Bundeswehr in Somalia: Verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Überlegungen zur Verwendung deutscher Streitkräfte in VN-Operationen [1 ed.] 9783428478712, 9783428078714

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Bundeswehr in Somalia: Verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Überlegungen zur Verwendung deutscher Streitkräfte in VN-Operationen [1 ed.]
 9783428478712, 9783428078714

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Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht

Band 21

Bundeswehr in Somalia Verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Überlegungen zur Verwendung deutscher Streitkräfte in VN-Operationen Von

Dr. Wolfgang März

Duncker & Humblot · Berlin

WOLFGANG MÄRZ

Bundeswehr in Somalia

Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Herausgegeben von Wotfgang Graf Vitzthum in Gemeinschaft mit Martin Hecket, Ferdinand Kirchhof Hans von Mangotdt, Thomas Oppermann Günter Pütlner sämtlich in Tübingen

Band 21

Bundeswehr in Somalia Verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Überlegungen zur Verwendung deutscher Streitkräfte in VN -Operationen

Von

Dr. Wolfgang März

DUßcker & Humblot . Berliß

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme März, Wolfgang: Bundeswehr in Somalia: verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Überlegungen zur Verwendung deutscher Streitkräfte in VN-Operationen / von Wolfgang März. Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht ; Bd. 21) ISBN 3-428-07871-3 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: W. März, Tübingen Druck: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6061 ISBN 3-428-07871-3

Vorwort Seit Ausgang der achtziger Jahre haben die von den Vereinten Nationen (VN) beschlossenen friedenserhaltenden und -herstellenden Maßnahmen deutlich zugenommen. Multinationale Beobachtennissionen und Friedenstruppen werden heute in zahlreichen zwischenstaatlichen Konflikten und in größeren innerstaatlichen Krisen eingesetzt. Die Bundesrepublik Deutschland, mit der ehemaligen DDR 1973 Mitglied der Vereinten Nationen geworden, stand wie diese hier lange Zeit abseits. Bonn leistete bei vielen Operationen zwar humanitäre, finanzielle oder logistische Unterstützung; aus verfassungsrechtlichen Gründen sah sich die Bundesrepublik Deutschland aber nicht in der Lage, sich mit eigenen Soldaten zu beteiligen. Die Wiedervereinigung Deutschlands am 2. Oktober 1990, die Erlangung der vollen staatlichen Souveränität und die nachhaltig veränderte europäische und globale Lage werfen auf den verfassungsleitenden Willen, "in einem ver·· einten Europa dem Frieden der WeIt zu dienen" (Präambel des Grundgesetzes), neues Licht. Diese Umbrüche fallen zusammen mit dem Ende des OstWest-Konflikts und einem gleichzeitigen Anwachsen von Auflösungserscheinungen und Spannungen in Mittel- und Osteuropa sowie in weiteren Teilen der Welt. Deutschland sieht sich zu einem Überprüfen seines Selbstverständnisses gezwungen, sucht nach seiner Stellung in der Völkergemeinschaft. Seine geographische und demographische Lage, sein militärisch-industrielles Gewicht im Nordatlantischen Bündnis bzw. in der Europäischen Gemeinschaft, die Zunahme seiner internationalen Verantwortung, reflektiert nicht zuletzt in der Anregung, sich um einen ständigen Sitz im VN-Sicherheitsrat zu bewerben - dies alles wirft die Frage nach der deutschen Position gegenüber VN-Friedensmissionen und -operationen auf, heute dringender, unausweichlicher denn je. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, gab die Entsendung von Sanitätssoldaten der Bundeswehr nach Kambodscha im Herbst 1991 im Rahmen einer weitausgreifenden, bis heute andauernden VN-Operation dem deutschen Beitrag eine neue Qualität. Diese gelangte ins politische und juristische Bewußtsein durch die Entsendung von Einheiten der Bundesmarine in die Adria (1992/93), wo sie ein VN-Embargo sichern sollen, und durch die Teilnahme deutscher Soldaten - neben denen anderer NATO-Mitglieder - an der Überwachung des Luftraums über Bosnien-Herzegowina (AW ACS). Noch stärker als diese Mitwirkung an dem bisher erfolglosen Versuch einer Hege der postjugoslawischen Tragödie erregt nun, im Sommer 1993, der

6

Vorwort

Einsatz eines Kontingents der Bundeswehr im Rahmen der von den Vereinten Nationen beschlossenen Operation in Somalia (UNOSOM 11) das Interesse der Medien, Bürger, Politiker und der Verfassungs- und Völkerrechtler. Die mittlerweile auf allen Ebenen geführte "Blauhelm"-Debatte über Umfang und Konsequenzen einer Teilnahme an VN-Operationen (etwa unter dem Modestichwort "Militarisierung der Bonner Außenpolitik?") macht vor dem Grundgesetz nicht halt. Im Gegenteil: Sie wird - in Deutschland nicht untypisch - schwerpunktmäßig als eine verfassungsrechtliche Debatte geführt. Fast zwangsläufig mündete sie in (noch keineswegs abgeschlossene) Verfassungsgerichtsverfahren. In diesem Verfassungsdiskurs wird die gegenwärtige Rechtslage für eine VN-Verwendung deutscher Streitkräfte z.T. für ausreichend (wenn auch klarsteIlungsbedürftig) gehalten; z.T. wird eine (einfach-)gesetzliche Regelung oder zumindest eine fonnelle Parlamentszustimmung gefordert; z.T. hält man eine vorherige Änderung des Grundgesetzes für unverzichtbar. Die verfassungsrechtlichen Gründe pro und contra Bundeswehrbeteiligung an VN-Operationen halten sich in etwa die Waage. Manche Argumente scheinen ergebnisorientiert oder zumindest verfassungspolitisch stark vorgefärbt zu sein. Andere wirken bei aller dogmatischen Stringenz merkwürdig distanziert gegenüber der VN-Praxis und der grundlegend veränderten internationalen Lage, von der neueren deutschen Regierungs- und Staatspraxis ganz zu schweigen. Alles in allem handelt es sich - nicht zuletzt wegen der weitgehenden verfassungstextlichen Abstinenz des Grundgesetzes - um ein verfassungsdogmatisches Minenfeld. Die Rechtsfragen sind existenziell und schwierig, die Rechtslage ist hochkomplex, die Antworten de constitutione lata blieben bisher nach Methode, Inhalt und Konsequenzen allesamt strittig, und im Faltenwurf mancher verfassungspolitischer Vorschläge verbergen sich mehr parteistrategische und wahltaktische Überlegungen als solche des gemeinen Wohls. Hier rechtlich einwandfrei ausgeleuchtete Wege zu weisen, die Konsequenzen einer einmal eingeschlagenen Richtung deutlich zu machen und insgesamt ein zusammenfassendes, klärendes Bild der so unübersichtlichen Verfassungsthematik zu zeichnen, ist Aufgabe der vorliegenden Untersuchung. Sie zeigt die Ausgangspunkte und die Spannbreite der Auslegungsansätze auf. Dem Für und Wider und der Verschränkung der einzelnen Interpretationsketten gilt das besondere Interesse, ebenso ihren verfassungsimmanenten Konsequenzen. Auch die verfassungspolitischen Vorschläge werden beleuchtet. Insgesamt erfüllt die Studie damit eine Bringschuld der Wissenschaft. Demgegenüber kann es nicht Aufgabe der Untersuchung sein, die zahllosen vorhandenen Auslegungsergebnisse um neue Varianten zu bereichern oder den heterogenen, den - wie zu zeigen sein wird - Staats- und VerfassungsrechtIer allesamt nicht befriedigenden rechtspolitischen Initiativen

Vorwort

7

weitere an die Seite zu stellen. Es soll im vorliegenden Rahmen vielmehr nur klargestellt werden, welche Folgen aus den einzelnen verfassungsdogmatischen Positionen jeweils erwachsen und ob Wege offenstehen zu einer verfassungsgerechten Lösung der deutschen Beteiligung an VN-Operationen. Insoweit wird auch versucht, zur Versachlichung des hochpolitischen Themas beizutragen. Herrn Prof. Dr. Wolfgang Graf Vitzthum, an dessen Lehrstuhl ich seit Jahren arbeite, danke ich für kritisch-klärende Gespräche und stetige, nachhaltige Förderung. Ihm und seinen Mitherausgebern bin ich überdies für die Aufnahme der Arbeit in die Tübinger Schriftenreihe verbunden; in ihr konnte ich bereits 1989 (als Band 1) eine andere Untersuchung veröffentlichen. Das Gespräch - in unserem Kreis, aber natürlich auch weit darüber hinaus - geht weiter. Das vielbehandelte Thema der Beteiligung deutscher Soldaten an VN-Operationen hat seine endgültige Antwort noch nicht gefunden; sie findet sich auch nicht in der nachfolgenden Untersuchung. Die Mitwirkung des vereinten Deutschland an VN-Missionen wird noch viele schwer zu beantwortende Fragen stellen - eine gewaltige Herausforderung nicht nur für die Wissenschaft. Die deutsche Außen-, Sicherheits- und VN-Politik hatte sich nach eigenem Bekunden jahrelang vor allem auf den Ausbau der präventiven Friedensfunktionen der Vereinten Nationen konzentriert. Indem die Weltorganisation ihre Friedensaufgabe nun auch und verstärkt in der Lösung bereits ausgebrochener Konflikte sieht und sehen muß, bedarf sie hierzu der Beteiligung von mehr Mitgliedstaaten als bisher. Damit rückt das Ob und das Wie der Mitwirkung deutscher Verbände im Sinne eines aktiven Beitrags zu einer VN-gestützten weltweiten Friedenspolitik ganz nach oben auf der politischen und wissenschaftlichen Tagesordnung. Im freiheitlichen Verfassungsstaat Bundesrepublik Deutschland darf nicht nur der VerfassungsrechtIer darauf vertrauen, daß die Lösung auch dieses gewichtigen Gegenwarts- und Zukunftsproblems mit den Mitteln des Verfassungsrechts gelingt. Tübingen, im Juli 1993

Wolfgang März

Inhalt

1. Einführung: Fragestellung und Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . ..

13

2. Zur Verfassungsmäßigkeit des Entsendebeschlusses vom 20. April 1993 . .

19

2.1 Vereinbarkeit mit Art. 87a GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

2.2 Vereinbarkeit mit Art. 24 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

2.3 Vereinbarkeit mit Art. 59 GG und Parlamentsvorbehalt . . . . . . . . . .

57

3. Zur Zulässigkeit des von der SPD-Fraktion angestrengten Organstreitverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

4. Verfassungspolitischer Ausblick: Änderung des Grundgesetzes als verfassungsgerechte Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

Anhang 1:

Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 8.4.1993 (2 BvE 5/93 und 2 BvQ 11/93) - AWACS . . . . . . . . . . . . . . . .

96

Anhang 2:

Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23.6.1993 (2 BvQ 17/93) - UNOSOM 11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107

Anhang 3:

Gesetzentwürfe zur KlarsteIlung, Ergänzung bzw. Änderung des Grundgesetzes (Art. 24, 87a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

115

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

132

Abkürzungen a.A.

anderer Ansicht

Abs.

Absatz

a.E.

am Ende

a.F./ alt

alte Fassung

AK-GG

Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentare)

Alt.

Alternati ve

APuZ

Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zu Das Parlament)

Art.

Artikel

Aufl.

Auflage

Bd.

Band

Bearb.

Bearbeiter

BGB!.

Bundesgesetzblatt

BK

Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar)

BT-Drs.

Verhandlungen des Deutschen Bundestages / Bundestagsdrucksache

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerfGG

Bundesverfassungsgerichtsgesetz

bzw.

beziehungsweise

ders.

derselbe

Diss.

Dissertation

DÖV

Die Öffentliche Verwaltung

DVBI.

Deutsches Verwaltungsblatt

EA

Europa-Archiv

ebd.

ebenda

EJIL

European Journal of International Law

EuGRZ

Europäische Grundrechte-Zeitschrift

f., ff.

folgend, fortfolgend

Fn.

Fußnote

Abkürzungen

11

FS

Festschrift

GG

Grundgesetz

ggf.

gegebenenfalls

GOBT

Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages

h.L.

herrschende Lehre

Hrsg., hrsg.

Herausgeber, herausgegeben

LS.d.

im Sinne der (des)

LS.v.

im Sinne von

LV.m.

in Verbindung mit

JIR

Jahrbuch für Internationales Recht

JöR NF

Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart (Neue Folge)

JZ

Juristenzeitung

Kap.

Kapitel

KritV

Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft

m.a.W.

mit anderen Worten

MDR

Monatsschrift für Deutsches Recht

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

NATO

North Atlantic Treaty Organization

n.F./neu

neue Fassung

NJ

Neue Justiz

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NZWehrR

Neue Zeitschrift für Wehrrecht

Prot.

Protokoll

Rn.

Randnummer

s., S.

siehe, Seite

s.a.

siehe auch

SoldatenG

Gesetz über die Rechtsstellung der Soldaten (Soldatengesetz)

st. Rspr.

ständige Rechtsprechung

SV

Sondervotum

UNITAF

Unified Task Force

UNOSOM

United Nations Operation in Somalia

12

Abkürzungen

UNTAC

Uni ted Nations Transnational Authority in Cambodia

U.v.

Urteil vom

Verf.

Verfasser

VN

Vereinte Nationen

VN-Charta

Charta der Vereinten Nationen

VVDStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

WEU

Westeuropäische Union

w.N.

weitere Nachweise

ZaöRV

Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik

z.T.

zum Teil

z.zt.

zur Zeit

1. Einführung: Fragestellung und Meinungsstand Am 20. April 1993 beschloß die Bundesregierung nach längeren Verhandlungen mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, "die Operationen der Vereinten Nationen in Somalia (UNOSOM TI) durch Entsendung eines verstärkten Nachschub- und Transportbataillons der Bundeswehr zu unterstützen"!. In diesem afrikanischen Land herrschte seit 1991 Bürgerkrieg. Seither war die ehedem einheitliche staatliche Gewalt nahezu gänzlich verfallen. Erst nach der im Auftrag der Vereinten Nationen erfolgten militärischen Eindämmung des Bürgerkriegs durch einen unter wesentlicher Beteiligung der USA agierenden Vereinten Eingreifverband (UNITAF)2 kehrte das Land - vorerst jedenfalls - zu einigermaßen normalen Verhältnissen zurück. Aufgabe des deutschen Kontingents - es wird ca. 1.700 Soldaten umfassen ist, in Absprache mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, die versorgungsmäßige Unterstützung anderer Kontingente der Friedenstruppe und die Durchführung humanitärer Hilfsrnaßnahmen (medizinische Infrastruktur, Trinkwasserversorgung). Einsatzort ist die Stadt Belet Huen. Sie liegt in einem z.Zt. befriedeten Gebiet. Die Bundeswehreinheiten, die in den Monaten Mai! August 1993 arn Einsatzort eintrafen bzw. dort nach und nach eintreffen werden, sind zu ihrer Selbstverteidigung gegen Angriffe rivalisierender somalischer Militäreinheiten und sich bekriegender Banden mit gepanzerten Transportfahrzeugen und Luftlandepanzern ausgerüstet.

I Der Beschluß fährt fort: "Das Bataillon wird im Rahmen der humanitären Bemühungen der Vereinten Nationen in einer nach Feststellung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen befriedeten Region in Somalia bei Aufbau, Unterstützung und Sicherstellung der Verteilerorganisation für Hilfs- und Logistikgüter mitwirken. Der deutsche Verband wird nicht die Aufgabe haben, militärischen Zwang anzuwenden oder bei der Ausübung solchen Zwangs durch andere mitzuwirken. Davon unberührt bleibt sein Recht zur Selbstverteidigung. Der Kommandeur von UNOSOM 11 erhält wie üblich ,operational control', die Befehls- und Kommandogewalt bleibt bei dem Bundesminister der Verteidigung. ..... (Bulletin/Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1993, 280). - Der Entsendebeschluß geht auf den Grundsatzbeschluß der Bundesregierung vom 17. Dezember 1992 zurück, die humanitären Anstrengungen der Vereinten Nationen in Somalia zu unterstützen; vgl. die Mitteilung in: Bulletin/Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1992, 1315. 2 Dem militärischen Eingreifen ("Operation Restore Hope") war die nur kurzzeitig erfolgreiche Vermittlung eines Waffenstillstands unter den Bürgerkriegsparteien vorausgegangen, zu dessen Gewährleistung der Sicherheitsrat der VN im April 1992 eine Beobachtergruppe in das Land schickte (UNOSOM [I]). Am 1. Mai 1993 ging die Verantwortung von UNITAF auf UNOSOM 11 über.

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1. Einführung: Fragestellung und Meinungsstand

Die Entsendung deutscher Soldaten nach Somalia war, wie der Gesamtkomplex "Bundeswehr unter Blauhelmen", genauer: wie die Beteiligung deutscher Soldaten an vom Sicherheitsrat beschlossenen Aktionen der Vereinten Nationen, politisch und verfassungsrechtlich seit längerem umstritten. Der Streit wurde schließlich auch - in Deutschland besitzt dies Tradition vor das Bundesverfassungsgericht getragen. So beantragte die SPD-Fraktion Mitte Juni 1993 den Erlaß einer einstweiligen Anordnung, mit der die Durchführung des Entsendebeschlusses der Bundesregierung ausgesetzt und diese angewiesen werden sollte, bis zur Entscheidung in der Hauptsache die bereits in Somalia befindlichen Soldaten der Bundeswehr zurückzuziehen und keine weiteren Soldaten zu entsenden. Dem Antrag wurde durch Urteil vom 23. Juni 1993 3 insoweit stattgegeben, als die Beteiligung der Bundeswehr an UNOSOM 11 "nur aufrechterhalten und fortgeführt werden [darf], wenn und soweit der Deutsche Bundestag dies beschließt; bis zu einem solchen Beschluß können die bisher verwirklichten Maßnahmen fortgeführt werden." Der den VN-Einsatz nach der Vorgabe des Gerichts freigebende Parlamentsbeschluß erging am 2. Juli 1993 4• Der angekündigte Hauptsacheantrag im Organstreit wurde Mitte Juli 1993 gestellt. Das Bundesverfassungsgericht hat im Eilverfahren nach § 32 BVerfGG nicht über die verfassungsrechtliche Problematik entschieden. Sie ist weiter offen, und sie ist umstrittener denn je. Wegen der in dieser Verfahrensart gebotenen Beschränkung der Entscheidungsfindung auf eine FolgenabwägungS lassen sich dem Somalia-Urteil bestenfalls ganz undeutliche Fingerzeige über den Ausgang des späteren Hauptsacheverfahrens entnehmen. Die Kernfragen des Komplexes Bundeswehreinsatz im VN-Rahmen und Grundgesetz werden durch dieses Urteil - bewußt und zulässigerweise - ebensowenig beantwortet wie durch das vorherige AWACS-Judikat6• Andererseits harren Regierung, Parlament, Parteien und Bundeswehr, vom Ausland, von NATO, WEU und den Vereinten Nationen ganz zu schweigen, der Klärung dieser für die Handlungsfähigkeit und -richtung des vereinten Deutschland zentralen Fragen.

Urteil vom 23. Juni 1993 - 2 BvQ 17/93, EuGRZ 1993, 326 (= Anhang 2). 4 Dazu BT-Drs. 12/5248 (Entschließungsantrag der Regierungsfraktionen); VerhBT 12/169/2. Juli 1993/14579 ff.; BT-Drs. 12/5338 (Bericht des Verteidigungsausschusses); VerhBT 12/166/24. Juni 1993/14325 ff. S Zum gestuften Entscheidungsmodell des Bundesverfassungsgerichts Berkemann, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 1992, § 32 Rn. 142 ff., 173 ff. 6 Urteil vom 8. April 1993 - 2 BvE 5/93 und 2 BvQ 11/93, DVBI. 1993,547 ff. (= Anhang 1). 3

1. Einführung: Fragestellung und Meinungsstand

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Die vorliegende Abhandlung unternimmt es, dem Generalthema Beteiligung Deutschlands an vom Sicherheitsrat beschlossenen VN-Aktionen nicht in seiner ganzen Breite und Tiefe, sondern paradigmatisch - gleichsam schulfallartig - an einem einzigen Aspekt zu klären: eben dem Entsendebeschluß der Bundesregierung im Somalia-Fall. In der Kabinettsentscheidung vom 20. April 1993 bündeln sich wie in einem Brennpunkt die Grundgesetz-Probleme des VN-Einsatzes deutscher Soldaten. Indem nachfolgende Untersuchung sich auf die Verfassungsmäßigkeit dieses Entsendebeschlusses konzentriert, setzt sie an dem Punkt an, von dem aus das Problemgeflecht der VN-Verwendung von Bundeswehrkontingenten zu entwirren ist. Der Regierungsbeschluß kann unter zwei grundSätzlichen Gesichtspunkten verfassungswidrig sein: 1. kann er insoweit gegen das Grundgesetz verstoßen, als bereits auf Verfassungsebene eine Beteiligung der Bundeswehr an VNEinsätzen ausgeschlossen ist, d.h. eine Beteiligung erst durch verfassungsänderndes Gesetz (Art. 79 GG) ermöglicht werden kann. Ist dies nicht der Fall, läßt das Grundgesetz also einen derartigen deutschen VN-Beitrag zu, so kann er dennoch 2. insoweit verfassungswidrig sein, als die Entscheidung hierüber nicht der Bundesregierung allein zukommt, sondern eine Zustimmung des Parlaments erforderlich ise; diese müßte dann grundSätzlich durch Gesetz, könnte eventuell aber auch durch qualifizierten Parlamentsbeschluß ergehen (so vorläufig im Somalia-Urteil des Bundesverfassungsgerichts 8, nicht aber in der A W ACS-Entscheidung gefordert). Beide Fragen sind strikt voneinander zu trennen. Die erste fragt nach dem Vorliegen eines Verfassungsvorbehalts bzw. einer entsprechenden Sachkompetenz. Die zweite thematisiert die Organkompetenz (hier: Regierung und / oder Parlament). Beide Fragen sind aus der politischen, verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen 9 Diskussion wohl vertraut. Sie werden

7 Nur um diesen zweiten Aspekt ging es dem Gericht im Somalia-Urteil, wenn es formulierte: "Der angekündigte Hauptsacheantrag ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Er wirft die gewichtige und schwierige Rechtsfrage auf, ob und unter welchen Voraussetzungen die Bundesregierung Rechte des Bundestages verletzt, wenn sie entscheidet, sich mit deutschen Soldaten an einer vom Sicherheitsrat beschlossenen Aktion der Vereinten Nationen zu beteiligen." (Hervorhebung vom Verf.) - Natürlich wirft der Hauptsacheantrag nicht nur diese organkompetenzielle - logisch nachrangige - Frage auf, sondern auch und vorrangig jene sachkompetenziellen Fragen. Im AWACS-Urteil (s.u. Anhang 1) war es nicht anders; der Schriftsatz der Antragstellerin macht das überdeutlich; vgl. den Abdruck (Bothe, Das Verfahren wegen des Adria-Einsatzes der Bundeswehr vor dem Bundesverfassungsgericht [1992]) in: KritV 1993,53 ff. 8 "konstitutive Zustimmung des Bundestages"; s.u. Anhang 2. 9 S.u. Gliederungspunkt 4 (Verfassungsreformentwürfe).

16

1. Einführung: Fragestellung und Meinungsstand

aber häufig - unbewußt oder bewußt - miteinander vennengt. Insbesondere werden die jeweiligen Unterfragen und die Konsequenzen der jeweiligen Teilantworten gelegentlich nicht deutlich genug auseinandergehalten, oder sie werden in der Diskussion nicht zu Ende gedacht. Diese alte Unübersichtlichkeit und neue Undeutlichkeit gilt es nachfolgend offenzulegen und so weit wie möglich auszuräumen. Die strukturelle Zäsur der beiden Hauptthemen findet ihren positivrechtlichen Ausdruck in der Verfassung selbst. Zentralnonn ist Art. 87a GG von ihr ist auszugehen. Nur wenn sie dem deutschen Beitrag im Rahmen von VN-Operationen nicht entgegensteht, dürfen überhaupt Kontingente der Bundeswehr eingesetzt werden. Erst dann - also bei Nichteinschlägigkeit oder bei Unschädlichkeit dieser Vorschrift - lassen sich die weiteren Fragen, die um Art. 24 GG und Art. 59 Abs. 2 GG und damit um den Gesetzesvorbehalt bzw. die Notwendigkeit einer fönnlichen Parlamentszustimmung kreisen, sinnvoll stellen, einordnen, gliedern und beantworten. Die demnach gebotene Fragestellung und Reihenfolge der Untersuchung sieht wie folgt aus: Ist der Entsendebeschluß mit Art. 87a Abs. 2 GG vereinbar, darf also ein Kontingent der Bundeswehr im Rahmen der von den Vereinten Nationen beschlossenen Aktionen in Somalia (UNOSOM 11) eingesetzt werden (Sachkompetenz)? Diese Frage ist zu bejahen: 1. wenn Art. 87a Abs. 2 GG nicht einschlägig ist, also keine Aussagen über die VN-Verwendung von deutschen Soldaten enthält; oder 2. wenn diese Vorschrift zwar einschlägig ist, der VN-Verwendung aber nicht entgegensteht, weil a) es sich nicht um einen ,,Einsatz" der Bundeswehr handelt, oder weil die VN-Verwendung zwar ,,Einsatz", aber b) ein solcher "zur Verteidigung" ist oder c) das Grundgesetz ihn "ausdrücklich zuläßt". - Gesetzt den Fall, der Entsendebeschluß ist mit Art. 87a Abs. 2 GG vereinbar lO, schließt sich folgende Frage an: Ist die Bundesregierung hierfür (allein) zuständig, oder bedarf der Entsendebeschluß (zusätzlich) einer gesetzlichen oder sonstigen parlamentarischen Mitwirkung (Organkompetenz)? Letzteres wäre dann der Fall,

10 Die bei den Rügen, von der SPD-Fraktion in den Anträgen zu AWACS wie zu UNOSOM 11 vorgebracht, sind inkompatibel. Entweder steht die VN-Verwendung eines Bundeswehrkontingents unter Verfassungs- oder unter Parlaments vorbehalt beides verträgt sich nicht miteinander.

1. Einführung: Fragestellung und Meinungsstand

17

1. wenn der in Art. 24 Abs. 1 oder 2 GG oder in Art. 59 Abs. 2 GG enthaltene Gesetzesvorbehalt einschlägig wäre; oder 2. wenn ein allgemeiner Parlaments vorbehalt für diese Entscheidung bestünde; im letzteren Fall wäre die Frage zu beantworten, in welcher Form die Zustimmung des Bundestages zu erfolgen hat, und ob vorab (Ermächtigung) oder nachträglich (Genehmigung). Der Meinungsstand zu dieser Verfassungsrechtsfrage ist schnell resümiert: Die angesprochenen verfassungsrechtlichen Probleme sind allesamt streitig. Sie sind von der Rechtsprechung bislang nur in kleinen Ausschnitten entschieden worden. Die Literaturmeinung ist gespalten. In neuerer Zeit schält sich ll ein - z.T. freilich eher am Ergebnis orientierter - Grundkonsens zugunsten der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Zu lässigkeit einer Mitwirkung von Bundeswehrkontingenten an VN-Operationen heraus. Meist wird dieses ganz unterschiedlich begründete "Es geht" allerdings gekoppelt mit dem Erfordernis einer gesetzlichen Ermächtigung im Einzelfall. Wer davon überzeugt ist, zwischen den Zeilen lesen oder aus prätorisehern Schweigen künftige Gerichtsrede heraushören zu können, mag aus der so wortkargen wie dröhnend schweigenden Somalia-(Eil-)Entscheidung Sympathie für diesen Kurs entnehmen: Sachkompetenz ja, aber nur unter Parlamentsvorbehalt 12 • Ein Fingerzeig für die spätere Hautsacheentscheidung? Die Staatspraxis jedenfalls - und ihr ist stets Gewicht für die Auslegung des Staatsrechts zugekommen - hat in den letzten Jahren eine Wende um 180 0 vollzogen. Hatte sich die Bundesregierung (vornehmlich der Bundessicherheitsrat und das Auswärtige Amt) in innerstaatlichen Verlautbarungen und im diplomatischen Verkehr gegenüber den Vereinten Nationen und unseren Verbündeten viele Jahre hindurch auf eine fehlende verfassungsrechtliche Zulässigkeit von VN-Einsätzen der Bundeswehr berufen l3 , so ist sie heute der Meinung, das Grundgesetz stehe einer Beteiligung deutscher Soldaten an einer vom Sicherheitsrat beschlossenen Aktion der Vereinten Nationen nicht entgegen l4 ; ebensowenig hindere ein Parlaments- oder Gesetzesvorbehalt die deutsche Mitwirkung an UNOSOM 11.

11 So die Diskussionsbeiträge, in: FroweinlStein (Hrsg.), Rechtliche Aspekte einer Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an Friedenstruppen der Vereinten Nationen (Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, 101), 1990. 12 S.u. Anhang 2 (Tenor). 13 So noch Bundeskanzler Kohl 1990 anläßlich des Golf-Krieges (Irak - Kuwait); vgl. KlwnlZöckler, EJIL 3 (1992), 163 ff. (164 m.N. in Fn. 5). 14 S.a. (unten Anhang 1) das AWACS-Urteil, mit den Bedenken der F.D.P.-Mitglieder der Bundesregierung (und der F.D.P.-Bundestagsfraktion).

2 März

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1. Einführung: Fragestellung und Meinungsstand

Das Spektrum des Meinungsstandes I5 reicht also von der Verfassungswidrigkeit der Bundeswehrbeteiligung auf der einen Seite über die Mittelmeinung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer deutschen Teilnahme aufgrund jeweils zu erteilender parlamentarischer Ermächtigung bis hin zur Verfassungsmäßigkeit einer deutschen Mitwirkung ohne weitere parlamentarische Zustimmung andererseits. Es gilt nun, diesen Meinungsstand in seiner ganzen Breite und Tiefe, einschließlich seiner partiellen Widersprüchlichkeiten, Inkonsequenzen und Brüche darzustellen. Ziel ist die Klärung der verfassungsrechtlichen Grundlage - oder das Konstatieren ihres Fehlens - für den Einsatz von Bundeswehrkontingenten im Rahmen von VN-beschlossenen und VN-geführten Operationen. Es geht dabei nicht um das Schließen einer beliebigen offenen Verfassungsrechtsfrage. Die Antwort auf die Frage nach der Zulässigkeit von Bundeswehreinsätzen im VN-Rahmen wird vielmehr - wie ein Rückblick in zehn, zwanzig Jahren ergeben dürfte - den Kurs mitbestimmen, den nicht nur Deutschland in der 1989/90 so glücklich begonnenen, Mitte 1993 bereits mit so vielen Ungewißheiten und Unsicherheiten belasteten Epoche steuern wird.

IS

Zusammenfassend jüngst Deiseroth, NI 47 (1993), 145 ff. (147 m. Fn. 10 f.).

2. Zur Verfassungsmäßigkeit des Entsendebeschlusses vom 20. April 1993 2.1 Vereinbarkeit mit Art. 87a GG Der Entsendebeschluß der Bundesregierung ist nur dann verfassungsgemäß, wenn das Grundgesetz eine Beteiligung von Bundeswehrkontingenten an VN-Operationen überhaupt zuläßt. Diese Frage der Sachkompetenz ist vorrangig zu prüfen, und zwar an Art. 87a Abs. 1 und 2 GG. Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß diese Vorschrift einschlägig ist, daß sie also die fragliche Problematik überhaupt erfassen und regeln will (und kann). Die einschlägige Diskussion erfolgt unter dem Stichwort "Verfassungsvorbehalt". Sie spitzt sich auf die Frage zu, ob das Grundgesetz für den VN-Einsatz der deutschen Verbände positive Regelungen bereithält - sei es bejahend oder verneinend -, oder ob das Problem auf Verfassungsebene überhaupt ungeregelt ist (mit der Folge, daß nicht Art. 87a GG, sondern die allgemeinen Grundsätze der Funktionen- und Kompetenzordnung zur Anwendung gelangten). Die Beantwortung dieser Frage ist aufs engste mit den einzelnen Begriffen in Art. 87a Abs. 2 GG verbunden. Die Subsumtionsfrage, werden wir sehen, ist hier primär eine Definitionsfrage. Um so sorgfältiger wird darauf zu achten sein, daß die Begriffsbestimmungen und die sonstigen Interpretationsschritte nicht ergebnisorientiert präfonniert und damit defonniert werden.

Der Anwendungsbereich des Art. 87a Abs. J, 2 GG Art. 87a Abs. 1 GG enthält die vor allem im Bund-Länder-Verhältnis, aber auch für die Beziehungen zwischen Erster und Zweiter Gewalt wesentliche Basisentscheidung des Grundgesetzes für die Aufstellung von Streitkräften in ausschließlicher Kompetenz des Bundes, deren Aufgabe die" Verteidigung" sein soll 16. An dieser Aufgabenstellung, die in Absatz 2 als Primäraufgabe wiederaufgenommen und gegen andere, nachrangige Verwendungszwecke abgegrenzt wird, scheiden sich die Geister. Unklar ist, welche Tätigkeitsmerkmale und Einsatzgebiete der Verteidigungsauftrag abdeckt und vor al-

16 Zur Frage, inwieweit Art. 87a GG die Basisentscheidung für den Einsatz von Bundeswehrkontingenten im Rahmen von VN-Operationen ist oder stattdessen Art. 24 GG, s.u. Gliederungspunkt 2.2.

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2. Zur Verfassungsmäßigkeit des Entsendebeschlusses

lern, ob er al1e Verwendungszwecke der Bundeswehr erfassen und regeln soll. Die Unklarheiten gründen zum einen auf der problematischen, womöglich verfehlten 17 systematischen Stel1ung der Vorschrift im VIII. Abschnitt des Grundgesetzes. Im Kern sind sie aber vor al1em bedingt durch den Entstehungszusammenhang von Art. 87a Abs. 2 GG. Die Vorschrift fand im Zuge der Notstandsverfassungsreform 1968 Eingang ins Grundgesetz. Sie löste den diesbezüglichen alten Vorbehalt in Art. 143 GG ab l8 . Der entstehungsgeschichtliche Zusammenhang (die Ablösung der notstandsverfassungsrechtlichen Sperrvorschrift in Art. 143 GG a.F.) einerseits, die zeit- und kontextgleiche Verbindung zu Art. Il5a GG, der den Verteidigungsfal1 normiert l9 , andererseits und schließlich die Absätze 3 und 4 des Art. 87a GG, die ihrerseits eine ganz deutliche Regelungsrichtung markieren, haben teilweise zu einer Deutung des generel1en Bedeutungsgehalts des Art. 87a Abs. 2 GG geführt, die zwar im Wortlaut keinen unmitte1bll r en Niederschlag gefunden hat, die ihn aber aus anderen interpretatorischen Gründen auf einen Einsatz der Bundeswehr im Bundesgebiet reduziert20 • Systematisch steht Art. 87a Abs. 2 GG im Abschnitt über die Ausführung der Bundesgesetze und die Bundesverwaltung - eine per se staatsintern ausgerichtete Materie. Gleichermaßen unter systematischen Gesichtspunkten regeln Art. 87a Abs. 3 und 4 GG nur Fäl1e des innerstaatlichen Einsatzes der Streitkräfte; sie schweigen sich über andere Verwendungszwecke aus. Entstehungsgeschichtlich schließlich ist Art. 87a Abs. 2 GG ebenso unbestritten evident auf innere Notstandslagen bezogen. In ihnen hat der Einsatz des Mili-

17 Dürig, in: MaunzlDürig, Grundgesetz. Kommentar, Lbl. Stand 1991, Art. 87a Rn. 3. 18 "Die Voraussetzungen, unter denen es zulässig wird, die Streitkräfte im Falle eines inneren Notstandes in Anspruch zu nehmen, können nur durch ein Gesetz geregelt werden, das die Erfordernisse des Artikels 79 erfüllt." 19 Dazu Graf Vitzthum, Der Spannungs- und der Verteidigungsfall, in: IsenseelP. Kirchhof (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 170 Rn. 29 ff. 20 Stein, in: FS Doehring, 1989, 935 ff. (941 ff.); ders., in: FroweinlStein, Rechtliche Aspekte einer Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an Friedenstruppen der Vereinten Nationen, 1990, 17 ff.; Randelzhofer, in: MaunzlDürig, Art. 24 11 Rn. 63 f.; lsensee, in: Wellershoff (Hrsg.), Frieden ohne Macht?, 1991, 210 ff. (215); Pechstein, JURA 1991, 461 ff. (466); früher schon von Mangoldt I Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. III, 21974, 2321: "Als ausdrücklicher Regelungsvorbehalt ordnet der Abs. 2 den Einsatz der Streitkräfte im Innern erschöpfend ... "; K. lpsen, in: Schwarz (Hrsg.), Sicherheitspolitik, 1978, 615 ff. (624 f.): "Der Aufgabenbereich der Bundeswehr [ist] durch Artikel 87a Abs. 2 GG nach innen abschließend ... bestimmt ... "

2.1 Vereinbarkeit mit Art. 87a GG

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tärs seit jeher zu besonderen demokratischen und rechtsstaatlichen Problemen geführt. Die einschlägigen Erfahrungen und Phobien prägten denn auch die Diskussion der entstehungsgeschichtlich entscheidenden sechziger Jahre. Folgt man dieser Lesart, wollte der verfassungsändernde Gesetzgeber eben diese Probleme - und nichts anderes - mit Art. 87a Abs. 2 GG in den Griff bekommen21 : eine historische, systematische und teleologische Reduktion des Regelungsgehalts des Art. 87a Abs. 2 GG. Hintergrund ist dabei eine Interpretation des Gesamtzusammenhangs der Reform von 1968, wonach schwerpunktmäßig in der Tat der StreitkräJteeinsatz im inneren Notstand normiert werden sollte. Zu einer weitergehenden und den vorliegenden Problemkreis der VN-Einsätze miteinbindenden Auslegung der Aufgabennorm bestand - so kann man diese Argumentationslinie verstärken - schon deshalb kein Anlaß, weil seinerzeit das Verfassungsproblem einer deutschen Beteiligung an VN-Operationen wegen Nichtmitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland (der Beitritt erfolgte erst 5 Jahre später) nicht gesehen und diskutiert wurde, geschweige denn geregelt werden sollte22 • Nach dieser Meinung, die nun von der Staatspraxis mitgetragen wird, wäre Art. 87a Abs. 2 GG wie folgt zu lesen: ,Jm Bundesgebiet dürfen die Streitkräfte außer zur Verteidigung nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt". Die hier in Frage stehende Beteiligung von Kontingenten der Bundeswehr an VN-Operationen wäre dann durch diese spezielle Vorschrift nicht erfaßt und geregelt - mit der Folge, daß die allgemeinen Kompetenzbestimmungen (Art. 32 Abs. 1 GG), insbesondere die Optionen des Grundgesetzes in Art. 26, 24 GG nicht verdrängt, sondern anwendbar wären. Diese elegante, weil teleologisch, systematisch und historisch klar abgrenzende - freilich auch schneidige - Meinung weist allerdings auch deutliche

21 Kind, DÖV 1993, 139 ff. (141 ff.); lsensee, in: Wellershoff, 214 f.; z.T. a.A. Amdt, DÖV 1992, 618 ff. S.a. K. Ipsen, in: Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar - BK), Lbl. Stand 1993, Art. 87a, Abschnitt I. 22 Randelzhofer, in: MaunzlDürig, Art. 24 11 Rn. 66; zusammenfassend Thalmair,

ZRP 1993, 201 ff. - Die ersten Sachbeiträge und Dienstleistungen der Bundesrepublik Deutschland zu friedenserhaltenden Maßnahmen der VN (Bereitstellung von Ausrüstungsgegenständen, Lufttransportleistungen, Entwendung freiwilliger Beobachter usw.) begannen, soweit ersichtlich, erst nach dem deutschen Beitritt 1973. Finanzleistungen nicht unbeträchtlichen Umfangs finden sich indes offenbar bereits in den 60er Jahren; vgl. DrögelMünchlvon Puttkamer, Die Bundesrepublik Deutschland und die Vereinten Nationen, 1966, 119 f. (Kostenbeteiligung für Friedensstreitmacht in Zypern; dazu auch Czempiel, Macht und Kompromiß, 1971, 150). Zu den deutschen Beiträgen seit 1973 SchmidtIWasum-Rainer, VN 1992, 88 ff.; s.a. KrügerSprengel, in: Froweinl Stein, 52 f.

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2. Zur Verfassungsmäßigkeit des Entsendebeschlusses

Schwächen auf. Abgesehen davon, daß sie das Gewicht der bisherigen Staatspraxis, die (bis etwa 1988) stets (und fast unwidersprochen) auf die grundsätzliche Anwendbarkeit des Art. 87a GG abgestellt hatte, gänzlich ausblendee3, reduziert sie diese Vorschrift auf eine partielle Aufgabennonn - eine Sichtweise, die mit der tradierten Deutung von Art. 87a GG als (auch) Befugnisnonn nicht harmoniert24 • Vor allem aber reduziert diese Lehre den eindeutigen Wortlaut der Bestimmung ("Verteidigung"), der in Absatz 1 und 2 des Art. 87a GG gleichennaßen verwendet wird, in Richtung auf einen ausschließlichen Innenbezug (im Sinne einer räumlichen Radizierung) der Anwendbarkeit. Mit der grammatikalischen Interpretation ist diese Reduktion nicht vereinbar. Die bei den Verteidigungsaussagen, d.h. die Schlüsselbegriffe der Nonn, weisen keine Einschränkung nach innen aufs. Sie unterscheiden sich darin vom Verteidigungsfall in Art. 115a GG, der bekanntlich nur die innerstaatlichen Wirkungen nonnieren Will 26 - die Aussagen zum Streitkräfteeinsatz sind systematisch korrekt in Art. 87a Abs. 3 und 4 GG enthalten. Jene Reduktion des Regelungsgehalts des Art. 87a Abs. 2 GG wäre zudem deshalb kaum nachvollziehbar, weil sie solche unverzichtbaren Verteidigungsmaßnahmen der Bundeswehr ausschließen würde, die zwar keinen Gebietsbezug hätten, die aber gleichwohl Verletzungen der Integrität der Bundesrepublik Deutschland entgegentreten sollten (etwa bei Angriffen auf deutsche Kriegsschiffe oder Kampfflugzeuge oder auf Bundeswehrverbände,

23 Zur (erheblichen) Bedeutung der Staatspraxis in Staatsrecht und Verfassungsinterpretation (und zu ihren Grenzen) lsensee, Verfassungsrecht als "politisches Recht", in: lsensee I P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 162 Rn. 60 ff. (62, 64). - In einer "offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" (Häberle, JZ 1975, 297 ff.) und der mit ihr notwendig verbundenen "pluralistischen" Auslegung des Grundgesetzes, zu deren Kanones und Ergebnissen alle Kräfte des Gemeinwesens Zugang und "Stimmrecht" haben, rückt die Staatspraxis als gleichberechtigter Beteiligter auf die Ebene der verbindlich Entscheidenden (BVerfG, Rechtsprechung, Gesetzgebung) vor. Konsequenterweise kann dann auch eine Wende in der Praxis der Bundesregierung, eingeleitet Anfang der 90er Jahre und sich derzeit vor allem in den AWACS- und Somalia-Einsätzen im VN-Rahmen manifestierend, qualitativ hohe Bedeutung für die Interpretation des Grundgesetzes beanspruchen. - Dem Gewicht der Staatspraxis für die Auslegung ist jedenfalls in jeder modemen (oder postmodernen) Verfassungslehre Bedeutung beizumessen. 24 Lerche, in: FroweinlStein, 44 f. 25 Wolfrum, in: FroweinlStein, 45; Tomuschat, ebd., 45 f.; Kind, ebd., 54; Doehring, ebd., 59 f.; E. Klein, ebd., 61: "So einfach kann man sich über diese Bestimmung und über diesen Wortlaut nicht hinwegsetzen." 26 Graf Vitzthum, Der Spannungs- und der Verteidigungsfall, § 170 Rn. 33 f.

2.1 Vereinbarkeit mit Art. 87a GG

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die in anderen Staaten - z.B. zur Ausbildung - stationiert sind)27. Bei manchen bewaffneten Konflikten schließlich, etwa im Bereich der Landesgrenzen, lassen sich Einsätze im (noch) Inland und (schon) Ausland schlechterdings nicht trennen. Wollte man hier Art. 87a GG z.T. für unanwendbar erklären, schlösse man einen Sachbereich aus, der genuin zur Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland gehört - ein schwerlich einleuchtendes Ergebnis. Kurz: Auch mit Sinn und Zweck der Vorschrift verträgt sich ihre Reduzierung auf Innenbezüge des Streitkräfteeinsatzes letztlich nur schwer. Art. 87a GG wollte eine generelle Regelung für alle Verwendungen der Bundeswehr treffen 28 , nicht nur für solche mit Bezug auf das Staatsgebiet29 • Aus all diesen Gründen sprechen die besseren Argumente nach wie vor für die traditionelle, weite Interpretation dieser Vorschrift mit der Folge, daß von ihr auch Auslandseinsätze der Bundeswehr (und zwar jeder Art) erfaßt sind30 . Art. 87a GG ist unter diesen Vorzeichen für die Beteiligung von Bundeswehrkontingenten im Rahmen von VN-Operationen einschlägig. Gegen diese allgemeine Anwendbarkeit des Art. 87a Abs. 1, 2 GG spricht auch nicht der - entlegenere - Gesichtspunkt der Unterstellung der eingesetzten Bundeswehreinheiten unter VN-Kommando. Man könnte zwar auf den ersten Blick daran denken, daß die betroffenen Verbände mit der Zuordnung zu den VN-Operationen ihren Charakter als deutsche Streitkräfte verlieren

27 Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 1985, 352; im Ergebnis ebenso Gornig, JZ 1993, 123 ff. (124). 28 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 11, 1980, 1477. Ebenso schon der Schriftliche Bericht des Rechtsausschusses, der Art. 87a Abs. 2 GG überhaupt erst kreiert hat; vgl. BT-Drs. V / 2873, S. 12: "Der Rechtsausschuß ~chlägt vor, die Bestimmungen über den Einsatz der Streitkräfte ... in einem Artikel zusammenzufassen. Hierzu eignet sich Art. 87a. Dabei soll auch einbezogen werden die Regelung über den Einsatz der Streitkräfte im Innem." 29 Zu Funktion und Grenzen des Staatsgebiets Graf Vitzthum, Staatsgebiet, in: Isenseel P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1987, § 16. 30 So - neben den in Fn. 25 Genannten - von Bülow, Der Einsatz der Streitkräfte zur Verteidigung, 1984, 199 ff.; Tomuschat, Außenpolitik 1985,279 f.; Speth, Rechtsfragen des Einsatzes der Bundeswehr unter besonderer Berücksichtigung sekundärer Verwendungen, 1985, 165 ff.; Riedei, Der Einsatz deutscher Streitkräfte im Ausland - verfassungs- und völkerrechtliche Schranken, 1989, 202 ff.; Bartke, Verteidigungsauftrag der Bundeswehr, 1991, 143 ff.; Franzke, NJW 1992, 3075 ff. (3076); Deiseroth, NI 47 (1993), 145 ff. (149); Bachmann, MDR 1993, 397 ff. (397); im Ergebnis ebenso F. Kirchhof, Bundeswehr, in: IsenseelP. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 1988, § 78 Rn. 26; Graf Vitzthum, Der Spannungs- und der Verteidigungsfall, § 170 Rn. 34 mit Fn. 145.

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2. Zur Verfassungsmäßigkeit des Entsendebeschlusses

und damit aus dem Anwendungsbereich des Art. 87a GG herausfallen 31 . Dies ist indes nicht der Fall, wie sich bei weiterer Überlegung ergibt. Gewiß, die im UNOSOM lI-Rahmen eingesetzten Verbände sind unbestritten (Unterstützungs-)Organe der Vereinten Nationen. Sie erhalten ihr Mandat durch den VN-Sicherheitsrat. Er übt die Oberhoheit aus. Die Befehlshoheit für den konkreten Einsatz liegt bei einem vom VN-Generalsekretär eingesetzten und beaufsichtigten Oberbefehlshaber. Ihm sind das Kontingent der Bundeswehr und sein (deutscher) Befehlshaber für die Dauer der Zugehörigkeit zur Somalia-Operation der Vereinten Nationen unterstellt. All dies ändert allerdings nichts daran, daß die nationale Identität der deutschen Streitkräfte bestehen bleibt. Sie unterliegen weiterhin der Strafgewalt und dem Disziplinarrecht der Bundesrepub!ik Deutschland. Diese ist nach den speziellen Absprachen mit den Vereinten Nationen 32 sowie nach allgemeinem VN-Recht berechtigt, ihr Kontingent jederzeit zurückzuziehen. Aus all diesen Gründen bleibt der entsandte Verband Teil der Streitkräfte im Sinne von Art. 87a GG33 • Diese Schlüsselnorm ist also auch und, wie man im Hinblick auf den später zu untersuchenden Art. 24 GG hinzufügen darf, gerade im Kontext von VNEinsätzen deutscher Kontingente34 einschlägig.

31 Daß Art. 87a GG nur für deutsche Streitkräfte gilt, ist selbstverständlich; vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 87a Rn. 25. 32 Diese Absprachen zwischen VN und Bundesrepublik Deutschland mündeten, wohl erstmals in der Geschichte von derartigen VN-Operationen, nicht in ein Kontingentabkommen, sondern in einen Briefwechsel zwischen dem Generalsekretär der VN einerseits und (über den Ständigen Vertreter Deutschlands bei den VN) der Bundesregierung andererseits. Einzelheiten dazu unten bei Fn. 91. 33 E. Klein, Rechtsprobleme einer deutschen Beteiligung an der Aufstellung von Streitkräften der Vereinten Nationen, ZaöRV 34 (1974), 429 ff. (433 f.); Coridaß, Der Auslandseinsatz von Bundeswehr und Nationaler Volksarmee, 1985, 77 f.; Riedei, 202 f.; w.N. bei Gomig, JZ 1993, 123 ff. (125 m. Fn. 25-29). 34 Der Fall, den F. Kirchhof (Bundeswehr, § 78 Rn. 27) als Voraussetzung für die Nichtanwendung des Art. 87a GG nennt, liegt beim Einsatz der Bundeswehr in Somalia gerade nicht vor: daß nämlich kein Bezug mehr zur deutschen Staatsgewalt (konkreter: zur Personalhoheit der Bundesrepublik) besteht und die Bundeswehreinheit den VN als soldatisches Personal i.d.S. "geliehen" werden, daß die entsandte Einheit ganz aus der deutschen militärischen Hierarchie entlassen wird und allein den VN unterstellt ist. Praktisch war diese Konstellation, soweit bekannt, bei keinem einzigen derartigen VN-Einsatz bislang gegeben. Aus Grundgesetzsicht würde sie wohl auch u.a. Probleme des diplomatischen Schutzes und des beamtenähnlichen Status der Bundeswehrangehörigen aufwerfen.

2.1 Vereinbarkeit mit Art. 87a GG

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Die Vereinbarkeit der Beteiligung deutscher Streitkräfte mit Art. 87a GG Die Beteiligung deutscher Streitkräfte an VN-Operationen ist mit Art. 87a Abs. 1, 2 GG vereinbar, wenn es sich (1) nicht um einen "Einsatz" der Streitkräfte handelt; oder wenn es sich

zwar um einen ,,Einsatz" handelt, aber dieser "Einsatz"

(2) "zur Verteidigung" erfolgt oder (3) vom Grundgesetz "ausdrücklich" zugelassen wird (Art. 87a Abs. 2

GG)35.

Beteiligung der Bundeswehr als "Einsatz" der Streitkräfte? Art. 87a Abs. 2 GG geht vom "Einsatz" der Streitkräfte aus. Es stellt sich also die Frage, ob die Beteiligung des Bundeswehr-Kontingents im Rahmen der VNOperation UNOSOM 11 Einsatzqualität besitzt. Bejaht man sie, so ist eine Verwendung der Streitkräfte für UNOSOM 11 nur zulässig, wenn es der in dieser Vorschrift enthaltene Verfassungsvorbehalt zuläßt. Anderenfalls wäre der Entsendebeschluß der Bundesregierung jedenfalls nicht an den Voraussetzungen von Art. 87a Abs. 2 GG zu messen. Daß die Einsatzqualität einzelner Arten der Verwendung von Bundeswehreinheiten heftig umstritten ist, beruht vor allem darauf, daß sich in der Staatspraxis um den Verwendungszweck "Verteidigung" herum ein ganzer Kranz von heterogenen Formen der Inanspruchnahme der Streitkräfteressourcen gebildet hat. Er läßt am besten mit dem Terminus "sekundäre" Verwendungsmöglichkeiten beschreiben. Gemeint ist damit technisches und unterstützendes Handeln anderer Staatsorgane, und zwar im Administrativ- wie im Privatbereich: Repräsentation des Staates, Unterstützung der Kriegsgräberfürsorge, Leistung von Krankentransporten und Erster Hilfe, Sicherung von Großsportveranstaltungen etc., aber auch Hilfestellung bei Naturkatastrophen und Unglücksfallen durch Bereitstellen personeller und sächlicher Mittel 36 •

3S Letztere Alternative zielt auf den Normenkomplex Art. 24, 59 GG, Parlamentsvorbehalt etc., der dann - weil nicht mehr die Frage der Sach-, sondern der Organkompetenz betreffend, unten unter Gliederungspunkt 2.2 und 2.3 behandelt wird. 36 Vgl. Gomig, JZ 1993, 123 ff. (125 m. Fn. 39); eingehend Speth, insb. 77 ff. m.w.N. Treffend Isensee, in: Deutscher BundestaglRechtsausschuß, Prot. 12/67, S. 17 f.: Infolge des langjährigen logistischen und ausbildungstechnischen Sündenregisters der Bundeswehr habe die (d.h. jede) Bundesregierung "längst ihre Unschuld verloren". - Bezüglich Einsätzen im hier interessierenden VN-Rahmen ließe sich dieser Gedanke - partiell - insofern weiterspinnen, als wohl jede Bundesregierung seit den 60er Jahren die Bundesrepublik Deutschland finanziell oder sachlich (nicht: mit Bundeswehrkontingenten) an diesen Operationen beteiligt hat (mit ganz unterschiedlichen Finanzbeiträgen). Die noch gelegentlich in der binnendeutschen Diskussion zu hörende Argumentation jedenfalls, VN-Einsätze seien schon von der VN-

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2. Zur Verfassungsmäßigkeit des Entsendebeschlusses

Würde man in allen diesen Fällen Einsatzqualität bejahen, so stünde dieser etablierten, auch außen-, bündnis- und entwicklungspolitisch nicht unwichtigen Staatspraxis in weiten Teilen der Verfassungsvorbehalt des Art. 87a Abs. 2 GG entgegen. Nicht jede dieser Verwendungsmöglichkeiten ist im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehen oder unterfällt dem Verteidigungsauftrag der Streitkräfte. So reicht die Spannweite des Einsatzbegriffs im Schrifttum denn auch vom Erfordernis der Vorbereitung und Durchführung von bewaffneten Gefechts- und Kampfeinsätzen einerseits bis zur bloßen, unqualifizierten Inanspruchnahme der Bundeswehr (dem "Einsetzen" an sich) andererseits37 • Z.T. sollen logistische Operationen nicht eingeschlossen, also von Art. 87a GG nicht gedeckt sein, teilweise soll es sich bei Einsätzen jedenfalls um eine Tätigkeit handeln müssen, die innenpolitisch nicht neutral ist, z.T. soll die Bundeswehr gerade als Instrument der Ausübung vollziehender oder öffentlicher oder hoheitlicher Gewalt in Anspruch genommen werden müssen. Legt man bei dem Versuch, Klarheit zu gewinnen, den Wortlaut des Art. 87a Abs. 2 GG zugrunde, so fordert er zunächst keine Bewaffnungsqualität des "Einsatzes", wenngleich diese im Fall ihres Vorliegens sicherlich als Indiz für einen solchen zu werten ist. Ein entsprechender Klärungs- bzw. Änderungsversuch scheiterte im Gesetzgebungsverfahren 38 . Die parallele Einsatzterminologie in Art. 35 Abs. 2, 3 GG kennt das Erfordernis des Führens von Waffen nicht. Ein Abstellen auf die klassische Erscheinungs- und Aktionsform von Streitkräften allein wäre heute auch realitätsfem. Oft kann ja z.B. nur schwer geklärt werden, ob und inwieweit Bewaffnung gegeben ist oder niche9 . Man könnte weiter daran denken, zwischen hoheitlichem und nichthoheitlichem Handeln zu unterscheiden. Auch dieser Abgrenzungsversuch aus der Sicht der systematischen Interpretation hält näherer Überprüfung nicht stand,

Charta her gesehen problematisch, ist vor diesem Hintergrund eines permanenten deutschen (nicht-militärischen) Beitrags, ja einer ständigen und stetigen und als völkerrechtskonform angesehenen Unterstützungspraxis, unverständlich (um einen deutlicheren Ausdruck zu vermeiden). 37 Überblick bei Riedei, 204 ff. 38 Dürig, in: Maunz IDürig , Art. 87a Rn. 32 m. Fn. 1. 39 Zur Untauglichkeit dieses Kriteriums Coridaß, 84; F. Kirchhof, Bundeswehr, § 78 Rn. 29; K. Ipsen, in: BK, Art. 87a Rn. 33 f.; Tomuschat, in: BK, Art. 24 Rn. 186 ("verfehlte Unterscheidung"). Die verfassungspolitischen Beweggründe ins rechte Licht setzend Isensee, in: Deutscher BundestaglRechtsauschuß, Prot. 12/67, S. 18: "Angesichts dieses Umstandes bedurfte es, um die Verfassungsinterpretation überhaupt noch zu halten, der Knetung des Art. 87a Abs. 2 GG. Der Einsatz wurde immer enger interpretiert ... ".

2.1 Vereinbarkeit mit Art. 87a GG

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gerade wenn sie mit dem Gegensatzpaar öffentlich-rechtlich - privatrechtlich gleichgesetzt wird. Es ist nicht ersichtlich, daß die Streitkräfte in den o.a. nichthoheitlichen Bereichen privatrechtlich handelten oder noch handeln. Es geht bei staatlicher Repräsentationstätigkeit, bei Ernteeinsätzen, Katastrophenhilfe usw. zumindest um schlichthoheitliches Handeln von Amtsträgern. Insgesamt bietet auch die bei der Auslegung des Art. 87a Abs. 1 GG gelegentlich auftauchende Orientierung am Militärischen keine Hilfe, um den Begriff des Einsatzes vom sonstigen Handeln abzugrenzen - das Problem würde dadurch nur auf die Auslegung des Militärischen verlagert. Wortlaut und Systematik des Art. 87a Abs. 2 GG sprechen also für ein weites Verständnis des Einsatzes: Einsatz = Verwendung40 • Vom Sinn und Zweck der Vorschrift her liegt dagegen eine Reduktion der verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen Einsatz nahe. Die herkömmlich mit der Verwendung von Streitkräften in Innern verbundenen Gefahren (bzw. deutschen Ängste und Erfahrungen): Machtmißbrauch, Verwicklung in innenpolitische Auseinandersetzungen, Einsatz gegen die eigene Bevölkerung, Staat im Staate, ,,Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr" usw. liegen bei dem weitaus größten Teil der Sekundärverwendungen der Bundeswehr völlig neben der Sache. Entscheidend wird für das Vorliegen eines Einsatzes aus teleologischer Sicht daher sein müssen, daß die Streitkräfte als nach außen auftretende vollziehende Gewalt mit militär- bzw. polizeitypischen Funktionen in die Rechtssphäre des Bürgers eingreifen. Kurz: Es darf sich nicht um Verwendungen schlechthin, es muß sich um nicht-gewaltneutrale Verwendungen handeln 41 • Auf die Somalia-Verwendung im Rahmen der VN-Operation gewendet bedeutet dies, daß diese unter den Einsatzbegriff des Art. 87a Abs. 2 GG fällt. Zwar handelt es sich ausdrücklich nicht um einen Kampfeinsatz, sondern um die versorgungsmäßige Unterstützung anderer Teile der VN-Kontigente und die Durchführung humanitärer Hilfsrnaßnahmen. Die Unterstützung anderer Verbände erfordert aber ausweislich der von der BundeswehrSo z.B. auch Deiseroth, NJ 47 (1993), 145 ff. (148). Gomig, JZ 1993, 123 ff. (126); Blumenwitz, NZWehrR 1988, 133 ff. (141): Streitkräfte als Mittel der vollziehenden Gewalt zur Durchsetzung einer (Macht-) Position; Jarass/ Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 21992, Art. 87a Rn. 4: "Einsatz bedeutet Verwendung der Streitkräfte zu Kriegshandlungen oder anderen Eingriffsmaßnahmen"; K. Ipsen, in: BK, Art. 87a Rn. 31: Einsatz als "Verwendung der Streitkräfte im Rahmen von erlaubten Kriegshandlungen wie im Rahmen der vollziehenden Gewalt im Innern"; ähnlich Tomuschat, in: BK, Art. 24 Rn. 187: "Glied einer zielgerichteten militärischen Operation"; ihm folgend Riedei, 210 f.; s.a. F. Kirchhof, Bundeswehr, § 78 Rn. 29: ,jede funktionsgerechte Verwendung einer Einheit im Rahmen der militärischen Hierarchie". 40

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2. Zur Verfassungs mäßigkeit des Entsendebeschlusses

einheit mitgeführten Logistik und der Stärke ihrer (defensiven) Bewaffnung ein hoheitliches (polizeiliches oder militärisches) Vorgehen, u.U. auch den Einsatz von Waffen gegenüber Teilen der Bevölkerung zur Selbstverteidigung. Das Mitführen von gepanzerten Fahrzeugen und die Ausrüstung mit mittelschwerer Panzerbewaffnung, die stoßweise Verlegung unter externer militärischer Absicherung von Mogadischu nach Belet Huen, der feldmäßige Ausbau eines besonders gesicherten Lagers, die Aktionsbereitschaft etc. das alles zeigt, daß trotz des Aufenthalts in einem z.Zt. befriedeten Gebiet mit Überfällen und mit militärischer ("Milizen") oder terroristischer (,,Banden") Gegenwehr gerechnet werden muß und gerechnet wird. Die Bundeswehreinheiten handeln in dieser Lage als integriertes und unentbehrliches Glied einer zielgerichteten (zumindest auch:) militärischen Operation, deren Auftrag die Herstellung befriedeter Verhältnisse in Somalia ist. Sie erbringen keine nebensächliche, äußerlich zivil bleibende Versorgungsleistung, die unter diesen Bedingungen herkömmlich auch durch eine nicht-militärische Logistik oder private Hilfsorganisationen erbracht wird oder doch erbracht werden könnte42 . Die Verwendung des Kontingents der Bundeswehr im Rahmen von UNOSOM 11 ist demzufolge als Einsatz im Sinne von Art. 87a Abs. 2 GG zu qualifizieren.

Bundeswehreinsatz als "Verteidigung" i.S.v. Art. 87a Abs. J, 2 GG? Da Art. 87a Abs. 2 GG das Verwendungsfeld der Bundeswehr im Bereich von Einsätzen vollständig abdeckt und es sich hier um einen Einsatz handelt, könnte es sich bei der Entsendung der Streitkräfte nach Somalia um "Verteidigung" handeln. Was Verteidigung im Sinne von Art. 87a Abs. 1, 2 GG ist, wird im Grundgesetz nicht definiert. Im verfassungsrechtlichen Schrifttum werden hier drei Grundpositionen vertreten. Verteidigung = ausschließlich Landesverteidigung, d.h. militärische Abwehr eines von außen kommenden, die Integrität des Staatsgebiets der Bundesrepublik Deutschland bedrohenden Angriffs 43 . In dieser Sichtweise

42 Dazu Frank, in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentare) - AK-GG, 21989, Bd. 11, hinter Art. 87 Rn. 25: "Soweit Streitkräfte in Bereichen eingesetzt werden, in denen nicht ihr Gewaltpotential, sondern personelle oder technische Ressourcen für andere Zwecke nutzbar gemacht werden, ist Art. 87a GG prinzipiell nicht tangiert." - Gemessen an diesen Kriterien ist z.B. die Entsendung von Sanitätspersonal im Zusammenhang mit friedenserhaltenden Maßnahmen der VN - wie in Kambodscha seit 1992 (UNT AC) der Fall - kein Einsatz LS.v. Art. 87a GG. 43 So Coridaß, 42; Speth, 31; Bartke, 67 ff., 149; Bachmann, MDR 1993, 397 ff. (398).

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schließt Art. 87a Abs. 1, 2 GG nahtlos an Art. 115a GG an, der ebenfalls von einem (erfolgten oder unmittelbar drohenden) Angriff auf das Bundesgebiet spricht und an diese Voraussetzung die in Art. 115b ff. GG geregelten Rechtsfolgen knüpft, die allesamt das verfassungsrechtliche Eigen- und Innenleben der Bundesrepublik Deutschland betreffen 44 • "Verteidigung" wird so deckungsgleich mit "Verteidigungsfall". Die Verteidigungsverwendung der Streitkräfte wird territorial radiziert und reduziert: Landesverteidigung. Eine Beteiligung an VN-Operationen (außerhalb des Staatsgebiets der Bundesrepublik Deutschland) wäre davon nicht erfaßt. Es fehlte der VN-Verwendung schon am für erforderlich gehaltenenen Gebietsbezug. Gegen diese enge Auslegung der Verteidigungsaufgabe der Streitkräfte sprechen gewichtige Bedenken. Zunächst unterscheidet bereits der Wortlaut des Art. 87a GG ausdrücklich zwischen "Verteidigung" einerseits (in den Absätzen 1 und 2) und "Verteidigungsfall" andererseits (in Absatz 3). Der Text selbst deutet an, daß bei des nicht deckungsgleich gemeint sein kann. Darüber hinaus überzeugt von Sinn und Zweck der Vorschriften her das Ineinssetzen von Verteidigung und Verteidigungsfall nicht. Art. 115a GG ist als Teil der Notstandsverfassung im Jahr 1968 in das Grundgesetz eingefügt worden. Der verfassungsändernde Gesetzgeber war dabei (wie die vorausgegangene verfassungs- und rechtspolitische, z.T. von studentischen und gewerkschaftlichen Massendemonstrationen begleitete Diskussion) auf die innerstaatlichen Folgen der normierten Notstandslage fixiert45 . Es sollte ausschließlich - historisch erklärbar, auch im Hinblick auf die insoweit besonders pointierte DGB-Position - der mögliche militärische Machtmißbrauch im Innern unterbunden werden 46 • Geregelt wird durch Art. 115a ff. GG denn auch lediglich die Modifikation von innerstaatlichen Kompetenzen und Funktionen, nicht aber das in Art. 87a GG zentrale Problem des militärischen Verteidigungsauftrags der Bundeswehr. Letzteres folgt, denkt man Z.B. an den Themenkomplex "Verteidigung im Bündnis" oder an die eingesetzten Mittel - Flammenwerfer statt Feuerlöschgeräte - anderen immanenten Grundsätzen als der sekundäre Inneneinsatz von Streitkräften als Quasi-Polizeitruppe, als Feuerwehrreserve oder "Technisches Hilfswerk". Zudem weist jene Gleichsetzung von Verteidigung und Verteidigungsfall insoweit Unstimmigkeiten auf, als sich

Graf Vitzthum, Der Spannungs- und der Verteidigungsfall, § 170 Rn. 33 ff. Vgl. Stern, Staatsrecht 11, 1322 ff.; Einzelheiten bei M. Schneider, Demokratie in Gefahr?, 1986, 189 ff. 46 E. Klein, ZaöRV 34 (1974), 429 ff. (438); Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 115a Rn. 15 ff. 44 45

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2. Zur Verfassungs mäßigkeit des Entsendebeschlusses Bundeswehrverbände ihr zufolge für die Abwehr von Angriffen auf deutsche Soldaten, Schiffe und Flugzeuge im Ausland oder in den staatsfreien Räumen der Hohen See, der Tiefsee, der Polargebiete oder des WeItraums 47 mangels eindeutigen Gebietsbezugs schwerlich auf den Verteidigungsauftrag berufen könnten - ein unsinniges Ergebnis, das auch so nicht verfassungsgewollt oder verfassungsgeboten ist. Dies zeigt schon der versteckte Hinweis auf den vom Grundgesetz ausdrücklich gesehenen und anerkannten militärischen Auslandsbezug in Art. 96 Abs. 2 GG (von der Hilfskonstruktion "schwimmender [oder fliegender] Teile des Staatsgebiets" usw. ganz zu schweigen). Kurz: Das Grundgesetz begrenzt in Art. 87a Abs. 1, 2 GG nicht den geographischen Einsatzraum, sondern den politischen Einsatzzweck48 - die Verfassung ist auch hier klüger als manche ihrer Interpreten. Schließlich wirft jene Lehre von der territorialen Reduktion auch dadurch massive Schwierigkeiten für den Verteidigungsauftrag der Bundeswehr auf, daß der in Art. 80a Abs. 3 GG angesprochene und als legitim anerkannte Bündnisfall nach dieser Lehre aus dem Verteidigungsauftrag ausgeschieden und auf den sekundären Aufgabenbereich in Art. 87a Abs. 2 2. Alt. GG verwiesen würde. Es bedürfte hierfür also einer "ausdrücklichen" Zulassung im Grundgesetz - eine verfassungsrechtIich problematische Verweisung mit erheblichen Auslegungsschwierigkeiten für die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in NATO und WEU und für künftige verteidigungspolitische Kooperationen im KSZE- und im EGRahmen. Alles in allem spricht also weit mehr für als gegen die Feststellung, daß sich aus Art. 115a GG keine Rückschlüsse auf die in Art. 87a Abs. 1, 2 GG normierte Verteidigungsaufgabe ziehen lassen 49 • Verteidigung ist mehr als nur staatsgebietsbegrenzte Angriffsabwehr. Verteidigung im Sinne von Art. 87a GG, Verteidigungsfall im Sinne von Art. 115a ff. GG und Landesverteidigung etwa im Sinne von §§ 109 ff. StGB sind keine identischen Rechtsinstitute. Sie müssen jedes für sich, getrennt, untersucht, definiert und interpretiert werden.

41 Einzelne Anwendungsbereiche bei Schopohl, Der Außeneinsatz der Streitkräfte im Frieden, 1991. 48 So treffend F. Kirchhof, Bundeswehr, § 78 Rn. 24. 49 K. lpsen, in: Schwarz, 615 ff. (625); E. Klein, ZaöRV 34 (1974), 429 ff. (438); Kind, DÖV 1993, 139 ff. (145); Stein, in: FS Doehring, 935 ff. (939 f.); ders, in: FroweinlStein, 20 ff. m.w.N. Von den Teilnehmern des Heidelberger Kolloquiums wurde diese Verknüpfung von Art. 87a I, 11 GG und Art. 115a GG denn auch einhellig abgelehnt. Sie dürfte mittlerweile, weil überholt, ad acta gelegt werden können.

2.1 Vereinbarkeit mit Art. 87a GG

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Verteidigung = Verteidigung des Bestands der staatlichen Ordnung des Grundgesetzes, auch im Sinn verfassungslegitimer Bündnispolitipo. Auch

diese Auffassung geht davon aus, daß die Grundlage jedes Einsatzes der Streitkräfte nach innen und außen Art. 87a Abs. 1, 2 GG ist. Zur Definition des Verteidigungsauftrags und damit des Verteidigungsbegriffs wird dann aber - nach obigem zu Recht - nicht auf Art. 115a GG zurückgegriffen. Vielmehr wird Verteidigung zum einen als Angriffsabwehr zugunsten der staatlichen Integrität Deutschlands - auch außerhalb des deutschen Staatsgebiets - verstanden, zum anderen - den engen Begriff nach außen und damit auch im VN-Rahmen noch einmal erweiternd - im Sinne der klassischen Allianzpolitik und der Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in den Nordatlantikpakt und die Westeuropäische Union (Art. 24 GG). Gegenüber dem vorstehend abgelehnten, weil zu engen Verteidigungsauftrag bedeutet dies, daß die deutschen Streitkräfte 1. Angriffe auf die Bundesrepublik Deutschland, die mit oder ohne Verletzung der Gebietshoheit erfolgen, abwehren, und 2. auch im Bündnis zur Verteidigung eines Vertragspartners eingesetzt werden dürfen, wenn und soweit dieser einem vom Vertragszweck erfaßten Angriff Dritter ausgesetzt ist51 • Für diese etwas weitere Sicht des Verteidigungsbegriffs spricht sowohl die Einheitlichkeit des militärischen Einsatzzwecks, der ebenfalls in Teilen unabhängig von der territorialen, auf Grenzverletzungen radizierten Fragestellung ist, als auch - Interpretationsgrundsätze praktischer Konkordanz und Einheit der Verfassung S2 - das ausdrückliche Legitimieren von Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit in Art. 24 Abs. 2 S. 1 GG. Letztere sind bekanntlich regelmäßig nur lebensfähig, wenn jeder Vertragspartner zumindest potentiell Angriffe Dritter abzuwehren bereit und aus innerstaatlicher Sicht dazu auch berechtigt ist. Ein Denken in Kategorien der Maginotlinie hat sich mehr als einmal als verteidigungspolitisch dysfunktional erwiesen. Territorial-radiziertes Barriere-Denken paßt jedenfalls nicht zusammen mit den Dimensionen und Konsequenzen des modernen - auch von der partiell globalen Reichweite der Aufklärungs- und Waffensysteme her bestimmten - Friedens- und Verteidigungsauftrages.

so So insb. E. Klein, ZaöRV 34 (1974), 429 ff. (439); in gleicher Richtung F. Kirchhof, Bundeswehr, § 78 Rn. 24. 51 Vgl. das Problem der Verteidigung des NATO-Partners Türkei im Golfkrieg (Irak-Kuwait); vgl. Pechstein, JURA 1991,461 ff. (464 f.). 52 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 17 1990, Rn. 71; BVerfGE 19,206 (220); 44, 37 (49 f.).

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2. Zur Verfassungsmäßigkeit des Entsendebeschlusses

Verteidigung = nach Völkerrecht zulässige Abwehr von Angriffen auf die staatliche Integritäf3. In dieser Sichtweise wird der Verteidigungsauftrag der Streitkräfte nach Art. 87a Abs. 1, 2 GG extensiv dahingehend interpretiert, daß er seinen Inhalt nicht aus dem Grundgesetz selbst, sondern aus dem Völkerrecht bezieht, daß seine Grenzen also dem Maximalumfang völkerrechtlich zulässiger Gewaltanwendung entsprechen, wie sie speziell in Art. 26 Abs. 1 GG, generell in Art. 25 GG für die Bundesrepublik Deutschland rezipiert wurden. Verteidigung flillt nach dieser Lehre im wesentlichen mit "allem" zusammen, nur nicht mit dem Führen von Angriffskriegen. Dabei soll es gleichgültig sein, ob durch die Abwehr von Angriffen 54 die Integrität Deutschlands oder nur allgemeine deutsche Interessen geschützt werden sollen. Gegen diese Auffassung spricht, daß sie den grundgesetzlichen, also innerstaatlichen Verteidigungsauftrag durch dynamische Verweisung auf eine andere, zumal in vieler Hinsicht politisch stark imprägnierte Rechtsordnung aufzufüllen versucht. Ohne eine ausdrückliche derartige Verweisung scheint es trotz der Völkerrechts- und Integrationsfreundlichkeit des Grundgesetzes schwerlich akzeptabel, einen existenziellen und genuin nationalen, d.h. eigen- und selbständigen Rechtsbegriff nicht aus sich selbst heraus zu interpretieren55 • Darüber hinaus verliert der (nationale) Verteidigungsbegriff nahezu jegliche Konturen, wenn ihm die Funktion zugewiesen wird, dem Frieden auf dem Globus in jeder Form zu dienen. Der verfassungsrechtlich gebotene56 Zusammenhang von Angriff und Verteidigung wird zerrissen. Die Einbeziehung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer vitalen Interessen in diesen ver-

53 So vor allem K. lpsen, in: Schwarz, 615 ff. (625); Mössner, in: FS Schlochauer, 1981, 97 ff. (105); Giegerich, The German Contribution to the Protection of Shipping in the Persian Gulf. Staying out for political or constitutional reasons?, ZaöRV 49 (1989), 1 ff. (27 f.); ähnlich von Bülow, 62 ff.; s.a. Frank, in: AK-GG, hinter Art. 87 Rn. 18 ff.: Verteidigung = Abwehr von Angriffen = Kriegsverhütung (Art. 26 GG) = Einbeziehung des Völkerfriedens = Verpflichtung, alles Erdenkliche zur Rückgewinnung des äußeren Friedenszustandes zu unternehmen. Noch weitergehend Speth, 166 f.: Verteidigung i.S.v. Art. 87a I, 11 GG = Aufgabe, den Weltfrieden generell zu verteidigen; hier verliert der Verteidigungsbegriff, denkt man an die Ausuferung der Debatte um den Gewaltbegriff in den 70er 180er Jahren, dann seine letzten Konturen. 54 Die bekannten, noch nicht zur Gänze gelösten Probleme der Angriffsdefinition (und des Gewaltbegriffs) im Völkerrecht spielen dann in die Bestimmung des Begriffs Verteidigung mit hinein. Vgl. die Aggressionsdefinition der VN, angenommen durch die Generalversammlung am 14. Dezember 1974 (Res. 3314 [XXIX]); Text und w.N. bei Frowein, in: Simma, Art. 39 Rn. 13 m. Fn. 33. 55 Pechstein, JURA 1991,461 ff. (466). 56 Vgl. K. Ipsen, in: BK, Art. 87a Rn. 29: "zur Verteidigung" = "zur Abwehr eines von außen mit Waffengewalt gegen die Bundesrepublik geführten Angriffs"; s.a. Stern, Staatsrecht 11, 851 ff.

2.1 Vereinbarkeit mit Art. 87a GG

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gleichsweise überschaubaren und verantwortbaren Zusammenhang wird zugunsten einer unscharfen und zugleich (zu) hochgegriffenen Weltpolizeifunktion aufgegeben. Die Grenzen des Wortlauts von Art. 87a Abs. 1, 2 GG sind damit überschritten 57 , von seinem Telos und Entstehungskontext ganz zu schweigen.

Zwischenergebnis Ein eindeutiges Zwischenergebnis läßt sich nur schwer fixieren. Zu komplex ist die Rechtslage, zu gewichtig und schwierig die angeschnittenen Verfassungsrechtsfragen. Immerhin läßt sich auf der Grundlage vorstehender Untersuchung ein Mehr an Transparenz, Stringenz und Konsequenz der Argumentation einfordern, und ein Mehr an Deutlichkeit und Widerspruchsfreiheit der Aussagen erscheint auch möglich. Entscheidet man sich mit gewichtigen Stimmen im jüngeren Schrifttum dafür, Art. 87a GG nur auf Inlandseinsätze der Streitkräfte zu beziehen, Auslandsoperationen der Bundeswehr also aus dem Anwendungsbereich dieser Norm auszuschließen, so steht diese Vorschrift dem Entsendebeschluß der Bundesregierung nicht entgegen. Man wird dann, wie gesagt, weiter prüfen müssen, ob die letztverbindliche Entscheidung der Bundesregierung über die deutsche Teilnahme an VN-Operationen (als Ausdruck ihrer außenpolitischen Kompetenz) allein und / oder dem Parlament (als Ausdruck seiner mit-staatsleitenden Aufgabe) zukommt. Diese Frage nach der Notwendigkeit einer (ggf. förmlichen) Parlaments zustimmung ist dann die logisch nachrangige Frage der Organkompetenz. Folgt man demgegenüber der traditionellen Richtung, die Art. 87a GG auch im Fall der Beteiligung von deutschen Soldaten an VN-Operationen als einschlägig ansieht, so kommt es darauf an, welchem Verteidigungsbegriff man sich anschließt. Mit den grundgesetzlichen Vorgaben insoweit am besten zu vereinbaren erscheint eine bündnisintegrierende Verteidigungsagende. Sie hat ihren Schwerpunkt in der Abwehr von Angriffen auf die staatliche Integrität Deutschlands, bezieht aber - da Integrität wie Wohlstand des Staates (jedenfalls der Klein- und Mittelstaaten) heute überstaatlich bedingt sind 58 , also nur im Verbund mit Allianzpartnern gesichert werden können - die Verteidigung durch Verbündete und von Verbündeten notwendigerweise mit ein.

57

85.

Randelzhofer, in: MaunzlDürig, Art. 2411 Rn. 53; Bemhardt, in: FroweinlStein,

58 Vgl. die Beiträge von Häherte, J. Schwarze und Graf Vitzthum, in: Die überstaatliche Bedingtheit des Staates, 1993. 3 März

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2. Zur Verfassungs mäßigkeit des Entsendebeschlusses

Von hier aus wäre es dann theoretisch auch denkbar - wenngleich angesichts der gravierenden Unterschiede zwischen VN einerseits und NATO und WEU andererseits (Stichwort: Integrationsbreite und -tiefe, Überschaubarkeit, Grad der Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland etc.) nicht überzeugend -, den Bogen noch weiter zu einer "VN-integrierten" Verwendung zu schlagen (im Sinne einer ,,YN-Bedingtheit" der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland). Doch ist der Sitz dieses "internationalen Problems" eher im Kontext der Art. 24-26 GG zu suchen (und zu finden). Für den Gang der Lösung des Somalia-Falles ist die Weichen stellung "Verteidigungsbegriff' freilich insoweit unerheblich, als nach nahezu jeder der hier skizzierten Lehrmeinungen der Einsatz deutscher Streitkräfte im VNRahmen nicht vom Verteidigungsauftrag erfaßt wird 59 • Verteidigung erfordert grundsätzlich die Abwehr eines Angriffs, der die existenziellen Interessen der Bundesrepublik Deutschland berührt. An einem solchen mag es nicht bei einem Angriff auf den NATO-Partner Griechenland oder Kanada mangeln. Im Fall UNOSOM 11 indes liegt ein Angriff in diesem Sinne nicht vor. Aufgabe der dort im Rahmen der VN-Operationen eingesetzten Verbände ist die Herstellung des inneren Friedens in Somalia, die Neutralisierung der inneren Konflikte, die Übernahme polizeilicher Aufgaben der AufrechterhaItung der dortigen öffentlichen Sicherheit, die Leistung humanitärer Hilfe und die Wiedererrichtung der örtlichen Infrastruktur. Verteidigung im Sinne von Art. 87a GG aber setzt einen Angriff auf die staatliche Integrität von außen, d.h. einen zwischen-staatlichen Konflikt voraus. Die Beruhigung und Schlichtung bürgerkriegsähnlicher Verhältnisse "fern hinten in der Türkei" - ja noch sehr viel weiter entlegen - wird davon nach wohl übereinstimmender Auffassung nicht umfaßt. Die Beteiligung der Bundeswehr an UNOSOM 11 ist nicht Verteidigung im Sinne von Art. 87a Abs. 1, 2 GG. Es kommt also darauf an, ob die deutsche Teilnahme gern. Absatz 2 dieser Vorschrift vom Grundgesetz anderweitig "ausdrücklich" zugelassen ist.

S9 Einhellige Meinung; vgl. Riedel, 216; Stein, in: FS Doehring, 940; Randelzhofer, in: Maunz/ Dürig, Art. 24 11 Rn. 53. Selbst wenn man mit F. Kirchhof (Bundeswehr, § 78 Rn. 25 ff.) den Einsatz von VN-Truppen nach Art. 42 ff. VN-Charta unter ganz bestimmten Kautelen als vom Verteidigungs auftrag nach Art. 87a I, 11 GG umfaßt sehen will, schließt dies nicht die hier in Rede stehenden Operationen ein.

2.2 Vereinbarkeit mit Art. 24 GG

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2.2 Vereinbarkeit mit Art. 24 GG Der Entsendebeschluß der Bundesregierung ist dann verfassungsgemäß, wenn der darin enthaltene Auftrag der Streitkräfte gern. Art. 87a Abs. 2 2. Alt. GG andenveitig vom Grundgesetz ausdrücklich zugelassen wird. Für ein Erfüllen dieser Voraussetzung kommt allein Art. 24 GG in Betracht. Nach Art. 24 Abs. 1 GG kann der Bund "durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen". Nach Art. 24 Abs. 2 GG kann sich der Bund "zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern." Die hier anfallenden Rechtsfragen sind nicht leicht zu systematisieren und zu beantworten. Bei dem Gesamtkomplex des Verhältnisses von Art. 87a und Art. 24 GG handelt es sich in der Tat um ein "einzigartiges Verwirrspiel"60. Es setzt sich zeitlich und sachlich aus versch;edenen Schichten zusammen. Aus logischen und systematischen Gründen ist eine bestimmte Reihenfolge der Untersuchung geboten. Ob Art. 24 Abs. 2 und / oder 1 GG einen Einsatz der Streitkräfte in Somalia im Sinne von Art. 87a Abs. 2 GG "ausdrücklich" zulassen, hängt zunächst von der Auslegung dieses letzteren Begriffs ab. Liegt keine "ausdrückliche Zulassung" des VN-Einsatzes vor, so ist weiter zu untersuchen, ob die Sperrwirkung des Art. 87a Abs. 2 GG automatisch die Verfassungswidrigkeit des Entsendebeschlusses der Bundesregierung zur Folge hat, oder ob Art. 24 GG dennoch einschlägig sein kann. Ist die Ausdrücklichkeit hingegen zu bejahen - sei es, weil eine "ausdrückliche" Zulassung vorliegt, sei es, weil Art. 24 Abs. 2 GG trotz fehlender ausdrücklicher Zulassung in der Lage ist, die Verfassungsmäßigkeit des VN-Einsatzes der Bundeswehr zu fundieren -, wäre in einem weiteren Schritt die Relevartz des Beitritts der Bundesrepublik Deutschland zu den Vereinten Nationen im Jahr 1973 zu untersuchen. Hier wäre zu fragen, ob der VN-Beitritt (ggf. in Verbindung mit nachfolgender VN- und Staatspraxis) auch die Beteiligung deutscher Soldaten an VN-Operationen umfaßte oder umfaßt, ob diese Mitwirkung eine Übertragung von Hoheitsrechten im Sinne von Art. 24 Abs. 1 GG ist und ob die bislang hierfür bestehenden gesetzlichen Regelungen im kon-

60 Tomuschat, in: FroweinlStein, 45 f. (46): "Die Regelung ist in einer derart ungeschickten Weise getroffen worden, daß man vielleicht schon den Eindruck haben könnte, hier sei die Absicht mit im Spiel gewesen, den Parlamentariern die Möglichkeit aus der Hand zu schlagen, überhaupt noch einen Sinn in diesem ,System', wenn man das so sagen kann, zu finden." Gleiches gilt, was die Schwierigkeiten des Sinn-Suchens und -Findens angeht, natürlich auch für den Verfassungsjuristen.

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2. Zur Verfassungs mäßigkeit des Entsendebeschlusses

kreten Fall ausreichen (verneinendenfalls: ob es einer förmlichen Parlamentszustimmung bedürfte).

Läßt das Grundgesetz die Teilnahme der Streitkräfte "ausdrücklich" zu? "Ausdrücklich" hat im juristischen Sprachgebrauch regelmäßig die Bedeutung von "expressis verbis". Der rechtliche Aussagegehalt muß demnach im Wortlaut der Norm ausgedrückt und vorgesehen sein. Dies bedeutet im vorliegenden Fall, daß sich die Beteiligung deutscher Streitkräfte an VN-Operationen im Text des Grundgesetzes so vollwertig niedergeschlagen haben muß, daß eine allein aus sich heraus verständliche, ohne intensive exegetische Bemühungen zugängliche und inhaltlich bestimmte Zulassung des Streitkräfteeinsatzes normiert wurde. Wortlaut und Wortzusammenhang müssen insoweit eindeutig sein. Sie müssen exakt das beinhalten und aussagen, was rechtlich erlaubt, eben verfassungsgemäß sein S01l61. Für diesen strengen Bedeutungsgehalt von "ausdrücklich" spricht die herkömmliche Auslegung desselben Begriffs in Art. 79 Abs. I GG. Auch dort soll nur durch einen besonderen, den vorherigen Rechtszustand im Wortlaut äußerlich eindeutig ablösenden Textzugriff das Grundgesetz geändert werden können 62 • Es müßten zumindest spezielle Gründe vorliegen und erkennbar sein, wenn der gleiche Begriff in der gleichen Verfassung unterschiedlich zu interpretieren wäre. Solche besonderen, funktionsbedingten Gründe63 sind nicht ersichtlich. Für den strengen, Implizit-Interpretationen ausschließenden Bedeutungsgehalt spricht zudem die Entstehungsgeschichte der Norm. Der verfassungsändernde Gesetzgeber wollte mit der bewußt vorgenommenen, strikten Formulierung Ansätzen - im Zusammenhang mit der Einführung der Bundeswehr in den 50er Jahren - entgegentreten, die Aufgaben und Befugnisse von Streitkräften und von Streitkräfteeinsätzen im Wege ungeschriebener oder nur

61 Zu den Anforderungen an "ausdrücklich" LS.v. Art. 87a 11 GG vgl. Herdegen, in: FroweinlStein, 49 f.; Mußgnug, ebd., 65; Stein, in: FS Doehring, 941 Fn. 30; ders., in: FroweinlStein, 19; RandelzhoJer, in: MaunzlDürig, Art. 2411 Rn. 57. 62 von MangoldtlKlein, Art. 79 Anm. III 4 d (S. 1871); Bryde, in: von Münch, Art. 79 Rn. 13 ff.; Badura, Verfassungs änderung, -wandel, -gewohnheitsrecht, in: Isenseel P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 160 Rn. 23. Zur Explizität auch Stern, Staatsrecht I, 160: "Der, Wortlaut' muß geändert werden ... Die Vorschrift muß also textlich neu formuliert werden." (ebd., S. 160 ff. zum Verhältnis von Ausdrücklichkeit und Verfassungswandel). Eben diese Klarstellungsfunktion liegt auch dem "ausdrücklich" in Art. 87a GG zugrunde. 63 BVerfGE 6, 32 (38); 6, 55 (63); 24, 184 (195 f.).

2.2 Vereinbarkeit mit Art. 24 GG

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teilweise geschriebener Kompetenzen behauptetet hatten 64 . Über die im Grundgesetztext seinerzeit besonders genannten - und damals bewußt im Detail normierten - Vorschriften hinaus (Art. 35 Abs. 2, 3, 87a Abs. 3, 4 GG) sollten Bundeswehreinsätze eben ausschließlich zur Verteidigung (und eben z.B. nicht zum Zerschlagen einer Streikbewegung) erfolgen können 65 . Für eine Erweiterung des Verwendungskatalogs wäre demzufolge eine Verfassungsänderung erforderlich. Dem Wortlaut nach kennt das Grundgesetz keine explizite Zulassung des Einsatzes der Bundeswehr in VN-Operationen. Auch die, wie gesagt, einzig denkbare (zusätzliche) Verortung des Rechtsproblems: Art. 24 GG, enthält weder den Begriff "Bundeswehr" oder "Streitkräfte" noch den Terminus "Friedenstruppen" o.ä. Eine im Normtext expressis verbis ausgedrückte Ermächtigung zum VN-Einsatz der Streitkräfte (in Somalia oder anderswo) läßt sich dieser Vorschrift nicht entnehmen. Auch wenn man davon ausgeht, in der in Art. 24 Abs. 2 GG eröffneten Möglichkeit der Einordnung der Bundesrepublik Deutschland in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit liege zugleich die Ermächtigung zum Einsatz der deutschen Streitkräfte im Rahmen eines solchen Systems - wofür es gute Auslegungsgründe geben mag -, wäre dies allenfalls eine - sogar doppelt - implizite Ermächtigung zum Streitkräfteeinsatz im Rahmen der Vereinten Nationen, nicht aber eine "ausdrückliche". Dies räumen auch die Stimmen im Schrifttum ein, die - aus anderen Rechtsgründen - die deutsche Teilnahme an UNOSOM 11 für verfassungsrechtlich zulässig halten 66 . Bleibt man bei dieser strengen Auslegung des Art. 87a Abs. 2 GG stehen, so stellt Art. 24 GG keine ausdrückliche Zulassung des Streitkräfteeinsatzes, auch nicht im VN-Rahmen, dar. Bei einer solchen, isolierten Betrachtungs-

64 Dazu der Schriftliche Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. V 12873, S. 13. Dem verfassungsändernden Gesetzgeber stand dabei konkret die Gründung der EVG und die die in diesem Kontext aus dem US-amerikanischen Verfassungsrecht entlehnte Lehre von den implied powers vor Augen. Zusammenfassend dazu Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, 1961, 81 ff. 6S Dürig, in: Maunz/ Dürig, Art. 87a Rn. 38: "Diese Vorschriften stellen eine abschließende und ausschließliche Regelung dar; das ergibt sich ohnehin aus ihrem Ausnahmecharakter." Zur Entstehungsgeschichte - z.T. etwas einseitig - Arndt, DÖV 1992,618 ff. (619). 66 S. die Nachweise o. in. Fn. 61. - Auch ein Teil der Lehre, die den Einsatz der Bundeswehr in VN-Friedenstruppen für verfassungsgemäß hält, gesteht zu, daß Art. 24 Abs. 2 GG den Einsatz der Bundeswehr nicht "ausdrücklich zuläßt"; vgl. Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, Art. 24 Abs. 2 Rn. 57; Isensee, in: Deutscher Bundestag/ Rechtsausschuß, Prot. 12/67, S. 17: "Das Grundgesetz enthält Ermächtigungen, aber nicht selbst die ausdrückliche Zulassung."

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2. Zur Verfassungsmäßigkeit des Entsendebeschlusses

weise führt die Sperrwirkung des Art. 87a GG automatisch zur Verfassungswidrigkeit des Entsendebeschlusses der Bundesregierung. Es fehlt dann bereits an der erforderlichen verfassungsrechtlichen (sachkompetenziellen) Zulassung. Entstehungsgeschichtliches und systematisch-teleologisches Verhältnis von Art. 87a Abs. 2 GG und Art. 24 Abs. 2 GG

Man darf indes bei diesem Interpretationsansatz nicht stehen bleiben und den - freilich eindeutigen, einer erweiternden Interpretation lege artis schwerlich zugänglichen - Wortlaut als alleinigen Maßstab nehmen67 • Daß die verfassungsrechtliche Problematik mit dem Wortlautansatz nicht erschöpft wird, zeigt bereits ein Blick auf die Entstehungsgeschichte - mag auch die historische Interpretation im Kanon der Auslegungsregeln nicht über die stärksten Bataillone verfügen 68 • Aber auch Systematik und Sinn und Zweck des Verhältnisses von Art. 87a Abs. 2 GG und Art. 24 GG führen bei diesem Konkretisierungsvorgang weiter, jedenfalls über die bloße Wortlautinterpretation hinaus. Die entstehungsgeschichtliche Dimension, der der erste Zugriff gilt, zeigt, daß das Verhältnis von Art. 87a Abs. 2 GG und Art. 24 GG weit komplexer ist, als dies der Rückgriff auf grammatikalische Auslegung nahelegt. Ausgangspunkt ist Art. 24 Abs. 2 GG als weitere Zentralnorm für eine etwaige Beteiligung an VN-Operationen. Es ist unbestritten, daß die Vereinten Nationen ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit zur Wahrung des Friedens darstellen, wie es Art. 24 Abs. 2 GG fordert, und wie es sich der Verfassunggeber, der ja um die Gründung und die ersten Schritte der Vereinten Nationen wußte, auch vorgestellt hat69 • Es ist gleichermaßen völkerrechtlich anerkannt, daß die VN-Charta den Einsatz von Friedenstruppen zuläßt, auch 67 Dazu eindringlich Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, 1988. S.a. Bothe, in: Deutscher Bundestag, 12. WP 1990, Rechtsausschuß, Prot. 67 (Öffentliche Anhörung) vom 11. Februar 1993 = Gemeinsame Verrfassungskommission, 7. Anhörung zum Thema "Staatliche Souveränität und militärische Verteidigung", S. 4: "eine etwas vordergründige Argumentation". 68 BVerfGE 6, 389 (431); st. Rspr. Auch die Meinung einzelner, an der Gesetzgebung beteiligter Personen über Sinn und Bedeutung einer Norm kann für ihre Auslegung nicht maßgeblich sein; BVerfGE 6, 55 (75). Insofern ist der interpretatorische Wert der Aussagen von Beteiligten an der Verfassungsreform Ende der 60er Jahre (Art. 87a GG) zu relativieren. 69 Zu den zeitgenössischen Vorstellungen etwa Tomuschat, in: BK, Art. 24 Rn. 127 ff. m.w.N.; s.a. die Einleitung zur deutschen Textausgabe der VN-Charta von Grewe, Die Satzung der Vereinten Nationen, 1948,5-34.

2.2 Vereinbarkeit mit Art. 24 GG

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wenn sie in Kap. VII nur bestimmte Sanktionsmaßnahmen enthält, unter die die hier in Rede stehenden Operationen nicht fallen 70 • Art. 24 Abs. 2 GG nun ist Bestandteil des Grundgesetzes in seiner ursprünglichen Gestalt aus dem Jahr 1949. Diese Bestimmung gehört sozusagen zum grundgesetzlichen Urgestein. Aus seiner Entstehungsgeschichte ergibt sich eindeutig, daß bei seiner Formulierung gerade an die (spätere) Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen gedacht war71 • Art. 87a Abs. 2 GG hingegen wurde erst durch das 17. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968 (BGBI. I S. 709) in die Verfassung eingefügt. Es besteht also eine deutliche zeitliche Schichtung der bei den Normenkomplexe. Daraus sowie aus dem bei der Schichtung im Jahre 1968 vorhandenen Wissen des Normgebers von dem Inhalt der älteren Norm, also des Art. 24 Abs. 2 GG, wird im Schrifttum der naheliegende Schluß gezogen, der verfassungsändernde Gesetzgeber habe durch die 1968 erfolgte Einfügung der Regelung in Art. 87a Abs. 2 GG den Art. 24 Abs. 2 GG nicht ändern wollen. Ja der Verfassunggeber habe - im Hinblick auf Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG - ohne ausdrückliche Änderung des Wortlauts des Art. 24 Abs. 2 GG die ältere Norm auch gar nicht ändern können 72 • Kurz: Durch den später eingefügten Art. 87a Abs. 2 GG - so lautet diese Argumentationslinie - wurde Art. 24 Abs. 2 GG inhaltlich nicht berührt oder verändert. Er behielt den Bedeutungsgehalt, den er bereits vor 1968 hatte. Es wurde auf ihn nur Bezug genommen. In dieser auf den ersten Bick in der Tat einleuchtenden Lesart läßt sich Art. 87a GG nicht entnehmen, daß diese Norm ab 1968 etwas verbieten wollte, was Art. 24 Abs. 2 GG seit 1949 zugelassen hatte. Ja man kann diesen Gedanken dahingehend weiterführen, daß es offensichtlich widersinnig

70 Frowein, Der völkerrechtliche Status von VN-Friedenstruppen und seine Bedeutung für das deutsche Recht, in: FroweinlStein, 1 ff. (10 ff.); Doehring, Systeme kollektiver Sicherheit, in: lsensee I P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 177 Rn. 14 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 21984, 546 ff.; Tomuschat, in: BK, Art. 24 Rn. 183 ff. - Zur völkerrechtlichen Seite der VN-Friedenstruppen Bothe, in: Simma u.a. (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen. Kommentar, 1991, nach Art. 38; Rudolph, Friedenstruppen, in: Wolfrum (Hrsg.), Handbuch Vereinte Nationen, 21991, Nr. 25, S. 180 ff., jeweils m.w.N. 71 "Das System gegenseitiger kollektiver Sicherheit [ist] das Weltsystem der Vereinten Nationen", so der Abg. von Mangoldt in der 20. Sitzung des Grundsatzausschusses des Parlamentarischen Rates, zitiert nach A. Arndt, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, Ergänzungsband, 1958, 442; aus völkerrechtlicher Sicht Doehring, Systeme kollektiver Sicherheit, § 177 Rn. 2 ff., 14. 72 So etwa Frowein, in: FroweinlStein, 11 ff.; ders., ebd., 72 f.; Randelzhofer, in: MaunzlDürig, Art. 2411 Rn. 54 f.; Wieland, DVB11991, 1174 ff. (1180); Gornig, JZ 1993,123 ff. (126 f.).

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2. Zur Verfassungsmäßigkeit des Entsendebeschlusses

wäre, dem verfassungsändernden Gesetzgeber zu unterstellen, er habe 1968 zwar die Altermächtigung aufrechterhalten wollen, dem in Art. 24 Abs. 2 GG beschriebenen und seit mehr als zwei Jahrzehnten zumindest (über-)Iebensfähigen System gegenseitiger kollektiver Friedenssicherung beizutreten, er habe aber den verantwortlichen Verfassungsorganen im Innenverhältnis zugleich die dazu erforderlichen, vordem zulässigen Handlungsmiuel für die Zukunft verweigern wollen 73 • "Ausdrücklich" im Sinne von Art. 87a GG wird, um dieses anscheinend sinnwidrige oder unvernünftige Ergebnis74 zu vermeiden, dann teleologisch reduziert auf die Zeit nach 1968. Zukünftig neu auftretende Einsätze der Bundeswehr außerhalb der bis dato geregelten Fälle bedürften einer erneuten Verfassungsänderung; bislang anerkannte Einsatzformen blieben unberührt - ein kaum vertretbarer, wohl eher ergebnisorientierter Interpretationsversuch. So logisch beeindruckend jene Argumentation mit der zeitlichen Schichtung der bei den Vorschriften und das damit gegen eine etwaige generelle Sperrwirkung des "ausdrücklich" eingesetzte argumentum ad absurdum ist Zweifel bleiben bestehen. Sie betreffen zum einen die unterstellten Vorstellungen des verfassungsändernden Gesetzgebers; zum anderen beziehen sie sich auf das Verhältnis von Art. 87a Abs. 2 und Art. 24 Abs. 2 GG an sich. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat sich ausweislich der Materialien über eine Kollision von allgemeiner Sperrwirkung und konkretem VN-Streitkräfteeinsatz keinerlei Gedanken gemaches. Dieses Thema stand ja auch nicht auf der Tagesordnung. Die Bundesrepublik Deutschland war 1968 nicht Mitglied der Vereinten Nationen als solchen, sondern trat diesen erst 1973 bei. Die vordem und danach geleisteten deutschen Beiträge im Kontext von BlauheJmeinsätzen und sekundären Streitkräfteverwendungen umfaßten entweder (nicht unbedeutende) Finanzleistungen oder durchweg unter der EinsatzschwelIe im Sinne von Art. 87a GG verbleibende Logistikunterstützun-

So Tomuschat, in: Außenpolitik 1985, 281. Vg!. die - hier natürlich nicht einmal mittelbar einschlägigen - "ergänzenden Auslegungsmittel" des Art. 32 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (vom 23.5.1969, BGB!. 198511 S. 926). 75 Die Verknüpfung von Art. 87a GG und VN-Friedenstruppen taucht in der gesamten parlamentarischen (und außerparlamentarischen) Debatte, soweit ersichtlich, an keiner einzigen Stelle auf. Die Überlegungen des verfassungsändemden Gesetzgebers kreisten bekanntlich im Kontext des inneren Notstands. Um der Verdeutlichung der AufgabensteIlung der Streitkräfte willen schlug der Rechtsausschuß in einem späten Stadium vor, die Verwendungszwecke insgesamt - abgesehen von der Katastrophenhilfe in Art. 35 Abs. 3 GG - in einer Norm zusammenzufassen, eben in Art. 87a GG. Vgl. den Schriftlichen Bericht, BT-Drs. V /2873, S. 12. 73

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2.2 Vereinbarkeit mit Art. 24 GG

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gen, z.T. auch personelle Hilfsdienste76 • Ihnen fehlte der polizeiliche oder gar militärische (Einsatz-)Charakter. Die Blauhelmeinsätze wiederum, dem deutschen Gesetzgeber 1968 bekannt, hatten ihren Schwerpunkt nicht in Operationen wie UNOSOM 11, sondern in Beobachtermissionen, also in VNHilfsorganen bestehend aus Personen, die direkt im Dienst der Vereinten Nationen standen. Die heutige Problematik war dem verfassungsändernden Gesetzgeber 1968 also noch weit entrückt77 • Das beweist auch das einschlägige Schrifttum. Bis 1974 findet sich kein einziger verfassungsrechtlicher Beitrag zu diesem Thema. Wie steht es nun mit dem zweiten Themenkreis, dem systematischen Verhältnis der Regelungsbereiche von Art. 87a Abs. 2 GG und Art. 24 Abs. 2 GG? Auch dieses Verhältnis ist, soweit es den VN-Einsatz der Streitkräfte betrifft, so eindeutig nicht. Geht man davon aus, daß Art. 87a Abs. 2 GG eine allgemeine Sperrwirkung für den Streitkräfteeinsatz entfaltet, und daß keine ausdrückliche textliche Zulassung im Grundgesetz vorliegt, so verbleibt nach Art. 24 Abs. 2 GG für die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in den Vereinten Nationen in der Tat nur ein Anwendungsbereich, der nicht die Bereitstellung eines Bundeswehrkontingents einschließt. Art. 24 Abs. 2 GG wäre damit, aus dem Blickwinkel der VN-Politik der letzten 10-15 Jahre, weitgehend funktionslos. Die Schlüsselnorm - auch aus der

76 Hilfestellung beim Lufttransport von VN-Kontingenten (1973); Bereitstellung von Transportkapazitäten und Ausrüstungsgegenständen für einzelne VN-Kontingente (1978); Vermittlung von dringend benötigtem Fachpersonal (1989); Abordnung von Beamten des Bundesgrenzschutzes (1989 und 1991; zu letzterem vgl. Bulletin / Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1991, 708); Vermittlung von Wahlund Waffenstillstandsbeobachtern (1990/91); Entsendung von Sanitätspersonal der Bundeswehr (1992) usw. Einzelheiten bei Schmidt/Wasum-Rainer, 88 ff.; s.a. oben Fn. 22. - Auch für andere VN-Aufgaben stellt die Bundesrepublik Deutschland logistische Leistungen, Gelder und z.T. auch fachkundiges Personal zur Verfügung. Zu einem solchen Fall (Vor-Ort-Inspektion durch die VN aufgrund von Abrüstungs- und Waffenstillstandsresolutionen) etwa BT-Drs. 12/ 1102. - Zu humanitären (logistischen) Leistungen an fremde Staaten außerhalb der VN vgl. die Aufstellung der Anwendungsbereiche und Rechtsgrundlagen in: Deutsche Gesellschaft für Wehrrecht und Humanitäres Völkerrecht, Zivil-Militärische Zusammenarbeit. Bericht für den XII. Kongreß (Brüssel, 27. - 31. Mai 1991) der Internationalen Gesellschaft für Wehrrecht und Kriegsvölkerrecht, 1990, 38 ff. 77 Die Kommentierungen zu Art. 87a GG im Bonner Kommentar (K. lpsen, Stand Januar 1969) und in Maunz/Dürig (Dürig, Stand 1971) melden Fehlanzeige, ebenso das Werk von von Mangoldt/Klein (Stand 1974). - Wenn dann, aufbauend auf E. Kleins Darstellung (1974; zeitgleich und darauf Bezug nehmend Fleck, VN 1974, 161 ff.) und Mössners Entgegnung (1981), das Thema deutsche Beteiligung an VNOperationen behandelt wurde, geschah dies bis in die 80er Jahre hinein durchgängig vor dem Hintergrund und mit dem Ergebnis, daß derartige VN-Verwendungen ohne Verfassungsänderung unzulässig seien.

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Perspektive der Präambel und der Art. 24 Abs. 1, 25, 26 und 59 Abs. 2 GG - liefe weitgehend leer: ein verfassungspolitisch wenig überzeugendes, womöglich gar unvernünftiges Ergebnis. Um dieses Interpretationsresultat bzw. seine Konsequenz zu vermeiden, könnte man - erstens - daran denken, in Art. 24 Abs. 2 GG eine Spezialregelung zu sehen, die für den Bereich "System kollektiver völkerrechtlicher Friedenssicherung" die Option eines militärischen Beitrags der Bundesrepublik Deutschland zu VN-Operationen mitgeschrieben beinhaltees. Für Art. 87a Abs. 2 GG würde dann ein Regelungsgehalt verbleiben, der sich auf die Auslandseinsätze und andere sekundäre, verteidigungsferne Verwendungen bezieht, die nicht von Art. 24 Abs. 2 GG umfaßt sind. Gegen diese Interpretation spricht allerdings der Wortlaut der Regelung in Art. 87a Abs. 2 GG. Er zieht in doppelter Weise ("nur eingesetzt", "ausdrücklich zuläßt") eine strikte Interpretationsbremse ein. Diese Sperrklausei erfaßt das gesamte Grundgesetz, nicht nur einzelne, ausgewählte Bestimmungen. Auch Art. 24 Abs.2 GG ist aus dem Anwendungsbereich des Art. 87a Abs.2 GG, der eine verfassungsmäßig zustandegekommene lex posterior darstellt, nicht entlassen, kann also nicht ohne die sich aus Art. 87a GG ergebenden Grenzen ausgelegt und angewendet werden 79 • Gewisse Argumente könnten auch für die Überlegung sprechen - und das wäre der zweite denkbare Ausweg aus jenem verfassungspolitisch so zweifelhaften Auslegungsergebnis -, daß zwischen Art. 24 Abs. 2 GG und Art. 87a Abs. 2 GG, d.h. zwischen zwei gleichrangigen Vorschriften, ein Spannungsverhältnis besteht - ähnlich dem früher behaupteten Gegeneinander von Art. 38 GG und Art. 21 GG -, ein Spannungsverhältnis, das nach den verfassungsrechtsspezifischen Auslegungsgrundsätzen der Einheit der Verfassung und der praktischen Konkordanz aufzulösen seiso. Dieses interpretativ zu harmonisierende Spannungsverhältnis existiert freilich nur dann, wenn die Bundesrepublik Deutschland einerseits kraft VN-Charta verpflichtet wäre, den Vereinten Nationen auf Anforderung Bundeswehrkontingente für VN-Operationen zur Verfügung zu stellen, andererseits das Grundgesetz gerade dem entgegenstünde. Auf der Grundlage der VN-Charta gibt es indes keine völkerrechtliche Verpflichtung, dem Sicherheitsrat oder einem anderen VN-

1S So der Ansatz bei Doehring, in: Frowein/Stein, 42 f.; Wolfrum, ebd., 45, 70; E. Klein, ebd., 63; w.N. bei Franzke, NJW 1992,3075 ff. (3076 m. Pn. 10). 19 Deiseroth, NJ 47 (1993), 145 ff. (150). so Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, Art. 2411 Rn. 54 f.; F. Kirchhof, Bundeswehr, § 78 Rn. 26; Gomig, JZ 1993, 123 ff. (127); Doehring, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 177 Rn. 23 f.; jetzt auch Bothe, in: Deutscher Bundestag / Rechtsausschuß, Prot. 12/67, S. 4 f.

2.2 Vereinbarkeit mit Art. 24 GG

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Organ Streitkräfte zur Verfügung zu stellen. Die Bereitstellung von Verbänden beruht auf dem Prinzip der Freiwilligkeit: Kein Mitglied muß müssen. Auch die Bundesrepublik Deutschland war völkerrechtlich nicht verpflichtet, ein Kontingentabkommen oder - wie im Fall UNOSOM n - eine brieflich fixierte Vereinbarung zu treffen 8 !. Die (womöglich guten) politischen Gründe für eine Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland an VN-Operationen allgemein und loder an UNOSOM II im besonderen können am rechtlichen Befund nichts ändern. Ein insoweit der Auflösung harrendes verfassungsrechtliches Spannungsverhältnis zwischen Art. 24 Abs. 2 GG und Art. 87a GG ist nicht ersichtlich.

Zwischenergebnis Nicht die schlechtesten Gründe sprechen damit für das Fehlen einer ausdrücklichen grundgesetzlichen Zulassung des Streitkräfteeinsatzes in VNOperationen. Aus dieser Sicht ist der Entsendebeschluß verfassungswidrig. Die Öffnung des Grundgesetzes für ein System gegenseitiger kollektiver Friedenssicherung in Art. 24 Abs. 2 GG kann diese Bedenken allerdings dann überwinden, wenn man entweder das "ausdrücklich" interpretatorisch tiefer hängen darf (als man es eigentlich tun müßte) und sich mit einer in Art. 24 Abs. 2 GG mitgeschriebenen Kompetenz zufrieden gibt82 , oder wenn man die zeitliche Schichtung des Verhältnisses von Art. 87a Abs. 2 GG und Art. 24 Abs. 2 GG für so gewichtig hält, daß die spätere Norm der früheren Regelung bestenfalls partiell vorgeht83 • Folgt man dieser Lehre, die viel für sich hat, dann genügt die (sinngemäße) Erwähnung der Vereinten Nationen in Art. 24 Abs. 2 GG dem Vorbehalt in Art. 87a Abs. 2 GG. Art. 87a Abs. 2 GG wird dann restriktiv interpretiert in dem Sinne, daß er Streitkräfteeinsätzen im Rahmen des Art. 24 Abs. 2 GG generell nicht entgegensteht.

81 Vgl. Bothe, in: Simma, nach Art. 38 Rn. 61 ff.; Rudolph, in: Wolfrum, 187 (Nr. 25 Rn. 16). - Diese Freiwilligkeit der Entsendestaaten entspricht auch der gesamten bisherigen Praxis der VN-Friedenstruppen; die gegenteilige Behauptung von Doehring (in: Frowein/Stein, 32) und Wolfrum (ebd., 34) mag (gute) völkerrechtspolitische Gründe für sich haben. Gegen ein 5pannungsverhältnis unter diesen Umständen treffend Herdegen, in: Frowein/Stein, 67; E. Klein, in: Deutscher Bundestag/Rechtsausschuß, Prot. 12/67,5.26. 82 50 etwa die Diskussionsbeiträge von Doehring, Wolfrum und E. Klein, in: Frowein/Stein, 42 f., 45, 63. 83 50 etwa Frowein, in: Frowein/Stein, 72 f.

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Beide Argumentationslinien - jene weite wie diese enge Interpretation des Art. 87a Abs. 2 GG - sind, wie gesagt, gut vertretbar und werden in Wissenschaft und Praxis von herausragenden Kennern und jeweils sorgfältig begründet vertreten. Argumente, die die begrenzte84 Formel von der "ausdrücklichen Zulassung" beim Wort nehmen und sie gegen den - auch in der Staatspraxis ! - substanz- und weithaitigen Integrationsartikel wenden, wirken allerdings seltsam starr und statisch, jedenfalls aus moderner funktionellrechtlicher Sicht. Wenn das Grundgesetz sich seit seiner Entstehung85 , weiter verstärkt durch die Reform im Kontext des Maastrichter Vertrags werkes, der überstaatlichen Bedingtheit des Staates so weit öffnet, ja seine Erfüllung geradezu in dieser Verbundenheit mit den europäischen Verfassungsstaaten und Weltfriedensstrukturen sieht86 (Präambel, Art. 1 Abs. 2, 9 Abs.2, 16 Abs. 2 S. 2, 23, 24 Abs. 1-3, 25, 26 Abs. 1, 2, 80a Abs. 3, 88 Abs. 2 GG), dann scheint im Zweifelsfall heute, Mitte 1993, die Argumentationslinie die verfassungsgerechtere, die diesem von Anfang geknüpften und immer weiter verstärkten Hauptstrang des Grundgesetzes, ja dieser Grundgesetzräson, gerade auch im vereinten Deutschland, am nächsten kommt. Art. 87a GG hat insofern eine "wirklichkeitsbezogene"87 Auslegung, d.h. letztlich einen Bedeutungswandel erfahren: In seinem Bereich sind neue, nicht vorhergesehene und nicht vorhersehbare Tatbestände aufgetaucht und bekann-

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um nicht zu sagen: tendenziell introvertierte -

85 Vgl. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internatio-

nale Zusammenarbeit, 1964, 10 ff. (Reaktion des Verfassunggebers auf frühere nationale Abkapselung), 35 ff. (Gesamtinterpretation der Art. 24, 26, 59 usw. GG); Tomusclwt, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, 1978, 8 ff. m.w.N. 86 Vgl. Oppermann, "In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen ... ", 1990,29 ff.; Oppennann/Classen, APuZ 1993, B 28, II ff. (20); Grewe, Völkerrecht und Außenpolitik im Grundgesetz, 21 ff. (27): "Der Verfassungsauftrag, sich an einem System kollektiver Sicherheit zu beteiligen, überhaupt zu internationaler Zusammenarbeit bereit zu sein, verträgt sich schlecht mit einer isolationistischen Zurückhaltung gegenüber friedenserhaltenden Maßnahmen, die ein Kernstück des Kollektiven Sicherheitssystems sind." - Damit wird nicht übersehen, daß die verfassungstrukturelle Offenheit des Grundgesetzes, die in den genannten Vorschriften zum Ausdruck kommt, ohne ein konkretisierendes Dazwischentreten des Gesetzgebers stets der Gefahr ausgesetzt ist, ein relativer Rechtsbegriff oder gar eine Leerformel zu werden. Vgl. zu einem Parallelproblem Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, 229 ff. Verfassungstheoretisch gesprochen, handelt es sich bei der Entscheidung für eine internationale Zusammenarbeit um ein Rechtsprinzip, nicht um eine Rechtsregel. Ihrer interpretatorischen Kraft für einzelne Normen und deren Verhältnis zueinander tut dies keinen Abbruch. 87 H.H. Klein, Bundesverfassungsgericht und Staatsräson, 1968, 28; s.a. Hesse, Grundzüge, Rn. 46 f.

2.2 Vereinbarkeit mit Art. 24 GG

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te Tatbestände haben durch ihre Einordnung in den Gesamtablauf der historischen Entwicklung eine neue Beziehung und Bedeutung erlangt88 •

Entsendebeschluß und Übertragung bzw. Beschränkung von Hoheitsrechten im Sinne von Art. 24 Abs. 1, 2 GG Als nächster Schritt ist zu prüfen, ob der Entsendebeschluß der Bundesregierung eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Teilnahme deutscher Soldaten an UNOSOM 11 darstellt. Er kann dies nur sein, wenn die Entscheidung hierüber in die Organkompetenz der Exekutive fällt, d.h. nicht dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegt, oder, bejahendenfalls, wenn eine ausreichende gesetzliche Ermächtigung vorliegt. Es ist dabei gleichgültig, ob zuvor von der Vereinbarkeit des Entsendebeschlusses mit Art. 87a Abs. I, 2, 24 GG ausgegangen oder ob die Verfassungs widrigkeit des Streitkräfteeinsatzes festgestellt wurde. Im Schrifttum lassen sich hierzu zwei große Linien verfolgen, denen gleichermaßen die zutreffende, hier nur zu konstatierende Voraussetzung zugrundeliegt: I. Art. 24 Abs. 2 GG deckt - Ausdruck der grundlegenden und geradezu emphatischen Entscheidung bereits des ursprünglichen Verfassunggebers für die institutionsgestützte internationale Zusammenarbeit und den Frieden - die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in den Vereinten Nationen vollständig ab, weil es sich bei ihnen um den Musterfall eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit zur Wahrung des Friedens handelt; 2. das Zustimmungsgesetz zum Beitritt (vom 6. Juni 1973, BGBl. 11 S. 430) hat die Bundesrepublik Deutschland in die vollen Rechte und Pflichten eingebunden, welche die VN-Charta festlegt. Ein großer, womöglich bereits überwiegender Teil der Literatur89 schließt daraus, daß die verfas-

88 Vgl. BVerfGE 2, 380 (401); 3, 407 (422); s.a. E 45, 187 (222, 229). Zum Bedeutungswandel einer Verfassungsnorm Badura, Verfassungsänderung, -wandel, -gewohnheitsrecht, § 160 Rn. 13; s.a. lsensee, Verfassungsrecht als "politisches Recht", § 162 Rn. 58 f.; s.a. Oppermann, "In einem vereinten Europa ... ", 37 ff. 89 Frowein, in: FroweinlStein, 1 ff. (11), 72 f.; Stein, ebd., 26 f.; Mußgnug, ebd., 65 f; Wolfrum, ebd., 70 f; Rudolf, ebd., 78 f; Doehring, Systeme kollektiver Sicherheit, § 177 Rn. 26. Zum gleichen Ergebnis kommen konsequenterweise die Autoren, die von vornherein Art. 87a 11 GG als nicht einschlägig ansehen; so etwa (anhand des NATO-Vertrags) Randelzho/er, in: MaunzlDürig, Art. 2411 Rn. 38; für das Kontingentabkommen K. Ipsen, in: Schwarz, 626 f (wohl von einem "politischen" Vertrag ausgehend).

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2. Zur Verfassungs mäßigkeit des Entsendebeschlusses

sungsrechtliche Ennächtigung in Art. 24 Abs. 2 00, von der die Bundesrepublik Deutschland 1973 unstreitig Gebrauch gemacht hat, in Verbindung mit dem Beitrittsgesetz, für sich genommen, ausreicht, deutsche Streitkräfte den VN-Operationen zur Verfügung zu stellen; eine weitere gesetzliche Ennächtigung, sei es als Rahmenregelung, sei es für den konkreten Einzelfall, sei nicht erforderlich, ebensowenig eine Parlamentszustimmung im Beschlußwege. Wenn Art. 24 Abs. 2 GG davon spricht, daß der Bund in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte "einwilligen wird", "die eine friedliche und dauerhafte Ordnung zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern", so kann man darin den deutlichen Hinweis darauf sehen, daß der Bund gehalten ist, in eine entsprechende Beschränkung einzuwilligen, wenn der Einsatz der Streitkräfte zur Friedensherbeiführung (!) und -sicherung notwendig ist90 • Indem deutsche Einheiten den Vereinten Nationen unterstellt werden, willigt der Bund in dieser Lesart in die Beschränkung seiner Hoheitsrechte insoweit ein, als dies - was weitestgehend ebenfalls unstreitig ist - im Vertragszweck der VN-Charta festgeschrieben ist. Die abstrakte Beschränkung der Hoheitsrechte hat dabei wirksam vorab mit dem Beitritt zu den Vereinten Nationen stattgefunden, also im Beitrittsgesetz von 1973. In einem Kontingentabkommen bzw. - so erfolgt im Somalia-Fall - in einem die einschlägigen Absprachen fixierenden Briefwechsel zwischen den Vereinten Nationen und der Bundesrepublik Deutschland91 liegt demzufolge keine neue Beschränkung von deutschen Hoheitsbefugnissen92 • Dabei bleibt es auch bei der Organkompetenz der Bundesregierung: für die auswärtigen Angelegenheiten aus Art. 32 Abs. 1, 59 Abs. 1 und 65 0093 , für die Verteidigung aus Art. 65a GG94 •

90 Grewe, Auswärtige Gewalt, in: Isensee / P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 77 Rn. 77. Eine Beseitigung der grundsätzlichen Freiheit der politischen Entscheidung liegt darin indes nicht; RandelzhoJer, in: Maunz/Dürig, Art. 24 II Rn. 8. 91 Der Briefwechsel ist bislang offenbar nicht veröffentlicht. Soweit bekannt, besteht er aus einem Anforderungsschreiben des Generalsekretärs der VN vom 12. April 1993, der positiven Antwort der Bundesregierung (identisch mit dem hier erörterten Entsendebeschluß) vom 20. April 1993, einem Briefwechsel vom 26. /28. April 1993, der die grobe Planung und die Befehlsverhältnisse regelt, und einem Briefwechsel vom 11. / 12. Mai 1993, in dem Stationierungsgebiet und genaue Aufgabenzuweisung enthalten sind. 92 Insofern kommt es auch nicht auf die Veröffentlichung oder Nichtveröffentlichung eines Schriftwechsels oder eines Kontingentabkommens an. 93 Einzelheiten bei Grewe, Auswärtige Gewalt, § 77 Rn. 40 ff. m.w.N.

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Gegen diese Argumentation, wonach die vorweggenommene Beschränkung deutscher Hoheitsbefugnisse in Form des Beitrittsgesetzes von 1973 ausreichend sei, lassen sich mehrere Bedenken erheben. Zunächst: Das Beitrittsgesetz selbst sagt nichts über Art und Umfang dieser Beschränkung; ebensowenig ist dort von einem ZurverfügungsteIlen deutscher Streitkräfte die Rede. Die diesbezüglichen Verpflichtungen des VN-Mitglieds Bundesrepublik Deutschland sind darin insoweit nicht genau erkennbar5 • Die VN-Charta selbst (vgl. Art. 1 Abs. 2 Beitrittsgesetz) enthält ebenfalls keine Aussagen über Voraussetzungen, Inhalt und Umfang der Aufstellung und Verwendung von VN-Truppen der hier in Frage stehenden Art. Die in Kapitel VII VNCharta geregelten Maßnahmen umschließen die UNOSOM lI-Beteiligung des deutschen Kontingents nicht96 • Zwar kannten Bundesregierung und deutscher Gesetzgeber das Phänomen peace-keeping forces zum Zeitpunkt des VN-Beitritts bereits; die damalige Staatspraxis und Rechtswissenschaft ging freilich - soweit sie sich ausnahmsweise dieses Themenaspektes überhaupt annahm97 - davon aus, daß das Grundgesetz einer Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland entgegenstehe98 • Die These, daß man deshalb im Beitrittsgesetz 1973 bereits eine über die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen hinausreichende Implizit-Aussage über Streitkräfteeinsätze zugunsten von VN-Operationen sehen kann, ist zumindest zweifelhaft99 •

94 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 11, 1980, 860 ff., 869 ff. 95 Mosler, in: FroweinlStein, 51, 81 f. 96 Zu den Kriterien Bothe, in: Simma, nach Art. 38 Rn. 38 ff. 97 Man schien eher davon auszugehen, daß weder die Bundesrepublik Deutschland noch die DDR auf absehbare Zeit um einen aktiven militärischen Beitrag angegangen werden würden. Vgl. etwa Frowein, Friedenssicherung durch die Vereinten Nationen, 45 ff. (67). Die Arbeit von E. Klein hat dann 1974 erstmals dem Problem im Verfassungsrecht Aufmerksamkeit verschafft; erst in den 80er Jahren aber wurde er zum Dauerthema. - Schon früher hatte man sich - vor allem wegen des deutsch-deutschen Verhältnisses und des Ost-West-Konflikts - mit den Vereinten Nationen eher am Rande beschäftigt; vgl. Czempiel, Macht und Kompromiß, 91 ff.; ebd., 149: ,,Je konkreter, folgenreicher die Aktionen der VN wurden, desto deutlicher manifestierte sich diese bundesrepublikanische Zurückhaltung." 98 Soweit ersichtlich, wurde die verfassungsrechtliche Frage einer aktiven deutschen Teilnahme an VN-Friedenstruppen im Gesetzgebungsverfahren zum Beitrittsgesetz 1973 nicht gesehen, geschweige denn erörtert. Weder die Denkschrift zum Beitritt (BT-Drs. 7/154, S. 42 ff.) noch die Berichte des Auswärtigen Ausschusses (BT-Drs. 7/502) und des mitberichtenden Rechtsausschusses (ebd., S. 5) erwähnen das Problem. Texte auch in: von Münch, Deutschland und die UNO, 1973, S. 122 ff., 133 ff., 139 ff. 99 E. Klein, in: FroweinlStein, 62 f., 89 f.; Herdegen, ebd., 67 f.; Blumenwitz, ebd., 76 f.; Bernhardt, ebd., 85; Wieland, DVBI 1991, 1174 ff. (1181).

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2. Zur Verfassungs mäßigkeit des Entsendebeschlusses

Die Zweifel daran, ob bereits das Beitrittsgesetz 1973 für sich allein als Parlamentszustimmung zu VN-Verwendungen von Bundeswehrkontingenten gewertet werden kann, gewinnen an Gewicht, wenn es sich beim Entsenden der Bundeswehreinheiten um eine über die Beschränkung in Art. 24 Abs. 2 GG hinausgehende Übertragung von Hoheitsrechten handeln würde, wie sie Art. 24 Abs. 1 GG regelt. Ob dies der Fall ist, ist ebenfalls streitig. Die Frage kann nur beantwortet werden, wenn man das im Somalia-Fall angesprochene Rechtsverhältnis zwischen Vereinten Nationen und Bundesrepublik Deutschland genauer betrachtet, und zwar so, wie es im Schriftwechsel seinen Niederschlag gefunden hat. In diesem Schriftwechsel wird - ähnlich wie bei den bisherigen Verträgen zwischen dem Entsendestaat und den Vereinten Nationen 1oo - die zeitweilige Befehlshoheit der Vereinten Nationen über die Mitglieder der Friedenstruppe festgeschrieben und von der Bundesrepublik Deutschland anerkannt. Zwar bleibt die Straf- und Disziplinargewalt (schon mangels entsprechender VN-eigener Institutionen) bei den deutschen Kommandostellen; die Kontingente werden indes in eine einheitliche, durchgängige Hierarchie eingebunden, an deren Spitze der VN-Sicherheitsrat, in seinem Auftrag der VN-Generalsekretär und der Oberbefehlshaber der jeweiligen VN-Operationen stehen lOl • Letzterer trägt die operative Verantwortung für die Wahrnehmung aller militärischen und nichtmilitärischen Aufgaben und für die Dislozierung und Unterstellung der einzelnen Kontingente sowie ihre Funktionszuweisung. Die Friedenstruppe ist alles in allem ein beim Generalsekretär angesiedeltes Hilfsorgan der Vereinten Nationen. Sie ist ausschließlich den Aufgaben der Vereinten Nationen verpflichtet und erfüllt diese in deren Auftrag und Interesse. Liegt in diesem zeitweiligen Zurverfügungstellen der Kontingente also nicht auch eine Übertragung von Hoheitsrechten, eine Übertragung, die gern. Art. 24 Abs. 1 GG dem Gesetzesvorbehalt unterliegt? Unter Hoheitsrechten ist die Summe der Befugnisse zu verstehen, Rechtsverhältnisse, die der deutschen Rechtsordnung unterliegen, einseitig zu gestalten. Diese Befugnis ist gleichbedeutend mit der Ausübung öffentlicher Gewalt. Das wichtigste Element einer Übertragung dieser Befugnisse liegt darin, daß bestimmte Rechtsakte: hier die einzelnen Einsatzbefehle der VN100 Vgl. dazu die Materialsammlung von Siekmann, Basic Documents on United Nations and Related Peace-Keeping Forces, 21989; ergänzend ders., National Contingents in United Nations Peace-Keeping Forces, 1991. 101 Bothe, Streitkräfte internationaler Organisationen, 1968, 105 ff., 114 ff.; ders., in: Simma, nach Art. 38 Rn. 61 ff.; Risse, Der Einsatz militärischer Kräfte durch die Vereinten Nationen und das Kriegsvölkerrecht, 1988, 134 ff.; Siekmann, National Contingents, 98 ff.; ebd. 171 ff. zum Rückzug des Kontingents durch den Teilnahmestaat.

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Kommandostruktur, unmittelbar in den deutschen Rechtsraum hineinwirken und aus sich heraus verbindlich sein sollen 102 • Dies ist hier mit der Unterstellung der deutschen UNOSOM lI-Einheiten geschehen. Der aus der deutschen staatlichen Souveränität fließende und nach den völkerrechtlichen Kompetenzregeln Bonn zustehende Anspruch, den eigenen Streitkräften in nationaler Autonomie Einsatzanweisungen zu geben, wurde zugunsten der VN-Befehlshaber zurückgenommen und damit an eine zwischenstaatliche Instanz abgegeben 103. Die Bundesrepublik Deutschland hat damit auf die Ausschließlichkeit eigener Hoheitsentfaltung über die betroffenen Bundeswehreinheiten verzichtet. Für die Zeit der Teilnahme duldet sie die Ausübung von HoheitsgewaIt durch Organe der Vereinten Nationen. Deutschland reduziert insoweit den GeItungsanspruch seiner Personal hoheit über die Streitkräfte, von seiner Einsatzhoheit ganz zu schweigen. Anders formuliert (mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts): Der ausschließliche deutsche Herrschaftsanspruch wurde (teilweise) zurückgenommen; der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus einer anderen (VN-)Quelle innerhalb des deutschen Herrschaftsbereichs (nämlich des über den Einsatz der Bundeswehr) wurde Raum gelassen lO4 • Über die bloße Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland zur Verwendung deutscher Soldaten bei UNOSOM 11 geht die briefliche Absprache offenbar hinaus. Aber selbst eine bloße Zustimmung käme nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einer Übertragung von Hoheits102 Rojahn, in: von Münch (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 11, 21983, Art. 24 Rn. 9 ff. (16); das bisherige Verständnis von Art. 24 Abs. 1 GG zusammenfassend Rauser, Die Übertragung von Hoheitsrechten auf ausländische Staaten, 1991, 15 ff. Es reicht also ein "Dazwischenregierenlassen" aus. Es bedarf m.a.W. keiner echten Übertragung deutscher Hoheitsbefugnisse in dem Sinn, daß eine neue fremde Gewalt an die Stelle der alten, eigenen Hoheit tritt. 103 Die Übertragungs- oder Unterstellungsfragen der eigenen Streitkräfte unter fremdes (wenn auch integriertes) Kommando war ja eines der Probleme, weswegen Frankreich einen partiellen Sonderstatus in der NATO begehrte, durchsetzte und bis heute durchhielt. 104 Vgl. BVerfGE 37, 271 (280); 58, 1 (28); zu diesem zentralen Kriterium der Unterscheidung von Art. 24 I und 11 GG Moster, Die Übertragung von Hoheitsgewalt, in: lsensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 175 Rn. 21; a.A. etwa Doehring, ebd., § 177 Rn. 8 ff. (10), wonach Unterscheidungskriterium die Supranationalität in Art. 24 I GG einerseits, die (bloße) Unterordnung unter ein Organisationssystem mit Entscheidungsgewalt in Art. 24 11 GG andererseits sein soll. Die Probleme mit diesen Differenzierungen beginnen indes bereits mit der Bestimmung des umstrittenen Begriffs der Supranationalität; vgl. Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, 1966, 54 ff.; H.-P. Ipsen, Über Supranationalität, in: FS Scheuner, 1973, 211 ff. 4 März

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2. Zur Verfassungs mäßigkeit des Entsendebeschlusses

rechten im Sinne von Art. 24 Abs. 1 GG nahe, unterfieIe somit dieser (Gesetzesvorbehalts-)Vorschrift lOs • Zwar enthält der Entsendebeschluß 106 die verschiedene Grade der Befehlsgewalt bezeichnende und im Rahmen des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses übliche Unterscheidung von "operational control" und "operational command". Nur erstere geht auf den VN-Kommandeur über, letzteres soll beim Bundesminister der Verteidigung verbleiben. Dieser "Selbstbehalt" der Bundesrepublik Deutschland dürfte aber nur die allgemeine und bislang in jedem Kontingentabkommen enthaltene VN-Regel konkretisieren, daß der Entsendestaat jederzeit berechtigt ist, die Mitwirkung an der VN-Operation zu beenden und sein Kontingent zurückzuziehen. Eine allgemeine, die Anwendung des Art. 24 Abs. 1 GG ausschließende Sperre gegen Befehle des VN-Kommandeurs im Vollzug von UNOSOM 11 wird man in dieser Vorbehaltsklausel nicht sehen können 107 • Dieser Zuordnung des Entsendebeschlusses zu Art. 24 Abs. 1 GG, für die demnach gute Argumente sprechen, steht auch nicht entgegen, daß es sich bei der deutschen Teilnahme um eine jederzeit widerrufliche, nicht bindend auf Dauer angelegte Zurücknahme deutscher HoheitsgewaIt handelt. Ausschlaggebend ist allein, daß der Übertragungsakt für die Dauer der deutschen Beteiligung eine unerläßliche Rechtsgrundlage für den Fall der aktuellen Inanspruchnahme der VN-Hoheitsrechte darstellt 108 • Dies ist hier der Fall. Die schriftlich fixierte Unterstellung in Verbindung mit dem Entsendebeschluß unterfällt folglich - jedenfalls sprechen dafür die besseren Argumen-

lOS BVerfGE 68, 1 (91); nach Stein (in: FroweinlStein, 26 f.) liegt demgegenüber bei derartigen Unterstellungen keine Übertragung von Hoheitsrechten vor. 106 S. oben Fn. 1. 107 Diese NATO-typische, auf die operative Führung im Konfliktfall zugeschnittene (vgl. Tomuschat, in: BK, Art. 24 Rn. 113; K. lpsen, JöR NF 21 [1972], 1 ff. [45 ff.]) Unterscheidung dürfte jedenfalls im Rahmen der VN-Operationen einen Bedeutungswandel erfahren. Der VN-Kommendeur muß, um seine Verantwortung gegenüber Generalsekretär und Sicherheitsrat wahrnehmen zu können, in der Lage sein, im Rahmen seines generellen Einsatzauftrags den nachgeordneten Führern Aufgaben zuzuweisen, Truppenteile u.U. neu zu lozieren, die Unterstellung im einzelnen zu bestimmen, taktische Maßnahmen anzuweisen usw. All dies beinhaltet das "operational command" (K. lpsen, ebd., 49). Die "operational control", also das Recht, die Durchführung der erteilten Aufträge durch Korrekturen im Befehlsweg sicherzustellen, steht dem VN-Kommandeur notwendigerweise ohnehin zu, da sonst der den VNOperationen immanente Befehlsstrang fehlen würde und die Verantwortlichkeit für das Handeln der Kontingente nach außen nicht von den VN übernommen werden könnte. Gleiches gilt auch für die Inanspruchnahme der diplomatischen Schutzpflichten gegenüber dem Aufenthaltsland. Zu diesen Beziehungen Bothe, in: Simma, nach Art. 38 Rn. 66 ff. lOS BVerfGE 68, I (94).

2.2 Vereinbarkeit mit Art. 24 GG

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te - Art. 24 Abs. 1 00. Hier werden zeitweilig deutsche Hoheitsrechte auf die Vereinten Nationen übertragen. Dies hat zur Folge, daß der Entsendebeschluß, der die Absprachen innerstaatlich umsetzt und die Aufgaben der Bundeswehr entsprechend der internationalen Verpflichtung konkretisiert, dem Gesetzesvorbehalt des Art. 24 Abs. 1 GG genügen muß. Ein besonderes Zustimmungsgesetz zur Entsendung ist bekanntlich nicht ergangen. Der Entsendebeschluß wurde als Regierungsentscheidung getroffen. Nur das Beitrittsgesetz von 1973 liegt vor. Es kommt daher darauf an, ob es Art. 24 Abs. 1 00 zuläßt, daß dieses Beitrittsgesetz den Gesetzesvorbehalt ausfüllt. Auszugehen ist zunächst davon, daß dem Beitrittsgesetz, das ein Vertragsgesetz im Sinne von Art. 59 Abs. 2 S. 1 00 darstellt, zugleich die Funktion des in Art. 24 Abs. 1 00 geforderten Gesetzes zugemessen wird. Beides kann - und wird regelmäßig - zusammenfallen 109. Dies beantwortet aber noch nicht die Frage, ob das Beitrittsgesetz seinem Inhalt nach in der Lage ist, den Anforderungen des Art. 24 Abs. 1 GG zu genügen, enthält es doch keine Entscheidung des Gesetzgebers, ob und in welchem Umfang Hoheitsrechte allgemein, generell auf die Vereinten Nationen übertragen werden sollen, geschweige denn bezüglich peace-keeping operations im besonderen. Die Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten muß "durch Gesetz" erfolgen llO • Bereits der Wortlaut legt nahe, dieses Erfordernis strikt auszulegen. Im Grundgesetz hat die Unterscheidung zwischen den Begriffen "durch Gesetz" und "aufgrund Gesetzes" feste Konturen. Die Zustimmung "durch Gesetz" kann daher weder durch Rechtsverordnung oder Verwaltungsvorschrift noch durch Inanspruchnahme exekutiver Kompetenzen bewirkt werden. Art. 24 Abs. 1 00 unterscheidet auch nicht zwischen "wichtigen" und "unwichtigen" Übertragungsgegenständen, wie dies z.B. allgemein bei völkerrechtlichen Verträgen hinsichtlich ihrer Zustimmungsbedürftigkeit nach Art. 59 Abs. 2 00 der Fall ist1ll • Zudem gebietet der Telos, dem Art. 24 Abs. 1 00 dient, die strikte Auslegung dieses Erfordernisses legislativer Zustimmung. Im einzelnen gilt folgendes. Die Übertragung von Hoheitsrechten ermöglicht und bewirkt auf der einfachgesetzlichen Ebene einen Eingriff in die und eine Veränderung der verfassungsrechtlich festgelegten Zuständigkeitsordnung. Sie ist damit materiell eine Verfassungsänderung, also eine gewichtige Einwirkung auf die Rechts-

109

110 111

Rojahn, in: von Münch, Art. 24 Rn. 21. Zum folgenden BVerfGE 58, 1 (35 ff.). S.u .. bei Fn. 132.

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2. Zur Verfassungsmäßigkeit des Entsendebeschlusses

und Verfassungsordnung. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, daß Art. 24 Abs. 1 GG die Einräumung von Hoheitsrechten an die Vereinten Nationen ermöglicht - an eine zwischenstaatliche Einrichtung also, deren Rechtsordnung, Willensbildung und Handlungsformen nicht dem nachhaltigen Einfluß des deutschen Gesetzgebers unmittelbar unterliegen ll2 , die gleichzeitig aber auf die deutsche Rechtsordnung hoheitlich einwirken. Hier liegen klare Unterschiede zur NATO und - vor allem - zur EG I13 . Die Summe dieser gewichtigen Aspekte gebietet es, den Gesetzesvorbehalt in Art. 24 Abs. 1 GG grundsätzlich strikt auszulegen. Sein Sinn ist es, einen solchen Übertragungsvorgang, der ja stets das Funktions- und Machtverteilungsgefüge des Grundgesetzes verändert, nur mit Zustimmung des Gesetzgebers durch Gesetz zu gestatten, wenn schon eine förmliche Verfassungsänderung nach Art. 79 Abs. 1 GG (mit gutem Grund) nicht gefordert ist. Bleibt man bei diesem Zwischenergebnis stehen, so bedeutet dies, daß der Gesetzgeber selbst über Inhalt und Ausmaß der Übertragung von Befehlsrechten zu entscheiden hat. Er darf diese Übertragung nicht der Bundesregierung allein überlassen. Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, daß der Beitritt zu den Vereinten Nationen und damit implizit die Anerkennung der in der VN-Charta enthaltenen Rechte und Pflichten durch das Beitrittsgesetz selbst erfolgt ist - damals übrigens nach eingehender, kontroverser, in den Parteien, Fraktionen und Ausschüssen (bzw. entsprechenden Arbeitskreisen) sorgsam vorbereiteter Debatte. Zu überlegen ist deshalb, wie gesagt, ob nicht dieses Beitrittsgesetz in Verbindung mit den einschlägigen Regelungen der VN-Charta eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Übertragung der Befehlshoheit darstellt. Die sachliche Reichweite des Gesetzesvorbehalts in Art. 24 Abs. 1 GG ist, wie bereits angedeutet, auch mit Blick auf die Art und Weise zu bestimmen, in der Einrichtungen im Sinn dieser Vorschrift auf der zwischenstaatlichen Ebene errichtet werden und funktionieren. Dies geschieht typischerweise im Rahmen eines Integrationsprozesses, in dessen zeitlichem Verlauf zahlreiche einzelne VoIIzugsakte erforderlich sind, um den satzungsgemäß angestrebten Zustand herbeizuführen. Nun regelt zwar die VN-Charta selbst, wie gesagt, weder Aufgabe noch Inhalt oder Befugnisse von Operationen der vorliegenden Art. Auch dort, wo nicht schon der Gründungsvertrag selbst jeden dieser

112 Dies ist allerdings auch nicht Voraussetzung einer Übertragbarkeit von Hoheitsrechten nach Art. 24 I GG; BVerfGE 68, 1 (95). 113 Zum Integrationsgrad der Europäischen Gemeinschaften zusammenfassend H. -Po lpsen, Die Bundesrepublik Deutschland in den Europäischen Gemeinschaften, in: lsensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 181 Rn. 11 ff., 57 ff.

2.2 Vereinbarkeit mit Art. 24 GG

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Vollzugs abläufe nach Inhalt, Fonn und Zeitpunkt festlegt, bedarf es indes nicht von vornherein eines jeweils gesonderten Gesetzes im Sinne von Art. 24 Abs. 1 GG 1l4 • Ein solches Gesetz ist dort entbehrlich, wo bereits der Gründungsvertrag (VN-Charta), dem durch Gesetz (Beitrittsgesetz 1973) zugestimmt worden ist, diesen zukünftigen Vollzugsverlauf (VN-Friedenstruppen, gebildet aus einzelstaatlichen Kontingenten) - also die entsprechende Übertragung von Hoheitsrechten, d.h. die materielle Verfassungsänderung hinreichend bestimmbar nonniert hat. Diese Bedingung ist Grund wie Grenze eines Verzichts auf ein gesondertes Vollzugsgesetz. Nur wenn die Aufgabe innerstaatlicher Befriedung durch militärische und humanitäre Hilfe nach Art von UNOSOM 11 in der VN-Charta hinreichend bestimmbar angelegt ist spätere wesentliche Änderungen des völkervertraglichen Integrationsprogramms und seines Vollzugs sind nicht mehr vom ursprünglichen Beitrittsgesetz umfaßt -, kann auf das Erfordernis eines gesonderten Zustimmungsgesetzes verzichtet werden. Dabei gilt als erster grober Maßstab: Je technischer das übertragene Hoheitsrecht ist, je mehr es sich vor dem Hintergrund der allgemeinen Mitgliedschaftsrechte und -pflichten als technisch-instrumentale Ergänzung und Konsolidierung im Hinblick auf die wirksame Verfolgung bereits wahrgenommener Aufgaben und Kompetenzen darstellt, desto weniger ist vom Sinn des Art. 24 Abs. 1 GG her ein zusätzliches Übertragungs gesetz gefordert. Legt man diese vom Bundesverfassungsgericht in der Eurocontrol-Entscheidung präzisierten und auch auf UNOSOM 11 anwendbaren Maßstäbe l15 an die Bestimmungen der VN-Charta bezüglich eines VN-Einsatzes an und berücksichtigt man den Kenntnisstand, den der deutsche Gesetzgeber 1973 vom Integrationsprogramm der Vereinten Nationen und den einschlägigen Vollzugsakten hatte I 16, ergibt sich folgendes. Der Gründungsvertrag der zwischenstaatlichen Einrichtung: die VN-Charta auf dem Jahr 1945, regelt den Einsatz von Friedenstruppen, der keine nur technische Durchführung der VN-Charta darstellt, nicht. Die Inanspruchnahme dieser Aufgabe und der damit gegenüber den Mitgliedstaaten wirkenden Kompetenzen beruht auf Satzungsgewohnheitsrecht oder zumindest auf langjähriger, überwiegend (und

BVerfGE 58, 1 (37 ff.); 68, 1 (95 ff.). BVerfGE 58, 1 (26 ff.); dazu die Anm. von Stein, ZaöRV 42 (1982), 596 ff.; Frowein, EuGRZ 1982, 179 ff. 116 Den deutschen Kenntnisstand über die Praxis der VN-Friedenstruppen dokumentiert Menzel, JIR 15 (1971), 11-137. Daß sich gerade in dieser Zeit das Aufgabenfeld der VN und die damit zusammenhängenden politischen Aktivitäten veränderten, wurde natürlich gesehen; vgl. Scheuner, Aufgaben- und Strukturwandlungen im Aufbau der Vereinten Nationen, 533 ff. (542-547). 114 115

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2. Zur Verfassungs mäßigkeit des Entsendebeschlusses

mittlerweile umfassend) anerkannter Übung ll7 • Der künftige Verlauf des Einsatzes von peace-keeping forces wird dabei ganz der VN-Praxis, d.h. im wesentlichen dem Sicherheitsrat, und dem Willen der beteiligten Entsendestaaten überlassen. Gewiß läßt die VN-Charta die Möglichkeit des Einsatzes von VN-Friedenstruppen mit den für UNOSOM 11 beschriebenen Aufgaben und Befugnissen zu. Aber in der Charta selbst ist das damit verfolgte Programm nur rudimentär in Form der ganz allgemeinen Generalfunktionen der Vereinten Nationen umschrieben 118 - für Art. 24 Abs. 1 GO dürfte es nicht ausreichen 1l9 . In der gesteigerten Praxis der Bereitstellung von VN-Friedenstruppen in den letzten Jahren mag zudem eine nicht unerhebliche Ausweitung und Intensivierung gesehen werden, die vom Gesetzgeber des Jahres 1973 so nicht vorhergesehen werden konnte (und zweifellos nicht vorhergesehen wurde). In objektiver Betrachtungsweise ist dieser ,,Blauhelm-Boom"12o u.U. als eine aus dem Beitrittsgesetz 1973 herausfallende wesentliche Änderung der Vollzugsseite der VN-Charta anzusehen. Zwar stand das Programm der Vereinten Nationen dem Gesetzgeber seinerzeit hinreichend deutlich vor Augen l21 ; die Vollzugspraxis der friedenserhaltenden Maßnahmen bis zum Jahr 1973 hatte indes ihren Schwerpunkt in Beobachtermissionen, nicht in VN-Friedenstruppen. Die VN-Operationen im Kongo (1960-64, zudem als Nachwehen der Entkolonialisierung aus damaliger Sicht möglicherweise eine Sonderer117 Zusammenfassend VerdrosslSimma, Universelles Völkerrecht, §§ 248 ff.; H. Fischer, in: K. Ipsen, Völkerrcht, § 58 Rn. 23 ff. 118 Vgl. Bothe, in: Simma, Kommentar, nach Art. 38 Rn. 38 ff. 119 So Mosler, in: FroweinlStein, 51, 81 f.; unsicher auch Stein, ebd., 26: eventuell sei für das erste Mal eine besondere gesetzliche (Rahmen-)Regelung erforderlich. Die bei Art. 24 II GG vorgebrachten Zweifel, ob die Eingliederung der deutschen Streitkräfte in die VN-Befehlsstruktur in der Mitgliedschaft implizit enthalten ist oder eine erneute Vertiefung der Integration in die VN bedeute, müssen in gleicher Weise bei Art. 24 I GG vorgebracht werden. S.a. BVerfGE 68, 1 (119, SV Mahrenholz): Es soll nicht ausreichen, daß im Vertragswerk ein Integrationsprogramm als möglich angelegt sein muß. Andernfalls würde sich der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 24 I GG zugunsten eines vertragsgestützten Interpretationsmonopols (hier: bezüglich der VN-Charta) nahezu verflüchtigen. In der gleichen Richtung Bothe, in: Deutscher BundestaglRechtsausschuß, Prot. 12/67, S. 5: Art. 24 II GG legitimiert nur "Maßnahmen der Kooperation" allgemein. 120 Weltweit sind heute (Stand Juli 1993) über 50.000 "Blauhelme" aus über 60 Ländern in 13 Einsätzen tätig; so Bundesaußenminister Kinkei, VerhBT 12/ 169/ 2. Juli 1993/ 14595. Auflistung der Einsatzformen-, orte und -aufgaben in Hoffmann, 30 ff. 121 Zu diesem Kriterium BVerfGE 68, I (100). - Zur Änderung der Vollzugsseite der VN-Charta aus heutiger Sicht Wolfrum, Ursprüngliche Aufgabenzuweisung und jetzige Aktivitäten der Vereinten Nationen, 65 ff.

2.2 Vereinbarkeit mit Art. 24 GG

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scheinung) und in Zypern (1964_)122 passen zwar in das heute vertraute Bild der peace-keeping operations, und zumindest die Kongo-Operationen im Ansatz mit UNOSOM vergleichbar - waren damals weltweit und zumal in Deutschland mit anhaltend großer Aufmerksamkeit (und Reflexion) verbunden; beide Operationen waren allerdings seinerzeit - primär im Ost-WestKontext - sehr umstritten (was sich auch in ihren Finanzierungsproblemen ausdrückte). Dabei ist überdies zu berücksichtigen, daß die Bundesrepublik Deutschland seit Beginn ihrer Mitgliedschaft bis ausgangs der achtziger Jahre gegenüber den Vereinten Nationen, wie gesagt, stets darauf hingewiesen bzw. sich damit "entschuldigt" hat, aus verfassungsrechtlichen Gründen an der aktiven Teilnahme solcher (nicht bloßer Beobachter-)Operationen gehindert zu sein. Von dieser Rechtslage dürfte auch der Beitrittsgesetzgeber 1973 ausgegangen sein. Eine Reihe von Argumenten sprechen also dagegen, im Beitrittsgesetz (und sei es auch in Verbindung mit der VN-Charta) die vorweggenommene Gutheißung der Übertragung von bestimmten Hoheitsrechten durch den Gesetzgeber zu sehen. Auf der anderen Seite handelt es sich bei der Ausweitung der friedenserhaltenden Maßnahmen nicht um eine Änderung der grundsätzlichen Zielrichtung der Vereinten Nationen, im Gegenteil! Die Blauhelm-Aktionen stellen nur eine - gewichtige - Intensivierung und Gewichtsverhigerung im Vollzug dar, aber dies erfolgt ganz im Sinn der generellen, noch viel weiter ausgreifenden Friedensfunktion der Vereinten Nationen 123 • Nimmt man hinzu, daß sich Inhalt und Rechtsformen dieses Vollzugs nicht im voraus vollständig bestimmen lassen, wenn der Zweck der Vereinten Nationen erreicht werden und rasche und anpassungsfähige Maßnahmen möglich sein sollen, so spricht vieles für die aus der vertragsbedingten Natur der Sache nur begrenzt mögliche Vorab-Festlegung der Übertragung von Hoheitsrechten

122 Bothe, in: Simma, nach Art. 38 Rn. 16, 19. m Die schwierige Abgrenzung von Intensivierung und Änderung der AufgabensteIlung zwischenstaatlicher Einrichtungen könnte U.U. im Rahmen der militärischen Bündnissysteme eine Rolle spielen. Sowohl in die NATO als auch in die WEU ist seit dem Ende des Ost-West-Konflikts Bewegung gekommen; heide Organisationen planen die Aufstellung von Eingreif- bzw. Friedenstruppen u.a. mit deutscher Beteiligung. - Zur NATO vgl. Wömer, Die Atlantische Allianz und die europäische Sicherheit, EA 47 (1992), I ff.; s.a. das Strategische Konzept der NATO und andere Dokumente der Gipfelkonferenz vom 7./8. November 1991 in Rom, ebd., D 52 ff. Zur WEU vgl. Kipke, Die Reaktivierung der Westeuropäischen Union, 1988, 19 ff.; Saalfeld, Entwicklung und Perspektiven der Westeuropäischen Union, 1992, 30 ff.; s.a. die Petersberger Erklärung des Ministerrats der Westeuropäischen Union über seine Tagung am 19. Juni 1992 in Bonn, EA 47 (1992), D 479 ff. - Zur Einbindung der Bundesrepublik Deutschland s. die (kritischen) Beiträge von Lutz und Neuneck, in: Lutz (Hrsg.), Deutsche Soldaten weltweit?, 27 ff., 83 ff., jeweils m.w.N.

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2. Zur Verfassungs mäßigkeit des Entsendebeschlusses

durch den Gesetzgeber 124 • Aus dieser - letztlich wohl überzeugenderen Sicht reicht das Beitrittsgesetz 1973 in Verbindung mit der VN-Charta aus, um die Bedingungen des Art. 24 Abs. 1 GG zu erfüllen 125. Gewiß, gegen diese Argumentation läßt sich einwenden, daß - anders als in engen, existenziellen Verteidigungsbündnissen 126 besteht bei den Vereinten Nationen eine eher lockere Einbindung der einzelnen Mitgliedstaaten die freiwillige militärische Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland an VN-Operationen seit 1974 diskutiert wurde. Mindestens seit den epochalen Änderungen der internationalen Lage ausgangs der achtziger Jahre, in deren Verfolg die Deutschen auch ihre staatliche Einheit wiedererlangten, wurde die deutsche Teilnahme an Operationen im Rahmen der Vereinten Nationen (nicht: an "beliebigen" Auslandseinsätzen!) aktuell. Für die Schaffung einer mit Art. 24 Abs. 1 GG zu vereinbarenden besonderen (einfach-)gesetzlichen Grundlage war also Zeit vorhanden. Aber wies der 12. Deutsche Bundestag mit der Bewältigung der Wiedervereinigungs- und ,,Zeitenwende"-Folgen, einschließlich Verfassungsreform und Maastrichter Vertrags werk, nicht auch ein besonders strapaziertes Zeitbudget auf? Und sind rechtspolitische Schritte nicht mittlerweile - endlich - eingeleitet?

124 Eine mögliche Alternative zur allseits geplanten Vollregelung auf Verfassungsebene (s.u. Gliederungspunkt 4) zeigt die Rechtslage in Österreich. Dort wurde die verfassungs rechtliche Grundlage einer Beteiligung an VN-Friedenstruppen in Form eines Bundesverfassungsgesetzes geschaffen, das von vornherein als bloße Rahmenregelung konzipiert war - grundsätzliche Entscheidung: Zulässigkeit der Entsendung österreichischer Truppen zu solchen Einsätzen, Vorgesetztenverhältnisse, Aufgaben der Bundesregierung - und der Ausfüllung durch einfaches Bundesgesetz - Detailregelung: Rechtsstatus der Soldaten, Regelung der Wehrpflichtverhältnsse - bedurfte. Vgl. Bundesverfassungsgesetz vom 30. Juni 1965 (BGBl. Nr. 173) und Bundesgesetz vom 14. Juli 1965 (BGBl. Nr. 233). Dazu PernthalerlEsterbauer, JIR 16 (1973); Strasser, ZaöRV 34 (1974), 689 ff. (704 ff.). Die konkrete Entscheidung über eine Entsendung obliegt dann jeweils der Bundesregierung, s. Ermacora, in: Neuhold u.a., Österreichisches Handbuch des Völkerechts, Bd. I, 21991, Rn. 606; zur Staatspraxis ebd., Bd. 11 Rn. 0 228. 125 In diesen Argumentationskontext gehört auch die schwierige Abänderbarkeit der VN-Charta (vgl. Art. 108; zu den bisherigen Anwendungsfällen Mützelburg I Karl, in: Simma, Art. 108 Rn. 44 ff.), vom blockierenden Vetorecht der Ständigen Mitglieder des VN-Sicherheitsrates (und der entsprechenden Schwierigkeit der VN, ihre Friedensfunktion wahrzunehmen) ganz zu schweigen. Dürfen nicht auch insofern die peace-keeping operations als in der VN-Charta mitgeschriebene Aufgaben und Handlungsformen gedeutet werden? 126 Zum Argument vertragsnotwendiger Flexibilität im Rahmen des Nordatlantikpaktes BVerfGE 68, 1 (100).

2.3 Vereinbarkeit mit Art. 59 und Parlamentsvorbehalt

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Zwischenergebnis

Die Argumente pro und contra Vereinbarkeit des Entsendebeschlusses mit Art. 24 Abs. 1 GG halten sich demnach in etwa die Waage. Vieles spricht für die Verfassungsmäßigkeit der Übertragung von Hoheitsrechten, wenn man den Gesetzesvorbehalt funktionellrechtlich "weicher" interpretiert und das Programm der (bekanntlich nur äußerst schwer abänderbaren oder ergänzbaren) VN-Charta in Verbindung mit der mittlerweile ausgedehnten und gesicherten Praxis der VN-Friedenstruppen ausreichen läßt. Manches spricht andererseits für die Verfassungswidrigkeit des Entsendebeschlusses, da ihm bei strikter Auslegung die von Art. 24 Abs. 1 GG geforderte gesetzliche Grundlage fehlt. Insgesamt dürfte der Kabinettsbeschluß aber, bezogen auf UNOSOM 11, auch die Hürde des Art. 24 Abs. 1 GG nehmen, mag freilich verfassungspolitisch alles für eine baldige entsprechende (Rahmen-)Regelung sprechen 127 •

2.3 Vereinbarkeit mit Art. 59 GG und Parlamentsvorbehalt Der Entsendebeschluß der Bundesregierung könnte indes wegen anderer verfassungsrechtlicher Vorschriften dem Vorbehalt des Gesetzes und damit dem Erfordernis parlamentarischer Zustimmung unterfallen. In Betracht kommt hierfür einmal Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG (Zustimmungsgesetz). Daneben ist auch an einen ungeschriebenen Parlamentsvorbehalt im Sinne der Wesentlichkeitslehre zu denken, dessen Erfordernissen gegebenenfalls auch mit einem förmlichen Parlaments beschluß genügt werden könnte. Erfordernis eines TransJormationsgesetzes nach Art. 59 Abs. 2 GG.?

Nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG bedürfen "Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen", der ,,zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes". An Handlungen der Bundesregierung, die an diesem Gesetzesvorbehalt zu messen sind, kommt zweierlei in Betracht: der Kabinettsbeschluß vom 20. April 1993, der über die grundsätzliche Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland an UNOSOM 11 entschied, und die die Einzelheiten der Teilnahme regelnde (brieflich fixierte) Absprache zwischen Bundesregierung und Vereinten Nationen.

127

S.u. Gliederungspunkt 4.

58

2. Zur Verfassungs mäßigkeit des Entsendebeschlusses

Der Kabinettsbeschluß scheint von vornherein aus dem Regelungsbereich des Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG herauszufallen. Es handelt sich bei ihm um eine einseitige Willenserklärung der Bundesregierung gegenüber den Vereinten Nationen. Die Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG vom Typ her unterfallende vertragliche, d.h. zweiseitige Regelung erfolgte erst durch den Schriftwechsel. Es wäre gleichwohl zu überlegen, ob nicht auch bzw. bereits der Entsendebeschluß der Zustimmung des Bundestages in Form eines Bundesgesetzes unterfällt, enthält doch jener Beschluß die außen-, sicherheits- und VN-politische Weichenstellung in diesem Kontext. Hiergegen spricht allerdings schon der eindeutige Wortlaut der Vorschrift, sodann die Staatspraxis, die seit jeher einseitige völkerrechtliche Willenserklärungen im Rahmen bestehender Verträge nicht einem derartigen Zustimmungserfordernis unterwirft - eine Ausnahme findet sich etwa in Art. 115a Abs. 5 GG. Das Schrifttum schließlich ist ebenfalls ganz überwiegend dieser Meinung 128 • Denkbar ist daher allenfalls eine analoge Anwendung des Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG auf den Entsendebeschluß. Dieser Weg scheitert im Ergebnis freilich an den beschränkten Rechten des Bundestages im Bereich der auswärtigen Gewalt. Die gesetzgebenden Körperschaften würden durch jene interpretatorische Ausweitung des Gesetzesvorbehalts in Art. 59 Abs. 2 GG eine Initiativ-, Gestaltungs- und Kontrollbefugnis im Bereich der auswärtigen Beziehungen erhalten, die mit den grundgesetzlichen (insofern übrigens weitgehend traditionellen) Vorgaben der Gewaltenteilung und der funktionalen Zuordnung der Aufgabenbereiche zwischen Erster und Zweiter Gewalt schwerlich zu vereinbaren wäre. Eine interpretatorische Erweiterung des Anwendungsbereichs des Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG auf einseitige Willenserklärungen im völkerrechtlichen Verkehr liefe letztlich auf das hinaus, was das Bundesverfassungsgericht einen Einbruch in zentrale Gestaltungsbereiche exekutiver Natur genannt hat l29 • Die auswärtige Gewalt ist von Verfassungs wegen im Schwerpunkt der Regierung im organisatorischen Sinne zugewiesen. Dies erfolgt in der Annahme, daß institutionell und auf Dauer typischerweise allein sie in hinreichendem Maß über die personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten und Ressourcen verfügt, um auf wechselnde und neue äußere Lagen zügig, sachgerecht und kontinuierlich zu reagieren, also die staatliche Aufgabe der "Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten" und zwischenstaatlichen Einrichtungen bestmöglich zu erfüllen 130.

Nachweise in BVerfGE 68, I (83 f.), auch zum folgenden. BVerfGE 68, I (86); s.a. Tomusehat, Verfassungsstaat, 34: "Der Therapievorschlag kann nicht einfach lauten, die Rechte des Art. 59 Abs. 2 auszuweiten." 130 Ähnliche Fragen der "funktionell" richtigen, eben u.a. an der sachlichen Kapazität orientierten Zuordnung wurden in den siebziger Jahren für die politische Planung 128 129

2.3 Vereinbarkeit mit Art. 59 und Parlamentsvorbehalt

59

Ein ausnahmsweise dennoch denkbarer Zustimmungsvorbehalt des Parlaments aus Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG analog 131 könnte allein dann in Betracht kommen, wenn durch die Erklärung der Bundesregierung schwere und langfristige oder gar unauflösliche Bindungen der Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem Erklärungsempfänger eintreten würden. Davon kann hier, bedenkt man etwa den Charakter von UNOSaM II und vor allem die Widerruflichkeit des begrenzten deutschen Engagements, nicht die Rede sein. Für Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG kommt also allein der Abschluß eines Kontingentabkommens oder der brieflichen Verabredungen in Betracht 132 • Sie unterfallen dieser Vorschrift zunächst nur dann, wenn es sich bei ihrem Inhalt um Regelungen der "politischen Beziehungen" der Bundesrepublik Deutschland (hier: mit den Vereinten Nationen) handelt. Allein die Tatsache, daß sich Vereinbarung oder Kontingentabkommen mit öffentlichen Angelegenheiten, dem Gemeinwohl oder den Staatsaufgaben allgemein beschäftigen, reicht hierfür nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine Regelung dergestalt, daß - in den früh kanonisierten Worten des Bundesverfassungsgerichts - die Existenz der Bundesrepublik Deutschland, ihre territoriale Integrität, ihre grundsätzliche Unabhängigkeit, ihre Stellung oder ihr maßgebliches Gewicht in der Staatengemeinschaft durch das Abkommen (oder die briefliche Vereinbarung) selbst berührt werden 133. Dabei kommt es nicht auf die Bedeutung für die Vereinten Nationen, sondern für die Bundesrepublik Deutschland an. M.a.W.: Die Machtstellung zu anderen Staaten oder zwischenstaatlichen Einrichtungen muß auf diesem Wege behauptet, gefestigt oder erweitert werden. Ob die (briefliche) Vereinbarung die für Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG erforderliche Relevanz hat, ist höchst zweifelhaft. Die Frage dürfte zu verneinen sein. Das Abkommen enthält keine politische Grundentscheidung, die die Existenz Deutschlands nachhaltig prägt, seine Position gegenüber den Vereinten Nationen maßgeblich festigt oder erweitert usw. Zwar bezweckt die Vereinbarung

gestellt, die damit dann ganz überwiegend zu Recht im Gravitationsfeld der Bundesregierung angesiedelt wurde. Nachweise bei Graf Vitzthum, Parlament und Planung, 1978, 364 ff. 131 So etwa BVerfGE 68, I (127 ff., SV Mahrenholz). 132 Sowohl beim Kontingentabkommen als auch bei der verbindlichen Absprache in Form eines Briefwchsels handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag LS.v. Art. 59 Abs. 2 GG; vgl. Bemhardt, Verfassungsrecht und völkerrechtliche Verträge, in: Isensee / P. Kirchhaf (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 174 Rn. 2; Einzelheiten bei Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 9; Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, 1991, 91 ff. 133 BVerfGE 1, 372 (380 ff.); Bemhardt, ebd., Rn. 12 f.; Rojahn, in: von Münch, Art. 59 Rn. 23 f. Die Rechtsprechung des BVerfG zu völkerrechtlichen Verträgen behandelt Zeitler, Verfassungsgericht und völkerrechtlicher Vertrag, 1974,27 ff.

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2. Zur Verfassungsmäßigkeit des Entsendebeschlusses

eine politische Gestaltung des Mitgliedschaftsverhältnisses zu den Vereinten Nationen, und sie leitet eine Abkehr von der jahrzehntelang verfolgten Distanz zur militärischen Teilnahme an VN-Operationen ein, initiiert also eine im wesentlichen neue, daher ja auch selbst in Deutschland so umstrittene Politik. Dies dürfte, für sich allein, aber nicht ausreichen 134 . Im folgenden wird jedenfalls davon ausgegangen, daß es sich nicht um einen politischen Vertrag im Sinne von Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG handelt. Die (briefliche) Vereinbarung fällt gleichwohl dann unter Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG, wenn sie sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung bezieht. Gemeint ist damit, daß der Bund durch die Vereinbarung mit den Vereinten Nationen Verpflichtungen übernehmen müßte, deren Erfüllung allein durch Erlaß eines entsprechenden (Bundes-)Gesetzes möglich ist 135 . Ohne Mitwirkung der gesetzgebenden Körperschaften soll die Bundesregierung keine völkerrechtlichen Verpflichtungen übernehmen (können), die sie innerstaatlich nicht ohne das Parlament erfüllen kann. Der vertraglich mit den Vereinten Nationen geregelte Gegenstand und seine Regelungsintensität müssen also das Maß erreichen, das aus der Sicht des Grundgesetzes eine Zuordnung der Umsetzung zum Bereich der Ersten Gewalt fordert. In Betracht kommt hier die mit der Entsendung verbundene Erweiterung von Pflichten der Bundeswehrangehörigen. Diese haben als Mitglieder der VN-Operation im Ausland zu dienen und in Somalia Befehle zu befolgen, die nicht von (eigenen) deutschen Stellen, sondern von (fremden) VN-Befehlshabern herrühren und Ziele und Interessen gerade der Vereinten Nationen konkretisieren. Die Bundesregierung ist zwar entsprechende Verpflichtungen zur Beachtung der Befehlshoheit in den brieflichen Absprachen eingegangen. Nach h.L. treffen diese Verpflichtungen indes wegen des dualistischen Rechtsverhältnisses von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht 136 die Bundesrepublik Deutschland, nicht die Soldaten direkt.

Individualverbindlichkeit erhalten diese Regeln erst, wenn ein besonderes Transformationsgesetz sie umsetzt 137 , oder wenn sie implizit durch das Beitrittsgesetz (vorweggenommen) umgesetzt worden sind. Gesetzt den Fall, diese (Implizit-)Transformation ist im vorliegenden Fall gegeben - davon

134 Streitig. Vgl. das Für und Wider bei Zuleeg, in: AK-GG, Art. 59 Rn. 28 f.; Fastenrath, Kompetenzverteilung im Bereich des auswärtigen Gewalt, 1986, 219. Für Anwendbarkeit des Art. 59 11 1 GG wohl Rudolf, in: Frowein/Simma, 78 f. 135 BVerfGE 1, 372 (389); Fastenrath, ebd., 219 f.; Rojahn, in: von Münch, Art. 59

Rn. 26 f. 136 Vgl. Dahm/Delbrück/Woljrum, Völkerrecht, Bd. 111, 1989, 98 ff.; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 181 ff., jeweils m.w.N. 137 Hierfür etwa Winkler, NZWehrR 35 (1992), 153 ff. (157).

2.3 Vereinbarkeit mit Art. 59 und Parlaments vorbehalt

61

wird im folgenden ausgegangen -, muß die Befehlskette Vereinte Nationen - Bundesrepublik Deutschland als Völkerrechtssubjekt - Bundesrepublik Deutschland als innerstaatlicher Rechtsträger - Soldat als UNOSOM 11Beteiligter dadurch geschlossen werden, daß die allgemeine Gehorsamspflicht des Bundeswehrangehörigen aus § 11 SoldatenG 138 auch die Befehle des VN-Kommandos um faßt. Diese Aufgabe übernimmt im Regelfall § 7 SoldatenG 139 • Auf den ersten Blick könnte man meinen, daß diese Vorschrift die Pflicht zur Befolgung von VN-Befehlen nicht beinhalten kann, weil es sich 1. bei der Teilnahme an VN-Operationen nicht um eine Dienstleistung in den Streitkräften der Bundesrepublik Deutschland handelt, und 2. die Treuepflicht in dieser Vorschrift auf die territoriale Verteidigung der Bundesrepublik Deutschlands radiziert ist. Daß ersteres unrichtig ist, wurde bereits dargetan; auch Art. 12a Abs. 1 GG läßt sich nichts anderes entnehmen l40 • Inhalt und Reichweite der Treuepflicht aus § 7 SoldatenG sind territorial nicht begrenzt. Das zeigt bereits § 16 SoldatenG (wie auch Art. 96 Abs. 2 S. 2 GG). Die inhaltliche Grundlage und Reichweite der Gehorsams- und Treuepflicht dagegen kann nicht §§ 7, 11 SoldatenG direkt entnommen werden. Dazu wären die Normen in ihrer Verweisungstechnik, für sich genommen, bereits zu unbestimme 41 • Grundlagen dieser Pflicht, d.h. der Summe der soldatischen Einzelpflichten, ist vielmehr die gesamte verfassungsmäßige Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Dabei ist das gegenseitige Dienst- und Treueverhältnis von Soldat und Dienstherr nicht statisch mit der Folge, daß Rechte und Pflichten von Beginn an unabänderlich festgelegt sind. Es handelt sich vielmehr um ein dynamisches Rechtsverhältnis, das einer Ergänzung und KlarsteIlung der einzelnen Rechte und Pflichten im Rahmen der je geltenden Rechtsordnung zugänglich ist, ja diese zu ihrer Konkretisierung benötigt. Zu dieser Rechtsordnung gehören das Grundgesetz und die dort festgelegte Aufgabe der Streitkräfte. Der Soldat ist aus § 7 SoldatenG

138 § 11 Gehorsam. (1) Der Soldat muß seinen Vorgesetzten gehorchen. Er hat ihre Befehle nach besten Kräften vollständig, gewissenhaft und unverzüglich auszuführen.

[ ... ]

139 § 7 Grundpflicht des Soldaten. Der Soldat hat die Pflicht, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. \40 Zu Art. 12a GG Walz, NZWehrR 36 (1993), 89 ff. (90 f.). Der an VN-Operationen teilnehmende Soldat nimmt folglich auch dann Befehle und Anweisungen deutscher Organe entgegen, wenn sie ihrem Inhalt und ihrer Zielsetzung nach von VNBefehlshabern herrühren; vgl. Schererl Alff, Soldatengesetz, 61988, § 7 Rn. 4. S.a. BVerfG vom 8. April 1993 - 2 BvE 5/93 und 2 BvQ 11/93, Umdruck S. 16 ff. (s. unten Anhang 2). \4\ Vgl. FürstlAmdt, Soldatenrecht, 1992, § 7 Rn. 2; s.a. BVerfGE 28, 51 (54).

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2. Zur Verfassungs mäßigkeit des Entsendebeschlusses

verpflichtet, allen Befehlen nachzukommen, die im Rahmen der Verfassung und der einfachen Gesetze ergehen. Dies gilt für Verwendungen im Inland wie für Auslandseinsätze, soweit sie das Grundgesetz zuläßt. Da die gesetzlichen Pflichten insoweit für alle Soldaten gleich sind, unabhängig davon, ob es sich um Berufssoldaten, Zeitsoldaten, wehrübende Reservisten oder Grundwehrdienstleistende handelt, ist auch die Pflicht zur Teilnahme an verfassungsrechtlich zulässigen Auslandsverwendungen für alle Soldaten gleich l42 • Einer Ergänzung des Soldatengesetzes in Richtung auf VN-Operationen bedarf es aus der Sicht der Rechts- und Pflichtenstellung des einzelnen Soldaten nicht. Die Absprache Bunderepublik Deutschland - Vereinte Nationen bezieht sich demzufolge nicht auf "Gegenstände der Bundesgesetzgebung" im Sinne von Art. 59 Abs. 2 S. 1 00. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist ein Transformationsgesetz also nicht erforderlich. Erfordernis eines Parlamentsgesetzes oder einer sonstigen förmlichen Parlamentszustimmung ?

Abschließend ist danach zu fragen, ob der Entsendebeschluß der Bundesregierung unter dem Gesichtspunkt des Parlamentsvorbehalts für wesentliche Entscheidungen l43 verfassungswidrig ist. Die militärische Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland an UNOSOM 11 könnte gegen Beteiligungsoder Entscheidungsrechte des Bundestages verstoßen, soweit in ihr eine für das Staatsganze bedeutsame Entscheidung, genauer: eine sicherheits- und außenpolitische Leitentscheidung liegt. Hier sind folgende Teilfragen auseinanderzuhalten: - Welche verfassungsrechtliche Grundlage besitzt ein Beteiligungs- oder Entscheidungsrecht des Bundestages? - In welchen Formen kann es ggf. wahrgenommen werden (Gesetz, sonstige förmliche Zustimmung, schlichter Parlamentsbeschluß)? Wie ist dieses Parlamentsrecht gerade im Bereich der auswärtigen Gewalt ausgestaltet? - Reicht die im Fall UNOSOM 11 konkret erfolgte Beteiligung des Bundestages (1992/93) für die Wahrnehmung seiner Organkompetenz aus? 142 Dazu Walz, NZWehrR 35 (1992), 55 ff.; Schlegtendal, NZWehrR 35 (1992), 177 ff.; Walz, NZWehrR 36 (1993), 89 ff. 143 Allgemein dazu Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: Isensee / P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 1988, § 62 Rn. 41 ff.

2.3 Vereinbarkeit mit Art. 59 und Parlamentsvorbehalt

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Gewiß, die Unbestimmtheit des Begriffs, was im Einzelfall "wesentlich" ist und was nicht, liegt auf der Hand l44 ; sie hat zweifellos die Karriere der weiterhin nicht unumstrittenen Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts 145 befördert. Aber daß es sich bei der Entsendung von Bundeswehreinheiten um einen für Deutschland wesentlichen Akt handelt, dürfte bei allen Konstruktionsmängeln der Wesentlichkeitstheorie doch von niemandem ernstlich bestritten werden. Indes - was folgt aus dieser Feststellung? Folgt aus ihr, daß auch der Entsendebeschluß, wie alles "Wesentliche", einer Entscheidung des parlamentarischen Gesetzgebers zu überlassen ist? Angesichts der ausdrücklich normierten Organkompetenzregelungen in Art. 59 Abs. 2 GG und Art. 24 Abs. 1, 2 GG für den Bereich der auswärtigen Angelegenheiten kann diese Frage jedenfalls nicht ohne weiteres bejaht werden. Die Wesentlichkeitstheorie könnte in diesem organkompetenziell vergleichsweise konkret und dicht ausgestalteten Feld nur dann eine besondere, zusätzliche Gesetzgebungsbefugnis begründen, wenn sich diese Kompetenz - darin jene Detailnormierungen überspielend - aus dem grundgesetzlichen Demokratieprinzip in Verbindung mit dem parlamentarischen Regierungssystem ergibt l46 • Insoweit könnte man daran denken, dem Parlament kraft seiner besonderen Nähe zum Souverän, kraft der Wertigkeit seiner grundgesetzlichen Aufgaben und Befugnisse und kraft seiner herausragenden institutionellen, personalen, funktionalen und verfahrensmäßigen Legitimationsleistung einen Anteil an der Staatsleitung zuzuerkennen dergestalt, daß wesentliche Fragen des Gemeinwohls der Bundesrepublik Deutschland nicht von der Exekutive allein, sondern nur im Verbund mit der Volksvertretung entschieden werden dürfen. Die aus dem Repräsentationsgedanken (Art. 20 Abs. 2 GG) resultierende politische Führungsfunktion des Bundestages manifestiert sich in seiner Beteiligung an der Staatsleitung als dem gemeinsamen Nenner für Aufgaben, die wegen ihres Ranges und ihrer Bedeutung nicht nur der Exekutive, d.h. hier der Bundesregierung, im Rahmen ihrer Regierungsfunktion, sondern

144 Dazu etwa die Diskussion in: GötzlH.H. KleinlStarck (Hrsg.), Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle, 1985,81-130. 145 Die Theorie ist im Zusammenhang mit schulrechtlichen Entscheidungen des BVerfG in den 70er Jahren entstanden; vgl. Oppennann, Gutachten C zum 51. Deutschen Juristentag, 1976; ders., Schule und berufliche Ausbildung, in: Isenseel P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, § 135 Rn. 15 ff. 146 _ und nicht aus dem Rechtsstaatsprinzip, wie dies bei der Frage grundrechtlicher Wesentlichkeit im Schwerpunkt Beurteilungsmaßstab ist. Vgl. zu den beiden Varianten Mössle, Regierungsfunktionen des Parlaments, 1985, 138 ff. m.w.N.

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2. Zur Verfassungsmäßigkeit des Entsendebeschlusses

Erster und Zweiter Gewalt "gewissermaßen zu gesamter Hand" zustehen l47 • Jener grundsätzliche Verfassungsgedanke, der seit gut drei Jahrzehnten im Schrifttum vertreten wird und der auch vom Bundesverfassungsgericht - in seiner Variante als grundrechtlicher Wesensgehalts-VorbehaIt des Gesetzes teils rezipiert, teils korrigiert wurde l48 , kann für das Verhältnis von Erster und Zweiter Gewalt im staatsorganisatorischen Bereich fruchtbar gemacht werden. Hier soll indes nicht generell über Ableitung, Inhalt und Reichweite des Parlamentsvorbehalts räsonniert werden. Entscheidend ist allein die Ausgestaltung dieser Lehre im Bereich der auswärtigen Gewalt - nur hier wird sie für die Beurteilung des Entsendebeschlusses der Bundesregierung relevane 49 • Für diesen Bereich lassen sich im Ergebnis zwei große Linien nachzeichnen l5O • Nach der einen Position gehört die Führung der Außenpolitik wesensmäßig zum Funktionsbereich der Exekutive; in der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes liege die auswärtige Gewalt schwerpunktmäßig in der Hand der Bundesregierung und ihrer Behörden. Die andere Richtung versteht die auswärtige Gewalt als eine kombinierte oder gemischte Gewalt, Regierung und Volksvertretung, wie gesagt, "gesamthänderisch" übertragen. Aus der Sicht des Parlaments bedeutet dies, daß nach ersterer Lesart die einschlägigen Kompetenzen des Bundestages (Art. 24 Abs. 1, 2, 59 Abs. 2 GG) Ausnahmeerscheinungen darstellen, die nicht erweiterungsfähig sind. Nach letzterer Meinung handelt es sich hingegen um Ausprägungen eines verallgemeinerungsfähigen Grundsatzes; in entsprechender Interpretation muß er auch auf andere außenpolitische Gegenstände und Entscheidungen Anwendung finden, wenn diese in ihrem Gewicht den ausdrücklich parlamentseigenen Zuständigkeiten gleich- oder nahekommen. Das grundsätzliche Problem ist damit ein zweifaches:

147 So das bekannte Diktum von Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9 ff. (36); vgl. Hennes, Der Bereich des Parlamentsgesetzes, 1988, 47 ff. (dort w.N.). Scharf ablehnend Graf Vitzthum, Parlament und Planung, 1978, 257 ff. (..aussageschwach"). In der Tat: Normative Aussagen, konkrete Rechtsfolgen lassen sich aus dem modisch gewordenen Begriff nicht ableiten, so nützlich er etwa in einer beschreibenden und klassifizierenden Staatsformenlehre wäre; treffend dazu Steinberger, Politische Repräsentation in der Bundesrepublik Deutschland, 137 ff. (161). 148 Einzelheiten bei Pieroth/Schlink, Staatsrecht 11: Grundrechte, 81992, Rn. 304 ff. 149 Es wäre also falsch, sich ganz allgemein über das (notgedrungenermaßen wolkige) ..Wesen" der Wesentlichkeitslehre auslassen und aus abstrakten, allein verfassungstheoretisch und -politisch nachvollziehbaren und einleuchtenden Überlegungen und Formeln detaillierte Vorgaben für das konkrete Verhältnis von Regierung und Parlament (eben etwa im UNOSOM lI-Komplex) abzuleiten. 150 Dazu Grewe, Auswärtige Gewalt, § 77 Rn. 41 ff.

2.3 Vereinbarkeit mit Art. 59 und Parlaments vorbehalt

65

Wann bedürfen staatliche Regelungen im besonderen Maß gerade der parlamentarischen Legitimation? Inwieweit ist gerade die parlamentarische Mitwirkung - in ihren jeweiligen Form - geeignet, legitimierend zu wirken? Für die Beantwortung dieser Fragen ist auf Kriterien zurückzugreifen, die die Wesentlichkeit des Entsendebeschlusses konkretisieren, Hierfür kommen (neben der hier nicht einschlägigen Grundrechtsrelevanz) allein in Betracht: die Determinationswirkung der Regierungsentscheidung und ihre politische UmstrittenheitlSl . Der Wesentlichkeits-Gesetzesvorbehalt soll in allen Bereichen, wie gesagt, für das Grundlegende gelten. Er soll das Gewichtige, Dauerhafte, Stabilisierende betreffen, also überall dort zur Anwendung kommen, wo normative Entscheidungen von' substanziellem Gewicht für das politische System der Bundesrepublik Deutschland zu treffen sind I52 , "Wesentliche" Entscheidungen sollen also auch ohne besonderen Grundrechtsbezug dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben. Wann aber ist eine Entscheidung so wichtig für das Gemeinwesen? Als ein der Präzisierung zugänglicher Indikator wird regelmäßig die dauerhaft gestaltende, zukunftsprägende Wirkung einer Entscheidung genannt. Dies gilt vor allem dann, wenn die Entscheidung, um deren Parlamentsrelevanz es geht, eine neue generelle Richtung der Politik bestandskräftig vorgibt und loder wenn sie eine Vielzahl unterschiedlicher Interessen zentral berührt, mithin weitgehend Maßnahmen trifft, die einer Eigendynamik unterliegen, die dann nicht mehr ohne weiteres in eine neue Richtung zu lenken ist. Der Entsendebeschluß der Bundesregierung fügt sich in diese Kriterien ein, Er markiert eine Abkehr der bis in die späten achtziger Jahre gegenüber den Vereinten Nationen vertretenen Außen- und Verfassungspolitik, indem er die militärische Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland an VN-Operationen nun als verfassungsrechtlich generell unbedenklich (wenn auch vielleicht "klärungsbedürftig") bezeichnet und sie damit den Aspirationen der Vereinten Nationen öffnet. Durch diese Wende werden sowohl (nach außen) die Stellung Deutschlands in der Völkergemeinschaft als auch (nach innen) die Aufgabenstellung der Streitkräfte partiell neu definiert und festgelegt. Diese Neuorientierung ist zumindest gegenüber den Vereinten Nationen nicht mehr ohne Gesichtsverlust, ja nicht ohne erheblichen außenpolitischen Schaden zu revidieren. Bei einer neuerlichen Wende (oder einer Halse) würde mehr zerschlagen als nur wahl- und parteipolitisches Porzellan. Veränderte Parla-

Zu diesen Kriterien zusammenfassend Herrnes, 114 ff., auch zum folgenden. Einzelheiten bei Ossenbühl, Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, in: GötzIH.H. KleinlStarck (Hrsg.), Öffentliche Verwaltung, 17 ff.; ders., Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, § 62 Rn. 32 ff. ISI

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5 März

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2. Zur Verfassungs mäßigkeit des Entsendebeschlusses

ments- (und Bundesrats-)Mehrheiten z.B. nach der nächsten Bundestagswahl würden insofern keineswegs bedeuten, daß ein zügiges Umsteuern im Sinne einer ,,Entmilitarisierung" der deutschen VN-Friedenspolitik noch oder wieder möglich wäre. Als weiterer Indikator für das Vorliegen eines "wesentlichen" Politikgegenstandes kann u.U. auch die politische Umstrittenheit einer Materie oder bestimmten Maßnahme herangezogen werden: ,,Das Wesentliche ist das politisch Kontroverse. ,,153 Zwar sollen damit weder politische Modeströmungen akzeptiert noch diese als verfassungsrechtlicher Maßstab aufgewertet werden; aber die ernsthafte politische Umkämpftheit einer Frage signalisiert einen Legitimationsbedarf unter dem Grundgesetz, den die zustimmende parlamentarische Entscheidung am eindrücklichsten befriedigen kann. Die Staatsleitungs- und Integrationsfunktionen des Parlaments sind damit ebenso angesprochen wie die rechtsstaatlich und demokratisch legitimierenden Aufgaben des parlamentarischen Gesetzes - beides Maßstäbe, die vom Grundgesetz im einschlägigen Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG ("politische Beziehungen") ausdrücklich anerkannt werden. Die - hier unstreitig vorliegende - politische Umstrittenheit des Entsendebeschlusses hat nach alledem zumindest indizielle Bedeutung für die Geltung des Wesentlichkeits-Gesetzesvorbehalts. Eine "bipartism policy" nach angelsächsischem Vorbild ist - jedenfalls was friedensherbeiführende Maßnahmen l54 angeht - in Deutschland bis auf weiteres offenbar nicht möglich. Unter diesen allgemeinen, die Wesentlichkeit konkretisierenden und sie damit juristisch - einigermaßen - handhabbar machenden Gesichtspunkten unterfällt der Entsendebeschluß der Bundesregierung an sich dem parlamentarischen Zustimmungsvorbehalt. Bei dieser Aussage kann man allerdings nicht stehenbleiben. Die Wesentlichkeit einer exekutiven Maßnahme ist zunächst nur ein Indikator für den ,,Einsatz" des Parlaments und seine Legitimationsleistung, nicht mehr. Sie reicht, für sich genommen, nicht aus, um die Entscheidung über die betreffende Maßnahme der Organkompetenz der Zweiten Gewalt zu entziehen und sie (daneben oder letztentscheidend) der Ersten Gewalt zuzuweisen. Die Entscheidung hängt vielmehr davon ab, inwieweit das Grundgesetz für den betroffenen Regelungsbereich konkrete Aussagen trifft, wie die wechseitigen Beziehungen also normativ ausgestaltet sind. Hierzu gilt folgendes.

153

Kisker, Neue Aspekte im Streit um den Vorbehalt des Gesetzes, NJW 1977,

154

Vgl. die Begrifflichkeit von Art. 24 Abs. 2 a.E. GG.

1313 ff. (1318).

2.3 Vereinbarkeit mit Art. 59 und Parlamentsvorbehalt

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Im Bereich der auswärtigen Gewalt kann aus den enumerativ geregelten parlamentarischen Mitwirkungsrechten bei völkerrechtlichen Verträgen bestimmter Qualität - denn um mehr handelt es sich bei Art. 24, 59 GG gegenüber dem in aller Regel ersten Zugriff der Exekutive und ihrem Verhandlungs- und Abschlußmonopol nicht - nach der Rechtsprechung des BundesverfassungsgerichtsiSS und der ganz überwiegenden Meinung im Schrifttum l56 nicht auf einen verfassungsdogmatisch erheblichen gemeinsamen Bereich der Staatsleitung geschlossen werden, bei dem die Regierungsentscheidungen von einem vorab oder auch nur nachträglich gutheißenden (gesetzlichen oder sonstigen parlamentarischen) Votum abhängig wären. Andernfalls würde das im Grundgesetz detailliert angelegte und ausgestaltete System der Gewalten- und Funktionentrennung über einen allumfassenden Gesetzesvorbehalt für "Wichtiges" in Richtung auf einen Monismus der parlamentarischen Gewalt verändert 157 • Das Grundgesetz kennt jedenfalls im Bereich des Auswärtigen - und mehr ist in unserem Kontext nicht zu untersuchen weder einen generellen Parlaments- oder Gesetzesvorbehalt noch eine Kompetenzregel, die besagt, daß alle objektiv wesentlichen Entscheidungen vom Gesetzgeber oder vom Parlament zu treffen wären. Unter der demokratischparlamentarischen Funktionen- und Herrschaftsordnung, die das Grundgesetz verfaßt hat, ist die Bundesregierung institutionell wie funktionell gleichermaßen demokratisch legitimiert; sie besitzt die personelle demokratische Legitimation und unterliegt der parlamentarischen Kontrolle i58 . Liegt ihr Handeln im nicht von Art. 24, 59 Abs. 2 GG speziell erfaßten Bereich, so bleibt die allgemeine Organkompetenz der Bundesregierung unberührt. Unter diesen Prämissen konnte der Entsendebeschluß allein von der Zweiten Gewalt getroffen werden. Ein allgemeiner Gesetzes-, Parlaments- oder WesentlichkeitsGesetzesvorbehaIt bestand und besteht unter dem Grundgesetz nicht.

BVerfGE 68, 1 (84 ff., 108 f.). Vgl. Steinberger, Auswärtige Gewalt unter dem Grundgesetz, in: Mußgnug, Rechtsentwicklung unter dem Grundgesetz, 1990, 101 ff. (115 ff.). Zu den faktischen Grenzen einer Parlamentarisierung auswärtiger Angelegenheiten Karll Krause, Außenpolitischer Strukturwandel und parlamentarischer Entscheidungsprozeß, 55 ff. 157 Fastenrath, Kompetenzverteilung, 218 f.; Grewe, Auswärtige Gewalt, § 77 Rn. 46 f. m.w.N.; a.A. Mössle, 140 f., 143 f., wonach die zentralen "Geschicke des Volkes" letztlich durch die Volksvertretung parlamentarisch zu leiten und (mit) zu bestimmen sind - also etwa auch die Richtlinien der Politik (Art. 65 S. I GG) oder der Kanzlervorschlag des Bundespräsidenten (Art. 63 Abs. I GG)? Das kann doch so weit offenbar nicht gemeint sein. 158 Grundlegend BVerfGE 49, 89 (124 ff.) - Kalkar; 68, 1 (188 ff.) - NachIiistung; s.a. E 77, 170 (231 f.) - C-Waffen-Stationierung. Dazu Steinberger, Politische Repräsentation, 161 ff. 155

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2. Zur Verfassungsmäßigkeit des Entsendebeschlusses

Die Prärogative der Bundesregierung zur Pflege der auswärtigen Beziehungen bedeutet freilich nicht zugleich, daß Entscheidungen am Bundestag vorbei getroffen werden dürfen. Das Parlament kann (wie auch sonst) das gesamte Arsenal seiner regierungs bezogenen Befugnisse einsetzen und so auf die außenpolitische Willensbildung der Zweiten Gewalt nachhaltig Einfluß nehmen. Als ultima ratio bleibt das (konstruktive) Mißtrauensvotum. Die Geschichte der Ostverträge in den gesetzgebenden Körperschaften der siebziger Jahre zeigt, daß der Instrumentenkasten des parlamentarischen Gesetzgebers gut gefüllt ist, d.h. daß zeitweilig der parlamentsbewirkte Regierungssturz weit näher lag und liegt als die behauptete Ratifikationslage eines angeblich uninformierten, institutionell geschwächten Parlaments. Gegen jenes Ergebnis kann man im Hinblick auf eine verstärkte Einbindung der Volksvertretung (wenigstens) in zukunftweisende, langfristig wirkende und nur schwer zu revidierende Entscheidungen einen letzten Argumentationsversuch einleiten. Die skizzierte verfassungsrechtliche Nachrangigkeit des Parlaments in außenpolitischen Fragen beruht im wesentlichen auf traditionellen faktischen Grenzen der parlamentarischen Aufgabenerledigung und Arbeitskapazität. Der Ausübung der auswärtigen Gewalt liegt im Kern ein sich aus der Natur der Sache ergebendes Monopol der Bundesregierung zur Pflege der Beziehungen zu anderen Staaten und zwischenstaatlichen Einrichtungen und zur Initiative und Abfassung der Vertrags texte zugrunde I59 • Seit jeher hat die Volksvertretung im parlamentarisch-demokratischen Regierungssystem nur das Recht auf eine Art "zweiten Zugriffs" in außenpolitischen Fragen l60 • Wenn das Bundesverfassungsgericht zutreffend darauf hinweist, daß diese Arbeitsteilung in erster Linie darauf beruht, daß die staatlichen Entscheidungen möglichst richtig, d.h. von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen, und wenn das Gericht konkret darauf abhebt, daß die Zuordnung von Akten des auswärtigen Verkehrs zum Kompetenzbereich der Exekutive auf der generellen Annahme beruht, daß institutionell und auf Dauer typischerweise allein die Bundesregierung in hinreichendem Maße über die personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten verfügt, auf wechselnde äußere Lagen zügig, sachgerecht und stetig zu reagieren und so die staatliche Aufgabe der Pflege

159 Dies auch gegen allzu ungestüme, im Maastricht-Kontext verfassungspolitisch allerdings erfolgreiche Versuche der Länder, ihr schwaches Art. 32 Abs. 3 GG-Terrain zu Lasten des Bundes zu erweitern (vgl. jetzt Art. 23 GG). Zu dieser verbandskompetenziellen Frage pointiert Graf Vitzthum, VBIBW 1991, 241 ff. 160 Zur verfassungsgeschichtlichen Entwicklung Grewe, Auswärtige Gewalt, § 77 Rn. 19 ff.; ebd., Rn. 42 f. zur Kontroverse auf der Staatsrechtslehrertagung 1953.

2.3 Vereinbarkeit mit Art. 59 und Parlamentsvorbehalt

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der auswärtigen Angelegenheiten bestmöglich zu erfüllen 161 , dann mag es gleichwohl Fälle geben, in denen diese allgemeinen Rahmenbedingungen es nicht im gleichen Maß rechtfertigen und gebieten, das Parlament aus dem Willens bildungs- und Entscheidungsprozeß der Exekutive auszunehmen und ihm einen bestimmenden Einfluß auf die auswärtige Politik zu versagen. Eine solche Sonderlage könnte im Somalia-Fall gegeben sein. Hier handelt es sich ja um eine außenpolitische Entscheidung, die aus der Natur der Sache heraus (Zeitdruck, Verfügbarkeit vor Ort, Verläßlichkeit im diplomatischen Verkehr, Sonderkenntnisse über die Einzelmodalitäten des Verhältnisses zu anderen Staaten usw.) nicht nur von der Bundesregierung in funktions- und sachgerechter Weise getroffen und verantwortet werden kann. Der Entsendebeschluß unterlag bereits keiner besonderen Eilbedürftigkeit. Die Grundsatzfrage war, wie gesagt, seit den späten achtziger Jahren bekannt. Sie wurde offen und kontrovers diskutiert. Sie berührt nicht nur die auswärtigen Beziehungen, sondern über Art. 87a GG auch zentral den Einsatz der Streitkräfte, also die Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland, den Funktionsbereich der Wehrpflicht etc. Die Teilnahme der Bundeswehr an UNOSOM 11 hat erhebliche Folgewirkungen für die Wahrnehmung anderer Parlamentsbefugnisse, vor allem im Verteidigungs-, Haushalts- und Gesetzgebungsbereich. Hielte man unter diesen doch wohl besonderen Umständen die maßgebliche Einbeziehung des Parlaments in den Willensbildungsprozeß der Bundesregierung für verfassungsgeboten - die besseren Argumente sprechen allerdings gegen diese Annahme -, so wäre zu überlegen, ob der parlamentarischdemokratische Wesentlichkeits-Vorbehalt hier ein Gesetz erfordert oder ob es ausreicht, wenn sich der Bundestag mit diesem Thema beschäftigt und der Bundesregierung - im vornherein oder im nachhinein - per Beschluß "grünes Licht" für die VN-Verwendung gibt. Am 21. April 1993, also einen Tag nach dem Regierungsbeschluß, fand eine parlamentarische Debatte und Abstimmung statt. Der Entscheidung der Bundesregierung wurde mehrheitlich zugestimmt 162 • Diese nachträgliche Zustimmung, Ausdruck des Kontrollrechts der Volksvertretung - wobei ja auch diese Kontrolle ein Instrument der Teilhabe an der Staatsleitung ist -, reicht unter dem Gesichtspunkt des Wesentlichkeits-Vorbehalts freilich nicht aus. Zu dessen Einhaltung bedarf es nach weit vertretener Meinung vielmehr vorheriger Zustimmung (Einwilligung).

161 162

BVerfGE 68, 1 (86 f.). VerhBT 12/151/21. April 1993/12925 ff.; dazu BT-Drs. 12/4759; 12/4768.

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2. Zur Verfassungsmäßigkeit des Entsendebeschlusses

Zu fragen wäre zudem vor allem, ob für eine wirksame parlamentarische Beteiligung am Entsendebeschluß ein schlichter Pariamentsbeschluß 163 ausreicht oder ob es einer förmlichen Parlamentszustimmung (womöglich generiert im Wege des Gesetzgebungsverfahrens)l64 oder sogar eines Gesetzes bedarf. In der Literatur sind Stimmen zu vernehmen, die den Wesentlichkeits-Gesetzesvorbehalt aufspalten wollen in einen (schlichten) Parlamentsvorbehalt und einen (formalen) Rechtssatzvorbehalt. Die verfassungskräftigen Gestaltungsansprüche des Parlaments sollen im Verhältnis zur Exekutive nicht also im Verhältnis zum Bürger! - bereits dadurch gesichert werden können, daß sie durch bloße parlamentarische Entschließungen wahrgenommen werden 165. Folgt man dieser vorerst noch undeutlichen Linie 166 , so bedarf der Entsendebeschluß - so im Ergebnis auch das Somalia-Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Eilverfahren - zu seiner verfassungsrechtlichen Wirksamkeit der förmlichen Zustimmung des Bundestages durch einen schlichten, (für die Regierung) verbindlichen Parlamentsbeschluß.

Zwischenergebnis Auch in diesem Prüfungsabschnitt bietet das Grundgesetz die Qual der Wahl. Folgt man der Mehrheitsmeinung, wonach Art. 59 Abs.2 S. 1 GG weder unter dem Gesichtspunkt der politischen Beziehungen des Bundes noch unter dem der Gegenstände der Bundesgesetzgebung einschlägig ist, so verstößt der Entsendebeschluß nicht gegen das Grundgesetz. Paralleles gilt für die Problematik der Wesentlichkeitslehre. Hier sprechen die besseren Argumente - mit der bisherigen Rechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts ("Kalkar", ,,Nachrüstung") - gegen das Erfordernis einer parlamentarischen Zustimmung. Es haben sich zwar auch einzelne

Dazu Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, 1966. So das BVerfG in Ansätzen in der Somalia-Eilentscheidung (U.v. 23. Juni 1993 - 2 BvQ 17/93 [= unten Anhang 2]), freilich mit stark verfassungspolitischem Unterton: "Der Bedeutung der jetzt zu treffenden Entscheidung entspräche es, wenn der vom Bundestag zu fassende Beschluß in den zuständigen Ausschüssen vorbereitet und im Plenum des Bundestages erörtert würde." (ebd., S. 13). 165 So vor allem Kloepfer, JZ 1984, 685 ff. (694 ff.); ders., Wesentlichkeitstheorie als Begründung oder Grenze des Gesetzesvorbehalts?, in: Hili (Hrsg.), Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, 189 ff. (211 f.); w.N. bei Hennes, 76 f. m. Fn. 198 ff.; s.a. Kretschmer, Geschäftsordnungen deutscher Volksvertretungen, in: Schneider/ Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 9 Rn. 65 f. 166 Auch das Bundesverfassungsgericht scheint ihr zuzuneigen; vgl. E 68, (109 f.); jetzt U.v. 23. Juni 1993 - 2 BvQ 17/93, Umdruck S. 7 ff. (= Anhang 2). 163

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2.3 Vereinbarkeit mit Art. 59 und Parlamentsvorbehalt

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Gesichtspunkte, nicht aber überzeugende Gründe für das Gebotensein einer fönnlichen Parlamentszustimmung finden lassen. Das Somalia-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Juni 1993 erscheint zu stark vom Wesen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens geprägt, als daß man ihm einen für unser Thema relevanten Um- oder Ausbau der Wesentlichkeitstheorie entnehmen kann. Letztlich wird man - das funktionellrechtliche Argument schlägt durch die Vereinbarkeit des Entsendebeschlusses auch mit dem Parlamentsvorbehalt annehmen müssen. Der Gestaltungsraum der Bundesregierung bleibt insofern uneingeschränkt, ohne daß doch bereits dadurch das kompetenzielle Gleichgewicht zwischen Erster und Zweiter Gewalt gestört würde.

3. Zur Zulässigkeit des von der SPD-Fraktion angestrengten Organstreitverfahrens In verfassungsprozessualer Hinsicht geht es um folgende Doppelfrage: - Ist das von der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag angestrengte Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zulässig? - Welche verfassungsrechtlichen Fragen können in diesem Verfahren geprüft werden? Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für diese Verfahrens art regeln Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG. Spezielle Verfahrensregelungen enthalten §§ 63 -67 BVerfGG. Antragsteller und Antragsgegner

Als mögliche Antragsteller und Antragsgegner dieses kontradiktorischen Verfahrens sind in § 63 BVerfGG neben den obersten Verfassungsorganen auch die mit eigenen Rechten ausgestatteten Teile dieser Organe genannt. Bezüglich dieser eigenen Rechte, welche die Parteifähigkeit des jeweiligen Organteils begründen, kommt es (noch) nicht auf die im konkreten Fall berührten Rechte an. Entscheidend ist vielmehr die Frage, ob der Antragsteller, abstrakt gesehen, überhaupt über (irgend-)eine Rechtsposition verfügt, die ihn nach § 63 BVerfGG zur Teilnahme am Organstreitverfahren berechtigt l67 • Antragsteller ist die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sie zählt nicht zu den ausdrücklich genannten Verfassungsorganen, ist jedoch (vgl. §§ 10 ff. GOBT) Teil eines solchen Verfassungsorgans, nämlich des Bundestages, und sie ist zumindest in dessen Geschäftsordnung mit eigenen Rechten ausgestattet (z.B. §§ 12, 26, 35, 76, 101 GOBT, s.a. Art. 53a Abs. 1 S. 2 GG). Als eines der wichtigsten ständigen Organteile des Parlaments sind die Fraktionen "notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens.. 168 ; sie

167 Zu dieser abstrakten Bestimmung der Parteifähigkeit, die auch der Rechtsprechung des BVerfGs zugrundeliegt, Bendal Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, 1991, Rn. 915 ff.; BVerfGE 67, 100 (124); 68, 1 (63); 70, 324 (349 f.). 168 BVerfGE 2, 143 (160, 167); 10,4 (14); 80, 188 (219 f.); st. Rspr.

3. Zur Zulässigkeit des Organstreitverfahrens

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sind als mögliche Antragsteller eines Organstreitverfahrens anerkannt l69 • Der Antragsgegner wird zwar nicht ausdrücklich erwähnt; die Fraktion behauptet aber, der Beschluß der Bundesregierung habe ihre Rechte verletzt. Als Antragsgegner ist also die Bundesregierung gemeint. Sie ist zulässiger Antragsgegner l7o • Die Parteifähigkeit von SPD-Fraktion und Bundesregierung im Organstreitverfahren liegt vor. Zu lässigkeit des Antrags der SPD-Fraktion

Die Fraktion will die Frage klären lassen, ob die Teilnahme der Bundeswehr an dieser VN-Operation mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Sie behauptet, der Entsendebeschluß der Bundesregierung verletze die Rechte des Bundestages und damit auch ihre Rechte als Fraktion, und zwar die Rechte, im Rahmen eines Gesetzgebungs- oder sonstigen Zustimmungs verfahrens an der Entscheidung über den UNOSOM lI-Einsatz mitzuwirken. § 64 BVerfGG bestimmt als Prozeßvoraussetzung, daß der Antragsteller geltend machen muß, eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners verletze (oder gefährde unmittelbar) ihn selbst oder das Organ, dem er angehört, in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten. Als Maßnahme der Bundesregierung kommen in Betracht zum einen der Entsendebeschluß als innerstaatliche und völkerrechtliche Willenserklärung, zum anderen der Abschluß der Vereinbarung mit den Vereinten Nationen 171. Die Fraktion muß für die Zu lässigkeit des Organstreitverfahrens also nachweisen, daß der Entsendebeschluß und loder die Vereinbarung ihre eigenen grundgesetzlichen Rechte oder die verfassungsmäßigen Rechte des Bundestages verletzen können. Verletzung bedeutet dabei - im Verfahren der Prüfung der Prozeßvoraussetzungen, nicht der Begründetheit - nur, daß eine

169 BVerfGE I, 144 (147 f.); 2, 143 (160); 20, 56 (104); Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 31991, § 7 Rn. 13 m. Fn. 68. Zur (geplanten) einfachgesetzlichen Absicherung des Rechtsstatus - und der Finanzierung - der Fraktion jetzt BT-Drs. 12/ 4756. 110 Als Antragsgegner benennt die SPD-Fraktion auch den Bundesminister der Verteidigung; er habe durch die Ausführung des Entsendebeschlusses gegen Art. 87a, 24 GG verstoßen und damit Rechte des Bundestages verletzt. Die Entscheidung über den Vollzug des Entsendebeschlusses fällt in die Ressortkompetenz des Bundesministers der Verteidigung (Art. 65 S. 2, 65a GG). Auch er ist zulässiger Antragsgegner; vgl. BVerfGE 67, 100 (126 0; s.a. E 45, I (28); Ulsamer, in: Maunz u.a., Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Lbl. Stand 1992, § 63 Rn. 18. 111 Beides sind rechtserhebliche Maßnahmen, durch die der Antragsteller oder sein "Mutterorgan" in ihren eigenen Rechtskreisen konkret betroffen werden können; vgl. Clemens, in: Umbach/Clemens, §§ 63, 64 Rn. 138 ff.

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3. Zur Zulässigkeit des Organstreitverfahrens

Rechtsbeeinträchtigung behauptet und als möglich dargelegt werden muß, daß sich also aus dem Sachvortrag der SPD-Fraktion die Verletzung eines Rechts aus dem konkreten Verfassungsrechtsverhältnis als mögliche Rechtsfolge ergeben muß 172 • Die Fraktion könnte zunächst behaupten, ihre eigenen Rechte als Organteil des Bundestages seien durch die Maßnahmen der Bundesregierung verletzt oder unmittelbar gefährdet. Eine solche Rechtsverletzung ist jedoch nicht ersichtlich. Die grundgesetzlichen Rechte der Fraktionen beziehen sich auf den innerparlamentarischen Raum. Ihre Funktion besteht darin, den einzelnen Abgeordneten die Ausübung ihrer Rechte zu erleichtern, gleichzeitig diese Rechtsausübung zu kanalisieren und dadurch die Arbeitsfähigkeit des Gesamtparlaments zu verbessern, etwa bei Gesetzesinitiativen, Wahlvorschlägen und -akten, Haushaltsbeschlüssen etc. 173 Das von der Fraktion dem Organstreitverfahren zugrundegelegte, von § 64 BVerfGG vorausgesetzte Verfassungsrechtsverhältnis besteht aber nicht zwischen der Fraktion und dem Mutterorgan Bundestag, sondern zwischen der Fraktion als Teil des Bundestages und der Bundesregierung. Gegenüber der Bundesregierung sind keinerlei Rechtspositionen der Fraktion ersichtlich, die durch die Maßnahmen der Exekutive verletzt sein könnten. Eigene Rechte kann die Fraktion daher nicht als verletzt behaupten. Zu prüfen wäre demzufolge, ob und inwieweit die Fraktion Rechte des Bundestages als verletzt einklagen kann. Für die Fraktionen des Bundestages kommen bekanntlich grundsätzlich zwei verschiedene Typen von Organkla-

gen in Betracht: jene GeItendmachung der Verletzung eigener Rechte - praktisch zu vernachlässigen l74 -, und diese Geltendmachung der Verletzung von Rechten des Gesamtparlaments in ProzeßstandschaJt für dieses Organ. Im parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes, in dem der Dualismus von Parlament und Regierung jedenfalls faktisch-politisch in den Hintergrund getreten ist zugunsten eines Gegenüber von Regierung und sie in der Regel stützender (Mehrheits-)Fraktion(en) im Bundestag einerseits und oppositioneller Parlamentsfraktion(en) andererseits, drohen dem Parlament in

BVerfGE 81, 310 (329) m.w.N. Zu Funktion und Rechtsstellung der Fraktionen Kretschmer, Fraktionen, 21992, 15 ff., 37 ff.; lekewitz, Politische Bedeutung, Rechtsstellung und Verfahren der Bundestagsfraktionen, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 37 Rn. 42 ff., 51 ff.; s.a. Schönberger, Die Rechtsstellung der Parlamentsfraktionen, Jur. Diss. Tübingen 1990. 174 Seit 1951 war das Bundesverfassungsgericht nur in drei Verfahren mit solchen Konstellationen beschäftigt; s. E 1, 144 - Gesetzesinitiativrecht; 27, 44 - Ministerpräsidentenwahl; 70, 324 - Geheimdienstetat. 172

173

3. Zur Zulässigkeit des Organstreitverfahrens

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erster Linie Gefährdungen seiner verfassungsrechtlichen Positionen durch ein Zusammenwirken von Regierung und Regierungsfraktion(en). In dieser Lage liegt es insbesondere bei den Oppositionsfraktionen im Bundestag, die Rechte des Gesamtparlaments zu verteidigen und durchzusetzen 17S. Das Verfassungsprozeßrecht hat diese allgemeine verfassungsstrukturelle Konstellation rezipiert und in § 64 BVerfGG den Fraktionen die Möglichkeit eröffnet, als eine Art Treuhänder des Gesamtparlaments dessen Rechte gegenüber anderen Verfassungsorganen zu verteidigen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die Rechte mit oder gegen den Willen des Mutterorgans gesichert werden sollen 176 • Der SPD-Fraktion steht also der Weg, im Organstreitverfahren Rechte des Bundestages in Prozeßstandschaft zu verteidigen, grundsätzlich offen. Zu prüfen bleibt allerdings, ob der eigene Rechtskreis des Bundestags auch das geltend gemachte, als verletzt behauptete Recht umfaßt. Es ist also zu untersuchen, ob die von der Fraktion für das Parlament in Anspruch genommene Rechtsposition dem Mutterorgan wirklich als eigene Position zusteht und wie weit sie im konkreten Fall reicht 177 • Diese Frage birgt einige Probleme. Die SPD-Fraktion macht hier geltend, der Entsendebeschluß der Bundesregierung sei verfassungswidrig, weil er das Recht des Bundestages verletzt habe, im Rahmen eines (1.) einfachen oder gar (2.) verfassungsändernden Gesetzgebungsverfahrens an der Entscheidung über den Streitkräfteeinsatz bei den Vereinten Nationen beteiligt zu werden - die Regierung habe das verfassungskräftige Parlamentsrecht auf Mitwirkung übergangen. Eine solche Mitwirkung durch Gesetz ist, wie erörtert, in

175 Zusammenfassend hierzu aus Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit lekewitz, Bundesverfassungsgericht und Staatsorganisationsrecht des Grundgesetzes, in: FS für Rudolf Wassermann, 1985, 381 ff. (386 ff.); aus Sicht des Prozeßrechts Lorenz, Der Organstreit vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. I: Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, 225 ff. (252 f.; kritisch zum Begriff der Prozeßstandschaft); Umbach, Der "eigentliche" Verfassungsstreit vor dem Bundesverfassungsgericht: Abgeordnete und Fraktionen als Antragsteller im Organstreit, in: FS für Wolfgang Zeidler, 1987,11 1235 ff. (1257 ff.); ders., Parlamentsauflösung in Deutschland. Verfassungsgeschichte und Verfassungsprozeß, 1989, 654 ff. 176 Daraus schließt Lorenz (ebd., 253 unter Berufung auf K. Hesse), daß es sich bei der Verteidigung von Parlamentsrechten durch die Fraktionen zugleich um die Verteidigung eigener Fraktionsrechte handele: Das Gesamtkollegium könne auf seine Rechte nicht verzichten, und der Teil habe ein eigenes rechtliches Interesse daran, daß sie um der ungeschmälerten Erhaltung seines eigenen Status willen nicht verkürzt werden. 177 Clemens, in: Clemens/Umbach, §§ 63, 64 Rn. 87 ff.; s.a. Pestalozza, § 7 Rn. 30, heide auch zum folgenden.

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3. Zur Zulässigkeit des Organstreitverfahrens

mehreren Verfassungsbestimmungen vorgesehen, so im vorliegenden Fall insbesondere in Art. 24 Abs. 1, 2, 59 Abs. 2 GG, für Verfassungsänderungen in Art. 79 Abs. 1, 2 GG. Allein damit, daß die Fraktion behauptet, die Bundesregierung habe eine Vorschrift über parlamentarisch-legislative Mitwirkung mißachtet, ist aber noch nicht ausreichend geltend gemacht, daß eine eigene Position des Parlaments betroffen ist. Nicht jede derartige Vorschrift dies ist eine Besonderheit gerade des Organstreitverfahrens, das keine abstrakte Rechtmäßigkeitskontrolle staatlicher Akte leisten kann und soll räumt nach ihrem Gehalt gerade dem Bundestag ein ihm eigenes Recht ein. Nur wenn eine Vorschrift speziell darauf abzielt, das Parlament selbst gegenüber den anderen Staatsorganen zu stärken und abzusichern, steht seine eigene Rechtsposition in Frage 178. Die verfassungsrechtlichen Rügen des Antragstellers laufen in zwei verschiedene Richtungen, die sich gegenseitig ausschließen (und daher um der Vermeidung innerer Widersprüche wiIlen auch nur z.T. hilfsweise gemeint sein können): 1. Die Entsendung der Bundeswehreinheiten nach Somalia ist nach Meinung der SPD-Fraktion verfassungsrechtlich unzulässig, hätte also eines verfassungsändernden Gesetzes (Art. 79 GG) bedurft (Stichwort: Verstoß gegen Verfassungsvorbehalt, fehlende Sachkompetenz); 2. selbst wenn man das Vorliegen eines Verfassungsvorbehalts ablehnt und die Sachkompetenz für gegeben ansieht, hätten Entsendebeschluß und Vereinbarung mit den Vereinten Nationen nach Auffassung der SPD-Fraktion der gesetzlichen Regelung bedurft (Art. 24, 59 GG) oder - so wird man ergänzen dürfen jedenfalls der förmlichen Parlamentszustimmung (Stichwort: Wesentlichkeitstheorie, fehlende Organkompetenz) bedurft. Beide Argumentationslinien sind getrennt zu untersuchen. Die SPD-Fraktion stellt zunächst darauf ab, dem Entsendebeschluß der Bundesregierung stehe das Grundgesetz entgegen, welches erst mit verfassungsändernder Mehrheit geändert werden müsse. In der Tat ist der Bundestag (in Verbindung mit dem Bundesrat) in der Lage, dieses verfassungsrechtliche Hindernis - wenn es denn eines ist - im Wege des Art. 79 GG wirksam zu beheben. Dies gilt unabhängig davon, ob die zur Zeit nach Auffassung des Antragstellers entgegenstehende Verfassungsnorm (Art. 87a GG) die Handlungskompetenz für den VN-Einsatz deutscher Truppen dem Bundestag oder der Bundesregierung oder beiden zuweist, oder ob die Norm andere inhaltliche Hindernisse aufstellt, die einstweilen einer positiven Entscheidung im Wege stehen. Für die Frage, wie im Organstreitverfahren ein Handeln ohne Grundgesetzänderung zu beurteilen ist, kommt es wegen der Grundanlage dieses Verfahrens allein darauf an,

178

Umbach, Parlamentsauflösung, 659 ff.; Benda/ Klein, Rn. 946 ff.

3. Zur Zulässigkeit des Organstreitverfahrens

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ob die bisher angeblich übergangene Verfassungsnorm des Art. 87a 00, deren Änderung - nach dieser materiell-rechtlichen Argumentation des Antragstellers - erforderlich wäre, zumindest auch Rechte des Bundestages (zur Gesetzgebung) zu gewährleisten bestimmt war 179 • Wenn es Aufgabe des Organstreitverfahrens ist, den Umfang der Rechte und Pflichten des Bundestages gerade gegenüber der Bundesregierung zu klären, so bedeutet dies im Umkehrschluß, daß es nicht darauf ankommen kann, ob das Verhalten der Bundesregierung im übrigen gegen das Grundgesetz verstoßen hat, ohne die Rechte des Bundestages zu verletzen. Das Grundgesetz hat den Bundestag indes nicht als umfassendes Rechtsaufsichtsorgan über die Exekutive eingesetzt. Aus dem Grundgesetz läßt sich kein eigenes Recht des Parlaments ableiten, daß jedes materiell oder formell verfassungswidrige Verhalten der Bundesregierung unterbleibt. Mit "Rechten des Bundestages" im Sinne von § 64 BVerfGG sind nur diejenigen Rechte gemeint, die dem Parlament zur ausschließlich eigenen Wahrnehmung oder zur Mitwirkung übertragen sind oder deren Beachtung erforderlich ist, um die Wahrnehmung seiner Kompetenzen und die Gültigkeit seiner Akte zu gewährleisten. Die bloße Tatsache, daß der Entsendebeschluß der Bundesregierung (möglicherweise) gegen Art. 87a GG verstößt, reicht nicht dafür aus, daß die SPD-Fraktion insoweit auch in Prozeßstandschaft für den Bundestag auftreten kann. Nicht daß eine Verfassungsbestimmung nur unter Beachtung des Art. 79 GG geändert werden kann, ist für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 64 BVerfGG ausschlaggebend, sondern ob Art. 87a GG gerade dem Bundestag Rechte einräumt. Dies ist nicht der Fall. Die etwaige Verletzung des Art. 87a GG ist deshalb nicht im Organstreitverfahren seitens des Bundestages rügefähig. Der Antrag der SPDFraktion ist insoweit unzulässig. - Die Fraktion stellt weiter - wie man ergänzen muß: hilfsweise - darauf ab, daß selbst für den Fall einer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des Entsendebeschlusses die Bundesregierung diesen Beschluß nicht selbst habe treffen können, sondern einer gesetzlichen Zustimmung nach Art. 24, 59 GG oder - wie man erneut hinzufügen darf - jedenfalls einer förmlichen Parlamentszustimmung bedurft hätte. Art. 24 Abs. I und 2 GG und Art. 59 Abs. 2 GG übertragen dem Bundestag Gesetzgebungsbefugnisse im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten und normieren Rechte des Parlaments im Sinne von § 64 BVerfGG I80 • Es kann auch nicht von vornherein ausgeschlossen werden, daß der Entsendebeschluß infolge dieser Vorschriften bzw. der Wesentlichkeitstheorie einer gesetzlichen Ermächti-

179 180

BVerfGE 68, 1 (72 ff.), auch zum folgenden. BVerfGE 2, 347 (368, 379); 68, 1 (69 f.).

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3. Zur Zulässigkeit des Organstreitverfahrens

gung oder zumindest förmlicher Zustimmung bedurft hätte oder daß die Grenzen vorhandener gesetzlicher Ermächtigungen (Beitrittsgesetz zu den Vereinten Nationen) in verfassungswidriger, die angesprochenen Gesetzgebungs- oder Zustimmungsbefugnisse verletzender Weise mißachtet wurden. Insoweit ist die in Prozeßstandschaft für den Bundestag erhobene Rüge der SPD-Fraktion nach § 64 BVerfGG zulässig. Weitere Prozeßvoraussetzungen

Das Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses ist durch die Antragsbefugnis grundsätzlich indiziert. Es ist daher nur zu prüfen, wenn konkrete Anhaltspunkte für sein Fehlen vorliegen. Hier wäre allenfalls daran zu denken, daß die SPD-Fraktion im Bundestag einen Gesetzentwurf hätte einbringen können (Art. 76 GG), der es der Bundesregierung - nach Art eines Sperrgesetzes - untersagt hätte, deutsche Soldaten an VN-Operationen teilnehmen zu lassen. Nach den konkreten Mehrheitsverhältnissen war aber nicht zu erwarten, daß ein solcher Gesetzentwurf mehrheitsfähig gewesen wäre. Das Rechtsschutzbedürfnis ist daher nicht entfallen. Bezüglich des Form- und Fristerfordernisses gilt: Der Antrag ist schriftlich einzureichen und zu begründen (§ 23 Abs. 1 BVerfGG). Die Begründung muß die angegriffene Maßnahme und das angeblich verletzte Recht bezeichnen und die Antragsbefugnis erkennen lassen. Der Antrag muß binnen sechs Monaten gestellt werden, nachdem die angegriffene Maßnahme dem Antragsteller bekannt geworden ist (§ 64 Abs. 3 BVerfGG). Als Maßnahme, die der SPD-Fraktion bekannt geworden ist, kommt der am 20. April 1993 im Kabinett betroffene Entsendebeschluß in Betracht. Der Antrag ist fristgerecht Ende Juli 1993 eingereicht worden l8l . 181 Das anhängige Organstreitverfahren weist neben der "gewichtigen und schwierigen" materiellrechtlichen Frage (BVerfG vom 23. Juni 1993 - 2 BvQ 17/93, Umdruck S. 8 [unten Anhang 2]) auch einen verfassungsprozessualen "Leckerbissen" auf. So dürfte das Gericht die Frage zu beantworten haben, ob und in welchem Umfang auf seiten der Antragsteller und -gegner andere interessierte Beteiligte dem Verfahren beitreten können. Bereits beim AWACS-Verfahren (BVerfG vom 8. April 1993 2 BvE 5/93 und 2 BvQ 11/93 [unten Anhang 1]) war dieses Problem dadurch aufgetaucht, daß die CDU / CSU-Fraktion der Bundesregierung beitreten wollte und Stellungnahmen abgab; beim UNOSOM lI-Verfahren wurden von ihr sogar Verfahrensanträge gestellt. Das BVerfG hat in bei den Fällen eine endgültige Entscheidung dadurch vermieden, daß der Fraktion bzw. einzelnen Abgeordneten in der mündlichen Verhandlung Gelegenheit zur Äußerung gegeben wurde. Eine förmliche Beteiligung hat nicht stattgefunden. - Der prozeßrechtliche Grund für diese Restriktion liegt in § 65 BVerfGG. Diese Vorschrift erlaubt (in der Auslegung des BVerfG) beim Organstreitverfahren in Anlehnung an den Bund-Länder-Streit den Beitritt partei- und pro-

3. Zur Zulässigkeit des Organstreitverfahrens

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Zwischenergebnis

Das von der SPD-Fraktion angestrengte Organstreitverfahren ist bei Beachtung der Forrn- und Fristvorschriften zulässig, soweit es sich auf die Verletzung der in Art. 24, 59 GG bzw. der Wesentlichkeitstheorie enthaltenen Mitwirkungsrechte des Parlaments bezieht. Im übrigen ist der Antrag unzulässig.

zeßfahiger Dritter nur, wenn ein rechtlicher und nicht nur ein politischer Gleichklang der Interessen von Beitretendem und Hauptbeteiligtem vorliegt. Dies hat im SomaliaVerfahren zur Folge, daß die CDU/CSU-Fraktion nicht der Bundesregierung - weil rechtlicher Antagonist -, sondern nur der SPD-Fraktion - weil als Prozeßstandschafter des Bundestages formal auf der gleichen Seite stehend - beitreten kann. Einleuchtend ist diese Restriktion angesichts der Zulassung der Prozeßstandschaft von Fraktionen, die sich im Ergebnis auch (ja gerade) gegen den Bundestag richten kann, nicht. Auch auf den Gesetzestext kann sich diese Auffassung nicht stützen. Vgl. BVerfGE 12, 308 (310); 20, 18 (23 f.); a.A. noch E 1, 351 (360 f.). S.a. Umbach, in: UmbachlClemens, § 65 Rn. 11 ff.; Bendal Klein, Rn. 965 ff.

4. Verfassungspolitischer Ausblick: Änderung des Grundgesetzes als verfassungsgerechte Antwort Die partielle Heterogenität und Undeutlichkeit vorstehender Zwischenergebnisse mag denjenigen entmutigen, der auf die klare verfassungsrechtliche Frage: Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit des Entsendebeschlusses der Bundesregierung eine deutlichere Antwort erwartet hat. Dies ist allerdings nicht die Schuld dieser Untersuchung. Weder dem Verfassungsgeber des Jahres 1949 (Art. 24 und 59 GG) noch dem verfassungsändernden Gesetzgeber der Jahre 1956 (Einfügung von Art. 87a Abs. 1 GG) und 1968 (Einfügung von Art. 87a Abs. 2-4 GG) und auch nicht dem einfachen Gesetzgeber des Jahres 1973 (Gesetz über den Beitritt zu den Vereinten Nationen) war bewußt, welches verfassungsrechtliche Labyrinth zu überwinden, d.h. welcher interpretatorischer Aufwand für das Einpassen einer deutschen militärischen Teilnahme an VN-Operationen in das System des Grundgesetzes erforderlich sein würde - soweit es denn überhaupt de constitutione lata gelingen konnte. Die große, sich z.T. widersprechende Zahl an Auslegungsvarianten und Interpretationslinien zur verfassungsrechtlichen Absicherung der VN-Verwendung deutscher Soldaten ist beeindruckend; sie zeugt von dogmatischer Leistungskraft und staatsrechtlicher Phantasie: Der Begründungsgang gleicht gelegentlich fast dem Muster zivilrechtlicher Konstruktions- und Interessenjurisprudenz vergangen er Zeiten. Die gegenwärtige Lage ist verfassungsrechtlich und -politisch unbefriedigend, und zwar aus zwei Gründen. - Zum einen besteht bei den in Erster und Zweiter Gewalt politisch Verantwortlichen 182 Unsicherheit über Anwendungsbereich, Inhalt und Grenzen der einschlägigen Vorschriften des Grundgesetzes, ja es wird auch nach vorstehender Untersuchung für viele ungeklärt bleiben, ob es überhaupt VN -Verwendungen legalisierende und legitimierende Verfassungsnormen gibt oder ob sich die Gesamtthematik nicht nur in einer normativen Grauzone, ja in einem juristischen Vakuum abspielt. Schon um für alle Beteiligten - Bundestag, Bundesregierung, betroffene Soldaten - jedenfalls im Somalia-Fall Rechtssicherheit zu erreichen, ist Abhilfe unumgänglich.

182 Unsicherheit besteht natürlich auch bei den Verbündeten (NATO, WEU) - die Grundstruktur der verfassungsrechtlichen Probleme ist bei den Bündnispartnern häufig ähnlich -, im KSZE-Verbund sowie bei den Vereinten Nationen selbst.

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Zum anderen wirft die Undeutlichkeit der Rechtslage verfassungsstrukturelle Probleme auf. Die betroffenen Entscheidungsträger können versucht sein, sich auf ad hoc verfügbare Mehrheitspositionen zurückziehen und bewußt - im Bereich der auswärtigen Gewalt zumal - verfassungsrechtliche Grenzpositionen einzunehmen, zu fortifizieren und zu behaupten, die später nur schwer zu schleifen oder aufzugeben sind. Entscheidungsträger könnten aber auch versucht sein, den ihnen obliegenden politischen Grundsatzentscheidungen dadurch auszuweichen, daß sie die Konkretisierung des Grundgesetzes der verfassungsgerichtlichen Dezision überantworten und sich dadurch der Verantwortung entziehen. Beides: Politisierung des Verfassungsrechts und Juridifizierung der Politik, ist für das demokratischrechtsstaatliche Gemeinwesen auf Dauer schädlich. Die Aufgabe, die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten und Grenzen einer Verwendung deutscher Streitkräfte in VN-Operationen auszuloten und Klarheit darüber zu gewinnen, welche Beiträge die Bundesrepublik Deutschland den Vereinten Nationen im Einklang mit ihrer innerstaatlicher Rechtslage anbieten darf, obliegt nicht nur den politischen Akteuren und der Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern auch und zuvorderst der Wissenschaft 183 • Sie hat sich - nach Art eines Dreisprungs - zuerst 1974 (E. Klein), dann 1981 (J.M. Mössner), schließlich kontinuierlich seit 1988 mit diesem Thema beschäftigt. Eine Klärung der Verfassungslage ist auch und gerade auf dieser Ebene indes nicht erreicht worden - im Gegenteil. Die z.T. grundsätzlich differierenden, z.T. in einzelnen Schwerpunkten, z.T. nur in Nuancen voneinander abweichenden Ansätze und Interpretationslinien der Staatsrechtslehrer füllen mittlerweile Bände. Die öffentlich (in Symposien, Anhörungen oder Prozeßvertretungen) und literarisch engagierten Vertreter der Zunft lassen sich kaum mehr zählen - so wenig sie sich meinungsmäßig auch immer eindeutig zuordnen lassen und bisweilen ihre Rechtsstandpunkte beibehalten 184 . Aufgabe der Verfassungsrechtswissenschaft kann es nicht sein, der Politik rechtliche Patentrezepte an die Hand zu geben. Die der Staatsrechts-

183 Zu ihrer Aufgabe im Rahmen institutionalisierter Politikberatung Brohm, Sachverständige Beratung des Staates, in: Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 11, 1987, § 36 Rn. 11, 22. 1&4 Symtomatisch etwa der knappe Schlagabtausch in der Sachverständigenanhörung im Deutschen Bundestag am 11. Februar 1993 (Deutscher Bundestag / Rechtsausschuß, Prot. 12/67, S. 58 f., 80 f.) zwischen Albrecht Randelzhofer und Hans-Jochen Vogel. Wenn die Stimmen pro und contra Verfassungsmäßigkeit des Somalia-Einsatzes nur noch gezählt, nicht mehr gewichtet werden, siegt dann nicht Quantität über literarische Qualität? Soll also ein Umschlagen der Quantität in Qualität stattfinden? Wie man unter jenen Umständen von einem "recht klaren verfassungsrechtlichen Befund" sprechen kann (so Schoh, Deutsche UNO-Soldaten im Spannungsfeld von Politik und Grundgesetz, 205 ff. [208]), bleibt unerfindlich.

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lehre aber jedenfalls obliegende Orientierungshilfe zur Feststellung der Spannbreite verfassungsrechtlich (noch) zulässiger oder (bereits) unzulässiger Lösungen hat alles in allem zu einem so bunten Interpretationsstrauß geführt, daß die Entscheidungsfindung der politisch Verantwortlichen dadurch nicht eindeutig genug angeleitet wird. Entsprechend vielschichtig und schillernd sind die verfassungspolitischen Lösungen, wie sie sich Mitte des Jahres 1993 darstellen. Ihre Inhalte und der mit ihnen erreichbare Gewinn an Rechtssicherheit und verfassungsrechtlicher Funktionsgerechtigkeit ist im folgenden zu untersuchen. Dabei soll der Blick vom Allgemeinen zum Besonderen wandern. Zunächst fällt auf, daß die im Schrifttum neuerdings teilweise vertretene und vorstehend skizzierte Linie, das Grundgesetz lasse den Einsatz deutscher Streitkräfte in VN-Operationen bereits heute zu, einer Änderung der Verfassungsrechtslage bedürfe es deshalb nicht\85, in der verfassungspolitischen Arena bisher (noch) nicht rezipiert wurde. Alle im Bundestag vertretenen Parteien und die Bundesregierung selbst gehen vielmehr davon aus, daß die Rechtslage unter dem Grundgesetz nicht den Grad an Eindeutigkeit und Berechenbarkeit hat, der ein Beibehalten des gegenwärtige, undeutlichen Normenbefundes angezeigt erscheinen läßt. Der verfassungspolitische Grundkonsens ist damit freilich auch schon erschöpft. Während die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen im Deutschen Bundestag eine weite, die außenpolitische Handlungs- und Bündnisfähigkeit in den Vordergrund stellende Lösung vorschlagen l86 , verfolgt die SPD-Fraktion (noch) eine restriktive Linie: Nur ausgewählte Verwendungsformen deutscher Streitkräfte im Ausland sollen zugelassen werden l87 , Noch deutlichere Zurückhaltung zeigt der Vorschlag der Gruppe BÜNDNIS 90/DlE GRÜNEN I88 , während die 185 Freilich läuft auch eine "KlarsteIlung" der undeutlichen Verfassungsrechtslage u.V. auf eine Änderung des Grundgesetzes hinaus; dazu unten bei Fn. 208. 186 Entwurf eines ... Gesetzes zur klarstellenden Ergänzung des Grundgesetzes, BTDrs. 12/4107 (Text), 12/4\35 (Begründung) (= Anhang 3). - Der Entwurf wurde in Erster Lesung debattiert und den zuständigen Ausschüssen überwiesen; s. VerhBT 12/132/15. Januar 1993/11463 ff. 187 Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 24 und 87a), BT-Drs. 12/2895 (Text, 23. Juni 1992), 12/4534 (Begründung, 10. März 1993!) (= Anhang 3). - Parteiinterne Schwierigkeiten mögen veranlaßt haben, daß der Gesetzentwurf entgegen den Anforderungen des § 76 Abs. 2 GOBT ("Gesetzentwürfe müssen, Anträge können mit einer kurzen Begründung versehen werden.") - also begründungslos - eingereicht und in Erster Lesung debattiert wurde; vgl. VerhBT / 12/101/22. Juli 1992/8608 ff. 188 Antrag: Für eine Zivilisierung internationaler Beziehungen Politik nichtmilitärischer Konfliktlösung, BT-Drs. 12/3014 (= Anhang 3). Vgl. VerhBT 12/1011 22. Juli 1992/8607 ff.

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Gruppe PDS fLinke Liste eine Beteiligung der Bundeswehr an VN-Operationen rundweg ablehnt l89 • Alle vier Gesetzentwürfe beinhalten eine Verj"assungsänderung. Sie verorten die Lösung des Problems also auf Grundgesetzebene. Sie streben dort zudem eine Vollregelung an, die alle rechtserheblichen Aussagen beinhalten soll und auf ein einfaches (Ausführungs-)Gesetz bewußt verzichtet l90 • Dieses Modell ist ersichtlich aus der Überlegung geboren, eine einfachgesetzliche Normierung reiche wegen des den normalen Gesetzgeber sperrenden Verfassungsvorbehalts in Art. 87a Abs. 1, 2 GG nicht aus. Dieser Ansatz ist dem Grundgesetz vertraut, wenngleich das damit verbundene Ausblenden der Legislative - ihre Detailleistung wird nahezu überflüssig, sie könnte allenfalls kleinere formal-technische Ausführungsvorschriften erlassen - im vorliegenden Fall untypisch erscheinen muß. Im Kontext der Art. 87a, 24, 59 GG hat der Verfassungs geber nämlich allein im Bereich der erstgenannten Norm, also beim inneren Notstand, aus bekannten Gründen eine abschließende Regelung gewählt l91 ; im übrigen setzt das Grundgesetz für den Bereich der zwischenstaatlichen Integration (Art. 24 Abs. 2 GG), der Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen (Art. 24 Abs. 1 GG) und der Transformation völkerrechtlicher Verträge in innerstaatliches Recht nur Rahmendaten und überläßt die Einzelheiten der konkreten und sachnäheren parlamentarischen Entscheidung "vor Ort"I92. Die Lösung einer verfassungsrechtlichen Vollregelung, wie sie derzeit bei allen Unterschieden im Inhalt - von allen Entwürfen formuliert wird, mag den Vorteil einer abschließenden, die lähmende Debatte über das grundsätzliche Ob einer deutschen Teilnahme an VN-Operationen abschneidenden Dezision haben. Sie beinhaltet indes zwei Konsequenzen, die bisher nicht von allen Seiten hinreichend bedacht sein mögen.

189 Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 24 und 87a), BT-Drs. 12/3055 (= Anhang 3); vgl. VerhBT 12/101/22. Juli 1992/8607 ff. 190 Dieser Verzicht kann allerdings auch verfassungsrechtliche Probleme auslösen, die mit einer (allzu) globalen Rahmenregelung des Grundgesetzes und einem daraus resultierenden (zu) großen Ermessensspielraum des einfachen Gesetzgebers verbunden sein können. Vgl. BVerfGE 6, 55 (76): Eine Verfassungsnorm ist "nur insoweit den Gesetzgeber aktuell bindendes Recht, als seine Fassung bestimmt genug ist, eine Norm niederen Ranges daran zu messen." 191 Vgl. dazu E. Klein, Der innere Notstand, in: Isensee/P. Kirchhoj(Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 169 Rn. 1-3,61 ff. 192 Der neue Artikel 23 GG (von Art. 16a GG ganz zu schweigen) ist die aktuelle, zudem verfassungsästhetisch und regelungstechnisch mißlungene Ausnahme, die die Regel bestätigt.

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4. Ausblick: Änderung des Grundgesetzes Die Vollregelung auf Grundgesetzebene zwingt - erstens - den verfassungsändernden Gesetzgeber, sich über den Anwendungsbereich und die Inhalte der Grundgesetzänderung bzw. -ergänzung abschließend klar zu werden und den Verfassungstext jetzt im erforderlichen, d.h. im vollen Umfang zu novellieren. Da eine einfache, aus sich heraus verständliche Textfassung nicht in Sicht scheint, würde das Grundgesetz mit einer tief durchgefonnten Detailregelung belastee 93 , die zum einen kaum Elastizität aufwiese - was ein besonderes Problem darstellte im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten und der Verteidigungsaufgaben, gerade in Bündnissen -, und zum anderen in die Gefahr geriete, um der dennoch erforderlichen Aexibilität willen unscharfe Begriffe '94 und teilweise verfassungsfremde (hier: völkerrechtliche) Topoi zu verwenden. Forrnelkompromisse erzielen keine Rechtsklarheit. Eine Vollregelung auf Verfassungsebene verschließt - zweitens - der Ersten Gewalt der Zugriff auf einfache Gesetzgebungskompetenzen zu ihrer verbindlichen Konkretisierung und Anpassung an gewandelte Problemlagen '95 • Dies mag solange unschädlich sein, als die Verfassungsänderung in der Lage ist, den VN-Einsatz deutscher Verbände in allen seinen Rechtsfolgen abschließend zu erfassen. An der Erfüllung dieser Prämisse sind indes ernstliche Zweifel erlaubt. Geht man etwa davon aus, daß in den herkömmlichen Kontingentabkommen zwischen Entsendestaat und Vereinten Nationen eine Übertragung von Hoheitsrechten stattfindet und hält man die generelle Inkorporierung der Vereinten Nationen in Art. 24 Abs. 2 GG hierfür nicht für ausreichend - dieses Thema wird nicht in allen Entwürfen abgedeckt -, so bleiben U.U. Lücken. Der einfache Gesetzgeber bliebe weiterhin aufgefordert, einzelne regelmäßig mit der VNVerwendung verbundene Rechtsfolgen ad hoc zu nonnieren (eventuell mit

193 Der Regierungsentwurj enthält für Art. 24 GG - eine ohnehin durch Absatz la jüngst angereicherte Norm - einen neuen Absatz 2a mit insgesamt vier EinzeIabschnitten. - Der SPD-Entwurf erscheint prima facie "schlanker", verortet die Änderungen indes in zwei verschiedenen Abschnitten des Grundgesetzes. Auch darauf ist noch einzugehen. 194 Vgl. das Parallelproblern des Zusammenwirkens von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat bei Angelegenheiten der Europäischen Union, etwa das "Berücksichtigen" und das "maßgebliche Berücksichtigen" (unter Wahrung der "gesamtstaatlichen Verantwortung des Bundes") in Art. 23 Abs. 5 S. I bzw. S. 2 GG; s.a. die Zuflucht zum Begriff "Schwerpunkt" und zu einer "Soll"-Regelung in Art. 23 Abs. 6 S. I GG. Begriffliche Unschärfe folgt hier auch aus institutions- und koalitionspolitischem, letztlich nicht befriedetem Streit. 195 Ein Recht zur authentischen Interpretation der Verfassung hat die Erste Gewalt unter dem Grundgesetz nicht; BVerfGE 12, 45 (53). Es steht vielmehr dem Bundesverfassungsgericht zu; z.B. E 10, 340 (345).

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anderen Mehrheiten als der Entsendebeschluß selbst)l96 - das verfassungspolitische Programm einer Vollregelung würde also verfehlt. Eine Klärung der Rechtslage stünde insoweit weiterhin aus, die Novellierungsdebatte setzte erneut ein. Der Regelungsbereich der vier Gesetzentwürfe differiert stark. An dem einen Ende, den Verwendungszweck deutscher Streitkräfte im Ausland umfassend abdeckend, steht, wie gesagt, der Entwurf der Regierungsfraktionen. Am anderen Ende, auch eine VN-Operation humanitären Charakters radikal ausschließend, steht der Entwurf von PDS I Linke Liste. Soweit die Regelungsfrage nicht mit einer vollständigen (PDS I Linke Liste) oder jedenfalls massiven (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sperrklause\ für VN-Einsätze beantwortet wird, unternehmen es die Initiatoren der anderen Entwürfe, der VN-Verwendung der Bundeswehr mehr oder weniger präzise Grenzen zu ziehen. Im einzelnen handelt es sich um folgende Vorschläge. Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN favorisiert eine völlige Neufassung der Art. 24, 87a GG, die Z.T. alte Streitfragen auszuräumen sucht, neue UndeutIichkeiten aber nicht vermeiden kann. Eine deutsche Teilnahme an friedens schaffenden Maßnahmen nach Kapitel VII der VN-Charta wird strikt ausgeschlossen. Friedenserhaltende Maßnahmen nach Kapitel VI der VN-Charta sollen hingegen unterstützt werden, soweit sie nicht Anrainerstaaten der Bundesrepublik Deutschland - eine unklare Formulierung - betreffen; zu diesem Zweck kann der Bund dem Generalsekretär der Vereinten Nationen auf dessen Ersuchen und bei Vorliegen eines Beschlusses des Sicherheitsrates mit Zustimmung der am Konflikt beteiligten Staaten Angehörige der Streitkräfte unterstellen, die - nur mit leichten Waffen zum Selbstsschutz ausgerüstet - sich als aktive Berufs- und Zeitsoldaten für solche Einsätze freiwiIlig gemeldet haben. Durch eine weitere definitorische Reduktion des jetzigen Absatz 2 in Art. 24 GG soll entgegen den bestehenden Verträgen der Streitkräfteeinsatz im Rahmen von Militärbündnissen (NATO, WEU), ja bereits die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in solchen Einrichtungen ausgeschlossen werden. Auf der anderen Seite geht der Entwurf, was die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen betrifft, über den gegenwärtigen Rechtsstand dadurch hinaus, daß sogar die Befugnis zur Aufstellung von Streitkräften generell einer zwischenstaatlichen Einrichtung übertragen werden kann, die im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit

196 Dies wäre etwa dann der Fall, wenn - wie bei Art. 24 Abs. 2a Nr. 3 GG (neu) des CDU / CSU- und F.D.P.-Entwurfs - für den Entsendebeschluß die Zwei-DrittelMehrheit erforderlich, für die damit verbundene Übertragung von Hoheitsrechten ein Gesetz mit einfacher Mehrheit ausreichend ist.

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4. Ausblick: Änderung des Grundgesetzes und Zusammenarbeit der Wahrung des Friedens in der Welt dient Gewährleistung des deutschen Grundrechtsschutzes und der demokratischparlamentarischen Mitwirkungs- und Kontrollrechte vorausgesetzt (Art. 87a Abs. 2 i.V.m. Art. 24 Abs. 2 S. 2 GG neu).

- Die SPD-Fraktion will deutsche Streitkräftekontingente bzw. Bundeswehrangehörige nur • den Vereinten Nationen für friedenserhaltende Maßnahmen ohne Kampfauftrag (im einzelnen Art. 24 Abs. 3 1. Alt. GG neu) unterstellen, wobei diese Verbände nur mit leichten Waffen zum Selbstschutz ausgerüstet werden dürfen (Art. 87a Abs. 2 S. 2 GG neu); • den Vereinten Nationen sowie (auf deren Anforderung) betroffenen Staaten für die Bekämpfung von Umweltschäden, für humanitäre Hilfeleistungen und Maßnahmen der Katastrophenhilfe abstellen, wobei die abgestellten Bundeswehrangehörigen unbewaffnet sein müssen (Art. 24 Abs. 3 2. Alt. GG neu). - Die CDU/CSU- und die F.D.P.-Fraktion (Regierungskoalitionsentwurf) wollen deutsche Streitkräfte verwenden bei

• Jriedenserhaltenen Maßnahmen gemäß Beschluß des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen oder im Rahmen von regionalen Abmachungen unter deutscher Beteiligung i.S.d. VN-Charta (Art. 24 Abs. 2a Nr. 1 GG neu), • Jriedensherstellenden Maßnahmen im Sinne von Kapitel VII und VIII der VN-Charta (Art. 24 Abs. 2a Nr. 2 GG neu) und • in Ausübung des Rechtes zur kollektiven Selbstverteidigung im Sinne von Art. 51 VN-Charta gemeinsam mit anderen Staaten im Rahmen von Bündnissen und anderen regionalen Abmachungen mit deutscher Mitgliedschaft (Art. 24 Abs. 2a Nr. 3 GG neu) Verwendung finden. Alle drei Entwürfe rezipieren und implementieren damit eine außerhalb des Grundgesetzes, genauer: im Bereich der Vereinten Nationen, vorgeprägte völkerrechtliche Terminologie l97 • Sie unterscheiden materiellrechtlich zwischen friedenserhaltenden (= peace-keeping) und friedensherstellenden (= peace-enforcing) Maßnahmen. Dem Unterschied zwischen beiden Erscheinungsformen messen sie Rechtserheblichkeit bei (sonst bedürfte es aus juristischer Sicht nicht dieser Differenzierung). Dies gilt vor allem für den SPD-

197 Diese Orientierung des deutschen Verfassungsrechts und der Verfassungspolitik an völkerrechtlichen Vorgaben, vor allem im Grundrechtsbereich, ist ein durchgehender Zug; dazu Gusy, Das Grundgesetz im völkerrechtlichen Wirkungszusammenhang, 207 ff.; s.a. TomusclUIt, Verfassungsstaat, 49 ff.

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Entwurfl98 • Ersterer Typus scheint für die Initiatoren mit den herkömmlich als Blauhelm-Einsatz bezeichneten humanitären Verwendungs zwecken in VN-Operationen zusammenzufallen; mit letzterem wären dann wohl Kampfeinsätze unter VN-Befehlshoheit gemeint. Zweifelsfrei ist diese Differenzierung, die so bereits in Art. 24 Abs. 2 GG angelegt ist, indes nicht. Unklar bleibt zunächst, welche besonderen Verwendungsmerkmale im VN-Kontext den humanitären Einsatz im SPD-Entwurf auszeichnen, insbesondere was ihn - abgesehen von der Bewaffnung zur Selbstverteidigung - von den friedenserhaltenden, ja auch humanitären Maßnahmen abhebt. Soll damit der schleichende Übergang von ziviler, weil eindeutig nichtmilitärischer Friedenserhaltung zu einer gemischten, auch militärischen Friedensschaffung ausgeschlossen werden (wofür das Verbot der bloßen Selbstverteidigungs-Bewaffnung spricht)? Dann wäre nachzuweisen, daß die realen Konfliktlagen eine solche akademisch-kategorische Unterscheidung zulassen. Besieht man sich die Praxis der gegenwärtigen VN-Einsätze, so muß man daran zweifeln. Dies gilt zumal dann, wenn in Rechnung gestellt wird, daß nach einhelliger VN-Interpretation eine Behinderung des humanitären Auftrages der Friedenstruppen (durch marodierende Banden, Straßensperren usw.) automatisch das Recht der Selbstverteidigung, also den Übergang zur militärischen Gegenwehr, auslöst l99 • Gerade UNOSOM 11 zeigt, daß in den kritischen Lagen des Übergangs vom Bürgerkrieg zu befriedeten, normalen Verhältnissen - wie auch umgekehrt - dynamische Mischformen des VN-Verwendungszwecks vorliegen. Mit einer am grünen Tisch entwickelten, Reinzustände isolierenden und fixierenden Terminologie ist diesen fließenden Erscheinungsformen schwerlich beizukommen2OO • Zwischen den

198 Hintergrund ist hier u.a. möglicherweise die bisherige parteiinterne Beschlußlage auf der Grundlage des SPD-Parteitages 1988; vgl. dazu Hoffmann, Deutsche Blauhelme bei UN-Missionen, 1993, 73 f.; s.a. VerhBT 12/151/21. April 1993/12925 ff.; 12/166/24. Juni 1993/14325 ff.; 12/169/2. Juli 1993/14579 ff. 199 Bothe, Streitkräfte, 158 ff.; ders., in: Simma, nach Art. 38 Rn. 37; zur Anwendbarkeit des Kriegsvölkerrechts auf die VN-Operationen Risse, 71 ff. 200 Treffend Tomuschat, Verfassungsstaat, 34: "Vom Boden des Verfassungsrechts aus läßt sich die Dynamik der völkerrechtlichen Entwicklung nicht korrigieren." - Für die gegenwärtige velj"assungsrechtliche Beurteilung von UNOSOM 11 jedenfalls ist es irrelevant, ob der Einsatz-Auftrag des deutschen Kontingents, wie er im Entsendebeschluß definiert wird, sich auf rein logistische und humanitäre Unterstützungsmaßnahmen beschränkt - mit der Folge, daß ein Waffengebrauch nur erlaubt ist bei Angriffen gegen Leib und Leben des Soldaten oder eines Dritten und gegen Einrichtungen, Anlagen und Material des deutschen Kontingents -, oder ob der EinsatzAuftrag auch Elemente von Kap. VII (Art. 42 VN-Charta) aufnimmt. Entweder läßt das Grundgesetz die Beteiligung der Bundeswehr an VN-Operationen zu oder nicht - tertium non datur.

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Eckpunkten: Bundeswehr als VN-Kampftruppen und Bundeswehr als Technisches Hilfswerk eröffnet die Praxis ein weites Feld. Die Begrifflichkeit ist also - so oder so - mit massiven Unsicherheiten belastet. Wird das Terrain sicherer, wenn man sich auf die - nach VN-Charta ohnehin unverzichtbare - formale Notwendigkeit eines Beschlusses des Sicherheitsrates zurückzieht? Was ist andererseits zu tun, wenn zunächst als friedenserhaltende Maßnahmen deklarierte und ins Werk gesetzte VN-Einsätze wegen einer Änderung der inneren Lage in vordem befriedeten Gebieten z.T. in Kampfeinsätze - seien es leichte, seien es schwere - umschlagen? Wären die deutschen Kontingente dann nicht automatisch zurückzuziehen? Ist die Unterscheidung von peace-keeping und peace-enforcing operations nicht überhaupt der Versuch einer Deskription politischer, also fließender Aggregatzustände, die auf völkerrechtlicher Ebene unumgänglich sein mögen 201 , sich jedoch einer harten verfassungsrechtlichen Trennung und Gegenüberstellung 202 entziehen? Diese kritischen Rückfragen an die derzeitige verfassungsrechtliche Regelungsfähigkeit von VN-Einsätzen von Bundeswehrkontingenten gewinnen an Gewicht, wenn man bedenkt, daß es sich bei dieser Agende um einen Gegenstand handelt, der nicht nur das Innenverhältnis der Bundesrepublik Deutschland oder isoliert zu betrachtende bilaterale Außenbeziehungen betrifft. Die Verwendung der Bundeswehr in VN-Operationen kann - auch in den Fällen, in denen nicht die Vereinten Nationen, sondern (vgl. Art. 24 Abs. 2a Nr. I 2. Alt., 3 CDU / CSU- und F.D.P.-Entwurf) regional begrenzte Bündnisse und Abmachungen Adressaten sind - immer nur zusammen mit anderen Staaten stattfinden; die Verwendung ist eingebunden in eine staatenübergreifende, buchstäblich integriert-globale Planung und Koordination, die eine gegenüber lokalen Einsätzen deutlich gesteigerte Einbindung der Streitkräfte voraussetzt. Diese - bei Bündnissen überdies auf Gegenseitigkeit beruhende - Integration bedarf aus der Sicht der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit besonderer Rechtssicherheit und Beständigkeit aller Mitglieder. Verfassungsrechtliches Pendant dieses Erfordernisses ist eine erhöhte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Abstimmungs- und Einsatzvoraussetzungen. Der SPD-Entwurf mit seiner Ausgrenzung friedensschaffender - final ja ebenfalls 201 Zur besonderen "Wirklichkeitsnähe" des Völkerrechts Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 31984, § 22; zu seiner Rechtsnatur Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, 32 ff. m.w.N. 202 Zur Normativität des Verfassungsrechts - und ihren Grenzen - zusammenfassend Stern, Staatsrecht I, 103 ff.; Isensee, Verfassungsrecht als "politisches Recht", § 162 Rn. 29 ff.; Starck, Die Verfassungsauslegung, in: Isensee/P. Kirchhoj(Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 164 Rn. 1-3.

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humanitärer - Maßnahmen einerseits und seiner Erweiterung des Verwendungszwecks auf eine nicht einmal dem Einsatzbegriff des heutigen Art. 87a Abs. 2 GG unterfallende humanitären und ökologischen Komponente (vgl. Art. 24 Abs. 3 2. Alt. GG neu) andererseits trägt diesem funktionellrechtlichen Gesichtspunkt nicht ausreichend Rechnung. Beim Entwurf der CDU ICSU- und der F.D.P.-Fraktion fallen diese Bedenken nicht ins Gewicht. Die dort grundsätzlich erlaubten Einsatzzwecke decken die gesamte Spannbreite der bislang aufgetretenen Fragestellungen ab. Da die Initiatoren die neuere (ebenfalls umstrittene) Lehrmeinung zugrundelegen, einer besonderen verfassungsrechtlichen Normierung des Streitkräfteeinsatzes bedürfe es nicht, weil Art. 87a GG nicht einschlägig sei und Art. 24 GG eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für alle Einsatzformen darstelle, würde es jedenfalls insoweit, aus Initiatorensicht, nur um eine Klarstellung der Rechtslage, nicht um eine Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes handeln 203 • Angesichts der Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat macht es aber einen wesentlichen Unterschied, ob eine Maßnahme (VN-Einsatz) de constitutione lata zulässig ist (und dies nur einer textlichen KlarsteIlung bedarf, die notfalls auch unterbleiben kann), oder ob die Maßnahme nicht verfassungsgemäß ist, solange die Verfassung nicht entsprechend geändert wurde. Letzteres läuft auf eine Moratoriumslösung hinaus, also auf einen im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik funktionell eher prekären Schwebezustand. Das System des Grundgesetzes scheint durch den Einbau von Vorschriften über die VN-Verwendung der Streitkräfte nicht besonders betroffen zu werden; alle Entwürfe streben eine Änderung bzw. Ergänzung vorhandener Vorschriften an. Gleichwohl findet bei allen Vorschlägen eine Verschiebung der Verfassungssystematik statt. Ihre Intensität hängt nicht nur vom Inhalt der geplanten Rechtsänderung ab, sondern auch von der Verortung des Themas im Verfassungstext. Für die spätere Interpretation ist diese Plazierung in den einzelnen Abschnitten des Grundgesetzes nicht unwichtig. Schon heute geht der Streit ja in erster Linie um das Verhältnis von Art. 87a GG und Art. 24 GG. Der Entwurf der CDU ICSU- und der F.D.P.-Fraktion zielt allein auf eine Ergänzung des Art. 24 GG. Der Streitkräfteeinsatz wird hier also vorrangig als ein Problem der Außenbeziehungen und der bündnispolitischen Integration gesehen; schon die Anbindung an den jetzigen Absatz 2 von Art. 24 GG beweist dies. Die innerstaatlichen und verteidigungs bezogenen Impli-

203 So ausdrücklich der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion W. Schäuble, in: VerhBT 12/132/15. Januar 1993/11464; etwas zurückhaltender, das diffuse Spektrum der Verfassungsauslegungen weitestgehend akzeptierend, die Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 12/4135 (vom 15. Januar 1993), S. 1 f. (Nr. 2).

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kationen werden ausgeblendet. Es findet hier eine Reduzierung des vielschichtigen Problems auf einen einzigen, wenn auch den derzeit entscheidenden Aspekt state04 • Die anderen Entwürfe lokalisieren das Thema hingegen in der Schnittmenge zwischen dem 11. und dem VIII. Abschnitt des Grundgesetzes. Sie beziehen so die spezifisch innenpolitisch-militärische Komponente ein. Zwar wird dadurch der Eindruck einer - wie polemisch formuliert werden könnte einseitigen "militärischen Aufrüstung" des Art. 24 GG vermieden; die vorgeschlagenen Ergänzungen fügen sich indes erst recht nicht nahtlos in die - zugegeben diesbezüglich schon hinreichend unklare - Systematik des Grundgesetzes ein. Näher läge es wohl, die anstehende Thematik: Normierung der landesverteidigungsfemen, eben primär VN-nahen Verwendungszwecke der Streitkräfte dort zu lokalisieren, wo die Modalitäten des Einsatzes der Bundeswehr bislang schwerpunktmäßig verankert sind: in Art. 87a GG. Absatz 1 würde wie bisher dann die Grundentscheidung für deutsche Streitkräfte enthalten; Absatz 2 würde primäre, sekundäre und VN-bezogene Verwendungszwecke trennen; in den nachfolgenden Absätzen würden dann die "ausdrücklichen" Zulassungen enthalten sein. Eindeutig (und zugleich radikal) in der Verknüpfung der einschlägigen verfassungsrechtlichen Normen nach außen und innen verfährt die Gruppe der POS / Linke Liste, indem die SperrklauseI auf beiden Ebenen Wirkung zeigen soll. In Art. 24 GG (neu) wird neben der Übertragung von Hoheitsrechten über den militärischen und nichtmilitärischen Einsatz der Streitkräfte hinaus der Verwendungszweck noch einmal einseitig auf den Verteidigungsfall zurückgeschnitten. Diese rigide Sperre wird dann in Art. 87a Abs. 2 GG 204 Problematisch ist zudem ein anderer Punkt. In Nr. 1 des Art. 24 Abs. 2a GG (neu) wird der Verwendungszweck der Streitkräfte bei friedenserhaltenden Maßnahmen auf regionale Abmachungen im Sinne der VN-Charta erstreckt - für die Bundesrepublik Deutschland meint dies NATO, WEU und KSZE -; in Nr. 3 wird der friedensschaffende Bundeswehreinsatz auch auf die Fälle einer Inanspruchnahme des Rechtes zur kollektiven Selbstverteidigung nach Art. 51 VN-Charta im Rahmen von Bündnissen und anderen regionalen Abmachungen erstreckt - auch hierunter fallen die in Nordatlantikpakt und WEU gründenden Verteidigungsbündnisse. Nimmt man dies für bare Münze (möglicherweise geht es primär um eine Neudefinition der Bündnisfunktionen), würde die bislang konsentierte Interpretation des Art. 87a Abs. I, 2 GG in Frage gestellt. Die kollektiven Verteidigungsbündnisse, deren Mitglied die Bundesrepublik Deutschland ist, würden nunmehr aus dem Regelungsbereich dieser Vorschrift herausfallen - mit Folgen für die Auslegung des Verteidigungsbegriffs, der dann in die Nähe des Verteidigungsfalles i.S.v. Art. 115a ff. GG rücken würde. Überdies hätte die Verortung von NATO und WEU in Art. 24 Abs. 2a Nr. I, 3 GG (neu) die Folge, daß wegen der Zustimmungsbedürftigkeit in Abs. 2a S. 2 GG (neu) diese Einsätze unter Parlamentsvorbehalt fielen. Man darf bezweifeln, daß die Initiatoren diese Konsequenz im Auge hatten bzw. beabsichtigten.

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(neu) noch einmal wiederholt - wie wenn sich die Initiatoren der angestrebten Rechtswirkung nicht sicher wären205 • Eine regelungstechnisch weniger unglückliche Aufspaltung des sinnvollerweise nur einheitlich zu regelnden und zu verortenden Problems unternimmt der Entwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Der Schwerpunkt der begrenzten Zulassung friedenserhaltender Blauhelm-Einsätze liegt in Art. 87a GG (neu), der auf die Rahmenregelung in Art. 24 Abs. 4 GG (neu) verweist. Diese Lösung ist in sich stimmig. Schon für die Erfüllung der eingegangenen Bündnisverpflichtungen ist dies indes nicht ausreichend. Der Entwurf der SPD-Fraktion schließlich verknüpft Art. 24 GG und Art. 87a GG. Es wird versucht, das Problem dort zu lokalisieren, wo es in seinen jeweiligen Elementen auch bislang angelegt war. In Art. 24 Abs. 3 GG (neu) wird der friedenserhaltende Einsatz der Streitkräfte im VN-Rahmen (Kampfauftrag ausgenommen) als Übertragung von Hoheitsrechten im Sinne von Art. 24 Abs. 1 GG verstanden und die entsprechende Detailermächtigung abweichend vom sonstigen Regelungsmuster - auf der Verfassungsebene selbst erteilt; in diesem Sonderfall handelt es sich dann nicht (mehr) um eine materielle Verfassungsänderung durch den einfachen Gesetzgeber wie bei Art. 24 Abs. 1 GG. Der zweite Aspekt dieser Vorschrift hingegen: das Zurverfügungstellen von Streitkräften zu ökologischen und humanitären Hilfsleistungen, ist weder Einsatz im Sinne von Art. 87a Abs. 2 GG noch eine Übertragung von Hoheitsrechten, und es ist auch nicht einseitig auf zwischenstaatliche Einrichtungen bezogen. Diese Einsätze verdeutlichen vielmehr die Öffnung der Bundesrepublik Deutschland nach außen und ihre Friedensund Umweltstaatlichkeit. Komplementär dazu soll Art. 87a GG (neu) unter verteidigungspolitischem Vorzeichen die Verwendungszwecke der Streitkräfte neu ordnen, und zwar auf einer zurückhaltenden Linie. Die Beschränkung auf friedenserhaltende Maßnahmen wird (bei einem zu Art. 24 Abs. 3 GG [neu] identischen Regelungsgehalt) aufgenommen und bekräftigt - verbunden mit einem ungeschriebenen Rückzugsgebot für den Fall eines Umschlagens der Aktion in eine peace-enjorcing operation -; der Verteidigungs begriff in dem neuen Absatz 1 wird über die mittelbare Bezugnahme in Absatz 2 (neu) auf die (staatsgebietsbezogene) Verteidigung reduziert und damit dem Verteidigungsfall im Sinne der bisherigen Art. 115a ff. GG angenähert; der Bündnis-

205 Zugleich wird die Radikalkur dadurch abgerundet, daß auch die in den bisherigen Absätzen 3 und 4 des Art. 87a GG enthaltenen Verwendungszwecke der Streitkräfte nach innen ersatzlos gestrichen werden sollen. Mit der anstehenden Regelungsaufgabe hat dies nichts zu tun. Die Initiatoren verkennen im übrigen das Anliegen dieser Vorschriften gründlich, wenn sie etwa Absatz 4 ausweislich der Begründung (BT-Drs. 12/3055, S. 5) zum Verteidigungsfall, d.h. zum äußeren Notstand ziehen und hier unbegründete Phobien hegen.

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fall wird zum legitimen Einsatzzweck der Bundeswehr erklärt - damit wird der Verteidigungsbegriff ein weiteres Mal "schlanker" definiert als es bislang der Fall ist206 -; die Obergrenze der Bewaffnung deutscher "Blauhelm"Soldaten wird festgeschrieben, ihre Verpflichtung zur Teilnahme an VNOperationen auf Nicht-Wehrpflichtige beschränkt und das Gebot der Freiwilligkeit der Teilnahme aufgestellt. Alles in allem enthält dieser Entwurf unter systematischen Gesichtspunkten eine recht konsequente Lösung. Bezogen auf die Spannbreite der völkerrechtlich erlaubten und der Bundesrepublik Deutschland u.U. von VN-Seite angesonnenen friedens schaffenden Maßnahmen schöpft er freilich den Rahmen des Möglichen bei weitem nicht aus. Bezogen auf die zwischenstaatlichen oder auch Bürgerkriegs-Situationen, um die es derzeit und verstärkt wohl auch künftig bei VN-Einsätzen geht, deren Rubrizierung nicht selten schillernd und jedenfalls wechselnd sein dürfte, erscheint das verfassungspolitisch starre Festschreiben der Unterscheidung von Friedenserhaltung und -schaffung wenn nicht gekünstelt-normativistisch, so doch schwerlich wirklichkeitsnah-funktional. Der normativen und damit auch integrationspolitischen Kraft etwaiger vom Seinssubstrat entfernter Regeln wäre dies nicht förderlich. Soweit die Entwürfe die VN-Verwendung von Bundeswehrkontingenten zulassen, machen sie allesamt diese Verwendungszwecke von einer (z.T. abgestuften) parlamentarischen Zustimmung abhängig207 • Darin liegt neben der nun ausdrücklichen grundgesetzlichen Legitimation dieser Verwendungszwecke der zweite Schwerpunkt der Reformvorschläge. Die strittige, im Schrifttum zunehmend vertretene - und von der Bundesregierung bei UNOSOM 11 ausdrücklich in Anspruch genommene - letztlich gesetzes- und parlamentsfreie Kompetenz der Exekutive zur Entscheidung über den Einsatz der Streitkräfte im Ausland wird nicht rezipiert. Vielmehr wird (jedenfalls unter verfassungspolitischen Vorzeichen) die Notwendigkeit einer förmlichen Parlamentszustimmung hervorgehoben, genauer: ein Parlaments vorbehalt bestimmt, wie ihn das Bundesverfassungsgericht übergangsweise nun auch in der einstweiligen Anordnung zum Somalia-Einsatz eingeführt hat. Dieser Vorbehalt fügt sich allerdings schwerlich nahtlos in die gegenwärtige verfassungsrechtliche Diskussion über eine Einbeziehung des Parlaments in außen- und verteidigungspolitische Agenden ein. Sieht man in der Entsen-

206

Zum Bündnisfall vgl. Graf Vitzthum, Der Spannungs- und der Verteidigungsfall,

§ 170 Rn. 26 ff.; s.a. F. Kirchhof, Bundeswehr, § 78 Rn. 21 ff.

201 Der Bundesrat wird in allen Entwürfen nicht einbezogen angesichts der außen- und verteidigungspolitischen Ausrichtung der Thematik eine konsequente Entscheidung. Anders nunmehr allerdings die SPD in den Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission; s.u. Fn. 209.

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dung deutscher Soldaten zu VN-Operationen eine Übertragung von Hoheitsgewalt im Sinne von Art. 24 Abs. 1 GG, oder geht man davon aus, daß die VN-Charta die Beschränkung deutscher Hoheitsrechte nicht ausreichend bestimmt, ist das Einführen eines Zustimmungserfordernisses des Bundestages eine unumgängliche, verfassungspolitisch ohnehin naheliegende Konsequenz. Welche qualitativen Anforderungen an diese Zustimmung gestellt werden, bleibt dabei indes offen. Die Entwürfe beschreiten hier verschiedene Wege. Die materiellrechtlichen Restriktionen werden im Verfahrensbereich allein vom Entwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fortgesetzt. Jeder Einsatz bedarf danach einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages. Interessanterweise stehen die Quoren in den beiden anderen Entwürfen in diametralem Gegensatz zu ihrer sonstigen verfassungspolitischen Regelungstendenz. Je restriktiver die Teilnahme von Bundeswehrkontingenten normiert wird, desto geringer sind die Anforderungen an die parlamentarische Zustimmung ausgefallen. Das Bild kommunizierender Röhren (Sachkompetenz der Regierung, Organkompetenz des Parlaments) drängt sich auf. Die SPD begnügt sich für friedenserhaltende Maßnahmen mit der einfachen Mehrheit. Für die qualitativ darunter angesiedelten humanitären Verwendungszwecke ist überhaupt keine parlamentarische Zustimmung vorgesehen (Art. 87a Abs. 2 S. 3 GG [neu]). Der Entwurf der Regierungsfraktionen bezieht die andere Extremposition. Friedenserhaltende und friedensschaffende Maßnahmen nach Art. 24 Abs. 2a Nr. 1 und 2 GG (neu) bedürfen der Zustimmung der absoluten Mehrheit der Mitglieder des Bundestages; die Verwendung im Rahmen der kollektiven Selbstverteidigung (man denke an das Muster des Golfkriegs) bedarf sogar der Zwei-Drittel-Mehrheit. Letztere Umschichtung von Zuständigkeiten von der Bundesregierung auf den Bundestag geht über eine - wie es im Titel des Gesetzentwurfs heißt - "Klarstellung" hinaus. Es handelt sich um eine Restriktion der Ersten Gewalt, deren verfassungsgerichtlich abgesicherte Alleinentscheidungskompetenz in zentralen sicherheits- und außenpolitischen Fragen beschnitten wird. Zumindest im Bereich des Absatz 2 Nr. 3 GG (neu) enthält der Entwurf eine schon von seiner eigenen Logik her schwer verständliche Überreaktion 208 • Das Quorum setzt jedenfalls die verfassungsändernde Qualität des gesamten Unternehmens in dessen parlamentarischen Vollzug hinein fort. Gegenüber den bereits vorhandenen wohldosierten außenpolitischen Parlaments- und Gesetzesvorbehalten (Art. 24 und 59 GG) bringt es mehr als nur eine Nuancierung.

208 Ist hier, wie bereits bei Art. 23 GG (neu), auch koalitionsintern zu intensiv verhandelt, verschränkt und "verschenkt" worden?

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Die vier Entwürfe zur Änderung des Grundgesetzes, die sich gegenwärtig in den Beratungen des Rechtsausschusses befinden 209 und deren prozedurales wie materielles Schicksal schon angesichts der noch auf viele Monate hin ausstehenden Hauptsacheentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu UNOSOM 11 ungewiß ist, gehen von der zutreffenden Prämisse aus, daß eine Regelung der Problematik auf Grundgesetzebene zumindest verfassungspolitisch geboten ist. Regelungsbedarf besteht in der Tat, mag man ihn nun als Klarstellungs- oder als Änderungsbedarf bezeichnen. In ihren Einzelaussagen regeln die Entwürfe das Thema in unterschiedlicher, z.T. unzureichender, z.T. überzogener Breite. In einigen Passagen engen sie den völkerrechtlich gebotenen Entscheidungsspielraum der Bundesrepublik Deutschland übermäßig ein. Die geforderten Quoren der parlamentarischen Zustimmung erscheinen teilweise überhöht. Alles in allem können die Initiativen nur als ein erster Schritt in die richtige Richtung verstanden werden. In den parlamentarischen Beratungen harrt dieser Schritt noch der sachgerechten Einpassung in die verfassungsrechtlichen Strukturen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die hier nur aufzuwerfende Frage, ob dem zugegebenermaßen äußerst schwierigen Gegenstand nicht ein anderes legislatives Regelungsmuster angemessener wäre. Zu denken wäre etwa an eine zweistufige Normierung durch eine verfassungsrechtliche Rahmenbestimmung einerseits und ein ausführendes Bundesgesetz andererseits. Diese Abschichtung von wesentlichen Grundsätzen auf der einen Seite und technischen Details auf der anderen hat im Grundgesetz bereits Hausrecht (Art. 21 Abs. 3, 29 Abs. 6 S. 2, 38 Abs. 3, 45c Abs. 2, 48 Abs. 3 S. 3 GG usw.). Dieses Schema würde es erlauben, den Verfassungstext "schlank" zu halten, ihn von Details zu befreien. Zugleich würde es der Ersten Gewalt den Zugriff auf Materien eröffnen (oder erhalten und vorbehalten), die im Zu sam-

209 Parallel dazu hat das Thema auch die Gemeinsame Verfassungskommission (GVK) beschäftigt. Vgl. neben der gemeinsam mit dem Rechtsausschuß durchgeführten Anhörung am 11. Februar 1993 (Deutscher BundestaglRechtsausschuß, Prot. 12/ 67) die Beratungen über staatliche Souveränität und militärische Verteidigung, Protokoll der GVK Nr. 15 vom 21. Januar 1993; s.a. den Antrag der SPD vom 17. Juni 1993, GVK-Drs. 90. Er konkretisiert den Gesetzentwurf der Fraktion um die bündnispolitische Komponente, freilich um einen (zu) hohen Preis: "Die Entscheidung über den Einsatz der Streitkräfte zur Verteidigung im Rahmen vertraglich vereinbarter Beistandspflichten trifft auf Antrag der Bundesregierung der Bundestag mit Zustimmnung des Bundesrates [!]. Die Entscheidung bedarf einer Mehrheit von zwei Dritteln [!] der abgegebenen Stimmen, mindestens der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages." (Art. 87a Abs. 3 GG [neu]).

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menhang mit der Reform einfachgesetzlicher Regelung anheimgestellt werden können 21O • Die Willens bildung über die außen- und verteidigungspolitische Stellung der Bundesrepublik Deutschland, zum al über ihre Position gegenüber VNOperationen, kann freilich weder die anstehende Verfassungsänderung noch eine gesetzliche oder parlamentarische Zustimmung im Einzelfall leisten. Das Verfassungsrecht ist hier nicht mehr gefordert.

210 Etwa: Vorgesetztenverhältnisse zwischen VN und Bundeswehr, Disziplinargewalt, PflichtensteIlung der Soldaten im Ausland, Versorgungsansprüche bei Verletzung etc., Umfang der Freiwilligkeit, Heranziehung von Wehrpflichtigen etc.

Anhang 1 Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 8.4.1993 (2 BvE 5/93 und 2 BvQ 11/93) - AWACS IM

NAMEN

DES

VOLKES

Urteil In den Verfahren 1. über den Antrag festzustellen, daß die Entscheidungen a) der Bundesregierung vom 2. April 1993, die Soldaten der deutschen Bundeswehr auch bei der durch VN-Sicherheits-Resolution 816 nun angelegten militärischen Durchsetzung der Überflugverbote über Bosnien in den AW ACS-Frühwam- und Einsatzführungssystemen dritter Staaten weiter Dienst tun zu lassen bzw. sie von dort nicht zurückzurufen, sowie b) des Bundesministers der Verteidigung, die betreffenden Soldaten eben diesen Dienst in den AWACS-Maschinen auch in der jetzigen Phase möglicher militärischer Verwicklung weiter ausüben zu lassen, gegen Art. 20 Abs. 3 sowie gegen Art. 87a Abs. 2, 79 Abs. 1 und 2 GG verstoßen hier: Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung

Antragsteller:

1) Fraktion der F.D.P. im Deutschen Bundestag, vertreten durch den Vorsitzenden, Bundeshaus, Bonn, 2) Frau Ina Albowitz und weitere 54 Abgeordnete der F.D.P.Bundestagsfraktion, Bundeshaus, Bonn,

- Bevollmächtigter zu 1) und 2): Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Graf-Spee-Straße I8a, Kiel - Bevollmächtigter zu 1): Rechtsanwalt Prof. Dr. Rüdiger Zuck, Robert-Koch-Straße 2, Stuttgart Antragsgegner:

1) die Bundesregierung, vertreten durch den Bundeskanzler, Adenauerallee 139/ 141, Bonn, 2) der Bundesminister der Verteidigung, Hardthöhe, Bonn,

- Bevollmächtigter zu 1) und 2): Prof. Dr. Dieter Blumenwitz, Tannenstraße 2, Baldharn -

- 2 BvE 5/93-,

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2. über den Antrag, im Wege der einstweiligen Anordnung a) die Durchführung des Beschlusses des Bundeskabinetts vom 2. April 1993, mit dem der Verbleib der Soldaten der Bundeswehr in den zur Überwachung des Luftraums über Bosnien-Herzegowina eingesetzten AWACS-Flugzeugen angeordnet wird, einstweilen bis zur Entscheidung über den alsbald anzustrengenden Organ streit auszusetzen und b) die Antragsgegnerin anzuweisen, die Soldaten der Bundeswehr aus den zur Überwachung des Luftraums über Bosnien-Herzegowina eingesetzten AWACSFlugzeugen einstweilen bis zur Entscheidung über den alsbald anzustrengenden Organstreit abzuziehen. Antragstellerin:

Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag, vertreten durch den Vorsitzenden, Bundeshaus, Bonn,

- Bevollmächtigter:

Prof. Dr. Michael Bensheim -

Bothe,

Theodor-Heuss-Straße

6,

Antragsgegnerin: die Bundesregierung, vertreten durch den Bundeskanzler, Adenauerallee 139/141, Bonn, - Bevollmächtigter:

Prof. Dr. Dieter Blumenwitz, Tannenstraße 2, Baldharn - 2 BvQ 11/93 -,

hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richter Vizepräsident Mahrenholz, Böckenförde, Klein, der Richterin Graßhof, der Richter Kruis, Kirchhof, Winter, Sommer aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 7. April 1993 für Recht erkannt: Die Anträge werden abgelehnt. Gründe:

A. Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfahren betreffen den Beschluß der Bundesregierung über die Beteiligung deutscher Soldaten an der Durchsetzung des von den Vereinten Nationen verhängten Flugverbotes im Luftraum über Bosnien-Herzegowina. I. 1. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verhängte mit der Resolution 781 vom 9. Oktober 1992 ein Flugverbot für Militärflugzeuge im Luftraum 7 März

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über Bosnien-Herzegowina und ersuchte die Schutztruppe der Vereinten Nationen (UNPROFOR), es zu überwachen. Die Mitglieder der Nordatlantikpakt-Organisation (NATO) übernahmen diese Aufgabe und setzten dazu A WACS (Airborne Warning and Control System - luftgestütztes Frühwarnund Kontrollsystem)-Femaufklärer ein, in denen Soldaten verschiedener NATO-Mitgliedsländer als integrierte Einheit tätig sind. Mit diesen Flugzeugen werden Flugbewegungen aus großer Höhe erfaßt; sie können zugleich als Feuerleitstand für den Einsatz von Jagdflugzeugen gegen gegnerische Flugzeuge dienen. Etwa ein Drittel des militärischen Personals des AW ACSVerbandes sind Soldaten der Bundeswehr in verschiedenen Funktionen. Am 31. März 1993 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 816, deren hier maßgebliche Bestimmungen in Nm. 1 und 4 lauten: "Der Sicherheitsrat in Ausführung des Kapitels VII der Charta der Vereinten Nationen I. beschließt, das durch die Resolution 781 (1992) erlassene Verbot auf alle Flüge

mit Starrflügel- oder Drehflügelluftfahrzeugen im Luftraum der Republik Bosnien und Herzegowina auszudehnen, wobei dieses Verbot nicht für von UNPROFOR nach Absatz 2 genehmigte Flüge gilt;

2.

3.

4. ermächtigt die Mitgliedstaaten, sieben Tage nach der Verabschiedung dieser Resolution im Auftrag des Sicherheitsrats sowie unter der Voraussetzung, daß sie eng mit dem Generalsekretär und UNPROFOR zusammenarbeiten, einzeln oder durch regionale Organisationen oder Abmachungen im Falle weiterer Verstöße alle notwendigen Maßnahmen im Luftraum der Republik Bosnien und Herzegowina zu ergreifen, um die Einhaltung des in Absatz I genannten Flugverbotes unter angemessener Berücksichtigung der jeweiligen Umstände sowie der Art der Flüge sicherzustellen; ... " Am 2. April 1993 traf die Bundesregierung gegen die Stimmen der F.D.P.-Minister folgende Entscheidung: 4. Sie ist einverstanden, daß der NATO-AWACS-Verband nunmehr in Übereinstimmung mit Sicherheitsratsresolution 816 vom 31.03.1993 auch unter deutscher Beteiligung daran mitwirkt, dieses Flugverbot durchzusetzen." Der NATO-Rat erklärte mit Beschluß vom 2. April 1993 seine Bereitschaft, die Umsetzung der vom Sicherheitsrat beschlossenen Resolution 816 zu unterstützen. Er bestätigte darüber hinaus seine Zustimmung zu den einzelnen Durchsetzungsphasen, den Einsatzrichtlinien sowie den sonstigen Planungen.

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2. Die Verfassungsmäßigkeit des Beschlusses der Bundesregierung ist zwischen den Mitgliedern, die den Unionsparteien angehören, und denen, die F.D.P.-Mitglieder sind, sowie zwischen den Koalitionsparteien umstritten. Man kam überein, daß die Bundesregierung mit der Mehrheit ihrer Mitglieder den Beschluß fassen könne, die F.D.P.-Fraktion hiergegen aber einen Antrag beim Bundesverfassungsgericht stellen werde mit dem Ziel, die Verfassungswidrigkeit dieses Beschlusses feststellen zu lassen; mit diesem Antrag sollte ein Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung verbunden werden, um den Vollzug der Regierungsentscheidung zu hindern. Solche Anträge haben die Antragsteller im Verfahren 2 BvE 5/93 gestellt. 3. Die Bundestagsfraktion der SPD hält den Beschluß der Bundesregierung ebenfalls für verfassungswidrig und beantragt den Erlaß einer einstweiligen Anordnung. 11.

1. Die Antragsteller vertreten die Auffassung, die Entscheidung der Bundesregierung verletze die Rechte des Bundestages; die Fraktionen seien befugt, diese Rechte im Wege der Prozeßstandschaft geltend zu machen. Die Abgeordneten der F.D.P.-Fraktion seien darüber hinaus in eigenen parlamentarischen Mitwirkungsrechten verletzt. Der Kampfeinsatz von Bundeswehrsoldaten außerhalb des NATO-Bündnisgebietes ohne Eintritt des Bündnisfalles sei weder durch Art. 87a Abs. 2 GG noch durch Art. 24 Abs. 2 GG gedeckt. Hierfür hätte es einer Änderung des Grundgesetzes bedurft. Art. 87a Abs. 2 GG statuiere im Erfordernis eines "ausdrücklichen" Zulassens des Streitkräfteeinsatzes einen spezifischen Übergehungsschutz zugunsten des verfassungsändemden Gesetzgebers. Die. SPDFraktion macht darüber hinaus geltend, daß die Bundesregierung durch den angegriffenen Beschluß an einem inhaltlichen Wandel der NATO- und WEUVerträge mitwirke und dadurch Rechte des Bundestages aus Art. 59 Abs. 2 GG verletze. Außerdem fehle die gesetzliche Grundlage, um deutsche Soldaten dem Kommando des NATO-Oberbefehlshabers Europa zu unterstellen. 2. Der Erlaß der einstweiligen Anordnung sei zur Abwehr schwerer Nachteile zum gemeinen Wohl dringend geboten. Leben und Gesundheit deutscher Soldaten wurden gefährdet, ohne daß dies parlamentarisch entschieden und verantwortet worden sei. Die militärische Durchsetzung des Flugverbotes stelle eine bewaffnete kriegerische Konfrontation dar. Dies könne den Soldaten der Bundeswehr und ihren Angehörigen nur auf der Grundlage einer gesicherten Rechtslage zugemutet werden.

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Sollte die einstweilige Anordnung nicht ergehen und kämen deshalb Soldaten zu Schaden, werde die angegriffene Maßnahme später jedoch im Hauptsacheverfahren für verfassungswidrig erklärt, so wäre dies für "die soziologische Verfassung des deutschen Staates, das Integrationsgefühl der Bürger und die Rechtfertigungsnachfrage der Betroffenen geradezu verheerend". Die SPD-Fraktion macht geltend, die Bundesrepublik schaffe durch die Beteiligung an der Militäraktion einen für sie völkerrechtlich verbindlichen Vertrauenstatbestand und enge faktisch den Spielraum des verfassungsändernden Gesetzgebers ein. Allein deshalb sei die Beteiligung des Parlamentes nach Art. 59 Abs. 2 GG erforderlich. Der Entscheidung der Bundesregierung liege eine neue Verfassungsauslegung zugrunde; sollte diese keinen Bestand haben, so beeinträchtige der neuerliche Wechsel das Vertrauen der Soldaten und der Verbündeten in die Verläßlichkeit und Berechenbarkeit der Bundesrepublik. Das AW ACS-System bleibe auch ohne deutsche Beteiligung funktionsfahig. Der wesentliche Schaden einer einstweiligen Anordnung könne nur auf politischem Gebiet liegen; sie beende jedoch den politischen Begründungsnotstand für die deutsche Zurückhaltung bei der Beteiligung an internationalen militärischen Maßnahmen zur Friedenssicherung überzeugend und belege die Kraft des deutschen Rechtsstaates. Die verfassungsrechtlichen Beschränkungen des Einsatzes der Bundeswehr seien im Ausland bekannt. Es werde nicht erwartet, daß die Bundesrepublik sich über ihre Verfassung hinwegsetze. Umgekehrt könnte eine Änderung der Praxis ohne Änderung der Verfassung oder ohne eine verfassungsgerichtliche KlarsteIlung den Eindruck erwecken, die bisher vorgebrachten Bedenken seien nicht gewichtig, ja sogar nur vorgeschoben gewesen. Da zur Beteiligung an den militärischen Maßnahmen aufgrund der Sicherheitsratsresolution weder aufgrund der VN-Charta noch des NATO-Vertrages eine Verpflichtung bestehe, könne der Bundesrepublik nicht die Nichterfüllung ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen vorgehalten werden. III.

Die Antragsgegner halten die Anträge für unzulässig, jedenfalls für unbegründet. 1. Den Fraktionen fehle Bundesregierung nicht das nis bestehe. Art. 87a Abs. destages zur Gesetzgebung

die Antragsbefugnis, weil zwischen ihnen und der erforderliche verfassungsrechtliche Rechtsverhält2 GG sei nicht dazu bestimmt, Rechte des Bunzu gewährleisten.

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2. a) Die Zulässigkeit von Kampfeinsätzen von Soldaten der Bundeswehr im Rahmen der NATO zur Durchsetzung von Zwangsmaßnahmen, die vom VN-Sicherheitsrat verhängt worden sind, ergebe sich aus Art. 24 Abs. 2 GG. Art. 87a Abs. 2 GG stehe dem nicht entgegen. Dieser Einsatz der Streitkräfte verlange keine Mitwirkung des Parlaments. b) Der Verbleib der deutschen Soldaten an Bord der AWACS-Flugzeuge führe zu keiner in die Zukunft wirkenden allgemeinen völkerrechtlichen Bindung der Bundesrepublik. Die Bundesregierung könne völkerrechtlich ihre Haltung in den NATO-Gremien und gegenüber den Vereinten Nationen ändern und die deutschen Soldaten aus dem AWACS-Verband zurückziehen. Der verfassungsändernde Gesetzgeber werde deshalb nicht vor vollendete Tatsachen gestellt. Die Gefahren für die deutschen Soldaten in den AW ACS-Flugzeugen seien nicht größer als bei den seit Monaten laufenden Überwachungsflügen und geringer als bei den humänitaren Hilfsflügen. Die behaupteten konkreten Gefährdungen seien wegen der Einsatzbedingungen nicht gegeben. Erginge die einstweilige Anordnung, bliebe der Organstreit in der Hauptsache aber erfolglos, so ergäben sich schwerwiegende Nachteile für die Bundesrepublik. Ohne deutsche Beteiligung sei die Einsatzfähigkeit des AW ACSVerbandes in Frage gestellt, jedenfalls aber nachhaltig eingeschränkt. Das von den Vereinten Nationen verhängte Flugverbot sei zeitlich und räumlich nur noch lückenhaft durchzusetzen. Bündnispolitisch wurde der Erlaß einer einstweiligen Anordnung zu einem Vertrauens verlust bei den NATO-Partnern führen, der letztlich die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands mindere. Das Zurückziehen deutscher Kräfte aus einem integrierten Verband komme einer Aufkündigung der Bündnissolidarität gleich. Die Bundesrepublik habe die Solidarität ihrer Partner immer wieder eingefordert. Bei einem Abzug des deutschen Personals aus dem AWACS-Verband würde gerade in dem Augenblick das die NATO-Allianz ausmachende Prinzip der Gegenseitigkeit unterlaufen, in dem die Partnerstaaten Solidarität erwarteten. Zugleich werde die Entwicklung von Strategie und Organisation der NATO, die sich in Richtung auf multinationale Verbände bewege, empfindlich gestört. IV. In der mündlichen Verhandlung haben sich Mitglieder des Bundestages und der Bundesregierung sowie Generale der Bundeswehr geäußert. Der Generalsekretär der NATO hat zu bündnispolitischen Fragen Stellung genommen.

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B. Eine einstweilige Anordnung kann nicht ergehen. 1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein besonders strenger Maßstab anzulegen, wenn eine Maßnahme mit völkerrechtlichen oder außenpolitischen Auswirkungen betroffen ist (vgl. auch BVerfGE 83, 162