche Soziallehre im Wandel. Das Ringen der Kirche um das Verständnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit (Theologie aktuell 13), Fribourg/Schw., 1991. Drobinski, Matthias: Der weltfremde Papst, in: Süddeutsche Zeitung vom 8. Juli 2009, S. 4. Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt/Main, 1988. Heimbach-Steins, Marianne: Die Sozialverkündigung der Kirche angesichts der Globalisierung. Zur Sozialenzyklika Caritas in Veritate, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim, Jg. 60, Heft 4, 2009, S. 61 – 62. Hengsbach, Friedhelm: Die Arbeit hat Vorrang. Eine Option katholischer Soziallehre (Arbeiterbewegung und Kirche 5), Mainz, 1982.

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– „Liebe in Wahrheit“ – für den Finanzkapitalismus ein unverständliches Rauschen? Vorbehalte gegen eine unzeitgemäße Methodik, in: Chittilappilly, Paul-Chummar (Hg.): Ethik der Lebensfelder. Festschrift für Philipp Schmitz, Freiburg/Br., 2010, S. 223 – 252. John, Ottmar: Warum missionarisch Kirche sein? Argumente jenseits der Selbstauslieferung an soziologische Empirie, in: Sellmann, Matthias (Hg.): Deutschland – Missionsland. Zur Überwindung eines pastoralen Tabus (Quaestiones Disputatae 206), Freiburg/Br., 2004, S. 42 – 68. Klinger, Elmar: Armut – eine Herausforderung Gottes. Der Glaube des Konzils und die Befreiung des Menschen, Zürich, 1990. Kruip, Gerhard: Caritas in Veritate. Ein kritischer Kommentar aus sozialethischer Perspektive, in: Theologie und Glaube, Jg. 100, Heft 1, 2010, S. 85 – 107. Ratzinger, Joseph: Naturrecht, Evangelium und Ideologie in der katholischen Soziallehre. Katholische Erwägungen zum Thema, in: von Bismarck, Klaus / Dirks, Walter (Hg.): Christlicher Glaube und Ideologie, Stuttgart u. a., 1964, S. 24 – 30. Ratzinger, Joseph Kardinal: Werte in den Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg/Br., 2005. Roos, Lothar: Menschen, Märkte und Moral. Die Botschaft der Enzyklika „Caritas in veritate“ (Kirchen und Gesellschaft 362), Köln, 2009. Rottländer, Peter: Der Frankfurter Notruf. Krisen- und Lebensberatungsstelle – Offene Tür – Telefonseelsorge. Geschichte eines innovativen Beratungsprojektes, Frankfurt/Main, 2008. Sander, Hans-Joachim: Die Zeichen der Zeit. Die Entdeckung des Evangeliums in den Konflikten der Gegenwart, in: Fuchs, Gotthard / Lienkamp, Andreas (Hg.): Visionen des Konzils. 30 Jahre Pastoralkonstitution ,Die Kirche in der Welt von heute‘ (ICS Schriften 36), Münster, 1997, S. 85 – 102. – Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, in: Hünermann, Peter / Hilberath, Bernd Jochen (Hg.): Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 4, Freiburg/Br., 2005, S. 581 – 886. Schlag, Martin: Katholische Soziallehre in Kontinuität? Wirtschaftsethische Anmerkungen zu „Caritas in Veritate“, in: Die Neue Ordnung, Jg. 64, Heft 2, 2010, S. 84 – 95. Sen, Amartya: Development as freedom, Oxford, 2001. Sutor, Bernhard: Tugend- oder Institutionenethik? Ein Klärungsbedarf der kirchlichen Sozialverkündigung, in: Stimmen der Zeit, Bd. 228, Heft 5, 2010, S. 327 – 337.

Caritas in veritate – Fortentwicklung oder Rückschritt der kirchlichen Sozialverkündigung? Von Ursula Nothelle-Wildfeuer Seit ihrem Erscheinen hat sie (nicht nur) innerhalb der Zunft der Sozialethiker ein geteiltes Echo ausgelöst: die jüngste Sozialenzyklika ,Caritas in veritate‘. Das hat u. a. seinen Grund in den sehr unterschiedlich gearteten Teilen des Textes: auf der einen Seite stehen die stark philosophisch-theologischen Passagen, die der Enzyklika ihr spezifisches Gepräge geben; auf der anderen Seite gibt es die Abschnitte, die sich mit den konkreten und schwerwiegenden ökonomischen, sozialen und ökologischen Problemen der globalisierten Welt beschäftigen. Solche Disparitäten sind in der Tradition der Sozialverkündigung nichts Neues – in vielen Texten lässt sich Derartiges feststellen; das aber ist an keiner Stelle ein Grund, die zentrale Intention der Texte und ihre essentiellen Aussagen pauschal beiseite zu schieben. Eine andere entscheidende Frage in der Fachdebatte ist die nach der Verortung der Sozialenzyklika in der bisherigen Soziallehre und ihrer Tradition: Bedeutet diese erste Sozialenzyklika von Papst Benedikt XVI. einen Fortschritt oder einen Rückschritt der kirchlichen Sozialverkündigung? Diese Frage ist nicht pauschal mit dem einen oder anderen Begriff angemessen zu beantworten; in der Diskussion, die sich nach dem Erscheinen diesbezüglich entwickelt hat, sind hierzu unterschiedliche Stellungnahmen und Wertungen zu finden. Es gibt aber zwei Aspekte bzw. Stellen, an denen man in der Rezeption der Enzyklika vorrangig die Kritik festmacht, der Papst würde hinter den einmal mit Johannes Paul II. erreichten Stand der nachkonziliaren Soziallehre zurückgehen: Zum einen geht es dabei um die Betonung, dass es nur eine Soziallehre gebe, die nicht durch einen Bruch in zwei unterschiedliche Lehren zu teilen sei (vgl. CIV 12) und zum anderen um das Aufgreifen der Argumentationsfigur des Naturrechts. Diese Fachdiskussion um Rückschritt oder Fortschritt möchte der nachfolgende Beitrag aufnehmen. In unterschiedlichen Aspekten, die sowohl den Rahmen des Ganzen darstellen als auch Sachfragen betreffen, soll eine differenzierte Antwort auf die Titelfrage entwickelt werden. I. These: Mit dem Ansatz bei der Liebe in Wahrheit als Leitfaden umfassender Entwicklung formuliert der Papst eine in der Tradition der Soziallehre an vereinzelten Stellen bereits angelegte, in dieser Qualität aber neue genuin theologische Rückbindung, die gleichwohl dem notwendigen philosophischen Vernunftdiskurs nicht im Wege steht.

1. Genau dieser Ansatz bei der „Liebe in der Wahrheit“ hat in doppelter Weise kritische Nachfragen evoziert: Zum einen aufgrund der Besonderheit des Titels, der zunächst auch die Kennerin der Soziallehre erstaunt, haben doch gerade die bis-

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herigen Sozialenzykliken mit den ersten Worten jeweils ihr Materialobjekt benannt – so z. B. ,Rerum novarum‘ die neue Frage, die Arbeiterfrage, ,Populorum progressio‘ den Fortschritt der Völker etc. Der Titel ,Caritas in veritate‘ macht nun im Unterschied dazu das Formalobjekt, die spezifische Perspektive klar, unter der das zentrale Thema betrachtet wird, nämlich – so heißt es schon in der Adresse der Enzyklika – „die ganzheitliche Entwicklung des Menschen in der Liebe und in der Wahrheit“ und nicht einfachhin, wie viele gehofft oder befürchtet haben, die Globalisierung. Auf diese thematische Spezifizierung ist später noch näher einzugehen. Zum anderen löst der Titel in Bezug auf seine inhaltlichen Implikationen kritische Nachfragen aus: In der Titelformel kehrt der Papst ein Wort aus dem Epheserbrief – „Wahrheit in der Liebe“ – um und macht mit der Formel „Liebe in der Wahrheit“ seine spezifische Sichtweise der Liebe deutlich: Sie muss „ihrerseits im Licht der Wahrheit verstanden, bestätigt und praktiziert werden.“ (CIV 2) Gemeint ist die christliche Wahrheit, Jesus Christus, als Offenbarung der Liebe Gottes, sowie die darin offenbar werdende Wahrheit über jeden Menschen, seine Würde und seine Berufung (vgl. CIV 1; 18), die der Ursprung der Liebe ist. Sie stellt die unverzichtbare Grundlage für den Umgang von Christen mit den Mitmenschen dar, ganz unabhängig davon, ob die Mitmenschen diese Wahrheit auch als Grundlage für sich selber anerkennen. Artikuliert sich in dieser engen Verbindung von Liebe und Wahrheit nun die misstrauische Sorge eines ängstlich auf Bewahrung bedachten Papstes, „eine zu starke Betonung einer Praxis der Liebe ohne Bezug auf inhaltliche Fragen des christlichen Zeugnisses [würde] die Botschaft des Glaubens zu sehr verkürzen“1? Schon in der Antrittsenzyklika Benedikts XVI. ,Deus caritas est‘, deren Grundmotiv der Papst in dieser Enzyklika wieder aufgreift, finden wir hierzu eine eindeutige Antwort: Es geht nicht um die Angst, im Liebeshandeln die Botschaft des Glaubens zu verkürzen, sondern es geht um das Zeugnis, das im Liebeshandeln gegeben wird: Der Christ weiß, „dass Gott Liebe ist (vgl. 1 Joh 4,8) und gerade dann gegenwärtig wird, wenn nichts als die Liebe getan wird.“ (DCE 31) Papst Benedikt XVI. richtet jetzt sein spezielles Augenmerk auf die Liebe, wie sie in der Gesellschaft gelebt und entfaltet wird und darin die Wahrheit als glaubwürdig erweist. Ohne diesen klaren Bezug zur praktischen, d. h. gelebten Wahrheit sieht der Papst die Liebe von der doppelten Gefahr bedroht, entweder in leere „Sentimentalität“ abzugleiten oder einem „Fideismus“ anheimzufallen, „der ihr (sc. der Liebe) die menschliche und universelle Weite nimmt.“ (CIV 3) Ohne diese Verbindung der Liebe zur Wahrheit „gäbe es keinen eigentlichen Platz mehr für Gott in der Welt“ (CIV 4), keinen wirklichen Dialog und keinen christlichen Beitrag zu einer „ganzheitlichen Entwicklung des Menschen“ (CIV 4). „Ohne Gott weiß der Mensch nicht, wohin er gehen soll, und vermag nicht einmal zu begreifen, wer er ist.“ (CIV 78) Aussagen zum Menschen ohne Bezug auf die Transzendenz, auf 1

Kruip, Der Mensch, S. 24.

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Gott, Anthropologie ohne Theologie, das ist letztlich nicht möglich – eine Erkenntnis, die die Pastoralkonstitution des II. Vatikanums in ihrem ersten Teil sehr deutlich herausgestrichen hat. Und dennoch hat gerade auch diese Aussage heftige Kritik hervorgerufen, meint man darin doch deutlich die Gefahr zu erkennen, durch die (Über-) Betonung der theologischen Grundlagen in einer pluralistischen Gesellschaft die Dialogfähigkeit der Soziallehre aufs Spiel zu setzen. Interessanterweise setzt Benedikt XVI. mit dieser Betonung des Theologischen eine noch junge Tradition fort, deren Beginn man meistens im II. Vatikanum sieht, die aber dann speziell Johannes Paul II. stark gemacht hat und die mit Blick auf dessen Soziallehre in einem positiven Sinn als „Um-fundierung der christlichen Soziallehre“ (E.-W. Böckenförde) und „Kurskorrektur“ (W. Kerber) gewertet wurde.2 Würde im Unterschied zu dieser Bewertung in der jetzigen Situation mit der Betonung der theologischen Dimension die Dialogfähigkeit und Kommunikabilität der Soziallehre gefährdet, dann wäre in der Tat eine zentrale Intention der Soziallehre, die u. a. auch in der für Sozialenzykliken seit ,Pacem in terris‘ üblichen und auch hier benutzten Anrede „an alle Menschen guten Willens“ zum Ausdruck kommt, verfehlt. Aber jenseits dieser eher formalen Aspekte rekurriert Benedikt XVI. mit der genuin theologischen Bezugnahme auf das, was den Hintergrund und die Entstehungsbedingungen seines christlichen Verständnisses vom Menschen und von dessen wahrer Entwicklung ausmacht. Damit ist in keiner Weise Menschen, die aus anderen Wurzeln leben, die Moralität und moralische Integrität abgesprochen, wohl aber die eigene Position gerade für den Dialog konturiert. 2. Die Betonung der Liebe führt in einem weiteren Schritt zu einer neu akzentuierten Definition von Soziallehre: Caritas in veritate in re socialis. Diese Betonung der Liebe als „Hauptweg der Soziallehre der Kirche“ (CIV 2) mag angesichts des gängigen Verständnisses von Sozialethik, in dessen Zentrum die Sorge um die soziale Gerechtigkeit steht, überraschen und erneut die Befürchtung nähren, dass die bisherige Tradition damit abgebrochen werde. Dass hier aber kein fundamentaler Gegensatz besteht, wird deutlich, wenn man sieht, dass der Papst für die Umsetzung eben dieser Liebe in Bezug auf die Entwicklung einer Gesellschaft im Kontext der Globalisierung zwei zentrale Orientierungsmaßstäbe benennt: Gerechtigkeit und Gemeinwohl. Mit den Überlegungen zum Verhältnis von Gerechtigkeit und Liebe, die dies differenziert entfalten, greift der Text eine Thematik auf, die zum „Urgestein“ der Sozialverkündigung und speziell ihrer Beschäftigung mit Themen der Marktwirtschaft3 gehört. Bereits in ,Quadragesimo anno‘ 88 war die Rede von der sozialen Gerechtigkeit und der sozialen Liebe als den Kräften, die den Wettbewerb in strenge und weise Zucht nehmen, also dafür sorgen sollten, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise nicht zugleich zu einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung im Stil eines menschenverachtenden Sozialdarwinismus führte. In ,Dives in misericordia‘ ist es Johan2 3

Vgl. Nothelle-Wildfeuer (1991), S. 8 f. Vgl. dazu Nothelle-Wildfeuer / Steger.

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nes Paul II., der den Akzent darauf legt, dass Gerechtigkeit allein nicht genügen, „ja, zur Verneinung und Vernichtung ihrer selbst führen kann“ (DM 12,3), wenn nicht gerade im Kontext des Bemühens um Gerechtigkeit die Kraft der Liebe einbezogen wird. Sie vermag den Blick auf den Mitmenschen als Person hin zu lenken und zu sehen, was das wirkliche „suum cuique“ ist. Benedikt XVI. setzt hier spezifische Akzente: Es klingt die klassische Definition von Gerechtigkeit „jedem das Seine“ an, wenn es weiter heißt, „lieben ist schenken, dem anderen von dem geben, was ,mein‘ ist; aber sie ist nie ohne die Gerechtigkeit, die mich dazu bewegt, dem anderen das zu geben, was ,sein‘ ist“ (CIV 6). Gerechtigkeit und Liebe werden in ihrer wechselseitigen Verwiesenheit aufeinander betont: Einerseits erfordert also dem Papst zufolge Liebe als erstes die Gerechtigkeit, auf der anderen Seite überbietet die Liebe aber auch die Gerechtigkeit und „vervollständigt sie in der Logik des Gebens und Vergebens“ – dies ist schon als Verweis auf die später entfaltete Dimension der Zivilgesellschaft zu lesen. Als ein Erfordernis der Gerechtigkeit und der Liebe sieht Benedikt das Gemeinwohl an – eins der klassischen Sozialprinzipien, das in der Enzyklika nicht näher definiert wird. Es wird aber deutlich, dass es um die Gestaltung der sozialen Gemeinschaft, der polis, um die Stärkung und den Schutz aller Institutionen des gesellschaftlichen Lebens geht. Und damit schließt sich der Kreis dann wieder, denn hierfür hält der Papst die Nächstenliebe für unverzichtbar. Er spricht expressis verbis – und diese Betonung ist neu – vom „institutionelle(n) – wir können auch sagen politische(n) – Weg der Nächstenliebe“ (CIV 7), für den wiederum die Sozialprinzipien der Solidarität und Subsidiarität konstitutiv sind. Mit diesem klaren und im Blick auf die bisherige Tradition unüblichen Hinweis auf die Bedeutung der strukturethischen Dimension kommt der Papst jedem etwaigen Argument, es handle sich bei seinem Ansatz um einen rein individual- und tugendethischen, zuvor. Zugleich wird damit offenkundig, dass die miteingebrachte genuin theologische Perspektive einer strukturethischen Sichtweise nicht im Weg stehen muss.4 3. Schließlich fügt der Papst mit seiner spezifisch eschatologischen Verortung menschlichen Handelns einen weiteren Aspekt ein, der sich in anderer Terminologie, aber vom Grundgedanken her ähnlich, so auch in GS 39 findet. Dem von der Liebe inspirierten Handeln des Menschen kommt höchste, in der Zeit die Ewigkeit vorbereitende Bedeutung zu: Es „trägt […] zum Aufbau jener universellen Stadt Gottes bei, auf die sich die Geschichte der Menschheitsfamilie zubewegt.“ Engagement für das Gemeinwohl der gesamten Menschheitsfamilie als „Zeugnis der göttlichen Liebe“ (CIV 7) macht die „Stadt des Menschen […] zu einer vorausdeutenden Antizipation der grenzenlosen Stadt Gottes“. (CIV 7) In keinem anderen nach ,Gaudium et spes‘ veröffentlichten Dokument der Sozialverkündigung wird menschliches Handeln in seinem Stellenwert derart positiv gewürdigt; in der Pastoralkonstitution aber wird über die hier zitierte Position hinaus noch – und das ist durchaus entscheidend – die Spannung zwischen der Bedeutung des menschlichen Handelns für das Reich 4

Vgl. im Unterschied zu dieser Sichtweise Sutor.

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Gottes einerseits und dem Geschenkcharakter des Heils andererseits sehr viel deutlicher zum Ausdruck gebracht. II. These: Mit der Betonung der Bedeutung von Naturrecht und Vernunft stellt sich der Papst in die Tradition der päpstlichen Sozialverkündigung und schält aus dieser Tradition die für die Gegenwart bedeutsamen Aspekte in besonderer Weise heraus.

1. Hat der Papst einerseits mit der Betonung der theologischen Dimension der Soziallehre deutlich eine Neuakzentuierung erkenntnistheoretischer und inhaltlicher Art vorgenommen, so ist andererseits festzustellen, dass Benedikt XVI. das Naturrecht – die neben der Offenbarung zweite Erkenntnisquelle der Soziallehre – wieder stark macht. Das erstaunt die Sozialethiker in mehrfacher Hinsicht: zum einen im Blick auf die fachinterne nachkonziliare Debatte um die Grundlegung und Gestalt der Sozialverkündigung und Soziallehre sowie auf die seit einigen Jahrzehnten schwelende, vielstimmig proklamierte Legitimationskrise des Naturrechtsdenkens sowohl aus der Perspektive philosophischer als auch theologischer Ethik. Es erstaunt aber zum anderen auch – zumindest prima vista – wenn man auf frühere Äußerungen des Papstes zum Naturrecht blickt: So gibt es einen frühen Artikel des damaligen Professors für Fundamentaltheologie Joseph Ratzinger,5 in dem er sich (unter dem Stichwort der Ideologie) mit den Problemen der Geschichtlichkeit und Kulturabhängigkeit dessen auseinandersetzt, was allenthalben in der Tradition als Naturrecht bezeichnet worden ist. Wenn auch in anderer Weise, so formuliert auch Kardinal Joseph Ratzinger in seinem Vortrag in der Katholischen Akademie in München im Januar 2004 ebenfalls dem Naturrecht gegenüber Vorbehalte: In diesem Gespräch mit dem Philosophen Jürgen Habermas heißt es zunächst, die Intention des Naturrechts herauskristallisierend, dass das Naturrecht „die Argumentation geblieben (sei), mit der sie [sc. die Kirche] in den Gesprächen mit der säkularen Gesellschaft und mit anderen Glaubensgemeinschaften an die gemeinsame Vernunft appelliert und die Grundlagen für eine Verständigung über die ethischen Prinzipien des Rechts in einer pluralistischen Gesellschaft sucht.“6 Aber, so heißt es dann überraschend weiter, er wolle sich auf das Naturrecht nicht stützen, denn „dieses Instrument ist leider stumpf geworden“7. Den Grund dafür sieht er in dem heute höchst problematisch gewordenen Naturbegriff. Aber selbst in diesem Vortrag schält Ratzinger einen auch in der Neuzeit bleibenden Kern des Naturrechtsdenkens heraus, der auf die Vernunft des Menschen bezogen ist: das Menschenrechtsdenken. Die Menschenrechte sind, so heißt es bei ihm, „nicht verständlich ohne die Voraussetzung, dass der Mensch als Mensch, einfach durch seine Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, Subjekt von Rechten ist, dass sein Sein selbst Werte und Normen in sich trägt, die zu finden, aber nicht zu erfinden sind.“8 5

Vgl. Ratzinger (1964). Ratzinger (2005), S. 50. 7 Ratzinger (2005), S. 50. 8 Ratzinger (2005), S. 51.

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In dieser Klarstellung liegt auch der Schlüssel für das Verständnis der erneuten Betonung des Naturrechts in CIV. Die Diskussion darüber im Zusammenhang mit der Enzyklika erweckt fälschlicherweise immer den Eindruck, als sei der gesamte Text voll von Naturrechtsbezügen9, jedoch nimmt der Papst nur an zwei Stellen Bezug auf das Naturrecht: CIV 59 und 75. In beiden Fällen geht es ihm um das, was das spezifisch Menschliche, also die Würde des Menschen ausmacht – eben um das, was den Menschen als Träger von Rechten (und Pflichten) ausmacht, einmal im Blick auf den Bereich echter Entwicklungszusammenarbeit als Kriterium zur Unterscheidung von Kulturen, Idealen und Entwicklungstendenzen, zum anderen im Blick auf den Umgang mit dem menschlichen Leben und auf die Gefahren durch biotechnologische Möglichkeiten der Manipulation des Lebens. Nicht ein ideologischer, auch nicht ein fundamentalistischer Gebrauch der Argumentationsfigur Naturrecht mit einer Verabsolutierung zeitgebundener Moralvorstellungen feiert mithin hier fröhliche Urständ, sondern der in der Tat kulturübergreifend erfahrbare Bezug auf das, was im Innersten den Menschen als Person ausmacht – seine Würde und seine Freiheit. Hierin liege, so formuliert er deutlich, die „feste Grundlage eines jeden kulturellen, religiösen und politischen Dialogs“ und die „Voraussetzung für jede konstruktive soziale Zusammenarbeit“ (CIV 59), wobei die Rede von Grundlage und Voraussetzung verdeutlicht, dass es hier um eine Basis geht, die aber offen ist auf Vollkommeneres und Gehaltvolleres hin. Wenn Benedikt XVI. im weiteren dann davon spricht, dass „[d]er christliche Glaube, der in den Kulturen Gestalt annimmt und sie dabei transzendiert, […] ihnen helfen [kann], in universaler Gemeinschaft und Solidarität zum Vorteil der gemeinsamen weltweiten Entwicklung zu wachsen“, dann ist damit nicht mehr die Ebene des Naturrechts angesprochen, auch nicht einfachhin Naturrecht mit christlichem Glauben gleichgesetzt – so etwa der Vorwurf von Karl Gabriel10 –, sondern vielmehr der christliche Glaube als ein Angebot eines solchen gehaltvolleren, gefüllten Verständnisses von Würde des Menschen genannt.11 2. Dem liegt erkenntnistheoretisch die Frage nach der Verhältnisbestimmung zwischen Glaube und Vernunft zugrunde, die übrigens auch – und damit schließt sich der Kreis wieder – im Hintergrund der oben bereits behandelten Frage nach dem Verhältnis von Liebe und Wahrheit steht. Diese Verhältnisbestimmung ist für den Papst bereits seit seiner Zeit als Professor für Fundamentaltheologie zum zentralen Moment seines theologischen Denkens geworden: Immer wieder geht es ihm um das notwendige Aufeinander-Verwiesen-Sein von Glauben und Vernunft,12 um den Dialog von Glauben und Vernunft, der notwendig ist, um „jene vorpolitischen moralischen Grundlagen, derer ein menschenfreundlicher Staat und ein menschendienlicher

9

So etwa Gabriel (2009), S. 16. Vgl. Gabriel (2011). 11 Vgl. Schockenhoff, S. 297 f. 12 Vgl. dazu CIV 56, ferner u. a. Ratzinger (2005), S. 39 sowie Ratzinger (2005), S. 56.

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Markt bedürfen“13, zu rekonstruieren. Beide sind, so hat es Kardinal Ratzinger u. a. in seinem Gespräch mit Jürgen Habermas an der Katholischen Akademie in Bayern, in seiner Antrittsenzyklika14 und auch jetzt wieder betont, wechselseitig aufeinander verwiesen zur „Reinigung und zur Heiligung“: „Die Vernunft bedarf stets der Reinigung durch den Glauben, und dies gilt auch für die politische Vernunft, die sich nicht für allmächtig halten darf. Die Religion bedarf ihrerseits stets der Reinigung durch die Vernunft, um ihr echtes menschliches Antlitz zu zeigen.“ (CIV 56)15 3. Benedikt XVI. ordnet sich mit seiner Sozialverkündigung und ihrer erkenntnistheoretischen Gestalt selbst klar in die Tradition ein, deren Einheit er jedoch ausdrücklich betont: „Es gibt nicht zwei Typologien von Soziallehre, eine vorkonziliare und eine nachkonziliare, die sich voneinander unterscheiden, sondern eine einzige kohärente und zugleich stets neue Lehre“ (CIV 12). Im Widerspruch dazu wird im Anschluss an G. Alberigo oder M.-D. Chenu in der Sozialethik vielfach die These aufgestellt, das Konzil bedeute einen Bruch mit der bisherigen Tradition; in „den Konzilstexten selbst [sei] der Begriff der Soziallehre bewusst vermieden“16 worden. Rein vom Wortbefund her stimmt das allerdings nicht, denn in ,Gaudium et spes‘ heißt es, dass die Kirche „immer und überall“ das Recht in Anspruch nehme, „in wahrer Freiheit den Glauben zu verkünden, ihre Soziallehre kundzumachen“ (GS 76,5) und in ,Apostolicam actuositatem‘ wird darauf hingewiesen, dass die Laien vor allem „die Grundsätze der Soziallehre und deren Auswirkungen […] studieren sollen.“ (AA 31,4) Diese Zitate verfangen aber als Antwort nicht ernsthaft, denn gemeint ist mit dieser These nicht einfach die Begrifflichkeit, sondern die Überzeugung, dass in und mit dem Konzil eine ganz neue Art, Sozialverkündigung zu treiben, beginnt. Diese gängige Unterscheidung in die zwei Phasen scheint in der Tat für manchen sozialethischen Ansatz selbstverständlich. Sie hat auf der einen Seite ihren berechtigten Grund in der Transformation der Reflexion in ,Gaudium et spes‘ auf die Ebene 13

Küppers, S. 421. Vgl. DCE 28. 15 Kurz nach dem Erscheinen des päpstlichen Rundschreibens veröffentlichte der emeritierte Münsteraner Sozialethiker Karl Gabriel einen Beitrag zur Enzyklika auf der Homepage des Exzellenzclusters der Universität „Religion und Politik“, wo er betont, dass für den Papst „das eklatante wirtschaftliche, soziale und politische Versagen […] in engem Zusammenhang mit der mangelnden Rücksicht auf den christlich geprägten religiösen Faktor von Globalisierung und Entwicklung [steht].“ (Gabriel (2011). Diese Darstellung greift m. E. zu kurz: Der Papst beklagt die mangelnde Berücksichtigung der ganzheitlichen Entwicklung jedes Menschen und aller Menschen im Kontext der Globalisierung und verleiht seiner tiefen Überzeugung Ausdruck, dass dazu der christliche Glaube Entscheidendes – und zwar Vernunftgemäßes – beizutragen hat. Genau an der Stelle kommt dann auch das Naturrecht ins Spiel. Und mit der Betonung des Vernunftgemäßen wird offenkundig, dass die etwas später von Gabriel formulierte Gefahr, „selbst in die Nähe einer fundamentalistischen Position“ zu geraten, so beileibe nicht gegeben ist, sondern vielmehr deutlich wird, dass und wie die Betonung des theologischen Propriums einhergehen kann mit philosophischer Plausibilität und Argumentation. 16 Kruip, Entwicklung, S. 391. 14

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der Selbstvergewisserung der Kirche über ihr Verhältnis (als Volk Gottes unterwegs) zu Welt und Gesellschaft und mit dieser Gesellschaft, also in einem qualitativ neuen Niveau der Fundierung, Begründung und Konturierung christlich-theologisch-kirchlicher Beschäftigung mit „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“ (GS 1). Diese grundlegende (Neu-)Bestimmung des Kirche-Welt-Verhältnisses führt dann auch zu einer intensiveren Beschäftigung mit der funktional differenzierten Gesellschaft, mit dem Autonomiegedanken, aber auch genuin theologisch mit der Relevanz der Heilgeschichte, des Reich-Gottes-Gedankens etc. für das, was bislang eher sozialphilosophisch, wenn man so will: naturrechtlich-schöpfungstheologisch entwickelt wurde. Methodisch sind hier – und das hat bereits mit ,Mater et magistra‘ begonnen – die Sozialwissenschaften als Bezugspunkt gefragt, daneben selbstverständlich auch philosophische (nicht nur klassisch naturrechtliche) und genuin theologische Überlegungen. Aber weder die sozialphilosophische noch die erst langsam beginnende theologische Argumentation ändern sich schlagartig. Es wird sicher ein deutlicher Wandlungs- und Weiterentwicklungsimpuls gegeben, der aber erst bei Papst Johannes Paul II. und seiner Sozialverkündigung im größeren Umfang offenkundig wird, somit also keinen Bruch bewirkt, sondern einen Prozess in Kontinuität in Gang setzt. Diese Trennung in die beiden Phasen der Sozialverkündigung greift m. E. auch nicht für die Differenzierungen und sehr unterschiedlichen Akzentuierungen, die in allen einzelnen Texten vor und nach dem Konzil im Blick auf die diversen Sachfragen enthalten sind.17 Dass und inwiefern Papst Benedikt XVI. in seiner Sozialenzyklika ,Caritas in veritate‘ auf dieser Traditionslinie der Soziallehre liegt, wird im Nachfolgenden noch weiter entfaltet. III. These: Durch die Rekonstruktion der großen sozialen Fragen der Gegenwart (Globalisierung/Wirtschaftskrise) unter der genuin anthropologisch-ethischen Perspektive der Entwicklung begründet der Papst mit Bezug auf ,Populorum progressio‘ einen neuen Traditionsstrang und eröffnet durch diesen inhaltlichen Bezugspunkt für die Behandlung der aktuellen Probleme einen neuen weiten Horizont.

1. Für die aktuelle Frage nach den Herausforderungen durch die Globalisierung stellt die erste Entwicklungsenzyklika ,Populorum progressio‘ (1967) den entscheidenden Anknüpfungspunkt innerhalb der Tradition dar, deren 40. Jahrestag wohl ursprünglicher Anlass war für die Ankündigung des neuen Lehrschreibens. In dieser wird erstmalig die soziale Frage weltweit als Frage der Entwicklung gesehen; sie stellt von ihrer Grundausrichtung her eins der Dokumente dar, die als direkte Entfaltung von GS zu verstehen sind. Benedikt XVI. bekräftigt nun mit ,Caritas in veritate‘, dass „Populorum progressio (es) verdient, als die Rerum novarum unserer Zeit angesehen zu werden“ (CIV 8). Der Papst erachtet damit also die weltweite Entwick17

Vgl. dazu Nothelle-Wildfeuer, Arbeit.

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lungs- und Globalisierungsfrage als ebenso fundamental und einschneidend wie die Arbeiterfrage 1891. Da Papst Johannes Paul II. mit ,Sollicitudo rei socialis‘ bereits 20 Jahre nach ,Populorum progressio‘ eine weitere Entwicklungsenzyklika veröffentlicht hat, kann man sagen, dass ,Populorum progressio‘ damit zum Ausgangspunkt eines eigenen neuen Traditionsstrangs wird. 2. Dadurch, dass der Papst die Globalisierungs- und Entwicklungsfragen als so bedeutsam erachtet, trägt er mit dieser neuen Enzyklika dem in der Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils erteilten Auftrag Rechnung, „nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“ (Vaticanum II. 71989, Vatikanum II, Pastoralkonstitution Gaudium et spes [GS] 4). Dass dies keine systematische Analyse der Ursachen und möglicher Lösungsansätze der aktuellen Finanzmarktkrise und keine detaillierte Darlegung von Regulierungsmaßnahmen für die Wirtschafts- und Finanzwelt impliziert, wird vielfach in den Stellungnahmen zur Enzyklika beklagt. Aber es ist vom Selbstverständnis der Soziallehre her klar und sich durchhaltendes Allgemeingut in der ganzen Entwicklung, dass „[d]ie Kirche […] keine technischen Lösungen anzubieten [hat]“ (CIV 9). Nahezu wörtlich findet sich diese Position übrigens schon in ,Quadragesimo anno‘, der zweiten Sozialenzyklika, die 1931 ebenfalls angesichts einer bedrohlichen Wirtschaftskrise verfasst wurde. 3. Dadurch, dass Papst Benedikt XVI. die großen sozialen Fragen der Gegenwart im Kontext der Entwicklungsthematik rekonstruiert, eröffnet er für die Thematik der Globalisierung, aber auch für die Fragen der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, einen neuen und weiten Horizont. Der Enzyklika fehlt also in keiner Weise das große Thema18 – wohl aber ist die Entwicklungsthematik ein anderes Thema als die von vielen erwartete, von manchen Theologen erhoffte, von manchen Wirtschaftlern befürchtete Globalisierungsschelte. Globalisierung unter der Perspektive der Entwicklung gesehen, wird nicht als rein sozio-ökonomischer Prozess verstanden (obwohl sie dies ohne Zweifel auch ist), sondern umfassend gedeutet als „ein vielschichtiges und polyvalentes Phänomen, das in der Verschiedenheit und in der Einheit all seiner Dimensionen – einschließlich der theologischen – erfasst werden muss.“ (CIV 42) Globalisierung ist „a priori weder gut noch schlecht. Sie wird das sein, was die Menschen aus ihr machen.“ Sie wird mithin nicht „verteufelt“ als Folge eines Turbokapitalismus, sondern gewertet als Chance für die „zunehmend untereinander verflochtene Menschheit; diese setzt sich aus Personen und Völkern zusammen, denen dieser Prozess zum Nutzen und zur Entwicklung gereichen soll“ (CIV 42). Von daher versteht der Papst Globalisierung als globalen Integrationsprozess“ (CIV 42), den die Menschen nicht einfach hinnehmen oder sogar erleiden, sondern vielmehr gestalten sollen.19 18

Vgl. Emunds. In dieser Art der Bewertung des Globalisierungsprozesses liegt eine deutliche Parallele zur Entwicklung des katholisch-sozialen Denkens im 19. Jh., wo etwa Bischof Ketteler, G. v. Hertling u. a. ebenfalls erkannt haben, dass die Industrialisierung nicht pauschal zu verurteilen, sondern differenziert mit ihr umzugehen ist. 19

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4. Im Zentrum der Enzyklika steht – als Relecture der Enzyklika ,Populorum progressio‘ – die Sorge um eine ganzheitliche Entwicklung des Menschen, die – und damit bringt der Papst durchaus die spezifisch christliche Sichtweise ein – zugleich auch offen ist für die transzendente Dimension: Denn die „Entwicklung des Menschen verkommt, wenn er sich anmaßt, sein eigener und einziger Hervorbringer zu sein“ (CIV 68). In der weitverbreiteten Leugnung dieser transzendenten Dimension sieht der Papst im Anschluss an Paul VI. die Gefahr der „Unterjochung des Menschen […], der zu einem Mittel für die Entwicklung herabgewürdigt wird“ (CIV 17), während die Offenheit für das Evangelium dem Menschen erst seinen vollen Wert und seine höchste Berufung erschließt. Mit dieser Akzentuierung knüpft Benedikt XVI. an den integralen Humanismus der Enzyklika ,Populorum progressio‘ und vor allem an den Personalismus Johannes Pauls II. an, der nicht müde wird, in seinen Texten die entsprechende Stelle in GS (22,1) zu zitieren. Wenn die Grundaussage (auch) dieser neuen Sozialenzyklika lautet, dass „das erste zu schützende und zu nutzende Kapital der Mensch ist“ (CIV 25), dass also im Mittelpunkt allen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handelns der Mensch und die Sorge um seine umfassende humane Entwicklung stehen, dann reformuliert Benedikt damit einen zentralen Grundsatz sozialethischer Tradition, der als Maßstab bei der Behandlung aller Einzelfragen beachtet werden muss. Allerdings muss man auch diese Erläuterung zum Verständnis erklärend hinzufügen, denn ansonsten könnte durch die Wahl des Terminus „Kapital“ durchaus der Eindruck entstehen, der Papst habe sich zumindest hinsichtlich der Terminologie der vorherrschenden ökonomistischen Perspektive angeschlossen. 5. Allerdings bleiben an dieser Stelle auch unterschiedliche Desiderate im Blick auf die Enzyklika anzumerken: Im Rahmen der Entwicklungsthematik hätte man auch und gerade, wenn es um einen genuin theologischen Zugang geht, die Formel von der „Option für die Armen“ erwartet, handelt es sich doch hier um die Option, die inzwischen in der Sozialethik zu der Formel schlechthin geworden ist, um das dem Evangelium gemäße Spezifikum herauszustellen. Papst Johannes Paul II. ist es gewesen, der diese Formulierung, die ihre Wurzeln in der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung hat, auch in der päpstlichen Sozialverkündigung aufgegriffen hat.20 Papst Benedikt XVI., der noch als Präfekt der Glaubenskongregation selber die intensive Auseinandersetzung mit der Theologie der Befreiung geführt hat, scheint in der Tat die Benutzung der Formel von der „Option für die Armen“ zu scheuen, gleichwohl er sowohl an einigen Stellen der Enzyklika als auch in der Botschaft zum Weltfriedenstag 2009 mit dem Titel „Die Armut bekämpfen, den Frieden schaffen“ das Anliegen teilt. Hier finden sich sogar explizit zwei Formulierungen, die ganz in die Nähe der Formel von der Option für die Armen kommen: So heißt es, „Die Armen [seien] an die erste Stelle zu setzen“21, und weiter: „Unter diesen Prinzipien [sc. die Prinzipien der Soziallehre. Anm. U.N.-W.] ist es angebracht, im Licht des 20 21

Vgl. dazu Nothelle-Wildfeuer, Option, bes. S. 140 – 145. Papst Benedikt XVI., S. Nr. 12.

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Primats der Nächstenliebe hier in besonderer Weise an die ,vorrangige Liebe für die Armen‘ zu erinnern, die von der gesamten christlichen Überlieferung von der Urkirche an bezeugt worden ist“22, dabei sowohl auf Belegstellen in der Enzyklika ,Sollicitudo rei socialis‘ verweisend als auch auf entsprechende neutestamentliche Perikopen. Erstaunlich ist es auch, dass der Begriff der „Strukturen der Sünde“, der in der zweiten Entwicklungsenzyklika ,Sollicitudo rei socialis‘ (36,1) von Johannes Paul II. – ebenfalls in Konsequenz der Auseinandersetzung mit der Theologie der Befreiung, die von struktureller Sünde sprach – zur theologischen Analyse und Kennzeichnung der strukturellen Problematik eingeführt wurde, sich hier nicht findet. Gerade ein Blick auf die Bedeutung, die der polnische Papst den „Unrechtsstrukturen“, wie sich vielleicht neutraler formulieren ließe, beimisst – er versteht sie nämlich als Kristallisationspunkte menschlicher, d. h. personaler Sünde, die dann „solche Strukturen herbeiführen, sie verfestigen und es erschweren, sie abzubauen“23 – macht deutlich, dass sich eben diese Denkfigur genau angeboten hätte als Analysekategorie im Blick auf die höchst problematischen Strukturen an den Finanzmärkten, die keinerlei Ordnungsrahmen darstellten. Schließlich sind auch unterschiedliche, in der Analyse der Gegenwartssituation sehr offenkundige Aspekte, die für die Entwicklung des einzelnen Menschen und auch der Menschheit insgesamt relevant sind, hier zum Erstaunen vieler Fachleute nicht genannt: Es fehlt der Hinweis auf die Bedeutung der Familie, auf die fundamentale Rolle der Frau, vor allem auch im Entwicklungsprozess vieler Länder, auf die umfassende Rolle des Eigentums24 sowie den Modellcharakter der Europäischen Union für den Umgang mit der Globalisierung.25 Schließlich fehlt eine ausführlichere Beschäftigung mit den ökologischen Aspekten der globalen Entwicklung.26 Unterschiedliche Gründe werden hier erläuternd genannt, auf die im Einzelnen in diesem Zusammenhang nicht näher einzugehen ist. Sicherlich ist es nicht das Bestreben eines solchen Dokuments, eine vollständige und umfassende Liste aller relevanten Themen vorzulegen, dennoch bleibt zu fragen, nach welchen Kriterien bestimmte Aspekte ausgeblendet wurden. IV. These: Durch die Betonung der Notwendigkeit von Strukturen- und Tugendethik verleiht der Papst der Definition von Wirtschaftsethik und damit auch von Sozialethik im umfassenderen Sinn einen neuen Akzent.

1. Die für diese Enzyklika signifikante Verhältnisbestimmung von Strukturen und Tugenden/Haltungen wird im Text zunächst im Blick auf die Fragen der Wirtschafts-

22

Papst Benedikt XVI., S. Nr. 15. Papst Johannes Paul II., Nr. 36,2. 24 Wiemeyer, S. 21. 25 Vgl. Wiemeyer, S. 21. 26 Vgl. Vogt. 23

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ethik deutlich: So ist festzuhalten, dass die für das Wirtschaften zentrale Institution, der Markt, eine eindeutig positive Würdigung erfährt27: „Der Markt ist, wenn gegenseitiges und allgemeines Vertrauen herrscht, die wirtschaftliche Institution, die die Begegnung zwischen den Menschen ermöglicht, welche als Wirtschaftstreibende ihre Beziehungen durch einen Vertrag regeln und die gegeneinander aufrechenbaren Güter und Dienstleistungen austauschen, um ihre Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen.“ (CIV 35) Nicht nur im Sinne eines Zugeständnisses wird der Markt akzeptiert, sondern mit seinem entscheidenden Instrument, dem Wettbewerb, als die relevante Institution bezeichnet, die der Entfaltung der Tauschbeziehungen dient. Von daher wird offenkundig, dass nicht, wie in der Rezeption der Enzyklika verschiedentlich zu lesen war,28 die positiven Aussagen zum Markt, wie man sie bei Papst Johannes Paul II. findet, gegen eine vermeintlich marktkritische Position des gegenwärtigen Papstes auszuspielen sind. Beiden gemeinsam ist eine – im Vergleich zur früheren Position der Sozialverkündigung dem Markt gegenüber29 – marktpositive Haltung, die aber jeweils an bestimmte Konditionen gebunden ist und aus der heraus jeweils aktuelle Konsequenzen bedacht werden. Hier setzen beide Päpste unterschiedliche Akzente: Während Johannes Paul II. seine Zustimmung zum Kapitalismus an die Anerkennung der positiven Rolle des Unternehmers, der freien Kreativität und einer festen Rechtsordnung bindet,30 macht Benedikt XVI. vor allem vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen deutlich, dass der Markt nicht einfach ein automatisch und ausschließlich nach festen Gesetzmäßigkeiten ablaufender Prozess ist: Wenn er „nur dem Prinzip der Gleichwertigkeit der getauschten Güter überlassen wird, ist er nicht in der Lage, für den sozialen Zusammenhalt zu sorgen, den er jedoch braucht, um gut zu funktionieren. Ohne solidarische und von gegenseitigem Vertrauen geprägte Handlungsweisen in seinem Inneren kann der Markt die ihm eigene wirtschaftliche Funktion nicht vollkommen erfüllen.“ (CIV 35) Mit Blick auf die Entwicklung der letzten Monate wird die Dimension des Vertrauens, die in der aktuellen Krise vielerorts verloren gegangen scheint, auch eindeutig benannt. Die Institutionen Markt und Wettbewerb können also Benedikt zufolge ohne ein Ethos der Solidarität und des Vertrauens nicht angemessen gelingen. Der Markt selber ist mithin in seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten Ort moralischen Handelns. „Die Soziallehre der Kirche ist der Ansicht, dass wahrhaft menschliche Beziehungen in Freundschaft und Ge-

27 Anders dazu etwa J. Wiemeyer, der dazu schreibt: „Es fehlt in CiV eine ausdrückliche positive Würdigung von Markt und Wettbewerb.“ (Wiemeyer) Wiemeyer führt als Begründung die unterschiedlichen, im Text benannten Gefahren des Marktes an wie die Unterdrückung der Armen, was allerdings m. E. nicht die prinzipielle Wertschätzung des Marktes in Abrede stellt, sondern seine Grenzen deutlich macht. 28 Vgl. z.B. Greven. 29 Vgl. Nothelle-Wildfeuer / Steger. 30 Vgl. CA 42.

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meinschaft, Solidarität und Gegenseitigkeit auch innerhalb der Wirtschaftstätigkeit und nicht nur außerhalb oder ,nach‘ dieser gelebt werden können.“ (CIV 36.) 2. In diesem Kontext ist auch die besondere Betonung der Rolle des Unternehmens und der Unternehmer zu verorten: Spezifisch unternehmerisches Handeln – Stichwort: Gewinn und Investition – wird in dieser Enzyklika erstmals in einer so dezidierten positiven Weise in seiner ökonomischen und auch ethischen Bedeutung hervorgehoben, zugleich wird die soziale Verantwortung31 des Unternehmers unterstrichen – i. e. social responsibility. In Konsequenz dieser Perspektive liegt der sog. Stakeholder-Ansatz, der sich dort findet, wo Benedikt die soziale Verantwortung des Unternehmers für „die Arbeitnehmer, die Kunden, die Zulieferer der verschiedenen Produktionselemente, die entsprechende Gemeinde“ (CIV 40) betont, ein Ansatz, der derzeit in der wirtschaftsethischen Diskussion und Auseinandersetzung mit dem Shareholder-value-Ansatz von großer Bedeutung ist. Insgesamt weist die Enzyklika mit dieser Konzeption ein spezifisches, nicht dem Mainstream entsprechendes Verständnis von Wirtschaftsethik auf, in dessen Konsequenz es auch liegt, dass nicht nur einzelne Sonderbereiche des Wirtschaftens ethisch werden müssen, sondern dass die gesamte „Wirtschaft mit all ihren Zweigen ein Teilbereich des vielfältigen menschlichen Tuns“ (CIV 45) und damit ethisch ist. Das ist in der Tradition der katholischen Soziallehre keine ganz neue Position, wohl aber ist die Klarheit und Präzision neu, in der beide Dimensionen hier in ihrer wechselseitigen Zuordnung gewürdigt werden. 3. Bei aller Wertschätzung des Ethos bleibt aber zugleich deutlich im Bewusstsein, dass der Markt die moralischen Kräfte, derer er bedarf, nicht selbst hervorbringen kann. „Er muss vielmehr auf die moralischen Kräfte anderer Subjekte zurückgreifen, die diese hervorbringen können.“ (CIV 35) Damit klingt – wirtschaftsethisch gewendet – das sog. Böckenförde-Dilemma an, das besagt, dass „[d]er freiheitliche, säkularisierte Staat […] von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann.“32 Das Gleiche wird hier analog für den Bereich der Wirtschaft geltend gemacht – so, wie es bereits Jahrzehnte früher einer der Väter der Sozialen Marktwirtschaft, Wilhelm Röpke, in „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ ausgeführt hatte: „Diese Kraft [sc. zum Gemeinsinn. Anm. U. N.-W.] erwächst nicht aus dem Markte selber und auch nicht aus dem Spiel der hier sich messenden Interessen, sondern die Menschen müssen sie bereits besitzen, und Familie, Kirche, echte Gemeinschaften und Überlieferung müssen sie damit ausstatten.33 4. Diese konstitutive Reziprozität von Ethos und Strukturen prägt nun nicht nur das Verständnis von Wirtschaftsethik, sondern auch darüber hinaus das Verständnis von Sozialethik insgesamt. Für Lösungen im Sinne einer menschenwürdigen Entwicklung reichten, so heißt es in der Enzyklika, „Institutionen allein nicht aus“ 31

Vgl. CIV 40. Böckenförde, S. 60. 33 Röpke, S. 306. 32

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(CIV 11), sondern bedürfe es darüber hinaus einer tiefgreifenden kulturellen Erneuerung und der Wiederentdeckung von Grundwerten. Demzufolge ist und bleibt Sozialethik sicherlich Strukturen- bzw. Institutionenethik, aber sie ist dies – und damit setzt sich der Papst durchaus ab vom Mainstream der Sozialethiker bzw. entspricht einem langsam erwachenden Bewusstsein – nicht ausschließlich: Die Dimension der Tugendethik, um das klassische Wort einmal zu gebrauchen, spielt ebenfalls eine konstitutive Rolle, wie auch bereits in der oben zitierten Definition von Soziallehre: „caritas in veritate in re socialis“ anklingt. Diese Position ist es eigentlich, die die Tradition der Sozialverkündigung immer geprägt hat,34 neu ist hier einerseits die Zuspitzung auf den Bereich des Marktes und andererseits die Verdeutlichung und Klärung des tatsächlichen Ineinanders. V. These: Ein völlig neues Element führt der Papst in die Tradition der kirchlichen Soziallehre ein mit der Beschäftigung mit der Zivilgesellschaft als drittem konstitutiven Akteur des Wirtschaftens.

1. Mit Bezug auf ,Centesimus annus‘ hebt der Papst hervor, dass die Wirtschaftstätigkeit nicht nur, wie gemeinhin immer formuliert, zwei, sondern drei Subjekte hat: neben Markt und Staat – also neben den beiden Subjekten, um deren „Mehr“ oder „Weniger“ heute allenthalben gestritten wird – noch die Zivilgesellschaft. Der Staat könne die Sorge für die Solidarität nicht allein tragen, dafür bedürfe es, so der Papst – und dieser Akzent ist neu in der Sozialverkündigung der Kirche – der Zivilgesellschaft. Sie ist unter den Bedingungen der Gegenwart zur Realisierung von Gerechtigkeit unabdingbar. Sie bringt nach Benedikt XVI. die Dimension der Unentgeltlichkeit, die „Logik des Geschenks ohne Gegenleistung“ (CIV 37) ein. „In der Zeit der Globalisierung kann die Wirtschaftstätigkeit nicht auf die Unentgeltlichkeit verzichten, die die Solidarität und das Verantwortungsbewusstsein für die Gerechtigkeit und das Gemeinwohl in seinen verschiedenen Subjekten und Akteuren verbreitet und nährt.“ (CIV 37) Weltweit werde, das sieht der Papst ganz klar, am ehesten auf die Logik des Tausches und damit auf den Markt vertraut, aber die Logik der Politik und vor allem die Logik des Geschenks erweise sich auch als unverzichtbar. Dass diese Unentgeltlichkeit nicht zu verordnen ist, weiß der Papst, dass aber sowohl Markt als auch Politik Menschen brauchen, die zu dieser Unentgeltlichkeit – insbesondere im Zeitalter der Globalisierung – bereit sind, betont er in aller Deutlichkeit. Er spricht in diesem Zusammenhang von der „Zivilisierung der Wirtschaft“. Damit schließen diese Überlegungen zur Zivilgesellschaft an den vorher herausgearbeiteten Aspekt der Bedeutung des Ethos und der Haltungen an. 2. Der Papst hat aber darüber hinaus ganz konkret im Blick, wie diese Dimension der Zivilgesellschaft sich auf dem Markt verortet: Auf dem Markt sollen „Unternehmen mit unterschiedlichen Betriebszielen frei und unter gleichen Bedingungen tätig sein […]. Neben den gewinnorientierten Privatunternehmen und den verschiedenen Arten von staatlichen Unternehmen sollen auch die nach wechselseitigen und sozialen Zielen strebenden Produktionsverbände einen Platz finden und tätig sein kön34

Vgl. etwa QA 77 „Zuständereform und Sittenbesserung“.

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nen.“ (CIV 38) Hier spricht die aktuelle wirtschaftsethische Diskussion von „social entrepreneurship“. Mit diesem Verweis auf die Zivilgesellschaft, mit dem der Papst an kommunitaristische Theorieansätze anschließt, beantwortet der Papst, m. E. ganz anders als in der gegenwärtig z. T. enggeführten Debatte erwartet, die Frage danach, in welcher Richtung eine Lösung der aktuellen Krise zu suchen sei. Die Enzyklika ist nicht einfach – und damit nimmt der Papst nicht inhaltlich, sondern formal eine aus der Tradition bekannte Position ein35 – eine Stimme mehr, die für mehr oder weniger Markt und für mehr oder weniger Staat plädiert. Der Papst zeigt mit dem dritten Subjekt einen größeren Horizont auf: Die Zivilgesellschaft bringt das Ethos ein, das notwendig ist, um die Wirtschaft zu ihrem eigentlichen Ziel zu führen, um ganzheitliche Entwicklung gelingen zu lassen. Gemeint sind ein gesellschaftliches Ethos und zivilgesellschaftliche Bemühungen, die wiederum rechtliche und strukturelle Konsequenzen zeitigen. VI. These: Die Soziallehre der Kirche bringt den öffentlichen, gesellschaftlich-politischen Auftrag der Kirche zum Ausdruck und macht das Statut des Bürgerrechts der christlichen Religion geltend.

Mit dieser Enzyklika geht der Papst schließlich einen wichtigen Schritt zu dem, was er für eine wahre Entwicklung fordert, nämlich Gott „auch im öffentlichen Bereich mit spezifischem Bezug auf die kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und insbesondere politischen Aspekte Platz“ zu geben und das ,Statut des Bürgerrechts‘ der christlichen Religion geltend zu machen.“ (CIV 56) Im Blick auf die gegenwärtige Gesellschaft und ihre aktuellen Probleme fordert er also kein Privileg der Kirche, sondern aus der Perspektive des Menschenrechtsdenkens das Recht, auch öffentlich, als Institution, den Glauben im öffentlichen Leben zum Ausdruck bringen und ihn im Zusammenleben der Menschen realisieren zu können. Damit verortet er die Soziallehre – in neuer Argumentation, aber an der gleichen Stelle wie die Tradition bisher – weder auf der Seite des Fundamentalismus noch auf der des Laizismus, sondern dort, wo Glaube und Vernunft im Zusammenspiel wahre Entwicklung voranbringen.

Fazit Ohne an dieser Stelle die Frage nach Rückschritt oder Fortschritt der Sozialverkündigung erschöpfend behandelt zu haben, kann als Fazit festgehalten werden: Die Überlegungen haben gezeigt, dass die neue Sozialenzyklika durchaus in der einen, allerdings vielfältigen Tradition der Soziallehre der Kirche, genauer, der kirchlichen Sozialverkündigung steht. Genauso, wie diese in den vergangenen nahezu 120 Jahren immer wieder fortgeschrieben wurde mit sehr unterschiedlichen Ak35

Hier könnte man in QA eine Parallele finden: mit der Idee der berufsständischen Ordnung nimmt Pius XI. ebenfalls die Gesellschaft in die Pflicht, einen eigenen Beitrag zu leisten zum Wirtschaften und der entsprechenden Ordnung. Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass sich inhaltlich mit diesem Modell der berufsständischen Ordnung die gesamte nachfolgende Soziallehre schwer getan hat.

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zentuierungen, jeweils aktuellen thematischen Schwerpunkten und auch neuen theologischen, sozialphilosophischen und humanwissenschaftlichen Zugangsweisen, so zeichnet sich die Sozialverkündigung Papst Benedikts XVI. auch durch einen eigenen Ansatz aus. Die in GS erreichte Ebene der Reflexion und der spezifischen Gestalt der Soziallehre der Kirche dient ihm als Ausgangspunkt: So etwa, wenn er in klarer Weise den theologischen Zugang betont und vertieft, oder wenn er mit PP einen neuen Traditionsstrang der Soziallehre beginnen lässt und somit bestimmte Aspekte für die Fortentwicklung in besonderer Weise stärkt! Selbstverständlich gibt es auch neue sachlich-inhaltliche Aspekte, die bisher so noch nicht vorkamen (bzw. vorkommen konnten). Die bedeutende Leistung der Enzyklika scheint mir zu sein, dass der Papst mit diesem Schreiben die großen sozialen Fragen der Gegenwart in der Perspektive der Entwicklung rekonstruiert und sie damit in einem größeren anthropologisch-sozialethischen Horizont verortet. Damit erweist er die Soziallehre als einen für die gegenwärtigen Fragen wichtigen und konstitutiven Gesprächspartner in der Zivilgesellschaft, unabhängig von der Einzelbewertung materialer Details. Literatur Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt, 1976. Emunds, Bernhard: Kein großer Wurf. Kommentar zur Enzyklika Caritas in Veritate, unter: http://www.sankt-georgen.de/nbi/publikationen/kommentare/2009/kein-grosser-wurf/, 2009, zuletzt geprüft am 08. 02. 2011. Gabriel, Karl: Globalisierung, Entwicklung und die Rolle der Religionen. Anmerkungen, in: Amos. Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik, Jg. 3, Heft 3, 2009, S. 10 – 16. – Konflikt zwischen Moral und Sozialwissenschaften. Über Stärken und Schwächen der Sozialenzyklika von Papst Benedikt XVI, unter: http://www.uni-muenster.de/Religion-und-poli tik/aktuelles/2009/sep/Gastbeitrag_Gabriel.html, 2011, zuletzt geprüft am 08. 02. 2011. Greven, Ludwig: Papst rechnet mit dem Marktradikalismus ab, in: Die Zeit vom 07. 07. 2009 (Zeit Online), unter: http://www.zeit.de/online/2009/28/papst-enzyklika-analyse, 2009, zuletzt geprüft am 01. 06. 2011. Kruip, Gerhard: Der Mensch – das echte Kapital, in: neue caritas, Jg. 110, Heft 16, 2009, S. 21 – 25. – Entwicklung und Wahrheit. Die Sozialenzyklika Benedikts XVI. ermöglicht viele Lesarten, in: Herder Korrespondenz, Jg. 63, Heft 8, 2009, S. 388 – 392. Küppers, Arnd (2009): Jenseits von Angebot und Nachfrage. Die Enzyklika „Caritas in veritate“ und die Wirtschaftskrise, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio, Jg. 38, S. 419 – 427. Nothelle-Wildfeuer, Ursula: „Duplex ordo cognitionis“. Zur systematischen Grundlegung einer Katholischen Soziallehre im Anspruch von Philosophie und Theologie, Paderborn, 1991. – Arbeit – cantus firmus kirchlicher Sozialverkündigung, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio, Jg. 40, Heft 2, 2011, S. 127 – 137.

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– Die Option für die Armen als Option für Beteiligung(sgerechtigkeit), in: Eurich, Johannes / Wegner, Gerhard / Barth, Florian / Baumann, Klaus (Hg.): Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung. Theologische Grundlagen und praktische Ansätze für Diakonie und Gemeinde, Stuttgart, 2011, S. 135 – 157. Nothelle-Wildfeuer, Ursula / Steger, Gerhard: Die päpstliche Sozialverkündigung und ihr Verhältnis zur Marktwirtschaft von Rerum novarum bis Deus caritas est, in: Freiburger Universitätsblätter, Jg. 173, Heft 3, 2006, S. 19 – 33. Papst Benedikt XVI.: Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 2009, unter: http:// www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/messages/peace/documents/hf_ben-xvi_ mes_20081208_xlii-world-day-peace_ge.html, 2009, zuletzt geprüft am 10. 03. 2010. Papst Johannes Paul II.: Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ vom 30. 12.1987, deutscher Text nach: Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ von Papst Johannes Paul II. Zwanzig Jahre nach der Enzyklika „Populorum progressio“ (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 82), Bonn, 1987/1988. Ratzinger, Joseph: Naturrecht, Evangelium und Ideologie in der katholischen Soziallehre. Katholische Erwägungen zum Thema, in: Bismarck, Klaus von / Dirks, Walter (Hg.): Christlicher Glaube und Ideologie, Berlin/Mainz, 1964, S. 24 – 30. – Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates, in: Habermas, Jürgen / Ratzinger, Joseph (Hg.): Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg, 2005, S. 39 – 60. Röpke, Wilhelm: Jenseits von Angebot und Marktwirtschaft. Die Marktwirtschaft ist nicht alles, in: Röpke, Wilhelm: Marktwirtschaft ist nicht genug. Gesammelte Aufsätze. Hg. v. Hans Jörg Hennecke, Waltrop, 2009, S. 303 – 314. Schockenhoff, Eberhard: Naturrecht und Menschenwürde. Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt, Mainz, 1996. Sutor, Bernhard: Katholische Soziallehre in der Globalisierung. Alte Asymmetrien – neue Perspektiven, in: Stimmen der Zeit, Bd. 229, Heft 2, 2011, S. 123 – 133. Vaticanum II.: Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes vom 7. 12. 1965, in: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands (KAB) (Hg.): Texte zur katholischen Soziallehre, Kevelaer, 1989. Vogt, Markus: Beredtes Schweigen. Zu den ökologischen Aspekten der neuen Sozialenzyklika, in: Amos. Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik, Jg. 3, Heft 3, 2009, S. 27 – 35. Wiemeyer, Joachim: Marktwirtschaft und Gemeinwohl. Benedikt XVI. zu den Defiziten und Möglichkeiten der Abhilfe, in: Amos. Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik, Jg. 3, Heft 3, 2009, S. 17 – 22.

Personenverzeichnis Acemoglu, Daron 143, 156 Achinger, Hans 20 Ackermann, Stephan 215, 237 Alberigo, Giuseppe 245 Albert, Jens 156 Alexander, Edgar 25 Alford, Helen 183, 185 Althammer, Jörg 6, 121, 141, 146, 137 Ambrosius von Mailand 46 Anheier, Helmut 185 Antiseri, Dario 124, 138 Anzenbacher, Arno 86 – 87, 224, 237 Aristoteles 16, 35, 68, 78, 92, 124 Arts, Wil 156 Augsberg, Ino 91, 104 Augustinus von Hippo 44 – 50, 52 – 53, 55, 73, 109, 118 – 119

Brandt, Hermann 236 – 237 Brandts, Franz 174 Brauns, Heinrich 174 Bremer, Jörg 223, 237 Briefs, Götz 173, 186 Brocker, Manfred 87 – 88 Bruckmann, Florian 41, 45 – 46, 52, 78 Bruni, Luigino 113 – 114, 118, 130, 138, 177, 186, 216, 221, 237 Brunner, Gordon 186 Buchanan, James M. 64, 66, 68 – 69 Bucher, Rainer 234, 237 Büchner, Bernward 213 Bühl, Walter Ludwig 38 Burckhardt, Jacob 96, 103 Burger, Rudolf 92, 103 Busenmeyer, Marius 145, 156

Baier, Walter 53 Ballestrem, Karl Graf 82, 87 Barro, Robert 143, 156 Barth, Florian 255 Batthyány, Philipp 58, 68 Baudrillard, Jean 176 Baumann, Klaus 255 Baumgartner, Alois 29 Beck, Christian 52 Becker, Jürgen 95, 103 Beierwaltes, Werner 46, 52 Bieger, Eckhard 69 Bismarck, Klaus von 88, 119, 238, 255 Blome-Drees, Franz 118 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 56, 68, 74, 79, 91, 93, 103 – 104, 128, 197 – 198, 241, 251, 254 Böckle, Franz 197 – 198 Böhm, Franz 127, 138 Bonoli, Giuliano 156 Borjas, George 147, 156 Böttigheimer, Christoph 49 – 50, 52 Brague, Rémi 78 – 79

Castles, Francis 156 Chenu, Marie-Dominique 224 – 225, 237, 245 Chittilappilly, Paul-Chummar 238 Cichon, Michael 142, 156 Clark, Gregory 173, 186 Compagnoni, Francesco 183, 185 Cordes, Paul Josef 223 Dassmann, Ernst 49, 52 Deckers, Daniel 107, 110, 118 Demmer, Klaus 109, 118 Depenheuer, Otto 89, 91 – 97, 101, 103 Derrida, Jacques 49, 52, 176 Diels, Hermann 44 Dirks, Walter 88, 119, 238, 255 Dollar, David 142 – 143, 156 Donati, Pierpaolo 130, 138, 176, 186 Drobinski, Matthias 111, 118, 218, 237 Dürig, Günter 68 Düsing, Edith 52

258

Personenverzeichnis

Eickhof, Norbert 146, 156 Emunds, Bernhard 215, 247, 254 Enders, Markus 45, 52 Engels, Friedrich 213 Erzberger, Matthias 174 Esping-Andersen, Gösta 156 Euchner, Walter 69 Eucken, Walter 127, 138 Eurich, Johannes 255 Felice, Flavio 126 – 127, 133, 138 – 139 Ferge, Zsuzsa 157 Ferrara, Maurizio 156 Fisch, Andrea 139 Fischer, Norbert 47 – 48, 52 Fitoussi, Jean-Paul 15, 20 Forte, Francesco 127, 139 Franco, Giuseppe 5, 121, 139 – 140, 185 Frankl, Viktor E. 98 – 99 Fuchs, Gotthard 238 Fukuyama, Francis 212 – 213

Hebensperger, Johann Nepumuk 47, 53 Hegner, Jan 64, 68 Heimbach-Steins, Marianne 176, 186, 226, 237 Hengsbach, Friedhelm 221, 224 – 226, 237 Hennecke, Hans Jörg 255 Heraklit von Ephesus 44 Herdegen, Matthias 56, 68 Hertling, Georg von 247 Hilberath, Bernd Jochen 238 Hillgruber, Christian 91, 103 Hitze, Franz 174 Hobbes, Thomas 90, 93, 103, 175 Hoch, Martin 138, 140 Hoeren, Jürgen 139 Höffe, Otfried 105 – 106, 108 – 109, 118 Hoffmann, Andreas 52 Höffner, Joseph 11, 24, 26, 55, 59, 68, 86 – 87 Hofmann, Fritz 52 Homann, Karl 58, 69, 112 – 113, 118, 171 Honneth, Alex 38 Huar, Ulrich 58, 69 Huber, Wolfgang 232 Hünermann, Peter 238 Huning, Hanns 46, 53 Huxley, Aldous 212

Gabriel, Karl 117 – 118, 171, 244 – 245, 254 Gadenne, Volker 136, 139 Gardels, Nathan 97, 103 Gärditz, Klaus Ferdinand 91, 103 Gelissen, John 156 Genovesi, Antonio 177 Giddens, Anthony 229, 237 Girard, René 97, 99, 103 Glasius, Marlies 185 Goldschmidt, Nils 26, 127, 139, 175, 186 Graafland, Johan J. 162, 170 Grabenwarter, Christoph 103 Gregg, Samuel 187 Greven, Ludwig 134, 139, 250, 254 Großmann-Dörth, Hans 127, 138 Guillen, Ana 145, 156 Gundlach, Gustav 22, 38

Johannes XXIII. 17, 24 – 25, 29, 39 42, 45, 108, 154, 171, 207, 225, 230 Johannes Paul I. 41 Johannes Paul II. 11 – 12, 15, 20, 22, 25, 30, 31, 39, 41, 42, 45, 53, 71, 74, 76 – 77, 79, 82 – 83, 87, 108, 115 – 116, 122 – 123, 131, 135, 167, 171, 179, 199 – 200, 202, 205 – 210, 213, 230 – 231, 239, 241, 246 – 250, 255 John, Ottmar 234, 238

Habermas, Jürgen 20, 86, 105, 110, 118, 212 – 213, 243, 245 – 255 Habisch, André 127, 139, 173, 175, 183, 186 Hahn, Rüdiger 161, 170 Häring, Bernhard 45, 52 Harper, Ian R. 187 Hattler, Johannes 79 Hayek, Friedrich A. von 68, 146, 156

Kaibach, Rudolf 34 Kaldor, Mary 185 Kaminski, Claudia 213 Kannengießer, Walter 118 Kant, Immanuel 61 – 63, 65, 67, 69, 89, 96, 104 Kaufhold, Karl-Heinrich 173, 186 Kay, Stephen 156, 145

Isensee, Josef 91, 93, 97, 103 – 104

Personenverzeichnis Kersting, Wolfgang 106, 119 Ketteler, Wilhelm Emmanuel von 63, 69, 247 King, Maryon 186 Kirchhof, Paul 12, 17, 94, 103 – 104 Klasen, Stephan 161, 164 – 165 171 Klasvogt, Peter 139 Klein, Hans-Dieter 52 Klinger, Elmar 234, 238 Kobusch, Theo 86, 88 Kohlberg, Jon-Eivind 157 Kolmar, Martin 147, 156 Korpi, Walter 156 Koslowski, Peter 171 Kraay, Aart 142 – 143, 156 Kranz, Walther 44 Kreuzer, Johann 52 Krienke, Markus 132, 139 Kruip, Gerhard 29, 38, 43 – 44, 53, 109, 119, 216 – 217, 220, 222, 226 – 227, 231, 238, 240, 245, 254 Kruse-Ebeling, Ute 73, 79 Kuhn, Helmut 45 – 46, 49, 53 Küng, Hans 125, 139 Küppers, Arnd 23, 26, 63, 69, 105, 115 – 116, 119, 245, 254, 258 (AV)

259

Marx, Reinhard 18, 20, 50, 53, 115, 119 Matsaganis, Manos 145, 156 Maunz, Theodor 68 Maydell, Bernd von 118 Meier, Uto 20, 186 Menke, Karl-Heinz 110, 119 Milanovic, Branko 161, 171 Miller, Michael 183, 187 Mion, Giorgio 182, 187 Mitchell, Deborah 156 Moffit, Robert 147, 157 Monti, Eros 183, 185 Monzel, Nikolaus 106 – 107, 119 Müller-Armack, Alfred 127, 139 Nass, Elmar 55, 60, 64, 68 – 69 Neck, Reinhard 136, 139 Nell-Breuning, Oswald von 20, 38, 59, 69, 110, 115, 119 Nothelle-Wildfeuer, Ursula 23 – 24, 26, 108, 113, 117, 119, 122, 129, 131, 139, 239, 241, 246, 248, 250, 254 – 255 Nussbaum, Martha C. 58, 69, 167, 171 Oates, Wallace 145, 157

Ladeur, Karl-Heinz 91, 104 LaFleur, William 75, 79 Lampert, Heinz 143, 146, 157 Langhorst, Peter 63, 69 Leibfried, Stephan 157 Leo XIII. 22, 26, 41, 171, 206, 208, 210, 229 Leschke, Martin 69 Levine, Phillip 157, 147 Lienkamp, Andreas 238 Löhr, Mechthild 213 Loza Adaui, Cristian 173, 175, 181 – 182, 186 – 187 Lubac, Henri de 231 Luhmann, Niklas 97, 104 Lütge, Christoph 171 Luther, Martin 92, 96

Palme, Joakim 156 Paul VI. 21, 25, 30 – 31, 42, 67, 69, 77, 82, 117, 159, 168, 171, 175, 200 – 202, 207, 210, 222, 230, 232, 236, 248 Pesch, Heinrich 38 Peterson, Paul 147, 157 Pies, Ingo 58, 69 Pius IX. 23, 41, 87 Pius XI. 22, 42, 69, 171, 253 Pius XII. 107 – 108 Platon 45, 55, 79, 233 Pogge, Thomas 159, 164, 166, 171 – 172 Popper, Karl R. 124, 139 Preller, Ludwig 20

Mack, Elke 143, 159, 164 – 165, 171 Malthus, Thomas 173 Marion, Jean-Luc 78 – 79 Maritain, Jacques 202, 213 Marx, Karl 22, 59, 116, 201, 208, 213

Ratzinger, Joseph 20, 42, 53, 86, 88, 99, 104, 109 – 112, 119, 136 – 137, 139, 212 – 213, 219, 225, 238, 243 – 245, 255 Rauscher, Anton 26, 103, 119, 122, 140, 186 Reese-Schäfer, Walter 154, 157

Quaritsch, Helmut 93, 104

260

Personenverzeichnis

Remolina, Gerardo 176, 187 Rescher, Nicholas 72, 79 Rief, Josef 46 – 48, 53 Risse, Mathias 163, 171 Roetz, Heiner 75, 79 Rom, Mark 147, 157 Roos, Lothar 22, 24, 26, 87, 111, 119, 122, 135, 139 – 140, 218, 238 Röpke, Wilhelm 111 – 112, 119, 122, 127 – 128, 133 – 134, 137 – 138, 140, 213, 251, 255 Rossi, Giovanna 138 Rössler, Beate 38 Rottländer, Peter 235, 238 Rusconi, Francesco 183, 185 Ruse, Austin 209 Rüstow, Alexander 68 Saberschinsky, Alexander 25 – 26 Sachs, Jeffrey 163 – 171 Sainsbury, Diane 157 Sala-i-Martin, Xavier 143, 156 Salvini, GianPaolo 121, 140 Sander, Hans-Joachim 234, 238 Sarkozy, Nicolas 15 Scabini, Eugenia 138 Scanlon, Thomas M. 165 Scannone, Juan Carlos 176, 187 Schallenberg, Peter 109, 119 Scheler, Max 73, 79 Schlag, Martin 113, 120, 134, 140, 202, 205, 213, 216, 238 Schlink, Bernhard 91, 104 Schockenhoff, Eberhard 244, 255 Schooyans, Michel 209, 213 Schramm, Michael 171 Schuhknecht, Stephanie 6 Schweidler, Walter 71, 77, 79 Sellmann, Matthias 237 – 238 Semeraro, Marcello 121, 140 Sen, Amartya 15, 20, 116, 120, 167, 172, 228, 238 Siaroff, Alan 157 Sill, Bernhard 20, 186 Singer, Peter 58 Sinn, Hans-Werner 148, 157 Sirico, Robert A. 200 Smith, Adam 21

Spaemann, Robert 73, 75, 79, 104, 197 – 198 Spieker, Manfred 5, 199, 200, 206, 209 – 210, 212 – 213 Standing, Guy 147, 156 Steger, Gerhard 122, 139, 241, 250, 255 Stegmann, Franz-Josef 63, 69 Stein, Tine 86 – 88 Stiglitz, Joseph 15, 20 Stober, Rolf 104 Stützel, Wolfgang 119 Suárez, Francisco 85 Suso, Frank, K. 52 Sutor, Bernhard 81, 226, 228 – 229, 238, 242, 255 Szaif, Jan 52 Tanner, Klaus 53 Tanzi, Vito 145, 157 Thiemeyer, Theo 157 Thomas, Hans 79 Thomas von Aquin 22, 35 – 37, 44, 72 Tiebout, Charles 145, 157 Titmuss, Richard 130, 140 Tocqueville, Alexis de 77, 79 Ulrich, Jörg 47, 53 Unterberg, Peter 122, 140 Utz, Artur Fridolin 34 Vanberg, Viktor 57, 68 – 69 Verdier, Jean 21 – 22, 26 Vitoria, Francisco de 85 Vogt, Markus 249, 255 Wagner, Gerd Rainer 142, 161, 170 Waldstein, Wolfgang 78, 80 Wallraff, Hermann Josef 10, 20 Weber, Max 90 Wegner, Gerhard 255 Weigel, George 202, 213 Weiger, Hubert 189, Welty, Eberhard 26, 29, 33 – 34, 39 Wenar, Leif 165, 172 Wiemeyer, Joachim 115, 120, 134, 140, 150, 157, 249 – 250, 255 Wildasin, David 145, 157 Winger, Wolfram 50, 53 Wohlgemuth, Michael 26, 139

Personenverzeichnis Zamagni, Stefano 113 – 114, 118, 177, 186 – 187, 205, 213, 216, 221, 237 Zanger, Sabine 149, 157

Zieba, Maciej 200 Zimmerman, David 147, 157 Zschaler, Frank E. W. 21 – 23, 27

261

Autorenverzeichnis Jörg Althammer ist Professor für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Alois Baumgartner ist emeritierter Professor für Christliche Sozialethik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Florian Bruckmann ist Privatdozent an der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Otto Depenheuer ist Professor für Allgemeine Staatslehre, Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie sowie Direktor des Seminars für Staatsphilosophie und Rechtspolitik an der Universität zu Köln. Bernhard Emunds ist Professor für Christliche Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen und Leiter des Nell-Breunings-Institutes – Frankfurt. Giuseppe Franco, Doktor der Philosophie und Doktorand in der Theologie, ist wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschafts- u. Unternehmensethik und am Lehrstuhl für Dogmatik und Dogmengeschichte der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. André Habisch ist Professor für Christliche Sozialethik und Gesellschaftspolitik an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Arnd Küppers, Doktor der Theologie, ist Wissenschaftlicher Referent und Stellvertretender Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach. Christian R. Loza Adaui ist Doktorand an der Professur für Christliche Sozialethik und Gesellschaftspolitik an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Elke Mack ist Professorin für Christliche Sozialwissenschaft und Sozialethik an der Theologischen Fakultät der Universität Erfurt. Elmar Nass, Doktor der Theologie und Doktor der Sozialwissenschaften, ist Wissenschaftlicher Leiter der Grundwertekommission der CDA Deutschland. Ursula Nothelle-Wildfeuer ist Professorin für Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Reinhard Kardinal Marx ist Erzbischof von München und Freising und ehemaliger Professor für Christliche Sozialethik an der Theologischen Fakultät Paderborn. Walter Schweidler ist Professor für Philosophie an der Philosophisch-Pädagogischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Manfred Spieker ist emeritierter Professor für Christliche Sozialwissenschaften am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück. Bernhard Sutor ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

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Autorenverzeichnis

Huber Weiger ist Professor, Vorsitzender des Bund Naturschutz in Bayern und Vorsitzender des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland. Frank Zschaler ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.