Briefwechsel: Band II: 1882-1895 9783666303692, 9783525303696, 9783647303697

156 74 4MB

German Pages [630] Year 2014

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Briefwechsel: Band II: 1882-1895
 9783666303692, 9783525303696, 9783647303697

Citation preview

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Wilhelm Dilthey

Briefwechsel Band II 1882–1895 Herausgegeben von Gudrun Kühne-Bertram und Hans-Ulrich Lessing

Vandenhoeck & Ruprecht © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-30369-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen Druck und Bindung: E Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Vorwort der Herausgeber

Nachdem wir 2011 den ersten Band von Wilhelm Diltheys Briefwechsel mit ausgewählten Briefen von und an Dilthey aus den Jahren 1852–1882 herausgegeben haben, wird jetzt der zweite Band vorgelegt, der eine Auswahl von Briefen des Zeitraums 1882–1895 enthält.1 Entgegen unserem ursprünglichen Vorhaben von drei Bänden haben wir uns in Absprache mit dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht dazu entschlossen, die Briefedition auf nunmehr vier Bände anzulegen. Dies war aufgrund der sehr großen Zahl von aufzunehmenden Briefen des anfangs für Band II geplanten Zeitraums 1882–1905 unumgänglich. Der vorliegende Band II beinhaltet Briefe aus der Zeit 1882–1895, Band III wird den Briefwechsel Dil­ theys aus dem Jahrzehnt 1896–1905 präsentieren und Band IV die Briefe von und an Dilthey aus den Jahren nach seiner Emeritierung bis zu seinem Tod (1905–1911). Vorgesehen ist darüber hinaus ein V. Band, der sowohl die Reihe der Gesammelten Schriften Diltheys als auch die Edition seines Briefwechsels ergänzen soll. Er wird Dokumente und Materialien zu Diltheys akademischer Tätigkeit (wie Urkunden, Gutachten, Anträge zu wissenschaftlichen Vorhaben, Verträge, Satzungen etc.) enthalten sowie Veröffentlichungen Diltheys, die bislang noch keine Aufnahme in den Gesammelten Schriften fanden. Der hier vorliegende zweite Band des Briefwechsels zeigt Dilthey im Spiegel seiner Korrespondenz mit Kollegen, Freunden, Schülern und Verwandten in den ersten dreizehn Jahren seiner Berliner Professur. Die Briefe dieser Zeit dokumentieren, nach dem Erscheinen seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften im Frühjahr 1883, zum einen Diltheys intensive systematische und historische Weiterarbeit an seiner umfassenden philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften. So arbeitet er in diesem Zeitraum den historischen Teil des geplanten, aber nie fertiggestellten zweiten Bandes der Einleitung aus, der in Form von Einzelstudien im Archiv für Geschichte der Philosophie zum Teil veröffentlicht wird. Außerdem verfasst Dilthey 1887 seine große Poetik 2 und arbeitet ein zentrales Stück seiner Erkenntnistheorie aus, das er am 1. Mai 1890 unter dem Titel Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens 1 Zu den Auswahlkriterien vgl. das Vorwort der Herausgeber zu Band I, S. VIf. 2 Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik, in: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. Leipzig 1887, S. 303–482. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

VI

Vorwort der Herausgeber

an die Realität der Außenwelt und seinem Recht in der Berliner Akademie der Wissenschaften vorträgt.3 Besonders intensiv betrieben wird von Dilthey die Arbeit an seinem Projekt einer deskriptiv-analytischen Psychologie, die ein wichtiges Element seiner Grundlegung der Geisteswissenschaften darstellt und die in den frühen 1890er Jahren Gestalt gewinnt. Am 22. Februar und am 7. Juni 1894 trägt er in der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften seine Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie vor und am 25. April des folgenden Jahres als „Fortsetzung der Ideen über beschreibende Psychologie“4 seine Vergleichende Psychologie, die im Frühjahr 1896 in gekürzter Fassung unter dem Titel Beiträge zum Studium der Individualität veröffentlicht wird. Einige hier edierte Briefe aus diesen Jahren lassen erkennen, wie weitgestreut Dilthey sich während der Vorbereitung dieser beiden, später in den Sitzungsberichten der Akademie gedruckten Vorträge,5 bei Kollegen, auch aus naturwissenschaftlichen Fächern, über verschiedene spezielle Sachverhalte und Forschungsergebnisse informiert. Andere Briefe von Kollegen aus dieser Zeit lassen die Resonanz erkennen, welche diese beiden Schriften erfahren, und sie zeigen neben Zustimmung und Bekräftigung auch deutlich Kritikpunkte auf. Zum anderen dokumentieren die Briefe dieser Zeit Diltheys vielfältige, in einem weiteren Sinne wissenschaftspolitische Vorhaben und Unternehmungen. So engagiert er sich nicht nur in der „Schulfrage“ (1890) und zeigt großen Einsatz für die Zeller-Festschrift (1887), sondern entwickelt in den 1880er Jahren den Plan zu einer Einrichtung von „Archiven für Literatur“, welche die Wissenschaften befördern und zugleich „der Pflege unseres nationalen Bewußtseins“ dienen sollten.6 In diesen Archiven müssten, so Diltheys Forderung, Handschriften und andere Lebensdokumente, wie Unveröffentlichtes, Entwürfe, Briefe, Büsten etc., zusammengeführt und registriert werden. In engstem Zusammenhang mit dieser Forderung nach Literaturarchiven steht Diltheys bereits 1884 formuliertes Vorhaben einer neuen möglichst kompletten Kant-Ausgabe, die alle Werke, Vorlesungen, Briefe und den verstreuten 3 Vgl. Sitzungsberichte der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Jahrgang 1890, S. 977–1022 (ausgegeben am 9. September 1890). 4 Vgl. die Notiz in: Sitzungsberichte der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Sitzung der philosophisch-historischen Classe am 25. April 1895, S. 419. 5 Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, in: Sitzungsberichte der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften. Jahrgang 1894, S.  1309–1407 (ausgegeben am 31. Januar 1895); Beiträge zum Studium der Individualität, in: Sitzungs­ berichte, ebd., Jahrgang 1895, S. 295–335 (ausgegeben am 12. März 1896). 6 W. Dilthey: Archive für Literatur, in: Deutsche Rundschau 58 (1889), S. 360–375, hier S. 375. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Vorwort der Herausgeber

VII

Nachlass des Philosophen umfassen sollte. Denn gerade die handschriftlichen Nachlässe „der geistigen Führer unserer Nation, nicht blos der Dichter, auch der grossen Gelehrten, insbesondere auch der Philosophen sollte gesammelt und vor Zersplitterung bewahrt werden“.7 Die Herausgabe einer vollständigen Kant-Ausgabe, welche auf starkes Betreiben Diltheys 1896 von der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin beschlossen wurde, sollte als „Musterausgabe“ für „alle ähnlichen Editionen“ dienen.8 Bemerkenswert ist desweiteren die umfangreiche Korrespondenz ­Diltheys mit dem damals sehr mächtigen preußischen Kulturpolitiker Friedrich Theodor Althoff. Die in diesem Band edierten Briefe, bei denen es sich zumeist um Briefe Diltheys an Althoff handelt, machen das enge und vertraute Verhältnis zwischen beiden Männern deutlich. Sie lassen den Einfluss er­ kennen, welchen Dilthey durch diese Nähe zu Althoff in der philosophischen Fakultät hatte, z. B. bei der Neubesetzung von Lehrstühlen. Dilthey fungierte für Althoff als Informant und Ratgeber. Dass diese Position und Bedeutung Diltheys an der Berliner Universität und auch an anderen Universitäten seinen Kollegen bekannt war, bekunden etwa Briefe, in denen er z. B. um vermittelnde Gespräche mit Althoff gebeten wird. Zu einem großen Teil  werden in diesem zweiten Band unserer Edition Briefe hier erstmalig Briefe aus Diltheys handschriftlichen Nachlässen in Berlin und Göttingen sowie aus den Nachlässen seiner Briefpartner und Dritter ediert. Aufgenommen haben wir außerdem, wie auch schon in Band I, diejenigen Briefe, die bereits früher in verschiedenen – zumeist in älteren und schwer beschaffbaren – Briefeditionen oder in verschiedenen Aufsätzen und Monographien verstreut veröffentlicht worden sind. Diese wurden, soweit die entsprechenden handschriftlichen Originale in Archiven auffindbar waren, anhand dieser kollationiert und das bereits Gedruckte gegebenenfalls korrigiert. Zumeist unmöglich war dies bei dem Briefwechsel zwischen Dilthey und Paul Yorck von Wartenburg, den 1923 Sigrid von der Schulenburg herausgegeben hat, da die Brieforiginale bis auf wenige Ausnahmen verschollen sind. Ein Vergleich mit dem Gedruckten konnte allerdings vorgenommen werden anhand der ersten Fahnenkorrektur vom Frühjahr (April–Mai) 1923 sowie der Korrek­ turfahnen vom Sommer (Juni–August) 1923 dieser Briefedition, die beide im Berliner Dilthey-Nachlass des Archivs der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften aufgefunden wurden. So war es möglich, Ergänzungen von einzelnen für die damalige Edition gestrichenen Wörtern, Abschnitten und Grußformeln einzufügen. Zudem wurden einige wenige Transkripte

7 Die neue Kantausgabe, in: Kant-Studien 1 (1897), S. 148–154, hier S. 149. 8 Ebd. – Vgl. hierzu auch den Brief D.s an Althoff vom Februar 1884, hier S. 70 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

VIII

Vorwort der Herausgeber

von Dilthey-Yorck-Briefen von der Hand S. von der Schulenburgs im Nachlass ihres Ehemannes, des Dilthey-Schülers Paul Ritter, im Archiv der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften gefunden, die wir ebenfalls zur Kollationierung herangezogen haben. Das Prinzip der Edition auch der Briefe des zweiten Bandes war es, die originale Rechtschreibung und Zeichensetzung zu belassen bzw. wiederherzustellen, um diese Lebensdokumente möglichst authentisch zu präsentieren. Lediglich in einigen wenigen Fällen wurden, der besseren Lesbarkeit wegen, satzstrukturierende Kommata oder Punkte in eckigen Klammern ergänzt. Heutzutage nicht mehr verwendete Schreibweisen, wie z. B. „contoliren“, „Herschaft“ oder „transscendental“, sowie z. B. die in einigen Briefen angetroffene heute nicht mehr übliche Kleinschreibung zu Satzbeginn wurden deshalb belassen. Ebenso sind Diltheys oft unterschiedliche Schreibweisen von Eigennamen nicht vereinheitlicht worden, wie z. B. „Althoff“, „Allthof“ oder „Althof“. Belassen wurde auch die mit Ausnahme von Eigennamen durchgängige Kleinschreibung in den Briefen Hermann Useners an Dilthey. Soweit seine originalen Briefe an Dilthey nicht auffindbar waren, sondern nur in Form von Transkripten in der üblichen Groß- und Kleinschreibung vorlagen, wurde in diesen Fällen die Orthographie gemäß der bekannten Gewohnheit Useners geändert. Von Dilthey häufig abgekürzte Wörter haben wir in [ ] vervollständigt. Durch Unterstreichungen in den Briefen hervorgehobene Wörter und Satzteile sind in kursivem Druck wiedergegeben, ebenso die in bereits publizierten Briefen gesperrt oder fett gedruckten Wörter und Eigennamen. Von den Erstherausgebern vorgenommene Auslassungen sind durch … markiert, Textlücken durch (…). Für uns unleserliche und nicht entzifferbare Wörter haben wir mit […] kenntlich gemacht, und [?] weist auf eine unsichere Transkription hin. Für die Kommentierung der Briefe in den zugehörigen Endnoten gelten dieselben Regeln wie in Band I.9 Briefpartner Diltheys und in den Briefen erwähnte Personen, deren Vita sowie persönliche und sachlich-situative Beziehungen zu den Briefinhalten bereits in Band I erläutert wurden, haben wir in Band II nur noch einmal in verkürzter Form vorgestellt. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danken wir für ihre finanzielle Unterstützung, durch welche eine Kontinuität bei den zeitintensiven Arbeiten der Entzifferung, Datierung, Kollationierung und Kommentierung der Briefe gewährleistet und damit eine Fortsetzung der Edition ermöglicht wurde. Auch danken wir dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, der die Briefbände als Ergänzungsbände zu der Ausgabe der Gesammelten Schriften Diltheys verlegt. Unser Dank gilt ferner den drei bereits verstorbenen Personen, die durch ein

9 Vgl. das Vorwort der Herausgeber zu Band I, S. VIII. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

IX

Vorwort der Herausgeber

erstes Sammeln, Katalogisieren und Transkribieren von Dilthey-Briefen in den 1960er bis frühen 1990er Jahren den Grundstock für unsere Edition gelegt haben: Prof. Dr. Karlfried Gründer, Prof. Dr. Klaus Christian Köhnke und Line Wittel. Prof. Dr. Frithjof Rodi danken wir für sein anhaltendes und anteilnehmendes Interesse an der Briefedition. Für die Gewährleistung der nötigen organisatorischen Rahmenbedingungen und die Bereitstellung von praktischen und technischen Hilfsmitteln für unsere Editionsarbeit sagen wir Prof. Dr. Gunter Scholtz, Prof. Dr. Volker Steenblock und Martina Tomczak unseren herzlichen Dank. Lothar Kühne und Dr. Jens Lemanski gilt unser Dank für wertvolle Recherchen und für ihre Hilfe bei der digitalen Bearbeitung und Fertigstellung dieses Bandes. Darüber hinaus danken wir den Leitern und Mitarbeitern aller beteiligten deutschen, österreichischen, polnischen und schweizerischen Handschriftenabteilungen in Archiven und Bibliotheken für ihre freundliche Kooperation, insbesondere dem Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Handschriftenabteilung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen sowie dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem. Bochum, im Mai 2014

Gudrun Kühne-Bertram Hans-Ulrich Lessing

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Inhalt

Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Briefwechsel 1882–1895 [580] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [581] Dilthey an Eduard Zeller . . . . . . . . . . . . . . . . . . [582] Dilthey an Eduard Zeller . . . . . . . . . . . . . . . . . . [583] Dilthey an Eduard Zeller . . . . . . . . . . . . . . . . . . [584] Gustav Teichmüller an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . [585] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [586] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [587] Dilthey an Richard Schöne . . . . . . . . . . . . . . . . . [588] Dilthey an Richard Schöne  . . . . . . . . . . . . . . . . . [589] Isaak August Dorner an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . [590] Dilthey an Eduard Zeller . . . . . . . . . . . . . . . . . . [591] Dilthey an Richard Schöne . . . . . . . . . . . . . . . . . [592] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [593] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [594] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [595] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [596] Alfred Dove an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [597] Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . [598] Dilthey an Kurd Laßwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . [599] Dilthey an Kurd Laßwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . [600] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [601] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [602] Dilthey an den Verlag Duncker & Humblot . . . . . . . . . [603] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [604] Dilthey an den Verlag Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . [605] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [606] Dilthey an Friedrich Paulsen . . . . . . . . . . . . . . . . [607] Dilthey an Gustav Adolf Klix . . . . . . . . . . . . . . . . [608] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [609] Christoph Sigwart an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [610] Verlag Duncker & Humblot an Dilthey . . . . . . . . . . . [611] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

1 2 4 5 6 8 9 11 13 13 15 16 17 19 20 21 22 26 28 29 30 34 36 37 39 39 41 42 43 44 46 46

XII

Inhalt Inhalt

[612] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [613] Dilthey an Gustav Teichmüller . . . . . . . . . . . . . . . [614] Christoph Sigwart an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [615] Dilthey an Heinrich von Treitschke . . . . . . . . . . . . . [616] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [617] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [618] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [619] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . [620] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [621] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [622] Dilthey an Otto von Leixner . . . . . . . . . . . . . . . . [623] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [624] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . [625] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [626] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [627] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [628] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [629] Einige Studenten an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . [630] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [631] Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . [632] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [633] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . [634] Dilthey an Gustav von Schmoller . . . . . . . . . . . . . . [635] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [636] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [637] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [638] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [639] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [640] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [641] Dilthey an Wilhelm Schuppe . . . . . . . . . . . . . . . . [642] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [643] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [644] Dilthey an Martin Greif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [645] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . [646] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [647] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [648] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [649] Dilthey an Valesca von Brentano . . . . . . . . . . . . . . [650] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [651] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

47 49 50 52 53 54 55 57 59 62 64 65 69 70 72 73 74 75 76 77 77 78 79 80 81 84 86 88 91 91 92 94 95 96 97 100 101 103 104 105

Inhalt Inhalt

[652] Dilthey an Adolph Kießling . . . . . . . . . . . . . . . . . [653] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [654] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [655] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [656] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [657] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [658] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [659] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [660] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [661] Christoph Sigwart an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [662] Dilthey an Heinrich von Sybel . . . . . . . . . . . . . . . [663] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . [664] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [665] Dilthey an Hermann von Helmholtz . . . . . . . . . . . . [666] Dilthey an Heinrich von Sybel . . . . . . . . . . . . . . . [667] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . [668] Dilthey an Hermann von Helmholtz . . . . . . . . . . . . [669] Dilthey an Theodor Mommsen . . . . . . . . . . . . . . . [670] Dilthey an Friedrich Theodor Vischer . . . . . . . . . . . . [671] Dilthey an Friedrich Theodor Vischer . . . . . . . . . . . . [672] Dilthey an Friedrich Theodor Vischer . . . . . . . . . . . [673] Dilthey an Carl Prantl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [674] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [675] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . [676] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [677] Dilthey an Friedrich Theodor Vischer . . . . . . . . . . . [678] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [679] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [680] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [681] Dilthey an Friedrich Theodor Vischer . . . . . . . . . . . . [682] Dilthey an Friedrich Theodor Vischer . . . . . . . . . . . . [683] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . [684] Dilthey an Gustav von Schmoller . . . . . . . . . . . . . . [685] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [686] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [687] Dilthey an Edward Schröder . . . . . . . . . . . . . . . . [688] Dilthey an Edward Schröder . . . . . . . . . . . . . . . . [689] Edward Schröder an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [690] Otto Lange an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [691] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

XIII 106 108 109 109 111 113 114 115 116 117 120 120 123 125 126 127 129 129 130 131 132 134 135 136 137 139 140 142 144 146 146 147 149 150 150 151 152 153 155 156

XIV

Inhalt Inhalt

[692] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [693] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [694] Gisela Grimm an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [695] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . [696] Dilthey an Wilhelm Schuppe . . . . . . . . . . . . . . . . [697] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . [698] Dilthey an August Fresenius . . . . . . . . . . . . . . . . [699] August Fresenius an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . [700] Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . [701] Otto Ribbeck an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [702] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [703] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [704] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . [705] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [706] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . [707] Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . [708] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [709] Dilthey an Heinrich von Treitschke . . . . . . . . . . . . . [710] Dilthey an seine Frau Katharina . . . . . . . . . . . . . . [711] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . [712] Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . [713] Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . [714] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [715] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [716] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [717] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [718] Dilthey an Kurd Laßwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . [719] Dilthey an Hermann Escher . . . . . . . . . . . . . . . . . [720] Karl Gerhard an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [721] Arnold Schmidt an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . [722] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . [723] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [724] Rudolf Reicke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [725] Christoph Ferdinand Heinrich Pröhle an Dilthey . . . . . . [726] Herman Escher an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . [727] Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . [728] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [729] Friedrich Wilhelm Schirrmacher an Dilthey . . . . . . . . . [730] Arnold Schmidt an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . [731] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

158 159 161 163 165 165 166 167 168 169 170 172 174 176 178 179 180 182 184 185 187 188 189 191 192 193 196 197 198 199 201 202 204 208 209 210 212 212 214 216

Inhalt Inhalt

[732] Rudolf Reicke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [733] Gustav von Goßler an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . [734] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [735] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [736] Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . [737] Rudolf Reicke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [738] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [739] Friedrich Wilhelm Schirrmacher an Dilthey . . . . . . . . . [740] Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . [741] Friedrich Wilhelm Schirrmacher an Dilthey . . . . . . . . . [742] Ludwig Schleker an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . [743] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [744] Rudolf Reicke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [745] Friedrich Wilhelm Schirrmacher an Dilthey . . . . . . . . . [746] Ludwig Schleker an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . [747] Ludwig Schleker an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . [748] Friedrich Wilhelm Schirrmacher an Dilthey . . . . . . . . . [749] Friedrich Wilhelm Schirrmacher an Dilthey . . . . . . . . . [750] Rudolf Reicke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [751] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [752] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [753] Alfred Biese an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [754] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [755] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [756] Dilthey an Julius Walter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [757] Rudolf Reicke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [758] Rudolf Reicke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [759] Rudolf Reicke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [760] Rochus Ferdinand Freiherr von Liliencron an Dilthey . . . . [761] Rudolf Reicke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [762] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [763] Richard Loening an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . [764] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [765] Karl Oldenberg an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . [766] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . [767] Rochus Ferdinand Freiherr von Liliencron an Dilthey . . . . [768] Dilthey an Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [769] Rudolf Reicke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [770] Rochus Ferdinand Freiherr von Liliencron an Dilthey . . . . [771] Bernhard Ludwig Suphan an Dilthey . . . . . . . . . . . . © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

XV 220 222 222 223 224 225 226 227 230 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241 243 244 246 247 251 252 252 254 256 257 257 258 260 261 265 265 275 276 277 278 279

XVI

Inhalt Inhalt

[772] Dilthey an Kurd Laßwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . [773] Dilthey an Theodor Mommsen . . . . . . . . . . . . . . . [774] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . [775] Dilthey an Unbekannt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [776] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [777] Unbekannt an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [778] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [779] Alfred Goldscheider an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . [780] Robert Sommer an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . [781] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [782] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [783] Alfred Goldscheider an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . [784] Konrad Rieger an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [785] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [786] Herman Grimm an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . [787] Theodor Lipps an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [788] Carl Stumpf an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [789] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [790] Johannes Rehmke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [791] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [792] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [793] Dilthey an Oskar Walzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [794] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [795] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [796] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [797] Dilthey an Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [798] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [799] Carl Stumpf an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [800] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [801] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [802] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . [803] Königliches Konsistorium der Provinz Pommern an Dilthey [804] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [805] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . [806] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [807] Dilthey an Kurd Laßwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . [808] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [809] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [810] Robert Sommer an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . [811] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

280 280 281 282 283 285 287 289 290 293 294 296 298 299 301 302 303 306 307 309 311 314 315 316 318 320 320 322 324 324 326 328 328 330 333 335 335 336 338 339

Inhalt Inhalt

[812] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [813] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [814] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . [815] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [816] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [817] Christoph Sigwart an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [818] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . [819] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [820] Carl Stumpf an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [821] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [822] Max Dessoir an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [823] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [824] Dilthey an Konstantin Rößler . . . . . . . . . . . . . . . . [825] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [826] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [827] Dilthey an Robert Vischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . [828] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [829] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [830] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [831] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [832] Alfred Heubaum an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . [833] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [834] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [835] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [836] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . [837] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [838] Dilthey an Ernst von Wildenbruch . . . . . . . . . . . . . [839] Ernst von Wildenbruch an Dilthey . . . . . . . . . . . . . [840] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [841] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [842] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [843] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . [844] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [845] Dilthey an Hermann Diels . . . . . . . . . . . . . . . . . [846] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [847] Dilthey an Gustav von Schmoller . . . . . . . . . . . . . . [848] Ludwig Delbrück an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [849] Dilthey an Max Dessoir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [850] Dilthey an August Schmekel . . . . . . . . . . . . . . . . [851] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

XVII 341 342 343 344 346 347 351 353 354 356 360 360 362 363 364 366 366 367 371 372 375 376 377 380 383 387 389 391 393 394 396 397 398 400 401 405 406 407 407 408

XVIII

Inhalt Inhalt

[852] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [853] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . [854] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [855] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [856] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [857] Dilthey an Ludwig Stein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [858] Max Dessoir an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [859] Dilthey an Ludwig Stein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [860] Carl Stumpf an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [861] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [862] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [863] Clara Dilthey an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [864] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [865] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [866] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff und Carl Stumpf . . . [867] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [868] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [869] Dilthey an Ludwig Stein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [870] Dilthey an Ludwig Stein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [871] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [872] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [873] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [874] Christoph Sigwart an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [875] Dilthey an Wilhelm von Christ . . . . . . . . . . . . . . . [876] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [877] Wilhelm Rein an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [878] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . [879] Dilthey an seine Tochter Clara . . . . . . . . . . . . . . . [880] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [881] Rudolf Eucken an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [882] Dilthey an seine Tochter Clara . . . . . . . . . . . . . . . [883] Kurd Laßwitz an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [884] Dilthey an seine Tochter Clara . . . . . . . . . . . . . . . [885] Dilthey an Kurd Laßwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . [886] Dilthey an Erich Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . [887] Dilthey an Unbekannt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [888] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [889] Dilthey an Theodor Mommsen . . . . . . . . . . . . . . . [890] Dilthey an Conrad Ferdinand Meyer . . . . . . . . . . . . [891] Dilthey an Theodor Mommsen . . . . . . . . . . . . . . . © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

409 410 411 412 413 414 414 415 416 420 423 424 426 426 427 429 430 431 432 432 433 437 438 440 442 444 445 446 447 448 450 452 453 454 454 456 457 459 460 461

Inhalt Inhalt

[892] Dilthey an Gustav von Schmoller . . . . . . . . . . . . . . [893] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . [894] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [895] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [896] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [897] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . [898] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [899] Dilthey an Gustav von Schmoller . . . . . . . . . . . . . . [900] Dilthey an Ludwig Stein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [901] Dilthey an Eduard Zeller . . . . . . . . . . . . . . . . . . [902] Dilthey an Hermann Ebbinghaus . . . . . . . . . . . . . . [903] Dilthey an Paul Natorp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [904] Paul Natorp an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [905] Rudolf Eucken an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [906] Jacob Freudenthal an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [907] Paul Natorp an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [908] Jacob Freudenthal an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [909] Johannes Rehmke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [910] Rudolf Eucken an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [911] Julius Kaftan an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [912] Wilhelm Schuppe an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [913] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [914] Hermann Diels an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . [915] Dilthey an Julius Viktor Carus . . . . . . . . . . . . . . . [916] Wilhelm Windelband an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . [917] Hugo Münsterberg an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . [918] Ludwig Stein an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [919] Carl Eduard von Martens an Dilthey . . . . . . . . . . . . [920] Dilthey an Julius Viktor Carus . . . . . . . . . . . . . . . [921] Alois Riehl an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [922] Christoph Sigwart an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [923] Rudolf Eucken an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . [924] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . [925] Dilthey an Marie Eugenie delle Grazie . . . . . . . . . . . [926] Dilthey an August Sauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [927] Dilthey an Theodor Mommsen . . . . . . . . . . . . . . . [928] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [929] Dilthey an Theodor Mommsen . . . . . . . . . . . . . . . [930] Dilthey an Theodor Mommsen . . . . . . . . . . . . . . . [931] Dilthey an Heinrich von Sybel . . . . . . . . . . . . . . . © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

XIX 462 464 467 468 469 473 474 475 477 477 479 480 481 485 486 487 487 490 493 494 495 497 497 499 500 501 502 507 514 515 517 518 520 522 523 523 524 526 527 527

XX

Inhalt Inhalt

[932] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [933] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [934] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [935] Dilthey an Hans Vaihinger . . . . . . . . . . . . . . . . . [936] Dilthey an Theodor Mommsen . . . . . . . . . . . . . . . [937] Dilthey an Theodor Mommsen . . . . . . . . . . . . . . . [938] Dilthey an Theodor Mommsen . . . . . . . . . . . . . . . [939] Dilthey an Heinrich von Sybel . . . . . . . . . . . . . . . [940] Dilthey an Hans Vaihinger . . . . . . . . . . . . . . . . . [941] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [942] Dilthey an Hans Vaihinger . . . . . . . . . . . . . . . . . [943] Dilthey an Hans Vaihinger . . . . . . . . . . . . . . . . . [944] Dilthey an Theodor Mommsen . . . . . . . . . . . . . . . [945] Dilthey an Theodor Mommsen . . . . . . . . . . . . . . . [946] Max Heinze an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [947] Ernst von Wildenbruch an Dilthey . . . . . . . . . . . . . [948] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [949] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [950] Dilthey an Hans Vaihinger . . . . . . . . . . . . . . . . . [951] Friedrich Theodor Althoff an Dilthey . . . . . . . . . . . . [952] Dilthey an Friedrich Paulsen . . . . . . . . . . . . . . . . [953] Dilthey an Gustav von Schmoller . . . . . . . . . . . . . . [954] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . [955] Dilthey an seine Tochter Clara . . . . . . . . . . . . . . . [956] Christoph Sigwart an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [957] Dilthey an Friedrich Paulsen . . . . . . . . . . . . . . . . [958] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [959] Richard Falckenberg an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . [960] Hermann Ebbinghaus an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . [961] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [962] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [963] Alfred Heubaum an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . [964] Alois Riehl an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [965] Wilhelm Wundt an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . [966] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . [967] Dilthey an Hans Vaihinger . . . . . . . . . . . . . . . . . [968] Dilthey an Wilhelm Wundt . . . . . . . . . . . . . . . . . [969] Hermann Usener an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . [970] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [971] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

528 530 532 532 533 533 534 534 536 536 538 539 540 541 541 542 544 545 546 547 548 549 550 552 554 555 556 560 562 563 568 568 570 571 573 574 575 577 578 579

Inhalt Inhalt

[972] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [973] Dilthey an Hans Vaihinger . . . . . . . . . . . . . . . . . [974] Dilthey an Hans Vaihinger . . . . . . . . . . . . . . . . . [975] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff . . . . . . . . . . . . [976] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . [977] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . .

XXI 580 580 581 583 585 586

Siglen- und Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 Register der Briefpartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

[580] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg1   Lieber Freund,

[Sommer 1882]2

Ich sitze noch hier und – schreibe.3 Und werde wol auch noch bis mindestens Freitag hier sitzen. Das Mittelalter ist eine furchtbare Arbeit, und wenn es fertig ist, wird man’s ihm nicht ansehn. Sie werden sich hoffentlich über die Methode freuen, durch welche ich aus dem Schulhaufen von einander ähn­ lichen Systemen heraussuche was damals wirklich geschehen ist. Meine Frau4 geht Mittwoch nach Berlin, in Charlottenburg Wohnungen anzusehen. Denn wie Sie wissen: ich kann da nur leben, wie ein Dominikaner, der aus seiner Zelle kommt, spricht und in sie wieder zurückkehrt. Wie gern sähe, spräche ich Sie vor der Schweitzerreise. Aber heraus kann ich unmöglich. Denn ich werde auch so mit dem Mittelalter wol nicht ganz fertig werden. Wie schön wäre es, Sie kämen einmal nach dem alten lieben ­Breslau.  … Die Bücher von Ihnen sende ich durch Scholz.5 In die Schweitz sollen mich die Schlußkapitel über Metaphysik im All­ gemeinen begleiten. Die drei zwischenliegenden historischen Capitel über die Bedingungen der Entstehung des modernen Bewußtseins und der modernen Metaphysik will ich dann hier und in Klein-Oels noch umzuarbeiten suchen. So wird hoffentlich in der Hauptsache der Rest noch fertig, bevor Logik und Psychologie mich gefangen nehmen. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 19. 1 Der Jurist, Gutsherr, Philosoph und Privatgelehrte Paul Yorck von Wartenburg (1835–1897) war seit den frühen 1870er Jahren ein enger Freund und Briefpartners D.s. 2 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 3 D. schreibt an dem 2. Buch des 1. Bandes seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, der im Frühjahr 1883 im Verlag Duncker & Humblot erschien. 4 Katharina Dilthey, gen. Käthe, geb. Püttmann (1854–1932): Ehefrau D.s seit 1874. 5 Nicht zu ermitteln. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

2

Dilthey an Eduard Zeller Dilthey an Eduard Zeller

[581] Dilthey an Eduard Zeller1   Verehrter Herr College, Herzlichen Dank für die gute Gesinnung, welche Sie und Ihre verehrte Frau2 mir während der so unruhigen Berliner Tage erwiesen. Das Gefühl derselben, die Vorstellung unseres Zusammenwirkens haben nicht wenig beigetragen, mich zur Annahme der B[erliner] Professur unter an sich ganz unerwartet ungünstigen äußeren Bedingungen zu bestimmen. Hier haben sich denn bald die großen Schwierigkeiten einer so schnellen Übersiedelung sehr fühlbar gemacht. Anstatt arbeiten zu können, den Band abzuschließen, habe ich den Collegen nicht mich versagen dürfen, welche meine Ansichten über meinen Nachfolger noch vernehmen wollen. So werden die Ferien kommen. Der Arzt verlangt nach zweijähriger sehr großer Anstrengung eine gründliche Erholung in der Schweiz bevor ich in neue Verhältnisse mit ihrer Unruhe eintrete. Wir werden, wie vor zwei Jahren, nach seiner Bestimmung nach Vulpera über Tarasp3 gehen. Dann erst kann ich an Abschluß des Druckes des ersten Bands denken, welcher bei mir leider immer mit vielfachem Umarbeiten verbunden ist. Hierzu die Lösung der Wohnungsfrage, Auflösung aller hießigen Verhältnisse, neue Einrichtung. Kurz bei etwas mehr praktischer Weisheit als ich besitze hätte ich darum gebeten erst Ostern mein neues Amt antreten zu dürfen. Würde Ihnen das nun unangenehm sein? Würden Sie glauben daß diese zweckmäßigere Einrichtung im Ministerium mir zugestanden werden würde? Meine Ernennung zum l October ist freilich schon mit ausnehmender Schnelligkeit eingetroffen. Vielleicht hören Sie von Herrn Ministerial­direktor Greiff,4 wie er darüber denkt. Da die Kasse der Univ[ersität] Berlin so außerordentlich leer ist – wie ich das habe erfahren müssen – hätte die Sache ja auch ihre gute Seite. Und die hießige Fakultät würde es außerordentlich dankbar empfinden, wenn so hier eine Pause in der Thätigkeit des protest[antischen] Philosophen vermieden würde. Zudem würde eine Vertretung der Philosophie durch den altkathol[ischen] Philos[ophen] in der Prüfungscommission so auch vermieden. Geht das nun nicht an, so ist es wol billig und hat mit meiner Erklärung nichts zu thun, daß ich zwei Privatcollegia per Semester zu lesen beabsichtige, wenn ich in dem Durcheinander von Auspacken, Aufstellen der Bücher, Anordnen der Papiere, Besuche [–] das Alles wol bis Weihnachten dauern wird, mich auf die Psychologie 4st[ündig] u. 2 Stunden philos[ophische] Übungen einzuschränken wünsche. Ohnehin ist ja, da ich nicht im Catalog stehe, nur auf einen schwächeren Antheil der Studierenden zu rechnen, und da scheint © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Eduard Zeller Dilthey an Eduard Zeller

3

mir wichtiger, daß ich die spärliche Zeit, welche diese so plötzliche Umsiedelung mir für die Vorlesungen übrig läßt, nicht so sehr zersplittere. Ich hatte eben doch keine Idee, daß die Auflös[ung] der hieß[igen] Verhältnisse und die neue Einrichtung so viel Zeit in Anspruch nehme. Wenn Sie nicht von 11–12 lesen, so würde ich etwa diese Stunde für die Psychol[ogie] wählen. Inzwischen muß ich jedenfalls den Katalog abwarten, bevor ich an den Dekan, Professor Schmidt5 die Anzeige senden kann, wozu das Minist[erium] auffordert, und werde dann auch Herrn Generalarzt Dr. Schubert6 schleunig benachrichtigen. Wenn Sie mit Herrn Ministerialdirektor Greif wegen des Termins des ­A ntritts zu sprechen Anlaß nehmen und wenn Sie beide nicht für eine solche ruhigere Entwicklung in einem gemessenen Tempo sind: dann bitte ich bei ihm auch ein Wort der Zustimmung zu dem Beginn mit 6 St[unden] Vorlesung, Psychologie und 2 St[unden] Übungen nachzusuchen, (da ich ausdrücklich meinen Willen regelmäßig zwei Privatvorlesungen zu halten ausgesprochen habe) damit ich durch die Fährlichkeiten der stürmischen Fahrt heil hindurchkomme. Die Neubesetzung macht mir großes Kopfzerbrechen. Die Stiftungs­ urkunde der Univ[ersität] scheint für diese Stellung e[inen] Juden auszuschließen. Sonach wird man sich begnügen müssen, dem Minister Freud[enthal]s7 Tüchtigkeit darzulegen u. billige Rücksicht auf ihn in Anspruch zu nehmen, sei es hier für Beförderung oder anderwärts. Er ist unglücklich, daß ich seine Sachen in Folge m[eines] schnellen Weggangs nicht in der Fakultät ganz zu Ende führen könne. Aber dann weiter? Windelband erklärt sich bereit zu ­kommen.8 Gegen Paulsen9 und Benno Erdmann10 ist lebhafter Widerstand wegen ihres philosophischen Standpunktes, den mein guter philos[ophischer] Special­college als zu radical perhorreszirt. Die vernünftige Einsicht, daß ent­ weder philos[ophische] Lehrstühle ausschließlich nach wissenschaftl[icher] Qualität besetzt werden müssen oder die Kathederphilosophie alten Vorwürfen Schopenhauer’s anheimfällt, wird hoffentlich siegen. Meine Frau empfiehlt sich Ihrer verehrten Frau, von der ich ihr nun schon erzählen konnte, auf das herzlichste u. wir wünschen Ihnen beiden [eine] recht angenehme Ferienreise. In freundschaftlicher Verehrung u. Ergebenheit Dilthey Breslau, Wallstraße 8. 26 Juli [18]82. Original: Hs.;UB Tübingen, HIS , Zeller-NL , Md 747–145. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

4

Dilthey an Eduard Zeller Dilthey an Eduard Zeller

1 Der Theologe und Philosophiehistoriker Eduard Zeller lehrte von 1872–1895 in ­Berlin. 2 Emilie Zeller, geb. Bauer (1823–1904): Ehefrau Zellers seit 1847. 3 Kurort im Kanton Graubünden / Schweiz. 4 Johann Julius Edmund Greiff (1818–1894) war 1882–1890 Ministerialdirektor im preuß. Kulturministerium. 5 Johannes Schmidt (1843–1901): Sprachwissenschaftler; seit 1876 o. Prof. der Philologie in Berlin. 6 Hermann Schubert (1826–1888): Dr. med., Generalarzt der Chirurgie; Subdirektor der Militärärztlichen Bildungsanstalt zu Berlin. 7 Gemeint ist Jacob Freudenthal (1839–1907): Philosoph; 1875 Dozent, 1878 a. o., 1888 o. Prof. in Breslau. 8 Der Philosoph Wilhelm Windelband (1848–1915) wechselte 1882 von Freiburg an die neugegründete Universität Straßburg. 9 Friedrich Paulsen (1846–1908): Philosoph; 1875 Habilitation in Berlin, 1878 a. o., 1894 o. Prof. für Philosophie und Pädagogik in Berlin. 10 Benno Erdmann (1851–1921): Philosoph; 1878 a. o., 1879 o. Prof. in Kiel, 1884 in Breslau, 1890 in Halle, 1898 in Bonn, 1909 in Berlin.

[582] Dilthey an Eduard Zeller [28. Juli 1882] Besten Dank, hochverehrter Herr College, für Ihren so gründlich ein­ gehenden Brief.1 Ich will dann sehen wie ich die Schwierigkeiten der Lage ohne zu großen Schaden für den Beginn meiner Wirksamkeit überwinde. Recht schwer wird das freilich gelingen. Denn eine 4wöchentliche Unter­ brechung zur Erholung ist diesmal leider unvermeidlich. Und von der Be­ endigung des l B[an]ds2 im Druck vor den Vorlesungen und der ruhigen, wenn auch verringerten Fortarbeit am zweiten hängt mein ganzes Lebens­ behagen ab. 9–10 für die Logik ist eine mir ganz zusagende Stunde. 3mal 10–11 für die Psychologie ist wol so zu verstehen, daß ich 3 Tage wählen kann? Denn ich möchte an denselben Tagen beide Vorlesungen halten, um mir einige Arbeitszeit zu retten, u. es ist doch wol besser die Logik an den üblicher Weise correspondirenden Tagen, also etwa Montag Dienstag Donnerstag zu halten. Dieselben Tage wählte ich dann für die Psychologie, dazu Sonnabend 11–12. Zwei Stunden hintereinander über denselben Gegenstand ermüdet nach meiner Erfahrung den Docenten wie die Zuhörer. Freilich ist so, wenn ich nicht zum Nachmittag greife, was ich vermeiden möchte, das Übersprin© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Eduard Zeller Dilthey an Eduard Zeller

5

gen zum Sonnabend u. zu einer anderen Stunde wol ein erheblicher Anstoß für die Studirenden. Ich habe nun, um Sie nicht weiter zu bemühen, die Absicht, falls meine Auffassung richtig ist u. ich die Wahl zwischen den Tagen 10–11 für die drei Stunden habe, an Herrn Generalarzt Dr. Schubert in diesem Sinne zu schreiben u. Montag, Dienstag Donnerstag 10–11, Sonnabend 11–12 zu wählen. Ich werde es nur noch ein paar Tage anstehen lassen, damit, falls ich mich in meiner Voraussetzung über die freie Wahl der Tage geirrt habe, ein Wort von Ihnen hierüber auf einer Postkarte mich noch vorher aufklären kann. Da hier nach der Rektorwahl am 3ten Alles auseinanderstiebt, war an eine Beendigung der Fakultätsverh[andlungen] über m[einen] Nachfolger nicht zu denken. Ich habe in einer Commissionssitzung meine Ansicht ausgesprochen u. sind Ende Sept[ember] die Collegen, welche die Commission bilden[,] zusammen, so kann dann vielleicht die Sache in der Commission zum Abschluß gelangen.3 Mit unseren besten Wünschen für Ihre Ferienreise und unsren Empfehlungen an Ihre verehrte Frau Gemahlin der Ihrige Dilthey Original: Hs.; UB Tübingen, HIS , Zeller-NL , Md 747–145. 1 Nicht überliefert. – Im Original oben rechts eine Notiz, vermutlich von der Hand des Empfängers: „Br[ief] resp[ondiert] 30⁄7 [18]82“. 2 D.s Einleitung in die Geisteswissenschaften. 3 B. Erdmann wechselte 1884 von Kiel nach Breslau.

[583] Dilthey an Eduard Zeller   Hochverehrter Herr College, Freilich sträubt sich in mir Alles gegen die Stunden 10–11 u. 10–12: sie liegen da, wie ein verbautes Haus, das nur wenige wird anlocken können. Indeß Nachmittags will ich nicht lesen; und wenn Sie die Überzeugung haben, daß die Stunden Logik Montag Dienst[ag] Donnerstag 9–10 und nach e[iner] Zwischenstunde Mont[ag] Dienst[ag] Donn[erstag] Freit[ag] Psychol[ogie] 11–12 dem Interesse der Studirenden auch unter den diesmaligen Umständen weniger entsprechen – denn der Catalog hat mir gezeigt, daß unter den regulären © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

6

Gustav Teichmüller an Dilthey

Umständen ein gleichzeitiges Lesen von uns beiden nicht im Interesse des philos[ophischen] Studiums liegt, da der Student, der eine philos[ophische] Vorlesung hören will, bei den vielen Collisionen diese Gelegenheit zu verschiedenen Stunden haben muß  –, so bitte ich, dem entsprechend für mich die Stunden: Logik Montag Dienstag Freitag 9–10 Psychologie Montag 10–11, Freitag 10–11[,] Sonnabend 10–12, wie Sie gütig anbieten, ein Auditorium belegen zu wollen, und zwar erbitte ich ein nicht großes und unten liegendes vorziehen zu wollen. Insbesondere rechne ich in der Psychologie auf nicht mehr als 20–30 Zuhörer: denn das Fr[iedrich] Wilh[elm] Institut1 wird wol durch Abwesenheit glänzen. Ihr Erbieten, an Herrn Generalarzt eine Zeile schreiben und diese Stunden bezeichnen zu wollen, nehme ich dankbar an. Und nun wünsche ich Ihnen glückliche Reise. Ich meinerseits bin bei der Correktur von Bogen 22 in die unseligen Araber und Juden, welche die Antinomien der theologischen Metaphysik dh. Dogmatik alten Styls in merkwürdigem Parallelismus mit dem christlichen Abendland gebannt u. bearbeitet haben, so wieder hineingerathen, daß ich wol vor dem 14ten August kaum zur Abreise kommen werde. In herzlicher Verehrung u. Ergebenheit der Ihre Dilthey Breslau d[en] 1ten August 1882. Original: Hs.; UB Tübingen, HIS , Zeller-NL , Md 747–145. 1 An dem 1818 gegründeten Medicinisch-Chirurgischen Friedrich-Wilhelm-Institut, 1895 umbenannt in Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen, wurden preuß. Militärärzte ausgebildet.

[584] Gustav Teichmüller1 an Dilthey Dorpat 2⁄14. Aug[ust] [18]82. Lieber Freund! In den Zeitungen las ich, dass Sie den Ruf nach Berlin definitiv angenommen haben, und will nun nicht länger zaudern, Ihnen meine Freude darüber auszusprechen. Ich erinnere mich wieder der schönen Zeit, wo wir in Freundschaft verbunden im Umgange mit der Jungfrau Philosophie die © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Gustav Teichmüller an Dilthey

7

Honigmonde genossen, ich von Plato, Sie von Schleiermacher inspiriert. Jetzt führt das Schicksal Sie an seinen oder Hegels Platz u. wer Ihren Schleier­macher gelesen, kann, auch ohne Sie persönlich zu kennen, nicht leugnen, dass von der gegenwärtigen Schaar der Docirenden Ihnen diese Ehre mit Recht zufiel, nicht weil Sie etwa durch viel Papier die Literatur vermehrt hätten, wie Andre, sondern weil Sie an Feinheit des Empfindens, an Tiefe innerer Ausbildung u. Reichthum des Geistes die Andren übertreffen. Ausserdem hat man ja noch das Werk zu erwarten, dessen Umriss u. Conzeption Sie mir in Breslau skizzierten. Ich sitze einstweilen noch in meiner Sibirischen Einsamkeit. Obgleich ich über nichts zu klagen hätte, wünschte ich doch nach Deutschland, auch nach irgend einer kleineren Universität, zurückzukehren, theils weil das Klima mir hier auf die Dauer nicht bekommt, theils um für meine acht Kinder eine bessere Schule zu gewinnen. Doch das überlasse ich den Göttern, die es mit ­Zellers Beistand wohl versagen werden. Inzwischen arbeite ich ruhig weiter; denn Zerstreuungen giebt es hier nicht, wenn man nicht mehr so jung ist, um von den Aufregungen der kleinen Gesellschaften zu leben. So eben ist von mir ein Buch „Neue Grundlegung der Metaphysik“ erschienen (Köbner, Breslau),2 das meine speculativen Arbeiten eröffnen soll. Ich lasse aber auch das Alter­ thum nicht fallen u. habe eben einen glücklichen kleinen Fund gethan, der für die griech[ische] Litter[atur] des 4. Jahr[hunderts] ziemliches Interesse hat. Zu meiner Freude habe ich auch aus Göttingen von einem Studenten gehört, dass Ihr Bruder3 sich meiner noch freundlich erinnert. Ich bitte ihm gelegentlich dafür zu danken; denn ich komme in das Alter, wo man auch das Vergangene liebt u. sich gern erinnert; vorzüglich wenn was Schönes u. Tüchtiges aus den Bildern der Jugend geworden ist. Nun leben Sie wohl u. erwecken Sie auf dem bedeutendsten Katheder der Erde die trägen Geister zu neuer Liebe zur Weisheit.



In alter Gesinnung Ihr G. Teichmüller.

Original: Hs.; UB Basel, Teichmüller-NL , Nr. 718; Erstdruck: ASpPh, S. 410 f. 1 Der Philosoph Gustav Teichmüller (1832–1888), ehemals ein enger Studienfreund D.s, lehrte seit 1871 als o. Prof. in Dorpat. 2 Im Breslauer Verlag Wilhelm Köbner erschien 1882 von G. Teichmüller: Die wirk­ liche und die scheinbare Welt. Neue Grundlegung der Metaphysik. 3 D.s Bruder Karl (1839–1907).

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

8

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

[585] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Kl[ein-]Oels, 7. 8. [18]82.

Vor kurzem habe ich Ihr Briefchen erhalten. Ich glaubte Sie schon in der Schweiz. Nun im Regen und Unwetter hätten Sie auch dort gesessen, also ­haben Sie nichts versäumt. Ob es mir möglich sein wird, vor Ihrer Abreise noch auf ein paar Stunden nach Breslau zu kommen, kann ich nicht bestimmen. Ich habe schlechte Zeit gehabt. Eine selten reiche Ernte, die das Unwetter schädigt, wenn es noch länger andauert, beinahe vernichtet. Da ich wie Sie wissen landwirthschaftlich auf Weizen im Wesentlichen gestellt bin, so handelt es sich um sehr große Werthe. Erklärlich, daß mir alle Ruhe und Un­ befangenheit des Geistes zum Arbeiten fehlte. Ich sitze im Aristoteles, der viel aparter ist als Zeller, Trendelenburg1 u.s.w. ihn darstellen. Eine Welt, das Leben, zwischen ihm und uns. Sehr freue ich mich auf Ihre nächsten Bogen, auf das Mittelalter, das bisher entstellt, durch romantische oder rationalistische Brille gesehen worden ist. Ich rechne fest auf Ihren Octoberaufenthalt als auf eine Zeit bewegter Stille nach dem bevorstehenden Trouble der Einquartierung und Feste. Der Winter soll dann arbeitserfüllt sein. Freilich werden Sie mir sehr fehlen. Da mein Hereinkommen vor Ihrer Abreise ungewiß ist, sende ich Ihnen das von Ihnen und die durch Sie von der Bibliothek entliehenen Bücher per Post. Könnte ich doch Wilamowitz2 erlangen! … Ich beneide Sie um die arbeitsvolle Vergegenwärtigung der Vergangenheit. Mit der Geschichte ists so, daß was Spektakel macht und augenfällig ist nicht die Hauptsache ist. Die Nerven sind unsichtbar wie das Wesentliche überhaupt unsichtbar ist. Und wie es heißt: ‚Wenn ihr stille wäret, so würdet ihr stark sein‘3 so ist auch die Variante wahr: wenn ihr stille seid so werdet ihr vernehmen d. h. verstehen. Yorck4 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 20. 1 Der Aristoteles-Forscher Friedrich Adolf Trendelenburg (1802–1872), der 1837–1872 in Berlin lehrte; Lehrer D.s. 2 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931): klass. Philologe; 1870 P ­ romotion, 1874 Habilitation in Berlin, 1876 o. Prof. in Greifswald, 1883 in Göttingen, 1897 in Berlin. 3 Jesaja 30,15. 4 Die Unterschrift wurde aus der 1.  Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ­ergänzt. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

9

[586] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [Mitte September 1882]1 Lieber Freund, lange hätte ich Ihnen geschrieben, wäre etwas Angenehmes zu schreiben gewesen. Aber mir ist diesmal die Kur in Tarasp so schlecht bekommen, daß ich mich erst almälig davon einigermaßen erhole. Augenscheinlich war ich viel zu angegriffen für den heiligen Lucius.2 Dabei hatte ich Anfangs noch die thörichte Idee etwas bei der Kur arbeiten zu wollen. Schon war ein langer Brief an Sie über Metaphysik projektirt – aber seit dieser Zeit wage ich bis auf diesen Tag nicht etwas anderes als eine Novelle oder eine Zeitung zu lesen oder gar etwas zu denken. So bin ich, nachdem wir in Tarasp nach zwei und einer halben Woche abgereist, mit meiner Frau nach Weesen am Wallensee3 zur Nachkur gegangen. Dort befand ich mich sehr schlecht, so gingen wir nach Zürich und sind nun zu meiner Mutter, die gerade ein paar Wochen hier in Wiesbaden in einem sehr schönen Quartier ist, gegangen und hier zuerst fange ich an mich – trotz des sehr schlechten Wetters – etwas zu erholen. So komme ich denn später als beabsichtigt, aber daß wir noch zusammen sein müssen, steht mir ganz fest; denn es ist mir vor dem Winter tiefstes Bedürfniß. Sie haben inzwischen bewegte Tage verlebt, die Zeitung lehrte mich, daß der Kaiser4 auch sich Ihnen freundlich erwiesen, woran ich treulichst mit Freude theilgenommen. Mancherlei Menschen habe ich gesehen. Brentanos5 waren uns zu sehen nach Vulpera gekommen und ebenso sein Wiener Bruder,6 mit dem ich philosophirt habe. Er ist ein mittelalterlicher Metaphysiker geblieben. In Tarasp fand ich auch Goßler7 vor. Es war mir interessant, daß ich sein Mißtrauen gegen mich, ja sein Unbehagen mir gegenüber noch viel deutlicher als in Berlin erkennen konnte. Man sagte mir gleich, er habe angelegentlich nach mir gefragt und erzählt, er habe meine Bogen ganz gelesen, finde sie sehr schön geschrieben etc. Am Brunnen kam er mir gleich entgegen. Aber er vermied jedes andere als gleichgiltige Badegespräch; einmal berührte er die katholische Frage8 und im Zusammenhang damit die katholische Professur,9 theilte mir mit es sei mit Jemandem verhandelt worden, aber der betreffende hätte sich nicht gern entschlossen, sich in einen ganz anderen Boden verpflanzen zu lassen, zumal seine Stelle eben so schwer zu besetzen gewesen wäre – augenscheinlich Hagemann10 in Münster. Als ich dann mit der Bemerkung: Die Katho­liken knüpften sehr weitgehende Hoffnungen an die Besetzung ­dieser Professur, in die Materie einging, erklärte er mit der berühmten forma© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

10

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

len büreau­k ratischen Schneidigkeit: er würde Niemanden ernennen der nicht zugleich den Katho­liken unanstößig und der Regierung die nothwendigen Garantien böte. Da ich die natürliche Gegenbemerkung über dies hölzerne ­Eisen, die im Namen Herzog11 lag, heruntergeschluckt und nicht ausgesprochen habe, war damit das Gespräch abgeschlossen. Über meinen Nachfolger sprach er kein Wort mit mir, hat mir dagegen nachher durch Schöne12 darüber eine Anfrage zugehen lassen, die sich auf einen Candidaten bezog, den dort ein lutherischer Theologe ihm unter den Fuß gegeben hat, wie ich zu­fällig weiß, anstatt mich unbefangen dort danach zu fragen. Dagegen unterhielten er und seine Frau sich mit meiner Frau desto angelegentlicher und unbefangen behaglicher. So hatte ich einen neuen Beweis für meine Situation ihm gegenüber. Das Zusammentreffen mit Sigwart13 kam leider nicht zu Stande. … [Briefschluss fehlt.] Dilthey14 Original: nicht überliefert, Erstdruck: BDY, Nr. 21. 1 Datierung in BDY: „[Herbst 1882.]“. 2 Tarasp hat viele Heilquellen, darunter die „Luzius-Quelle“. 3 Kurort im Kanton St. Gallen / Schweiz. 4 Wilhelm Friedrich Ludwig von Preußen (1797–1888): seit 1871 Deutscher Kaiser (Wilhelm I.). 5 Der Nationalökonom Lujo Brentano (1844–1931) und seine Ehefrau Valeska, geb. Erb­reich (1851–1918), mit denen D. seit seiner Breslauer Zeit befreundet war. 6 Der Psychologe und Philosoph Franz Brentano (1838–1917) lehrte nach seiner Amtsniederlegung als o. Prof. seit 1880 als PD in Wien. 7 Gustav von Goßler (1838–1902): preuß. Kultusminister von 1881–1891. 8 Es folgt im Erstdruck in BDY in runden Klammern: „(er arbeitete dort viel und die Breslauer Frage spielte)“. 9 Die Statuten der Breslauer Universität bestimmten, dass der Lehrstuhl der Philosophie doppelt, mit einem katholischen und einem protestantischen Lehrenden besetzt sein sollte. Der damalige Inhaber der katholischen Lehrkanzel, Theodor Hubert Weber, war zum Altkatholizismus übergetreten und schien daher nicht geeignet als philosophischer Lehrer für die Studierenden der Theologie. So wurde ein anderes Ordinariat für Philosophie bewilligt und 1883 an Clemens Bäumker übertragen. – Theodor Hubert Weber (1836–1906): kath. Theologe, Philosoph und zweiter Bischof der Altkatholischen Kirche in Deutschland; 1868 Habilitation in Breslau, 1872 a. o., 1878 o. Prof. für Philosophie in Breslau, 1890 in Bonn, 1895 Weihbischof, 1896 Bischof. – Clemens Bäumker (1853–1924): kath. Theologe und Philosoph; 1883 o. Prof. für kath. Theologie in Breslau, 1900 in Bonn, 1903 in Straßburg, 1912 in München. 10 Johann Georg Hagemann (1832–1903): kath. Theologe und Philosoph; 1856 Ordination, 1861 Promotion, 1862 Habilitation, 1881 a. o., 1884 o. Prof. für Philosophie in ­Münster. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Richard Schöne Dilthey an Richard Schöne 

11

11 Vermutlich ist gemeint Karl Joseph Benjamin Herzog (1827–1902): Politiker und Jurist; 1864 Vortragender Rat im preuß. Handelsministerium, 1871 Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat im Reichskanzleramt in Elsaß-Lothringen, 1879 Erster Staatssekretär im Ministerium für Elsaß-Lothringen. 1880 trat er von seinem Amt zurück, da Edwin Karl Rochus Freiherr von Manteuffel (1809–1885), preuß. Offizier und seit 1879 Reichsstatthalter in Elsaß-Lothringen, Zugeständnisse an den Klerus gemacht hatte, die Herzog nicht billigte. 12 Der klass. Philologe und Archäologe Richard Schöne (1840–1922) war seit 1880 Generaldirektor der Staatlichen Museen in Berlin und Ministerialreferent für Museums­ angelegenheiten im preuß. Kultusministerium. Von Mai-Oktober 1882 war er Leiter der Hochschulabteilung. 13 Der Tübinger Philosoph Christoph Sigwart (1830–1904), mit dem D. seit den 1860er Jahren befreundet war. 14 Die Unterschrift wurde aus der 1.  Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ­ergänzt.

[587] Dilthey an Richard Schöne Hochverehrter Herr Geheim-Rath, Ihr Schreiben traf mich gerade als ich mit meinem Freunde Sigwart eine Zusammenkunft erwartete; dieser hatte mir über H[errn] Prof. Claß1 die zuverläßigste Auskunft gegeben; da ihn auf der Reise zu mir Unwohlsein befallen und nach Tübingen zurückgetrieben hat, bin ich auf meine Kenntniß beschränkt und eile nun zu antworten. Da Mitglieder der Commission für Besetzung der philos[ophischen] Professur in Breslau früh abreisten, konnte nur Eine Sitzung abgehalten werden. In dieser war eine Einigung über die Natur des dortigen Bedürfnisses leicht ­erzielt. Prof. Weber2 vertritt die theologische u. metaphysische Richtung der Philosophie mit entschiedenstem Erfolg und wird gerade von den evangelischen Studirenden der Theologie sehr gern gehört. Das nach dieser Richtung bestehende wichtige Bedürfniß wird durch ihn in sehr den Studirenden zusagender Weise befriedigt. Dagegen bedarf es dort eines Philosophen, welcher ein auf umfassenderem Studium beruhendes Verständniß der positiven Wissenschaften der Natur und des Geistes besitzt und sonach Mathematikern, Naturforschern, Historikern, Philologen etc. ein tieferes Verständniß der Bedeutung ihrer Wissenschaft für das Ganze vermittelt. Wenn Mathematiker u. Naturforscher eine vorherr© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

12

Dilthey an Richard Schöne Dilthey an Richard Schöne 

schende Berücksichtigung ihres Zweiges nachdrücklich wünschten: so drang doch meine Überzeugung durch, daß das Bedürfniß der Historiker, Philo­ logen etc. ein nicht minder dringendes sei. Ja ich darf vertraulich meine persönliche Überzeugung aussprechen, daß unter der großen Zahl von Studiren­ den dieser letzteren Zweige das Bedürfniß eines über den äußeren Betrieb hinausreichenden kräftigen Einfluses besonders groß ist. In Bezug auf die Personen, welche hiernach in Vorschlag kommen konnten, schienen Windelband3 und Paulsen keinen Widerstand zu finden, während andere, welche ich in’s Auge gefaßt hatte, vorläufig noch Bedenken hervorriefen. Ob ich in einer weiteren Commissionssitzung noch Gelegenheit haben werde die Sache zu fördern, wird davon abhängen, wann alle Mitgl[ieder] der Commiss[ion] zusammen sein werden. Jedenfalls werde ich dafür sorgen, daß Herr Prof. Claß mit in Erörterung gezogen wird. Über seinen Vortrag habe auch ich Gutes gehört. Von Arbeiten desselben ist mir nur das Vorhandensein einer frühen Abhandlung erinnerlich. Einer größeren Arbeit bin ich nicht begegnet, auch erinnere ich mich nicht an kleinere spätere. Doch könnten mir solche entgangen sein. Soweit ich urtheilen kann, ist die Richtung seiner Interessen und Beschäftigungen vorherrschend theologisch und metaphysisch, es wird sich nun fragen, wie weit er von hier aus auch der positiven Wissenschaften sich bemächtigt hat und demgemäß dem in Breslau bestehenden Bedürfniß entgegenkommt. Ich werde mir sehr angelegen sei lassen, hiervon Kenntniß zu erlangen. Mit ergebenstem Dank für das mir geschenkte Vertrauen in vorzüglichster Verehrung Wilhelm Dilthey Wiesbaden d[en] 21 September 1882. Original: nicht auffindbar; ehemals im Besitz von Ernst Zinn (Tübingen); der vorliegende Abdruck gibt eine von E. Zinn angefertigte maschinenschriftliche ­Abschrift des Briefes wieder. 1 Gustav Class (1836–1908): Philosoph; 1874 Habilitation in Tübingen, 1878–1901 o. Prof. der Philosophie in Erlangen. 2 Der kath. Theologe und Philosoph Theodor Hubert Weber. 3 Wilhelm Windelband lehrte ab 1882 in Straßburg.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Richard Schöne   

13

[588] Dilthey an Richard Schöne  Hochverehrter Herr Geheimrath, Ihre gütigen Zeilen1 lassen mich doppelt bedauern, daß ich bei meiner Durchreise durch Berlin vorgestern früh mit meinem Versuch, Ihnen auf dem Ministerium, dann im Museum meine Aufwartung zu machen, keinen Erfolg hatte. Gewiß wäre eine solche Besetzung für den Winter sehr erwünscht. Der gegenwärtige Dekan der Fakultät, Prof. …2 ist bis Beginn der kommenden Woche noch abwesend. Vielleicht würde sich empfehlen, durch eine Zeile ihm das Interesse der Regierung an rascher Erledigung der Sache auszudrücken. Denn hier pflegen in den Ferien die Geschäfte zu ruhen. Wird aber durch eine solche Anregung eine Schlußsitzung der Commission erleichtert, so kann leicht noch vor Beginn der Vorlesungen die Fakultät sich schlüssig machen.

In vorzüglichster Hochachtung und Verehrung Wilhelm Dilthey

Breslau den 26 September 1882 Original: nicht auffindbar; ehemals im Besitz von E. Zinn (Tübingen); der vor­ liegende Abdruck gibt eine von E. Zinn angefertigte maschinenschriftliche Abschrift des Briefes wieder. 1 Nicht überliefert. 2 Entzifferungslücke im Transkript.

[589] Isaak August Dorner1 an Dilthey Baden-Baden d[en] 27 Sept[ember] 1882. Verehrtester Herr Kollege! Seit wir uns im Engadin sahen und ich von Ihnen und Ihrer geehrten Frau Gemahlin Zeichen hilfreicher Theilnahme, die auch in der Erinnerung mir wohlthuend sind, empfing, sind zwei Jahre verflossen, die leider meine Gesundheit nicht verbessert haben. Inzwischen sind Sie für Berlin gewonnen, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

14

Isaak August Dorner an Dilthey

wie ich gehofft, und es drängt mich, Ihnen zu sagen, wie sehr ich mich freue, Sie nun als meinen Kollegen zu wissen, betraut mit der wichtigen Aufgabe, Nachfolger von Trendelenburg, Harms, Lotze zu sein.2 Ich verspreche mir von Ihrem Wirken besonders einen segensreichen Einfluß auf unsre jungen Theologen, auf Belebung ihres philosophischen Studiums und dadurch auf Vertiefung ihrer theologischen Bildung. Hoffentlich wird dabei auch die Fortsetzung Ihres Werkes über Schleiermacher3 nicht vergessen werden. Wenn Sie in Berlin werden eingetroffen sein, hoffe ich Ihnen auch meinen Sohn4 vorstellen zu dürfen. Derselbe, 1846 geboren, ist Professor und Mitdirector am Priesterseminar Wittenberg, wo er besonders die strenger wissenschaftl[ichen] Aufgaben der Anstalt zu vertreten hat, Religionsphilosophie, philosophische u theol[ogische] Ethik, Erkenntnißlehre u. dgl. Obwol es in der Theologie wohl gestattet ist, so zieht ihn doch Neigung, u. wie ich glaube auch Anlage, besonders zur Philosophie. Er hat über Baco, über Kant’s Moralprincip, über Schelling u. Ed[uard] v. Hartmann5 größere Arbeiten erscheinen lassen neben einem Buch über Augustinus als Religions­ philosophen.6 Dabei besitzt er in nicht gewöhnlichem Maaß die Gabe philosophischer oder überhaupt wissenschaftl[icher] Gesprächsführung, wovon er in seinem jetzigen Amte erfolgreiche Anwendung sowol in Conversationen als in häuslichen Kränzchen macht. Könnten Sie nun – vorausgesetzt natürlich daß Sie eine günstige Ansicht über ihn gewinnen, auf ihn aufmerksam machen, so würden Sie mich sehr verpflichten, aber auch, was mehr ist, wie ich hoffe, nützen. Mit den besten Wünsche für Ihre Uebersiedelung und der Bitte, Ihrer Frau Gemahlin mich freundlich in Erinnerung zu bringen bleibe ich hochachtungsvoll ergebenst der Ihrige I. A. Dorner Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 228, Bl. 161. 1 Der ev. Theologe I. A. Dorner war seit 1861 Oberkonsistorialrat und Prof. in Berlin. 2 F. A. Trendelenburg hat bis zu seinem Tod 1872 in Berlin gelehrt, Friedrich Harms (1819–1880) bis 1880 und Rudolph Hermann Lotze (1817–1881) bis 1881. 3 D.s Leben Schleiermachers, das 1870 in Berlin erschienen war. 4 August Johannes Dorner (1846–1920): ev. Theologe; 1867 Promotion, 1869 Lizentiat der Theologie, 1873 Prof. am Predigerseminar in Wittenberg, 1889 a. o., 1891 o. Prof. für systematische Theologie in Königsberg. 5 Eduard von Hartmann (1842–1906): Philosoph und Privatgelehrter; 1867 Promotion; beeinflusst von Schopenhauer, Leibniz, Schelling und Hegel; Hauptwerk: Philosophie des Unbewußten. 2 Bde. Berlin 1869. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Eduard Zeller Dilthey an Eduard Zeller

15

6 A. J. Dorner: De Baconis baronis de Verulamio philosophia. Berlin 1867. – Ueber die Prinzipien der Kantschen Ethik. Berlin 1875. – Schelling. Zur Erinnerung an seinen hundertjährigen Geburtstag. Gotha 1875. – Das menschliche Erkennen. Grundlinien der Erkenntnisstheorie und Metaphysik. Berlin 1887.  – Augustinus, sein theologisches System und seine religionsgeschichtliche Anschauung. Berlin 1873.

[590] Dilthey an Eduard Zeller Sie gestatten, hochverehrter Herr College, daß ich Ihnen die Anzeige meiner Vorlesungen mit einer zwiefachen kleinen Bitte sende. Der Umzug kostet doch mehr Zeit als der Mann der ihn übernahm berechnete. So wird erst etwa den 14 October die Einrichtung in Berlin so weit sein, daß ich dort irgend einen leidlich ruhigen Winkel für meine Arbeit finde. Da unsre Wohnung geräumt ist, habe ich mir hier in Klein-Oels bei dem mir befreundeten Grafen York eine Arbeitsstube eingerichtet, und hoffe dann etwa den 15ten in Berlin einzutreffen. So darf ich Sie denn wol freundlich ersuchen, mit Ihrer Anzeige Ihrer Vorlesungen auch die meinige gütigst besorgen zu wollen, und da ich nicht im Catalog stehe, ihr für diesmal einen Platz, an welchem sie den Studirenden recht deutlich sichtbar ist anweisen zu lassen. Da ich darauf rechnete, den Anschlag selbst in Berlin zu besorgen, habe ich die Nummern der Auditorien nicht aus Ihrem Brief1 herausgeschrieben u. so haben Sie wol weiter die große Güte, diese einzufügen, weil Ihr Brief mit auf der Reise ist. Meine Frau ist heute früh nach Berlin, die Möbelwaggons in Empfang zu nehmen. – In der Sitzung der Commission die noch stattfand, haben von den vier von mir proponirten2 Professoren Windelband[,] Paulssen und Liebmann3 eine Mehrheit erhalten, wogegen bei dem vierten, Erdmann, Stimmengleichheit stattfand. Wie sich in der Fakultät die Sache gestaltet, wenn ich nicht zugegen bin, ist bei den so ganz anderen Vorschlägen von Collegen Weber noch nicht abzusehen. – Die Unterbrechung meines Drucks dauert leider in Folge des Umzugs fort, u. so muß ich den Abschluß desselben leider in Berlin neben dem Beginn meiner Vorlesungen besorgen. Mit den ergebensten Grüßen von Haus zu Haus der Ihrige W. Dilthey Klein Oels, Sonntag d[en] 8. October [18]82. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

16

Dilthey an Richard Schöne Dilthey an Richard Schöne 

Sollte an dem Anschlag etwas nicht ordnungsmäßig sein u. von Ihnen nicht berichtigt werden können: so senden Sie mir wol eine Notiz darüber auf einer Karte per Adr[esse] Grafen York von Wartenburg auf Klein-Oels bei Ohlau. Original: Hs.; UB Tübingen, HIS , Zeller-NL , Md 747–145. 1 Nicht überliefert. 2 Im Original folgt – nachträglich von D. eingefügt – noch einmal: „vier“. 3 Otto Liebmann (1840–1912): Philosoph; 1865 Habilitation in Tübingen, 1872 a. o. Prof. in Straßburg, 1882 o. Prof. in Jena.

[591] Dilthey an Richard Schöne Hochverehrter Herr Geheimrath, Nachdem ich wiederholt den Versuch gemacht, Ihnen persönlich nochmals meinen Dank zu sagen und über die Vorschläge von Breslau aus Ihnen zu berichten, verspare ich das Erstere auf eine günstigere Gelegenheit, mich auf das Letztere schriftlich einschränkend. Ich erlaubte mir schon, Ihnen bei meinem letzten Besuch auf einer Karte die Notiz zu verzeichnen, daß Windelband Paulsen und Siebeck1 von der Fakultät zum Vorschlag ausgewählt sind. Mein persönlicher Vorschlag umfasste Windel[band,] Pauls[en,] Liebmann und Erdmann. Da ich indessen bei der Sitzung in der Fakultät nicht mehr zugegen ge­ wesen bin, haben Bedenken gegen die beiden letzteren gesiegt, andrerseits ist auf den Vorschlag von H[errn] Prof. Weber Siebeck gegen Erdmann, mit geringer Mehrheit so viel ich weiß, durchgegangen. Die Sitzung hat schon am 16ten dies[es] Monats stattgefunden u. so wird gewiß der Bericht sehr rasch in Ihre Hände gelangen. Ich mache die Mittheilung indeß, da ich weiß, daß Sie eine schnelle Erledigung der Sache gewünscht haben. In vorzüglicher Hochachtung ganz ergebenst Wilhelm Dilthey Berlin, [Hinter den Zelten]2 Villa Rosenau 22 Oct[ober] [18]82 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

17

Original: nicht auffindbar; ehemals im Besitz von E. Zinn (Tübingen); der vorliegende Abdruck gibt eine von E. Zinn angefertigte maschinenschriftliche Abschrift des Briefes wieder. 1 Hermann Siebeck (1842–1920): Philosoph; 1872 Habilitation in Halle, 1875 o. Prof. in Basel, 1883 in Gießen. 2 Im Transkript statt [Hinter den Zelten]: „Zellers“ mit dem Vermerk „unleserlich“.

[592] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg 1. November [1882]1 Hinter den Zelten, Villa Rosenau.   Mein lieber Freund, Von uns hier ist noch gar wenig Erfreuliches zu berichten: sonst hätten Sie schon früher ein Wort aus der neuen Heimath erhalten. Meine Frau fand ich sehr angegriffen und erkältet: … die ganze Einrichtung stockte: und noch diesen Tag ist unsre Existenz in unfertigem Zustande. So habe ich denn auch von Berlin noch sehr wenig gesehen. … Dann kamen die Vorlesungen. Hier hatte ich alle Leiden eines Neuange­kommenen, der im Vorlesungsverzeichniß gar nicht steht, durchzu­kosten. In der Psychologie habe ich ein leidliches Auditorium mir zusammengeredet, nach hießigen Verhältnissen immer noch sehr unbefriedigend, aber in der Logik bestand eine solche Collision von Schwierigkeiten, daß ich in dem Colleg nur wenige Studenten habe. Und zu diesen habe ich kein Verhältniß noch gewinnen können, theils des Ärgers über ihre Zahl wegen, theils des abscheulichen Auditoriums wegen, zum Theil auch offenbar – weil die Vorlesung ihnen zu schwierig ist und es mit den fundamentalen Fragen zu gründlich nimmt. Ich habe zunächst den Eindruck als könne ich hier den Studenten weniger zumuthen, als den an mich gewöhnten Breslauern. Aber ich lasse mich nicht abhalten Logik als Erkenntnißtheorie ihnen wie ein sehr schwieriges Rechenexempel vorzurechnen, kühl und entschieden vorzumachen. Gesehen habe ich beinahe Niemanden noch, außer Sprechzimmer und Fakultäts­sitzung. Denn die wenigen Stunden, welche Einrichtung der Papiere, Bücher, Vorlesungen übrig ließen, habe ich auf das Capitel über Mittelalter verwandt, das noch abzuschließen ist, und sich doch nicht will mit Gewalt schließen lassen. Aber was ich gesehen war angenehm. Die Verhält© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

18

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

nisse an der Universität sind in den Formen wie in der Empfindung gegeneinander sehr viel erfreulicher als in Breslau. Treitschke gestern flüchtig gesehn: er kam frisch aus Palermo, da er ganz Italien durchschwärmt hat. Auch Grimm in Italien gewesen und wieder leidlich munter. Doch hat er etwas müdes. Am lebendigsten Scherer, was er mir aber über Goethe auseinandergesetzt, wollte mir noch wenig einleuchten. Mit Zeller noch kein philosophisches Gespräch. Beseler waltet auf dem Sprechzimmer wie ein ehrwürdiger allgemeiner Onkel.2 Wie denke ich der Stunden und Tage in Klein-Oels, Ihrer Theilnahme, ­Ihres Gesprächs. Ich darf es nicht zu sehr, will ich mir Wehmuth und Sehnsucht fern halten. Und meine ganze Hoffnung auf wirklichen inneren Umgang steht auf Ihrem Herkommen. Dann werde ich Ihnen die Reihe von Sätzen, wie ich sie nun für die Vorlesungen von Neuem durchdenke, nach den Heften auseinandersetzen und ich glaube Sie werden an dem Fortgang, wie er Aufzeigen von Thatsachen und Folgern aus dem Früheren verbindet und so ein wie ich hoffe Unangreifbares aufbaut, Ihre Freude haben. Aber dazu müssen Sie bei uns wohnen. Die Wohnung ist geradezu entzückend. Von meinem Arbeitstisch blicke ich auf den von dichten Bäumen eingeschlossenen Wasserspiegel über unsren Garten weg: es ist wie ein Märchen, daß man in Berlin so wohnen kann. Die Unsicherheit eine thörige Fabel: ich gehe bei völligem Dunkel quer durch den ganzen Thiergarten, und gar die Wege bei uns ganz sicher. … Nach Breslau waren Windelband, Paulsen und Siebeck (letztrer in Berücksichtigung der Wünsche Webers als unschädlich) vorgeschlagen. Die Regierung will nicht nur Windelband nicht, sondern hat sich von seinen Procedés, eben in Straßburg etc. sehr verletzt gefunden. Mit Paulsen wird unterhandelt, er hat aber keine rechte Lust. Adieu, genießen Sie Ihre herrliche Muße! Ihr D.3 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 22. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 Der Jurist und Politiker Karl Georg Christoph Beseler (1809–1888) war D. bereits aus seinen Berliner Studienjahren bekannt; der Kunsthistoriker und Schriftsteller Herman Grimm (1828–1901) und der Germanist Wilhelm Scherer (1841–1886) gehörten seit den frühen 1860er Jahren zum Freundeskreis D.s; dem Historiker und Politiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) war D. erstmalig im Juli 1862 begegnet und seitdem mit ihm in persönlichem und brieflichem Kontakt. 3 Die Unterschrift wurde aus der 1.  Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ­ergänzt. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

19

[593] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [November oder Dezember 1882]1 Lieber Freund, ich habe so große Sehnsucht ein Wort von Ihnen zu hören, und Sie schweigen beharrlich. Sind Sie doch nicht krank? Oder haben meinen Brief nicht bekommen? der Ihnen unsre hießige Lage schilderte. Es fährt fort uns nicht gut zu gehn. Mit mir will sich’s trotz Alledem nicht bessern. Auch meine Frau kränkelt. Wir haben noch den ersten Besuch zusammen zu machen, ich allein machte drei – drei oder vier! So sitzen wir auf unsrem verzauberten Schloß so einsam als Sie nur sein können, leider ohne Ihre Muße. Immer noch ist das Capitel nicht ganz fertig, das Manuscript noch nicht fort, die Correctur liegt unberührt. Was soll das werden? der einzige Trost, daß ich in den Vorlesungen etwas lerne – und daß die Weihnachtsferien nicht all zu entfernt sind. Also lassen Sie Mußevoller ein Wort von sich hören. … In aller Misere muß ich doch sagen, daß die Verhältnisse hier durchgehend sehr angenehm sind. Alles kommt mir freundlich entgegen; sogar die alte graeca: Curtius2 Mommsen3 Zeller Schöne und ein paar Excellenzen, hat ihre Arme mir entgegengestreckt: leider bin ich diesen Winter außer Stande, irgend welche gesellschaftlichen Verpflichtungen einzugehen. Treulichst Ihr Dilthey4 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 23. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 Der Archäologe Ernst Curtius (1818–1896) war seit 1868 o. Prof. für alte Geschichte und Archäologie in Berlin. 3 Der Historiker Theodor Mommsen (1817–1903) lehrte seit 1858 als o. Prof. für alte Geschichte in Berlin. 4 Grußformel und Unterschrift wurden aus der 1. Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ergänzt.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

20

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

[594] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [31. Dezember 1882]1 Lieber Freund, Eine lange Pause, in der ich nur mit Abälard, Anselm2 und andren furchtbaren Schriftstellern verkehrt habe. Morgen gehen die Bogen, die Sie von Klein-Oels kennen, in abschließender Correktur fort, und ich hoffe, daß sie Ihnen jetzt fertiger erscheinen werden. Freilich habe ich gar viel nur andeuten können, insbesondre meinen alten Gedanken, daß die Logik des Mittel-Alters nur (im Gegensatz gegen Prantls3 unglückliches Buch) als Theorie der Theologie in ihren Eigenthümlichkeiten verstanden werden kann, muß ich ein andres Mal in einer Einzelabhandlung ausführen, und habe das Ergebniß nur mittheilen können. In diesen Tagen kommt dann die Correctur des politischen Capitels vom Mittel-Alter, welchem ich nur Einiges neu zufügen will: sonst aber es belassen. So könnten Sie also noch die Correktur erhalten. Einige gute Gedanken glaube ich für den zweiten Band bei der Arbeit für das Colleg gefunden zu haben. Arbeite für dasselbe jetzt auch die Verhandlungen über Psychophysik aus den letzten Jahren durch. Lebe in tiefster Einsamkeit. Weihnachten war mein Bruder ein paar Tage bei uns: die einzige Unterbrechung. Mit meiner Gesundheit immer noch sehr wenig zufrieden. In Treitschke finde ich das Gefühl für die landschaftliche Verschiedenheit deutschen Wesens und das locale Colorit der Erzählung erstaunlich schön; den Band überhaupt besser als den ersten.4 Sobald die Correkturen fertig hinter mir liegen schreibe ich vernünftiger über mich und ‚das Andere‘, gegenwärtig ist mir wie einem Wanderer der nach einem langen mühseligen Marsch die letzte Stunde ganz besonders erschöpfend findet. Und da Schreiben überhaupt wenig ist, bleibe ich entschlossen, wenn Sie Ostern in Klein-Oels sind, und Sie uns brauchen können, dort mit Ihnen zusammen zu philosophiren. Treitschke schreibt über das Gymnasial-Unwesen, und es wird wieder ein kräftiger Schlag werden, wie seiner Zeit der gegen die Juden.5 Nehmen Sie mit diesem flüchtigen Gruß am letzten Tage des alten Jahres freundlich vorlieb. Hat es uns räumlich getrennt, so soll doch dasselbe dann nicht gescholten sein, wenn das eine Vorbereitung zu späterem dauernden Zusammenleben hier war, wie ich zuversichtlich hoffe, ja bedarf; denn ich entbehre Sie täglich. Möge das neue Jahr Ihnen Allen nur Erfreuliches brin© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

21

gen, und uns Ihre treue Gesinnung erhalten, die zum besten Erwerb unsres ­Lebens gehört. Treulichst Ihr Dilthey Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 24. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 Peter Abaelard (1079–1142): franz. Theologe und Philosoph; Anselm von Canterbury (1033–1109): ital. Theologe und Philosoph. 3 Der Philosoph Carl von Prantl (1820–1888), der seit 1859 als o. Prof. in München lehrte.  – Geschichte der Logik im Abendlande. 4 Bde. Leipzig 1855–1867, ND Hildesheim 1997. 4 H. von Treitschke: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert (Staaten­ geschichte der neuesten Zeit. Bd. 24–28). 5 Bde. Leipzig 1879–1894. – Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig 1882. 5 H. von Treitschke: Einige Bemerkungen über unser Gymnasialwesen, in: PJ 51 (1883), S. 158–190. – Ders.: Unsere Aussichten, in: PJ 44 (1879), S. 559–576; Ders.: Herr Graetz und sein Judenthum, in: ebd., S. 660–670; Ders.: Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage, in: PJ 45 (1880), S. 85–95.

[595] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Kl[ein-]Oels 13. 1. [18]83.

Durch Heinrich1 hörte ich von Ihrem Unwohlsein. Hoffentlich ist, wenn diese Zeilen Ihnen vor Augen kommen, mit dem schuldigen Zahn das Übel mit der Wurzel beseitigt. Auch Ihre Frau möge den Anstoß, den sie an einer Tischecke genommen, sowie seine Folgen durchaus überwunden haben. Am 23sten denke ich in Berlin zu sein und bei einem Aufenthalte von drei Tagen ein stilles Stündchen mit Ihnen zu genießen. Auch der wissenschaft­ liche Weg geht sich weit angenehmer zu zweien. Manches Wort wird erst durch Antwort. Ich verbreite mich nicht über meine oft verdrießlich fortgeführten Arbeiten. Wie lange ich noch mit Aristoteles beschäftigt sein werde, ist, zumal wenn die Schnupfen-Intermezzi sich häufen, nicht abzusehen. Er hat den Nachlaß echt griechischer Wissenschaftlichkeit inventarisirt und eine große Bewegung fixirt, also gehemmt. Die Hemmung der Einzelwissenschaf© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

22

Alfred Dove an Dilthey

ten liegt auf der Hand wie bezüglich der Astronomie, welche sogar durch ihn zurückgeschraubt wurde; aber auch in zentraler Beziehung ist eine Hemmung nachweisbar. Und zwar in so weit und in so fern und dadurch hemmte er als er Repraesentant der opinio communis damaliger Zeit war. Die Merkwür­ digsten und Interessantesten sind doch Pythagoras und Heraklit, diese beiden Gegenfüßler. Denn letzterer steht in bewußtem Gegensatz zu ersterem. Solche Schätzung hat den Anschein der gesuchten Überschätzung eines Prae­ raffaeliten. Aber Sie kennen meine Vorliebe für das Paradoxe, die ich damit rechtfertige, daß Paradoxie ein Merkmal der Wahrheit ist, daß communis opinio gewißlich nirgends in der Wahrheit ist, als ein elementarer Niederschlag verallgemeinernden Halbverstehens, in dem Verhältnisse zu der Wahrheit wie der Schwefeldampf, den der Blitz zurückläßt. Wahrheit ist nie Element. Staatspaedagogische Aufgabe wäre es die elementare öffentliche Meinung zu zersetzen und möglichst die Individualität des Sehens und Ansehens bildend zu ermöglichen. Es würden dann statt eines so genannten öffentlichen Gewissens – dieser radikalen Veräußerlichung, wieder Einzelgewissen, d. h. Gewissen mächtig werden. … [Briefschluss fehlt.] Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 24 a. 1 Graf Heinrich Yorck von Wartenburg (1861–1923): ältester Sohn Graf Paul Yorcks; Jurist und Gutsherr, königl. preuß. Landrat, Dr. jur. und Dr. phil. h. c.; späterer Testamentsvollstrecker und Nachlass-Verwalter D.s.

[596] Alfred Dove1 an Dilthey Sub rosa 2 geschrieben und zu lesen!!

Breslau 15 Jan[uar] [18]83

  Lieber Dilthey! Bei dem objektiven Antheil, den Sie Ihrem letzten Briefe3 zufolge noch an unserer philosophischen Fakultätsangelegenheit nehmen, halt’ ich’s für der Sache dienlich, Ihnen einige thatsächliche Mittheilungen zu machen, zu denen ich wohl nach strenger Auffassung der Verschwiegenheitspflicht freilich kein Recht hätte. Ich bin überzeugt, daß Sie dennoch meinen Schritt nicht miß­ billigen werden und zugleich bei etwaigen Handlungen, die Sie daran an­ knüpfen, meine Person mit der vertraulichen Schonung bedenken würden, die © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Alfred Dove an Dilthey

23

Ihnen in solchen Dingen natürlich ist. Da ich der Kommission nicht angehöre, hab’ ich mich darauf beschränkt, die Stellen Ihres Briefes über Erdmann dem Dekan in Abschrift zu überreichen, wie ich’s ähnlich mit anderen Notizen that, die mir über Erdmann und Siebeck sonsther ungerufen zugingen. Leider bin ich denn auch durch jenen bösen Katarrh, in dem Sie mich schon im Oktober verließen und der mir in seiner Hartnäckigkeit nachgerade bedenklich vorkommt, am Erscheinen in der Fakultätssitzung verhindert gewesen, in der ich bei meinem geringen Einfluß indessen wohl auch sonst schwerlich etwas ausgerichtet haben würde. Die Sache ist nun folgendermaßen gegangen. Schon in der Kommission ist durch eine stille Verbindung der Herren Weber und ­Roepell4 eine Mehrheit erwirkt worden, deren Wünsche denn im wesentlichen auch in der Fakultät dahin durchgedrückt worden sind, daß Erdmann, über den allerdings wirklich neben vielem Günstigen auch viel Ungünstiges einberichtet worden war, von der Liste gestrichen ward und die letztere vielmehr also lautet: 1, Wundt5 – ja, ja Wundt, lesen, staunen und lachen Sie über diesen herrlichen Schlag ins Wasser! 2, und 3, zu gleichen Rechten neben einander Siebeck und Walter.6 Wundt ist wohl nur als Kunstfigur zu verstehen, die einer Nichternennung zur Maskirung dient; von Siebeck meint man wohl, daß er in Berlin nicht genehm sei, da er das erste Mal nicht gefragt worden; und so ist denn Walter der einzig beabsichtigte, der Roepell erwünscht, Weber bequem käme und für den in der Fakultät besonders H[er]r v. Miaskowski7 mit seiner ganzen Wärme als für einen alten Freund, Studien- und vielleicht auch Gesinnungsgenossen eintrat. Nun kann ich Ihnen nicht verbergen, daß das Ergebniß mit erzielt worden ist durch einen meiner Meinung nach von Haus aus unglücklichen, jedenfalls faktisch mißglückten Versuch der Berliner Behörde, die Wahl direkter nach dortigen Wünschen zu lenken. Es soll – ich berichte hier nur nach Hörensagen – an einen hiesigen einfachen Regirungsrath, nicht an den Kurator oder Dekan, eine ganze Liste von uns zu berücksichtigender Namen gesandt sein, die der betreffende Herr denn wohl nicht mit der nöthigen Kunst benutzt hat. Sie müßten deutsche Professoren nicht kennen, wenn Sie sich wundern wollten, daß auf solche die Wahrnehmung, der gouvernementalen Liste eines Untergestellten[?] sozusagen gegenüberzustehen, geradezu abschreckend wirkt. Gewinnen Sie jemals Gelegenheit, lieber Dilthey, dem Ministerium in Berlin irgendwie im einzelnen oder allgemeinen zu rathen, so benutzen Sie dieselbe bitte ja dazu, den hohen Regierenden klar zu machen, daß der Deutsche, besonders der deutsche Professor das sittliche Gefühl, un­ abhängig zu berathen und zu beschließen, sollte das selbst nur eine Illusion sein, über alles andere stellt und daß er lieber einen Befehl des aufgeklärten Absolutismus hinnehmen würde, als eine den Schein achtende, aber ihn zugleich als Schein enthüllende Bestrebung, seinen freien Entschluß leitend zu © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

24

Alfred Dove an Dilthey

bestimmen. Doch ich sage Ihnen da ja nur Allzuwohlbekanntes, lassen Sie mich lieber die praktischen Folgen unseres Beschlusses, der erst in einigen Tagen nach Berlin abgehen wird, erwägen. An Wundt ist natürlich nicht zu denken. Von Siebeck und Walter würde ich offen gestanden den ersteren vorziehen. Man hört doch so vieles Gute über seine wissenschaftliche und allgemein geistige Bedeutung, daß die Bedenken wegen Leisetreterei, oder wie es sonst genannt worden, am Ende zurücktreten. Am meisten – unter uns – erschreckt mich, daß Weber so lebhaft für ihn ist. Gegen Walter ist ja wohl hauptsächlich zu sagen, daß er mehr Historiker, als Systematiker ist; käme er, so wäre wenigstens dringend zu wünschen, daß man Freudenthal an seine Stelle nach Königsberg bringen könnte.8 Soll ich aber rein menschlich mit ganzer Leidenschaft reden, so muß ich Ihnen bekennen: ich gönne diesen Walterianern ihren Triumph nicht, den sie schon ganz sicher vor sich hertragen; die ganze Art der Einleitung dieser Wahl verstimmt mich so, daß ich nicht davor zurückscheuen würde, ihr mit ähnlichen Mitteln entgegenzuwirken und eben deshalb viel lieber Siebeck hier begrüßen würde, als Walter, gegen den ich ja übrigens sachlich nichts zu erinnern weiß und der vermutlich selbst die für ihn in Bewegung gesetzten Mittel als Gentleman mißbilligen würde. Am liebsten allerdings wäre mir und wohl jedenfalls auch Ihnen, daß wir weder den einen noch den andren erhielten; aber giebt es dazu noch Aussicht? Bei der Eile, welche der Regierung erwünscht ist, wäre eine abermalige Zurückweisung zu dritter Wahl von Übel, ist also sehr unwahrscheinlich; auch würde diese Wahl an sich immer schwerer. Und statt dessen per dictaturam einen nicht von uns genannten Mann herzusenden, ist doch auch peinlich für ein wohlwollendes Ministerium, zumal für einen neuen Herrn Decernenten, der ein Interesse daran hat, den Fakultäten entgegenkommend zu erscheinen. Und vor allem: welche unangenehme und daher in seiner Wirksamkeit schädlich behinderte Stellung würde der Oktroyirte hier einnehmen! Zumal, wenn Erdmann, gegen den schon so vieles und zum Theil nicht ohne Grund eingewandt worden, dazu ausersehen würde, seh’ ich die übelsten Folgen voraus, vor denen ich dringend warnen möchte. Mir stellt sich indeß ein Ausweg als möglich dar, den ich Ihnen um so lieber frei anzeigen möchte, da er, wie Sie wissen, zugleich meinen lebhaftesten, persönlichen wie sachlichen, Wünschen genau entspräche. Ich halte für möglich, daß die Regierung, ohne sich das mindeste zu vergeben, uns noch jetzt dafür beschiede: es sei ihr gelungen, die einer Berufung Windelbands bisher entgegenstehenden äußeren Bedenken nunmehr zu überwinden und sie käme daher auf diesen unseren ersten und vornehmsten Vorschlag gern zurück u.s.w. Sagen Sie offen, lieber Dilthey, wäre das nicht das vernünftigste und heilsamste? Wir haben da einen nach aller Urtheil  – auch Siegwart9 rühmte ihn soeben wieder unbedingt als den nächsten nach Ihnen – trefflich © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Alfred Dove an Dilthey

25

geeigneten Mann in frischestem Alter, der den hiesigen geistig politischen Schwierigkeiten mit Energie und zugleich mit gutem und feinem Humor begegnen würde. Wir haben einen namhaften Gelehrten, der so preußisch empfindet, daß er überaus gern aus Süddeutschland hierher zurücksiedeln möchte und der deshalb verhältnißmäßig billig zu haben wäre. Und was steht ihm nur im Wege? Mittlerweile ist er ein Semester in Straßburg und ein Ruf an ihn käme nun doch gar nicht mehr so beispiellos früh; ihm zu folgen wäre durchaus nicht unschicklich. Daß damals in unserem ersten Anschreiben auf seine innere Bereitwilligkeit hingewiesen ward, kann ihm doch nicht zur Last gelegt werden. Hat man’s ihm in Berlin verdacht, so kommt uns höchstens dieser unzarte Schritt zuschulden. Wir aber haben ihn nur gethan, um zu zeigen, daß es uns voller Ernst sei mit dieser Candidatur, daß sie kein Scheinmanöver zu seinen Gunsten sei. Es entsprang dieser Schritt recht eigentlich aus Ihrer Forderung, lieber Dilthey, uns vorher über Windelbands ernste Gesinnung Gewißheit zu verschaffen. Er hat uns diese Gewißheit gegeben, obwohl er wußte, wieviel er sich dadurch schaden könne. Und soll ihm gerade das nun wirklich nichts als Schaden bringen? Ich und, wie mich dünkt, Sie selbst sind ihm verpflichtet, das zu verhindern; ja Sie schrieben mir ja schon, daß Sie in solchem Sinne das Ministerium bereits begütigt hätten. Ist es Ihnen nicht möglich, nun, wo Ihre besonderen Wünsche inbezug auf Paulsen und Erdmann leider doch vereitelt sind, nach jener Richtung um der Sache willen weiter zu wirken? Da Windelband sich auch jetzt in Straßburg keineswegs recht gefällt – gegen Freiburg kommen ihm Land und Leute durchaus fremdartig vor –, so wäre er auch jetzt noch aufs glatteste zu gewinnen; die Sache könnte in wenigen Tagen abgemacht und die böse Frage, deren Hinausziehen ja selbst politisch unbequem werden kann, aus der Welt sein. Es entzieht sich natürlich durchaus meiner Beurtheilung, inwieweit etwa Rücksichten auf das wiederum ebenso nationalpolitische Interesse des Reichslands es geradehin verbieten, einen neuen raschen Wechsel in Straßburg hervorzurufen. Abgesehen aber davon hätte man nun doch in Berlin eine gar nicht hoch genug zu schätzende Gelegenheit, für Preußen selbst auf leichteste Weise etwas Gutes und Passendes zu erwerben. Und selbst hier am Orte würde durch die freilich einigermaßen über­ raschende Wendung bei allen sachlich Denkenden die reinste Befriedigung hervorgerufen werden. Das ist meine innigste Überzeugung, die ich Ihnen doch aussprechen mußte. An eine Realisierung dieser Idee glaub’ ich freilich hauptsächlich deshalb nicht, weil das Gute wieder einmal zu nahe liegt. Und nun leben Sie wohl für heut und grüßen Sie Ihre Gemahlin herzlich von uns beiden.10 Wir hatten schöne Tage in Leipzig, die noch überdies durch das allerdings wieder allzu ideale Gerücht, das Ribbecks11 brachten, verherrlicht wurden, Sie selber würden zu einem Besuch dort hinüberkommen. Sehr er© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

26

Dilthey an Wilhelm Scherer

freut hat uns die Kunde, daß Ihre Gemahlin wieder wohlauf ist. Mit Geibel12 sprach ich und erfuhr mit Freuden, daß Sie am Ziele angelangt sind; ich bin leider noch nicht soweit. Verbrennen Sie womöglich diesen Brief, nachdem Sie ihn zu Herzen genommen! Mit bestem Gruß Ihr A. Dove Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 227, unpaginiert. 1 Der Historiker Alfred Dove (1844–1916), der 1879–1884 in Breslau lehrte. 2 Unter dem Siegel der Verschwiegenheit. 3 Nicht überliefert. 4 Der kath. Theologe und Philosoph Theodor Hubert Weber und der Historiker und Politiker Richard Roepell (1808–1893), der seit 1854 in Breslau lehrte. 5 Der Physiologe, Psychologe und Philosoph Wilhelm Wundt (1832–1920) lehrte seit 1875 als o. Prof. in Leipzig. 6 Julius Walter (1841–1922): Philosoph und Theologe; 1870 Promotion, 1873 Habilitation in Jena, 1875 a. o., 1876 o. Prof. in Königsberg. 7 August von Miaskowski (1833–1899): Nationalökonom; 1871 Habilitation in Jena, 1874 o. Prof. in Basel, 1881 in Breslau, 1889 in Wien, 1891 in Leipzig. 8 J. Freudenthal blieb als a. o. Prof. der Philosophie in Breslau. 9 Der Tübinger Philosoph Christoph Sigwart (1830–1904). 10 A. Dove war seit 1872 verheiratet mit Anna Ludwig (1851–1934), Tochter des Leipziger Physiologen Carl Ludwig (1816–1895). 11 Otto Ribbeck (1827–1898), klass. Philologe, und Emma Ribbeck (1831–1902), Tochter des Generalmajors Johann Jacob Baeyer (1794–1885), seit September 1854 mit O. Ribbeck verheiratet. 12 Der Buchhändler und Verleger Friedrich Wilhelm Carl Geibel (1806–1884) übernahm 1866 zusammen mit seinem Sohn, Carl Stephan Franz Geibel (1842–1919), den Berliner Verlag Duncker & Humblot, in dem D.s Einleitung in die Geisteswissenschaften erschien. Geschäftssitz des Verlages wurde Leipzig.

[597] Dilthey an Wilhelm Scherer1 [Januar 1883] Mein lieber Scherer, lassen Sie doch einmal hören, wie es mit dem Gesundheitszustand Ihrer verehrten Frau2 geht, und wie Sie die schweren Zeiten überstanden haben. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Wilhelm Scherer Dilthey an Wilhelm Scherer

27

Gratulire daß Ihre Literaturgeschichte nun mit vollen Segeln in die neuere Zeit hineinfährt.3 Es muß ein ausgesuchtes Vergnügen sein Subjekte wie Klopstock Herder Lessing so con amore abzuconterfeien. Mein heimliches Vergnügen, Sie Alle mit einem Intermezzo zwischen Schl[eier]m[acher] Bd I u. Bd II zu überraschen, ist mir leider, wol auf Buchhändlerwegen, verdorben worden. Ich hatte noch Usener,4 als er nach Berlin ging, sorgfältigst Alles vorenthalten. Was es ist, werden Sie sich ungefähr denken, mein System, und da dieses aus der Beschäftigung mit den Geisteswissenschaften erwachsen ist, auch in der entsprechenden Einschränkung, als ‚Einleitung in das Studium der Geisteswissenschaften‘. Der erste Band wird die erkenntnißtheoretische Grundlegung enthal­ten. Ich habe eben den zehnten Bogen in der Correktur u. rechne darauf daß Ende der Osterferien der Druck ungefähr beendigt sein wird. Ich muß leider immer wieder umschreiben, da der spröde Stoff doch nicht nur Professoren der Philosophie, sondern Historikern, Juristen etc. zugänglich werden soll. Aus letzterem Grunde habe ich es auch Humblot, nicht Reimer in Verlag gegeben,5 damit es in die richtigen Hände kommt. Der erste Band wird für sich ein Ganzes und einen besonderen Titel erhalten. Denn im zweiten Theil des Schl[eier]m[acher] bin ich soweit daß im Sommer da der Druck anfangen soll. Dieser wird nun allerdings ganz anders als der erste. Die philos[ophische] Absicht der Darstellung eines Individuums im Milieu seiner Zeit wird die Hauptsache, und da das Indiv[iduum] religiös war, gewisse Grundzüge der Reli­gionsphilosophie. Schl[eier]m[acher]s philos[ophische] Ideen treten nun immer mehr zurück. Also die Hauptsache: lassen Sie von Ihrer lieben Frau Gutes hören, ists auch nur in e[iner] Zeile auf e[iner] Karte. Grüßen Sie die Freunde u. geben Grimms6 einliegendes Bild, das Brentanos u. wir ihm gemeinsam schicken: das größere aller Mädchen ist Sissi Brentano.7 Treulichst Ihr Dilthey Der arme Erdmannsdörffer!8 Original: Hs.; ABBAW, Scherer-NL , Nr. 331, unpaginiert. 1 Der Germanist Wilhelm Scherer (1841–1886) lehrte seit 1877 in Berlin; enger Freund D.s. 2 Marie Scherer, geb. Leeder (1855–1939), Ehefrau Scherers seit 1879. 3 W. Scherer: Geschichte der deutschen Litteratur. [Zunächst erschienen in 9 Heften.] Berlin 1880–1883, 2. Aufl. Berlin 1884. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

28

Dilthey an Kurd Laßwitz Dilthey an Kurd Laßwitz

4 D.s Freund und Schwager Hermann Usener (1834–1905), der seit 1866 als klass. Philologe in Bonn lehrte. 5 Der von Carl Friedrich Wilhelm Duncker (1781–1869) und Peter Humblot (1779– 1828) zu Beginn des 19. Jhs. in Berlin gegründete Verlag Duncker & Humblot wurde 1866 von dem Buchhändler und Verleger F. W. C. Geibel und dessen Sohn C. St. F. Geibel übernommen. – Im Berliner Verlag Reimer, der von Georg Ernst Reimer (1804–1885) und seit 1884 von dessen Sohn Ernst Reimer (1833–1897) geführt wurde, war 1858–1863 D.s Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. 4 Bde. Hg. von L. Jonas und D. erschienen sowie 1870 D.s Leben Schleiermachers. Bd. I. 6 Herman Grimm und seine Ehefrau Gisela, geb. von Arnim (1827–1889). 7 Sophie Brentano (1874–1956), gen. Sissi: Tocher Lujo und Valeska Brentanos. 8 Der Historiker Bernhard Erdmannsdörffer (1833–1901); Studienfreund D.s. – W ­ orauf sich der mitleidige Ausruf bezieht, ist nicht mehr zu ermitteln.

[598] Dilthey an Kurd Laßwitz1 Berlin, 15. 2. [18]832 Lieber Herr Doktor, Sie erhalten gleichzeitig aus Leipzig einen Bogen, der über Naturvorstellungen des Mittelalters handelt.3 Bevor ich ihn drucken lasse, möchte ich Sie bitten, ihn durchzusehen, ob Sie nichts gegen Aufnahme zu erwidern finden. Was Sie anders wünschen, bitte ich am Rand zu bemerken, und ihn mir dann sobald eben thunlich (in ein paar Tagen) hieher (Hinter den Zelten, Villa Rosenau) zurückzusenden. Sollten Sie keinen Bogen erhalten haben, so beeile ich mich gleich davon avertion4 zu geben. Ich bedauerte Sie neulich nicht gesehn zu haben.

Mit bestem Gruß W. Dilthey

Original: Hs; Postkarte; FB Gotha, Chart. B 1963, Bl. 54–54 R. 1 Der Philosoph und Schriftsteller Kurd Laßwitz (1848–1910); Schüler D.s. 2 Datierung nach Poststempel. 3 Vgl. GS I, S. 291 ff. 4 Nachricht.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

29

Dilthey an Kurd Laßwitz Dilthey an Kurd Laßwitz 

[599] Dilthey an Kurd Laßwitz [nach dem 24. 02. 1883] Besten Dank für Ihre freundliche Durchsicht u. Ihre von mir benutzten Bemerkungen. Sie werden ein Kapitel über die Naturwissenschaften1 erhalten haben, welches ich Sie durchzusehen freundlich ersuche, da Sie Ihre Bereitwilligkeit mir so edelmütig ausgesprochen haben. So weit ich bis jetzt bei so eingeschränkter Zeit in Ihrem Kant 2 gelesen, glaube ich daß Sie mit den Grundgedanken m[einer] Darstellung übereinstimmen werden. Dieselbe gehört dem Schluß der Darstellung der metaphysischen Epoche an. Haben Sie vielen Dank für die gütige Übersendung Ihrer Schriften. Wie werde ich mich erst freuen, wenn Sie mit dem ersten Bande Ihrer Geschichte der Atomistik 3 fertig sind. Sie würden mich verpflichten, gestattete Ihnen Ihre Zeit, bis zur Mitte der neuanbrechenden Woche die Durchsicht zu erledigen, da ich Ende der kommenden Woche verreisen will und vorher die Correcturen abgeschlossen haben möchte.

Mit herzlichem Gruße Wilhelm Dithey

 Berlin   Villa Rosenau Original: Hs.; FB Gotha, Chart. B 1962 a, Bl. 201–201 R. 1 Vgl. GS I, S. 359–373. 2 K. Laßwitz’ Buch Die Lehre Kants von der Idealität des Raumes und der Zeit erschien zwischen dem 17. und 24. Februar 1883. 3 K. Laßwitz: Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton. 2 Bde. Hamburg und Leipzig 1890.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

30

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

[600] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff 1   Hochverehrter Herr Geheime Rath,2

[Februar 1883]

Sie hatten die große Güte, weitere Bogen meiner in Druck befindlichen Arbeit zu wünschen. Gestatten Sie daß ich dieselben mit einigen Bemerkungen über den Zusammenhang begleite auf den sie berechnet sind? In der gegenwärtigen Wissenschaft stehen einander die abstrakten Theorien der Nationalökonomie des 18 Jahrh[underts], des Naturrechts u. der Politik dieser Zeit etc., auf der anderen Seite die historische Schule, die Anforderungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, ja ein tieferes Gefühl dieser Wirklichkeit gegenüber. Seitdem die Wirkungen der französ[ischen] Revolution erfahren wurden: dauert dieser Kampf. Die Aufgabe ist, die seitdem stattfindende Arbeit der positiv[en] Jurisprudenz, Politik, Theologie usw., welche die histor[ische] und gesellschaftliche Wirklichkeit geltend machte, endlich durch eine philosophische Grundlegung, welche ihr angemessen ist, zu rechtfertigen, einzuschränken und ihren Streit mit den abstrakten Theorien zu schlichten. Ich gehe von einem planen Grundgedanken aus.3 Alle Wissenschaft, alle Philosophie ist Erfahrungswissenschaft. Alle Erfahrung hat ihren Zusammenhang und ihre dadurch bedingte Geltung in dem Zusammenhang des menschlichen Bewus[s]tseins. Der Streit zwischen Idealismus und Realismus ist durch psychologische Analyse auflösbar; diese kann nachweisen: die in der Erfahrung gegebene Wirklichkeit ist nicht ein Phaenomen in meinem Vorstellen; sie ist vielmehr darum für mich als ein von mir selber unterschiedenes gegeben, weil ich nicht nur Vorstellen, sondern Wille, Gefühl bin. Wirklichkeit ist, was der Wille im Widerstand, im Druck der tastenden Hand usw. inne wird, und er wird dieser Wirklichkeit ganz ebenso inne als seiner selbst. Das Selbst und die Wirklichkeit sind daher in der Totalität des Seelenlebens eines in Beziehung auf das andere gegeben, und gleich unmittelbar und wahr gegeben. Und nicht ein Schluß auf Ursachen geht von Empfindungen auf Außendinge, sondern dem Willen ist ein Eindruck Außending da, wo er ist, da ist lebendige Wirklichkeit, und jener Annahme entgegen ist umgekehrt, weil Wille da ist, Vorstellung von Ursache da. Dieser lebendigen Erfahrung des uns Gegenüberstehenden, als des im Willen gegebenen Subjekts aller Prädikate der äußeren Wirklichkeit, ordnen sich die sinnlichen Eindrücke als Prädikate ein: jenes Subjekt der Natur ist unerkennbar dieser seiner Provenienz nach; diese Prädikate sind das Material der Naturerkenntniß, die daher nur descriptiv ist. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

31

Diese Theorie entwickle ich analytisch, indem ich die Hypothese zu Grunde lege: weder kann Gefühl u. Wille auf Vorstellen zurückgeführt werden etc., noch ist Vermögenstheorie (etwa in Lotze’s Art) durchführbar: Vorstellen, Wille, Fühlen sind in jedem status conscientiae enthalten und sind in jedem Augenblick des psychischen Lebens fortgehende Äußerungen desselben in seiner Wechselwirkung mit der Außenwelt. Gegenüber dem psychischen Atomismus der Empfindungslehre weise ich nach, daß jede Empfindung, jede Erinnerung den Eindruck, die Wahrnehmung, die Vorstellung aus dem Zusammenhang des psychischen Lebens herstellt (wie ich in: über d[ie] Ein­bildungskraft des Dichters4 schon in Grundzügen darlegte). Auf dieser Basis entsteht nun die Aufgabe: suche zu den Abstraktionen der bisherigen Erkenntnißtheorie, der als Vorstellungsthatsache behandelten Zeit, der Ursache etc. den zu Grunde liegenden psychologischen Thatbestand d. h. den in der Totalität des Seelenlebens, in welcher ursprünglich jede Erfahrung gegeben ist, enthaltenen. Nun scheint zu dieser in der inneren Erfahrung erfaßten Realität das Denken wie ein fremdes Hilfsmittel der Bearbeitung hinzuzutreten. Was wir inne werden ist als Thatsache des Bewußtseins wie wir seiner inne werden. Aber Ausdruck desselben u. Bearbeitung im Denken? Hier weise ich durch eine Analyse die hinter die logischen Formen zurückgeht nach, daß die Formen und Gesetze des logischen Denkens nur ein mittelbares Aneinanderhalten, Vergleichen, Unterscheiden, sowie am Faden der in innerem Erlebniß ge­ gebenen Vorstellungen von Wirken, Ding u.s[.]w. laufenden Beziehungen sind. Ihre Evidenz ist daher schließlich die des Innewerdens selber und alles Denken hat daher in letzter Instanz den Grund seines Überzeugungsgefühls im Erfahren. So erst gelangt die Erfahrungsphilosophie zu ihrem Abschluß. So ist die Grundlage geschaffen, auf welcher nunmehr die Frage behandelt werden kann: wie kann aus den Erfahrungen des geistigen Lebens Wissenschaft des Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte werden. Daß in der inneren Erfahrung und dem entsprechenden Verstehen Anderer Wirklichkeit, ja die einzige volle Realität die wir besitzen gegeben ist, bildet den ersten Teil der Erkenntnißtheorie der Geisteswissenschaften. Die Logik der Geisteswissenschaften macht den zweiten aus. Diese Darlegungen werden das dritte und vierte Buch meiner Arbeit bilden; sie enthalten den zuerst niedergeschriebenen Grundstock des Ganzen. Wie sie aber durch das Bedürfniß der Einzelwissenschaften und ihre geschichtliche Lage bedingt sind, so entwickle ich im ersten Buch an der Übersicht der Geisteswissenschaften, daß sie eine[r] Grundlegung bedarf und welchen Anforderungen eine solche genügen muß. Im zweiten Buche zeige ich dann: Metaphysik war einst eine solche Grundlage, ist es aber nicht mehr, zugleich aber © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

32

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

entwickle ich positiv die Natur desjenigen Zusammenhangs der Wissenschaften, welcher sich herausgebildet hat und in welchem die Geisteswissenschaften sich …5 stimmungen entwickelt, die nur Phänomene unsrer Sinnlichkeit sind. Ganz anders verhält es sich mit der geistigen Welt. Nehme ich aus dem Dar­gelegten den Satz auf, daß ich der Außenwelt gewiß sein darf, so kann das einem Schluß der Analogie äquivalente Verfahren, durch welches wir in ihr geistige Wesen setzen und verstehen, keinem Zweifel unterworfen werden. Die Thatsachen des Bewußtseins, welche diese geistige Welt ausmachen, sind wie sie uns gegeben sind. So geht uns in ihr volle und objektive Realität auf: hier sind uns die Einzelsubjekte, die Vorgänge, in denen sie aufeinander wirken, das Verhältniß ihrer Lebenseinheit zu ihren Eigenschaften und Thun etc. gegeben. So entsteht die Aufgabe: Suche zu allen Abstraktionen, welche in der Erkenntnißtheorie selber als Erbteil der Metaphysik zu Grunde gelegt werden – z. B. zu der Abstraktion Zeit –, die zu Grunde liegende psychologische, d. h. der Totalität des Seelenlebens angehörige Thatsache. Auch vermindert die denkende Bearbeitung dieses Materials die objektive Zuverlässigkeit der Sätze über geistiges Leben nicht. Indem die Analyse hinter die logischen Formen und Gesetze zurückgeht, findet sie: dieselben entstehen durch mannigfache Verwebung von Vergleichen, Unterscheiden etc., kurz Akten, welche auf ein Innewerden[,] ein Aneinanderhalten von Thatsachen des Bewußtseins zurückgehen; Nothwendigkeit ist nur das Gefühl von Zwang, das aus dem mittelbaren Aneinanderhalten etc. entspringt; die Vorstellungen, welche in diese einfachen Akte von Aneinanderhalten, Unterscheiden etc. eintreten und die Arten der Urtheile und Schlüsse bedingen, sind uns ebenfalls in der inneren Erfahrung gegeben. Ich kann diese schwierigste, aber wichtigste Untersuchung über Denkformen und Denkgesetze nur rücksichtlich ihres Ergebnisses andeuten: alle Evidenz des logischen Denkens ist schließlich die des Innewerdens selber; das logische Denken hat schließlich, in letzter Instanz den Grund seines Überzeugungsgefühls ebenfalls – im Erfahren. Und die Kategorien deren es sich bedient sind innerhalb der Geisteswissenschaften Ausdruck realer, im geistigen Leben gegebener Thatsachen. Auf dem Grunde einer diesen Standpunkt entwickelnden, auf Psychologie basierten Erkenntnißtheorie der Geisteswissenschaften erhebt sich dann eine Logik der Geisteswissenschaften, deren letztes Ziel ist, auf die Schlichtung des Streites zwischen den abstrakten Theorien und der historischen Anschauung, zwischen dem Bewußtsein unserer Freiheit und Causalzusammenhang sowie Gleichförmigkeit im geschichtlichen Verlauf hinzuwirken. Auf diese Andeutung meines Grundgedankens muß ich mich beschränken, da von ihm aus vielleicht der Anfang des zweiten Buches eher in seiner Ab© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

33

sicht faßbar wird. Die Anordnung die sich aus ihm ergab ist: das erste Buch läßt die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit gewahr werden, die Gegenstand der Geisteswissenschaften ist und erweist die Nothwendigkeit einer allgemeinen Grundlegung; das zweite Buch entwickelt geschichtlich, wie die Metaphysik lange Zeiträume hindurch die Funktion einer solchen Grundlegung gehabt hat, wie aber der Fortgang der Geschichte der Wissenschaften almälig einen freieren Zusammenhang der Wissenschaften auf erkenntnißtheoretischer Grundlage herausgebildet hat. Alsdann entwickeln positiv das dritte Buch die Erkenntnißtheorie der Geisteswissenschaften das vierte ihre Logik. Das zweite Buch hat also in dem Zusammenhang meiner Gedanken eine Aufgabe, welche ich etwa mit der Stellung der Phänomenologie Hegels in dessen System vergleichen könnte. Es geht dem Zusammenhang gemäß von der Totalität des Seelenlebens aus und zeigt, wie durch einen Vorgang fortschreitender Differenzierung und technischer Ausbildung innerhalb desselben der Zweckzusammenhang der Wissenschaften6 sich absonderte. Seine Eigen­ thümlichkeit liegt in der Darlegung der historischen Beziehungen zwischen dem Seelenleben, den Einzelwissenschaften und dem Schicksal der Meta­ physik. Sein Ziel liegt in der Einsicht: an die Stelle der subjektiven, in Einem inneren Zusammenhang alle Erscheinungen verknüpfenden Einheit der Metaphysik ist durch den Differenzierungsproceß des geistigen Lebens selber (nicht blos durch die negative bisherige Arbeit der Erkenntnißheorie)  eine größere innere Freiheit der Theile des intellektuellen Lebens gegeneinander getreten. Eine gesunde Selbständigkeit der Faktoren unsres intellektuellen Lebens, des religiösen Glaubens, der Naturwissenschaften, der Geisteswissenschaften7 und der erkentniß. … [Briefschluss fehlt.] Original: Hs.; unvollständiger Briefentwurf; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 227, Bl.  110–114; beigelegt ist eine handschriftliche Abschrift des Briefentwurfs von fremder Hand (pag. 1–16 und 1–3); vgl. Erstdruck in: GS XIX , S. 389–392. 1 Friedrich Theodor Althoff (1839–1908): preuß. Kulturpolitiker; 1871 Justiziar und Referent für Kirchen- und Schulangelegenheiten in Straßburg, 10. Oktober 1882 Geheimer Regierungs- und Vortragender Rat und Personaldezernent für die Universitäten im Ministerium der Geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten, 1891 a. o. Prof. in Bonn, 1896 Honorarprof. in Berlin, 1897 Ministerialdirektor und Leiter des Unterrichtsund Hochschulwesens. 2 Im Original darüber die Notiz: „Abgeschrieben. Gr[oethuysen]“. 3 Im Original von D. darüber geschrieben: „Stelle die Sätze, in denen mein Grundgedanke sich darstellt, unvermittelt nebeneinander.“ 4 D.: Ueber die Einbildungskraft der Dichter, in: Zf V 10 (1878), S. 42–104; WA in: GS XXV, S. 125–169. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

34

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

5 Trotz durchgehender Nachlass-Paginierung fehlt das nachfolgende Blatt sowohl im Original als auch in der Abschrift. – Bl. 114 des Originals, ebenfalls mit „…stimmungen“ wie Bl. 112 beginnend, hat nachfolgenden hiervon leicht abweichenden Inhalt: „stimmungen entwickelt, die nur Phänomene unserer Sinnlichkeit sind. Ganz anders verhält es sich mit der geistigen Welt. Nehme ich aus dem Dargelegten den Satz auf, daß die Außenwelt als Realität gegeben ist, so kann das einem Schluß der Analogie äquivalente Verfahren, durch welches wir in ihr geistige Wesen setzen und verstehen, keinem Zweifel unterworfen werden. Hier sind uns also die Einzelsubjekte, die Vorgänge, in welchen sie aufeinander wirken, das Verhältniß ihrer Lebenseinheiten zu ihrem Thun und ihre Eigenschaften etc. gegeben wie sie sind. Es gilt nur, überall den Abstraktionen, die die Wissenschaft occu­ piert haben z. B. der abstrakten Vorstellung von Zeit, die zu Grunde liegende psychologische d. h. der Totalität des Seelenlebens angehörige Thatsache zu finden. Auch verändert die denkende Bearbeitung des Materials die objektive Zuverlässigkeit der Sätze über geistiges Leben nicht. Die psychologische Analyse der logischen Formen, Gesetze und Kategorien, welche den schwierigsten Theil meiner Arbeit ausmacht, deute ich nur nach dem Ergebniß an: alle Evidenz des logischen Denkens ist schließlich, in letzer Instanz nur eine complicirtere Form von Innewerden, Erfahren: bald ein einfaches Innewerden, welches Gleichheit, Verschiedenheit[,] Ähnlichkeit von Thatsachen des Bewußtseins erfährt, bald wo …“. 6 Im Erstdruck fehlt: „der Wissenschaften“. 7 Im Erstdruck fehlt: „der Geisteswissenschaften“.

[601] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [Ende Februar 1883]1   Lieber Freund, Zu den treuesten Wünschen zu Ihrem Geburtstag,2 die Gesundheit, Glück in der Familie und heitere fruchtbare Arbeit umfassen, hoffte ich diesmal doch gewiß das Buch, das Ihnen gehört, als Geburtstagsgabe legen zu können. Aber eine Laune boshafter mich umgebender Kobolde, deren Tücke sich daran zu ergötzen scheint, mir seit Jahr und Tag das Leben schwer zu machen, hat es anders gewollt. Eine kleine Verletzung am Knie ist schlimm geworden, mühsam schleppe ich mich in meine Vorlesungen, und da ich so von aller Bewegung wie vom Gebrauch der Bücher abgeschnitten bin, stocken die Correkturen. Mir ist jetzt manchmal, als existire eine geheime Verschwörung in der Natur, ich solle meines Lebens nicht mehr froh werden. Jedenfalls muß ich mich der Gewalt fügen, die mir versagt, Ihnen heute das Geburtstagsgeschenk zu schicken, das ich mit so großer Freude für Sie eingepackt haben würde. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

35

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

Ich corrigire am 31. Bogen und letzten Capitel; ich vermuthe es werden 33 werden. Ganz fertig ist aber erst Bogen 23. Die Vorrede zu beendigen fehlt mir die Stimmung. So ist denn auch noch nicht zu sagen, wann ich reisefertig sein werde. Aber ich höre ja, Sie werden in wenigen Tagen hierher kommen, und dann werden wir ja sehen, wie mir zu Muthe ist. Jetzt ist mein Schwager Usener hier, doch habe ich unter diesen Umständen natürlich weniger von ihm als sonst sein würde. … Möchten wir bald unter diesen ausgesucht nichtsnutzigen Winter einen Strich machen, umschlagen und ein neues Blatt des Lebens anfangen können. Der Aufsatz Treitschkes3 in den preuß[ischen] Jahrbüchern zeigt doch, daß er auf diesem Gebiet nicht zu Hause ist, ähnlich wie seiner Zeit der über die soziale Frage. Die Debatten im Abgeordnetenhaus über Darwinismus etc. sind eine Schande für die Nation. – In der Philosophie kommt mir nichts Neues zur Hand; endlich scheint hier doch die eilfertige Produktion ins Stocken gerathen zu sein. – Der Streit zwischen Zeller und Brentano geht immer weiter, Brentano will sich nochmals ausführlich vernehmen lassen, Zeller ist nun in der Berliner Literatur-Zeitung auch recht persönlich geworden.4 Ich fühle wieder lebhaft, daß man in der Polemik alles Persönliche durchaus zu Boden fallen lassen muß.

W. Dilthey5

Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 25. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 Paul Yorck von Wartenburg hatte am 1. März Geburtstag. 3 Vermutlich ist einer dieser beiden Aufsätze H.  von Treitschkes gemeint: Zur Geschichte der deutschen Romantik, in: PJ 49 (1882), S. 34–79 oder: E. M. Arndt und Wrede, in: ebd., S. 320–324. 4 Gemeint ist der Streit zwischen Eduard Zeller und Franz Brentano über den Kreatianismus resp. die Präformation des νοῦς bei Aristoteles. 1882 veröffentlichte Brentano Ueber den Creatianismus des Aristoteles, in: SB der philos.-histor. Classe der kaiserl. österr. AdW 100. Wien 1882, S. 95–127. Im selben Jahre erschien Zellers Gegenschrift Ueber die Lehre des Aristoteles von der Ewigkeit des Geistes, in: SB der königl. preuß. AdW. Berlin 1882, S. 1033–1055; WA in: Kleine Schriften. Bd. I. Berlin 1910, S. 263–290. 1883 antwortete Brentano darauf in einem offenen Brief: Die Einwände von Eduard Zeller und ihre durchgängige Widerlegung. Zellers Antwort erfolgte in der Deutschen Litteratur-Zeitung vom 17. Februar 1883. Nr. 7, Sp. 228 f. Beide Abhandlungen hat Brentano in dem Buch zusammengefasst: Aristoteles’ Lehre vom Ursprung des menschlichen Geistes. Leipzig 1911. 5 Die Unterschrift wurde aus der 1.  Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ­ergänzt. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

36

Dilthey an den Verlag Duncker & Humblot Dilthey an den Verlag Duncker & Humblot

[602] Dilthey an den Verlag Duncker & Humblot1   Verehrter Herr,

[Anfang März 1883]

Hier 1. der Titel. 2. Die auf Eine Seite zu druckende Widmung sammt Widmungsworten.2 3. Die Inhaltsanzeige soweit die Aushängebogen reichen. Ich bitte nun von Jemandem in der Druckerei der Geschmack hat die ­Lettern für diese Sachen bestimmen zu lassen. Wo es zweifelhaft ist bitte ich um die Proben des Verschiedenen. Den Titel wünsche ich recht einfach und doch geschmackvoll aussehend. Die Inhaltsanzeige soll recht übersichtlich und deutlich in die Augen fallen, also ja nicht zu sehr zusammengedrängt, sondern behaglich und elegant. Wo innerhalb der einzelnen Nummern oder Capitel noch besondere Inhalts­ angaben auftreten bitte ich diese etwas zurückzurücken, aber nicht kleinere Lettern zu nehmen. Ich habe die Stellen durch Blaustift bezeichnet. Bitte baldthunlichst Proben des Satzes von diesem Allem3 in Angriff zu nehmen, da das Typographische doch etwas überlegt sein will. Von der Inhaltsangabe zuerst Eine Seite als Probe, damit man sieht, wie es sich macht. Die Größe der Lettern[:] diese wollen Sie einfach nach Eindruck von Eleganz und klarer Übersicht wählen. Da ich m[eine] Vorlesungen geschlossen habe, kann ich nun ganz dem Abschluß der Correktur leben, und wenn Sie denn dieselbe beschleunigen können, so soll es an mir nicht fehlen. Hauptsache daß die Kapitel Bogen 27. 28. 29. 30 in der Korrektur mir baldmöglichst zu gehen, ebenso Prof. Gierke4 u. Dr. Laßwitz.

Ganz ergebenst Prof. W. Dilthey

Bitte auf die Corr[ektur] eine Notiz daß Vorrede Widm[ung] etc. richtig angelangt. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 226, Bl. 106–108. 1 Der Verlag Duncker & Humblot in Leipzig, von dem D.s Einleitung in die Geisteswissenschaften verlegt wurde. 2 D. widmete sein Buch Graf Paul Yorck von Wartenburg. 3 Im Orginal folgt: „zu“ sowie zwei durchgestrichene Wörter. 4 D. war seit seinen Breslauer Jahren mit dem Juristen Otto Gierke (1841–1921) befreundet. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

37

[603] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Kl[ein-]Oels 7. 3. [18]83.   Lieber Freund. Nur mit wenigen eiligen Worten kann ich heute Ihren freundschaft­lichen Brief dankend beantworten,1 und zwar neben dem Danke mit den besten Wünschen für Ihr Befinden. … Sie beide wissen, daß ich aufrichtig Theil nehme an Ihrer, ins besondere Ihrer Frau schweren Sorge und der religiös verklärten Betrübniß. Dem nachdenklichen Herzen erscheint in solchem Falle das Leben ein Impediment,2 wie der lebendige d. h. transzendente Christenglaube es ansah und ansehen muß.3 Daß ich dem Glanze der Berliner Festlichkeiten fern geblieben bin, haben Sie bemerkt. Die Schwere und Wahrheit des Lebens ist so interessant, daß ich für das Spiel keine Teilnahme erübrigen kann. Überdem ist der Hintergrund dunkel, von dem jene Festzüge sich abheben. Klarer, königlicher Wille des Regiments thut der Welt noth. Regieren ist wie Leben untheilbar. Ja oder nein – ein Drittes ist nicht gegeben. Heraus aus den Abstraktionen, aus dem abstrakten Staate, aus der mathematischen Freiheits- und Sozietätslehre, in der so weit ich sehe auch die Wissenschaft noch steckt! Auch die moderne Nationaloekonomik oder Sozietätslehre oder wie sie sich nennen mag, diese s. g. Wissenschaft, eine Verbindung von methodisch schwankender Art – auch hier der Spuk von Deduktion und Induktion – eine Verbindung von disparaten Elementen. Letzthin las ich eine Kritik, welche Wagner übt an einer Kritik Schmollers des Schönbergschen Sammelwerks.4 Die gegenseitigen Ausstellungen scheinen mir richtig, aber nicht die gegenseitigen Behauptungen. ­Schmoller in der psychologischen Intention tiefer aber es scheint mir in Ermangelung erkenntnißtheoretischer Einsicht bei der Intention zu bleiben und mangelnde Systematik läßt nur historische Forschung übrig. Klarer im Wollen, aber auf dem Boden der Leidenschaft, nicht der Erkenntniß, Wagner. Warum gab er nicht die Grenze der Verstaatlichung innerhalb des oekonomischen Lebens an? Weil er kommunistisch beeinflußt ist. Es fehlt an Erkenntniß des ethischen Faktors, der immer persönlichen Ursprungs ist. Eigenthum ist keine rechtliche und keine oekonomische Kategorie, sondern vorrechtlich, voroekonomisch. Wer das leugnet, steht bewußt oder unbewußt innerhalb der Bewegung der sozialen Revolution. Mensch und Gut  – in oekonomischem Sinne, stehen nicht einander gegenüber, sondern eines ist an und mit dem Anderen. Die von Wagner nicht angegebene Grenze der Verstaatlichung ist © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

38

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

aber leicht zu bestimmen. Wo nicht wie bei den Domänen historisch-politisch begründet, darf keine primäre Güterquelle der Einzelproduktivität entzogen werden. Das ergiebt sich auch von der anderen Seite her, wenn man kritisch ansieht, was ‚Staat‘ ist. Doch darauf lasse ich mich heute nicht ein. Dagegen kann und soll ausschließlich nach Rücksichten der Zweckmäßigkeit ‚verstaatlicht‘ werden innerhalb des Gebietes der Gütervermittelung. So erleben wir hoffentlich noch die Verstaatlichung der Börse. – Wagner ist wirksamer durch sein Temperament. Aber mit Vorsicht ist er zu benutzen. Doch haben die Conservativen einen Todtengräber unter sich, das ist Stöcker.5 Schmoller dagegen mit seinen historischen Untersuchungen z. B. den von ihm beeinflußten über die Genesis der jetzigen Rittergüter kommt mir vor, wie jemand, der es unternimmt an einem von dem Brand ergriffenen Fuße ein Hühnerauge zu ­operiren. Auch historische Untersuchungen über gewerbliche Zustände bei ganz anderen technischen und Communikations-Verhältnissen haben im Wesentlichen nur historischen Werth, also keinen, wo es brennt. Gerade den Bogen Ihres Buches, wo Demokrit, besitze ich nicht. Ich weiß daher nicht, ob Sie die interessante Stelle Pseudo-Plutarch de plac. philos. I. XXIII6: περὶ κινήσεως angezogen haben. … Denken Sie an das Frühjahr und Oels. Yorck.7 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 26. 1 Nicht überliefert. 2 Gepäck, hier im Sinne von: Last. 3 Die Hg. von BDY kommentiert: „Yorck spricht seine Teilnahme aus zur tötlichen Erkrankung von Frau Diltheys Schwester.“ 4 Adolph Wagner (1835–1917): Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler; 1858 Lehrer der Nationalökonomie an der Handelsakademie in Wien, 1865 o. Prof. in Dorpat, 1868 in Freiburg, 1870 in Berlin, Mitglied im 1872 gegründeten Verein für Socialpolitik, dem auch der Nationalökonom Gustav von Schmoller (1838–1917) angehörte, 1877 Austritt aus dem Verein. – Gustav Friedrich von Schönberg (1839–1908): Nationalökonom; 1867 Dozent für Nationalökonomie am preuß. landwirtschaftlichen Instituts in Proskau, 1868 o. Prof. für Nationalökonomie in Basel, 1870 in Freiburg, 1872 in Tübingen. – G. F. von Schönberg (Hg.): Handbuch der politischen Oekonomie in Verbindung mit (21) verschiedenen Gelehrten und Practikern. 2 Bde. Tübingen 1882. – A. Wagner: Besprechung, in: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft 39 (1883), S. 258–272. – G. von Schmoller: Rezension von G. Schönberg, Handbuch der politischen Oekonomie (Tübingen 1882), in: Schmoller’s Jahrbuch 6 (1882), S. 1379–1386. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an den Verlag Reimer Dilthey an den Verlag Reimer 

39

5 Adolf Stoecker (1835–1909): ev. Theologe und Politiker; 1863 Pfarrer in der Altmark und in Magdeburg, 1871 Divisionspfarrer in Metz, 1877 Leiter der Berliner Stadtmission, 1884–1890 Hof- und Domprediger; Mitbegründer der Christlich-Sozialen Partei, ­1879–1898 Abgeordneter im preuß. Abgeordnetenhaus, 1881–1893 und 1898–1908 Mitglied des Deutschen Reichtags. 6 Vgl. Pseudo-Plutarch: Placita philosophorum oder De placitis philosophorum I, 23 (z. B. in: J. Mau: Plutarchi moralia. Bd. 5, Fasz. 2, Teil 1. Leipzig 1971, S. 50–153); von D. mit Parallelstellen zitiert im 3. Kap. des 2. Buchs seiner Einleitung (GS I, S. 171, Anm. 2). 7 Die Unterschrift wurde aus der 1. Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY e­ rgänzt.

[604] Dilthey an den Verlag Reimer [März 1883] Ich bemerke daß das Buch als erster Band einer Einleitung in das Stud[ium] der Geisteswissenschaften erscheint, daß ich aber mit dem Herrn Ver­leger verabredet habe, daß ich, nach Publikation dieser ‚Grundlegung‘ zuerst meiner Verpflichtung gegen Sie nachkomme, nach Erscheinen des ganzen Schleierm[acher] dann erst den zweiten Band fertig mache.1 Original: Hs.; StB PK Berlin, HA . 16. Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 71. 1 D. stellte weder den 2.  Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften noch den 2. Band des Leben Schleiermachers fertig.

[605] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff   Hochverehrter Herr Geheime Rath, Ihre Anfrage über Herrn Professor Wundt beehre ich mich im Folgenden zu beantworten. Wilhelm Wundt ist noch in Heidelberg als Dozent der Physiologie thätig gewesen und las daneben Psychologie. Seine ersten philosophischen Arbeiten waren die Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung und seine Vorlesungen über Menschen- und Thierseele. Als Professor der Philosophie nach Zürich und dann nach Leipzig berufen, veröffentlichte er sein Hauptwerk: Grundzüge der physiologischen Psychologie (erste Ausg[abe] 1874; zweite 1880).1 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

40

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

Diese letztere Schrift sucht die Ergebnisse von Arbeiten, welche zu den glänzendsten der gegenwärtigen deutschen Wissenschaft gehören und deren wichtigste von Weber, Fechner,2 Helmholtz3 u. a. gemacht sind, in einen systematischen Zusammenhang zu bringen. Die Psychologie betrachtet den Menschen gleichsam von innen, vermittelst der inneren Wahrnehmung. Die Physiologie giebt von den Lebenserscheinungen, welche sich durch unsere äußeren Sinne wahrnehmen lassen, Aufschluß. Was hier physiologische Psychologie genannt wird, geht von den Vorgängen aus, die wir zugleich durch äußere und durch innere Beobachtung studiren können. Sie verknüpft physiologische und psychologische Betrachtung und sucht vor Allem von den Beziehungen zwischen körperlichen und geistigen Vorgängen eine Vorstellung zu bilden. Das Buch von Wundt vereint daher was über Sinnes­wahrnehmung Weber, Fechner und Helmholtz gegenüber den Jüngeren neben Elias Müller,4 Hering5 u. a. Wundt selbst gearbeitet haben; dazu fügt es die Ergebnisse von Meynert,6 Goltz7 u. a. über Anatomie und Leistungen des Gehirns und Nervensystems. Unter den eigenen Forschungen Wundt’s, die es enthält, sind seine Versuche für Zeitmessung von Eindrücken und Vorstellungen sowie Einiges über die Entstehung von Wahrnehmungen hervorzuheben. Eine solche Schrift war gewagt, da sie in Fluß begriffene Untersuchungen von sehr jungem Datum fixiren und nicht selten aus sehr unzureichenden Vorarbeiten schließen mußte. Aber indem sie Arbeiten, die uns Deutschen eigen sind, bündig verknüpfte, hat sie ihren Verfasser unter den Gelehrten in ganz Europa bekannt gemacht. 1880 ist weiter der erste Band einer Logik erschienen.8 Sie hat die englischen Arbeiten von Boole und Jevons9 zu verwerthen versucht und die Thatsachen der Sprachwissenschaft in weiterem Umfang als bisher üblich war benutzt. Im Ganzen macht sich fühlbar, daß W[undt] hier das ihm eigene Gebiet verläßt. Es liegt in der Natur dieser Arbeiten, daß der eigene philosophische Standpunkt Wundt’s in ihnen mehr zurücktritt. Vergleicht man die Vorles[ungen] ü[ber] Menschen- u. Thier-Seele mit der zweiten Ausgabe der physiol[ogischen] Psychologie, so ist unbestreitbar, daß materia­listische Neigungen bei W[undt] immer mehr zurücktreten und einem anderen Standpunkt Platz gemacht haben. Die zweite Aufl[age] enthält II S. 442 ff. eine klare und bündige Widerlegung des Materialismus.10 Da nun aber W[undt] davon ausgeht, daß den psychischen Vorgängen durchweg körperliche entsprechen, hat er sich über den Materialismus dadurch erhoben, daß er in den geistigen Vorgängen allein Wirklichkeit sieht, den Körper aber nur als Phänomen eines Geistigen betrachtet. (II, 451 ff. 463 f. vergl. Logik I, 461 ff.).11 Berlin d[en] 29 März [18]83.

Ganz ergebenst W. Dilthey

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Friedrich Paulsen Dilthey an Friedrich Paulsen

41

Original: Hs.; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, B Nr. 29 Bd. 2, Bl. 109–110 R. 1 W. Wundt: Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehumg. Leipzig 1862; Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele. 2 Bde. Leipzig 1863; Grundzüge der physiologischen Psychologie. Leipzig 1874, 2. Aufl. Leipzig 1880. 2 Der Physiologe und Anatom Ernst Heinrich Weber (1795–1878) und der Physiker und Physiologe Gustav Theodor Fechner (1801–1887). 3 Der Physiologe und Physiker Hermann von Helmholtz (1821–1894). 4 Georg Elias Müller (1850–1934): Philosoph und Psychologe; 1881 o. Prof. für Philosophie in Göttingen (Nachfolge R. H.  Lotze), Gründung des Göttinger Psychologischen Instituts, 1904 Gründung der Gesellschaft für experimentelle Psychologie. 5 Ewald Hering (1834–1918): Physiologe und Hirnforscher; 1870–1895 o. Prof. in Prag. 6 Theodor Meynert (1833–1892): österr. Psychiater; 1865 Habilitation, Arzt an der psychiatrischen Klinik in Wien, 1870 a. o. Prof. für Psychiatrie, 1873 o. Prof. in Wien. 7 Friedrich Leopold Goltz (1834–1902): Physiologe; 1858 Promotion, 1862 Habilitation, 1865 o. Prof. in Königsberg, 1870 in Halle, 1872 in Straßburg. 8 W. Wundt: Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntniss und der Methoden wissenschaftlicher Forschung. Bd. 1: Erkenntnisslehre. Stuttgart 1880. 9 George Boole (1815–1864): engl. Mathematiker und Logiker; 1848 o. Prof. am Queens College in Cork (Irland); Begründer der modernen mathematischen Logik. – The Mathematical Analysis of Logic: Being an Essay Towards a Calculus of Deductive Reason­ ing. Cambridge 1847.  – William Stanley Jevons (1835–1882): engl. Ökonom und Logiker; 1866–1876 Prof. der Nationalökonomie in Manchester, 1876–1881 in London. – Pure Logic or the Logic of Quality apart from Quantity. London 1864; The Substitution of ­Similars. London 1869; The Principles of Science. London 1873. 10 W. Wundt: Grundzüge der physiologischen Psychologie. 2 Bde., 2. völlig umgearb. Aufl. Leipzig 1880. Bd. 2, S. 442–444. 11 Ebd., S. 451–454, 463 f. – Ders.: Logik. Bd. 1. Stuttgart 1880, S. 461–464.

[606] Dilthey an Friedrich Paulsen Abs[ender] Prof. Dilthey bei Grafen York von Wartenburg auf Klein-Oels bei Ohlau (Schlesien) Sehr geehrter Herr Kollege,

13 April [18]83

Da ich erst zum Beginn der Vorlesungen in Berlin eintreffe, können wir über die Einrichtung der gemeinsamen Thätigkeit in der Prüfungskommission erst © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

42

Dilthey an Gustav Adolf Klix Dilthey an Gustav Adolf Klix

dann uns besprechen. Auch scheint mir die Schwierigkeit1 in der Theilung mit Rücksicht auf die Arbeiten zu liegen. So lange von Ihnen beurtheilte Arbeiten vorliegen, ist ja das einfachste, Sie examinieren an dem Einen, ich an dem anderen Wochentermin, wodurch wir uns Zeitverschwendung ersparen. Im Weiteren glaube [ich] allerdings, daß das Angemessenste wäre, die einlaufenden Arbeiten u. Meldungen zu Themata werden so getheilt, daß der die Arbeit Causirende auch examinirt, später der das Thema gegeben auch causirt. Denn da man nicht nur das im Schlußurtheil Angegebene verwerthet bei dem neuerlichen Examen, müßte sonst jeder von beiden die Arbeit ansehen, was jetzt nur für den Anfang erforderlich ist. Doch das sind spätere Sorgen, vorläufig werden Sie sicher wie ich einen einfachen Wechsel Termin um Termin als das Rathsamste betrachten. Dem entsprechend schreibe ich gleichzeitig, wie ich Ihnen diesen Vorschlag mache, die Mittheilung über denselben an E[xzellen]z Geh[eimen] Reg[ierungs]rath Klix 2 u bitte Sie freundlich, Einstimmung und Einsprache ihm u. mir mit einer Zeile mittheilen zu wollen. Sollte ein Termin vor dem 28 April angesetzt werden, so werde ich Sie im Fall der Einstimmung ergebenst ersuchen, mit diesem den Turnus zu beginnen, andrenfalls wäre ich im Turnus anzufangen bereit. Ergebenst mit best[er] Empfehlung Dilthey Original: Hs.; UAHU Berlin, NL Friedrich Paulsen, Briefwechsel, Dilthey, Brief vom 13. April 1883. 1 Im Original folgt noch einmal: „mir“. 2 Gustav Adolf Klix (1822–1894): Philologe und Theologe; 1847 Promotion, 1852 Lehrer, 1867 Provinzschulrat in Berlin, 1878 Verleihung des Titels Geheimer Regierungsrat.

[607] Dilthey an Gustav Adolf Klix   Hochverehrter Herr Geheime Rath, Indem ich für Ihre gütigen Mittheilungen1 meinen ergebensten Dank sage und mit Ihrer Auffassung der zu treffenden Einrichtung nach einem Turnus Woche um Woche mich nur ganz einverstanden erklären kann, erlaube ich © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

43

mir nur hinzuzufügen, daß es mir sehr unlieb sein würde, mit einer Abweichung von diesem wöchentlichen Turnus gleich anzufangen, und da ich Donnerstag den 26sten ja spätestens zurückkehren werde, bitte ich ergebenst, den zweiten Termin, 30sten April u. 1ten Mai die Prüfung mir übertragen zu wollen. Falls H[er]r Prof. Paulssen die betreff[enden] Arbeiten schon zur Korrektur erhalten hat, steht ja auch dies nicht im Wege. Sollte er sie noch nicht erhalten haben, so bitte ich sie nur mir zusenden lassen zu wollen. Sie werden dann Montag früh in Ihren Händen sein. Mit nochmaligem ergebensten Dank in der angenehmen Hoffnung Sie bald persönlich kennen zu lernen mit vorzüglicher Hochachtung Ihr ganz ergebenster W. Dilthey d[en] 18 April 1883 Kl[ein] Oels Original: Hs.; UAHU Berlin, NL Friedrich Paulsen, Briefwechsel, Dilthey, Brief vom 18. April 1883. 1 Nicht überliefert.

[608] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [Anfang Mai 1883]1 Endlich, mein lieber Freund, die Exemplare,2 und nachdem sie da und in dieser Menschenwüste ein Buchbinder gefunden, kann ich Ihnen heute das Buch schicken, das Ihnen gehört, wie außer mir keinem andren Menschen auf der Welt. Es ist eine Stufe in dem Gang zur Wahrheit, auf dem wir beide begriffen sind. Die nächste muß Ihr ‚Griechenthum‘ sein. Mit dem was in diesem Bande noch mehr Postulat ist, muß es Ernst machen. Bin von Vorlesungen und Geschäften zerrissen. Befinden besser, bei uns beiden. Die Tage hier draußen im Freien wunderschön. Nächstens ein Brief. Heut nur dies zum Geleit der Sendung und von Haus zu Haus die besten Grüße und Empfehlungen. Treulichst Ihr Dilthey. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

44

Christoph Sigwart an Dilthey Christoph Sigwart an Dilthey

Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 27. 1 In BDY: „[Mai 1883.]“. 2 D.s Einleitung in die Geisteswissenschaften war gerade ausgeliefert worden.

[609] Christoph Sigwart an Dilthey Tübingen, 7. Mai 1883 Verehrtester Freund Schon lange habe ich eine Art von bösem Gewissen daß ich nicht dazu ge­ kommen bin Ihnen zum Einstand in Ihren neuen Wohnsitz wenigstens einen kurzen Gruß zu schicken; aber Sie kennen ja schon meine Saumseligkeit, und letzten Herbst war ich durch die mislungene Excursion in die Schweiz und den Verdruß über einen heillosen Husten der mich wochenlang Tag und Nacht plagte so wenig zu irgend etwas aufgelegt, daß ich mich schließlich aufs bloße Vegetieren verlegte. Daß Sie nun Ihr erstes Semester auch mit solchen nichtswürdigen Störungen, die jedenfalls einen Philosophen in Ruhe lassen sollten, zu kämpfen hatten, thut mir herzlich leid zu hören; gut, daß ich zugleich erfahre, daß das Acclimatisationsfieber überwunden ist. Ich habe unwillkürlich denken müssen, wie es denn vollends mir gegangen wäre mit der Unzuverlässigkeit meines Apparats. – Sie werden damit leicht fertig, zumal nachdem nun der Band glücklich heraus ist, zu dessen Vollendung ich herzlich gratuliere und für den ich bestens danke. Ich freue mich, mich gleich in denselben vertiefen zu können – ich hatte eben für meine Vorlesung Ihre ersten Bogen noch einmal durchgelesen – und behalte mir vor Ihnen dann ausführlich zu schreiben – ich habe nur einen flüchtigen Blick in seinen Reichthum gethan, ehe er zum Buchbinder wanderte, da ich in den nächsten Tagen doch keine Zeit fände ihn ordentlich zu lesen. Ich habe mich für den schlechten Herbst durch eine Reise nach Italien einstweilen bis Florenz – während der Osterferien entschädigt, mit Frau und Tochter, und viel und herrlichen Genuß davon gehabt, muß aber jetzt dafür allerlei Retardate1 aufarbeiten, die weniger erfreulich sind als Sonnenschein an der Riviera und die Herrlichkeiten der Ufficien; und dabei verdrießt es mich immer, daß äußere Unterbrechungen oder Mangel an anhaltender Arbeitsfähigkeit mir erschweren etwas Zusammenhängendes durchzuarbeiten und wenigstens für mich fertig zu machen. Einen Nothbehelf aus einer Zeit letzten Winter, wo es mit dem Philosophieren nicht gehen © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Christoph Sigwart an Dilthey Christoph Sigwart an Dilthey

45

wollte, werden Sie in kurzem erhalten – ich habe mir einmal meinen Vorgänger Jacob Reiff2 näher angesehen und eine kleine biographische Skizze daraus gemacht.3 Die Aussicht die Sie eröffnen, daß wir uns nächsten Herbst sehen ist ein höchst willkommener Trost für die unvermeidliche Langeweile des Semesters; ich werde mein Möglichstes thun, nicht wieder in solche verkehrte ἕξεις und καχεξία 4 zu gerathen, wie das letztemal. Vorläufig habe ich noch gar an nichts gedacht als Luft irgendwo zu schöpfen, und es wird sich ja wohl ein Feldzugsplan machen lassen. Das beste wäre, Sie holten mich ab, denn Sie sind jedenfalls so glücklich 14 Tage vor mir frei zu werden. Sie sollten sich doch einmal Tübingen genauer ansehen, und nach der Schweiz wenigstens führt ja der nächste Weg durch den berühmten Schnellzug Berlin – Stuttgart – Zürich – ich kann leider nicht sagen über hier, denn wir sind neuestens auf die Seite geschoben aber wenigstens hart an Tübingen vorbei. Es würde Sie jedenfalls interessieren Rümelin5 kennen zu lernen, der sich auch gleich hinter Ihr Opus setzen will. Nun meine besten Wünsche, daß Ihnen der Berliner Sommer recht gut bekomme und Ihnen alle etwaigen Reste von Skrupeln in die Gewißheit auflöse, daß Sie dahin gehören. In treuer Freundschaft Ihr C. Sigwart Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 k, unpaginiert. 1 Rückstände. 2 Jakob Friedrich Reiff (1810–1879): Philosoph; 1844 a. o., 1855 o. Prof. in Tübingen. 3 Ch. Sigwart: Zur Erinnerung an J. Fr. von Reiff. Tübingen 1879. 4 ἕξις = Verhalten; καχεξία = schlechter Zustand. 5 Christian Heinrich Wilhelm Gustav von Rümelin (1815–1889): Theologe, Pädagoge und Statistiker; 1837 Promotion in Tübingen, 1841 theol. Examen, 1843 Professoratsexamen, 1845 Lehrer und Gymnasialprofessor, 1852 Ministerialrat, 1856 Wirklicher Staatsrat im Kultusministerium, 1861 Leiter des königl.-württemberg. Statistisch-Topographischen Bureaus, 1867 Prof. für Statistik und vergleichende Staatenkunde in Tübingen; ­Rümelin war der Schwager Gustav von Schmollers. – Rümelins Sohn, Max Friedrich Gustav ­(1861–1931), war ein Hörer Sigwarts.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

46

Verlag Duncker & Humblot an Dilthey Verlag Duncker & Humblot an Dilthey

[610] Verlag Duncker & Humblot an Dilthey Herrn Prof. Dr. W. Dilthey. Berlin.

Leipzig den 12. Mai 18831

Hochgeehrter Herr! Ihre w[erten] letzten Zeilen2 konnten wir nicht beantworten, ehe wir nicht wußten, ob es uns möglich sein würde, Ihren Wunsch bez[üglich] der fehlenden Exemplare der Bogen 1–9 ff. zu erfüllen. Leider können wir ein Exemplar dieser Bogen nicht liefern, da Bogen 5 gänzlich fehlt und auch Nachforschungen in der Druckerei uns zu keinem Exemplar verhelfen. An die beiden bezeichneten Adressen ist Ihr Buch unverzüglich gesandt worden. Aus der Durchrechnung des Werkes, die wir soeben empfingen, geht hervor, daß die außerordentlich zahlreichen Correcturen, das wiederholte nothwendig gewordene Umformen der Bogen pp.  sehr erhebliche Kosten, nämlich 765 M[ark], verursacht haben. Unserer früheren Verabredung gemäß haben wir mit diesem Betrag Ihr Conto belastet, außerdem mit ca. 45 M[ark] für Neudruck des 10. Bogens. Hoffentlich gestattet ein recht flotter Absatz Ihres Buches bald die Aus­ gleichung dieser Posten. In größter Hochachtung ganz ergeben Duncker & Humblot Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 257, Bl. 31–31 R. 1 Darüber Briefkopf: „Duncker & Humblot, Verlags-Buchhandlung in Leipzig. Dresdnerstrasse Nr. 28“. 2 Nicht überliefert.

[611] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey K[lein-]Oels 14. 5. [18]83. Den schönsten Dank sage ich Ihnen, lieber Freund, für die Zusendung Ihres Buches. Nun möge es wirken in stets steigendem Maße! Die Vorrede, die © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

47

Hermann Usener an Dilthey Hermann Usener an Dilthey

ich als Ganzes noch nicht kannte, ist dem Buche entsprechend vortrefflich gelungen. Ernst und Fülle unbefangener empirischer Betrachtung ist darin angedeutet, die Emanzipation des Ursprünglichen von dem Derivirten proklamirt. Daß der Standpunkt ohne Weiteres und alsbald dem Verständniß begegne, ist nicht wahrscheinlich. Aber Neues muß vor die Köpfe stoßen, um darin einzudringen. … Den Aufsatz von Sigwart über Bacon,1 den ich ehe ich das Buch zurückstellte, las, finde ich ebenso sauber wie dünn. Immer derselbe scharfe aber ungeniale Mann, der das sacrificium des Logismus nicht zu vollziehen vermag.

Paul York 2

Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 28. 1 Ch. Sigwart: Ein Philosoph und ein Naturforscher über Franz Bacon von Verulam, in: PJ 12 (1863), S. 93–129; Noch ein Wort über Franz Bacon von Verulam. Eine Entgegnung, in: PJ 13 (1864), S. 79–89; Eine Berichtigung in Betreff Bacons, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung vom 20. März 1864. 2 Die Unterschrift wurde aus der 1.  Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ­ergänzt.

[612] Hermann Usener an Dilthey Bonn, 15. Mai 1883. Liebster Wilhelm, der herzliche dank und glückwunsch, zu dem mich der in der vorigen woche vom verleger gesandte erste band Dei­ner einleitung auf­ fordert, soll wenigstens in einem kurzen grusse seinen ausdruck finden. Ich bin glücklich gewesen, aus dem datum der vorrede und dem zeitpunkt des buchhändlerischen vertriebs zu ersehen, dass Du noch so zeitig in den osterferien die letzte hand anlegen konntest, um Dich der vollendung in der behaglichen musse von Kl[ein-]Öls zu erfreuen. Es muss Dir leicht ums herz sein und selbst der gang ins neue semester wird Dir vollere reinere freude gemacht haben. Ich habe meine ungeduld, bis auf die vorrede über die ich sogleich herfiel, ge­zügelt, um das buch in der geschlossenen form, die der buchhändler gibt, zu geniessen. Durch die vorrede ist natürlich das verlangen nach dem zweiten bande höchlich gesteigert. So einleuchtend Deine oberste forderung, die existenz­ formen der [r]ationalität1 und der menschheit nicht aus einzelfunktionen des geistes, sondern aus der totalität der menschlichen wesens abzuleiten, so© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

48

Hermann Usener an Dilthey Hermann Usener an Dilthey

fort sein muss, so schwierig scheint zunächst die anwendung auf die einzelnen hauptprobleme. Am leichtesten wohl bei der sprache. Zur fortsetzung wirst Du Dir hoffentlich zeit lassen bis zum herbst, und nun zunächst etwas mehr zur einwurzelung in dem neuen boden tun. Dein beinleiden ist denke ich längst nicht nur überwunden, sondern auch fast vergessen, und Du mit Deiner frau und der unvergesslichen kleinen,2 die ich beide aufs herzlichste zu grüssen bitte, befindest Dich völlig wohl und bereit zum genuss dieses wunderbaren frühlings. Ich kann Dir nicht verhehlen, dass ich mit sorge an Eure wohnung denke; ich wünschte, dass Euch durch recht­zeitige kündigung schlimme erfahrungen erspart bleiben und meine einzige hoffnung ist, dass Euch die schnaken vertreiben und Ihr Euch durch den zoll an sie loskauft. Lilly3 trug sich gerade mit dem gedanken, einmal wieder nach mutter4 zu sehen, um die wir in diesem frühjahr besorgt waren als ein gebieterischer brief Mariens5 der die vorübergehende an­wesenheit von M. W.6 anzeigte, an gründonnerstag rasch den ausschlag gab. Sie hat Mutterchen glücklicherweise zufriedenstellend wohl gefunden, und auch die freude gehabt, mit Karl noch einen tag zusammen zu sein, der ungewöhnlich frisch, munter und tatendurstig war; vielleicht lässt er sich bestimmen, über Bonn zu reisen, denn ich bin leider für dieses jahr angeleimt an den ort bei einem unfreundlichen und ewig kränkelnden prorektor und einem stets verreisten pro-prorektor. Dass ich dies jahr für andere, nicht für mich da bin, empfinde ich bitter. Ich kann nichts fördern, wozu eine zusammenhängendere musse gehört. Der Epikur ist seit januar fertig bis auf die zutaten.7 Ist Dirs erwünscht, Bernays8 posthume und torso gebliebene abhandlung über (Philo) de incorrupti … zu haben (resp. besitzt Du auch seine ausgabe des textes mit der übersetzung?) so steht Dir ein exemplar zu gebote. Es ist manches feine darin, eingewickelt freilich wie ein bischen eingemachtes in Berliner pfannekuchen. Lilly die ich eben fragte ob sie nichts zu bestellen habe, trägt mir viele grüsse an Euch alle auf, und lässt Käthe9 angelegentlich bitten ihr ein bild Eures ­K lärchens10 und Dich ihr Deine photographie mit den unordentlichen haaren die sie so gut findet zukommen zu lassen. Ich habe viel von Klärchen zu erzählen gehabt, wie Ihr Euch denken könnt und dadurch das bedürfnis nach einer körperlichen vorstellung nur verstärkt. Mit den allerherzlichsten grüssen an Euch alle, und lebhaftem dank und glückwunsch für Dich, liebster schwager. Euer H. Usener. Original: nicht überliefert; eine maschinenschriftliche Abschrift des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, unpaginiert. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Gustav Teichmüller Dilthey an Gustav Teichmüller

49

1 Im Transkript: „nationalität“. 2 D.s älteste Tochter Clara (1877–1967); sie gab 1933 den Band Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852–1870 im Verlag Teubner (Leipzig und Berlin) heraus. 3 D.s Schwester Lilly (1846–1920), seit 1866 mit H. Usener verheiratet. 4 D.s Mutter, Maria Laura, geb. Heuschkel (1810–1887). 5 D.s Schwester Marie (1836–1891), die seit der Scheidung von ihrem Ehemann Adolf Lade (1826–1869) mit der gemeinsamen Tochter Marie, geb. 1856, wieder im Biebricher Elternhaus lebte. 6 Evtl. Marianne von Witzleben (1846–1924), D.s ehemalige Verlobte; vgl. hierzu die Briefe in: BW I, bes. S. 576–585. 7 H. Usener stellte Anfang 1883 seine Arbeit Epikurea über die Fragmente Epikurs vorläufig fertig. Am 11. Februar schreibt H. Diels an Usener: „Ihrem Epikur wird man also bald begegnen dürfen, Schade dass er gezwungen wird dimidiatus [= halbiert] zu erscheinen.“ Einen Tag darauf, am 12. Februar 1883, antwortet Usener. H. Diels: „Von Epikur packte ich Ihnen ein, was ohne suchen zur Hand war, die ersten Bogen mit den Texten…“, in: Ehlers, Bd.  1, S.  286, 288.  – Die zweite Fassung der Epikurea erschien im September 1887 in Leipzig. – Hermann Diels (1848–1922): klass. Philologe; 1870 Promotion in Bonn bei H. Usener, 1871 Lehrerexamen, 1877 Redakteur der Commentaria in Aristotelem Graeca, 1882 a. o., 1886 o. Prof. in Berlin, 1895–1920 Sekretar der philos.-histor. Klasse der AdW zu Berlin. 8 Der klass. Philologe Jacob Bernays (1824–1881), ab 1866 a. o. Prof. in Bonn. – U ­ eber die unter Philon’s Werken stehende Schrift Ueber die Unzerstörbarkeit des Weltalls. Berlin 1883. 9 Rufname Katharinas, der Ehefrau D.s. 10 D.s Tochter Clara.

[613] Dilthey an Gustav Teichmüller 9. VI. [18]831 Lieber Teichmüller, wollen Sie morgen Sonntag Abends unsern Thee teilen? natürlich mit Ihren beiden Töchtern. Um freundliche Zusage bittend in alter Gesinnung Ihr W. Dilthey. Original: Hs.; Postkarte; UB Basel, Teichmüller-NL , Nr. 717; Erstdruck: ASpPh, S. 411. 1 Datierung von fremder Hand. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

50

Christoph Sigwart an Dilthey Christoph Sigwart an Dilthey 

[614] Christoph Sigwart an Dilthey Lieber Freund

Tübingen, 24. Juni 1883

Endlich habe ich mir Raum schaffen können um mit Muße Ihren ersten Band lesen und genießen zu können – denn ein wirklicher Genuß wie ich ihn schon lange nicht mehr gehabt, war mir Ihre Cha­rakteristik der ganzen Entwicklung der wissen­schaftlichen Grundbegriffe – eine Geschichte der Philosophie in großem Styl, aus der deutlicher als ich sonst irgendwo gefunden, die Bedeutung der metaphysischen Grundlage für den ganzen Betrieb der Wissenschaft herausspringt, und die Quelle der nacheinander auftretenden Methoden und der Beschränkungen ganzer Zeitalter einleuchtet. Wo ich selbst einigermaßen zu Hause bin – was in Be­ziehung auf das Mittelalter leider nicht der Fall ist – haben mich immer aufs Neue treffende Urtheile und fruchtbare Gesichtspunkte überrascht  – die Charakteristik der aristotelischen Philosophie. Die Betonung des Umschwungs, der mit dem Christen­thum eintrat, die Schilderung der Auflösung der mittelalterlichen Metaphysik in der Renaissance – all das erscheint mir durchaus recht, die entscheidenden Punkte glücklich hervorgehoben; und so wie Sie den Begriff der Metaphysik formu­lieren, kann ich in gewissem Sinn auch dem Refrain zustimmen: Metaphysik ist unmöglich. Um so gespannter bin ich auf die Resultate Ihrer Erkenntnißtheorie und darauf, ob wirklich ohne alle Metaphysik dabei auszukommen ist; und ob nicht die psychologische Grundlegung der Er­kenntnißtheorie in der Luft schwebt, wenn sie nicht die Begriffe der Substanz und Causalität in der dann nothwendigen Formulierung auf das Subject des Bewußtseins anwendet und, durch das Verhältniß der Subjecte zu einander und zu einer außer ihnen vorhandenen realen Welt, durch die sie in Zusammen­hang stehen, gezwungen, doch zwar nicht einem denknothwendigen – denn alle Nothwendigkeit ist zuletzt hypothetisch und knüpft an das unmittelbar erfaßbare Sinnliche an – doch einem in Begriffen for­mulierbaren Zusammenhang des Realen statuiert, der sich nicht in bloße Hülfsbegriffe auflösen läßt. Denn irgend eine begriffliche Formulierung dessen was wir selbst sind und der Beziehungen in denen die einzelnen Thätigkeiten zum Subject, und diese Thätigkeiten verschiedener Subjecte zueinander, ist doch zuletzt unabweisbar; die Metaphysik als Aufgabe bleibt, wenn ich auch zugebe, daß die Frage nach dem Subject der Außen­welt nicht in dem Sinne eindeutig lösbar ist, daß nur eine Theorie – z. B. die Atomistik – mit Aus­schluß aller Uebrigen erwiesen werden könnte. Aber doch lassen sich zuletzt allgemeine Principien nicht entbehren, die für jede bestimmte Construction in gleicher Weise gelten müssen; sonst bleibt nur Kant und je länger ich © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Christoph Sigwart an Dilthey Christoph Sigwart an Dilthey 

51

ihn studiere, desto bodenloser erscheint mir dieser Versuch, der in der Lehre vom inneren Sinn resp. in den Paralogismen gipfelt, von subjectiven Formen der Anschauung etc. zu reden, wie doch das Subject ein völlig unfaßbares X bleibt, dem all das ange­hören soll, und der Gegensatz von subjectiv und objectiv schließlich im bloß Logischen, im distinctio rationis innerhalb der herrenlosen, möglichen Erfahrung wird. Ist eine Apperception, Bewußt­sein überhaupt, und was damit zusammenhängt, ein logisches Gespenst, ist das individuelle Bewußt­sein Ausdruck einer Realität, nun so sind Einheit des Subjects im Wechsel seiner bewußten Momente, seines Fühlens und Wollens eben auch reale Begriffe, mag man das nun als Sub­stanz bezeichnen oder nicht, und dann kommen eben die Aufgaben Substanz und Causalität zusammenzudenken un­ abweisbar wieder, und wenn man nicht zu Berkeley1 kommt, dann müssen sie auch außerhalb der bewußten Subjecte eine Bedeutung haben, deren genauere Fixierung nur von jenen Hülfsbegriffen und Hypothesen gelüftet wird, die von dem jeweiligen Stand der Wissenschaft abhängig sind. Die Unveränderlichkeit der Substanz natürlich ist ein Unsinn, sobald ihr Causalität zugeschrieben wird, und ebenso stimme ich zu, daß die in der Natur-Betrachtung entwickelten Substanz-Causalitätsvorstellungen zunächst nur Hilfsbegriffe sind und daß ihre Übertragung auf das unmittelbar Ge­wisse scheitert. Aber warum soll nur dem ‚Erleben‘ diese unmittelbare Realität zukommen und dem Subject dieses Erlebens, dessen unabwendbares Bewußtsein doch auch ‚er­lebt‘ wird, nicht – und wenn, so kann die Außenwelt nicht in der bloßen Phänomenalität stehen bleiben, in der sie absolut unverständlich ist. Doch ich mache Schwierigkeiten, die Sie viel­leicht schon gelöst haben – lassen Sie den zweiten Band bald folgen! Mir gehts langsam von der Hand, vor einer Menge kleiner Dinge, die nacheinander erledigt sein wollten, ich stecke an ein paar psychologischen Fragen, die ich für meine nächste Vorlesung einmal definitiv für mich ins Reine bringen möchte, neben meiner Vorlesung über Metaphysik, und rücke nicht vom Fleck wie ich möchte – und doch ist das Semester schon halb zu Ende und es droht noch allerhand Störung für einen so leicht aus dem Zusammenhang geworfenen Menschen wie ich bin, dem dann alles mögliche im Kopf herumgeht, nur nicht was er gerade will. Ich habe darum auch leider Rödiger,2 der eine Anzeige für sein Blatt in nächster Zeit wollte, abschreiben müssen; ich bringe so etwas nicht so schnell fertig, hoffe aber doch irgendwo einmal ordentlich darauf zu kommen. Einstweilen bis ich weiß was Sie für Ferienprojecte machen, beste Wünsche, daß der Berliner Sommer sich zu­träglicher erweist als der Unsere und herz­ lichen Gruß von Ihrem C. Sigwart © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

52

Dilthey an Heinrich von Treitschke Dilthey an Heinrich von Treitschke

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 198, Bl. 62–64. 1 George Berkeley (1685–1753): irischer Theologe und Philosoph; 1734–1752 Bischof von Cloyne / Irland. 2 Maximilian Roediger (1850–1918): Philologe; 1880–1886 Hg. und Schriftleiter der Deutschen Litteraturzeitung, 1880 PD, 1883 a. o. Prof. für Germanistik in Berlin.

[615] Dilthey an Heinrich von Treitschke Lieber Freund,

[Sommer 1883]

Sie fragen mich wegen einer Anzeige meines Buches. Ich wußte Ihnen damals Niemanden zu nennen. Inzwischen erhielt ich von Gierke in Breslau einen Brief,1 aus dem hervorgeht daß er das Buch genau gelesen hat. Und da er eben ohnehin mit prinzipiellen Auseinandersetzungen beschäftigt ist – er hat sich eben mit Laband u. seiner Sekte gründlich auseinandergesetzt –,2 ist ihm vielleicht recht, bei Gelegenheit meines Buches in d[en] preuß[ischen] Jahrbüchern damit fortzufahren.3 Gierke ist wie Sie wissen philosophisch streng durch­gebildet, und der Vortheil wäre, gerade jemanden von den Wissenschaften zu vernehmen, mit denen das Buch die Philosophie in Verbindung bringen möchte. In unsrem Garten ist es jetzt so schön, daß ich Ihnen denselben zur Abend­ ruhe lebhaft vorschlage. Mit den besten Grüßen von uns beiden Ihr Dilthey Original: Hs.; StB PK Berlin, HA , Treitschke-NL , K. 5, Nr. 129, Bl. 25–25 R. 1 Nicht überliefert. 2 Paul Laband (1838–1918): Staatsrechtler; 1861 Habilitation in Heidelberg, 1864 a. o., 1866 o. Prof. in Königsberg, 1872 in Straßburg. – Laband war einer der ersten und einflussreichsten Vertreter des staatsrechtlichen Positivismus.  – O. Gierke: Das Staatsrecht des deutschen Reiches von Dr. Paul Laband, in: Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht 6 (1879), S. 221–235. 3 O. Gierke: Eine Gundlegung für die Geisteswissenschaften, in: PJ 53 (1884), S. ­105–144. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

53

[616] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [Ende Oktober 1883]1 Die schöne Hoffnung, lieber Freund, wenigstens noch ein paar Tage bei Ihnen zuzubringen, ist mir nun doch geschwunden. Die Vorlesungen fangen so früh an, daß ich, vor drei Tagen zurückgekehrt, nächsten Dienstag schon mit der Logik beginnen muß. Ich bin allein zurückgekommen. Meine Frau ist noch bei Brentanos in Straßburg und bleibt dann bei meiner Mutter, wohin sie dieser Tage geht und wo sie das sehr muntere Schlingelchen2 findet, einige Zeit. So wäre mir ein Ausflug zu Ihnen eine schöne Unterbrechung der hießigen einsamen Existenz gewesen. Aber der Lehreifer hier ist wahrhaft erschrecklich. Die lange Abwesenheit in der Schweitz hat mir gut gethan. Meine Besorgnisse in Bezug auf meine Gesundheit sind Gott sei Dank geschwunden. Ich konnte mich in den Bergen ohne davon Beschwerde zu empfinden tummeln. Der Schlaf freilich läßt auch jetzt noch sehr zu wünschen übrig. Wir haben herrliche Wochen in Graubündten verbracht; zuerst in Flims, dann am Zusammenfluß der beiden Rheine in Reichenau. Dann kamen wir an den Vierwaldtstädter See, aber die dortige weiche Seeluft vertrieb uns, und so brachten wir noch in Baden-Baden einige Zeit zu. Gingen von da nach Straßburg, wo ich meine Frau bei Brentanos zurückließ, die gar nicht so wohl war, als sonst auf Reisen, und ich bin dann über Biebrich und Göttingen hierher zurückgegangen. In Biebrich feierten wir den 76sten Geburtstag meiner lieben Mutter,3 und sie konnte Morgens mit uns einen anderthalbstündigen Spatziergang machen, Nachmittags wieder im Freien sitzen und spatzieren: das war ein schönes Erlebniß. Das Kind ist herrlich bei ihr gediehen und nicht Einen Tag unwohl gewesen. Hier habe ich noch Niemanden gesehen, außer Schmoller und Zeller, und muß mich zunächst ein wenig in die Vorlesungen vergraben, da ihr Beginn schneller kommt als ich dachte. Und Sie, lieber Freund? Ich habe große Sehnsucht nach Ihnen. Vieles ist mir in diesen langen müßigen Wochen durch den Kopf gegangen, Manches ist aufgeschrieben worden. Alles sollte mit Ihnen besprochen werden. Ihre Karte4 zeigte mir daß Sie auch an mich gedacht haben. Möchten Sie bald einmal herüber kommen. Von meinem Buch noch keine Recension gesehen. Eben schickt mir Stumpf in Prag den ersten Band seiner Tonpsychologie,5 ein Privatdozent Lipps Thatsachen des Seelenlebens:6 beides scheinen interessante Bücher. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

54

Hermann Usener an Dilthey Hermann Usener an Dilthey 

Treitschke wird den historischen Preis erhalten:7 eine schöne Satisfaktion für ihn. Und denken Sie, es kam dabei in der Sitzung zu lebhaften Debatten, in denen Sybel und Duncker8 sich sehr scharf gegen Ranke9 erklärten, wollten ihn nur als historischen Essayisten gelten lassen. So ändern sich die Zeiten. Empfehlen Sie mich vielmals Ihrer heiteren festlichen Tafelrunde. Treulichst Ihr Dilthey. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 29. 1 In BDY: „[Oktober 1883.]“. 2 D.s Tochter Clara. 3 D.s Mutter hatte am 15. Oktober Geburtstag. Sie wurde im Jahr 1810 geboren und feierte daher 1883 ihren 73. und nicht den 76. Geburtstag. 4 Nicht überliefert. 5 Carl Stumpf (1848–1936): Philosoph und Psychologe; 1868 Promotion in Göttingen bei R. H. Lotze, 1870 Habilitation ebd., 1873 o. Prof. in Würzburg, 1879 in Prag, 1884 in Halle, 1889 in München, 1894 in Berlin. – Tonpsychologie. Bd. 1. Leipzig 1883, der 2. Bd. erschien 1890. 6 Theodor Lipps (1851–1914): Philosoph und Psychologe; 1874 Promotion, 1877 Habi­ litation in Bonn, 1884 a. o. Prof., 1890 o. Prof. in Breslau, 1894 in München. – Grund­ thatsachen des Seelenlebens. Bonn 1883. 7 H. von Treitschke wurde am 21. Januar 1884 für die beiden ersten Bände seiner Deutschen Geschichte der Verdun-Preis verliehen, der jährlich für das beste deutsche Geschichtswerk vergeben wurde. 8 Der Historiker Heinrich von Sybel (1817–1895) und der Historiker und Politiker ­Maximilian Wolfgang Duncker (1811–1886). 9 Der Historiker Leopold von Ranke (1795–1886).

[617] Hermann Usener an Dilthey Arenzano (Riviera di Ponente)  1. nov[ember] 1883 Liebster W[ilhelm], während Du nun zu Berlin in Deinen vier pfählen, wie ich hoffe recht wohl und behaglich lebst, denkst und schreibst, treiben wir beide uns hier an der Dir wohlbekannten Ligurischen küste umher, geniessen die südliche sonne, das meer und auf den gängen in die höhe den unbeschreiblichen zauber einer natur, welche die üppigste vegetation sozusagen aus © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

55

dem felsboden hervorspriessen lässt. Eben kommen wir von einem wunder­ baren schauspiel, der kirchlichen vorfeier des allerseelentags; die weite kirche voll kleiner kinder, jedes mit seinem seelenlichtchen, zum teil in gruppen am boden gekauert. Hundert stoffe zu Rembrandtschen bildern. – Der aufenthalt an der Riviera übt sichtlich gute wirkung auf mich, aber gleichzeitig fühle ich doch noch recht sehr dass ich eben rekonvaleszent bin und dass es un­erlässlich war mich hierher zu schicken. Auch für Lilly wird der aufenthalt hoffent­lich segensreich. – Lass doch auch Du einmal etwas von Dir hören und von den Deinigen. Käthe und Deine prächtige kleine werden wohl inzwischen Dir nachgefolgt sein, hoffentlich recht erholt und Dir Dein dasein erquicklicher machen. – Eine frage schliesslich und bitte. Hast Du noch von Deinen korrekturbogen des ersten bands buch 2 übrig? Ich konnte mir nur wenig hierher mitbringen lassen und darunter war Dein werk nicht. Nun möchte ich aber drin­gend gern (zum zweck eines aufsatzes) die kapitel vor mir haben und berücksichtigen können, worin Du die Jonier und [Eleaten] be­handelst.1 Kannst Du mir diese paar bogen in korrektur heraus­f inden und schicken, so werde ich Dir sehr dankbar sein. Es ist freilich noch nicht für heute und morgen, noch muss ich ganz im freien zu leben versuchen, konnte auch nicht zusammenhängend denken. Aber sende darum doch nicht später! Mit tausend herzlichen grüssen auch von Lilly Dein H. Usener Original: nicht überliefert; eine maschinenschriftliche Abschrift des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 5. 1 Im Transkript statt „Eleaten“: „Eleuthen“. – Vgl. GS I, S. 150–174.

[618] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Berlin, 10. Nov[ember] [18]83 Hinter Zelten l Villa Rosenau. Mit dem innigsten Antheil, lieber Freund, habe ich in Ihrem Briefe1 er­ sehen, wie schwere Sorgen Sie durchzuleben hatten und wie nun, Gott sei Dank, diese Sorgen sich zerstreut haben. Es ist ja kein Punkt, an dem wir härter getroffen werden können. Möge nun Ihre verehrte Frau2 bald diese Wochen der Sorgen vergessen wie einen bösen Traum. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

56

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

Ich hätte schon früher geschrieben, hätten mich nicht Sorgen beschäftigt. Meiner Frau war in Baden-Baden verboten worden, diese Wochen zu reisen. So war sie erst bei Brentanos, dann blieb in Baden-Baden ihre Mutter, und sie war mit dieser und ihrem Bruder,3 in gemeinsamem Quartier. Sie trug aber diese Zeit der Trennung von dem Kinde und mir sehr schwer, und wollte mehrfach durchbrechen, wenigstens nach Biebrich zu meiner Mutter. Endlich jetzt in diesen Tagen hat sie zu dieser weiterreisen können, und in ein paar Tagen darf ich sie hier erwarten. Ihre Mutter, die nach dem Genfer See schon unterwegs war, wird mit ihr zurückkehren. So war das eine Zeit unruhiger Korrespondenz. Mich duldete es nicht in meinen vier Wänden als wenn die Arbeit unumgänglich war. So habe ich in diesen Wochen so viel Menschen gesehen als seit vielen Jahren nicht. Jetzt erst richte ich mich wieder almälig zu ruhigerer Arbeit ein. Meine Vorlesungen regen mich an, die systematischen Hauptfragen einmal wieder durchzudenken. Wie ich Sie dabei vermisse, ist nicht zu sagen. Aber Sie ­machen wenigstens die Hoffnung, nächstens mit einem Manuscript hier einzutreffen, wenn auch das Stück noch nicht groß ist, bringen Sie ja einmal mit was Sie niedergeschrieben haben. Grimm schreibt einen Raphael in diesem Winter4 und ist von den Vor­ lesungen dispensirt. Mommsen, Weierstraß, Kummer:5 alle dispensirt. In Bezug auf Helmholtz geht man mit dem Plane um, ihm eine Stellung zu schaffen, welche ihn von den Vorlesungen frei mache, doch mag noch manches Jahr darüber hin gehen, bis es dazu kommt. Er hat ein großes Vermögen geerbt und wünscht sich augenscheinlich eine Lage, in welcher seine Zeit seinen Arbeiten gehöre. Auch hat er ein Recht dazu, und ich will ihm wünschen, daß er wie Humboldt die späteren Lebensjahre ungestört sammeln dürfe, sein Testament niederzu­schreiben.6 Wie das ja auch in Bescheidenheit mein Wunsch bleibt, wenn ich spätere Lebensjahre erreichen sollte. Denn zunächst ißt der Tag und sein Geschäft meine Zeit auf. Heute eile ich, diese Zeilen doch fortzubringen. Mir ist wieder unruhig zwischen meinen vier Wänden und ich will Menschen suchen. In der Hoffnung, irgend welche überflüssigen Geschäfte führen Sie bald einmal hierher in treuer Gesinnung Ihr Dilthey

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

57

Dilthey an Hermann Usener Dilthey an Hermann Usener

Original: nicht überliefert; eine vollständige maschinenschriftliche Abschrift des Briefes ist hinterlegt in: ABBAW, Ritter-NL , Nr. 28, Bl. 1–2; Erstdruck mit Auslassungen: BDY, Nr. 30; Erstdruck der ausgelassenen Partien: Gründer, S. 266. 1 Nicht überliefert. 2 Gräfin Louise Yorck von Wartenburg, geb. von Wildenbruch (1838–1918): Ehefrau Paul Yorck von Wartenburgs. 3 Clara Püttmann (1829–1915): Mutter Katharina D.s; Walther Püttmann: Bruder ­K atharina D.s. 4 H. Grimm: Das Leben Raphael’s. Berlin 1872, 2. Ausg. in neuer Bearb. Berlin 1886. 5 Th. Mommsen wurde 1883 von seinen Universitätsaufgaben entpflichtet.  – Karl Theodor Wilhelm Weierstraß (1815–1897): Mathematiker; 1856 o. Prof. der Mathematik in Berlin. – Ernst Eduard Kummer (1810–1893): Mathematiker; 1831 Promotion, 1842 o. Prof. in Breslau, 1855–1883 in Berlin. 6 W. von Humboldt (1767–1835) legte 1819 sein Ministeramt nieder und widmete sich danach ausschließlich der Wissenschaft.

[619] Dilthey an Hermann Usener [15. November 1883]1 Liebster Hermann. Über die guten Nachrichten von Dir habe ich mich gar sehr gefreut. Zunächst füge ich auch meinen Glückwunsch über die erhöhte Würde2 hinzu. Leider erinnern solche Würden fatal daran daß man in die Jahre kommt in denen man Respektsperson wird. Möge die Feierlichkeit, die wir an solchem ehedem unbehaglich gewahrten uns fern bleiben, dann ists ja der natürliche Lauf der Dinge. Besser ist daß Du wahrscheinlich eine Gehaltserhöhung bekommen wirst. Als Althoff mir davon sprach, Du würdest eine Reiseent­schädigung erhalten, auch die Frage einer Gehaltserhöhung erwähnte, glaubte ich in Deinem Sinn zu handeln, wenn ich den letzten Punkt ganz in den Vordergrund brachte, die Höhe der Reiseentsch[ädigung] als viel weniger von Wichtigkeit im Vergleich damit. Gestern sagt er mir, es seien 1800 Mark Reiseentsch[ädigung] für Dich angewiesen. Hältst Du es für opportun, so kannst Du am Schluß des Auf­ enthalts gewiß noch eine Ergänzung haben.3 Die Hauptsache wird sein, daß Du den guten Willen in Bezug auf eine Gehaltserhöhung (die freilich erheblich wol nicht sein wird wie man hier verfährt) nutzest. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

58

Dilthey an Hermann Usener Dilthey an Hermann Usener

Einen unbehaglichen Moment scheint Dir gemacht zu haben, daß Du glaubtest, es cirkulire: Du würdest demnächst um zu arbeiten nach Italien gehen etc. Die unschuldige Ursache davon bin ich. Als Diels mich sehr besorgt u. als ob man nicht wisse wie es mit Deiner Lunge verlaufen werde fragte, glaubte ich im Interesse von Dir, um übertriebene Gerüchte auf die Wahrheit zurückzuführen, höchst angemessen mich auszudrücken: die Ausheilung stehe in ganz sicherer Aussicht nach Urtheil etc., ich zweifle für meine Person nicht, daß sie so sicher u schnell verlaufen werde, daß Du gegen Ende Deines Aufenthaltes wol vielleicht noch Nutzen aus diesem Mißgeschick ziehen u. etwas weiter nach Italien würdest reisen können. Fügte ausdrücklich hinzu dies sei meine persönl[iche] Hoffnung, von Deinen Plänen wisse ich nichts. Glaubte e[inem] so treu mit Dir es meinenden Freunde diese Hoffnung aussprechen zu dürfen. Leider hat er wie er mir dann klagte einem unbesonnenen Manne dem Dr. Bruns4 davon in einer vielleicht mißverständlichen Art gesprochen. Da ich aber hier mit Niemandem sonst über diesen Punkt gesprochen, so ist die in Göttingen entstandene Rederei, von der Diels mir sagt, gleichgültig. Ich habe selber nur zu bitter erfahren, was unnützes Geschwätz für meine geschwächte Gesundheit schaden kann – bei der Leipziger Frage wie hier.5 Daher ging ich auf das Dir Wichtigste los u. glaube noch daß das kindische Göttinger Gerede zehnmal von meinem Gesichtspunkt an Gewicht aufgewogen [ist]. Unschuldig bleibe ich dabei auch an jenem Gerede, von dem ich aber nur durch Diels weiß und das nach seiner Kenntniß nur unter Bruns[,] Karl und Weilands6 blieb u. eben nur aus Sorge Du möchtest mehr als Dir gesund sei thun entsprang. Doch übergenug hiervon. Von dem Homer u Ilias finde ich nur zwei Aushängebogen noch,7 die ich Dir mitschicke. Was für einen Aufsatz planest Du denn? In diesen Tagen erwarte ich Käthe zurück und mein elendes Strohwitwer­ thum ist dann beendet. Mit den Vorlesungen scheine ich mich jetzt durch­ zubeißen. Die strenge Art, in die ich die Philosophie nehme, ist dem gros der Studenten natürlich wenig anziehend; doch wenn sie immer mehr erkennen, daß sie durch mich eine sichere Grundlage ihres Studiums erhalten, lernen sie auch die Unannehmlich­keiten des abstrakten Denkens überwinden. So ist es auch in Breslau gegangen. Zum Fortschreiten leider sehr wenig Zeit.

Nur eilig meine besten Grüße Dein Wilhelm

Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL , S 2102, 3, Nr. 3; zwei Absätze des ­Briefes sind als maschinenschriftliches Transkript hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 4. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Hermann Usener an Dilthey Hermann Usener an Dilthey

59

1 Datierung nach einer Notiz Useners auf dem oberen Rand des Originals: „Erh[alten] 16 nov[ember] 1883[,] antw[ort] 17 nov[ember]“. 2 Usener hatte am 3.  Oktober 1883 den Titel Geheimer Regierungsrat verliehen be­ kommen. 3 Usener hielt sich zur Rekonvalesenz von einer Lungenkrankheit seit ca. Mitte Oktober 1883 in Italien auf. 4 Ivo Bruns (1853–1901): klass. Philologe; 1877 Promotion in Bonn bei H.  Usener, 1880 PD, 1893 a. o. Prof. in Göttingen, 1884 a. o., 1890 o. Prof. in Kiel. 5 D. war der Meinung, dass er 1875, als der Lehrstuhl für praktische Philosophie, den der Philosoph Heinrich Ahrens (1808–1874) bis zu seinen Tode inne gehabt hatte, neu besetzt werden sollte, nicht vorgeschlagen worden war, weil er seiner „Gesundheit wegen ­öfter Urlaub genommen u. so den größeren Anforderungen und Anstrengungen welche man in Leipzig mache“ nicht gewachsen gewesen wäre (vgl. D.s Brief an H. Usener vom Frühjahr 1875, in: BW I, S. 765 ff., hier S. 766). – Ähnliches vermutete D. sicherlich, als 1882 der Berliner Lehrstuhl R. H. Lotzes, der am 1. Juli 1881 gestorben war, neu besetzt werden sollte. Vorgeschlagen waren damals Ch. Sigwart und K. Fischer. Nachdem beide abgelehnt hatten, wurden B. Erdmann und D. vorgeschlagen, und D. bekam trotz größerer Widerstände, insbesondere E. Zellers, die Stelle. 6 Ludwig Weiland (1841–1895): Historiker; 1864 Promotion in Göttingen, 1867 Mitarbeiter der Monumenta Germaniae historica in Berlin, 1876 a. o., 1879 o. Prof. in Gießen, 1881 in Göttingen. – Weiland war der Ehemann von D.s Nichte Marie Lade. 7 Vgl. GS I, S. 142–146.

[620] Hermann Usener an Dilthey Arenzano (Riviera di Ponente)  17. nov[ember] 1883. Liebster bester Wilhelm, Dein gestriger brief, durch und durch eine lebens­ äusserung unseres alten treuen Wem1 hat uns ausseror­dentliche freude gemacht. Es war der erste winterliche tag, und wir genossen das erste feuer in dem salon beim versuche gemeinsam einen aufsatz zu fördern, ich diktierend. Lilly schreibend, als Dein brief und das streifband uns gereicht wurde. Es waren vor allem die warmen äusserungen Deines bruderherzens die uns erfreuten. Sodann auch die von Dir zuerst gebrachte genauere kunde über den endlich bewilligten urlaub und zuschuss. Schon am selbigen abend folgte die amtliche bestätigung in gestalt eines kuratorialen schreibens nach. Was Du mir von Deinen erörterungen mit Alth[off] erzählst kann ich Dir nur danken, es war ganz in meinem sinne gehandelt. Wenn Du mir aber anempfiehlst den moment günstiger stimmung zu benut­zen um eine gehalts­ © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

60

Hermann Usener an Dilthey Hermann Usener an Dilthey

erhöhung herbeizuführen, so ist darüber ein wort zu reden. In dem augenblick, wo mir eine in vergleich zu dem sonst üblichen erhebliche erleichterung meines hiesigen winteraufenthalts zugebilligt worden, ist es gerade für den2 empfänger schwer und peinlich mehr zu verlangen und gewissermassen zu sagen: ich stecke zwar das gewährte dankbar ein, hätte aber etwas anderes gewünscht und rechne noch auf erfüllung dieses wunsches. Und doch wäre es mindestens in der ordnung, wenn sie mein gehalt wenigstens auf eine höhe brächten, die junge anfänger der laufbahn ohne weiteres ersteigen, wenn sie nur den vorteil haben, fordern zu können. Ich war vor jahr und tag genötigt unserem kurator einmal rund heraus zu erklären, dass ich mich trotz aller oekonomie finanziell sehr geniert fühle und wenn der staat sich mir gegenüber so unnobel und rücksichtslos zeige, genötigt seien würde – wohl oder übel – mich auszubieten und fortzustreben. Der kurator kam höchst rücksichtsvoll entgegen und das resultat war eine zulage von 500 mark, während man wenigstens das doppelte hätte geben müssen, wenn man jene summe mir zugestehn wollte. Von Bücheler3 dessen situation freilich eine exzeptionelle ist und bleiben soll, trennt mich heute noch eine differenz von 3.500 mark. So viel zu deiner information. Denn wie momentan meine situation ist, würdest Du uns im höchsten grade verpflichten, wenn Du es übernehmen wolltest, Alth[off] die verpflichtung der regierung, mich auskömmlicher zu stellen, einzuschärfen. Weisst Du noch einen an­deren weg, den Du einzuschlagen raten kannst, so lass es mich wissen. Über die Diels-Bruns’sche dummheit habe ich von herzen ge­lacht, sobald als neulich durch einen brief von Diels Du Dich als unschuldiger anstoss entpupptest, und es bedurfte seitdem keines wortes mehr.4 Du hast freund Diels ganz richtig taxiert, wenn Du ins weisse maltest; er gerät vor allem schwarzen in ekstase – farbenidioynkrasie und es ist ganz gefährlich darin, das schwarze auf das schwärzeste zu nehmen. Aber dadurch dass Bruns wie ein hungriger jagdhund den knochen aufschnappte und weiter zu Mommsen und den Göttingern trug, trat für mich die gefahr ein als hypokritisch zu erscheinen und bei meinen Bonner kollegen in schiefe lage zu kommen. Und da ich mit solchen empfindlichkeiten schon sofort nach dem schiedsspruch der ärzte zu rechnen hatte, so bereifst Du dass die angabe Carls das sage man in Berlin (ohne quelle) mich einigermassen erregte. Es ist eigen, wie wir universitätsleute mit dummem und sehr leicht bösartigem klatsch gerade über gesundheits­ fragen uns herumzuschlagen haben; ich habe es bei Ritschl und Springer5 Du an Dir erlebt, und ich bin in diesem punkt längst sorglich. Für Deine zwei aushängebogen besten dank; was ich haupt­sächlich begehrte liegt leider gerade voraus, ein oder zwei bogen. Ich dachte eine darstellung des Xenophanes auszuführen, vielleicht auch noch andre Vor­sokratiker © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Hermann Usener an Dilthey Hermann Usener an Dilthey

61

vorzunehmen, wenn zeit und lust bleibt. Dazu fehlt mir freilich auch eine sammlung, speziell der elende Mullach6 (an dem mann war doch nichts gut als sein tod, weil der erstens für Diels eine stellung an der universität geschaffen hat und zweitens den sofortigen nachdruck meiner Epikuren verhütete) hast Du den [zu] erb und eigen? Und in einem ungebundenen exemplar. Dann möchte ich Dir einen tausch vorschlagen. Gegen ein gut gebundenes exemplar das Du nach ostern bekommst, stellst Du mir das Deinige zur verfügung, trennst daraus die bogen mit den fr[agmenten] der Eleaten und der Physio­ logen (Anaxim[ander], Anaxag[oras], Diogenes) heraus und schickst sie mir vorsorglich eingepackt unter streifband. Woll­test Du so gut sein? Nun sprich mir aber nicht von meinen ungelegten eiern. In den preuss[ischen] jahrbüchern habe ich einen vortrag über die organisation der [wissenschaftlichen] arbeit durch Platon und Aristoteles als anfang einer weiteren folge gegeben.7 Im ganzen geht mirs gut. Aber seit zwei tagen habe ich hausarrest, dieser kampf der Trammontana8 mit regenwinden bei höchst niedriger temperatur lässt mich gar sehr empfinden, wie viel mir noch fehlt. Der guten Lilly ists leider noch immer nicht gelungen sich zu akklimatisieren; sie sollte sich wohler fühlen. Sie lässt Dich und die Deinigen herzlich grüssen und dankt Dir gleichfalls für Deinen brief. Grüsse Käthe die wohl jetzt zurück sein wird, sowie Euer liebes kind und behalte lieb

Deinen getreuen H. Usener.

Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 6. 1 Kosename für „Wilhelm“. 2 Im Transkript: „dem“. 3 Der Bonner klass. Philologe Franz Bücheler (1837–1908). 4 Am 11.  November 1883 hatte H.  Diels an H.  Usener geschrieben: „Mögen Sie es als ein glückverheißendes Omen völliger Herstellung betrachten, die, wie ich von Ihrem Schwager Wilhelm höre, fortdauernd die besten Fortschritte macht. Daß eine von jenem daran geknüpfte Hoffnung, die ich Bruns als ihrem ergebenen Mitschüler mit­zuteilen keinen Anstand nahm, von diesem des referierenden Charakters entkleidet weiter verbreitet und durch diese Ungeschicklichkeit Ihnen Verdruß bereitet worden ist, habe ich durch Bruns erfahren, der in seiner Bestürzung Ihnen zwar wieder Ungenaues geschrieben hat (über die Quelle meines Referats), Ihnen aber jedenfalls jeden Verdacht über die Gewinnung, mit welcher derartige Eventualitäten unter Ihren hiesigen Freunden (d. h. zwischen Dilthey und mir) ventiliert worden sind, benehmen wird.“ (Ehlers, Bd. 1, S. 296). 5 Der klass. Philologe Friedrich Wilhelm Ritschl (1806–1876), Begründer der „­Bonner Schule“ für klass. Philologie. – Als Ritschl nach Leipzig wechselte, wurde H. Usener im © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

62

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

Frühjahr 1866 zu seinem Nachfolger berufen. – Anton Springer (1825–1891) war seit 1873 o. Prof. für Kunstgeschichte in Leipzig. 6 Friedrich Wilhelm August Mullach (1807–1882): klass. Philologe; 1853 PD, 1868 a. o. Prof. in Berlin; Hg. der Fragmenta philosophorum Graecorum. – Nach Mullachs Tod übernahm H. Diels dessen Extraordinat. 7 H. Usener: Organisation der wissenschaftlichen Arbeit. Bilder aus der Geschichte der Wissenschaft, in: PJ 53 (1884), S. 1–25; ND in: Vorträge und Aufsätze. Leipzig und Berlin 1907, S. 67–102. 8 Tramontana: in Italien, Kroatien und Südfrankreich, besonders im Winter in Tälern auftretende nördliche bis nordwestliche kalte Windströmung.

[621] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [Ende November 1883]1   Mein lieber Freund, Ich habe eine rechte Sehnsucht, zu vernehmen wie es bei Ihnen und den Ihrigen geht. Bisher bildete Heinrich2 unser gegenseitiges Auskunftsbureau und wir wußten durch seine Vermittlung meist das Wichtigste; wir entbehren nun jetzt auch darum sehr, daß er zur Zeit nicht hier ist. Seitdem ich Ihnen neulich schrieb bin ich recht fleißig gewesen. Freilich fließt Alles zunächst in das große Reservoir der Vorlesungshefte. Inzwischen hoffe ich, daß es später nicht zu schwer sein wird, davon Gebrauch zu machen. Ich habe besonders in der physiologischen und psychologischen Literatur die Theorie der Empfindung und des Raumes durchgearbeitet. Erstaunlich daß eine so windige Theorie als die Lotzes von den Lokalzeichen zu einem Ruhmestitel für ihn bei den Natur­forschern und einem regelmäßigen Bestandtheil der Darstellungen werden konnte.3 Sonnabends. … Wir leben sehr still. Haben uns aber kleine Mittagessen mit Scherers4 und Julian Schmidts5 eingerichtet, die sehr nach Ihrem Geschmack sein würden. Von Treitschke ist wenig zu sehen, außer den Donnerstag Abenden, zu denen ich mich jetzt nach der Fakultätssitzung einfinde, während meine Frau bei Frau Julian Schmidt ist, mit welcher sie sehr gut übereinstimmt. Er hat schon wieder vom Manuskript des nächsten Bandes das erste Stück fort­ geschickt6 und ist so wieder in dem Troubel von Schreiben und Drucken, der sein Lebens­element ist. Scherer wird jetzt in die Akademie kommen,7 wo eine © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

63

Stelle für neure Literatur durch Anregung des Kronprinzen8 seit langen Jahren gegründet ist, aber sein Lehrer, Freund und Gegner Müllenhoff hinderte bisher seinen Eintritt – jetzt ist Müllenhoff durch einen Schlaganfall hilflos,9 Scherer giebt ein Fragment des neuen Bandes seiner Alterthumskunde heraus10 und der Friede ist wieder geschlossen. Helmholtz will sich von der Universität sachte zurückziehen. Das Kollegienlesen ist ihm lange störend, ja unangenehm. Es soll eine große naturwissenschaftlich-­technische Anstalt – eine Art Akademie – für Erfindungen begründet werden, und Helmholtz soll Präsident mit 8000 Thalern Gehalt werden. So besteht das Projekt. Es würde mich außerordentlich freuen, geschähe dasjenige, was geeignet ist, ihm volles Lebensbehagen zu gewähren. Es ist nicht zu sagen, wie gänzlich er sich durch die Weite seiner Interessen von allen anderen Naturforschern unterscheidet. Auch wäre es wol nur ein Schritt, ihm die Stellung Humboldts in dem künftigen Berlin und an dem künftigen Hofe zu geben. Von Ranke eine hübsche Geschichte. Waitz ging zu ihm ihn zu bitten, er möge seine kritischen Bei­ lagen zum neusten Band über Gregor v. Tours nicht veröffentlichen.11 Die Sachen seien ganz unhaltbar. Er müßte ihm darauf antworten. Es fehle ihnen die exakte, kritische etc. – Sie kennen das. Worauf der Alte es zwar versprach zu unterdrücken, dann aber konnte er das Druckenlassen sich nicht versagen und meinte vergnüglich: ‚ich kann mir schon so was erlauben‘. Mit Zeller lebe ich gut zusammen, doch eigentlicher geistiger Austausch will sich nicht entwickeln. Jetzt habe ich die Studenten angeregt, daß sie zu seinem 70. Geburtstag ihm einen Commers geben im Januar.12 Inneren Austausch habe ich (mit) niemandem. Mit Ebbinghaus13 geh ich wöchentlich spatziren und wir philo­ sophiren dann. Er ist der welcher die besten und klarsten Kenntnisse psychologischer etc. Art hier hat. Wie ich Sie vermisse und immer aufs Neue wünsche und hoffe Sie siedeln über kann ich nicht sagen. Von Breslau vernehmen wir wenig. Jetzt endlich ist die Berufung Erdmanns in meine Stelle entschieden.14 Er hat mich hier aufgesucht und mir gut gefallen. Doch war es so kurz daß ein ordentliches Gespräch nicht möglich war. Kommen Sie, kommen Sie – als Mitglied des Herrenhauses – oder als Vater – oder in sonst einer Eigenschaft. W. Dilthey15 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 31. 1 In BDY: „[Ende 1883.]“. 2 P. Yorck von Wartenburgs Sohn Heinrich, der in Breslau Rechtswissenschaften studierte, als D. dort – bis zum Ende des WS 1882/83 – lehrte. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

64

Dilthey an Otto von Leixner Dilthey an Otto von Leixner

3 R. H. von Lotze definiert die „Localzeichen“ in: Medicinische Psychologie oder Physiologie der Seele. Leipzig 1852, S.  330 f.  – H.  v. Helmholtz, W. Wundt, F. Brentano, C. Stumpf u. v. a. haben Lotzes Lehre von der Sinneswahrnehmung zum Ausgangs- und Anknüpfungspunkt eigener Forschungen genommen. 4 Der Germanist W. Scherer (1841–1886) und seine Ehefrau Marie, geb. Leeder ­(1855–1939). 5 Der Literarhistoriker Julian Schmidt (1818–1886) und seine Ehefrau. 6 J. Schmidt überarbeitete und ergänzte viele seiner literarhistorischen Werke, die einmündeten in sein Werk: Geschichte der deutschen Litteratur von Leibniz bis auf unsere Zeit. 5 Bde. Berlin 1886–1896. 7 W. Scherer wurde am 9.  April 1884 als o. Mitglied in die AdW zu Berlin auf­ genommen. 8 Friedrich Wilhelm Nikolaus Karl von Preußen, der spätere König von Preußen und Deutsche Kaiser Friedrich III. (1831–1888). 9 Der Germanist Karl Müllenhoff erlitt im November 1883 einen ersten Schlaganfall. Er starb am 19. Februar 1884. 10 K. Müllenhoff: Deutsche Altertumskunde. 5 Bde. Berlin 1870–1908.  – W. Scherer war ein Schüler Müllenhoffs. 11 Der Rechtshistoriker und Mediävist Georg Waitz (1813–1885) war zwischen 1875 und 1886 Präsident der Monumenta Germanicae Historica. Hier wurden auch Schriften des Bischofs Gregor von Tours (538 oder 539–594) herausgegeben. – L. von Ranke: Weltgeschichte. Bd. 4: Das altrömische Kaisertum. Mit kritischen Erörterungen zur alten Geschichte. Leipzig 1883. 12 Eduard Zeller feierte am 22. Januar 1884 seinen 70. Geburtstag. 13 Hermann Ebbinghaus (1850–1909): Psychologe; 1873 Promotion in Bonn, 1880 Habilita­tion in Berlin, 1886 a. o., 1894 o. Prof. in Breslau, 1905 in Halle. – Mitbegründer der experimentellen Psychologie in Deutschland. 14 B. Erdmann lehrte ab 1884 in Breslau. 15 Die Unterschrift wurde aus der 1. Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ergänzt.

[622] Dilthey an Otto von Leixner1   Geehrter Herr Doktor, Mit großem Vergnügen entnehme ich aus Ihren freundlichen Zeilen,2 daß mein Buch Ihnen gefällt u. sich mit Ihren Überzeugungen vielfach begegnet. Möchte ich im Kampfe gegen alle Arten von Metaphysik und für die Freiheit des geistigen Lebens an Ihnen einen Bundesgenossen finden. Es ist insbesondere der Beweis, daß die Metaphysik nur so lange mächtig u. herrschend war als sie Eine war, u. daß sie nur so lange Eine bleiben konnte, als ein bestimmtes © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

65

Stadium des Naturwissens u. insbesondere der Astronomie die theistische Begründung der Wissenschaft forderte – welches der bisherigen Kritik der Meta­ physik wie ich glaubte eine historische Unterlage giebt. Hieraus ergiebt sich, daß das metaphysische Bewußtsein von der Vernunftmäßigkeit[,] ich sage lieber Gedankenmäßigkeit[,] des Naturlaufs zwar unvertilgbar ist, aber keinen Ausdruck in einer metaphys[ischen] Formel mehr gestattet. Ebenso steht es um die in der religiösen Erfahrung gelegenen u. durch das Griechenthum in Europa in mächtige Wirksamkeit übergeführten Elemente der Meta­physik. Von ihnen glaube ich an den Denkern des Mittelalters gezeigt zu haben, daß sie eine metaphys[ische] Formulierung ebenfalls nicht zulassen. Das ganze Mittelalter ringt vergebens mit den so entstehenden Widersprüchen. Mein Band ist, wie ich leider weiß, zu schwer geschrieben. Er bedarf es, daß schriftstellerisches Talent sich seiner annimmt.

Mit besten Empfehlungen ganz ergebenst Prof. W. Dilthey

Berlin, Hinter Zelt I Villa Rosenau, 9 Jan[uar] [18]84 Original: Hs.; StB PK Berlin, HA , Autograph Hirschfeld, 6. 1 Otto von Leixner (1847–1907): österr.-deutscher Schriftsteller, Literaturkritiker und Historiker; Studium der Ästhetik und Literaturgeschichte in Graz und München, 1874 Redak­teur der Zeitschrift Die Gegenwart in Berlin, 1883 Redakteur der Deutschen RomanZeitung und schriftstellerische Tätigkeit. 2 Nicht überliefert.

[623] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Breslau, 11. II. [18]84.   Lieber Freund. Lange habe ich nichts von mir hören lassen, wie schon lange ich in Lektüre versunken die Feder habe ruhen lassen. Heute nun will ich wenigstens einige Worte der Benachrichtigung, ein Lebenszeichen geben. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

66

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

… Von meinen Arbeiten sage ich nur, daß je klarer der Weg vor Augen liegt, desto beschwerlicher und länger er den Füßen wird. Die antidogmatische und an die Person gebundene Art meines Denkens verhindert mich bisherige Resultate anzunehmen und fragwürdig erscheint mir, was als ausgemacht angesehen wird. Was soll, von dem persönlichen Gewinne abgesehen, aus solchem Verhältnisse resultiren? Eine Masse von vielleicht nur mir verständlichen Notizen. Wenn man Philosophie als Lebensmanifestation begreift, nicht als Expektoration eines bodenlosen Denkens, bodenlos erscheinend, weil der Blick von dem Bewußtseinsboden abgelenkt wird, so ist die Aufgabe wie knapp im Resultate, so verwickelt und mühsam in seiner Gewinnung. Vor­ urtheilsfreiheit ist die Voraussetzung und schon diese schwer zu gewinnen. Sie erstaunen darüber, daß Lotzes windige Hypothese der Lokalzeichen Propaganda gemacht habe. Gewiß erstaunlich für den Vorurtheilsfreien. Aber die Neigung und Abneigung wird auch wissenschaftlich durch die Willenstendenz bestimmt. Und diese Hypothese, welche nicht einmal den formalen Anforderungen an eine wissenschaftlich zulässige Annahme entspricht, liegt in der Richtung der Denkweise der Zeit. Der Geist ist gebunden durch Veräußerlichung  – im logischen und besonders psychologischen Verstande meta­ physisch gebunden. Und die Freiheit eines Christenmenschen ist der Wissenschaft so fremd wie dem Kirchenglauben. Semiphilosophische Bemühungen von der Naturwissen­schaft aus wie die Lotzeschen liebäugeln mit dem Himmel dem die Seele entwendet ist. Ich meine solch kleine Leute wie erheblich größere wie z. B. Kant können nicht anders als historisch verstanden und gerichtet werden. Wenn man genau und wörtlich Locke gelesen hat, der seinerseits auch wieder in starkem Abhängigkeitsverhältnisse steht, so sieht man z. B. die sehr weit gehende historische Dependenz Kants, den welches Motiv originaliter auszeichnet? – echt deutsch das theologische. – Weil philosophiren leben ist, darum – erschrecken Sie nicht – giebt es nach meiner Meinung eine Philosophie der Geschichte – wer sie schreiben könnte! – Gewiß nicht so wie sie bisher aufgefaßt und versucht worden ist, wogegen unwiderleglich Sie Sich erklärt haben. Die bisherige Fragstellung war eben eine falsche, ja unmögliche, aber ist nicht die einzige. Darum weiter giebt es kein wirkliches Philoso­phiren, welches nicht historisch wäre. Die Trennung zwischen systematischer Philosophie und historischer Darstellung ist dem Wesen nach unrichtig. Und unphilosophisch ist der in der ärmlichen und oberflächlichen Besprechung Ihres Buches in der Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie1 Ihnen gemachte dies bezügliche Vorwurf, d. h. der Vorwurf der Nichttrennung. Darum weiter kann ich bei allem Respekte vor der Gelehrsamkeit Useners sein wissenschaftlich-paedagogisches Pronunziamento2 in den Preußischen Jahrbüchern nur negiren. Was ist denn das für eine ‚absolute Wissenschaftlichkeit‘? Ich erschrecke © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

67

vor der Klosterzelle des modernen Menschen in dieser Zeit wo des Lebens Wogen so hoch gehen, wo wenn irgend wann Wissen Macht sein soll. Hat aber diese Wissenschaft einen Boden, so ist es der einer Vergangenen Welt, der antiken. Ich erstaune über die historische Verkennung, welche einer Verab­ solutirung Platons zu Grunde liegt. Nach meiner ich versichere durchaus bescheidenen aber unabweislichen Überzeugung sind bei solcher bedeutenden und feinsinnigen Gelehrsamkeit nichtsdestoweniger die Charakterköpfe eines Platon und Aristoteles mißkannt, die psychischen Grenzbestimmungen großer Zeitepochen verwischt, scheint mir der Vorwurf des Anachronismus gerechtfertigt. So wäre denn die Renaissance ganz und gar nichts weiter als die Entdeckung des Alterthums, ein bloßes Wiedererkennen und nicht neues Leben. Dann aber wäre es mit dem Leben überhaupt vorbei. Bliebe den Spät­ geborenen dann etwas anderes als die Verehrung des – heiligen – ich unter­ breche mich.  – Ich meine, daß es eine rechte Gefahr für die Philologie ist, wenn sie etwas Anderes als historisch, wenn sie spekulativ sein will. Es würde gezwungen erscheinen, wenn ich Gierkes Besprechung Ihres Buchs3 gar nicht erwähnte. Ich möchte aber in Anbetracht seiner freundschaftlichen Gesinnung Ihnen gegenüber nicht verletzen und so werden Sie billigen, daß ich mich inhaltlich nicht äußere. Schade daß Sigwart sich noch nicht hat vernehmen lassen. Der denkt scharf und sieht Differenzen, worauf es beim primären wie beim Kunst-Denken zunächst ankommt. Nun noch ein paar Worte von Nebensächlichem. Mit großer Freude habe ich Rankes 4ten Band4 gelesen. Die da zur Behandlung stehende Zeit ist besonders geeignet für die virtuose geistreiche Teppichwirkerei. Entscheidende Momente scheinen mir vortrefflich gesehen. So der Charakter des imperiums als eines Amtes. Echt römisch. Und eine vortreffliche Einsicht. Dann weiter wie dieser Charakter sich ändert  – ich denke wohl unter orientalischem Einflusse. Weiter die Andeutung der Macht der kirchlichen Gestaltung als resultirend aus der Deckung der kirchlichen und der Verwaltungs-Bezirke. Die Erkenntniß der Einheit des Reichsgedankens bei der nur persönlichen und nur geographischen Trennung mehr der imperatorischen Funktionen als des imperiums selbst. Die Darstellung des Verhältnisses der germanischen Okkupationen zu dem Reiche, wofür ich nach Rankes Darstellung die verdeutlichende Parallele mit den von der Türkei abhängigen Staatsgebilden an der unteren Donau anführen möchte. Die Zerlegung und Auflösung des Begriffs der ‚Völkerwanderung‘ in über einen weiteren als den bisher angenommenen Zeitraum sich erstreckende Vorgänge, mit welchen weniger eine neue Zeit beginnt als daß eine solche dadurch vorbereitet wird. Die äußerliche Zeitabgrenzung wird damit beseitigt, der Nebelfleck einer undeutlichen Vorstellung in diskrete Größen aufgelöst. Und mit dramatischer Meisterschaft werden aus dem Gewoge einer ideen© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

68

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

d. h. gestaltlosen Zeit die Figuren der titanischen Menschen herausgehoben, die sich von dem branddüsteren Hintergrund einer in Fluß gerathenen Geschichte abheben, deren Seele und Kraft nichts wie Bewegung ist, von einem Schicksalswechsel wie Shakespeare ihn uns in der Reihe der Königsdramen enthüllt. Welche Fundgrube für einen Dramatiker, und gerade jetzt verwendbar bei den großen historischen Analogien. Und dabei ist dieser 4te Band geschrieben, daß kein Roman spannender ist, es eine lockendere, mehr und leichter mit sich fortführende Prosa nicht giebt.  – Um von weiterer leichter Lektüre zu sprechen, so habe ich einiges Interessante in dem letzten B ­ uche über Bismarck5 gefunden. Die Vergegenwärtigung des großen historischen Conflikts des deutschen Reichs und der römischen Herrschaft sowie seiner einzelnen, zum guten Theile nicht innerhalb des Parlaments sich abspielenden Phasen ist immerhin von Nutzen. Man beurtheilt dann einzelne Conzessionen richtiger wie man richtiger von einem Berge aus die Gegend taxirt als zum Fenster heraussehend. Meisterhaft war wieder einmal Treitschke; denn ihm schreibe ich den Artikel über Lasker in den Preußischen Jahr­büchern zu.6 Treitschke ist ein seltener Mensch, bei dem das Herz verständig ist, Empfindung die Leuchte des Gedankens ist. Wollte ich nun noch weiter erzählen, was Alles theils gelesen, theils eingesehen, theils noch anzugreifen auf Schreibtisch und Tischen herumliegt, der Brief würde zu lang werden. Lassen Sie Sich nur noch sagen, daß Antisthenes mir erst kürzlich als ein ausgezeichneter Kopf aufgegangen ist. Wie denn mancher zu Ehren kommt bei einer Betrachtungsweise, die hinter die Systeme zurückgehend überdrüssig ist der philosophischen Dogmengeschichte, die eine Erfindung der Neuzeit ein Zeichen falscher Unterrichtsmethode ist. Lebenskämpfe sind zu dogmatischen Streitigkeiten gemacht worden. Und so ist auch nicht eingesehen worden, daß die dogmatischen Streitigkeiten der sich vorstellungsmäßig fixirenden Kirche Lebenskämpfe waren. Doch nun schließe ich abrupt. Sonst geht’s wieder los – und Sie werden genug haben. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 31a. 1 Th. Ziegler: Besprechung von D.s Einleitung in die Geisteswissenschaften, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 8 (1883), S. 491–501. 2 Aufruf zum Umsturz. – Vgl. H. Usener: Organisation der wissenschaftlichen Arbeit. Bilder aus der Geschichte der Wissenschaft, in: PJ 53 (1884), S. 1–25. 3 O. Gierke: Eine Grundlegung für die Geisteswissenschaften, in: PJ 53 (1884), S. ­105–144. 4 L. von Rankes Weltgeschichte. Bd. 4: Das altrömische Kaisertum. Mit kritischen Erörterungen zur alten Geschichte. 5 Vermutlich handelt es sich um das Buch von Hermann Robolsky Bismarck. Zwölf Jahre deutscher Politik 1871–1883, das zu Beginn des Jahres 1884 in Leipzig erschien; even© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg 

69

tuell aber auch um: Ders.: Bismarck nach dem Kriege. Ein Charakter- und Zeitbild. Leipzig 1883. 6 Der Jurist und nationalliberale Politiker Eduard Lasker (1829–1884) starb am 5. Januar 1884 in New York.  – Ein anonymer Nachruf ist abgedruckt in: PJ 53 (1884), S. ­198–204.

[624] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Lieber Freund,

[nach dem 14. Februar 1884]1

Wie sehr hat mich ein Lebenszeichen von Ihnen nach so langer Zeit gefreut. Zunächst zeigt es mir, was ja auch Ihre Nachrichten sagen, daß in Ihrem Hause die alte Heiterkeit wieder eingekehrt ist, und in Ihrer Stube die unschätzbare Ruhe des Gemüths. Klagen Sie nun über den langsamen Fortschritt Ihrer Arbeiten, so würde was ich sagen könnte, wie ein Echo lauten. Ich habe diesen Winter sehr angestrengt gearbeitet und war manche Zeit hindurch wieder ganz in der Unterwelt: Sie kennen an mir die Verfassung, in der ich zu keinem Gespräch oder Geschäft, das nicht auf meine Gedanken sich bezieht, tauglich bin. Auch glaube ich erhebliche Fortschritte gemacht zu haben. Aber wenn ich das Ziel des zweiten Bandes vergleiche mit den wenigen Fuß Weges die ich durchlaufen habe, so habe ich für denselben überhaupt wenig Hoffnung.2 Es hat sich so geschickt, daß ich den ganzen Winter an der Frage nach der Verbindung der Sätze einer Grundlegung bleiben konnte; die Vorlesungen Psychologie und Erkenntnißtheorie – Logik – sowie Übungen über Kants Vernunftkritik gestatteten das.3 Es ist mir auch vielfach gelungen, ganz plane Formeln und Beweise zu finden. Der zweite Band, könnte er fertig werden, würde sich von dem ersten gar sehr unterscheiden durch die erreichte Sim­plicität des Gedankens und der Fassung. Aber ich könnte einen Holzhacker beneiden darum, daß er jeden Tag, jede Woche sieht was er gethan hat. Die Anforderungen an die philosophirende Person sind unerfüllbar. Ein Physiker ist eine angenehme sich und anderen nützliche Wirklichkeit; der Philosoph existirt, wie der Heilige, nur als Ideal. … Sie können sich schwer vorstellen, welchen Dienst meinem Buche in einer solchen Welt Gierke geleistet hat. Wie wünschte ich auch, daß Sigwart sich ausspräche. … … Der Aufsatz über Lasker war  – rathen Sie?  – von Freund Rößler.4 Mommsen schreibt nun doch Kaisergeschichte.5 Aber er ist müde und recht © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

70

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

staubig von dem Weg auf den Landstraßen der Philologie, Inskriptionen und Partheipolitik. Und es ist nicht zu denken, wie Jemand die Zeit des anhebenden Christenthums ohne alle Religion soll schreiben können, ja selbst ohne Heimweh des Geistes nach dem unsichtbaren Reich. Selbst das Jugendalter der germanischen Stämme darzustellen, halte ich ihn nicht für fähig. Dilthey6 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 32. 1 In BDY: „[Febr. 1884.]“. 2 Den 2. Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften hat D. nicht fertig gestellt. 3 D. hielt im WS 1883/84 folgende Vorlesungen: Ergebnisse der gegenwärtigen Wissenschaft über Gesellschaft, Staat und Geschichte (1std.); Logik und Erkenntnißtheorie (3std.) und Psychologie (4std.). – Übungen zu Kant sind nicht in der Zusammenstellung der Veranstaltungen und Übungen W. Diltheys 1864–1908 (StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 18, Nr. 4) aufgeführt, haben aber offenkundig stattgefunden. 4 Der Philosoph, Staatswissenschaftler und Publizist Konstantin Rößler (1820–1896). 5 Th. Mommsen: Römische Geschichte. 3 Bde. Leipzig und Berlin 1854–1856; Bd. 4 wurde nicht geschrieben, Bd. 5 erschien postum 1885 in Berlin. 6 Die Unterschrift wurde aus der 1. Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ­ergänzt.

[625] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff 1 Das Manuscript, das Dr. Reicke zu veröffentlichen begonnen hat,2 enthält ein von Kant eine längere Reihe von Jahren hindurch bis zu seinem Tode ge­ fördertes Werk. Dasselbe schließt sich an die ‚metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘ von 1787 an. Es will den Übergang von ihnen zur ­Physik machen. In dieser Aufgabe faßte Kant den großen naturwissenschaft­ lichen Entwurf seiner Jugend (die Kant-Laplace’sche Theorie) mit seiner späteren kritischen Arbeit zusammen. So mußte ihm das Buch das ihm vorschwebte als das ‚Hauptwerk‘ seines Lebens erscheinen. Bald die Hälfte liegt nun gedruckt vor. Aus dem Gedruckten ergiebt sich, daß das Werk durchaus Neues, in Kant’s früheren Werken nicht Vorliegendes enthält. Es ergiebt sich ferner, daß Altersschwäche dem ganzen vorliegenden Manuscript nicht nachgesagt werden darf. Dagegen muß dahingestellt bleiben, ob die zu Grunde gelegte physische Hypothese in ausreichender Durchführung in diesen Papieren vorliegt. Dann wird sich fragen, welche Bedeutung sie beanspruchen kann. Endlich ob die Papiere sich zu einem inneren Zusammenhang Eines Buches werden zusammenordnen lassen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

71

Daher wird zunächst zu wünschen sein, daß Dr. Reicke die Aufgabe so sorgfältig als möglich zu Ende bringe und auch so rasch als möglich. Die S­ ache ist von solcher Bedeutung, daß ein Zuschuß zu diesem Zwecke u. eine Instandsetzung R[eicke]’s sich der Ausgabe möglichst zu widmen geboten erscheint. Ist dann das Vorhandene so veröffentlicht: dann erst können die Kenner Kants die Frage in Angriff nehmen, in wiefern die Aufzeichnungen Kants die Herstellung des beabsichtigten Zusammenhangs seines Werkes gestatten. Der Plan desselben reicht sicher in eine Zeit zurück, in welcher Kant noch Herr seiner ganzen geistigen Kräfte war, und wie er arbeitete, besaß er sicher diesen Zusammenhang als er zu schreiben begann. Nur ob wir ihn herstellen können, ist die Frage. Sicher wird dann die nächste Aufgabe sein, das Manuscript Kants dem Publikum zugänglicher zu machen, als es in der Monatsschrift ist. Aber R[eicke]’s Abdruck ist dazu die nothwendige Vorbedingung. Der abgelegene Ort der Publikation ist kein Schaden von Belang. Denn eine herstellende den inneren Zusammenhang zur Anschauung bringende Ausgabe wird erst durch R[eicke]’s Vorarbeit den Kennern möglich werden. Nur eine Vorarbeit kann R[eicke]’s Abdruck sein u. sein wollen. Natürlich wird die Nacharbeit das M[anu]scr[ipt] wieder zu Hilfe nehmen müssen. Reicke’s andrer Plan,3 die Sammlung der Briefe von und an Kant muß ebenfalls unterstützt werden, soweit das irgend möglich ist. Es ist Gefahr im Verzug: was von Briefen noch da ist muß jetzt zusammengehalten u. durch diese Sammlung theils veröffentlicht, theils herausgelockt werden. Beides sind Vorarbeiten4 für die große Aufgabe einer würdigen u. zweck­ mäßigen Gesammtausgabe Kants. Eine solche wird durchaus von der Akademie der Wissenschaften in Angriff genommen werden müssen. Sie muß was von Handschriften noch da ist endlich einmal methodisch nutzen. Sie muß einen reinlichen Text in der Orthographie Kants herstellen. Sie muß Voll­ ständigkeit erstreben. Sie muß durch eine ordentliche Angabe der Seiten­zahlen der ersten Ausgaben, dann den am meisten gebrauchten späteren Editionen ermöglichen, die Citate von Stellen Kants (von Mellin’s so erst brauchbar werdendem Wörterbuche5 ab) in Einer Edition nachschlagen zu können. Durch Ziffern verschiedener Art kann das leicht geschehen. Sie muß die erste u. zweite Ausgabe der Kritik d[er] reinen Vernunft beide reinlich vollständig u. ganz abdrucken. Es gilt zugleich eine natürliche u. angemessene Reihenfolge der Werke herzustellen. Eine solche Ausgabe herzustellen ist eine Ehrenpflicht der Nation. Dilthey Februar 1884. Berlin. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

72

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

Original: Hs.; Briefentwurf; StB PK Berlin, HA , Sammlung Darmstaedter 2a 1870, Nr. 63–64. 1 Der Adressat des Briefentwurfs ist vermutlich F. Th. Althoff. 2 Im Original: daneben am rechten Rand: „1.“. – Rudolf Reicke (1825–1905): Historiker und Kantforscher; Studium und Promotion in Königsberg, 1858 Bibliothekar, 1894 Oberbibliothekar; Mithg., ab 1863 alleiniger Hg. der AMS. – Ein ungedrucktes Werk von Kant aus seinen letzten Lebensjahren, in: AMS. Neue Folge 19 (1882), S. 66–127, ­255–308, 425–479, 569–629; 20 (1883), S.  59–122, 342–373, 415–450, 513–566; 21 (1884), S. 81–159, 309–287, 389–420, 583–620. 3 Im Original: daneben am rechten Rand „2.“. 4 Im Original: daneben am linken Rand „3.“. 5 Vgl. G. S. A. Mellin: Encyklopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie. 6 Bde. Züllichau und Leipzig 1797–1803 sowie Ders.: Marginalien und Register zu Kants Kritik des Erkenntnissvermögens. 2 Bde. Züllichau 1794–1795; Kunstsprache der kritischen Philosophie oder Sammlung aller Kunstwörter derselben. Jena und Leipzig 1798.

[626] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Breslau, 18. II. [18]84.

Heute nur einige Zeilen in Eile. Wirthschaftliches sowie Schnepfe führen mich in der ersten Hälfte des März nach Kl[ein]-Oels. Halten Sie also ja fest an Ihrem Plane das Philosophenzimmer aufzusuchen. Wir könnten nach langer Unter­brechung einmal wieder Gott und die Welt nachdenklich besprechen. Die wohl gebrochene Arbeitskraft Sigwarts – eine mir unerwartete und betrübliche Nachricht. Nicht zwar daß ich erwartet hätte, daß er – in der Voraussetzung und Voreingenommenheit der Evidenz befangen, der Gedankenstellung den Ruck zu geben vermocht hätte, der erforderlich und geboten ist. Etwas Neues thut Noth. Das wäre keine üble Aufgabe eine erklärende historische Darstellung der Haupt­kategorien des erkennen wollenden Denkens. Historisches Verständniß zusammen mit kritischem Gewinne würde sich ergeben. Ebenso wild wie Denken, Begreifen, Erkennen wird noch immer Evidenz, Gewißheit, Sicherheit durcheinander geworfen. Der Hauptangriffspunkt natürlich Mill,1 von dem so viele Andere leben und der mit Ausnahme seiner trefflichen Darstellung natur­ wissenschaftlicher Methode überall falsch ist. Sigwart hätte das Land seiner Sehnsucht nie erreicht, weil er es außen sucht, lauter Ikarusflüge. Der Versuch © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

73

aber wäre immer belehrend und interessant gewesen. Und er gehört abgesehen davon, daß er ausgezeichnet ist durch Schärfe und Schneidigkeit des Denkens, zu denen, die verantwortlich denken. Ich gratuliere zu jedem einzelnen Falle, wo Sie die dünne jüdische Routine, der das Bewußtsein der Verantwortlichkeit für die Gedanken fehlt, wie dem ganzen Stamme das Gefühl psychischen und physischen Bodens, von dem Lehrstuhle fern halten.2 – Daß das Neue welches Noth thut nicht alsbald dem Verständnisse begegnet, wie Sie es erfahren, ist nur natürlich. Nach und nach und durch Vermittelung des Lehrstuhls wird es schon wirken. Vielleicht auch durch oppositionellere Pointierung. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 32a. 1 J. St. Mill: A System of Logic. Ratiocinative and Inductive. London 1843; dt. Übers. 1849: System der deduktiven und induktiven Logik. Eine Darlegung der Grundsätze der Beweislehre und der Methoden wissenschaftlicher Forschung. 2 Yorcks Gratulation an D. und seine nachfolgenden Äußerungen sind vor dem Hintergrund zu verstehen, dass D. vermutlich in seinem Brief vom Februar 1884 (vgl. Brief [624]) Yorck in einem von der Hg. von BDY weggelassenenen Passsus (vgl. BDY, S. 39) mitgeteilt hatte, dass in der Fakultätssitzung vom 14. Februar 1884 die Probevorlesung des Habilitanden Georg Simmel über die „metaphysischen Grundlagen des Erkennens“ als ungenügend bewertet und Simmel angeboten wurde, die Probevorlesung nach Ablauf von mindestens 6 Monaten zu wiederholen (vgl. zu diesem Vorgang K. Ch. Köhnke: Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen. Frankfurt / Main 1996, S. 111–121). – Georg Simmel (1858–1918): Philosoph und Soziologe; 1881 Promotion, 1885 Habilitation in Berlin, 1885–1890 PD, 1900 unbesoldeter a. o. Prof. für Philosophie in Berlin, 1914 o. Prof. für Philosophie in Straßburg. Der deutsch-jüdische, zum Protestantismus konvertierte und später konfessionslose Simmel lehrte damit „fast drei Jahrzehnte in Berlin, ohne eine besoldete Stellung zu erlangen“ (Gerhardt / Mehring / Rindert, S. 195).

[627] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Breslau, 4. III. [18]84. Den besten Dank, lieber Freund, Ihnen und Ihrer Frau für die freundlichen Wünsche.1 Ich ergreife heute ein enges Blättchen, weil ich hoffe daß wir uns bald sehen. Ich denke am 10 oder 11ten nach Oels zu kommen entweder dort Sie vorfindend oder mit Ihnen zusammen … . Die Bodenlosigkeit der abstrakten wissenschaftlichen Dogmatik, die sich so recht zu Hause fühlt in der dünnen und dürren Berliner Atmosphäre, kann © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

74

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

nur wissenschaftlich überwunden werden durch Erklärung. Vermag ich den Darwinismus zu erklären, so brauche ich mir wegen des fehlenden Gliedes in der Entwickelungskette nicht den Kopf zu zerbrechen. – Aber die Erklärung muß aus voller Erfahrung gegeben werden. Die ‚Wissenschaftler‘ stehen den Mächten der Zeit ähnlich gegenüber wie die feinstgebildete französische Gesellschaft damaliger Revolutionsbewegung. Hier wie dort Formalismus, Kultus der Form. Verhältnißbestimmungen der Weisheit letztes Wort. Solche Denkrichtung hat natürlich ihre – wie ich meine – noch nicht geschriebene Geschichte. Die Bodenlosigkeit des Denkens und des Glaubens an solches Denken  – erkenntnißtheoretisch betrachtet: ein metaphysisches Verhalten  – ist historisches Produkt. Der Darwinismus mit allem was von Hypothesen ihm verwandt ist selbst ein Züchtigungsprodukt. – Doch genug, sonst reicht die Karte doch nicht. Yorck 2 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 33. 1 Ein Gratulationsbrief D.s zu Yorcks Geburtstag am 1. März 1884 ist nicht überliefert. 2 Die Unterschrift wurde aus der 1. Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ­ergänzt.

[628] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Breslau, 6. III. [18]84.

Ich fahre Mittwoch den 12. März nach Kl[ein-]Oels und zwar, wenn Sie diesen Tag wählen, mit dem Nachmittagsschnellzuge, also mit Ihnen. Wollte es nur wärmeres Wetter werden! Ich sehne mich nach Luft und Entferntsein von allem Druckwerk. In Berlin scheint es ja stürmisches Wetter in hohen Regionen.1 Leider viel persönliche Schärfen, die die Zukunft recht problematisch machen. Berg2 sprach ich gestern. Er war in Kunstsachen in Berlin ge­wesen, hatte aber von dem Leben nichts gesehen noch erfahren. Selbst ein solcher Musterknabe wie Goßler3 fällt von der Stange! Ich weine ihm nicht nach. Für den Moment noch Vertuschung. Aber wenn Bismarck erscheint?! … Über den Sitz der Differenzen habe ich meine Vermuthungen, die ich aber nicht aussprechen mag bei dem geringen Anhalt für sie. – Regiment ist eben un­theilbar wie das Leben. Yorck4 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Einige Studenten an Dilthey Einige Studenten an Dilthey

75

Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 34. 1 Otto von Bismarck (1815–1898), der seit 1871 Kanzler des Deutschen Reiches war, hatte versucht, seine „repressiven Sozialgesetze mit einer positiven Sozialpolitik“ auszu­ gleichen (H. J. Schoeps: Deutsche Geistesgeschichte der Neuzeit. Bd.  V. Mainz 1980, S. 62), was aber nicht gelang und in den 1880er Jahren immer wieder zu innenpolitischen Konflikten führte. 2 Der Diplomat und Landschaftsmaler Albert Berg (1825–1884) gehörte zum Bekanntenkreis Marie von Olfers’ (1826–1924), einer Tante Paul Yorcks. 3 Der damalige preuß. Kultusminister und Reichstagspräsident Gustav von Goßler (1838–1902). 4 Die Unterschrift wurde aus der 1. Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ergänzt.

[629] Einige Studenten an Dilthey Hochgeehrter Herr Professor! Die ganz ergebenst unterzeichneten Schüler von Ihnen gestatten sich hierdurch im Andenken an das im vergangenen Wintersemester stattgehabte Privatissimum ‚Uebungen über Kant’s Kritik der reinen Vernunft‘ Ihnen hoch­ geehrter Herr Professor, die beifolgende Statuette Kant’s zu überreichen mit der Bitte dieselbe als ein geringes äußeres Zeichen ihrer Dankbarkeit und Verehrung gütigst entgegennehmen zu wollen. Berlin, 10. März 1884. Sigmund Auerbach. Stanton Coit. Johann Kolloge. Robert Rühlmann. Fritz Graef. Hugo Rheinhold.1 S[eine]r Hochwohlgeboren dem Herrn Professor Dilthey hier Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. Ms. W. Dilthey, 14 o, Nr. 1. 1 Sigmund Auerbach (1860–1923): Chirurg und Neurologe in Frankfurt / Main. – ­Stanton Coit (1857–1944): amerik. Philosoph und Menschenrechtler; Promotion in Berlin, 1888 Präsident der West London Ethical Society, 1893–1905 Hg. des International Journal of Ethics. – Eine Nachschrift von D.s in den 1880er Jahren in Berlin gehaltener Vorlesung über © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

76

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

Logik und Erkenntnistheorie von der Hand Johann Kolloges aus dem WS 1883/84 wurde bei der Edition der Berliner Logik-Vorlesungen der achtziger Jahre (1883–1888) herangezogen (vgl. GS XX, S. 165–234 und S. 385–391). – Robert Rühlmann: Promotion 1889 in Kiel; Lehrer am Realgymnasium in Altena – Fritz Graef (1860–1936): Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in München, Jena und Berlin; Lehrer an der Oberrealschule in Flensburg. – Hugo Reinhold (1853–1900): Kaufmann und Bildhauer; 1874–1879 Händler in San Francisco, 1870 in Hamburg, 1882 Studium der Philosophie in Berlin, 1888–1892 Studium an der Berliner Akademie der Künste.

[630] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [Ende März oder Anfang April 1884]1 Hier sitze ich, mein verehrter Freund, noch in Erwartung der kommenden Dinge. So sende ich Ihnen heute nur ein Wort herzlichen Dankes für die schönen Tage die ich bei Ihnen verleben durfte, sende es der verehrten Frau G ­ räfin und Ihnen. Hier geht sonst in diesen Tagen Alles noch bunt durcheinander. Heute habe ich Erdmannsdörffer2 zur Bahn gebracht. Gestern den ganzen Tag bunte Gesellschaft. Es sind so viele Professoren hier, daß nur aus diesem Grunde Schmoller und Scherer für die nächste Zeit geflüchtet sind. So suche ich denn heute nur mühsam meine schöne Arbeitsstimmung von Klein-Oels wieder zusammen. Die ruhige Beschaulichkeit der gelben Stube will nicht zurück­ kehren. Und Sie? Sie haben nun wohl die äußeren Geschäfte erledigt, und sind wieder ganz bei sich eingekehrt. Möchte der Plato wachsen und gedeihen wie draußen Sträucher und Bäume, an denen hier schon die Blüthen hervor­ brechen. Dilthey3 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 35. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 Der Historiker Bernhard Erdmannsdörffer (1833–1901); enger Freund D.s. 3 Die Unterschrift wurde aus der 1. Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ­ergänzt.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Wilhelm Scherer Dilthey an Wilhelm Scherer

77

[631] Dilthey an Wilhelm Scherer Die heute Mittag erfolgte glückliche Geburt eines gesunden Knaben beehren sich anzuzeigen Professor W. Dilthey und Frau geb. Püttmann. Berlin, den 11. April 1884. Hinter den Zelten, Villa Rosenau. Liebe Freunde, Alles steht gut, Käthe recht munter, der kleine Junge1 ohne Fehl u. lang u. lustig wie einst das Schwesterchen war, einiges nur stärker. Noch haben wir keinen Arzt im Hause gehabt. Möge also Alles so weitergehen.

In treuster Gesinnung der Ihrige W. Dilthey

Original: Die gedruckte Anzeige mit handschriftlichem Zusatz D.s ist hinterlegt in: ABBAW, Scherer-NL , Nr. 331, Bl. 89–90. 1 Maximilian Dilthey (1884–1962).

[632] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Kl[ein-]Oels, 12. IV. [18]84. Meine und unser Aller herzliche Glückwünsche Ihnen und der verehrten jungen Mutter. Gott gebe nun weiteres fröhlichstes Gedeihen und glücklichste Kräftigung. Hans1 beim Empfange Ihres Briefchens in meinem Zimmer begrüßte den Kleinen als Geburtstagsgenossen Raffaëls.2 Meine Frau, der ich alsbald die Nachricht brachte, bewillkommnete den kleinen „­Sokrates“. Möge, wohin auch des kleinen Menschen Gaben sich entfalten, die reichste Innerlichkeit sein Theil sein, er als ein Festkind an dem Tage des Gedächtnisses aeterner Lebendigkeit zum Leben berufen, diesen höchsten Beruf als höchsten und innerlichen festlich erfüllen! Lassen Sie uns, zumal während der ersten Wochen, durch häufige Mittheilung Theil nehmen an © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

78

Dilthey an Hermann Usener Dilthey an Hermann Usener

Ihrer Freude über jeden Schritt der Kräftigung Ihrer Frau, der Selbstmani­ festation Ihres Jungen. Unserer herzlichen Mitfreude sind Sie gewiß. Bringen Sie unsere allerbesten Wünsche Ihrer Frau in das schönste Zimmer, das Wochenzimmer.

Treu ergeben Ihr Yorck

Original: nicht überliefert; Abdruck des Briefes nach der 1. Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) und den Korrekturbögen (Juni–August 1923) von BDY, hinterlegt in: ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 333; Erstdruck: Gründer, S. 268. 1 Ein jüngerer Bruder Graf Paul Yorcks: Graf Hans Yorck von Wartenburg (1844–1912). 2 Maximilian D. wurde am Karfreitag geboren wie Raffael, dessen Geburtstag mit Karfreitag, 6. April 1483, angegeben wird; auch Raffaels Todestag fiel auf den 6. April (1520), der wiederum ein Karfreitag war.

[633] Dilthey an Hermann Usener [14. April 1884]1

Ihr Lieben

Ich wußte nicht wohin ich Euch die freudige Botschaft senden sollte, daß am Charfreitag Nachmittag bei uns ein gesunder Junge erschienen ist, welche Ihr ja nun schon von Bibrich wol gehört habt. Da kommen heute Briefe von der lieben Mutter und Marien2 und melden von der schweren Erkrankung Hermännchens und Eurer plötzlichen Rückreise.3 So Gott will hat sich nun Alles dort zum Guten gewendet. Sei nur selber recht vorsichtig lieber Hermann, da Hals u. Lunge bei Dir noch so reizbar sind. Althoff, der eben da war, läßt Dich auch darum bitten. Einstweilen aber sende ich Dir nur diese Zeilen, in großem Trouble. Bis jetzt geht Alles erwünscht. Der Junge ist wohl­ gestalt ohne Fehler und munter; mir will scheinen als sei er Käthen ähnlicher als Klärchen. Doch läßt sich da noch wenig sagen. Käthe ist sehr matt u. angegriffen, aber Alles geht doch normal. Da Gusserow4 gerade verreist war, haben wir keinen Arzt zugezogen, und erst gestern am Ostersonntag ist dann Gusserow gekommen u. hat die weitere Pflege übernommen, und der Hausarzt erschien, der © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

79

Dilthey an Gustav von Schmoller Dilthey an Gustav von Schmoller 

einem ja in dieser Zeit nichts nützen kann. Nun tritt die Ammenfrage auf, und trägt nicht gerade zur Behaglichkeit des Lebens bei. Laßt doch ja bald vernehmen wie’s in Heidelberg steht. Treulichst Euer Wilhelm Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL , S 2103, 3, Nr. 4. 1 Im Original: am oberen Rand eine Notiz Useners: „Erh[alten] & beantw[ortet] 16 apr[il] 84“. – Useners Antwort-Brief ist nicht überliefert. 2 D.s Schwester Marie (1836–1891), die mit ihrer Mutter im Bibericher Elternhaus wohnte. 3 Useners Sohn Karl Albert Hermann (1876–1928). – Usener und seine Familie hatten den Italien-Aufenthalt, der seit Oktober 1883 mit dem Zweck der Rekonvalensenz Useners nach einer Lungenkrankheit angedauert hatte, im März / April 1884 vorzeitig abbrechen müssen, weil Useners Sohn lebensgefährlich erkrankte. 4 Adolf Ludwig Sigismund Gusserow (1836–1906): Gynäkologe; 1866 o. Prof. in ­Utrecht, 1867 in Zürich, 1872 in Straßburg, 1879 o. Prof. für Geburtshilfe in Berlin.

[634] Dilthey an Gustav von Schmoller [27. 04. 1884]1

Herzlichen Dank, lieber Freund!

Von der staatswissenschaftlichen Gesellschaft habe ich Aufforderung z[um] Eintritt dankbar empfangen.2 In der nächsten auf diese vom 28 A[pril] folgenden Sitzung – diesmal verbietet es noch die Sorge für die Gattin – werde ich dann so frei sein, mich ihr vorzustellen. Bei m[einer] Frau geht Alles langsam, aber ordentlich voran. Mit besten Grüßen an Sie beide3

Ihr Dilthey

Original: Hs.; Postkarte; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL G. von Schmoller, Nr. 174, Bl. 230–230 R. 1 Datierung nach Poststempel. 2 Die Staatswissenschaftliche Gesellschaft wurde 1883 in Berlin gegründet. 3 G. von Schmoller und seine Ehefrau Lucia (1850–1928), geb. von Rathgen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

80

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

[635] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [Anfang Juni 1884]1 Sie sind so in Schweigen versunken, lieber Freund, daß ich mir vorstelle, Sie schreiben und der Plato rückt voran. … Bei uns geht es mit dem kleinen Menschen recht gut. Er verfolgt schon alle Szenen seines Daseins mit ruhiger Voraussicht, hört zu schreien auf, wenn er bemerkt, daß etwas geschieht, das seine Wünsche bald zur Erfüllung bringen wird, besonders interessirt mich aber das lebhafte Streben sich mitzutheilen und eine Communikation herbeizuführen. Ich sehe recht, wie absurd die Ableitung des Sprechens von den Reflexbewegungen ist, die an die Stelle eines zweifellosen primären psychischen Thatbestandes eine physiologische Interpretation setzt. Leider hatte ich keine Zeit ein Tagebuch wie eine Zeit lang bei Clärchen zu führen, nur Einzelnes kann ich mir notiren, will aber besonders das auf die Sprache Bezügliche aufschreiben, da das Kind gerade in dieser Richtung sich sehr früh entwickelt. … (Wir werden) die Taufe ganz still feiern, ich denke mir am Sonntag, nur in der Familie. Ohne daß ich darüber nachgedacht hätte, war es für mein Gefühl selbstverständlich, Sie zum Pathen meines Sohnes zu wünschen. Es ist ja nur wieder ein neues äußeres Zeichen davon, wie ich mich Ihnen innerlich im tiefsten Fühlen und Denken verbunden fühle. Das Kind soll nach meinem Vater2 Maximilian (als Rufnamen) heißen, und Hermann Usener in Bonn und Hermann Grimm sollen mit Ihnen Pathen desselben sein. Möge es dann in seine Pathen hinein wachsen und möge Anschauung und Eindruck derselben ihm eine bildende Kraft werden. Ich bin sehr fleißig; leider nehmen mich die Vorlesungen und andre amt­ liche Arbeiten gar sehr in Anspruch.3 Ich habe mit intensiver Anstrengung die Geschichte der Erziehung in Europa durchgearbeitet, und es hat sich mir daraus eine thatsächlich genaue Anschauung von den bildenden Kräften im frühesten uns zugänglichen Leben der Völker und der Bedeutung der Willenserscheinungen (des Ethos) innerhalb derselben entwickelt, welche ich als ein wichtiges Glied im Organismus des zweiten Bandes betrachte. Dazu nähere ich mich einer pädagogischen Theorie und denke an einen großen Aufsatz über die brennenden Fragen von ihr aus. Haben Sie in der Nationalzeitung Julian Schmidt über mein Buch gelesen? Auch in der freisinnigen ‚Nation‘ war eine Besprechung.4 Respektvoll, doch nirgend Verständniß, leider auch bei Julian Schmidt zu meiner großen Überraschung keine Fähigkeit mehr, einen schwierigeren Gedankenzusammen© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

81

hang aufzufassen. Schlußergebniß: ich muß den zweiten Band viel einfacher und faßbarer schreiben. Nächstens über hier allerhand Nova. Novissima: Dove kommt höchst wahrscheinlich nach Bonn, Gierke vielleicht nach Göttingen, Mommsen schreibt wirklich an der Kaisergeschichte und studirt – Kritik des Urchristenthums!5 Dilthey6 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 36. 1 In BDY: „[Juni 1884.]“. 2 D.s verstorbener Vater, Maximilian August Franz Dilthey (1804–1867). 3 Im SS 1884, das am 16. April begann, hielt D. folgende Vorlesungen: Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhang mit der allgemeinen Kultur und den beson­deren Wissenschaften (4std.), Pädagogik (2std.) sowie Philosophische Übungen über Rousseau u. Kant, in Bezug auf die Grundlegung der Pädagogik. 4 Die Hg. von BDY notiert: „Die Besprechung von D.s Buch, die in der ‚Nation‘ am 8. Juni 1884 (Jg. I, S. 506 f.) unter dem Titel: ‚Das Ende der Metaphysik‘ erschien, ist mit ‚W. R.‘ gezeichnet.“ – J. Schmidts Rezension erschien in: National-Zeitung, Nr. 329 vom 5.6.1884. 5 Der Historiker A. Dove wechselte 1884 von Breslau nach Bonn; O. Gierke, der seit 1871 in Breslau gelehrt hatte, nahm 1884 einen Ruf nach Heidelberg an; Th. Mommsen arbeitete am 5. Band seiner Römischen Geschichte, der 1885 erschien. 6 Die Unterschrift wurde aus der 1.  Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ­ergänzt.

[636] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Kl[ein-]Oels 18. 6. [18]84.

  Lieber Freund. Mit Freude und Dank nehme ich die Pathenstelle bei Ihrem kleinen Sohne an, ein neues und an sich bedeutungsvolles Zeichen innerer Gemeinschaft. Gern wäre ich bei der schönen Feier, deren lebendige Bedeutung unter der Vorstellungshärte dogmatischer Satzung gelitten hat, zugegen. Meine treuen Wünsche und volle Theilnahme sind, Sie wissen es, bei Ihnen. Ich habe in früherem Gespräche die Nothwendigkeit hervorgehoben die dogmatischen Gestaltungen, von denen einige Veranstaltungen geworden sind, nach ihrem Motive aufzulösen, wo dann eine wirkliche historische Dogmatik sich ergeben © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

82

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

würde, an die Stelle bisheriger Chronik der Dogmen tretend. Die Betrachtung aus dem Motive heraus würde den Gegensatz von Sache und Symbol, welch letzteres sich bis zu der Fadenscheinigkeit einer Rekognitionsgebühr entleert hat, als einen partikularen erkennen lassen. Transzendenz gegen Metaphysik! Das lehrt die Erfahrung gesteigerten und bereicherten Lebens. Gehen wir bei dem Leben in die Schule, wie Sie jetzt gerade mit durch innigstes Gefühl geschärftem Blicke von der Lebendigkeit Ihres kleinen Sohnes sich informiren lassen, so erkennen wir das Unzutreffende einer so genannt wissenschaftlichen Hypothese, die sich vornehm dünkt, weil von jenem empirischen Standpunkte aus allerdings zu keiner Construktion zu gelangen ist. Naturwissenschaftlich nicht zu verwerthen! Das ist der Vorwurf, der erhoben wird. Das Praktisch werden können ist ja nun allerdings der eigentliche Rechtsgrund aller Wissenschaft. Aber die mathematische Praxis ist nicht die alleinige. Die praktische Abzweckung unseres Standpunkts ist die paedagogische, im weitesten und tiefsten Wortsinne. Sie ist die Seele aller wahren Philosophie und die Wahrheit des Platon und Aristoteles. Ich schreibe diese Namen nicht gern, weil die Erwähnung mich zu dem Bekenntniß führt, daß ich die letzte Zeit so gut wie nichts gearbeitet habe. Erst als mir das Lesen unerträglich wurde, habe ich angefangen an früheres Eigenes wieder anzuknüpfen. Bei Ihrem Fernsein fällt eben der äußere Anstoß fort. … Nach Ihren Universitätsnachrichten scheint Breslau und der Osten wissen­ schaftlich ja nun ganz aufgegeben. Arge politische Sünden, die sich rächen werden. Denn nicht wie der Sozialdemokrat im Reichstage sagt, christ­liche sondern historische Wahrheit ist es, daß der Väter Sünden sich rächen an den Kindern und von ihnen gebüßt werden müssen. – Mommsen ist seit der Jämmerlichkeit seines letzten öffentlichen Briefes als unmöglicher Historiker überführt.1 Was er etwa, von historisch-philologischer Erdarbeit abge­sehen, noch schreibt, ist nach meiner Ansicht gleichgiltig. Daten mag er gerade ­rücken, Fakten mag er richtiger wie bisher lokalisiren, die Werthung wird immer eine verrückte sein, ich möchte beinahe sagen, wegen mangelnder Aufrichtigkeit. In der Historie aber ist die richtige Darstellung gebunden an die richtige Wer­ thung. Was sagen Sie zu dem neuen national­liberalen Anlauf? Ich habe kein Vertrauen, denn eine innere Mainlinie wird verkleistert. Die Süddeutschen wollen und sind Anderes und Mehr. Ich meine auch hier ist B ­ ennigsen verhängnißvoll.2 Auch hier mangelt Aufrichtigkeit, die der Respekt vor der Person verdeckt. Das Rechtgehabthabenwollen ist das Unrechthaben und eine anfängliche Schwäche. Von der glaubenslosen, kurzathmigen Klugheit der Berliner Parteileitung Hobrecht3 etc. will ich gar nicht einmal reden. Der kommt am Ende nicht einmal in den Staatsrath! Der mir übrigens eine mosaikartige Zusammensetzung zu erfahren scheint. Aber wer weiß? Bismarcks © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

83

Odem belebt vielleicht auch dies Gebilde. Nicht ohne Interesse ist der Wechsel in der Kronprinzlichen Umgebung.4 Doch nun zum Schlussse die herzlichsten Glückwünsche Ihrer verehrten Frau und die besten Wünsche für Ihre Kräftigung von dem treu ergebenenen

Gevatter Paul Yorck5

Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr.  37. Der letzte Satz des Briefes und die Unterschrift wurden aus der 1. Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ergänzt. 1 Brief Th. Mommsens die Verlängerung der Sozialistengesetze betreffend an Fer­ dinand Scheller (1839–1922): Redakteur der Fränkischen Leuchte; Ehrenbürger der Stadt Coburg, in: Fränkische Leuchte, Nr. 58 (vom 10. Mai 1884); oder: Brief Th. Mommsens an F. Scheller, in: ebd., Nr. 45 (vom 8. April 1884); WA (ohne Einleitung) in: Volkszeitung, 32. Jg., Nr. 90 (vom 17. April 1884). 2 Der liberale Politiker Rudolf von Bennigsen (1824–1902).  – 1880 spaltete sich der linke Flügel der Nationalliberalen von der von R. von Bennigsen geführten Partei und Fraktion ab als Liberale Vereinigung oder Sezession. 1884 strebten die Sezessionisten eine Vereinigung aller liberalen Parteiungen Deutschlands an. Dieses Vorhaben wurde von den Nationalliberalen, die sich hinter die Politik Bismarcks stellten, mit der sog. Heidelberger Erklärung vereitelt. 3 Der nationalliberale Politiker Arthur Hobrecht (1824–1912) war 1879 wegen Differenzen mit Bismarck von seinem Amt als preuß. Finanzminister zurückgetreten und seitdem Reichstagsabgeordneter. 4 An die Stelle Karl von Normanns (1827–1888) trat Hugo Fürst von Radolin. Der an der preuß. Königsakademie in Berlin ausgebildete K. v. Normann, der 1864 Privat ­sekretär der Kronprinzessin Victoria Adelaide Marie Luise (1840–1901), der späteren Königin von Preußen und Deutschen Kaiserin, gewesen war und 1866 erster Adjutant und Vortragender Rat von Kronprinz Friedrich Wilhelm, wurde 1883 zum Hofmarschall ernannt. Im Sommer 1884 wurde Normann aus dem Hofdienst entlassen und bekam die Stelle eines preuß. a. o. Gesandten und Ministers in Oldenburg, Braunschweig und Lippe. Normann war ein Gegner Bismarcks. – Hugo Fürst von Radolin, bis 1888 Graf von Radolin-­R adolinski (1841–1917): Diplomat und Hofbeamter; 1866 Attaché in Florenz, Legationsrat in Paris und Madrid, 1876 erster Botschaftssekretär in Konstantinopel, 1881 Tätigkeit im Auswärtigen Amt, 1882 Gesandter in Weimar, 1884 Hofmarschall von Kronprinz Friedrich ­Wilhelm, 1888 Obersthofmeister, 1892 Wiedereintritt in den diplomatischen Dienst. 5 Bezeichnung für: Taufpate.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

84

Hermann Usener an Dilthey Hermann Usener an Dilthey

[637] Hermann Usener an Dilthey Mein lieber Wilhelm

Bonn, mittwoch, den 18. juni [18]84.

dass Du und Käthe mich habt denen zugesellen wollen, die bei Eurem ersten knaben, dem einstigen stammhalter des hauses und namens Dilthey paten­stelle versehen werden, hat mich in hohem masse erfreut. Ich nehme die angebotene ehrenstelle dankbar an und muss nur in anbetracht meines noch fortdauernden notstands die bedingung machen dass ich bei dem tauf­ akte selbst in geeigneter weise vertreten werde. Möge der knabe heranwachsen, Euch und sich und uns allen zur freude und der welt zum nutzen. Zu meinem neuen amt würde es sich ziemen dass ich es mit grösserem lebensmut übernehmen könnte. Aber dieser winterliche sommeranfang lässt mich nicht aus der erkältung herauskommen und das drückt mein so wie so schon am boden schleichendes gemüt vollends nieder. Seit voriger woche geht es ja endlich gut in Heidelberg; ich gedenke diesen freitag hinzugehen um nach allem dem mich am anblick meiner zwei erretteten und neugeschenkten lieben zu erfreuen; wann ich sie wieder hier haben darf, wer kann das sagen. Noch vermag der knabe nicht auf seinen füssen zu stehen; man wendet elektrischen strom an um diese lähmung rascher zu besiegen. Ist das eine krankheit! Glaube mir, ohne dass das kind in der ununterbrochenen wartung und beobachtung des hospitals zugleich und seiner mutter gestanden, würde es diesen in immer neuen angriffen wiederholten todeskampf nicht bestanden haben.1 Was Du von dem Berliner studentenpublikum schreibst,2 ist mir nicht ganz neu (Diels macht seine erfahrungen als examinator) und doch neu in dieser allgemeingiltigen formulierung. Wir kehren uns hier nicht an die tonangebenden herren in Berlin, und tuen unsere schuldigkeit. Freilich so nahe den grossen der welt muss ihre wirkung fühlbarer sein. Wie für generationen verderbliche massregeln wird dieser charakterlose lump, der auf TZ ausgeht, noch vollführen dürfen, ehe er fällt?3 Difficile est satiram non scribere4 – Wäre nicht alles was mit agitation und publizistik zusammenhängt mir so in tiefster seele zu­ wider, ich hätte mir ihn längst zum kampf aufs messer gelangt. Hinsichtlich der historischen professur bist Du vielleicht inzwischen besser unterrichtet als die Heidelberger, die mit dem ihnen einwohnenden taktgefühl ihren gegenwärtigen prorektor feiern als einen nächstens nach Bonn abziehenden. Ich habe neulich als Althoff hier war, so viel ich vermochte gegen das herrschende vorurteil gesprochen das vor Erdmannsd[ör]ffer abmahnt. Ich zweifle, ob mit erfolg. Man wird die in unserem bericht aus dem frühe© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Hermann Usener an Dilthey Hermann Usener an Dilthey

85

ren herüber­genommenen Erdm[annsdörffer] und Kugler5 beiseite lassen um den dritten neu genannten Dove herzusenden.6 Ich teile [es] Dir, falls Du’s nicht schon direkt durch Althoff weisst, unter voller diskretion natürlich, mit, damit Du die möglichkeit hast, wenn Du es für recht und pflicht hältst, für E[rdmannsdörffer] zu wirken. Carls7 urlaubsangelenheit für nächsten winter ist geordnet, und ich atme auf für ihn. Hoffentlich leistet ihm der urlaub was wir davon wünschen. Schreib ihm gelegentlich einmal. Er ist tief deprimiert und bedarf des zuspruchs. Deiner lieben Frau, die ich nun nicht blos als Schwägerin sondern auch als Frau Gevatterin8 grüsse, wünsche ich wie uns vor allem richtiges sommerwetter, dann [werden] hoffentlich was weiter zu wünschen ist, volle erstarkung und kräftigung von selbst sich einstellen. Und Du, mein lieber W[ilhelm], halte den kopf gerade und übernimm Dich nicht in pflichttun; grüsse mir auch das liebe Klärchen und Eure anderen angehörigen.

Dein getreuer H. U.

Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 7. 1 Useners Sohn Hermann, der schwer erkrankt war, hielt sich seit März 1884 mit seiner Mutter zur Behandlung in Heidelberg auf. Am 14. Mai 1884 schreibt H. Diels an Usener: „Eine Postsendung […] gibt mir Veranlassung […] Ihnen zu der glücklichen, wenn auch unter traurigen Umständen erfolgten Rückkehr ins Vaterland und zu der, wie ich annehmen darf, völligen Genesung die allerherzlichsten Glückwünsche darzubringen. Es ist ein Verhängnis, dass die so herrlich fast zu Ende geführte Reise durch die plötzliche und tückische Erkrankung Ihres Kindes zu der allerungünstigsten Zeit vor völliger Beendigung ab­ gebrochen werden musste. Nun ist ja alles, wie ich höre, gut abgelaufen. […] Ich selbst zittre schon bei dem Gedanken an jene Krankheit, obgleich unsere Kinder noch nie einen Anfall hatten. […] Gerade unsere Westgegend [Berlin] soll wie verseucht sein. Nun, Sie in Ihrem heiteren, jetzt doppelt schönen Bonn werden jetzt hoffentlich alle Gedanken an diese und andere böse Pestilenz fahren lassen.“ (Ehlers, Bd. 1, S. 307). 2 Nicht überliefert. 3 Der Sachverhalt ist nicht mehr zu ermitteln. 4 Es ist schwer, keine Satire zu schreiben (Juvenal: Satiren I, 30). 5 Der Historiker Bernhard Kugler (1837–1898), seit 1874 o. Prof. in Tübingen. 6 B. Erdmannsdörffer blieb in Heidelberg, B. Kugler in Tübingen, und A. Dove wechselte von Breslau nach Bonn. 7 D.s Bruder Karl. 8 Anredeform zwischen dem Paten und den Eltern des Täuflings.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

86

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

[638] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Lieber Freund.

[Juni 1884]1

Sie haben uns mit den unbeschreiblich schönen Rosen zum Tauftag eine sehr große Freude gemacht, und nehmen Sie von uns beiden unsren innigsten Dank. Es war eine schöne Feier, ganz in der Familie, der Geistliche, ein Schleier­macherianer, sprach so schön und einfach als ich es selten gehört. Der kleine Max fährt fort, gut zu gedeihen, und auch meiner Frau geht es viel besser. Sie Glücklicher, daß Sie wenig zum Arbeiten in schönen Sommertagen zu kommen brauchen. Ich jage die ganze Geschichte der Erziehung in Europa durch: ein ungeheurer Stoff, voll von Aufschluß auch für die Geschichte der intellektuellen und wissenschaftlichen Entwicklung: aber ich verzage und versinke im Material. Möchte wenigstens eine Abhandlung über den heutigen Stand der pädagogischen Frage daraus für den Augenblick entstehen. Dann hat mich eine Habilitationsschrift, deren Thema ich dem jungen Mann selber vorgeschlagen hatte, in die Geschichte des cartesianischen Systems und die Kulturwirkungen von Port-royal geführt.2 Ich habe Sainte-Beuves weit­läufiges aber angenehm lässiges, die Geschichte ächt französisch in Memoiren, eine ernsthafteste religiöse Bewegung in Sentimentalität auflösendes Werk zum Theil gelesen.3 Sehe immer deutlicher wie anders Geschichte der neueren Philosophie behandelt werden müßte. Und lese jetzt Leibniz. So hoffe ich denn bald auf dem Punkte zu sein, den Abschnitt über die neuere Entwicklung dh. das dritte Buch4 definitiv schreiben zu können. … Der Staatsrath ist freilich wunderlich genug zusammengesetzt. Es bleibt meine Überzeugung, daß alle wahrhaft conservativen Maßregeln durch einen Zusatz von etwas Kögel5 etc. verdorben werden. Und so nützt es wenig, daß die ‚Freisinnigen‘ sich durch Operationen wie die letzten kolonialpolitischen ins Unrecht setzen. … Ich führe mein Sommerleben. Komme nur bei amtlichen Gelegenheiten mit Menschen zusammen, sonst lebe ich mit meinen Büchern auf dem ­Balcon, im Garten wo alles voll Rosen ist oder im Grunewald. Und wünschte mir, ich könnte wie Sie oder wie Carlyle6 dieser Welt ganz den Rücken kehren. Habe auch für meine alten Tage, wenn ich in sie gelangen sollte, keinen andren Gedanken, als gänzliche Zurückgezogen­heit von der Welt. Eigenthümlich in Port-royal die Weltflucht und die Sehnsucht nach Einsamkeit in dem glänzenden Zeitalter Ludwigs XIV. bei einem Pascal, Arnauld, Nicole, Racine – den ersten Geistern des damaligen Frankreichs7  – nur in anderer Art zeigt © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

87

­ escartes diese Stimmung – ebenso die Oratorianer8 und Malebranche9 – ja D auch Spinoza. Wilhelm Dilthey Original: nicht überliefert; Abdruck des Briefes nach der 1.  Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) und den Korrekturbögen (Juni–August 1923) von BDY, hinterlegt in: ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 333; Erstdruck unter Weglassung des Briefanfangs: BDY, Nr. 38; Erstdruck des Briefanfangs: Gründer, S. 268. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 Gemeint ist Heinrich von Stein (1857–1887): Philosoph; 1877 Promotion in Berlin, 1879 Hauslehrer im Hause Richard Wagners in Bayreuth, 1881 Habilitation in Halle, 1884 Umhabilitierung in Berlin, Lehrtätigkeit in Berlin. – Bereits Ende 1882 hatte von Stein Verhandlungen mit der Berliner philos. Fakultät aufgenommen. Sein Habilitationsgesuch und die dafür nötige eingereichte Arbeit wurden, insbesondere von E. Zeller, aber auch von D., zunächst abgelehnt. Am 24. Mai 1883 beschlosss die Fakultät auf Grund der Fürsprache D.s, von Stein die Möglichkeit zu geben, nach Ablauf eines Jahres eine neue Arbeit vorzulegen. Im Sommer 1884 legte dieser seine zweite Habilitationsschrift Ueber den Zusammenhang Boileau’s mit Descartes vor. Die Arbeit wurde angenommen, und am 24. Juli 1884 hielt von Stein seine Probevorlesung mit anschließendem Kolloquium. Ab Herbst des Jahres bis zu seinem frühen Tod lehrte er in Berlin (vgl. H. von Stein: Idee und Welt. Das Werk des Philosophen und Dichters. Ausgewählt und mit den Dokumenten seines Lebens. Hg. von G. Ralfs. Stuttgart 1940, S. 197–215). 3 Charles-Augustin Sainte-Beuve (1804–1869): franz. Schriftsteller und Literaturhistoriker. – Histoire du Port Royal. Paris 1840–1848, 3. Aufl. Paris 1867. 4 Der Einleitung in die Geisteswissenschaften. 5 Johannes Theodor Rudolf Kögel (1829–1896): ev. Theologe; 1852 Religionslehrer in Dresden und Berlin, 1854 Pfarrer, 1863 Prediger in Den Haag, danach von Kaiser Wilhelm I. als Oberhof- und Domprediger in Berlin und als Vortragender Rat im Kultusministerium eingesetzt, auf Betreiben des Kultusministers Adalbert Falk (1827–1900) Aussscheiden aus dem Amt, 1878 Mitglied des Altpreußischen Evangelischen Oberkirchenrats, 1880 Generalsuperintendent in der Mark Brandenburg. 6 Thomas Carlyle (1795–1881): schottischer Historiker, Schriftsteller und Übersetzer; 1814 Studium der Mathematik und Sprachen, bes. der deutschen Sprache und Literatur, in Edinburgh, anschließend bis 1818 Mathematiklehrer, danach ohne Anstellung (seine Bewerbungen um eine Professur in Schottland blieben stets erfolglos), 1865, nachdem er durch eigene Arbeiten, Übersetzungen deutscher literarischer und philosophischer Werke der kantischen und nachkantischen Epoche sowie aufgrund seiner im Druck erschienene Vortragszyklen bekannt und angesehen war, wurde er zum Rektor der Univer­ sität ­Edinburgh ernannt. 7 Port-Royal war ein Frauenkloster des Zisterzienserordens in der Nähe von Versailles. Im 17. Jh. war es, bes. unter der Äbtissin Angelique Arnauld (1591–1661), ein Zentrum des auf der Gnadenlehre des Augustinus fußenden Gedankengutes. Port-Royal zog viele Gelehrte der Zeit an: Blaise Pascal (1623–1662): franz. Mathematiker, Bruder der Äbtisssin; © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

88

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

Pierre Nicole (1625–1695): franz. Logiker und Theologe; Jean Baptist Racine (1639–1699): franz. Dramatiker. Im Jahre 1710 ließ König Ludwig XIV. (1638–1715) das Kloster zer­ stören. – A. Arnauld und P. Nicole wird die Logik von Port-Royal zugeschrieben, die 1662 anonym unter dem Titel La logique ou l’art de penser in Paris veröffentlicht wurde; die erste deutsche Übersetzung erschien erst im 20. Jh.: A. Arnauld: Die Logik oder die Kunst des Denkens. Darmstadt 1972. 8 Mitglieder des sog. Oratoriums, einer 1575 in Rom gegründeten römisch-katholischen Glaubenskongregation. 9 Nicolas Malebranche (1638–1715): franz. Theologe und Philosoph; 1654 Magister ­a rtium, 1660 Priesterweihe und Mitglied der Oratorianer, 1674 Prof. für Mathematik am Seminar der Oratorianer; Anhänger Descartes’.

[639] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Professor Karl Stumpf in Prag hat in Würzburg, wo Brentano auf ihn einwirkte, zuerst studiert, dann in Göttingen, wo Lotze bestimmenden Einfluß auf ihn gewann. Er theilt die ernste und gemüthstiefe religiös­-metaphysische Weltansicht Lotze’s. Zugleich hat er von demselben den Anstoß empfangen, sich der Untersuchung der elementaren psychischen Vorgänge zu widmen, um auf diese Weise an der Aufgabe der Gegenwart, der Philosophie mehr feste und exakte Grundlagen zu verschaffen, mitzuwirken. Seine beiden Hauptarbeiten haben die Sinnesempfindungen und Sinneswahrnehmungen zum Gegenstande, welche die Grundlagen eines großen Theils der zusammen­ gesetzten Vorstellungen, Begriffe und Denkvorgänge in uns bilden. Hier beruht natürlich jede Fortarbeit auf den Untersuchungen von Weber,1 Fechner,2 Lotze und von Helmholtz, welche die Beziehungen der physiologischen Vorgänge in den Sinnesorganen zu den Empfindungen u. Wahr­nehmungen zum Gegenstand haben u. deren Bedeutung zur Zeit in England und Frankreich so gut anerkannt wird als in Deutschland. Stumpfs erste Hauptarbeit war nur dem Gesichtssinn gewidmet: ‚über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung[‘] 1873.3 Schon diese Arbeit zeigt die charakteristischen Züge seiner Geistesart u. Arbeitsweise, durch welche er sich auf dem bezeichneten Arbeitsgebiet nach so großen Forschern Bedeutung errungen hat. Er ist im Besitz der exakten Methoden und der zu ihrer Handhabung erforderlichen mathematischen Kenntnisse und experimentellen Geschicklichkeit; er steht aber den Voraussetzungen u. Hypothesen, welche benutzt worden sind, unbefangen, ja kühl gegenüber; er hat einen ganz freien Überblick über dieselben und prüft ihren Werth an den experimentell festgestellten Thatbeständen mit einer ebenso seltenen als unschätz­baren Unbefangenheit. So geht diese erste Arbeit, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

89

von dem Umblick über die möglichen Erklärungsweisen der Raumvorstellungen, ihre Vertreter u. ihre Gründe aus. Eine feine u. scharfe Kritik (in welcher er Elias Müller4 ähnlich ist) zeigt die Mängel in den vorhandenen Hypothesen auf. Seine eigene Erklärung, welche von Weber’s physiologisch-psycho­ logischen Untersuchungen über die Empfindungskreise ausgeht,5 halte ich in Bezug auf die Entstehung von Flächenvorstellungen für die zur Zeit am ehesten befriedigende, während seine weitere Annahme ursprünglicher Tiefenvorstellung wol von wenigen Psychologen angenommen wird. – C. Stumpf ist alsdann zur Untersuchung der Tonvorstellungen übergegangen. Seine Ton­ psychologie Bd I 18836 bezeichnet einen entschiedenen Fortschritt in seiner Entwicklung. Denn sie beruht nicht nur, wie seine frühere Arbeit, auf der Beherrschung des ganzen Inbegriffs von bisherigen Arbeiten auf diesem Gebiete, und diese erstrecken sich über die Gebiete der Musik, der pathologischen, physiologischen, psychologischen Thatsachen, sondern er hat eine Reihe von Jahren hindurch experimentelle Arbeiten fortgesetzt, mit solcher Anstrengung, daß er nachher lange an Gehörshallucinationen zu leiden hatte. In dem vor­ liegenden Bande werden zwei Versuchsreihen zunächst benutzt, die eine behandelt die Urtheile unmusikalischer Personen über Tonunterschiede. Die andere behandelt das Urtheil musikalisch geübter Personen über die Höhe von Tönen. Und seine allgemeineren Erörterungen sind vielfach höchst werthvoll in der eben an ihm gekennzeichneten Richtung, von den unbefangen aufgefaßten Erfahrungen mit peinlichster Vorsicht zu der Bildung psychologischer Begriffe und Sätze fortzugehen. Überall ist Stumpf bemüht, zunächst die Thatsachen in ihrem ganzen Umfang mit kritischer Genauigkeit zu sehen, ihnen wo möglich durch experimentelle Prüfung einen genauen Ausdruck zu suchen, und er giebt es der weiteren Entwicklung der Wissenschaft anheim, was sie einmal zur Lösung der großen Probleme von Leib u. Seele u.s.w. austragen werden. Stumpf ist eine sehr liebenswürdige Natur, von edlem klarem Gemüth, aufrichtig, jeder Intrigue abgeneigt. Wie Lotze ist er von ernsten religiös-meta­ physischen Überzeugungen getragen. Seine erste Schrift: Verhältniß des platonischen Gottesbegriffs zur Idee des Guten[.] Halle 18697 kann seine Richtung auf diese tieferen Probleme zeigen, welche freilich einer strengeren Behandlung nicht zugänglich sind. Als Katholik geboren, ist er doch in diesen religiösen Überzeugungen nicht confessionell gefärbt. Seine Kinder hat er evangelisch taufen und erziehen lassen. So möchte gerade seine Berufung im Einklang mit einer weitherzigen und doch zugleich von religiösem Ernst getragenen Handhabung der Statuten von Halle-Wittenberg sein. Sie würde auch den katho­ lischen Kreisen ein Beweis in dieser Richtung sein. Wissenschaftlich aber gewänne Halle an ihm einen der ersten Vertreter der von der Naturwissen© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

90

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

schaft ausgehenden philosophischen Arbeit.8 Denn ich stehe nicht an Elias Müller und ihn als die zwei bedeutendsten gegenwärtigen Philosophen dieser Richtung nach dem Tode Lotze’s (selbstverständlich von dem großen Denker ­Fechner abgesehen) zu bezeichnen. – Sollte über das bei dem Statut in Frage kommende confessionelle Verhältniß das Angegebene nicht ausreichend sein, so bin ich auch bereit, in Prag nähere Auskunft zu erbitten, was ich leicht kann. Ergebenst Wilhelm Dilthey 3 Juli [18]84. Original: Hs.; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, B Nr. 29 Bd. 2, Bl. 111–114; beigefügt ist eine handschriftliche Abschrift des Briefes von fremder Hand, ebd., Bl. 115–117 R; ein kleiner Passus des Briefes (Bl. 117) ist abgedruckt in: Gerhardt / Mehring / Rindert, S. 170. 1 E. H. Weber: Die Lehre vom Tastsinne und Gemeingefühle auf Versuche gegründet. Braunschweig 1851. 2 Der Physiker und Philosoph G. Th. Fechner war ein Schüler E. H. Webers. – Elemente der Psychophysik. 2 Bde. Leipzig 1860. 3 C. Stumpf: Ueber den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung. Leipzig 1873. 4 Georg Elias Müller (1850–1934): Psychologe und Philosoph; 1876 PD in Göttingen, 1880 o. Prof. in Czernowitz, 1881–1922 in Göttingen; Schüler von Fechner, Lotze und Helmholtz. – Zur Grundlegung der Psychophysik. Kritische Beiträge. Berlin 1878. 5 E. H. Weber: Ueber den Raumsinn und die Empfindungskreise in der Haut und im Auge, in: Berichte der sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, math.-physik. Classe. Bd. 78. Leipzig 1853, S. 85–164. 6 C. Stumpf: Tonpsychologie. Bd. 1. Leipzig 1883; Bd. 2. Leipzig 1890. 7 C. Stumpf: Verhältnis des platonischen Gottes zur Idee des Guten. Halle / Saale 1869. 8 C. Stumpf wechselte 1884 von Prag nach Halle.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

91

[640] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff [3. Juli 1884]

Hochverehrter Herr Geheime Rath,

Ich beeile mich, hier die folgenden soeben von R. Grimm, dem Bruder er­ haltenenen Notizen zu senden.1 Er weiß nicht zu welchem Zwecke u. für wen sie sind u. vermuthet wol, es handle sich um etwas Literarisches.2

In herzlicher Ergebenheit



d[er] Ihrige



Wilh. Dilthey

Donnerstag Mittag. Original: Hs.; GStA PK , VI. HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, C Nr. 19 Bd. 1, Bl. 49. 1 Rudolf Grimm (1830–1889): Philologe, Jurist, Lyriker; Regierungsrat in Potsdam; Sohn von Wilhelm und Dorothea Grimm. – Beigelegt ist das Schreiben R. Grimms mit bio- und bibliographischen Angaben zum Werdegang und Werk Herman Grimms, datiert: „2. Juli Mittwoch Abends“. 2 H. Grimm bekam 1884 von Kaiser Wilhelm I. (1797–1888) den Titel Geheimer Regierungs­rat verliehen.

[641] Dilthey an Wilhelm Schuppe1 Berlin, Hinter Zelt I. Villa Rosenau 17 J[u]li [18]84 Nehmen Sie, verehrter Herr Kollege, meinen herzlichen Dank für die Übersendung Ihrer Abhandlungen und die freundlichen daran geknüpften Zeilen.2 Es freut mich, daß Sie wie ich mehr die Übereinstimmung unserer Standtpunkte als die Differenzen ins Auge fassen; denn in der Philosophie wird es immer gelten, eine Gemeinsamkeit des Wirkens herzustellen. Nichts hat ihr mehr geschadet als das Schulgezänk. Wie soll sie auf die Wissenschaften u. die Situation wirken, wenn sie sich zersplittert? Und das ist doch worauf es © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

92

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

ankommt. Ihre Abhandlungen werde ich mich freuen in den Ferien zu lesen. Kommen Sie einmal durch Berlin, so machen Sie mir doch die Freude mich zu besuchen. Ganz ergebenst Wilhelm Dilthey Original: Hs.; Biblioteka Jagiellonska Krakau, Handschriftenabteilung, unpaginiert und ohne Signatur. 1 Wilhelm Schuppe (1836–1913): Philosoph; 1860 Promotion in Berlin (Jura und Philo­sophie), 1861 Gymnasiallehrer, 1873–1910 o. Prof. der Philosophie in Greifswald. 2 Schuppes Brief ist nicht überliefert. – W. Schuppe: Grundzüge der Ethik und Rechtsphilosophie. Breslau 1882; Ders.: Das metaphysische Motiv und die Geschichte der Philosophie im Umrisse (Rede). Breslau 1882.

[642] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Kl[ein-]Oels 24. VII. [18]84.

Ich muß doch einmal wieder anklopfen bei Ihnen, um ein Lebenszeichen hervorzulocken. Hoffentlich geht es Ihnen, Ihrer Frau, für deren freund­ liche Zeilen ich meinen schönsten Dank sage, und der kleinen Gesellschaft gut. In der Nothwendigkeit zu arbeiten mögen Sie recht von der Hitze gelitten haben, die selbst hier, auf dem Lande wenig erträglich war und die Mitursache eines längeren Unwohlseins, welches mich befiel. Ein gewaltiges Unwetter setzte die Natur in den normalen Gleichgewichtsstand und brachte in Folge dessen die Restauration des Menschen zu Wege. Nach langer Pause, zum Theil durch Reformen und Neueinrichtungen innerhalb meiner Wirthschaft veranlaßt und ausgefüllt, rufe ich jetzt allmälig zusammen meine verstreuten Gedanken, die so lange und oft ich mir wiederholt habe, daß sie für mich – und wer weiß, ob nicht auch für andere – den Reiz der Neuheit verloren haben. Neu erscheinen sie mir nur, wenn ich in die philosophischen Zeitschriften – mit Überwindung – hineinsehe und dann das monotone sich in engem Zirkel drehen eines von einer leblosen Methode gleichsam vor den Kopf geschlagenen Denkens vor Augen habe. Wie glücklich sind Sie gestellt, mitten in die amtliche Nothwendigkeit des Kämpfens hinein. – Während meines Unwohlseins habe ich Dante gelesen und über Augustin spekulirt. Ich glaube den Sinn, weil das Motiv der Lehre des Augustin von der Gnadenwahl und damit © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

93

den Unterschied zwischen ihr und der Theorie der Praedestination gefunden zu haben. Aus dem Motive heraus ist allein alles Leben und so auch lebendiges Denken zu verstehen. Das ganze antinomische Netz widerspruchsvoller Scholastik wäre aus den Lebensimpulsen zu verstehen, ein Schritt hinaus in das Positive über die kritisch-negative Erkenntniß der psychischen Provenienz des Widerspruchs, seiner Unvermeidlichkeit wegen der Unübertragbarkeit der Daten der psychischen Grundfunktionen. Hegels Lehre von der Negation und dem Widerspruch ist doch recht tiefsinnig und über schulmeisterliche Trendelenburg – Haymsche Kritik erhaben.1 Der Widerspruch des scholastischen Denkens ist sein Leben. – Die schönste, weil adaequate Form lebendigen Denkens aber ist das Gespräch, welches mir seit lange nicht geworden und wonach ich recht verlange. Das für Ihre ganze Familie geeignete Quartier wird am 12. August, zu welcher Zeit ja Ihre Ferien ungefähr beginnen, frei. … Mögen Sie Ihre Zusage erfüllend den Einsiedler besuchen. … Lepsius[’] Tod2 trauervoller Umgebung ihn entziehend hat mich ergriffen und rührend ist mir, daß sein wandernder Geist mehrfach zu mir sich ge­ wendet hat. Die Erinnerungsbilder alter froher Zeit traten an sein Sterbebett. Die Lösung hat etwas von dem Dunkel antiker Tragik. Sein geistiges Gefüge war ein besonders festes. Er war eine herrschende, herrliche, ja herrische Natur. Im Lebensnerv getroffen ist er sich doch treu geblieben in selbständiger Ener­ gie bis zum letzten Athemzuge.  – Was soll denn nun eigentlich aus Breslau werden? Dove, Gierke, nun auch der dort vielleicht einzige lebendige Theologe Lemme fort!3 Es ist unverantwortlich, dumm und kurzsichtig. Welch ernstes Unglück sind politische Ressortminister. – Julians4 Besprechung Ihres Buchs habe ich nicht gesehen. Bringen Sie sie doch mit! Yorck5 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 39. 1 Zur Hegel-Kritik vgl. F. A. Trendelenburg: Logische Untersuchungen. 2 Bde., 2. Aufl. Leipzig 1862, Bd. 1, Kap. 3: Die dialektische Methode; Ders.: Die logische Frage in H ­ egels System. Leipzig 1843; R. Haym: Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung, ­Wesen und Werth der hegelschen Philosophie. Berlin 1857. 2 Karl Richard Lepsius (1810–1884): Ägyptologe und Sprachwissenschaftler; 1842 a. o. Prof. in Berlin, 1873 Direktor der königl. Bibliothek in Berlin. – Lepsius starb am 10. Juli 1884. 3 A. Dove ging 1884 von Breslau nach Bonn, O. Gierke in demselben Jahr von Breslau nach Heidelberg. – Ludwig Lemme (1847–1927): ev. Theologe; 1874 Promotion, 1876 Habilitation, 1881 a. o. Prof. für system. Theologie, im selben Jahr o. Prof. in Bonn, 1884 in Heidelberg. 4 Der Literarhistoriker Julian Schmidt. 5 Die Unterschrift wurde aus der 1. Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ergänzt. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

94

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

[643] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [Sommer 1884]1 Mein lieber Freund, ich sitze bei dem herrlichsten Wetter auf dem Balcon und blicke die grünen Spreeufer entlang – heut so poetisch, daß sie auch die des Neckar sein könnten, ich erfreue mich des Bewußtseins daß die Ferien herannahen. Und doppelt schön ist das diesmal, da die Ferien uns so bald ver­ einigen sollen. Gern kommen wir, und meine Frau wird in diesen Tagen an Ihre Frau Gemahlin mit herzlichem Dank für die gütige Einladung das Nähere schreiben. Ich bringe eine unbändige Lust zu philosophischem Gespräch mit. Denn meine Gespräche mit Ebbinghaus beziehen sich nur auf die environs2 der Philosophie, die experimentelle Psychologie. Den Gesprächen mit ­Zeller fehlt ein belebendes Etwas, ein Hauch, der die Gebeine des Vergangenen auf der Trümmerstätte der Geschichte wieder lebendig macht. Noch gestern saßen wir hier lange auf dem Balcon zusammen. Am meisten lebendig wurde doch wieder unsre Unterhaltung als wir auf die Tübinger Schule kamen: da er einst von dem Genie Baurs persönlich berührt worden ist. Apropos: Baur müssen Sie nun doch auch bei nächster Gelegenheit lesen, wenigstens seinen ­Paulus und sein Johannisevangelium oder seine drei ersten Jahrhunderte, um so sich mit der am meisten centralen kritischen Arbeit, die der Intellektualismus seit Kant gethan hat, auseinanderzu­setzen.3 Sehr interessirt mich, was Sie über Augustin und die Gnadenwahl andeuten. Die Antinomien liegen nach meiner Ansicht nur im Gebiet der Vorstellung. Dringt man zu dem Motiv, dh. dem religiös­-sittlichen Vorgang, so liegt dieses jenseit der Widersprüche und also auch der Hegelschen Dialektik, deren von Proklus4 etc. herrührende Technik ich nicht als tiefsinnig ansehen kann, vielmehr für ganz unwahr halte. Der Wechsel in dem tiefsten Leben ist durch die Einseitigkeit jedes persönlichen Lebens bedingt, und dies ist der tiefste und wahrhaft tragische Punkt in der Lebensarbeit des Individuums das Ewige zu besitzen. Ich habe diese drei Vorlesungsmonate vorherrschend in der Geschichte der Erziehung in Europa verbracht. Selten hat mich ein historisches Studium innerlich so angeregt und mir Aufschlüsse über Universalgeschichte überhaupt dh. die Kausalbeziehungen (psychologischen) von Lebensideal, Erziehungsideal, Poesie, Bildung, Wissenschaft gegeben. Ich meine mich immer mehr dem Punkte zu nähern, an welchem ich durch die bisher gebrauchten Kategorien für Auffassung der geschichtlichen Erscheinungen des Geisteslebens hindurchbreche und ins Freie, Offene gelange, wo man mit wirklichen Seelen zu thun hat. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

95

Dilthey an Martin Greif Dilthey an Martin Greif

In Bezug auf Breslau ist ja die Regierung ohne Schuld. Gierke war nicht zu halten: sie hatte kein Mittel. … Doch das Alles mündlich, ich gehe erst noch ein paar Tage ins Riesengebirge, wandere und hoffe dann mit den Meinigen sei es 13. oder 14. c. Sie alle froh wiederzusehen und schöne Tage mit Ihnen zu verleben. Mit den herzlichsten Empfehlungen des ganzen Hauses, treuen Herzens

Ihr W. D.5

Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 40. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 Umgebungen. 3 F. Ch. Baur: Paulus der Apostel Jesu Christi. Tübingen 1845; Composition und Character des Johannes-Evangeliums. Tübingen 1844; Das Christentum und die christliche Kirche von Anfang des vierten bis zum Ende des sechsten Jahrhunderts. Tübingen 1846. – Baur und seine Schüler, darunter auch E. Zeller, werden als kritisch-theologische sog. „­Tübinger Schule“ bezeichnet. Vgl. D.: Ferdinand Christian Baur, in: WM 18, Nr. 108 (September 1865), S. 581–599; WA in: GS V, S. 403–432. 4 Proklos (410–485): spätantiker griech. Philosoph; Neuplatoniker. 5 Gruß und Unterschrift wurden aus der 1.  Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ergänzt.

[644] Dilthey an Martin Greif 1 19 Nov[ember] [18]84.2 Mit lebhaftestem Interesse, sehr verehrter Herr, habe ich Ihre schönen Gedichte gleich vorläufig durchgeblättert. Im Gegensatz zu so vielen neueren lyrischen Gedichten zeigen sie ein reiches, durch Nachdenken tief u. breit entwickeltes Innenleben. So bringen sie jene Erweiterung u. Erhöhung der Stimmung im Leser hervor, welche doch ächte Wirkung lyrischer Schöp­ fungen sein soll. Also ein herzliches Glück auf zu Ihrer poetischen Laufbahn u. innigen Dank, daß Sie mir Ihre Dichtungen durch ein gütiges Mittheilen nahe gebracht haben. Ganz ergebenst in aufrichtigster Hochachtung Wilhelm Dilthey Berlin Villa Rosenau Hinter Zelt 1. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

96

Dilthey an Hermann Usener Dilthey an Hermann Usener

Original: Hs.; BSB München, Handschriftenabteilung, Greif-NL , unpaginiert. 1 Martin Greif: Pseudonym für Friedrich Herrmann Frey (1839–1911): Schriftsteller und Dichter; 1857 Soldat, ab 1867 freier Schriftsteller. – Gedichte. Stuttgart 1868, 6. verm. Aufl. Leipzig 1895. 2 Im Original oben rechts: Datumseintrag von fremder Hand.

[645] Dilthey an Hermann Usener   Liebster Hermann,

[18. Dezember 1884]1

Heut zu dem neulichen Zettel2 ein paar erklärende Worte, so sehr ich auch im Drang der Arbeit bin. Es bestand zuerst die Idee einen Chef der preuß[ischen] Bibliotheken u. obersten Berliner Bibliothekar – Parallele: Schöne, einen Gelehrten, zu ernennen, unter ihm Techniker. Wäre sie festgehalten worden: so wäre wol Niemand so geeignet als Du gewesen, u. ich zweifle nicht, daß das auch durchgeschlagen hätte, weil es das einzig Vernünftige war. Eine beneidenswerthe Stellung, bei der Sitz in d[er] Akademie, Reise [?] etc. vorgesehen war. Dies fand ich als ich ankam aufgegeben, es scheiterte daran, daß die Techniker, an die man denken konnte  – Wilmans[,]3 Dziasko4  – keine Neigung hatten, unter solchen Bedingungen einzutreten, überhaupt aber die technische Spitze mehr der allgemeinen heutigen Neigung entsprach. Es soll nun ein technischer erster Bibliothekar gemacht werden in Verbindung mit anderen Einrichtungen, angeknüpft an die Bibliothekscommissionseinrichtung, durch die man hofft die nötige wissensch[aftliche] Einwirkung auch garantiren zu k­ önnen. So ist eine von mir gehegte schöne Hoffnung unsrer Wiedervereini­gung zerronnen doch sage ich mir zum Troste, Du hättest Deine Dozententhätigkeit vielleicht doch schließlich nicht aufgegeben. Jetzt fragt sich nun, welcher Techniker? Natürlich stehen Wilmans u. ­Dziasko in erster Reihe. Allthof, der auf Dein Urtheil großen Werth legt, läßt Dich durch mich bitten, ob Du Dich entschließen könntest, Deine aufrichtige Ansicht darüber, ob Wilmans die geeignete Person sei, ihm vertraulichst auszusprechen. Heute esse ich mit diesem u. Dziasko etc. bei Althof, sie sind zu einer berathenden Kommission hier, wobei man dann auch sich eine Idee von ihrer Person machen will. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Hermann Usener an Dilthey Hermann Usener an Dilthey

97

Du sollst nicht erschrecken, wenn Du dieser Tage eine geringe Zulage erhälst. Sie geht nur bis zum Maximalgehalt das ohne besondere Bewilligung des Finanzministers gegeben werden kann. Dies muß erst erreicht sein, bevor ein weiterer Antrag gestellt werden kann bei dem Finanzminister. Dieser aber wird sofort gestellt. Ich bin genau in demselben Falle, da ich jetzt zunächst das große reguläre Maximalgehalt von 2800 r. erhalte, sogleich aber dann ein Antrag beim Finanzminister gemacht werden soll. Daher sagte mir Althof gleich daß es mit Dir eben so gehe. Möchten wir denn nur bald auch die weiteren Bewilligungen in zureich[ender] Weise erhalten! Die Finanzlage ist zu schlecht! Es geht mir recht gut. Ich schwimme jetzt recht behaglich und vergnügt im Berliner Strom seitdem meine Gesundheit befriedigend ist. Mit den Kollegen auch sehr zufrieden. Tausend Grüße von Haus zu Haus Dein treuer Wilhelm Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL , S 2102, 3, Nr.  5; ein unvollständiges maschinen­schriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. 14 g, Nr. 14. 1 Datierung nach einer Notiz Useners auf dem Original: „Antw[ort] 19 dec[ember] 1884“. 2 Nicht überliefert. 3 August Wilmanns (1833–1917): klass. Philologe und Bibliothekar; 1863 Promotion in Bonn, 1870 a. o. Prof. in Freiburg und Leiter der UB ebd., 1871 o. Prof. in Innsbruck, 1873 in Kiel, 1874 in Königsberg, 1875 o. Prof. und Direktor der UB Göttingen, 1896–1905 General­direktor der königl. Bibliothek in Berlin. 4 Karl Dziatzko (1842–1903): klass. Philologe und Bibliothekar; 1863 Promotion in Bonn, 1871 Leiter der UB Freiburg und Habilitation ebd., 1872 Leiter der UB Breslau, 1886 Direktor der UB Göttingen und Ordinarius für bibliothekarische Hilfswissenschaften ebd.; neben A. Wilmanns gilt er als Reformer des deutschen Bibliothekswesens.

[646] Hermann Usener an Dilthey Mein lieber guter Wilhelm,

Bonn, 19. dez[ember] [18]84.

endlich heute abend, nachdem ich die letzte seminarsitzung des Jahres 1884 gehalten, darf ich mir das bischen zeit nehmen, das nicht erst Dein letzter brief © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

98

Hermann Usener an Dilthey Hermann Usener an Dilthey

längst für sich fordern durfte und wahrlich auch zugemessen erhalten hätte, wenn ich überhaupt auch freie zeit zur verfügung gehabt hätte. Ich bin – schon seit den ferien – in einer art arbeitstaumel, und wenn ich nun allmählich mehrere hügel abgetragen habe, so erwar­ten mich doch die ferien wie beutegierige fleischfressende tiere mit frischen krallen. Dass Du Dich darum bemühtest, mir eine stellung an der Berliner bibliothek zu schaffen, danke ich Dir tief ob auch die sache, wie nach der ersten stunde rasch ernüchtert ich mir selbst sagen musste, vollkommen aussichtslos, schliesslich auch, unter den besonderen gegenwärtigen umständen auch nicht wünschenswert ist. Du hast mit richtigerem griff, als Du selbst zu ahnen scheinst erfasst was seit mehr als einem jahrzehnt mein sehnlichster herzenswunsch ist. Genauer definiert, eine solche bibliotheksdirektion, die von mir nicht besonderer weiterer anstrengungen als die erledigung der laufenden geschäfte bedingt, erforderte und mir endlich musse schaffte[,] meine schriftstellerischen pläne zur reife und zum abschluss zu bringen während sie mir gestattet an einer universität vorlesungen zu halten und nicht zu halten, ohne ver­ pflichtung. Die universitätstätigkeit, die mich zu einem atemlosen tun ohne die innere befriedigung, wie sie mit der reife wis­senschaftlicher forschungen verbunden ist, also zu einer Sysiphusarbeit verdammt, ist mir eben wegen dieses wachsenden missbehagens immer mehr drückende last geworden; ich trage sie wie der esel den aufgeschnallten sack schleppt, weil es ein schicksal ist, dem ich mich füge, aber ich trage sie mit dem gefühl eines verpfusch­ten verunglückten lebens und mit der gewissheit, dass wenn etwa einmal eine erleichterung kommen sollte, es wohl zu spät sein wird. Dies seminar, und die so oft zutretende tätigkeit in der prüfungskommission, die überlange reihe von vorlesungen (jetzt wieder eine neue), und was sonst noch extra dazukommt, saugt mich vollkommen auf. Ein Berliner bibliothekariat würde, allem anschein nach, am äusseren arbeitszwang nichts geändert, eher denselben vermehrt [haben], und dafür das bischen innere entschädigung, das die uni­versität hier, lehrer wie schüler, doch zu geben vermag, noch hinweggenonmen haben. Solange in der bibliothek zu Berlin nicht eine neue würdige, auf lange ausreichende stätte ge­schaffen ist, hat der dortige bibliothekar auf dornen zu schlafen. Aber wenn es so kommen sollte, dass das glückskind W[i]lm[anns] nach Berl[in] gezogen wird, dann könnte die Göttinger bibl[iothek], an welcher W[ilmanns] das gröbste aufgeräumt hat, für mich eine sehr ernste frage werden, wenn sie überhaupt an mich heranträte. Denn so sehr ich das messer an der kehle fühlen mag, hinzu­ drängen, melden werde ich mich nicht. Über Wilm[anns] und Dziatzko,1 wie A[lthoff] wünscht, ein vergleichen­ des votum abzugeben, bin ich wenig imstande. D[ziatzko] habe ich nur © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Hermann Usener an Dilthey Hermann Usener an Dilthey

99

als Studenten (er besuchte mich auf seiner übersiedelung nach Bonn im Joachimst[halschen] gymnasium) einmal gesehen, und weiss von sei­ner bibliothekarischen tätigkeit nicht mehr, als jeder von hörensagen kennt. Wilm[anns] kenne ich als bibl[iothekar] ebenso wenig, als men­schen und gelehrten umso besser. Dass er D[ziatzko] als gelehrter sehr erheblich überlegen ist, trotzdem er seit seinem Varro-büchlein nichts fertig gemacht hat,2 ist meine sehr bestimmte überzeugung, wie eines jeden der nicht etwa die scheuklappe eines vorurteils sich angebunden hat; aber das wird am ende gar nicht ausschlag­ geben, da man ja einen techniker des bibliothekwesens sucht, und dafür ist nach Klette’s,3 des schöpfers unserer zukunftsbibliothek[-]theorien der­jenige der geeignetste, der am wenigsten vom ballast des wissens beschwert ist. Nur unter dem letzten Kletteschen gesichtspunkt kann ich es mir verständlich machen, dass Valentin Rose4 in dieser ganzen frage als luft behandelt wird. Dass ich eine verbesserung meiner ökonomischen lage ebensowenig erwarte als ich ihrer bedarf, und in einem jahre wie das gegenwärtige, bis zu einem schwer sagbar empfindlichen grad vermisse, versteht sich ja unter den gegenwärtigen zeitläufen von selbst. Auf A[lthoff] setze ich längst keine hoffnung; er gibt aller welt versprechungen, und in dieser welt befinden sich viele lumpen, mit denen unsereiner nicht konkurrieren kann und mag. Wir universitätsleute werden nun einmal nach wie vor nach der regel Hilf Dir selber behandelt. Ich will dies wahrhaft widerwärtige thema nicht weiter behandeln, für mein gefühl da­rum so empörend, weil auch wer dem irdischen noch so teilnahmslos gegenüberstehen mag, schliesslich durch die gewalt der umstände sein eigen selbst verderben sehen muss. Etwas von regungen gemeiner leidenschaften schliesslich nicht unterdrücken zu können bleibt wohl keinem erspart, wenn die decke überall zu kurz wird und vergleichungen, die man oft abgelehnt, sich von neuem gewaltsam aufdrängen. Das ists was mich mehr aufbringt als die not selbst. Ich habe schon zu viel geredet, und fürchte Dir durch meine bitterkeit, die nicht von heute stammt, einen unbehagli­chen eindruck gemacht zu haben. Nimm menschlich auf, was ich geschrieben, und Du wirst mir vielleicht nachempfinden. Im ganzen geht es gut diesen winter. Etwas erkältungen u. dgl. natürlich obligat. Lilly aber, die sich oft zu viel zumutet um zusammenzuhalten, ist leicht etwas angegriffen. Mir ging es gut; eine sammlung der kleineren abhandlungen von Bernays ist eben fertig geworden; was Dich daraus interessieren konnte habe ich Dir zugeschickt, die sehr durch judaische far­be gezogenen fragmente über Gibbon.5 Hoffentlich hast Du sie seinerzeit erhalten. Den Epikur habe ich mit anfang des se­mesters liegen lassen müssen; die vorarbei© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

100

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

ten zum lexikon sind sehr gefördert worden, aber konnten leider noch nicht ab­ geschlossen werden. Jetzt stecke ich ganz im Platon.6 Hoffentlich kannst Du von Deiner lieben frau und dem kinderpaare gutes berichten. Ich werde, da nun die sorgen für weihnachten und häusliche dinge an mich herantreten, wohl nicht mehr dazu kommen zu schreiben und erlaube mir darum schon jetzt Euch die besten wünsche zum feste auszusprechen, und viele grüsse an Käthe und die ihrigen zu bestellen. Dein H. Usener Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 8. 1 Im Transkript: „Dzintzko“. 2 A. Wilmanns: De M. Terenti Varronis libris grammaticis. Berlin 1864. 3 Anton Klette (1834 – nach 1896): klass. Philologe und Bibliothekar; 1854 Promotion, 1856 Kustos der UB Bonn, 1870–1878 Oberbibliothekar an der UB Jena. 4 Valentin Rose (1829–1916): klass. Philologe, Bibliothekar und Aristoteles-Forscher; 1854 Promotion, 1855 Mitarbeiter der königl. Bibliothek in Berlin, 1884 kommissarischer Leiter der Bibliothek, 1886–1905 Leiter der Handschriftenabteilung. 5 Edward Gibbon (1737–1794): engl. Historiker.  – J.  Bernays: Gesammelte Abhand­ lungen. 2 Bde. Hg. von. H. Usener. Berlin 1885. 6 H. Useners Epicurea erschienen 1887 in Leipzig. – Vgl. Ders.: Glossarium Epicureum edendum curaverunt M. Gigante et W. Schmid. Rom 1977. – Ders.: Unser Platontext, in: Nachrichten der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Göttingen 1892, S. 25–50 und S. 181–215; WA in: Ders.: Kleine Schriften. Bd. III. Hg. von L. Rademacher, W. Kroll, F. Koepp, A. Wilhelm. Leipzig 1914, S. 104–162.

[647] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [31. Dezember 1884]1 … Wir haben schöne Weihnachtstage gehabt. Zeichen der Liebe und guter Gesinnung von allen Seiten und ein schönes Gefühl, in die hießigen Verhältniße inniger hinein zu wachsen. Mit der Arbeit geht es in den Ferien täglich etwas voran. Wiefern es mir glücken wird, der Wahrnehmungslehre von Helmholtz2 eine haltbarere gegenüberzustellen, ist jetzt die Frage. Ab und zu bespreche ich jetzt mit Helmholtz © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

101

den einen und andren der Streitpunkte ein wenig, gestern noch, als wir bei ihm ganz allein mit dem früheren Minister Delbrück und Frau3 sowie Vom Rath4 zu Tische waren, sah ich wenigstens wieder worauf es ihm in seiner Raum­entstehungslehre ankommt. Ich fürchte jetzt die Einleitung werde noch zwei Bände werden, der nächste Abschnitt die neure Zeit geschichtlich kritisch, etwa 10 Bogen – dann die Theorie der Wahrnehmung und des Denkens  – die Methoden­lehre aber in einem letzten Bande. Wie würden Sie über eine solche Ausdehnung denken? Allzu dick wird ja das Buch so immer noch nicht und das eigentliche Ziel, die Methodenlehre der Geisteswissenschaften erhält die richtige Ausdehnung. Dann würde ich nach Band II zunächst den Schleiermacher fertig machen, der mir auf der Seele brennt. Überhaupt zwischen Band II und Band III Älteres und Neueres, das ja Alles mit Band III in Beziehung steht, abstoßen. Denn für den wichtigen Band III ist ja dann der Schleiermacher so gut Vorstudium als das System der Pädagogik im Grundriß Beispiel einer Behandlung einer einzelnen Geisteswissenschaft – ebenso Alles über Poesie. Glückliches neues Jahr!

Ihr Dilthey5

Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 41. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 Vgl. z. B. H. von Helmholtz: Die Thatsachen in der Wahrnehmung. Berlin 1879. 3 Der Politiker Martin Friedrich Rudolph von Delbrück (1817–1903), ein enger Vertrauter und Mitarbeiter Bismarcks, war seit 1875 verheiratet mit Elise von Pommer-Ersche (1840–1926). 4 Adolf vom Rath (1832–1907): Bankier, 1870 Mitbegründer der Deutschen Bank, 1889 Verwaltungsratsvorsitzender. – Vom Rath war seit 1869 verheiratet mit Anna Jung (1839–1918). 5 Die Unterschrift wurde aus der 1. Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ergänzt.

[648] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Kl[ein-]Oels 4. I. [18]85.

… Ich freue mich der erfreulichen Nachrichten über Ihr und der Ihrigen Ergehen. Was mich betrifft, so amüsire ich mich ausnehmend hier in meinem © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

102

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

stillen Zimmer und denke immer besser von dem Einsiedlerleben. Hätte ich Sie so in der Villaentfernung1 dann wär’s noch besser. Leider muß ich mit meinen Augen vorsichtig zu Werke gehen – richtiger müßte ich. Aus dem leichten liebenswürdigen Buche Scherers über J. Grimm habe ich einiges Nützliche entnommen.2 Ich muß mir mal Lachmanns3 Prozedur betrachten. H. Schulz, den ich um Definition der philologischen Methode befragte, erklärte das kritisch-praktische Verhalten noch nicht der Reflexion unterworfen zu haben.4 Persönliches Interesse ließ mich das soeben herausgekommene Buch meines Bruders Max über Napoleon lesen.5 In der That immerhin eine außergewöhnliche Arbeit, überlegen gemacht, wenn auch menschlich recht einseitig. Meine eingehendere Antwort – denn das kriegerische Wesen erweckt immer, wenn es mir nahe tritt, mein Interesse – führte mich zu der Einsicht in den historischpsychologischen Zusammenhang der strategischen Formulirungen. Überall Zusammenhänge, weil alles Denken und Handeln Manifestationen einheit­ lichen Lebens. Es klingt paradox und ist doch wahr, daß z. B. die Strategie des 17. Jahrhunderts dependirt von dem Geiste, der in Galilei typisch Fleisch geworden. Es ist eben so: wo man’s anfaßt, ist es interessant. Ich kam bei der Gelegenheit auch darauf den Gedanken kurz auszusprechen und kurz zu begründen, daß bei Gleichheit des Kriegszwecks die Methode seiner Herbeiführung bestimmt wird durch die Natur der Mittel. Nachweis der bestimmenden Bedeutung von Eisenbahn und Telegraphie – dieser neu hinzugetretenen Kriegsmittel – für den strategischen Aufmarsch. Aus ihnen zu verstehen die Modifikation der Napoleonischen Strategie durch Moltke.6 – Doch das interessirt Sie nicht. Darum nichts weiter davon. … [Briefschluss fehlt.] Im neuen wie im alten Jahre treu Ihr P. Yorck Schöne Willroiders hängen in meinem Zimmer.7 Musikalische Malerei. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 42. 1 Ein kleines Haus am Rande des Yorckschen Parks gelegen, zum Gut Klein-Oels gehörig. 2 W. Scherer: Jacob Grimm. Berlin 1865, 2. verbesserte Aufl. Berlin 1885. 3 Der Berliner Philologe Karl Konrad Friedrich Wilhelm Lachmann (1793–1851). 4 Evtl. Heinrich Hermann Schultz (1836–1903): ev. Theologe; 1858 Promotion, 1861 Habilitation in Göttingen, 1864 o. Prof. für alttestamentl. Theologie in Basel, 1872 in Straßburg, 1874 in Heidelberg, 1876 in Göttingen. 5 Maximilian Graf Yorck von Wartenburg (1850–1900): Offizier, Diplomat und Historiker; Halbbruder Paul Yorcks; Ausbildung in der preuß. Kriegsakademie, 1884 Militärat© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

103

Dilthey an Valesca von Brentano Dilthey an Valesca von Brentano 

taché der Deutschen Botschaft in Wien, 1885 in Petersburg, 1893 Oberst im Generalstab. – Napoleon als Feldherr. 2 Bde. Berlin 1885–1886. 6 Helmuth Karl Bernhard Graf von Moltke (1800–1891): preuß. Generalfeldmarschall und Chef des Generalstabes. 7 Joseph Willroider (1838–1915): österr.-deutscher Maler. – Ludwig Willroider (1845– 1910): österr.-deutscher Maler; Bruder des Erstgenannten.

[649] Dilthey an Valesca von Brentano [zum 13. Januar 1885] Nehmen Sie, liebe Freundin, meine herzlichen Glückwünsche zu Ihrem Geburtstag.1 Möge das neue Lebensjahr nur Glück und Heiterkeit bringen! Wie sehr werden wir an dem Tage vermissen, nicht mit Ihnen zusammen zu sein. Überhaupt je schöner es hier für uns mit jedem Monate wird, desto mehr vermissen wir die treuen Freunde dabei, mit denen zusammen wir im alten gemüthlichen Breslau so behagliche köstliche Jahre verlebt haben. Wie haben wir uns neulich gefreut, als Gisela 2 plötzlich hereintrat! Wenn Sie drei nun auch einmal so kämen, durch den alten Bretterzaun, den Sie kennen. Und ich weiß, wenn Sie den Jungen sehen würden, dann würde sich außer den Verwandten kaum jemand so freuen als Sie, die zuletzt auch Käthen so treulich gepflegt haben.3 Ihre kostbare Gänseleberpastete wird mit all dem culinarischen Verstand, dessen der Ihnen wohlbekannte Epikuräer fähig ist, langsam aber sicher auf­ gezehrt. Haben Sie von demselben vielen vielen Dank u. lassen Sie Gutes recht viel von sich hören. Treulichst Ihr

Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; FDHSt Frankfurt, Brentano-NL , Hs 13063,1. 1 Valesca von Brentano hatte am 13. Januar Geburtstag. 2 Gisela Grimm, die Gattin Herman Grimms. 3 Katharina D. hielt sich im Oktober 1883 bei Brentanos ist Straßburg auf.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

104

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

[650] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [Ende Februar 1885]1 Herzlichste Glückwünsche, lieber Freund, zu Ihrem Geburtstag. Das Leben liegt so einfach und heiter vor Ihnen, daß Ihnen nur Gesundheit und Erhaltung Ihrer lebendigen Besitzthümer zu wünschen ist, damit Sie Ihrer und der Ihren wie bisher froh bleiben. Zwischen uns haben die Jahre gemein­samen Denkens, die Übereinstimmung in dem was den mächtigsten Impuls dieses unsren Denkens – das unser Leben ist – ausmacht, ein Band gebildet, das stark ist wie die Natur selber. Denn je mehr wir im Leben über die Mittags­ linie hinausschreiten, desto sicherer festigt sich die Erfahrung, daß wir aufeinander angewiesen bleiben und kein Ersatz möglich ist. Alle Beziehungen dieses Winters haben mir wieder keinen festen Anschluß meiner Gedanken an irgend Je­manden gewährt. Ich muß mich bescheiden, auf unser Zusammensein Alles hinzuschieben, was mich innerlich beschäftigt. Sehr gern folge ich Ihrer erneuten Aufforderung, sobald ich kann zu kommen. Haben Sie denn aber auch oben in Ihrer Nähe ein Zimmer frei? Denn wenn ich allein bin, möchte ich auch auf Ihrem Flügel hausen. Meine Vor­ lesungen gehen wol Ende der nächsten Woche zu Ende. Einen Grundriß der Sommervorlesung Universalgeschichte der Philosophie hätte ich gern vorher fertig gemacht (nur 2–3 Bogen histor[ische] Lit[eratur]), kann es aber auch bei Ihnen zu Ende bringen: es giebt das dann um so lebendigeren Anlaß des Gesprächs.2 Ich bin übrigens furchtbar abgearbeitet und semestermüde. Usener war zwei Tage hier und fast ganz mit mir zusammen. Er steckt außer in Epikur ganz in Plato. Glaubt jetzt die Politie zerlegen und den ursprünglichen Entwurf ausschälen zu können  – dieser wäre ein rein poli­ tisches Werk gewesen – dann hätte ein besonderes Gespräch Thrasymachus für sich bestanden – Timäus wäre vor der Umarbeitung dieser ersten Politie – Meno unächt.3 – Grimm will Urlaub nehmen, reisen und Raphael fertig machen.4 – Treitschke traurige Zeit hinter sich: Frau jetzt zu einer einjährigen Kur abgereist. Sein neuer Band wird fabelhaft interessant werden, das Material so ungeheuer daß er sich nun wieder zurückgeworfen sieht.5 – Helmholtz macht neue Auflage seiner Optik.6  – Bei uns geht Alles gut. Der Junge gedeiht  – unberufen – ganz vortrefflich unter ausschließlicher Pflege meiner Frau. Diese sehr gebunden dadurch. W. Dilthey7 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 43. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

105

1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 D.: Biographisch-literarischer Grundriß der allgemeinen Geschichte der Philosophie. Berlin 1885. 3 Der Philosoph Thrasymachos von Chalkedon spielt im 1. Buch von Platons Politeia eine Rolle als Gesprächspartner des Sokrates. 4 H. Grimms Das Leben Raphael’s erschien 1886 in Berlin. 5 Emma von Treitschke, geb. von Bodemann (1836–1901): Ehefrau Treitschkes seit 1867.  – H.  von Treitschke: Deutsche Geschichte im 19.  Jahrhundert (Staatengeschichte der neuesten Zeit. Bd. 24–18). 5 Bde. Leipzig 1870–1894. – Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig 1885. 6 H. von Helmholtz: Handbuch der physiologischen Optik. Leipzig 1856–1867 (1. Lieferung, S.  1–192. Leipzig 1856; 2.  Lieferung, S.  193–432. Leipzig 1860; 3.  Lieferung, S. 433–874. Leipzig 1867). – Die 2. umgearb. Aufl. des Werks erschien in 1. Lieferung, S. 1–80, in Hamburg 1885; die 2. und 3. Lieferung, S. 81–240, ebd. 1886, die 4. Lieferung, S. 241–320, in Hamburg 1887; 1889 die 5. Lieferung, S. 321–400; die 6. und 7. Lieferung, S. 401–560, 1892 in Hamburg; die 8. Lieferung, S. 561–640 wurde 1894 in Hamburg veröffentlicht, und die Schlusslieferungen erschienen 1895 ebenfalls in Hamburg nach Helmholtz’ Tod. 7 Der letzte Satz des Briefes und die Unterschrift wurden aus der 1. Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ergänzt.

[651] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Mein lieber Freund.

Kl[ein-]Oels 4. 3. [18]85.

Herzlichen Dank für Ihr freundliches und freundschaftliches Gedenken. Das Zimmer neben den meinigen steht zu Ihrer Disposition und ich rufe ein herzliches Willkommen! … Sehr interessant war mir Ihre Mittheilung von Useners Plänen und Untersuchungsresultaten. Weniger weil ich meinte, man könne auf diese historisch-litterarische Weise die Centralität Platons oder überhaupt einer geistigen Erscheinung treffen, als klassisches Beispiel der philo­logischen Problematik. Fassen wir diese in der That in sich perfekte Philologie historisch auf. Diese ganze Nachkommenschaft Fr. A. Wolfs,1 dessen Untersuchungsmethode typisch ist – in ihm ist Boeckh und Her­mann noch ungetrennt2 – ist selbst, wie der Meister, historisch bestimmt. Im Urheber eine merkwürdige Mischung von Romantik  – aesthetischer Anschauung  – und moderner Naturwissenschaft. Die äußerliche histori­sche Fixation ist nicht entscheidend, wie Wolf dies selbst ausspricht. Die Untersuchung geht nicht mehr oder doch nur bis © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

106

Dilthey an Adolph Kießling Dilthey an Adolph Kießling

zum Sprungbrette, dann springt sie oder fliegt und die Flügel sind die Hypothese. Ich habe einiges über Hypothese überhaupt und die Bedingungen, die historisch­-psychischen Voraussetzungen ihres Eintritts als eines wissenschaftlichen Hülfsmittels gedanklich bereinigt, worauf ich aber nicht eingehe. Hier nur daß das Material der philosophischen Hypothesen Einzelheiten sind, worin sich die Verwandschaft dieser und der naturwissenschaftlichen Denkstellung ausspricht. Psychische Wahrscheinlichkeit das Ziel, Überzeuguns­gefühl statt Evidenz. Aber der Weg dahin von Außen, vom Wort zum Sinn und der Glauben an die Richtigkeit dieses Wegs eine Folge ontologischer Vorein­ genommenheit, mangelnder psychischer Erkenntniß. Man kann dies auch so ausdrücken: der Geist soll litterar-historisch erfaßt werden. Was sagen Sie zu dem letzten Bismarck? Ich denke, Sie jubeln wie ich. Da ist einmal wieder das Pneuma der Weltgeschichte zu spüren gewesen. Und den Engländern kann man zurufen: qui mange de Bis­marck, en meurt.3 … [Briefschluss fehlt.] Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 43a. 1 Der klass. Philologe Friedrich August Wolf (1759–1824). 2 Der klass. Philologe Philipp August Boeckh (1785–1867). – Johann Gottfried H ­ ermann (1772–1848): klass. Philologe; 1794 Habilitation in Leipzig, 1798 a. o. Prof. für Philosophie, 1803 o. Prof. der Beredsamkeit, 1809 auch der Poesie. Hermann war Haupt der sog. „kritisch-grammatischen Schule“ und stand in gewisser Hinsicht im Gegensatz zu Boeckh. 3 Es handelt sich vermutlich um die von dem damaligen Reichskanzler Bismarck in Berlin organisierte sog. Kongokonferenz. Sie fand statt vom 15. November 1884 bis 26. Februar 1885. Vertreter der USA und der führenden europäischen Staaten (Deutschland, Frankreich, England, Russland, Belgien etc.) verhandelten über Regelungen der Kolonialisierung und Aufteilung Afrikas sowie über die Handelsfreiheit und die Abschaffung der Sklaverei etc. Ziel Bismarcks war es, den Kolonialbesitz Deutschlands zu festigen. Die Ergebnisse und Beschlüsse der Konferenz werden in der sog. Kongoakte festgehalten. Sie bildete die Basis für die Aufteilung Afrikas in Kolonien. – Von Yorck hier verwendetes franz. Sprichwort; eigentlich: „Qui mange du pape en meurt.“ („Wer ißt, was vom Papste kommt, stirbt daran.“)

[652] Dilthey an Adolph Kießling1   Lieber Freund, Es hat mich sehr gefreut ein Lebenszeichen von Dir zu erhalten u. ich freue mich zugleich, gerade über Kurd Laßwitz Dir verläßliche Auskunft geben zu können. Er hat in Breslau studirt u. ist dort Zuhörer von mir gewesen, seit der © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Adolph Kießling Dilthey an Adolph Kießling

107

Zeit ist er immer in Verbindung mit mir geblieben. Er gehört zu den paar Philosophen, die fachmäßige u. sichere naturwissenschaftliche Kenntnisse haben. Er hat Naturwissenschaften, insbesondere Mathematik u. Physik studirt, ist durch diese zunächst auf Geschichte u. Theorie der Atomistik geführt worden und verbindet fortdauernde fachmäßige naturwissenschaftliche Beschäftigung mit einer sich stets2 erweiternden u. vertiefenden gelehrten Kenntniß der Geschichte der Philosophie u. nach ihren Beziehungen zur Naturwissenschaft, Geschichte auch dieser letzteren. Er arbeitet an einer umfassend u. gründlich angelegten Geschichte der Atomistik. Schon die unveröffentlichten Vorarbeiten lassen mit Sicherheit erwarten, daß wir in diesem Werke eine erste Grundlage für eine solide Erkenntniß des Ganges philosophischer Theorien über den Naturzusammenhang erhalten werden.3 Der Kausalzusammenhang dieser Theorien mit der positiven Arbeit der Naturwissenschaft[,] Feststellung des Antheils des Naturforschers an ihnen, Abschätzung seines Werkes nach ihrer wirklichen Brauchbarkeit – dies Alles ist in den bisherigen Geschichten der Philosophie noch nicht geleistet u. wird schon in dem was Laßwitz veröffentlicht hat, angefaßt. Er hat ansonsten ein populäres Buch über Kant geschrieben u. in Bezug auf dasselbe ungerecht­ fertigte Angriffe von Krause4 erfahren; dies hat ihm viel Kummer gemacht. Doch unbefangene kompetente Personen, wie Wundt, Kuno Fischer5 haben anerkannt, daß diese Angriffe ungerechtfertigt waren. So hoffe ich werden sie ihm auch in Greifswald nicht schaden. Ich würde mich außerordentlich freuen, wenn dieser selten begabte u. durch seinen Bildungsgang für die Lösung höchst wichtiger Aufgaben ausgestattete, u. nur mit ihnen beschäftigte Mann in die Lage käme, welche solcher Eigenschaften angemessen ist. Daß er ungewöhnliche Lehrbefähigung6 haben wird, dafür glaube ich nach meiner persönlichen Kenntniß einstehen zu können. Eine bessere Wahl als die von Lasswitz für ein philosophisches Extraordinariat könnte ich mir nicht denken; denn er hat sicher eine sehr bedeutende wissenschaftliche Zukunft. Soviel eiligst mit herzlichen Grüßen. Der Weg zu mir ist übrigens wie Du hoffentlich bald erfahren wirst keineswegs Wildniß. Treulichst Dein Wilh. Dilthey 25 März [18]85 Original: Hs.; ein unvollständiger Brief von der Hand D.s sowie eine komplette Abschrift des Briefes von fremder Hand sind hinterlegt in: Biblioteka Jagiellonska, Krakau, unpaginiert und ohne Signatur. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

108

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

1 Bei dem Briefadressaten handelt es sich vermutlich um den klass. Philologen Adolph Kießling (1837–1893): Freund und Kollege D.s aus der Baseler Zeit. Kießling lehrte ­z wischen 1872 und 1889 in Greifswald. 2 Hier fehlen Seiten im Original. Die Fortsetzung wurde der handschriftlichen Abschrift des Briefes entnommen. 3 K. Laßwitz: Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton. 2 Bde. Hamburg 1890. 4 K. Laßwitz: Die Lehre Kants von der Idealität des Raumes und der Zeit im Zusammenhang mit seiner Kritik der Erkenntnis allgemein verständlich dargestellt. Berlin 1883. – Caesar Ernst Albrecht Krause (1838–1902): Dr. phil. und Hauptpastor in Hamburg; Urgroßneffe Kants und Kant-Forscher. 5 Der Heidelberger Philosoph und Philosophiehistoriker Kuno Fischer (1824–1907). 6 Nachfolgend wird die Wiedergabe aus dem originalen Brief D.s fortgesetzt.

[653] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff   Hochverehrter Herr Geheimerath,1

Berlin 6⁄5 [18]85.

Verfasser der mitgetheilten Schrift ist durch Lektüre von seiner Fassungskraft überschreitenden Schriften in einen Zustand gerathen, der ihn wahrscheinlich zu jedem gewöhnlichen Geschäft des Lebens untauglich macht, sicher zum Geschäft des Philosophierens. Ich war nur wenige Seiten zu lesen im Stande (vgl. S. 7 über ‚die Verschiedenheit der drei Geistesvermögen in geschlechtlicher Beziehung‘ – das Denken ist männlichen Geschlechts, das Fühlen androgyn), die völlige Verworrenheit dieses Geistes macht das Lesen zur Qual. Ergebenst W. Dilthey Original: Hs.; GStA PK , HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, B Nr. 29 Bd. 2, Bl. 123–124. 1 Im Original darüber eine Notiz von fremder Hand: „Dilthey: Urkunde der Wissenschaft (anonymes Werk von [Karl] Dietrich).“ Vgl. K. Dietrich: Urkunde der Wissenschaft. Grundriß zur systematischen Encyklopädie für Wissenschaft, Kunst und Religion; mit einem besonderen Abschnitt Gesetz des Kreises und einem Anhang: Tabellarische Übersicht der Kunstgesetze. Berlin 1885.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

109

[654] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [Mai 1885]1

  Mein lieber Freund,

… Seit ich Ihnen zum Fenster hinauf ein letztes Adieu zugerufen, ist es mit Muße und Muse zu Ende. Ich bin Arbeitsthier in diesen ersten Wochen.2 Meine Frau freute sich sehr über mein gutes Aussehn und läßt Frau Gräfin und Ihnen herzlich ergeben für alle freundliche Sorge für mich danken und freut sich mit mir gar sehr über die Aussicht, Sie hier zu sehen. Also ich bin munter in das Wirrsal von Arbeit hineingegangen. Die beiden Vorlesungen sehr voll und die Geschichte der Philosophie macht mir ein sehr großes Vergnügen. Wie es scheint den Studenten auch. Recht haben Sie behalten; bin bei Parmenides. Weiß der Himmel wie ich mich durchschlage. Glaube die pythagoreische Zahlenlehre jetzt leidlich richtig auseinander gesetzt zu haben. Aber was für Arbeit, so Tag für Tag weiterzugehen, Fragmente und Bücher wirr durcheinander lesend, als bestünde die Welt aus Büchern. Neben den Fragmenten der alten Philosophie lese ich jetzt Cicero. De legibus I. I und Anfang II[,] eine populäre Metaphysik des Rechts amüsantester Art. Von de rep[ublica] begeistert als einem literarischen Werk ersten Ranges. … [Briefschluss fehlt.] Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 44. 1 In BDY: „[Frühjahr 1885.]“. 2 D. las im SS 1885, das am 15. April 1885 begann, über Allgemeine Geschichte der Philosophie mit ausführlicher Darstellung der neueren (5std.), Geschichte und System der Päda­gogik (3std.) und hielt Übungen aus dem Gebiet der neueren Philosophie, angeknüpft an Kants Kritik der reinen Vernunft.

[655] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Berlin 2. August [1885]1 Lieber Freund, da meine Frau so plötzlich hat abreisen müssen, hat sie nicht einmal das angenehme schöne Geschäft, Bertha zum Hochzeitstage eine Aufmerksamkeit zu erweisen,2 die sie an uns und unsren innigen freudigen Antheil erinnere, ausführen können. Ich bin leider absolut unfähig ins Haus © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

110

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

etwas auszusuchen. Von nichts als von Büchern verstehe ich etwas. Aber hier glaube ich auch sicher sein zu dürfen mit dieser classischen und jedes andre Werk überflüssig machenden Geschichte der Malerei von Crowe und ­Cavalcaselle3 ihr eine wirkliche Freude zu machen und dauernd, in schönsten Zeiten des Kunstgenusses sie an unsre Freundschaft und unsre innige Ver­ ehrung für sie zu erinnern. Eins dabei vorausgesetzt, daß nicht Graf Hans oder Heinrich dieselbe Idee hatten: dann ist ein Umtausch leicht erwirkt. Ich genieße eben den Sartor Resartus.4 Das Buch eröffnet eine merkwürdige Perspektive in die Art wie die ‚Transscendentalphilosophie‘ moralischpolitisch in Europa zu wirken bestimmt ist. Daß der Geist allein Realität, alles andere Erscheinung und Gewand dieser alleinigen Wirklichkeit sei, diese Lehre, die kritisch genommen so wahr und in der Hand des einseitigen Enthusiasmus immer in Begriff ist dogmatisch zu werden, sieht man hier die Gränzen Deutschlands überschreiten; vergleicht man Fichte, Hegel, Schopenhauer, Lotze: so ist die Form in der sie bei Carlyle auftritt vielleicht die verhältnißmäßig gesundeste. Denn wie unvollkommen sie auch ist: hier ist doch starkes Gefühl, daß diese Lehre eine aktive Kraft für Gestaltung des Lebens und der geschicht­lichen Wissenschaft sei. Nächster Tage schreibe ich mehr und besser.

W. Dilthey5

Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 45. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 Gräfin Bertha (1864–1928), Paul Yorcks Tochter, heiratete am 15. August 1885 den Maler Graf Leopold von Kalckreuth (1855–1928). 3 J. A. Crowe / G. B. Cavalcaselle: Tizian. His Life and Times. With Some Account of His Family, Chiefly From New and Unpublished Records. London 1877. – Dt. Ausg. von M. Jordan: Tizian. Leben und Werk. 2 Bde. Leipzig 1877. 4 Th. Carlyle: Sartor Resartus oder Leben und Meinungen des Herrn Teufelsdröckh (1831). 2 Bde. Leipzig 1882. 5 Die Unterschrift wurde aus der 1. Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ergänzt.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

111

[656] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Mein lieber Freund,

[zum 3. Oktober 1885]1

Es traf sich schön, daß heute, an dem Tage an welchem ich zu Ihrem Feste zu schreiben gedachte, das Erscheinen von Herrn Gräf 2 und seine Erzählungen mir auf das anschaulichste das Bild Ihres ganzen reichen Lebens vergegenwärtigen. Wie ist doch dieser ganze Reichthum Ihres schönen Familienlebens, von dem ich wieder das feine Gemüth des Herrn Gräf ganz erfüllt fand, mit dem eigensten Wesen Ihrer lieben verehrten Frau Gemahlin, mit diesen fünfundzwanzig Jahren Ihrer Lebensgemeinschaft verflochten! Wol dürfen Sie gerade jetzt in festlichster Stimmung sein, wo der älteste Sohn als eine eigene begabte Natur fertig dasteht, das junge Glück der Tochter seinen hellen Schein in Ihr Fest hineinwirft. Das ist der Segen des Familienlebens, daß wir so, auch nachdem wir die Höhe unsrer eigenen Existenz erreicht haben und almälig überschreiten werden, mit und in den Kindern wachsen, und wie voll und reich ist Ihnen und Ihrer lieben verehrten Frau Gemahlin, der ich diese meine Zeilen mit meinen Wünschen zugleich zueigne, dieser Segen zu Theil geworden. Möge das nun Alles um Sie beide her wachsen und gedeihen, Ihnen beiden aber möge die Frische des Herzens und die Gesundheit bewahrt bleiben, lange, lange, es zu genießen und sich reich darin zu finden. Mit unbändiger Sehnsucht nach eigenem vollsten Glück treten wir in das Leben; sich auszuleben ist das Geheimniß unsres unruhigen Herzens; und almälig kommen wir hinter die tiefsinnige Welteinrichtung, nach welcher wir uns nur ausleben in dem Leben andrer, in der Thätigkeit für andre. Das Fest jener ersten Höhe des Daseins liegt fünfundzwanzig Jahre hinter Ihnen; das Fest dieser anderen, stillerer, reinerer, höherer Lust vergleichbar, ist dies silberne Hochzeitsfest. Ihnen mein lieber Freund ist außerdem beschieden, was den Philosophen macht, das Leben sich als innere Erfahrung zum besonnenen Bewußtsein zu bringen, und Erfahrungen zu Gedanken zu steigern. Verzeihen Sie dem Freunde, wenn er bei dieser Gelegenheit mahnt, Sie möchten die Äpfel an diesem reichen Lebensbaum nun auch pflücken, sammeln, den Freunden und der Welt zu genießen geben. Das wird wieder ein schönes Fest sein, wenn der intellektuelle Ertrag dieses Ihres reichen Lebens vor Ihnen liegt, in der soliden Gestalt eines stattlichen Bandes, für Heinrich auf Velinpapier,3 für Ihren alten Freund – mit einem recht breiten Rande, damit er reagiren kann. Und mir, ja uns allen vieren, mein lieber Freund, wünsche ich, daß ich einen Platz in Ihrem reichen Leben und Ihrem Herzen behalte. Die Welt, als © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

112

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

Schauplatz des Lebens, scheint der Jugend gränzenlos, dann findet man später daß wenigstens die Welt, so als Schauplatz des Lebens genommen, gar nicht so groß ist und wie auf einer Bühne eine mäßige Anzahl von Personen darin wechselnd auftritt, hinter dem Vorhang verschwindet, wieder erscheint. Wie noch ganz anders ist es mit den Menschen, die ein Theil unsrer Selbst, eine Kraft in unsrem Wesen, und auf die wir wieder als Kraft wirken, sind. Wir beide werden keine Freundschaft mehr schließen, die der unsrigen vergleichbar ist, und ich bilde mir ein, daß dieselbe überhaupt in dieser dunklen und dummen Welt nichts Alltägliches ist. Mögen wir einander lange erhalten bleiben, möge in dies ungetrübte klare Verhältniß nichts Störendes treten, und die Umstände seien uns günstig, miteinander zu leben. Mit großer Freude habe ich von Herrn Gräf wieder vernommen, daß der Plan Ihres Berliner Auf­ enthaltes dauernd feststeht. An dem Festtage werden viele in der Ferne Ihrer gedenken und die treuesten Wünsche für Ihre liebe verehrte Frau Gemahlin und Sie hegen: treuere4 Niemand, das wissen Sie, als wir. Ich werde sehr vermissen, nicht zugegen sein zu können. Von uns schreibe ich Ihnen zu einer anderen Zeit, wann Sie die Ruhe haben, Antheil zu nehmen. Ich bin sehr fleißig in diesen Ferien gewesen. Erstlich habe ich (Nachklang der Vorlesung!) die historische Parthie des zweiten Bandes bebrütet: würde ich das Bild der letzten Jahrhunderte malen können, das ich innerlich ausgedacht habe! Dann habe ich von hinten, von der Methodenlehre der einzelnen Wissenschaft aus die Logik rückwärts durchgearbeitet, so vom Schluß meines Bandes aus Linien gezogen. Ein halbes Jahr in Ihrer Thurmstube, anstatt im Trouble der Vorlesungen, und der Band 2 könnte zu Duncker und Humblot wandern, von denen ich eben vernehme daß sie mit dem Verkauf des ersten Bandes sehr zufrieden sind und mir nach Abzug der Extrakosten für Satz und Umdrucken – etwa 100 Thaler in Aussicht stellen! Was sagen Sie zu diesem Ertrag meiner Güter? W. Dilthey5 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 46. 1 Brief zur silbernen Hochzeit des Grafen Paul Yorck am 3. Oktober 1885. – Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 Hauslehrer in Klein-Oels. 3 Ein dem Pergament ähnliches Papier. 4 Treuen: älteres Wort für „trauen“. 5 Die Unterschrift wurde aus der 1. Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ergänzt.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

113

[657] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Mein lieber Freund.

Klein-Oels den 6. Oktober [18]85.

Den ersten freien Moment benutze ich, um Ihnen von ganzem Herzen zu danken. Nach und nach kehrt die hiesige Lebensfluth in die gewohnten Ufer zurück und damit die Möglichkeit wieder stiller Beschäftigung. … Sie mein lieber Freund, der Sie mir sehr fehlten, dessen ich gedachte, als ich am 3. Oktober die Inventur meines großen lebendigen Reichthums machte, Sie sprechen in Ihrem letzten Briefe wie zu so aus meiner innersten Empfindung heraus, ein intimes Sichverstehen, wie es sich eben nur ergiebt aus der Gemeinschaft der Lebendigkeit. Man nennt dies mit Recht Freundschaft, wenn man diese Bezeichnung in hohem und besonderem Sinne versteht. Wie unser Meistes und Bestes ein Gnadengeschenk des Himmels, so nach der Art wie ich es ansehe, unsere Freundschaft. Das Causalgesetz reicht eben nicht weiter als der physische Faktor trägt, dem es entstammt, wenn gleich Wissenschaft genöthigt ist, aus technischem Grunde, es als unbeschränkt anzunehmen, ohne daß sie, will sie Wissenschaft bleiben, Dogmatik an die Stelle der Kritik setzend das Bewußtsein verlieren darf, daß sie postulirt. Hier haben wir eine Grenze der Wissenschaft, die nur unbegrenzt ist im Wollen, als Wollen, die etwas radikaler ist als die Dubois – Reymondschen Grenzbestimmungen,1 die Ergebnisse falscher Fragstellungen sind. Die richtigen Grenzen, besser die Competenzen zieht die Philosophie, die keine Wissenschaft ist, sondern Leben, und im Grunde Leben gewesen ist, auch da wo sie Wissenschaft sein wollte, wo denn sie Metaphysik sein mußte, das heißt doch im Grunde ­Platonismus. Wenn ich, sei es auch in solch abgerissener Weise, Ihnen schreibe, so ist mir zu Muthe wie Faust, als er von dem Genusse unmittelbarer Naturschönheit zurückgekehrt in sein Studirzimmer die Heimath seiner Gedanken betritt. Noch ist es nur ein flüchtiges Eintreten. Liebe und freundliche Menschen halten mich noch zurück. … Wenn nun Ruhe eingekehrt ist, will ich in erhöhtem Lebensgefühle thätig sein. Anfang Januar aber hoffe ich für zwei Monate nach Berlin zu kommen. Da wollen wir uns gründlich sehen. Es kann schön werden und wird schön sein wie einst in Breslau oder vielmehr noch lebendiger. Denn lieber Freund, wir wandeln uns nicht mehr aber wir wachsen. – Und Berlin nur fünf Stunden von Weimar.2 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 46a. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

114

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

1 Emil Heinrich Du Bois-Reymond (1818–1896): Physiologe; 1843 Promotion, 1846 Habilitation in Berlin, 1855 Prof. für Physiologie, 1858 o. Prof. und Direktor des Physiologischen Institus in Berlin. – Ueber die Grenzen des Naturerkennens. Leipzig 1872. 2 Weimar war damals der Wohnsitz der Tochter Paul Yorcks, Bertha, und ihres Ehemanns, des Grafen Leopld von Kalckreuth.

[658] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Mein lieber Freund.

Klein-Oels den 16. Nov[ember] [18]85.

Lange habe ich nichts von mir hören lassen, wenn gleich ich täglich Ihrer gedacht habe in Mitten meiner wissenschaftlichen Einsamkeit. … Heute aber muß ich mein Schweigen brechen, um glückwünschend Theil zu nehmen an der Feier Ihres Geburtstages.1 Sie wissen, wie ich das Schönste und Beste wünsche als ein Selbstempfundenes und Zugehöriges. Sie halten diesen Festtag der Existenzialfreudigkeit auch vor Nahen geheim. Mir müssen Sie schon den Zutritt gestatten und daß ich mich hinter die Nächsten stelle. Nach Ablauf von sechs Wochen denke ich mich nun – und mit Freuden denke ich daran – als zeitweiligen Berliner bei Ihnen zu melden. Dann wollen wir in langentbehrter Weise die Gemeinsamkeit lebendigen Denkens genießen. Und es sei uns gegeben in ganzer körperlicher Frische mit einander fortzuschreiten, erwärmt und bewegt in ungeminderter Weise von dem Interesse an der Erkenntniß der Lebendigkeit, deren letzte methodologische Voraussetzung die eigene Lebendigkeit ist. Und lese ich, daß Pythagoras mindestens in Mitten der fünfziger2 gestanden, als er Theano3 so leidenschaftlich zu lieben begann, daß seine Leidenschaft als Wahnsinn bezeichnet werden konnte, so sage ich mir daß wir Recht und Pflicht haben zu wachsender Freude an den mehr als sieben θεάματα 4 der Welt. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 46 b. 1 D.s Geburtstag war der 19. November. 2 In BDY: „funfziger“. 3 Theano galt in der römischen Kaiserzeit als Anhängerin und Ehefrau des Philo­sophen Pythagoras. 4 τὰ ἑπτὰ θεάματα = die sieben Weltwunder.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

115

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

[659] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff [18. Dezember 1885]

  Hochverehrter Herr Geh[eime] Rath,

mit dem Wunsche, daß gestern das ausgiebige Diner Ihnen gut bekommen ist, u. in der angenehmen Hoffnung, daß Sie unser bescheidenes Mittagessen am Sonnabend trotz solcher Verwöhnungen nicht verschmähen werden, sende ich beifolgenden Entwurf der von Ihnen gewünschten Zeilen.1 p.p. beehrt sich für die gütige Übersendung der Briefe Ranke’s an seinen Verleger2 ergebensten Dank zu sagen, p.p. hat dieselben mit dem lebhaftesten Interesse gelesen. Es ist ein unvergleichliches Schauspiel in den Briefen, die Sie mittheilen[,] eine so restlose ganz den Sachen gleichsam unpersönlich hinge­gebene Thätigkeit im höchsten Alter, fast bis zum letzten Tage anhaltend zu sehen. Welche Briefe Ranke’s auch nachkommen mögen, diesen wird der eigen­thümliche Vorzug bleiben, daß sie den großen Gelehrten als Schriftsteller zeigen. Man sieht ihn eine ungeheure Wirkung auf das Publikum durch eine bedachte, weit erstreckte Produktivität ausüben. Dazu kommt daß der Verkehr zwischen ihm und seinem Verleger soviel Grazie, gegenseitige Rücksicht und Zusammenarbeiten zum Zweck solcher Wirkung zeigt, daß man nur wünschen kann diese Formen eines solchen Verkehrs möchten allgemein bestehen.

Der Ihrige Wilhelm Dilthey

Gruß an Herrn u Frau Althoff von Käthe Dilthey. Original: Hs.; Diktat D.s von der Hand Katharina D.s; GStA PK Berlin, HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, B Nr. 29 Bd. 2, Bl. 183–184. 1 Diesem Brief geht folgendes kurzes Schreiben D.s an Althoff vom 17.  Dezember 1885 voraus: „Verehrter Herr Geh[eime] Rath, Wie immer zu ihren Diensten. Sonnabend schließe ich die Vorlesungen. Bis dahin keine Minute frei. Dann werde ich am Sonntag oder Sonnabend Abends das Gewünschte niederschreiben. Ihr ergebenster W. Dilthey“ (Original: Hs.; GStA PK Berlin, HA, FA u. NL, NL Friedrich Theodor Althoff, B Nr. 29 Bd. 2, Bl. 125–125 R). – Beigelegt ist dem Brief eine von D. handgeschriebene Rede anlässlich des neunzigsten Geburtstages Leopold von Rankes am 21. Dezember 1885 (Original: Hs.; GStA PK Berlin, HA, FA u. NL, NL Friedrich Theodor Althoff, B Nr. 29 Bd. 2, Bl. 197–199) sowie eine, vermutlich von Althoff modifizierte Fassung dieses Entwurfs, geschrieben von fremder Hand (Original: Hs; GStA PK Berlin, HA, FA u. NL, NL Friedrich Theodor Althoff, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

116

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

B Nr. 29 Bd. 2, Bl. 195–196). – D. schreibt: „Excellenz, Ihr neunzigster Geburtstag ist ein hohes Fest der deutschen Geschichtswissenschaft. Auch das preußische Staatsministerium schließt sich heute dankbar, glückwünschend den langen Reihen von Verehrern u. Schülern an, welche bis in eine schon dahin­gegangene Generation zurückreichen und in deren Mitte Sie heute im Geiste zwei preußische Könige, die Erben ihrer Krone, die Leiter unsrer Politik in Krieg und Frieden, Dahingegangene u. Gegenwärtige, Alter und Jugend sich verbinden dürfen. Sie haben mit Ihrer Schule die Kritik der mittelalterlichen Quellen u. die wissenschaftliche Wiederherstellung der mittelalter­lichen Zeiten begründet. Sie haben Meisterwerke geschaffen, in denen Kritik, historisches Erkennen u. künstlerisches Genie in einer seltenen Weise sich verbinden. Doch wird dem Forscher u. dem Künstler der höchste Genuß des Geschickes zutheil, darf er in seiner Natur lange u. langsam heran gereifte Bestrebungen in dauernder Schöpfung zusammenfassen. Ueber unsrem Volke waltet der Segen, daß es immer neu die großen Kräfte des Alterthums, des Christenthums, mit dem, was die neueren Zeiten hervorbringen, in tiefsinniger Weisheit zum Ganzen einer versöhnten Weltbetrachtung vereinigt hat. Das geschichtliche Bewußtsein, welches hieraus entsprang, hat seit Winkelmann, Lessing u. Herder gearbeitet, Universalhistorie hervorzubringen. Dieser universalhistorische Gesichts­punkt ist in Ihnen persönlich geworden und durch ihn sind Ihre großen Werke zu einem Ganzen verknüpft. Aus ihm ist nun, an der Gränze der Menschen erreichten Lebensdauer, als Summe Ihres Lebens, Ihre Universalgeschichte der Menschheit hervorgegangen, in der die Weisheit des höchsten Alters sich mit der bildenden Kraft einer unvergänglichen Jugend mischt. So hat vor einem halb[en] Jahrh[un]dert an derselben Gränze des menschlichen Lebensraumes Alexander von Humboldt in seinem Kosmos das Wissen der neusten Zeiten von der Natur zusammengefaßt. Nehme denn die Vorsehung Sie in ihren gnädigen Schutz, damit dem Hochbetagten, der hier, in der Einsamkeit dieser Büchergemächer, wie von hoher stiller Warte herabblickend auf das geschichtliche Leben der deutschen Hauptstadt, Tag u. Nächte über den Wegen Gottes in der Geschichte sinnt, das Leben aufgespart sei, bis sein großes Werk vollendet ist. Das walte Gott!“ – Johann Joachim Winckelmann (1717–1768): Kunsthistoriker, Archäologe und Bibliothekar; Gründer der modernen vergleichenden Kunstgeschichte. 2 Aus den Briefen Leopold von Ranke’s an seinen Verleger. Als Handschrift gedruckt. Leipzig 1886.

[660] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Mein lieber Freund,

[Dezember 1885]1

Ich habe lange nichts von mir hören lassen; es waren hier für uns recht schlechte Zeiten. … So sorgt das Leben beständig, daß es Einem nicht zu wohl in der eigenen Haut werde. Auch daß man nur mit unaufhörlichen Unterbrechungen seinen © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Christoph Sigwart an Dilthey Christoph Sigwart an Dilthey

117

Zielen sich annähere. Diese erste Hälfte des Winters ist mir fast erfolglos verlaufen. Um so mehr freue ich mich, daß Sie nun bald vom Lande mit frischen Gedanken hier ankommen werden, und mich wieder in Bewegung bringen. Denn nach so großen Gemüthsaufregungen verfalle ich jedesmal in eine völlige Passivität, die ich auch als einen Wink der Natur ansehe und nachgebe. Sie werden gehört haben, daß Scherer, der diesen Sommer durch Goethe etc. Poetik etc. sich überladen hatte, einen sehr schweren Zufall gehabt hat, Lähmungserscheinungen in Sprache und Arm.2 Er ist in der Reconvalescenz. Doch wird er Manches von dem, was er zusammenzu­halten hoffte, fallen lassen müssen. Ende dieser Woche schließe ich, bis zum – 5ten Januar! Dann sind Sie schon da! Denn zum Regierungsjubiläum am 4ten wollen Sie doch sicher in Berlin sein,3 Ihre Frau Gemahlin wird sich das nicht nehmen lassen. Den 28ten halte ich in der staatswissenschaftlichen Gesellschaft einen Vortrag: Die Erziehungsfragen der Gegenwart und die pädagogische Wissenschaft.4 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 47. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 W. Scherer hatte einen Schlaganfall erlitten. 3 Am 2.  Januar 1861 war König Friedrich Wilhelm IV. gestorben; sein Nachfolger wurde Wilhelm I. (1797–1888). Im Januar 1886 sollte dessen 25jähriges Thronjubiläum gefeiert werden. 4 Dieser Vortrag D.s wurde, soweit bekannt ist, nicht veröffentlicht. Im Jahre 1930 gab H. Nohl Manuskripte aus dem Nachlass D.s heraus unter dem Titel Die Frage des höheren Unterrichts und die pädagogische Wissenschaft, in: Kleine pädagogische Texte. Heft 3. Langensalza o. J. [1930], S. 43–48. Möglicherweise handelt es sich dabei um Entwürfe zu D.s Vortrag in der Staatswissenschaftlichen Gesellschaft vom 28.  Dezember 1885; WA in: W. Dilthey: Schriften zur Pädagogik. Besorgt von H.-H. Groothoff und U. Herrmann. Paderborn 1971, S. 128–133.

[661] Christoph Sigwart an Dilthey Tübingen, 15. Jan[uar] 1886 Mein lieber Freund! Sie sammeln wirklich feurige Kohlen auf mein Haupt, das allerdings einer röthlichen Auffrischung seiner ursprünglichen Farbe nachgerade bedarf. Seit anderthalb Jahren gehe ich damit um Ihnen für Ihren letzten Brief1 zu danken, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

118

Christoph Sigwart an Dilthey Christoph Sigwart an Dilthey

den ich damals in Johannisberg erhielt, wo ich Kunst der Faulheit zur Virtuosität zu bringen von dem liebenswürdigen Dr. Hecker – den Sie wohl aus seiner kleinen Schrift über das Komische kennen – mit Erfolg angeleitet wurde;2 und Sie sehen nun die Früchte davon. Gerade das, um was Sie mich zunächst fragen, hatte schon vor 14 Tagen den Vorsatz Ihnen endlich zu schreiben, bis zum Rande der Erfüllung gebracht – aber Sitzungen, Berichte und andere Allotria haben meine Zeit ganz in Anspruch genommen, denn der Tag hat für mich ein paar Stunden weniger als früher. Zeller ist also zum Dr. phil promoviert worden am 25.  August 1836. Lic[entiatus] Theol[ogiae] ist er soviel ich weiß nie geworden; wenigstens gibt unser sonst sehr genaues ‚Magisterbuch‘ keine Angabe darüber; ich werde mich aber bei der theol[ogischen] Facultät demnächst erkundigen u. Ihnen nöthigenfalls Mittheilung machen. Wir werden ihm natürlich das Diplom in feierlichster Weise erneuern; was sonst etwa vorgenommen werden kann, muß, da der Tag in die Ferien fällt, vorläufig ausgesetzt bleiben. Daß Sie zu Zeller in rege und schöne Beziehung getreten sind, habe ich von ihm selbst zu meiner herzlichen Freude gehört; ich habe ihn in den Herbstferien zuerst hier und dann bei einem unvermutheten Zusammentreffen in Bern gesprochen, und mich seiner Rüstigkeit und Frische gefreut; bitte grüßen Sie ihn u. seine Frau gelegentlich. Was Sie mir von Ihrem Berliner Leben u. Arbeiten schreiben hat mich lebhaft interessiert – Sie thun aber glaube ich den Berliner Studenten Unrecht, wenn Sie sie für besonders unempfänglich für anstrengendere Arbeit in den Vorlesungen halten; ich bin auch mit den hiesigen, die im Ganzen zu den besten gehören werden, doch in meiner langen Praxis dahin gekommen, möglichst zu vereinfachen u. zufrieden zu sein, wenn ich ihnen das Klare u. leicht zu Durchdringende einigermaßen durchsichtig machen kann; für das Schwerere muß ich sie der Zukunft überlassen u. bin zufrieden, wenn sie sich nur einmal gewöhnt haben, sich nicht mit Worten u. Formeln zu bequemen. Seit diesem Semester habe ich meine frühere Thätigkeit im ganzen Umfang wieder aufgenommen; mit den Vorlesungen geht es gut, aber darüber hinaus bleibt mir wenig für wirklich fruchtbare u. zusammenhängende Arbeit übrig; als Rest meiner bösen Nervenerschöpfung vor zwei Jahren ist mir doch noch geblieben, daß ich körperlich u. geistig schnell müde werde, wenn ich auch ganz frisch u. aufgelegt anfange, u. immer wieder durch Ruhepausen unterbrechen muß, was eigentlich in einem Zuge gemacht sein will. Doch bin ich froh, wieder soweit zu sein; denn längere Zeit hatte ich blutwenig Hoffnung mehr, wieder auf einen Katheder zu kommen. Im nächsten Semester werde ich zum erstenmal wieder seit Erscheinen Ihres Werkes meine Grundlinien der Philosophie der Geschichte lesen u. freue mich, dabei noch einmal mit Ihnen mich © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Christoph Sigwart an Dilthey Christoph Sigwart an Dilthey

119

unterhalten u. Ihre Gesichtspunkte verwerthen zu können. Dem zweiten Band wünsche ich fröhliches Wachsthum u. alles was dazu an Sonnenschein u. günstiger Temperatur innen u. außen nöthig ist; es ist mir immer noch in lebhafter Erinnerung, wie ich die letzten Paragraphen meiner Logik 3 für den Druck in einer Zeit redigieren mußte, in der ich jede Nacht ein paarmal meinen schwer typhuskranken Jüngsten kalt einwickeln mußte u. mehr Fahrtemperaturen4 als logische Gedanken im Kopf hatte. Leider finde ich nicht, daß seit die Jugend mich ruhig schlafen läßt, ich um so viel fleißiger geworden wäre; vielleicht gehört ein wenig Umtrieb dazu, die Kräfte in Gang zu halten. Daß Sie mir Ihren jungen Philosophen5 in Aussicht stellen, begrüße ich mit lebhaftem Dank; aber bitte, lassen Sie ihn die lange Reise nicht ohne mütterlichen Schutz antreten; wenn er auch ein Berliner Kind ist u. sich also in der Welt zu helfen wissen wird, wäre er doch zu ängstlich, u. ich war vor zwei Jahren so ärgerlich nicht nach Flims6 kommen zu können um Ihre Frau zu begrüßen, daß ich wenigstens ihrem Bilde mein Compliment machen möchte. Wie wir diesen Herbst mit meinem Schwiegervater ein paar Tage in Interlaken saßen, haben wir uns lebhaft an die schönen Regentage vor 10 Jahren erinnert, u. an die philosophischen Frühschoppen bei Oberländer.7 Machen Sie einmal in diesem Jahre Reisepläne die uns zusammenführen; ich verspreche meine Nerven daraufhin zu schonen. Und nun lassen Sie mich großmüthig meine unverantwortliche Faulheit nicht entgelten – mit den besten Empfehlungen meiner Frau Ihnen u. Ihrer verehrten Frau

in treuer Freundschaft Ihr C. Sigwart

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl. 108–109 R. 1 Nicht überliefert. 2 Ewald Hecker (1843–1909): Psychiater; 1866 Promotion in Königsberg, Psychiater in verschiedenen Heil- und Pflegeanstalten. – Die Physiologie und Psychologie des Lachens und des Komischen. Ein Beitrag zur experimentellen Psychologie für Naturforscher, Philosophen und gebildete Laien. Berlin 1873. 3 Ch. Sigwart: Logik. 2 Bde. Tübingen 1873 und 1878. 4 Temperaturen, gemessen in Fahrenheit. 5 Gemeint ist D.s Sohn Maximilian. 6 Ort in den Schweizer Alpen. 7 Vermutlich eine Gaststätte.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

120

Dilthey an Heinrich von Sybel Dilthey an Heinrich von Sybel

[662] Dilthey an Heinrich von Sybel Donnerstag Nachmittag [Januar 1886]   Verehrter Herr Geheimerath, Letzten Sonntag hatte ich gewünscht, mit Ihnen als einem der ältesten nächsten Freunde Zellers über dessen Jubiläum1 bevor etwas geschehe zu sprechen. Da ich mit meiner Zeit sehr beschränkt bin, erlaube ich mir zu fragen, ob ich Ihnen Morgen Freitag Abends 6 Uhr genehm sein würde. Sollte diese Zeit Ihnen nicht passen, darf ich vielleicht um ein Nein auf einer Postkarte bitten. In aufrichtiger Verehrung

Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL H.  von Sybel B 110, Bl. 128. 1 Zellers 50jähriges Doktor-Jubiläum am 25. August 1886 stand bevor.

[663] Dilthey an Hermann Usener Liebster Hermann,

[Ende Januar 1886]1

Längst hätte ich Eure Neujahrsbriefe2 beantwortet oder wäre ihnen lieber zuvorgekommen, wenn nicht die Überladung mit Arbeit, theilweise in Folge der langen Störungen durch Mäxchens Krankheit, übermäßig wäre. Denn wenn mein Gemüth so bewegt ist, wie es lange Zeiten war, kann ich nur das Nothwendigste Unerläßliche arbeiten, u. es klingen dann die Stimmungen nur langsam in mir ab. Gott sei Dank ist die lange Angst vorüber, nun kommt nur die Sorge den alten Stand der Gesundheit vom Frühherbst bei dem Jungen wieder zu erreichen. Inzwischen hat sich denn bei mir die Arbeit über­ mäßig angehäuft u. jeder Tag hat seine Plage. So stockt denn meine eigene © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Hermann Usener Dilthey an Hermann Usener

121

Arbeit u. will auch jetzt noch nicht wieder in Fluß kommen. Es hat mich um so mehr gefreut, von Dir so Erfreuliches zu hören. Du kannst Dir nicht denken wie mich intriguirt,3 was das wol für eine theologische Arbeit ist. Möchte sie dem Urchristenthum möglichst nah u. auf den Leib rücken; hört man Deine Methode der Einzeluntersuchung mit allen Anforderungen an völlige Akribie u. dabei Deine großen Gesichtspunkte: dann darf man eigentlich nur centrale Fragen sich stellen, welche mit dem Leben u. seinen Bedürfnissen durch irgend einen Zusammen[hang] verbunden sind oder in Verbindung treten können. Unter diesem Gesichtspunkt ist Dein Epikur ein großes Ding; er kann u. wird eine Rettung dieser Richtung sein, auf welcher, im Gegensatz zur Stoa, noch ein letzter Nachglanz rein griechischen Geistes liegt. Laß doch von der theol[ogischen] Arbeit ein Wörtchen vernehmen, meine Spannung zu mildern. Es wird Dich zu hören gefreut haben wie expedit4 wir die Affaire Diels erledigt haben, in 5 oder 6 Tagen.5 Es hat mich sehr gefreut, daß ich auch in die Lage kam kräftigst dazu mitwirken zu können. Doch habe ich mir freilich nichts davon merken lassen, nach meinem Grundsatz, dem vortreff­ lichen Z ­ eller überall die Herschaft zu belassen, da er so große Freude an diesem ­Gefühl hat. Übrigens ist Zellers 50jähriges Doktorjubiläum Ende August. Da nun um diese Zeit eine Festlichkeit nicht stattfinden kann, so ist man ganz auf das Literarische angewiesen. Leider habe ich erst vor ein paar Tagen von Sigwart auf meine Anfrage diese Auskunft erhalten. Nun möchte ich mir Deinen Rath u. womöglich Deine Hilfe erbitten. Die Sache ist darum nicht leicht weil Z[eller] eigentliche Schüler kaum hat: Zwar betrachtet sich Erdmann als sein Schüler, aber doch nur weil er es für klug hält, so von s[einem] Einfluß Nutzen zu ziehen, Ziegler, den jetzt der sich als egoistischen Streber traurigst enthüllende Windelband in Laas[’] Stelle gebracht hat,6 um nur eine Puppe neben sich zu haben, während Z[eller] u. ich dringendst für Freudenth[al] eintraten, ist ja auch ein Schüler, aber was für Einer! Daher kann man das Verhältniß[,] will man eine Anzahl vereinigen, die ihm Glück wünscht (wobei natürlich nur die ersten Bogen zu überreichen gelingen würde) wol nur so fassen, daß eine vornehme Gesellschaft derer, die sich ihm dankbar u. freundlich verbunden fühlt ihm glückwünscht: Personen, die bekennen von ihm gelernt zu haben u. sich ihm geistig verbunden, von Respekt für sein Leben durch von ihm gezeigte philosophische Charakterstärke erfüllt fühlen u. die durch das was sie sind dieser Huldigung Bedeutung geben. Da die alte Philos[ophie] Mittelpunkt bleibt: ist die Hauptsache daß Du als der Führer u. Begründer der neueren Richtung Dich dieser Huldigung nicht entziehest. Sobald ich das weiß, spreche ich mit Diels, der selbstverständlich gern dabei sein wird, schreibe an ­Freudenthal (dessen Xenophanes mir etwas dumm vorkommt),7 auf dem Gebiet der © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

122

Dilthey an Hermann Usener Dilthey an Hermann Usener

Gesch[ichte] der Philos[ophie] scheint mir auch schicklich, K[uno] ­Fischer aufzufordern, der ja zu Z[eller] ein sehr altes festes u. nahes Verhältniß hat. Vielleicht stiftet Vischer8 in Stuttg[art] noch etwas. Ebenso hoffe ich ­Sigwart. Dann Erdmann als näherer Schüler; Haym9 etwa. Ich würde mich verpflichten, meine Abhandlung bis dahin fertig zu drucken. Sodaß sie jedenfalls fertig überreicht werden könnte; alsdann würde das Bedenken wegen knapper Zeit wegfallen. Wen sonst noch auffordern? Heute nur soviel eiligst, sobald ich Deine Nachricht habe, schreibe ich mehr. Mir geht es im Übrigen mit meiner Wirksamkeit hier vorzüglich. Die Zahl der Zuhörer ist sehr befriedigend u. wächst beständig u. ihre lebhafteste Theilnahme drückt sich in allen Manieren aus. Das macht mir viel Freude. Nächstens mehr, Käthe schreibt niemals, sie kommt nicht zum Schreiben, da der Junge sie ganz in Beschlag nimmt u. schickt dafür beifolgendes Bildchen, dem Ihr ein Plätzchen gönnen möget. Treulichst Euer Wilhelm Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL , 2102, 3, Nr.  6; ein sehr lückenhaftes maschinen­schriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 15. 1 Datierung nach einer Notiz Useners im Original: „Antw[ort] 1. febr[uar] [18]86“. 2 Nicht überliefert. 3 Hier in der Bedeutung von: faszinieren, interessieren. 4 Zuträglich, förderlich. 5 H. Diels wurde, nachdem er am 11. Januar 1886 einen Ruf nach Heidelberg erhalten hatte, am 25. Januar 1886 zum o. Prof. in Berlin ernannt. 6 Theobald Ziegler (1846–1918): Philosoph; 1884 Habilitation für Philosophie in Tübingen, 1886–1911 o. Prof. in Straßburg. – Ziegler wurde der Nachfolger von Ernst Laas (1837–1885), der seit 1872 eine Professur in Straßburg inne gehabt hatte und am 25. Juli 1885 gestorben war. 7 J. Freudenthal: Ueber die Theologie des Xenophanes. Breslau 1886. 8 Friedrich Theodor Vischer (1807–1887): Literaturwissenschaftler und Philosoph; 1835 PD für Ästhetik und deutsche Literatur, 1837 a. o., 1844 o. Prof. in Tübingen, 1845 Suspendierung, 1855 o. Prof. in Zürich, 1866 wieder in Tübingen, 1869 in Stuttgart. 9 Der Philosoph und Literarhistoriker Rudolf Haym (1821–1901).

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

123

Hermann Usener an Dilthey Hermann Usener an Dilthey 

[664] Hermann Usener an Dilthey Bonn, 1. februar 1886. Liebster Wilhelm, vielen dank Dir für Deinen eingehenden brief und Käthe für das ganz herrliche bildchen das mir die allergrösste freude gemacht hat, so des kindes wie der mutter wegen. Ich hätte rascher geantwortet, wenn ich nicht die rückkehr Lillys hätte abwarten wollen. Sie war, nachdem die dringenden bitten, in den weihnachtstagen zu kommen, unerfüllt hatten blei­ben müssen, etwas vor Mariens geburtstag endlich einmal nach Biebrich gereist,1 so bald es eben hier möglich war. Sie fand mutter leidend und bettlägerig und ein neuralgischer anfall, den Marie inzwischen zu bestehen hatte, machte ihre an­wesenheit dort noch erwünschter; sie selber ist freilich infolge dieser komplikationen nicht eben erfrischt zurückgekommen. Mutters zustand scheint nach den äuss[e]rungen des arztes zwar [keinen] anlass zu unmittelbarer besorgnis zu geben, aber ist keineswegs zufriedenstellend. Es soll, wie häufig im alter, eine herzerweiterung sich eingestellt haben; wenn nun dazu schwäche hinzutritt und gar infolge von ernährungsstörungen sich steigert, entstehen beängstigende zustände, wie der letzte, wie wir hoffen, überwundene. Sie hatte fieber dabei. Als L[illy] letzten freitag abend abreiste, war sie schon einige male ausser betts gewesen, und bei gehobenem appetit konnte sie hoffnung auf baldige gründliche genesung machen. Die heute morgen gekommenen nachrichten lauteten aber wieder weniger günstig. Ich halte es für meine pflicht Dir mitzuteilen, was ich weiss, brauche Dich aber nicht erst zu bitten, in Deinen briefen nach hause die möglichste vorsicht zu beach­ten. Von Carl liegen auch keine sehr erfreulichen nachrichten vor; er ist in die ganze misere der leidenden menschheit hineingezogen, und nachdem er zu diesen auf neutralem boden angelangt schien, leidet er erst recht infolge der grösse­ ren unmittelbarkeit. Er denkt bald nach St. Moritz zu gehen, und ich entsetze mich gerade über die wahl dieses ortes mit seinem durchstreichenden ­malojawind,2 den ich in übler erinnerung von unserem aufent­halt in Pontresina her habe. Dass Du darauf denkst Zellern eine freude zu machen ist recht und schön von Dir. Ich möchte gegen Deinen plan eines kollektivbandes nur den einwand erheben, dass diese form der huldigung schon gar abgegriffen ist und aus guten gründen von den buchhändlern gescheut wird. Würdiger dünkt es mich, wenn Du und einige bei der gelegenheit selbständige Schriften widmeten, wenn auch nur eben abhandlungen. Wenn Du auf diesen gegenvorschlag nicht eingehen magst, so bin ich gern breit, unter Deine fahne zu treten © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

124

Hermann Usener an Dilthey Hermann Usener an Dilthey 

und mich mit irgendeinem aufsatz (etwa über irgendeine legende, oder etwas Platonisches) zu beteiligen, so übel es mir auch mit der zeit geht, da jeder tag mir 12 stunden zu wenig hat. Empfehlen möchte ich Dir dann als mitarbeiter die zwei nächsten freunde Z[eller]’s aus der Marburger zeit, Gildemeister3 und v. Sybel. Giebt es denn keinen anständigen theologen, der zu Tübingen von Zeller gelernt hätte? Wie steht es mit Weizsäcker, Köstlin4 u. a. Ich weiss zu wenig von ihnen. Was Du von der haltung einer schrift, die mich auf theo­logisches gebiet führt, glaubst fordern zu sollen, wird sich ja unwillkürlich und naturnotwendig einfinden. Wie ist es möglich in diese helldunklen räume einzutreten, in die das licht des tages noch nicht hereingeleuchtet hat, ohne tief einschneidende neue erkenntnis zu tage zu fördern? Und doch wirst Du Dich viel­ leicht sehr getäuscht finden. Ich werde alles aufwenden, um vor einer irgendwie populären wirkung bewahrt zu bleiben. Ich will und mag nur für gelehrte schreiben, und überlasse es der zeit, das neue und wesentlich[e] allmählich daraus zu destillieren. Ich habe einen tiefen abscheu vor der aufklärungssucht, der nur die halbwissenden verfallen, und als frevel gilt es mir, das religiöse gefühl eines menschen zu stören. Ich bin in einem unlösbaren konflikt mit mir selbst; ich möchte erhalten und stärken, und muss doch tun, was der geist mich treibt, auflösen. Aber ich denke, die wackligen mauern müssen eingerissen und der schutt der jahrhunderte weggeräumt werden, damit ein neuer bau nied­riger vielleicht als vordem aber fester, aufgeführt werden könne, wenn die zeit gekommen. Eine zufällig entdeckte (Ostern [18]85 bekannt gewordene)  inschrift gab einer alten, seit 15 jahren vorgetragenen kombination über die heidnische grundlage der epiphanis und mittelbar weihnachtsfeier urkundlich bewährung. Das erregte mich sehr, und ich fasste den plan, nun endlich mit meinen alten mythol[ogischen] und rel[igions]geschichtl[ichen] arbeiten aufzu­ räumen, und in zwangloser folge „rel[igions]gesch[ichtliche] unters[uchungen]“ erschei­nen zu lassen. I. weihnachtsfest II. Tritos der heiland (grundlagen der abendmahlsfeier, trinitätsglaube; anfänge des opos u. degl.) III formenlehre rel[igiöser] vorstellungen, und andere untersuchungen.5 Ich stecke in no. I wo ich den gegenstand in enggesteckten grenzen aufzuarbeiten mich bemühe, aber aus einer dornhecke in die andere gerate, freilich, wie ich glaube, mit grossem erfolg. Du wirst, das weiss ich, für viele der mühseligen untersuchungen, die ich mir auferlegt habe, wenig übrig haben – quisquilien; aber es kann nicht sicher gebaut werden, wenn nicht jeder baustein gleich sorgsam behauen ist. – Den Epikur6 möchte ich gleichzeitig mit diesem ersten bande herauskommen lassen; fertig gedruckt ist er seit 3 jahren bis auf vorrede und schluss (indices). Hätte ich nur für die relig[ionsgeschichtlichen] unt[ersuchungen] einen an© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

125

Dilthey an Hermann von Helmholtz Dilthey an Hermann von Helmholtz

ständigeren verleger. Es hat mich tief empört um 5 freiexemplare feilschen zu müssen, bei voller honorarlosigkeit. Da hast Du nun mehr, als ich eigentlich sagen wollte. Von Lilly höre ich, dass in diesen tagen Eurer lieben Kläre geburtstag ist,7 sag dem lieben mädchen von uns allen besonders von uns beiden, aber nicht minder von Marie und Walther8 die herzlichsten glückwünsche und grüsse. Gott behüte Euch und Euer sorgenkind.9 Mit den besten grüssen an Dich und Käthe Dein H. Usener Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 9. 1 Useners Schwägerin, Marie Lade, geb. Dilthey, hatte am 22. Januar Geburtstag. 2 Talwind in den Alpen. 3 Johann Gildemeister (1812–1890): Orientalist; 1839 Habilitation, 1844 a. o. Prof. für orientalische Sprachen in Bonn, 1845 o. Prof. der Theologie und orientalischen Literatur in Marburg, 1859 o. Prof. für orientalische, bes. semitische, Sprachen in Bonn. 4 Carl Heinrich von Weizsäcker (1822–1899): ev. Theologe; 1861 o. Prof. für Kirchenund Dogmengeschichte in Tübingen. – Heinrich Adolf Köstlin (1846–1907): ev. Theologe und Musikhistoriker; 1877 Promotion in Tübingen, 1883 Prof. für prakt. Theologie am Predigerseminar in Friedberg / Hessen, 1895 o. Prof. für praktische Theologie in Gießen. 5 H. Usener: Religionsgeschichtliche Untersuchungen. Erster Theil: Das Weihnachtsfest; Zweiter Theil: Christlicher Festbrauch. Bonn 1889. – Der dritte Theil Die Sintfluthsagen erschien 1899 in Bonn. 6 H. Usener: Epicurea. Leipzig 1887. 7 Clara D. hatte am 3. Februar Geburtstag. 8 Useners Tochter Marie (1867–1931). – Useners Sohn Walther (1875–1941). 9 D.s Sohn Maximilian.

[665] Dilthey an Hermann von Helmholtz   Verehrter Herr Geheimerath,

[21. Februar 1886]1

Da ich Sie leider gestern zweimal verfehlte, muß ich bei meiner beschränkten Zeit meinen auf Zeller’s Jubiläum bezüglichen Wunsch schriftlich commu­ niciren. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

126

Dilthey an Heinrich von Sybel Dilthey an Heinrich von Sybel

Nachdem ich das Vorbereitende erledigt, schlage ich vor daß Morgen Montag etwa 6 Uhr Abends die H[erren] (außer Ihnen) v. Sybel, Bonitz,2 ­K ronecker,3 Siemens,4 Diels u. meine Wenigkeit zusammentreten; meine Wohnung ist wohl zu abgelegen; vielleicht wäre Ihnen das wenigst Zeitrau­bende, träfen die Herren bei Ihnen zusammen; sonst würde ich H[errn] Geh[eime] R[ath] von Sybel etwa darüber fragen. Sollte die Zeit Ihnen nicht passen, bitte ich ergebenst um Angabe einer gelegeneren, welche die verschiedenen Mittagsstunden nicht berührt.

In Verehrung W. Dilthey

Sonntags 11 Uhr. Original: Hs.; ABBAW, Helmholtz-NL , 110, Nr.  1; Erstdruck in H.  Hörz: Brücken­schlag zwischen zwei Kulturen. Helmholtz in der Korrespondenz mit Geisteswissenschaftlern und Künstlern. Marburg / Lahn 1997, S. 308. 1 Der 21. Februar 1886 war ein Sonntag. – Im Erstdruck ist der Brief auf das Jahr 1884 datiert. 2 Der Philologe und Pädagoge Hermann Bonitz (1814–1888). 3 Der Berliner Mathematiker Leopold Kronecker (1823–1891). 4 Werner von Siemens (1816–1892): Erfinder und Unternehmer; Firmenleiter bis 1890. – W. von Siemens und H. von Helmholtz waren Initatoren der Gründung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin, der heutigen Physikalisch-Technischen Bundes­ anstalt. Sie ist das nationale Metrologie-Institut Deutschlands mit Sitz in Berlin und Braunschweig.

[666] Dilthey an Heinrich von Sybel Sonntag d[en] 21 Febr[uar] [1886]   Hochverehrter Herr Geh[eime] Rath, Ergebensten Dank für Ihre gütige Mittheilung. Nun ist Alles so weit daß die der Sache nächststehenden Herren zusammentreten können u. wenn es Ihre Zeit erlaubt, kommen Sie wol Morgen freundlichst auch mit den anderen Herren Abends 6 Uhr (Morgen Montags) zu Herrn v. Helmholtz. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

127

Dilthey an Hermann Usener Dilthey an Hermann Usener

Verzeihen Sie daß ich eine Zeit festsetzte: sonst kommt man ja hier zu keinem Ende. In Verehrung

der Ihrige



W. Dilthey

Original: Hs.; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL H.  von Sybel B 110, Bl. 132–132 R.

[667] Dilthey an Hermann Usener Liebster Hermann,

Berlin, d[en] 24. Febr[uar] [18]86.1 Hinter Zelt I, N[ord]W[est]

Vielen Dank für Deinen letzten Brief.2 Gott sei Dank, dass die Nach­richten über Mütterchen besser lauten, das warme Wetter pflegt jedes­mal das Beste zu thun. Deine Bereitwilligkeit, etwas in e[inen] Zellerband zu stiften, nehmen wir nun doch dankbarst an. Ich habe mich mit Diels in der Sache zusammengethan, der Verleger Zeller’s Fues3 wird den Band nehmen, die Honorarfrage ist noch offen dabei. Vischer, Sigwart, Bonitz, Freudenthal, Gildemeister, Helmholtz, Sybel, Mommsen, K. Fischer sind theilweise schon mit auf­ gefordert, theils werden sie es. Dass Du, als der legitime Kronprinz im Gebiet der alten Philosophie den alten Herrn begrüßest, finde ich eben so schön, als in der Sache ganz nothwendig. Da Zeller den 25 Aug[ust] natürlich von den Heidelb[erger] Feiereien aus in die Schweitz mit Sohn Albert4 gegangen sein wird: genügt es, wenn er dann den Anfang als Überraschung empfängt, das Ganze kann ja doch erst nach Beginn d[er] Vorlesungen ihm überreicht u. im Buchhandel gebracht werden. Laß recht bald hören, womit Du uns beschenken willst. Was Du von Deinen Arbeiten schreibst, hat mich mit Entzücken erfüllt. Diese Arbeiten von Dir zur Religionsgeschichte erwarte ich mit unbeschreiblicher Spannung. Das elende Geschreibe der Theologen – von Bender! –,5 das ganz Unzureichende selbst der jetzigen Harnackschen Behandlung religiöser Dogmen und ihrer Motive und Ent­wicklung6 machen dringendst nöthig, dass jemand wie Du – u. wie Du ist in der Sache Niemand – auf dem Plan ­erscheine. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

128

Dilthey an Hermann Usener Dilthey an Hermann Usener

Im übrigen sind wir für eine Liste zusammen getreten. Die Plage, die Circulare in Vordruck zu setzen, sollst Du nicht haben, nicht einmal die Ehrenpflicht was zu geben: Gildemeister u. J[ürgen] B[ona] Meyer7 sollen die Sache in Bonn vertreten; doch wo sich die Gelegenheit bietet, was dafür zu thun, wirst Du ja mitsorgen. Die Nachrichten von Karl sind mir höchst unerwünscht. Ich kann nicht leugnen, daß ich das Vorgehen von Wilamowitz, die Professur für das Latei­ nische zu verfolgen, während er doch sieht wie Karl in der Ferne das aufregt, nicht der Dankbarkeit entsprechend finde, die Karls edelmüthige Handlungsweise, allen Warnungen zum Trotz ihn nach Göttingen zu ziehen, verdient hätte. Die Folge dieser Verfahrungsweise, wenn Wilam[owitz] sich nicht e[ines] Besseren besinnt, wird sein, daß Karl krank nach Göttingen zurückkehrt. Keine meiner Vorstellungen an Karl fruchtet. Möchte doch Wilam[owitz] diese nervöse Unruhe in bezug auf die lat[einische] Prof[essur] so lange bezwingen können, bis Karl zurück ist, möchte er das Karl ehrlich und klar, wie er es ihm schuldig ist, schreiben. Aber was nützt es das zu wünschen! Bei mir geht wieder Alles zufriedenstellend. Der kleine Junge fängt wieder an, rund zu werden u. ist unbeschreiblich amüsant. Klärchen geht jetzt in die Schule u. stopft mit großer Leichtigkeit die Löcher ihrer bish[erigen] aus e[in] paar Moralstunden geschöpften Bildung zu. Ich habe an meiner Vorlesung großes Vergnügen u. bin sehr gern hier. Viele viele Grüße von Käthen und mir Lily[,] den Kindern, Euch Allen

Treu wie immer Dein Wilhelm

Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL , S 2102, 3, Nr. 7; ein Teil des Briefes ist als maschinenschriftliches Transkript hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 16. 1 Im Original eine Notiz Useners: „Antw[ort] 7 märz [18]86“. 2 Vgl. Brief [664]. 3 Ludwig Friedrich Christoph Fues (1787–1865): Verleger; Inhaber des Fues-Verlags (R. Reisland Verlag) in Leipzig. 4 Albert Zeller (1853–1923): Prof. der Chirurgie in Stuttgart. 5 Wilhelm Bender (1845–1901): ev. Theologe; 1876 o. Prof. in Bonn. 6 Adolf Harnack (1851–1930): ev. Theologe und Kirchenhistoriker; 1876 a. o. Prof. in Leipzig, 1870 o. Prof. für Kirchengeschichte in Gießen, 1886 in Marburg, 1888 in Berlin. – Lehrbuch der Dogmengeschichte. 3 Bde. Freiburg / Breisgau 1886–1890. 7 Der Bonner Philosoph Jürgen Bona Meyer (1829–1897).

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Hermann von Helmholtz Dilthey an Hermann von Helmholtz 

129

[668] Dilthey an Hermann von Helmholtz   Verehrter Herr Geh[eime] Rath, Mir entsteht eine Verlegenheit, da Circulare u. Briefe zur Versendung an Ausw[ärtige] bereit liegen, H[er]r Geh[eime] Rath Siemens indeß die Anfrage, ob er beizutreten geneigt sei noch nicht beantwortet hat. Ist er verreist? Soll ich annehmen, daß er Weglassung seines Namens wünscht? Ohne seine ausdrückliche Zustimmung kann sein Name, der in der mir vorlieg[enden] Correktur vorläufig1 steht, nicht stehen blei­ben. Da Sie ihm so nahe stehen,2 können Sie vielleicht mir sagen, wie bei der großen Eile die nothwendig ist eine Be­endigung der Sache herbei­zuführen sei. d[en] 26 Febr[ruar] [18]86.

In Verehrung der Ihrige Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; ABBAW, Helmholtz-NL , Nr.  110, 2; Erstdruck in: H.  Hörz: Brücken­schlag zwischen zwei Kulturen. Helmholtz in der Korrespondenz mit Geisteswissenschaftlern und Künstlern. Marburg / Lahn 1997, S. 309. 1 Im Erstdruck: „vollwertig“. 2 Helmholtz’ Tochter aus zweiter Ehe, Ellen (1864–1941), war seit 1884 verheiratet mit dem Industriellen Arnold von Siemens (1853–1918), dem ältesten Sohn Werner von ­Siemens’.

[669] Dilthey an Theodor Mommsen Verehrter Herr Professor, Herr v. Sybel theilt mir mit, daß es Ihnen Freude machen würde, die Lasten der Vorbereitungen für Zellers Doktorjubiläum mitzu­tragen. Ich habe denn gleich mit vielem Danke Ihren Namen in die eben eingelaufene Correktur des Aufrufes gesetzt, u. bitte Sie nur ergebenst, die Erlaubniß dazu mir zu bestätigen, da Morgen Abend dies Cirkular zunächst an einen engeren Kreis auswärts Aufzufordender abgehen soll. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

130

Dilthey an Friedrich Theodor Vischer Dilthey an Friedrich Theodor Vischer

Wissen Sie zufällig in Wien Jemanden der den Aufruf unterzeichnen u. für seine Verbreitung u. für Zeichnungen sich thätig u. wirksam erweisen würde? In Bern, wo Zeller ja gewesen? In Königsberg ? in Kiel?

In aufrichtiger Verehrung der Ihrige Wilhelm Dilthey

26 Febr[uar] [18]86. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA , NL Th. Mommsen, K. 23, Bl. 1–2.

[670] Dilthey an Friedrich Theodor Vischer Hochverehrter Herr Professor,

[Februar 1886]

Es freut mich, bei dieser Gelegenheit zu Ihnen einmal wenigstens in brief­ liche flüchtige Berührung zu treten. Zeller, heut wol Ihr ältester Freund aus der alten schönen Tübinger Zeit, deren Bild Sie uns Jüngeren vermittelt haben, feiert am 25 Aug[ust] sein 50jähriges Doktorjubiläum. Zunächst schien mir schön, wenn der [dem] ächten Kant so ähnliche Philosophenkopf in Relief oder Büste – was würden Sie vorziehen? – bei dieser Gelegenheit festgehalten würde. Sie werden von denen die hie[r]zu hier zusammen getreten, gebeten, Ihre Unterschrift u. Mitwirkung zu gewähren. In diesem Zusammenhang erhalten Sie nächstertage ein Cirkular. Alsdann aber möchten wir Zeller einen Sammelband philos[ophischer] Abhandlungen widmen, wenige nach Lebensbeziehungen oder Fach Nächst­ stehende. Gedacht ist an v. Helmholtz, Sigwart, K. Fischer, Erdmann in Halle, Gildemeister, Usener; dieser Plan bliebe lückenhaft fände Zeller nicht Sie in dem Bande. Und wäre es nur ein einleitendes Wort das Sie schrieben, eine Erinnerung an die alten Zeiten u. die alten Genossen, wie sie Zeller sicher an solchem Tage besonders wohlthun wird. Dies können Sie allein, so dem Ganzen die Stimmung geben, die dem Tage entspricht. Mag sich Ihnen nun daran etwas schließen – was ich stets so besonders wünschte, wäre ein Lebensbild Baur’s1 oder mögen Sie getrennt hiervon uns ein Stückchen der 2ten Auflage der © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Friedrich Theodor Vischer Dilthey an Friedrich Theodor Vischer

131

Ästhetik,2 die Sie uns schuldig bleiben wollen, gewähren, Alles was von Ihnen kommt wird Zeller an diesem Tage mehr Freude machen als Alles, was wir Anderen ihm bringen können. Es wird mich freuen bei dieser Gelegenheit auch von Ihrem Herrn Sohnes3 Ergehen zu vernehmen. Am meisten aber freut mich, am Schluß Ihnen meine alte stets gleiche Verehrung aussprechen zu dürfen.

Der Ihrige Wilhelm Dilthey

Berlin N[ord]W[est] Hinter Zelt I Villa Rosenau Original: Hs.; UB Tübingen, HIS , Md 782–164. 1 Der Tübinger ev. Theologe Ferdinand Christian Baur (1792–1860) war der Begründer der „Tübinger Schule“ und der Lehrer und Schwiegervater E. Zellers. 2 F. Th. Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vor­ lesungen. 6 Bde. Reutlingen und Leipzig 1846–1857. 3 Robert Vischer (1847–1933): Kunsthistoriker und Philosoph; 1872 Promotion in Tübingen, 1879 Habilitation in München, 1882 a. o. Prof. für Kunstgeschichte in Breslau, 1885 o. Prof. für Kunstgeschichte und Ästhetik in Aachen, 1893 in Göttingen.

[671] Dilthey an Friedrich Theodor Vischer   Hochgeehrter Herr! Die ersten Unterzeichner beifolgenden Auf­rufes1 beehren sich, bei Ihnen anzufragen, ob Sie geneigt seien, Ihren Namen und Ihre Mitwir­kung zu gewähren; dann bitten sie, denselben unterzeichnet an den Unterfertigten um­ gehend zurücksenden zu wollen. Sie werden alsdann den Aufruf zu weiterer Verbreitung in einer Anzahl von Exemplaren zugesandt erhalten. Prof. W. Dilthey Berlin, Februar 1886. Villa Rosenau Hinter Zelt I. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

132

Dilthey an Friedrich Theodor Vischer Dilthey an Friedrich Theodor Vischer 

Original: Hs.; Diktat D.s von der Hand Katharina D.s; UB Tübingen, HIS , Md 787–164. 1 Nicht beigelegt.

[672] Dilthey an Friedrich Theodor Vischer

Hochverehrter Herr Professor,

Berlin, Hinter Zelt I, Villa Rosenau 10 März [18]86.

Ich beeile mich, Ihnen für Ihre herzerfreuende Weise, in Zeller’s Jubil[äums] sache einzutreten, meinen, unseren Dank zu sagen, u. Einiges nach Ihrem Wunsche zu beantworten.1 Zuerst von dem immer gleich lästigen Gelde. Der Beitrag sollte noch nicht gezeichnet werden; nur Ihren vielgeltenden, das alte unsterbliche Tübingen Chr[ristian] Baur’s repräsentirenden Namen wollten wir. Nun Sie zugeschrieben, stehe es; es ist bei der beabsichtigten Ausdehnung der Beiträge auf alle, die Zeller lieben oder ihm dankbar sind, auch ohne ihn zu kennen, durchaus so in Ordnung. Das Wesentliche sind Ihre Widmung u. Ihr Aufsatz über das Symbol.2 Zunächst stehen fest: Gildemeister, Übersetzung e[ines] lyrisch erhaltenen ­Sokrates zugeschrieb[enen] Dialogs;3 Usener in Bonn, Untersuch[ung] über Zusammensetzung der platon[ischen] Schrift ü[ber] die Politic.4 Diels eben­ f[alls] griech[ische] Philos[ophie] (so sind die beiden Führer der jüngeren Schule auf Gebiet der griech[ischen] Philosophie u. Wissenschaft auf dem Platze).5 Ich will an Zellers Abh[andlung] über die Gründe der Annahme einer Außenwelt anknüpfen u. dasselbe Problem behandeln.6 Erdmann, der bedeutendste von Zeller’s Schülern (Breslau), wird diese mit e[iner] system[atischen] Abh[andlung] repräsentiren.7 Das Übrige ist noch unbestimmt; so will Helmholtz erst sehen ob er zum fertigmachen e[iner] Abh[andlung] über die Zahl Muße findet.8 Ihre Widmung wird also, wie Sie sehen, das Persönliche repräsentiren;9 mich dünkt Sie reden im Namen all der alten Jugendgenossen; die Zeiten des theol[ogischen] Kampfes treten da naturgemäß hervor; so möchte ich doch wieder bitten, in Ihrer unnachahmlichen Weise die Bilder der Personen © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Friedrich Theodor Vischer Dilthey an Friedrich Theodor Vischer 

133

jener Zeit zu verweben in diese Widmung; voran des großen Baur so zu gedenken, wie Sie ohne besondere Studien zu erneuern es mögen u. bereit h ­ aben. Die Zeiten sind so daß des Mannes immer wieder gedacht werden muß. Je mehr Platz also, desto besser. Sehr schön stimmt dann die Geschichte des Symbolbegriffs in das Ganze; da wenige ausgesuchte Beiträge geplant sind, ist keine Raumgränze gesetzt; wir dachten, kaum würde ein Beitrag 3 ­Bogen oder 4 überschreiten. Die Widmung würden wir bis 1 Juli erbitten, die Abh[andlung] etwas später, wir wollen erst October oder November den Band fertig haben. Endlich noch dies: da der 25 Aug[ust] in die Ferien fällt: wird eine Feier natür­lich nicht statt­f inden. Könnten Sie sich Schluß der Ferien zu einer Reise hierher entschließen, so wäre das natürlich sehr hübsch. Später mehr darüber. – Hätte Ihr Herr Sohn doch ehe er Berlin aufgab,10 sich mit mir in Communication gesetzt. In tiefer Verehrung W. Dilthey Dürfen m[eine] Frau u ich bitten Herrn von Alls11 gelegentlich herzlich zu ­grüßen? Original: Hs.; UB Tübingen, HIS , Md 787–164. 1 Der vorausgegangene Brief F. Th. Vischers an D. ist nicht überliefert. 2 F. Th. Vischer: Das Symbol, in: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigsten Doctor-Jubiläum gewidmet. Leipzig 1887, S. 153–195. 3 J. G. Gildemeister ist nicht in der Zeller-Festschrift vertreten. 4 H. Usener: Alte Bittgänge, in: Philosophische Aufsätze, a. a. O., S. 275–302. 5 H. Diels: Ueber die ältesten Philosophenschulen der Griechen, ebd. S. 275–260. 6 E. Zeller: Ueber die Gründe unseres Glaubens an die Realität der Aussenwelt, in: Ders.: Vorträge und Abhandlungen. Dritte Sammlung. Leipzig 1884, S.  239–285.  – D. behandelt dieses Problem erst einige Jahre später: Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht (vorgetragen am 1. Mai 1890), in: SB der königl. preuß. AdW. Berlin 1890, S. 977–1022; WA in: GS V, S. 90–138; D.s Beitrag zur Zeller-Festschrift trägt den Titel: Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik (davon abweichend im Inhaltsverzeichnis der Festschrift: Das Schaffen des Dichters. Bausteine zu einer Poetik), ebd. S. 304–482; WA in: GS VI, S. 103–241 und 307 f. unter dem Titel: Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik. 7 B. Erdmann: Zur Theorie des Syllogismus und der Induktion, in: Philosophische Aufsätze, a. a. O., S. 196–238. 8 H. von Helmholtz: Zählen und Messen, ebd., S. 15–52. 9 F. Th. Vischer: Widmung, ebd., S. 1–14. – Weitere Beiträge der Zeller-Festschrift wa© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

134

Dilthey an Carl Prantl Dilthey an Carl Prantl

ren von dem Jenaer Philosophen Rudolf Eucken (1846–1926), Jacob Freudenthal, Leopold Kronecker und Theodor Gomperz (1832–1912): österr. Philosoph und klass. Philologe; 1867 Habilitation, 1869 a. o., 1873 o. Prof. für klass. Philologie in Wien. 10 Robert Vischer hatte 1885 eine o. Professur in Aachen erhalten, wäre aber wohl lieber von Breslau nach Berlin gegangen. 11 Nicht zu ermitteln.

[673] Dilthey an Carl Prantl 1

Hochverehrter Herr Kollege,

Berlin hinter Zelt I Villa Rosenau 12 März [18]86.

Nehmen Sie ergebensten Dank daß Sie freundlich an dem Zellerunternehmen sich betheiligen wollen. In diesen Tagen werden Sie nun einige Cirkulare erhalten, u. wir bitten freundlich deren Mittheilung an solche in München u. im Baierlande, die sich für Zeller u. seine Wissenschaft interessiren, freundlich angelegen sein lassen zu wollen. Wir wollen nun Zeller auch einen Band, besonders mit Abhandlungen aus der Philosophie der Alten widmen. Sie fühlen gewiß, daß diese Widmung eine nicht auszufüllende Lücke hätte, wenn Sie, der neben Zeller u. Bonitz das Meiste für das Studium der Philosophie der Alten geleistet hat von den Lebenden, dabei fehlten. Mag nun Ihr Beitrag klein oder groß sein nach dem Umfang: daß er darin ist, das ist die Sache! Erst am 15 Juli wäre das Manusscript erforderlich. Möchten Sie Ja sagen können u. wollen! Die persönliche Widmung – Einleitung wird Zellers ältester Freund, der Ästhetiker Vischer schreiben. Auch Helmholtz giebt e[ine] Abhandlung. Nur eine geringe Zahl ist in Aussicht genommen, der Raum auf bis 3 Bogen etwa festgesetzt, doch so daß der Natur des Gegenstandes natürlich Rechnung zu tragen bleibt. Nachdem ich ein paarmal vergeblich (jedesmal wenn ich München berührte)  Sie zu sehen versucht: freut mich, wenigstens schriftlich mit einem Manne in Berührung zu treten, dem ich so viel danke als wenig Anderen. In aufrichtigster Verehrung der Ihrige Wilhelm Dilthey © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

135

Original: Hs.; vermutlich nicht abgeschickter Brief D.s; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 181, Bl. 362–362 R. 1 Vermutlich handelt es sich bei dem Briefadressaten um den Münchner Philosophen Carl Prantl (1820–1888).

[674] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Verehrter Herr Geheimerath, Meinem Bruder werde ich umgehend die Anfrage um seine Äußerung zugehen lassen; die Antwort desselben kann, wie Sie bereits vermuthen, nur in Bezug auf die Begründung seiner Überzeugung, nicht in Bezug auf diese selbst dem, was mir bekannt ist, etwas hinzufügen. Mein Bruder hat sich mir gegenüber mehrmals ganz unzweideutig ausgesprochen. Er konnte sich mit den Vorschlägen von Meyer u. in zweiter Linie Leo nur unter der Bedingung einverstanden erklären, daß ‚die Distanz zwischen beiden in dem Bericht kräftigst markirt werde‘. Denn er hält Meyer (München) für allein wirklich geeignet. Sein inniger Wunsch ist, daß dieser berufen werde.1 In diesem Sinne hätte er gewünscht, die Nennung von Leo in zweiter Linie, wie deutlich auch der Abstand markirt sei, hätte ganz wegbleiben können. Falls nun Ihre Erwägungen auf Grund des Ihnen schon Bekannten dahin führen, daß im Sinne des Fakultätsvorschlages zuerst mit Meyer in Verhandlung zu treten sei: dann bedarf es der Verzögerung nicht, die aus dem Er­ warten der Darlegung meines Bruders entstehen würde. Für diesen Fall stehe ich für die obige noch aus dem letzten Brief meines Bruders2 entnommene Darlegung seiner Überzeugung ein. Die so entstehende Möglichkeit daß die Stelle schon für den Sommer besetzt würde, würde ja für Göttingen von großem Werthe sein, und mein Bruder käme so in die Lage ohne Gewissensbedenken den Sommer noch auf seine Erholung verwenden zu können, die wie mir scheint nun endlich einzutreten beginnt. Andernfalls würde es sehr schwer sein, meinen Bruder zu dem zu bestimmen, was doch seine Gesundheit so dringend fordert. Verehrungsvoll Wilhelm Dilthey Berlin 23. 3. [18]86. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

136

Dilthey an Hermann Usener Dilthey an Hermann Usener

Original: Hs.; GStA PK Berlin, HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, B Nr. 29 Bd. 2, Bl. 126–127 R. 1 Die Professur für klass. Philologie in Göttingen erhielt 1886 Wilhelm Meyer. Friedrich Leo kam 3 Jahre später nach Göttingen, um Meyer bei dem Projekt einer Katalogisierung aller Handschriften der preußischen Bibliotheken, das F. Th. Althoff initiiert hatte, zu unterstützen (vgl. Rebenich / Franke, S. 300, Anm.). – Friedrich Leo (1851–1914): klass. Philologe; 1873 Promotion, 1877 Habilitation in Bonn, 1881 a. o. Prof. in Kiel, 1883 o. Prof. in Rostock, 1888 in Straßburg, 1889 o. Prof. für Latinistik in Göttingen. – Wilhelm Meyer (1845–1917): klass. Philologe, Mediävist und Bibliothekar; 1872 Mitarbeiter an der Katalogisierung lateinischer Handschriften der Hof- und Staatsbibliothek München, 1875 Bibliothekssekretär ebd., 1886 Ehrendoktortitel (Erlangen), 1886 o. Prof. für klass. Philologie in Göttingen. 2 Nicht überliefert.

[675] Dilthey an Hermann Usener Liebster Hermann,

[März 1886]

Vortrefflich. Dein Name drunter gesetzt. Beengt Dich nicht, da dies Comité mit dem Sammelbande1 nichts zu thun hat: diesen habe ich mit Diels ganz allein in der Hand behalten, damit nicht Sybel etc. dreinreden. Es läßt sich vortrefflich an. Auch Helmholtz wird eine philos[ophische] Abhandlung hineingeben. Du wirst mit stattlichem Gefolge: Diels[,] Freudenthal auftreten: die neue Schule die der alten ihre Reverenz macht. Für eine Widmung mit Schilderung der Tübinger Zeiten habe ich Vischer erlangt: dies wird herrlich werden. Die für mich bedeutendsten Zeiten Zeller’s, seine theologischen, werden so gleich am Beginn zu Worte kommen. Dann denkt Vischer [an eine] ästh[etische] Abh[andlung]: Symbol und vielleicht dicht daneben Scherer auch eine aus seiner Poetik: auch da das Moderne neben den alten Zeiten. Da nur Wenige aufgefordert sind, brauchten sie im Raum sich nicht einzuschränken. Du hast also für die Politic 3–4 Bogen ganz zur Verfügung; mehr wenn Du mehr brauchst. Denn Du bist die Hauptperson, u. wenn dies auch äußerlich hervortritt soll mir’s um so lieber sein. Autorenexemplare für Verbreitung bekommst Du in diesen Tagen, J[ürgen] B[ona] Meyer wird ja schon für Euch Alle walten. Sie sind natürlich für die ganze Provinz bestimmt Gymnasien etc. Von Bibrich wie von Karl (heut langer Brief aus Hôtel Chalga)2 befrie­ digende Nachrichten. Ich hoffe, da es ihm entschieden nun besser zu gehen © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

137

beginnt u. dort ein Hôtel[-] Aufenthalt herrlich: er wird bleiben. Morgen spreche ich nochmals b[ei] e[inem] Diner mit Althoff in der schwebenden Sache u. dann will ich ihm[,] Karl[,] einen möglichst energischen Brief schreiben, ihn zum Bleiben zu bestimmen. Lily und den Kindern von uns Beiden viele Grüße. Treulichst Dein Wilhelm Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL , S 2102, 3, Nr. 30; ein Auszug aus diesem Brief ist als maschinenschriftliches Transkript hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 17. 1 Die Zeller-Festschrift. 2 Nicht überliefert.

[676] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Mein lieber Freund,

[Mai 1886]1

Ihr Brief 2 ward mir lange von meiner Frau angekündigt, doch glaubte sie ihn geschickt zu haben, erst später kam er dann, von ihr haben Sie schon vernommen daß ich abgereist war.3 Wie freute mich daß Sie wieder selber schreiben, und wie gern vernahm ich, daß es Ihnen nach Wunsch geht! Schon hatte ich mir Vorwürfe gemacht nicht entschiedener noch bei Ihnen einen Wiesbadener Aufenthalt befür­ wortet zu haben. Vom ersten Tag ab war hier nichts als ein Meer von Blüthen und Sonnenschein. Dieser Rhein im Frühling ist wie ein Märchen. U ­ sener war acht Tage hier bei mir, er brachte seine religionsgeschichtliche Arbeit mit, und so hätten Sie auch nach dieser Seite – er las sie sublime vor – Interessantes in Menge mit erlebt. Seine Tendenz ist in dem mythenbildenden Vorgang des Christusglaubens die Einwirkung der griechischen Mythen, mehr aber noch des mythischen Vorstellens wie es bei den Griechen fest geworden war auf­zuzeigen. Es ist ihm gelungen die Entstehung der Weihnachtsfeier und den Zusammenhang mit griechischem Kultus und Mythos so exakt zu erweisen, wie dergleichen der Baurschen Schule doch nie so sauber gelungen ist. Ja er hat aus den ältesten römischen Liturgien rückwärts für den antiken Kultus Elemente gewonnen. More solito:4 werden Sie sagen. Aber wir wis© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

138

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

sen daß solche Untersuchungen nur innerhalb gewisser Gränzen zur Exaktheit gelangen. Ich habe ein ganz kleines Buch über Einbildungskraft des Dichters hier fertig diktirt.5 Jetzt habe ich zum Schluß auch die andre Abhandlung wieder vorgenommen, will heut zu diktiren beginnen. In Wiesbaden merkwürdige französische Ausgabe von Reid mit Zusätzen der französischen Schule gefunden, die mir sehr nützlich für die historische Ansicht, die Abhandlung der Gründe für Existenz der Außenwelt.6 Die Erkenntnißtheorie des 18. Jahrhunderts zeigt innerhalb der empiristischen wie der idealistischen Schule die selbe Erscheinung. Überkommen ist: Die Existenz der Außenwelt soll von dem Ich aus erreicht werden. Seit Descartes ist man am Brückenschlagen. Existenz der Außenwelt wird als eine jenseitige Thatsächlichkeit betrachtet, getrennt vom Ich und dessen Vorstellungen. Verkettung aus Vorstellungen soll sie erreichen. Dabei besteht die Voraussetzung, es seien Vorgänge von Empfindung, Vorstellung, Denken aus denen dieser Glaube an die Außenwelt bestünde; correlat der Aufgabe aus solchen verstandesmäßigen durchsichtigen Bestandtheilen die Brücke in Frage zu construiren. Und indem nun Hume, Kant, Kants Schüler dort es sehr scharf nehmen, finden sie natürlich, daß wir schließlich in das Ich des Descartes eingeschlossen bleiben. Dann aber finden dagegen Reid und die entsprechenden Franzosen bis Cousin,7 dort Jakobi8 etc. daß im Existenzbewußtsein etwas liegt, das so gar nicht erfaßt ist. Merkwürdig dann wie verwandt sie es formuliren. Merkwürdig wie man nun zu metaphysischen Hypothesen greift, sich zu helfen usw. Bis dann diejenigen Voraussetzungen erreicht sind von denen aus wir den Glauben an äußere Objekte in seiner wirklichen Thatsächlichkeit verstehen können etc. Dilthey 9 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 48. 1 In BDY: „[Bieberich, Frühling 1886.]“. 2 Nicht überliefert. 3 D. hielt sich offenbar längere Zeit in seiner Heimatstadt Biebrich auf, während seine Frau in Berlin geblieben war. 4 Nach gewohnter Sitte. 5 D.s Abhandlung: Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik, in: Philosophische Aufsätze, a. a. O., S. 304–482. 6 Thomas Reid (1710–1796): schottischer Philosoph; 1752 Prof. der Moralphilosophie am King’s College Aberdeen, 1764 in Glasow. – Théodore Jouffroy (1796–1842): Philosoph; Prof. an der Ecole Normale, an der Sorbonne und später am Collège de France in Paris. Er übersetzte die Werke Th. Reids ins Französische und fügte ihnen Stücke aus den © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Friedrich Theodor Vischer Dilthey an Friedrich Theodor Vischer 

139

Vorlesungen Pierre Paul Royer-Collards über schottische Philosophie hinzu (Bd. III, S. 327; Bd. IV, S. 273–452). Die Ausgabe erschien 1828 in Paris (vgl. hierzu: F. Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie. Dritter Theil: Die Neuzeit. Bd. 2: Nachkantische Systeme und Philosophie der Gegenwart, 8. Aufl. Bearb. und hg. von M. Heinze. Berlin 1897, S. 311 f. – P. P. Royer-Collard (1763–1843): Philosoph und Politiker; Prof. der Philosophie in Paris. 7 Victor Cousin (1792–1867): franz. Philosoph; 1814 Prof. an der École normale supérieure, später an der Sorbonne; 1817/19 reiste Cousin nach Deutschland und hatte Kontakte zu ­Hegel, Jacobi, Schelling, Goethe u. a.; Cousins Werk ist stark durch die deutsche Philosophie geprägt. Er machte insbesondere Hegels Philosophie einem größeren Publikum in Frankreich zugänglich. 8 Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819): Philosoph und Schriftsteller; 1804 Prof. für Philosophie in München. 9 Die Unterschrift wurde aus der 1. Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ergänzt.

[677] Dilthey an Friedrich Theodor Vischer   Sehr verehrter Herr Professor, Zunächst mit vielem Dank für Ihr Mitwirken die Nachricht, daß Zeller’s Büste von Schaper1 im Modell vorzüglich gerathen ist und die Ausführung in Marmor nächstens beginnen kann. Alsdann theile ich ergebenst mit daß Fues (Reisland) den Verlag des Sammelwerkes übernommen hat u. wir dachten, etwa Mitte Juli den Druck beginnen zu lassen. Dürfen wir bis dahin erwarten daß Sie in günstigen Stunden die Widmung vollenden können? Je umfangreicher, das Persönliche wie nur Sie es können, umfassend, die alten Tübinger Zeiten in wirklichen Bildern erneuernd sie Ihnen unter den Händen wird: desto besser u. erfreulicher. Die ­ästhetische Abhandlung darf ja dann später fertig werden. Wir wollen durchaus den Abschluß des Bandes nicht übereilen, die Theilnehmer hat Niemand das Recht zu drängen. Noch etwas; wüßten Sie vielleicht einen Titel für den Band? Er wird nur philos[ophische] Abhandlungen[,] aber aus Geschichte der Philosophie u. Systematisches (darunter auch Helmholtz über die Zahl) enthalten. Ihnen fällt gewiß besonders leicht ein Titel ein, durch den solche Abhandlungen philos[ophischer] Art als Zeller zugehörig bezeichnet werden. Ihren Herrn Sohn habe ich leider neulich versäumt; auf sein neues Buch,2 das Zeller mir in Aussicht stellt, bin ich sehr begierig. Die Kunstgeschichte hat Unglück gehabt. Die Einen sind früh gestorben, Andre haben große Er­ © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

140

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

wartungen erregt, doch keine erfüllt; möchte Ihr Herr Sohn Stand halten mit Gesundheit und Arbeitsfreude. In treuster Ergebenheit Wilhelm Dilthey Berlin, Hinter Zelt I. d[en] 26 Mai [18]86. Original: Hs.; UB Tübingen, HIS , Md 787–164. 1 Fritz Schaper (1841–1919): Steinmetz und Bildhauer; 1859 Studium an der königl. preuß. Akademie der Künste in Berlin, 1875 Dozent ebd. 2 R. Vischer: Studien zur Kunstgeschichte. Stuttgart 1886.

[678] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Mein lieber Freund.

Klein-Oels den 28. 6. [18]86.

Schon früher hätte ich von mir hören lassen und Ihren Brief beantwortet, wenn nicht das regnerische und kühle Wetter der letzten Zeit meine Augen affizirt und mir Schonung derselben auferlegt hätte. Denn noch immer bin ich nicht in integrum restituirt, wenn auch die Behandlungsweise Försters1 von sehr wohlthätigen Folgen gewesen ist. Ich kann doch, wenn nicht schlechtes Wetter einwirkt, in wenn auch läßlicher so doch genußreicher Weise, zeitlich beschränkt, arbeiten. Ich vermuthe, daß Förster mich demnächst in ein Seebad schicken wird, in welchem Falle ich die Freude haben würde Sie zu sehen, mit Ihnen die Ausstellung2 zu durchwandern. Sie erzählten mir dann Näheres von den gewonnenen Einblicken in den psychischen Assimilationsprozeß, die Funktionsvorgänge, welche mittelst der Abweichungen von dem Normalen am besten sich erkennen lassen. Ich sollte denken, daß auch für den Psychiater die Aufhellung der psychischen Bedingungsverhältnisse von großem Werthe sein müßte, indem er dadurch von todten Classifikationen befreit wird – wie wir noch kürzlich gesehen haben, daß ein höchst komplizirtes Verhältniß nur nach den Phaenomenen beurtheilt und dadurch daß es mit der Etiquette Paranoia versehen worden für erledigt erachtet worden ist. – Ein weiterer Schritt zur genauen Constatirung der Bedingungsrapporte ist der Versuch, die Stärkegrade der Funktionen festzustellen, bei deren Überschreitung eine Gesammt© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

141

gleichgewichtsstörung eintritt, woraus sich eine psychologische Mathematik von negativer Bedeutung ergeben könnte, eine Mechanik der Psyche, welche nicht wie die im Grunde metaphysische Atomistik kritisch anstößig wäre, bei empirischem Ausgangspunkte und negativer Tendenz auf alle Construktion verzichtete. Ein Anderes ist es den Vorgang wechselseitiger Beeinflussung beschreibend zu charakterisiren. Sie gebrauchen den Ausdruck: Metamorphose,3 der gewiß sehr verdeutlichend ist. Ich vermag zunächst ihn allerdings nur als eine optische Projektion des in der Unsichtbarkeit der Causalität sich voll­ ziehenden Assimilationsvorgangs zu verstehen. Denn eine eigentliche Umsetzung von Empfindung in Vorstellung resp. Willensakt findet doch wohl nicht statt, sondern nur ein motorisches Verhältniß, so daß die Stärkegrade des Motors den Effekt, auch nach seiner Richtung, bestimmen, ein Verhältniß, das die überragende Gesammtzuständlichkeit modifizirt, wie sie hinwiederum dadurch bestimmt wird. Mir scheint für die Betrachtung unterschieden werden zu müssen ein zweifaches Verhältniß, nämlich das der psychischen Funktionen zu dem Ver­ anlassenden, dem s.g. Objektiven und das der Funktionen zu einander. Er­ steres ist dem Experimente zugänglicher als das zweite. Derartige Experimente sind die hypnotischen Versuche etc. Die Entferntheit des Wirklichkeitsfaktors bei wachem Zustande wird die eigentliche Verrücktheit charakterisiren, die Irrationalität, wie denn die ratio gebunden ist an den Kosmos, während die Störung des Gleichgewichts der psychischen Funktionen bis auf einen ge­wissen Grad dem Poeten mit dem Wahnsinnigen gemein ist, weswegen die Sprache von poetischem Wahn und Wahnsinn redet. Die Äußerungen und soma­ tischen Zustände, wie auch wo überhaupt ein solcher vorhanden der besondere anatomische Befund, werden verschieden sein, je nachdem die zentrale Veranlassung der Störung diesem oder jenem Verhältnisse zugehört. – Vorstehendes diene nur dazu die Freude und das Interesse daran zu bezeugen, daß Sie in körperlicher Frische thätig sind, nicht wie ich behindert und beschränkt. Auch Heinrich schrieb mir von Ihrem Wohlergehen und aus Ihrem Briefe entnehme ich, daß die Villegiatur4 Ihrer Frau und den Kindern insbesondere dem kleinen Max gut bekommt. Hier geht im Allgemeinen Alles den alten Gang … [Briefschluss fehlt.]

Paul Yorck5

Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 49. 1 Richard Förster (1825–1902): Ophtalmologe; 1857 Habilitation, 1863 a. o., ­1873–1899 o. Prof. in Breslau, 1894 Mitglied des preuß. Herrenhauses. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

142

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

2 Die Berliner Jubiläums-Ausstellung, die im Mai 1886 begann. 3 Zum Ausdruck „Metamorphose“ vgl. D.: Die Einbildungskraft des Dichters. Bau­ steine für eine Poetik, in: Philosophische Aufsätze, a. a. O., S. 325; WA in: GS VI, S. 119. 4 Landaufenthalt, Sommerfrische. 5 Die Unterschrift wurde aus der 1.  Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ­ergänzt.

[679] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Mein lieber Freund,

[Anfang Juli 1886]1

Ihre Zeilen haben mich sehr erfreut. Einmal durch die Nachricht daß Ihre Augen sich leidlich gut (wer kann im Leben in jeder Rücksicht das ganz Gute genießen?) befinden und so wie ich sicher annehme, bei knapper Lesediät, almälig sich völlig herstellen werden. … Dann durch die Aussicht, daß Sie bald hier durch passiren werden. Schreiben Sie ja einigermaßen vorher, damit ich mich nach Ihnen einrichte und wir die erstaunlich belehrende Ausstellung – die belehrendste die ich sah – recht miteinander genießen können. Meine Rede über Einbildungskraft, mit Anmerkungen, ist dann hoffentlich schon fertig und kann auch mitgetheilt werden. Hinter ihr steht freilich ein schon im Ersten in Bibrich etc. geschriebenes kleines Buch über die S­ ache, ein Theil der Abhandlungen über Poetik.2 Unmittelbar danach will ich dann die Ausarbeitung des Aufsatzes über die Außenwelt anfangen: ein unglaublich schwieriges Ding, aber ich fange an zu begreifen, warum noch niemand diesen verwickelten Knoten aufgedröselt hat. Lese ich Ihnen hier oder in Kleinoels die Rede vor, dann wollen wir auch Ihre mir sehr interessanten brieflichen Bemerkungen dabei erörtern. Unter Metamorphose der Einzelvorstellungen verstehe ich, daß die Einzelvorstellung, das Bild nicht ein constantes Atom des Seelenlebens ist, sondern ein unter wechselnden Bedingungen auftretender Vorgang, und zwar wirkt die Vertheilung der Gefühlserregung in dem einzelnen Bilde Verstärkung der Intensität einzelner Bestandtheile, Aus­dehnung, Verschiebung der Theile. Vorstellungen ändern sich also nicht nur von außen, gleichsam in ihren Relationen, während sie selber fest blieben, sondern sie sind Agentien, Vorgänge, die je nachdem aus dem Inbegriff der Erregungsvertheilung ihnen Gefühlserregung zuwächst innere Veränderungen erleiden. Der erworbene Zusammenhang des Seelen­lebens wirkt dieser Metamorphose gegenüber als ein regulirender Apparat. Da diese Sätze bewiesen werden können, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

143

da die ganze innere Gehirnphysio­logie und -pathologie dasselbe Ergebniß in ihrer Art hat: ist die psychische Atomistik nicht mehr zu halten und muß einer leben­digeren Psychologie Platz machen. Nun habe ich nur den Wunsch, Sie möchten bald Ihre Seepromena­de antreten. Denn es hat sich jetzt als möglich ergeben, daß ich dann wenn auch nicht lange in Kleinoels mit Ihnen zusammen sein könnte. Im Spätherbst gehe ich nach Bibrich, ebenso so Gott will wieder künftige Ostern; um so lebhafter ist mein Wunsch, daß diese einzige Möglichkeit im Lauf des nächsten Jahres ein paar Wochen zusammen zu sein sich verwirkliche. Am 3ten oder 4ten August schließe ich, dann brauche ich hier noch ein paar Tage, die Materialien der Abhandlung, soweit sie dann noch ungeschrieben, zusammenzuordnen und abzuschließen. Dann bin ich reisefertig. Frau und Kinder gehen dann von West­end nach Kösen bis Ende September, 1.  Oktober ist der Umzug etc. etc. Nun schreiben Sie, bitte, recht offen, ob Ihnen und Ihrer verehrten Frau ­Gemahlin das so in Ihre Existenz- und Besuchsdispositionen passen würde. Es wäre doch schön, wenn auf diese Weise ein Zusammensein in menschlich abseh­barer Zeit möglich würde. Ich habe bisher nichts ver­lauten lassen, weil ich sonst, bei Änderung meiner Projekte, schließlich in den Geruch eines wankelmüthigen Menschen komme. Dilthey3 N. B. von W. Scholz4 ein so unbeschreiblich abscheuliches Bild auf der Ausstellung,5 daß ihm, wenn es eine Schönheitspolizei gäbe  – ein Institut das erforderlich wird  – das Handwerk gelegt werden würde. Aber Defregger,6 ­A ngely7 (ein Portrait N°1!), Knaus wieder sehr respektabel,8 von Makart9 ein herrliches Portrait. Sie sehen, ereignet hat sich nichts. Von Begas eminenter ­Bismarck.10 Aber es lebe der alte Schadow!11 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 50. 1 In BDY: „[Juli 1886.]“. 2 Festrede D.s: Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn, gehalten bei der Stiftungsfeier der Königl. Militärärztlichen Bildungs-Anstalten am 2. August 1886 im Königl. Medicinisch-Chirurgischen Friedrich Wilhelms-Institut; WA in: GS VI, S.  90–102.  – Ent­ gegen der Annahme S. von der Schulenburgs, der Hg. von BDY, und derjenigen G. Mischs, des Hg. von GS VI, hat D. diese Rede nicht in seine Abhandlung über Poetik aufgenommen, die 1887 in der Zeller-Festschrift erschien (vgl. BDY, S. 263, Anm. zu Brief 48 und 49 sowie GS VI, S. 307). Vielmehr hatte D. sie bereits in Biebrich fertiggestellt, bevor er mit dem Verfassen der Rede über Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn, dabei aus diesem Reservoir schöpfend, begann. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

144

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

3 Die Unterschrift wurde aus der 1. Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ergänzt. 4 In BDY: „R. Scholz“. – Wilhelm Scholz (1824–1893): Zeichner, Karikaturist; ab 1848 Mitarbeiter der satirischen Zeitschrift Kladderadatsch. 5 Die Jubiläums-Ausstellung der Königl. Akademie der Künste im Landes-Ausstellungsgebäude zu Berlin von Mai bis October 1886. 6 Franz von Defregger (1835–1921): österr. Maler; 1878–1910 Prof. an der Akademie der Künste in München. 7 Heinrich von Angeli (1840–1925): österr. Maler; 1878–1919 Prof. an der Akademie der Künste in München. 8 Ludwig Knaus (1829–1910): Genre- und Portraitmaler; 1874 Prof. an der Akademie der Künste in Berlin. 9 Hans Makart (1840–1884): österr. Maler; 1876 Prof. an der Akademie der Künste in Wien, 1878 Leiter der Spezialschule für Historienmalerei in Wien, 1880 Vorstand des Wiener Künstlerhauses. 10 Reinhold Begas (1831–1911): Bildhauer; Hauptvertreter einer neobarocken Richtung. – R. Begas schuf eine Büste Bismarcks, die im „Zeughaus“ in Berlin stand, deren Verbleib aber unbekannt ist; darüber hinaus schuf er mehrere Bismarck-Denkmäler. 11 Gottfried Schadow (1764–1850): Bildhauer; Hauptvertreter des Klassizismus, 1788 Hofbildhauer in Berlin, 1816 Direktor der Berliner Kunstakademie.

[680] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Mein lieber Freund.

Klein[-]Oels den 6. Juli [18]86.

Das war eine gute Nachricht, die von Ihrem Besuche! Sie wissen welche Freude Sie mir damit bereiten und daß Ihr Lieblingszimmer immer für Sie bereit steht. … Heute nur wenige Worte. Die letzten Preuß[ischen] Jahrbücher bringen eine Besprechung des Haymschen Buches von Suphan und eine Äußerung Rößlers über Ranke.1 Erstere von einer beängstigenden schulmeisterlichen Schwärmerei, die staubige Begeisterung eines Editors, mehr in das 17te Jahrhundert Deutschlands passend als in die Jetztzeit. Historische Gestalten müssen flüßig gemacht werden, sonst kommt Staub zu Staube. Und der Mangel daran ist so weit ich das Buch kenne, auch der Mangel Hayms, der ja scharfsinnig, sorgfältig und gewissenhaft arbeitet wie Wenige. Aber den richterlichen, intellektuellmoralischen Stand- und Gesichtspunkt wird er nicht los. Ein bester Litterar­ historiker, der sich abgeschlossenen Sachen gegenüberstellt. Haym ist eben kein Historiker, weil er Kantischer Rationalist ist – auch eine Spezies des modernen Metaphysikers. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

145

Anders wie Suphan ist Rößler lebendig, ein Beweis, daß in Hegel über den er nicht hinauskommt, ein erhebliches Quantum Lebendigkeit ist. Solch ­Hegelianer hat eben doch ein intimeres Verhältniß zur Geschichtlichkeit. Im Einzelnen läßt sich m. E. viel an jener Besprechung aussetzen. Daneben hübsche Bemerkungen. Der horror vacui ist allerdings nicht ethisch, wie Rößler bemerkt, sondern aesthetisch und diese richtige Bezeichnung hätte auf den Grund der Eigenthümlichkeit geführt. Im Zusammenhange hiermit wäre Rankes ‚Unparteilichkeit‘ verständlich geworden. Ranke war eben Aesthe­ tiker und ein echter Zeitgenosse und Nachbar Tiecks:2 Auch seine kritischen Grundsätze sind okularer Natur und Provenienz. Der Geschichtsstoff aber ist ihm eine Fluktuation von Gestalt annehmenden Kräften. Seine histo­ rischen Personen sind im eigentlichen Sinne personae, Träger historischer Rollen. Der Dichter bleibt verborgen, nicht eigentlich Subjekte oder ein Subjekt hat nach ihm die Geschichte  – ebensowenig wie die Hegelsche Weltanschauung  – sondern subjektivirte Potenzen  – ein Lieblingswort R ­ ankes. Ranke ist ganz Auge als Historiker, die Empfindung als ein rein persön­ liches behält er für sich, es ist ein Geschichte sehen, nicht ein Geschichte leben. Darum fehlt es am letzten Sinne solcher Geschichte. Goethe, man kann sagen, weil er großer lyrischer Dichter war, empfand die Gestalt, die Symbol wurde, sinnvoll. Sein empfindendes Auge ließ ihn, ohne Griechisch, die Graezität erkennen. Demgegenüber denke man an Rankes Darstellung des Griechenthums! Ranke ist ein großes Okular, dem nicht, was entschwand, zu Wirklichkeiten werden kann. Aber der romantische Zauberer ist er, der das vergangene Leben auf die Bühne bringt, die Wahrheit zur Dichtung verschleiert. Und Dove sollte sich – wenn das Hinterlassene nicht nahezu vollständig ist – hüten, den Zauberstab zu ergreifen, der des Meisters Hand entfallen.3 – Weil Religiosität sich nicht sehen läßt, darum ist sie für Ranke keine historische Potenz, bleibt sie dem religiösen Historiker eine transzendente. Man kann sagen, daß er historisch betrachtet ein Deist gewesen, so gläubig und vielleicht sogar dogmatisch gebunden er als Person gewesen sein mag. Wenn aber irgendwo, so sind in der Geschichte Himmel und Erde eins. – Aus R ­ ankes ganzer Art erklärt sich auch die Beschränkung des Geschichtsstoffs auf das Politische. Nur dies ist das Drama­tische. Doch genug, weil sich zu viel sagen ließe. Yorck4 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 51.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

146

Dilthey an Friedrich Theodor Vischer Dilthey an Friedrich Theodor Vischer

1 Bernhard Ludwig Suphan (1845–1911): Literaturwissenschaftler; 1887 Direktor des Goethe-Archivs in Weimar; Hg. der Gesammelten Werke Herders in 33 Bänden. – Haym’s Herder-Biographie, in: PJ 58 (1886), S.  57–63.  – K. Rößler: Leopold Ranke, in: PJ 58 (1886), S. 64–75. 2 Ludwig Tieck (1733–1853): Dichter und Schriftsteller der Romantik.  – Kritische Schriften. 4 Bde. Leipzig 1848–1852. 3 A. Dove war ein Schüler Rankes. 4 Die Unterschrift wurde aus der 1. Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ergänzt.

[681] Dilthey an Friedrich Theodor Vischer [18. Juli 1886]1 Hochverehrter Herr Professor, Manusscript erhalten und fortgesandt; vielen Dank. Zahl der Abzüge nicht festzustellen, c. 30. Mit dem Beitrag über Symbol bitte nur so verfahren in der Abgränzung, wie es Ihnen für denselben am meisten geeignet erscheint u. zugleich mit Ihrer verfügbaren Zeit in Übereinstimmung. Das Format wird etwa das von Zellers Abhandlung sein, also 2–3 Bogen sehr viele Ihrer Schreibseiten.

In treuer Verehrung ganz ergebenst Ihr Prof. Dilthey

Original: Hs.; Postkarte; UB Tübingen, HIS , Md. 787–164. 1 Datierung nach Poststempel: „Westend bei Charlottenburg 18/7 [18]86“ .

[682] Dilthey an Friedrich Theodor Vischer [20. Juli 1886]1 Hochverehrter Herr Professor, mich drückt daß ich nicht ausdrücklich über die Korrektur mich aussprach. Der Verleger Fues (Reisland) Leipzig wird Ihnen sicher einen reinlichen Abdruck liefern. Leider verreise ich selbst schon zu Anfang August u. habe vorher e[inen] Vortrag, sonst würde ich die Korrektur der Widmung gern übernehmen. Diese bekommen Sie aber schon in kur© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey 

147

zer Zeit, da der Druck schon beginnt, u. so brauchen Sie nur Veranstaltung zu treffen daß sie Ihnen nachgesandt werde.

In immer gleicher Verehrung der Ihrige Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; Postkarte; UB Tübingen, HIS , Md. 787–164. 1 Datierung nach Poststempel.

[683] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Norderney den 5. Aug[ust] [18]86.

Soeben Ihr Briefchen erhalten.1 Das ist ja sehr schön, daß Sie den ersten Plan unseres Zusammenseins nun doch realisiren können. Ihr Zimmer in Oels erwartet Sie. Und ich freue mich sehr, daß Sie mich in dem lieben alten Neste bei meiner Rückkehr von dieser Inseleinsamkeit empfangen. Schreiben Sie nur meiner Frau den Tag Ihres Eintreffens, damit Wagen in Ohlau. Ich weiß noch nicht ob ich am 15ten oder am 21sten von hier loskommen kann. Je eher je lieber. Aber meine Augen entscheiden. Es geht mit ihnen ja viel besser aber noch immer nicht so wie ich möchte. Es würde gewiß besser gehen, wenn ich nicht der Selbst­erhaltung wegen genöthigt wäre ziemlich viel zu lesen. Im Augenblicke: Hermann, Geschichte und System der Platonischen Philosophie.2 Um einen kunstkritischen Ausdruck des trefflichen Vischer zu gebrauchen: ein zügig geschriebenes Buch, aber von einer entsetzlichen intellektuel­len Trivialität. Er berührt ja nirgends die Seele platonischen Denkens. Der echte Philologus, der einen Begriff von Historie hat als von einem Antiquitätenkasten. Wo keine Palpabilität3 – wohin nur lebendige psychi­sche Transposition führt, da kommen die Herren nicht hin. Sie sind eben im Innersten Naturwissenschaftler und werden noch mehr zu Skepti­kern, weil das Experiment fehlt. Von all dem Krimskrams, wie oft z. B. Platon in Großgriechenland oder Syrakus gewesen, muß man sich ganz fern halten. Da hängt keine Lebendigkeit dran. Solche äußerliche Manier, die ich nun kritisch durchgesehen habe, kommt zuletzt zu einem großen Fragezeichen und ist zu Schanden geworden an den großen Rea­litäten Homer, Platon, Neues Testament. Alles wirklich Reale wird zum © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

148

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey 

S­ chemen, wenn es als ‚Ding an sich‘ betrachtet, wenn es nicht erlebt wird. – Wer arbeiten könnte! Geschriebene, verstreute, überall verstreu­te und ungeschriebene Notizen erdrücken mich. Es giebt bisher nur eine vollständige Auffassung Platons, die Schleiermacherische,4 und die ist dogmatisch, un­ lebendig, weil metaphysisch. Wer hat die große intellek­tuelle Bewegung – typisch und doch zeitlich  – aber die Zeit als psychi­scher Faktor gefaßt  – die ­Platon als eine große Lebendigkeit sie umspan­nend zur Ruhe bringt so lange wie er athmet, würdig dargestellt? Und wie dann seine Gestalt, die des höchsten Griechenthums von den frei werdenden Gegensätzen gesprengt, welche ein Eigenleben der Zerset­zung beginnen. Alles Leben ist seiner inneren Struktur nach gegensätz­lich, schon physisch genommen. Und jedes Leben ist ein Restaurations­prozeß. Die historischen Gegensätze in der Weite ihrer Vereinzelung bedürfen einer ich möchte sagen übernatürlichen synthetischen Kraft und nur Heroen besitzen sie, wie nur sie diese Gegensätzlichkeit emp­finden d. h. in tiefstem historischen Sinne leben. Ihre Arbeit ist ihr Leben. Und sind sie universal, so sind sie Restauratoren, darum aber ihres geschichtlichen Ortes wegen tragische Gestalten. – Was soll man nun sagen, wenn man eine entschuldigende Auseinandersetzung z. B. darüber lesen muß, daß Platon nicht aktive Politik getrieben habe, wenn man seinen Dorismus als Folge seiner Familienverbindungen erklärt liest? U.s.w. u.s.w. Man muß zunächst den großen Gegenstand aus solchen Händen nehmen. Denn das niveau der Betrachtung ist doch zu niedrig für eine Diskussion. Da wird von ‚der abstrusen Höhe der Platonischen Spekulation‘ gesprochen. Keine Ahnung davon, daß es sich um ganz eigentliche Existenzialfragen handelte, wenn existiren etwas anderes heißt als Essen und Trinken. Doch genug. Denn bei Lampenlicht darf ich nicht zu viel schreiben. Was sagen Sie zu Heidelberg? Mit zwei redenden Zellers!5 Schon einer ist m. E. zu viel. Viel Rhetorik. Die ernstesten Worte immerhin die des Kronprinzen. Aber ich vermisse bei dem ganzen Feste den heiligen Ernst der Bescheidenheit. Ein bescheidenes Vergnügen ist unserem trefflichen Erdmannsdörfer geworden: der Hofrath! Und Kuno Fischer6 als Kanzel­redner ist auch nicht übel. Nun mancher Schauspieler hat wohl vor ihm da gestanden. Yorck7 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 52. 1 Nicht überliefert. 2 K. F. Hermann: Geschichte und System der Platonischen Philosophie. Bd. 1. Heidelberg 1839 (mehr nicht erschienen). © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

149

Dilthey an Gustav von Schmoller Dilthey an Gustav von Schmoller

3 Greifbarkeit, Fühlbarkeit. 4 F. D. E. Schleiermacher: Platons Werke. 5 Bde. Berlin 1804–1810. 5 Im Sommer 1886 feierte die Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg ihr fünfhundertjähriges Bestehen. Beim Festakt in der Aula am 3. August sprachen Eduard Zeller im Namen der deutschen Hochschulen und Akademien sowie der franz. Historiker Jules Zeller (1813–1900), damaliger Präsident des Institut de France, im Namen der Universitäten und Akademien des Auslands. 6 Der Festakt der 500-Jahr-Feier der Heidelberger Universität fand in Anwesenheit des deutschen Kronprinzen Friedrich Wilhelm in der dortigen Heiliggeistkirche statt. K. ­Fischer hielt hier am 4. August 1886 eine dreistündige Rede über die Geschichte der Universität. 7 Die Unterschrift wurde aus der 1. Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ergänzt.

[684] Dilthey an Gustav von Schmoller [6. August 1886]1 Lieber Freund, ich komme nicht vor Dienstag früh von hier fort, da immer noch Wohnungsfrage nicht erledigt. Geht es gut, so gehe ich also Dienstag den 10ten u. bin dann Abends in Hermsdorf.2 Dorthin schreibe ich noch eine Zeile. Sie Ihrerseits wollen, wenn Sie dort abreisen bei Titze3 den Ort wohin Sie gehen vermerken. Schreiberhau König4 hat große Vorzüge. Treulichst Ihr Dilthey Original: Hs.; Postkarte; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL G. von Schmoller, Nr. 119, Bl. 135–135R. 1 Datierung nach Poststempel. – Neben dieser Postkarte an G. von Schmoller, der sich damals in Breslau aufhielt (Adresse: „bei Herrn Privatdocenten Dr. Schwarz in Breslau, Bismarckstraße“), ist ein fast gleichlautendes Schreiben D.s an Frau von Schmoller, ebenfalls vom 6.  August 1886, überliefert: „Verehrteste Frau, eben Ihrem Herrn Gemahl geschrieben, doch melde ich auch Ihnen, da die Wohnungsfrage noch nicht erledigt, komme ich frühestens Dienstag früh zur Abreise u. bin dann Abends in Hermsdorf bei Titze. Geht Ihr Gemahl früher von da fort, bitte ich Ihn zu bestimmen, ob Schreiberhau König oder S. ­Seler u. wo sonst. Auf frohes Wiedersehn[.] Ihr ergebenster Wilhelm Dilthey“ (Origi­nal: Hs.; Postkarte; GStA PK Berlin, VI. HA, FA u. NL, NL G. von Schmoller, Nr. 119, unpaginiert). © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

150

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

2 Erholungsort im östlichen Erzgebirge. 3 Vermutlich ein Hotel in Hermsdorf. 4 Ort am Fuße des Riesengebirges. – König: vermutlich ein Hotel.

[685] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff [10. August 1886]1 Hochverehrter Herr Geh[eime]rath, eben begegne ich vor der Schererschen Thür Frau von Helmholtz und erfahre nur, daß Frau Zeller jetzt bei ihrem Sohn Albert in Stuttgart. Ich werde also oder meine Frau wird an Zeller’s Sohn gleich um Auskunft schreiben und diese wird Ihnen dann gleich zugehen. Aber wohin? Mit bestem Gruß der Ihrige Dilthey Original: Hs.; Postkarte; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, B Nr. 29 Bd. 2, Bl. 99–99 R. 1 Datierung nach Poststempel: „Westend bei Charlottenburg 10/8 [18]86“.

[686] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Sehr verehrter Herr Geh[eime] Rath!

[August 1886]

Ich sende gleich ein Paar Zeilen über das zurückerfolgende Buch u. ich eile Ihnen meinen Dank zu sagen, daß Sie sich der zurückgesetzten u. mißhandelten Philosophie freundlich annehmen wollen. Viel werthvoller natürlich als die außerordentliche Bewilligung ist es mir, daß mir eine angemessene Gehalt­verbesserung in bindender Form zugesichert wird. Ich hoffe Sie nächstens selbst zu sehen u. inzwischen grüßen Schreiberin dieses (selbige hofft Sie bald einmal hier draußen zu einem freundschaftlichen Essen zu sehen u. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

151

Dilthey an Edward Schröder Dilthey an Edward Schröder

dann recht gute Nachrichten aus Oberhof zu erhalten) u. ich vielmals u. bin mit nach­maligem Dank Ihr treu ergebener Wilhelm Dilthey Westend, Sonnabend Abend. Original: Hs.; Diktat D.s von der Hand Katharina D.s; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, B Nr. 29 Bd. 2, Bl. 162–162R.

[687] Dilthey an Edward Schröder1 Klein-Oels bei Ohlau [27. August 1886] Nehmen Sie, verehrter Herr Kollege, vorläufig bis z[u] einem Brief Morgen m[einen] ergebensten Dank für Ihre freundlichen mir sehr werthvollen Mit­ theilungen.2 Wie nützlich sie mir waren, werden Sie aus dem Correkturabzug3 sehen, von dem ich angeordnet [habe] daß er Ihnen vorgelegt werde. Wollen Sie Ihrer Güte die Krone aufsetzen, indem Sie ihn einer freundlichen Durchsicht (natürlich nicht in Bez[ug] auf Druckfehler, sondern sachlich) unter­ziehen u. mit Ihren gütigen Bemerkungen ihn mir zusenden (bei Grafen York von Wartenburg auf Klein-Oels bei Ohlau[)].

Erg[e]b[en]st dankbar Ihr W. Dilthey

Original: Hs.; neben der Postkarte von der Hand D.s, die hinterlegt ist in: StUB Göttingen, Schröder-NL , 193, Nr. 1, ist ein maschinenschriftliches Transkript des Schreibens aufbewahrt in: StUB Göttingen, U. Prezel-NL , Nr. 19. 1 Edward Schröder (1858–1942): Germanist; 1880 Promotion in Straßburg, 1883 Habilitation in Göttingen, 1887 a. o. Prof. in Berlin, 1889 o. Prof. in Marburg, 1902 in Göttingen; Schüler Scherers. 2 Nicht überliefert. 3 W. Scherer war am 6. August 1886 gestorben. – D.: Wilhelm Scherer zum persön­ lichen Gedächtnis, in: DRS 49 (Oktober 1886), S. 132–146; WA in: GS XI, S. 236–253. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

152

Dilthey an Edward Schröder Dilthey an Edward Schröder

[688] Dilthey an Edward Schröder Geehrtester Herr Kollege,

[28. August 1886]1

Lassen Sie mich Ihnen nochmals meinen besten Dank für Ihre freundlichen Mittheilungen sagen,2 u. wenn Sie einen Abzug der ersten Korrektur erhalten, wollen Sie freundlich, wenn es Ihre Zeit gestattet, absehend natürlich von Druckfehlern, erwägen, ob das Nothwendige richtig gesagt sei, was etwa zur Kompletirung erforderlich wäre oder zur Berichtigung nebenan notiren u. mir dann tunlich baldigst hierher senden, da den 15 Sept[ember] das Heft schon ausgegeben wird. Gern hätte ich zu dem Zusammenhang seiner Sprachansicht mit der allgem[einen] philos[ophischen] etwas gesagt; ich wage es nicht; finden Sie eine kurze Formel die an irgend e[iner] Stelle eingeschaltet werden könnte, so würde dies der Abrundung des Bildes sehr zu Statten kommen; ja fast scheint es erforderlich. Was wir alle an Scherer verloren, empfindet man nun erst, da die unausfüllbare Lücke da ist. Was Sie darüber schreiben drückt ganz m[eine] Empfindung aus. Der Aufsatz durfte natürlich nichts sagen das irgend Partheiopposition hätte wachrufen dürfen. Dies war eine der großen Schwierigkeiten. D[ie] Junggrammatiker,3 die nun selbst d[en] Begriff eines Gesetzes fallen4 lassen[,] dürfen so wenig z[um] Widerspruch gereizt werden als die alte Garde, die über Jakob Grimm’s Buchstaben Wache hält. Wie nun in Berlin die Verhältnisse sich gestalten sollen, ist mir vorläufig unerfindlich. Wenn Sie Erich Schm[idt] im Zusammenhang mit Sch[erer] schreiben grüßen Sie von mir.5 Nach m[einer] Weise war ich an jenem Tage außer Stande e[in] Wort mit ihm zu reden. Mit sehr lebh[aftem] Interesse lese ich eben v[on] ihm für eine ästhet[ische] Abh[andlung] den Lessing u. besonders die Emilia Galotti6 finde ich vorzüglich. In treuer Gesinnung W. Dilthey Klein-Oels bei Ohlau bei Grafen York von Wartenburg 30 Aug[ust] [18]86 Original: Hs.; neben der Postkarte von der Hand D.s, die aufbewahrt ist in: StUB Göttingen, Schröder-NL , 193, Nr. 2, ist ein maschinenschriftliches Transkript des Schreibens hinterlegt in: StUB Göttingen, U. Prezel-NL , Nr. 19. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Edward Schröder an Dilthey Edward Schröder an Dilthey

153

1 Datierung nach Poststempel: „Kleinöls 28/8 [18]86“. D. schreibt: „30 Aug[ust] [18]86“. 2 Nicht überliefert. 3 Eine Gruppe junger Sprachwissenschaftler, die sich Ende der 1870er Jahre in Leipzig zusammengeschlossen hatte. Sie verfolgten das Ziel, die Sprachwissenschaft als strenge Wissenschaft i. S. der Naturwissenschaften zu begründen. 4 In Abweichung zur Handschrift D.s im Transkript des Briefes: „gelten“. 5 Erich Schmidt (1853–1913): Literaturwissenschaftler; 1875 Habilitation, 1877 a. o. Prof. für deutsche Philologie in Straßburg, 1880 o. Prof. in Wien, 1885 Direktor des Goethe-Archivs in Weimar, 1887 o. Prof. für deutsche Sprache und Literatur in Berlin (Nachfolge W. Scherer); Schüler Scherers. 6 E. Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. 2 Bde. Berlin 1884–1892.

[689] Edward Schröder an Dilthey Hochverehrter Herr Professor! Ihren freundlichen Worten über meine unbedeutende Beisteuer ist heute der Correcturabzug Ihres Aufsatzes gefolgt, den ich mir gleich nach Eintreffen Ihrer Karte von der Expedition direct hierher ausgebeten hatte. Ich sende denselben nach kurzem Aufenthalte mit wenigen Notizen versehen weiter, deren Berücksichtigung ich selbstverständlich Ihnen ganz freistelle. Für den Zusammenhang von Sch[erer]’s Sprachansicht mit seiner allgemeinen philosophischen eine kurze Formel zu finden, ist mir nicht gelungen und kann mir nicht gelingen: er sah uns, seine Schüler zu gern mitten in eigener Arbeit, hatte über Wege und Irrwege der einzelnen Disciplinen zu viel zu er­ örtern, kurz war zu sehr practischer Pädagoge uns Jüngeren gegenüber, um von seinen allgemeinen philosophischen Anschauungen viel hervortreten zu lassen. Diesen Punct aufs neue öffentlich zu besprechen, das hat er immer wieder herausgeschoben, zuerst bei der 2ten Aufl[age] des Buches Z[ur] Gesch[ichte] d[er] d[eutschen] Spr[ache],1 dann immer wieder bis er uns versprach, in einer eingehenden Recension der 2ten Auflage von Pauls Principien2 sich über Grund­ anschauung und Methode zu verbreiten. Ich habe Ihren Aufsatz mit großem Interesse und mit warmer Befriedigung gelesen und ich verstehe durchaus die Grenzen, die Sie sich gezogen haben. Innerhalb dieser Grenzen habe ich kaum etwas vermißt; was noch gesagt werden muß[,] muß von den Germanisten gesagt werden, aber alles das wird sich wieder in die Mahnung zusammenfassen lassen: laßt die Arbeitsteilung nicht zur Zersplitterung werden, haltet fest an dem Gesammtbegriff einer deutschen © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

154

Edward Schröder an Dilthey Edward Schröder an Dilthey

Philologie als Geschichte des deutschen Geistes und an einem großen Ziel, wie er es sich gesteckt und nie aus den Augen verloren hat! Wie Sie ihn hineinstellen in die große wissenschaftliche Bewegung, wie Sie in ihm den modernen Menschen charakterisieren und die Berechtigung und Bedeutung eben dieses modernen Menschen für eine Wissenschaft darlegen, in der viele sich gewaltsam älteren Anschauungen anpassen oder doch ein altfränkisches Mäntelchen umhängen zu müssen glauben, das hat mir aus­nehmend gefallen. Ich habe nicht gefunden, daß etwas wichtiges übersehen oder geradezu unrichtig dargestellt wäre. Im Gegenteil bin ich überrascht, wie viel einzelnes an seinem Platze zur Geltung kommt, sodaß ich ganz gewiß Ihren liebenswürdigen Dank für meine Notizen kaum verdient hätte. Mit Ungeduld freue ich mich darauf, den Aufsatz in reinerer Gestalt lesen zu können, nicht Schritt für Schritt aufgehalten durch eine zwar oft spaßhafte, aber doch nicht ganz mühelose Conjecturalcritik gegenüber dem Setzer. Der Poetik ist natürlich unsere erste Erwägung zugewandt gewesen. Unter Scherers Schülern hat sich Dr. Konrad Burdach in Halle wol am meisten mit den Problemen der Poetik beschäftigt,3 ihm sind die Ideen seines Lehrers am ehesten in Fleisch u. Blut übergegangen; aber zur Herausgabe des Vor­ lesungsheftes wird ein Zuhörer gewählt werden müssen, und unter diesen hat Sch[erer] selbst Dr. Rich[ard] Meyer gelegentlich bezeichnet.4 Erich Schmidt werde ich um die Mitte des Monats auf ein paar Tage in Weimar besuchen: er wird sich gewis[s] über Ihr Interesse an seinem Lessing sehr freuen (vom 20sten ab bin ich in Berlin). Von Frau Scherer habe ich leider wenig tröstliche Nachrichten: auch unter der sorgsamsten, liebevollen Pflege der Eltern hat sie nicht einmal die Ruhe gefunden, die der Erhaltung ihrer Gesundheit notwendig wäre. Sie ißt fast gar nichts und schläft nie ohne Chloral.5 Schrecklich ist, daß sie das erste Wiedersehen mit ihrer Schwiegermutter noch vor sich hat. Ich verbleibe mit vorzüglicher Hochachtung Ihr ganz ergebener Edw. Schröder Witzenhausen in Hessen d[en] 2. 9. [18]86. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 158, unpaginiert.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Otto Lange an Dilthey Otto Lange an Dilthey

155

1 W. Scherer: Zur Geschichte der deutschen Sprache. Berlin 1868, 2. Aufl. Berlin 1878. 2 H. Paul: Principien der Sprachgeschichte. Halle 1880.  – Die 2.  Aufl. des Buches erschien 1886, so dass W. Scherer es nicht mehr besprechen konnte.  – Hermann Paul (1846–1921), der zu den „Junggrammatikern“ zählte, war 1874 a. o., 1877 o. Prof. für deutsche Sprache und Literatur in Freiburg. 3 Konrad Burdach (1859–1936): Germanist; 1880 Promotion, 1887 a. o., 1894 o. Prof. für deutsche Sprache und Literatur in Berlin. 4 Richard Moritz Meyer (1860–1914): Germanist; 1886 Promotion, 1901 a. o. Prof. für deutsche Literaturgeschichte in Berlin, 1910–1913 Vorstand der Stiftung Nietzsche-Archiv; Schüler Scherers. – 1888 gab R. M. Meyer Scherers Poetik in Berlin heraus. 5 Chloralhydrat: erstes, von Justus von Liebig 1832 hergestelltes Schlafmittel.

[690] Otto Lange an Dilthey Herrn Professor Dr. Dilthey z[ur] Z[eit] Klein Oels / Ohlau.

Berlin, den 4. Sept[em]b[e]r 18861

Im Besitze Ihres werthen Schreibens2 theile [ich] Ihnen mit, daß die H ­ erren Duncker & Humblot in Leipzig schon einen gewünschten Correcturabzug empfangen haben;3 also das Opus wird gedruckt für genannte Herren, sobald die Correctur zurückkommt. Ausliefern darf ich aber erst, wenn von dem Friedrich Wilhelms Institut die Exemplare an den Kaiser, Kronprinz etc. gesandt worden; die Krankheit des Herrn Generalarztes verzögert dieses Mal die Versendung.4 Nach Erkundigungen, weshalb [ich] erst heute diesen Brief sende, ist Aussicht nach 8 Tagen. Hochachtungsvoll Otto Lange Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 155, unpaginiert. 1 Darüber: Briefkopf „Buchbinderei von Gustav Lange jetzt Otto Lange FriedrichStrasse 103. Telephon No. 1522.“ 2 Nicht überliefert. 3 Im Verlag Duncker & Humblot erschien 1886 D.s Rede Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn. 4 H. Schubert war der Subdirektor des Medicinisch-Chirurgischen Friedrich-Wilhelm-­ Instituts in Berlin. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

156

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

[691] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Klein-Oels den 18. Novemb[er] [18]86.

Zum Geburtstag Ihrer Mutter1 wollte ich unsere herzlichen Glückwünsche Ihnen an den Rhein senden. Da machten mir meine Augen einen Strich durch die Rechnung, ein Telegramm aber verbot Ihre gelegentliche Mittheilung, daß diese Communikationsform erschrecke. Demnächst kamen Ihre freundlichen Worte2 und die beiden jüngsten Arbeiten im Drucke.3 Bei wiederhergestellten Augen hätte ich nun längst schreiben und danken sollen. Da kann nichts oder nur die Kürze des Tages entschuldigen. Mit großer Befriedigung las ich wiederholt Ihr Portrait Scherers, von Neuem erkennend, daß in dieser malerischen Intellektualität Sie Meister sind. Kein Anderer kann mit solch Lio­nardoscher Feinheit vom richtigen Hintergrunde einen durchempfundenen Charakterkopf abheben. Die ‚Einbildungskraft‘ liegt zu frischem Genusse noch vor mir, auf meinem Schreibtische. So haben Sie auf das Schönste für Ihre Praesenz gesorgt, die4 mir übrigens auch gegenwärtig ist, wenn ich mich mit den Megarikern und Stoikern unterhalte und über den trivialen Formalismus des Elementarlehrers Aristoteles erstaunt bin. Es ist doch merkwürdig daß so nahe liegende Fragen nicht gestellt worden sind wie die: warum ernste und scharfsinnige Männer sich bei der Aristotelischen Kritik nicht be­ruhigt haben, warum Aristoteles mächtiger im Mittelalter und zur Zeit der Kirche gewesen als in den seinem Wirken unmittelbar folgenden Jahrhunderten? Die Annahme daß Leute wie Diodor oder Chrysipp,5 um gleich gegnerische zu nennen, die Aristotelische Kritik der zeitlichen und intellektuellen Voraus­ setzungen ihres Denkens nicht geprüft hätten, ist doch ebenso lächerlich als die andere daß sie sich ein langes schriftstellerisches Leben hindurch damit abgegeben hätten dialektische schlechte Witze zu machen. Wird das eigene lebendige Philosophiren, das Nachdenken, ja Wiedererleben an die Stelle der litterarischen Kenntnißnahme gesetzt, dann kommen die Sachen anders wie bisher zu stehen und wird unter Anderem verständlich, warum die Zauberformel von δύναμις6 und ἐνέργεια7 nicht kräftig befunden wurde, ebenso wenig von den Schülern des Euklid und Antisthenes8 wie von Bacon – und aus ähnlichen Gründen. Der radikale kontemplative Rationalismus ist großartig, wenn er in Aristotelischer Universalität auftritt und gerade durch diese Universalität. Die Problematik kommt dabei zu kurz. Kaum ein Problem finde ich in Aristoteles anders als rein logisch, häufig durch den Appell an den bon sens und so nicht ohne Trivialität – fast unsachlich – gelöst. Problematisch ist das © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

157

Leben und mit der Lebensferne wächst eine gewisse Durchsichtigkeit. So finden wir denn auch, daß jede originale philosophische Strebung späterer Zeit sich in Gegensatz zu dem Aristotelismus setzt. Die Sonne Platons geht über der neuen Zeit auf und erst mit dem Schulmeister kommt Aristoteles wieder. – Und das Neueste sind alte Kämpfe in neuer Gestalt. – Diese entsetzliche Fertigkeit des Rationalismus, des destillirten, der nicht mehr bekriegt, wenigstens von Mächtigen (nicht), die Rüstung seiner großen moralischen Gesinnung abgelegt und mit dem Bürgerkleide tadelloser Respektabilität vertauscht hat, ist mir kaum noch so widerwärtig aufgefallen als bei Lektüre der Selbstbiographie Freytags.9 Erschreckend wie man so gar nicht leben kann, wie alle Wandelung die der Umgebung. Der geschichtslose Mensch sieht zu, wie sein ‚Programm‘ sich erfüllt, schreibt auch ab und zu sein Wörtchen. Er ist wirklich der von vorn herein fertig gemachte homunculus. So zeigt sich denn allen Ernstes der Mechanismus als Menschenbildner, als Demiurg. Aus Lutherscher Tiefe seufzt man nach Sünde. – Anderes von Nebenlektüre viel erfreulicher. So ist R. Vischer auch in seinem Signorelli tüchtig,10 wenn auch seitdem gewachsen. Der Abschnitt über terribilità ist vortrefflich. Er müßte einen ­Lionardo schreiben. Von seinen Fachgenossen würde er allein wissenschaftlich dazu qualifizirt sein. Doch nun endlich zur Hauptsache: zu meinen herzlichen Glückwünschen zu Ihrem Geburtstage. Gesundheit, Kraft und Freude seien Ihnen gestärkt und gemehrt. Das Glück sehe Sie an aus den fröhlichen Augen Ihrer Frau und Ihrer Kinder wie aus dem tiefen Blicke der Wissenschaft, der Sie Ihr Leben geweiht haben! … [Briefschluss fehlt.] Yorck11 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 53. 1 D.s Mutter Maria Laura, geb. Heuschkel (1810–1887), hatte am 15.  Oktober Geburtstag. 2 Nicht überliefert. 3 D.: Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn. Leipzig 1886; Wilhelm Scherer zum persönlichen Gedächtnis, in: DRS 49 (Oktober 1886), S. 132–146. 4 In BDY: „der“, in der 1. Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY: „die“. 5 Diodor: griech. Geschichtsschreiber des 1.  Jahrhunderts v. Chr.  – Chrysipp oder ­Chrysippos von Soloi (281/78–208/205 v. Chr.): griech. Philosoph; Anhänger der alten Stoa. 6 Vermögen, Kraft. 7 Tätigkeit, Wirksamkeit. 8 Antisthenes (um 445–365 v. Chr.): griech. Philosoph; einer der Hauptvertreter des ­Kynismus. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

158

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

9 Gustav Freytag (1816–1895) gab 1886–1888 im Leipziger Verlag Hirzel seine Gesammelten Werke in 22 Bänden heraus; Bd. 1 erschien 1886 und enthält: Erinnerungen aus meinem Leben (1887 als Separatdruck erschienen). 10 R. Vischer: Luca Signorelli und die italienische Renaissance. Eine kunsthistorische Monographie. Leipzig 1879. 11 Die Unterschrift wurde aus der 1. Fahnenkorrektur (April–Mai 1923) von BDY ergänzt.

[692] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Mein lieber Freund,

[Dezember 1886]1

Mit einer Zeile wenigstens will ich zur Wende des Jahres bei Ihnen er­ scheinen. Obwol der Tag für mich keine Stunden hat. Ich bin sehr abgespannt und schleppe mich mit dem letzten Theil der Bausteine zur Poetik hin, ohne daß es etwas Rechtes werden will. Fünf Bogen Korrektur sind glücklich hinter mir. Im Niederschreiben habe ich die kurzen Anwendungen auf die Form und Technik der Poesie noch vor mir. Ich habe gezögert daranzugehen, definitiv zu schreiben, da ich stets glaubte eine Entdeckung wie die des Lautgesetzes auf dem Gebiet der Grammatik in Folge meiner analytisch hergestellten Elementarvorgänge nun machen zu können: sie schwebte vor mir her: ich muß indeß darauf verzichten sie zu erzwingen, sondern hoffen, daß später ein glücklicher Augenblick mich beschenkt. Eine angestrengte Arbeit ist indeß gethan. Und jede Beschäftigung mit Poesien in künftiger Zeit wird mir auf solcher Grundlage Gewinn abwerfen müssen. Eine große Förderung verspreche ich mir denn auch von Scherers Poetik, die nun zum Druck vorbereitet wird.2 Und es wird vielleicht das ziemlich Gleichzeitige Erscheinen von zwei Ver­ suchen, die von den entgegengesetzten Enden der Methode ausgehen, die Poetik in Fluß bringen. Wäre ich wohler, so würde ich sobald ich fertig bin gleich daran gehen, nun den zweiten Band in Ordnung zu bringen. Mehr als das will ich nicht. Ich kann Schwierigkeiten, die noch auf dem Wege liegen, nicht erst auflösen wollen: ich muß mit dem Gold das flüssig ist meine Schulden zahlen. Denn auf einem so ganz unermeßlichen Gebiet würde man sonst zwei oder drei Leben ohne Ergebniß zubringen. Nur das kann ich hoffen, daß was ich gebe wohlerwogen und leidlich begründet ist, ist im Ganzen innere Wahrheit: dann wird es so wirken und Ergänzungen herbeiführen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

159

Wäre nur meine Gesundheit diesem Doppelberuf gewachsen. Ich verliere bei intensiver eigener Arbeit jedes Interesse an der Vorlesung, und so bin ich so ungeeignet als möglich dazu solche Doppelaufgabe zu lösen. Dann beneide ich Sie immer aufs Neue. Möchten nur Ihre Augen Ihnen ermöglichen, Ihre schöne Muße auszugenießen und wenn Ihnen so zu Muthe auch auszunutzen. Das ist auch mein inniger Wunsch fürs neue Jahr, mein lieber Freund. … Eine Rarität, die doch eben erst gedruckt ist, und welche nur zurückstand, da Zeller sich von der Lektüre noch nicht trennen konnte,3 wollen Sie heiter genießen und der Majoratsbibliothek einverleiben. Original: nicht überliefert, Erstdruck: BDY, Nr. 54. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 W. Scherers Poetik wurde 1888 von dessen Schüler R. M. Meyer herausgegeben. 3 Evtl. E. Zeller: Eine neu entdeckte Sibyllische Weissagung im Original und in deutscher Uebersetzung. Zum ersten Mal herausgegeben. Festschrift zum 50jähr. Dienst­ jubiläum S. Excellenz Herrn Staatsminister Friedberg gewidmet von den Mitgliedern der griechischen Gesellschaft. 14.  April 1886; WA in: E. Zeller: Kleine Schriften. Hg. von O. Leuze. Bd. 3. Berlin 1911, S. 455–458.

[693] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Mein lieber Freund.

Klein-Oels den 13. I. [18]87.

Für den litterarischen Caviar und die freundliche Einladung1 habe ich herzlich zu danken. Ich bin nun aber nicht ein moderner Mensch, dem Raum­ anschauung zum bloßen Zeitbegriff geworden ist. Überdem muß man in diesen Zeiten die Rücksichten des guten Haushälters walten lassen. Und so gern ich an Ihrem gastlichen Tische säße, so gern ich als politischer Mensch jetzt in Berlin wäre – nicht als Herrenhausmitglied, denn nicht die Form sondern nur die Kraft lockt – so ist es vernünftig Entsagung zu üben. Ich bin tief und freudig bewegt in diesen Tagen durch den Bismarckschen Eingriff, eine große Lebensmanifestation wieder mitten in intellektuellen und moralischen Miasmen.2 In dem ernsten Carlyleschen Sinne ist B[ismarck] eben eine seltene ganz wahre Natur. Und wenn auch die mir erregte politische Herzensbewegung für einige Zeit die Arbeitsruhe nimmt, so ist doch die Stimmung eigenem, stillem Bemühen nicht widersprechend. Die neue Denkweise, die kommen © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

160

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

muß, ­manifestirt sich zuerst in und mittelst einer genialischen Persönlichkeit und wie immer zuerst im Bereiche der That. Ein politischer Prozeß zwischen Realismus – nicht in dem gemeinen sondern in dem historisch-psychologischen Verstande – und Nominalismus. Das Zeitalter des Nominalismus geht zu Ende und es ist Zeit. Glücklich der, der es mit sehenden Augen erlebt – trotz der Krisen, die den ganzen politischen Horizont verdunkeln. Denn die Spießbürgerweisheit, daß rings herum Friede sei, ist doch gar zu kurzsichtig. Wann die Entladung statthaben wird, mag nicht zu bestimmen sein, aber verziehen kann das Gewitter sich nicht. Die Revolution – die Bewußtseinsmacht – ist auch ein internationaler Faktor und zwar nicht in dem Ausdrucke der Internationalen3 erschöpft. Es ist doch bemerkenswerth, daß mit dem Eintritte der modernen, naturwissenschaftlichen, Denkweise jede politische verbindliche Gestalt auf­gehört hat. Der Reichsgedanke wurde von dem Gleichgewichts­gedanken – dem man seine Herkunft ansieht – abgelöst. Die reine Faktizität dieser Kategorie konnte nie als Glaubensinhalt dienen. Und die Lebendigkeit jeder kräftigen Person genügte[,] das Gleichgewicht, welches bei der Lebendigkeit der Kräfte nur ein labiles sein konnte, aufzuheben. Diesem rationalen Verhältnisse ist in unserem gepriesenen Jahrhundert der Animalismus gefolgt – wie denn das der Fortgang gewesen ist von einer boden­losen ratio zur Impetuosität des Triebes, womit das Leben in seiner niedrigsten Art zum Rechtsgrunde des Lebens gemacht ist. Von da muß es nun endlich wieder aufwärts gehen – aber wohl nicht ohne viel Blut und Unglück. Leider ist die Menschheit so geartet, daß Schmerzen das allein ganz wirksame paed­agogische Mittel sind. Auch in meine ­Familie würde und wird der Krieg als schwere Sorge eingreifen. Ich selbst werde dann auch zusehen eine militärische Stellung zu erhalten. Das würde dann mich rasch nach Berlin führen. – Ob irgend eine Anstandspflicht mich früher in das Herrenhaus nöthigt, warte ich ab. Im Übrigen habe ich mich recht ­winterlich-behaglich hier in meinem ­Craigenputtock4 eingesponnen und suche die reiche Mannigfaltigkeit für mich ins Enge zu bringen. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 55. 1 Nicht überliefert. 2 Seit Dezember 1886 wurden in Teilen Preußens aufgrund des Sozialistengesetzes von 1878 Ausweisungen von sozialdemokratischen Agitatoren vorgenommen. – Bismarcks Regierung hatte im Reichstag eine Vorlage gemacht, das Heer um 10 % aufzustocken. Als das Vorhaben abgelehnt wurde, lösten am 14. Januar 1887 der Bundesrat und Kaiser Wilhelm I. den Reichstag auf. – Miasma: Verunreinigung, Vergiftung. 3 Die Internationale Arbeiterassoziation, die 1864 gegründet worden war und sich zwischen 1872–1876 aufgelöst hatte. 4 Name eines Landsitzes im südwestlichen Schottland, wo Th. Carlyle einige Jahre lebte. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

161

Gisela Grimm an Dilthey Gisela Grimm an Dilthey

[694] Gisela Grimm an Dilthey Geehrter Herr Professor!

2

[nach 6. Januar 1887]1

Erlauben Sie mir daß ich Ihnen ein paar Worte schreibe – in einer Sache ­worin Sie vielleicht ein wenig zum Guten reden können. Ich weiß nicht ob Sie wissen und sich erinnern daß wir viel Gutes an ­Scherer gethan haben – und daß uns aus dem Guten für ihn – meist nur vielerlei Lasten entsprungen sind. Scherer kam als junger Mann und thete und frühstückte bei uns aß oft bei uns und ich glaube er hat viel mehr erfreuliches bei uns erfahren, als wie wir damaliger Zeit von ihm erhallten konnten  – dann spether haben wir in Berlin ihn zur Kaiserin empfohlen  – stets und überall für ihn gethan, was wir konnten  – so daß ich sagen kann daß er von uns mit Freundlichkeit überschüttet worden ist – ohne daß er da etwas that – denn er schwermt die meiste Zeit mit Frau Dunker3 auch in Berlin[;] so ging daß fort – er heirathete – ich verlohr ihn da fast gänzlich aus den Augen, wenn bei uns Krankheit war, erschien er fast nie – Im Gegentheil er hat meinem Mann noch hie und da recht Un­behagen in manchen Dingen gemacht. – Nun starb der Arme und Frau Schmidt4 wältzte die letzten Tage von seiner Krankheit auf meines Mannes Schultern – dann fanden alle die guten Freunde plötzlich, mein Mann sei der nächste Freund! – und fielen über ihn her, ihn zum Vormund zu machen – mein Mann wurde von all diesen Plagen krank – er ist nicht dafür gemacht und ging krank in den Winter. Ich selber habe immer in der Familie, fast alle Todesfälle und Schrecken übernommen – Ich war bei meiner Mutter[,]5 bei seinem Vater,6 die Nacht da Jener starb – überall ging ich um meinen Mann zu schonen alleine vor – bei meinem Bruder der 3 Mal in Lebensgefahr war ich allein – Aber bei Scherer fand Frau Schmidt die meines Mannes Gesundheit doch gar nicht kennt – ihn grade geeignet – ihn zu bemühen. Dabei ist die Freundschaft von meinem Mann und Scherer gar keine ganz besonders nahe gewesen – als daß er uns in jeder Weise zu Dank verpflichtet sein konnte. Mir ist nun wirklich bange daß Frau Scherer meinen Mann der nun so viel Plagen von der Sache hat – in noch größeres Unheil zieht – seinen Geburtstag verdarb sie ihm – durch einen großen Veilchenstrauß und Scherers Bild – wem7 sagt sich nicht von selber, daß diese Gabe besser nicht am Tage selber geschehen sei.  – Die gute Frau überlegt nicht unser Alter und daß wir der© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

162

Gisela Grimm an Dilthey Gisela Grimm an Dilthey

gleichen nicht so stand hallten können – Mein Mann sagte offen – der ganze Geburtstag und seine armen Nerven wären dadurch nicht erfreulich berührt worden – die gute Frau weiß alle dies nicht – Nun kam sie gar oft mit dem Denckmahl – immer wieder andere Bilder dazu – mein Mann seuftzte. Das können doch wohl andere besorgen so sehr wir Scherer schätzen. Nun ist das Scharlachfieber dort in Gang, – bitten Sie sie doch bei Gelegenheit brieflich – meinem Mann nur offene Karten zu schicken, bei Freunden von uns – ist es so durch einen geschlossenen Brief hinverpflanzt worden und mein Mann hat es noch nicht gehabt. – Thun Sie mir dies zu Gefallen  – Grüßen Sie Ihre liebe Frau schönstens [–] ich bin diesen Winter nur 3 Mal in der Frühe bei Olfers8 gewesen – und 4–5 Mal im Theater – selbst zu der Frau meines lieben, lieben Vaters, der Anfang des Winters starb und den ich noch lange zu behalten hoffte gehe ich erst dieser Tage hin – Grüßen Sie bitte Frau Schmidt, sage[n] dies auch – Frau Schmidt kom[m]t leider nicht von selber ohne vielfache Visitten, wie andere Leute, denen man offen sagt – daß man nicht Visitten machen kann. – sonst hätte ich sie sehr gebethen uns doch aufzusuchen  – Ich kenne sie ja wenig, habe mich nicht an ihrer Freude jeh betheiligt – obwohl ich mich stets an ihrem Verstand und dem guten Schmidt, herzlich, aufrichtig erfreute. – ihnen alles Liebe und Gute wünschte – ich würde mich auch nun erfreuen, wenn ich [es] ihr manchmal in ihrem Kummer behaglich bei uns machen könnte –, aber dazu hat sie wohl andere Freunde. Sonst aufrichtige Grüße. Sie sagte nur damals als ich ihr sagte – es wäre besser wenn Sie an meines Mannes Alter und Gesundheit gedacht und ihn nicht an Scherers gesandt – Sie erwiederte mir darauf – Ich sollte mich doch freuen, wenn mein Mann auch einmal etwas Gutes thete! sie würde sich bei Schmidt sehr gefreut haben, wenn er das jeh gethan hat. Ja – Sie überlegt wohl nicht daß9 wir uns unser Leben lang, mit Andern geplackt haben – wie viel Briefe schrieb selbst mein Mann und wie viel Gänge machte er – Julian Schmidt, manches zu zu weisen – was die thörichte Welt ihm weigerte – so sehr er es verdiente – Nun sind wir aber nicht mehr jung und können nicht mehr dergleichen – und sie möge uns nicht noch mehr Dinge senden – die uns Sommer und Winter verderben – nur dadurch daß ich fortwehrend pflegen mußte. – Dadurch bin ich ja nun verhindert, ihr Besuche zu machen und eben so thut mein Mann nur daß bisher, so lange er leident war, was er grad mußte. Gott schütze uns vor unsern Freunden, vor unsern Feinden wollen wir uns schützen. – Im übrigen besten Gruß an Ihre freundliche liebenswürdige Frau, sie erweist meinem Mann nur Heiteres und Freundliches, daß lasse ich gelten. Im übrigen haben wir bei nahen Verwandten und Freunden diesen Winter so viel Kummer gehabt, daß wir schon genug Sorge hatten, ohne die gute Frau © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Hermann Usener Dilthey an Hermann Usener

163

Schmidt die ja im Grunde garnichts von uns weiß, so gut sie ist – Es grüßt Sie auf beste Ihre ergebene Gisela G.10 Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 159, Bl. 8–10 R. 1 H. Grimm hatte am 6. Januar Geburtstag. 2 Im Brieforiginal darüber von der Hand H. Grimms: „Wir sind Scherer sehr gut ge­ wesen, wir haben ihm alles Glück der Welt gewünscht, fühle tiefes Mitleid! – aber Andere thaten das doch auch!“ 3 Lina Duncker (1825–1885), Ehefrau des Verlegers Franz Duncker, führte in Berlin einen Salon, in dem Scherer regelmäßig verkehrte. 4 Elisabeth Schmidt: Ehefrau des Literarhistorikers Julian Schmidt. 5 Die Schriftstellerin Bettina von Arnim (1785–1859). 6 Der Germanist Wilhelm Grimm (1786–1859). 7 Im Original: „wehm“. 8 Die Schriftstellerin Marie von Olfers (1826–1924) führte in Berlin einen Salon; Jugend­freundin G. Grimms. 9 Im Original: „daß,“. 10 Im Original: „Giesela“.

[695] Dilthey an Hermann Usener Mein liebster Hermann,

[9. März 1887]1

Ich will nun meiner ‚kleinen Poetik‘ einen Gruß nachsenden. Deinen letzten Brief 2 zu beantworten verschob sich beständig, da ich im Kampf mit dem Verleger u. Drucker Ärger über alles Maß zu schlucken hatte. Ende Januar hätte das Zellerbuch in aller Hände sein müssen. Heute ist es das noch nicht. Es ist unerfindlich was diese Bande für Absichten hatte uns so zu ärgern. Schließlich hat der Verleger in Bezug auf die Überreichung an Zeller eine Karte an Diels geschrieben, von einer Schäbigkeit, die uns nur veranlassen konnte, die Verbindung mit ihm völlig abzubrechen. Dieser Herr Fues Reisland ist für uns gezeichnet auf alle Zeilen! Inzwischen geht es Deiner lieben Lily wieder gut, wir unsrerseits haben wegen Diphteritis nun heute die Kinder for[t]gegeben, und ich rüste mich das liebe gute Mütterchen zu besuchen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

164

Dilthey an Hermann Usener Dilthey an Hermann Usener

Die Poetik soll sobald es durchgeführt werden kann in erweiterer Form als Buch erscheinen. Dann soll sie Dir gewidmet werden, mein lieber Hermann, mit dem ich die Romantiker gelesen u. zuerst über Poesie gedacht. Jetzt aber gilt es die Geisteswissenschaften zu Ende zu bringen! Noch ein schweres Stück Arbeit. Was denkst Du denn ob die channements3 in der Archäologie, [die] durch Contze’s4 Übertritt in die andre Stelle herbeigeführt werden nicht Karl aus seiner ihm unangenehmen Lage in Gött[ingen] befreien könnte[n]? Ich kann ja nicht verstehen, daß sie ihm so unerträglich: aber wir müssen doch mit der Thatsache rechnen! Ob er hier am Museum in einer Lage wäre, die er beanspruchen darf u. für die er paßt? Oder mittelbar etwas erwünscht wäre? Ich werde ihn ja jetzt wol sehen. Fritz Koepp5 ist hier angelangt. Er beginnt zu empfinden, daß das Leben für einen jungen Archäologen nach der 2jähr[igen] Reise Schwierigkeiten hat. Viele Grüße von uns an Lily und die Kinder Treu Dein Wilhelm Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL , S 2102, 3, Nr. 8. Ein Absatz des Briefes ist als maschinenschriftliches Transkript hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 18. 1 Datierung nach einer Notiz Useners auf dem Brieforiginal. „Erh[alten] 10 märz [18]87“. 2 Nicht überliefert. 3 Changements (franz.): Veränderungen. 4 Alexander Conze (1831–1914): Archäologe; 1855 Promotion, 1861 Habilitation in Göttingen, 1863 a. o. Prof. in Halle, 1869 o. Prof. in Wien, 1877 Direktor des Skulpturenmuseums in Berlin, 1881 Vorsitzender der Zentraldirektion des Deutschen Archäologischen Instituts, 1887 erster Generalsekretär. 5 Friedrich Koepp (1860–1944): klass. Philologe und Archäologe; 1883 Promotion in Bonn, 1887 Assistentenstelle im Kaiserlichen Archäologischen Institut in Berlin, 1891 Habilitation in Berlin, 1896 o. Prof. in Münster, 1916–1924 Direktor der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts und Honorarprof. in Frankfurt. – F. ­Koepp war der Sohn von D.s Cousine Karoline, geb. Rückert (1831–1900).

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

165

Dilthey an Wilhelm Schuppe Dilthey an Wilhelm Schuppe

[696] Dilthey an Wilhelm Schuppe Berlin Burggrafenstraße 4 14⁄3 [18]871 Nehmen Sie, verehrter Herr Kollege, meinen ganz ergebensten aufrich­ tigen Dank für die Übersendung Ihrer jüngsten Schrift.2 Mich hat die drängende Arbeit des endenden Semesters mir nur zu blättern gestattet. Aber es ist mir rechte Ferienlektüre, doppelt, da sie mir auch für meine eigene Arbeit im richtigen Momente gekommen. Also nochmals herzlichen Dank u. möge ich Ihnen bald persönlich begegnen da es mir von großem Werthe wäre, über manche Hauptpunkte mich mit Ihnen gerade verständigen zu können.

In aufrichtiger Hochschätzung der Ihrige Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; Biblioteka Jagiellonska, Krakau, unpaginiert und ohne Signatur. 1 Die Adresse des Absenders und das Briefdatum sind von fremder Hand geschrieben. 2 Vermutlich W. Schuppe: Der Begriff des subjektiven Rechts. Breslau 1886.

[697] Dilthey an Hermann Usener Liebster Hermann,

[17. März 1887]1

In Italien giebt Camorini (?)2 ein Itinerarium3 von einer französischen Dame aus der Zeit des Kaisers Julian (wahrscheinlich) heraus.4 Es scheint der Text schon gedruckt. Die Ausgabe scheint dagegen noch in weiter Ferne. Enthält aber wie es scheint über Bräuche in Kirchen und Klöstern in dem heilig[en] Lande besonders […] sehr viel für Dein Buch Interessantes.5 So entnehme ich eben aus e[inem] Vortrag von Mommsen darüber,6 der den Text zuerst jetzt von den Deutschen in Händen gehabt hat. U. da Du vielleicht Lust hast in Ausg[abe] d[es] Buchs Einblick zu gewinnen, theile ich es Dir mit. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

166

Dilthey an August Fresenius Dilthey an August Fresenius

Sitze noch hier. Von Geschäften immer wieder zurückgehalten, haben eben auch Zeller[,] Diels[,] B[enno] Erdmann und ich Verabredung ü[ber] e[ine] Zeitschr[ift] für Gesch[ichte] d[er] Philosophie getroffen, welcher Du hoffentlich Deine Theilnahme auch zuwenden wirst. Von Bibrich aus mehr. Treulichst mit besten Grüßen von Haus zu Haus Dein treuer Wilhelm Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL , S 2102, 3, Nr. 9. 1 Datierung nach einer Notiz Useners im Original: „Erh[alten] & beantw[ortet] 18 märz [18]87“. – Daneben von der Hand Useners: „Schr[eiben] an Mommsen […] Piccolomini“. – Enea Piccolomini: klass. Philologe; 1872 aggregierter Prof. in Florenz. – H. Diels arbeitete während eines Italien-Aufenthaltes im Frühjahr 1872 mit Piccolomini zusammen (vgl. Ehlers, Bd. I, S. 50). 2 D. war sich der Richtigkeit des gehörten Namens nicht sicher. – Es handelt sich um Joh. Francesco Gamurrini: Bibliothekar von Arezzo. 3 Reisebericht. 4 Gemeint ist Silvia aus Aquitanien. – S. Hilarii tractatus de mysteriis et hymni et S. Silviae Aquitanae peregrinatio ad loca sancta. Quae inedita ex codice Arretino deprompsit Joh. Franc. Gamurrini. Rom 1887 (Bibliotheca dell’ Academia storico – giuridica vol. quarto). – Flavius Claudius Julianus (331–363): röm. Kaiser von 360–363. 5 Im Original folgt: „zu enthalten“. 6 Th. Mommsen: Über einen neu aufgefundenen Reisebericht nach dem gelobten Lande, vorgetragen am 17.  März 1887, in: SB der königl. preuß. AdW. Berlin 1887, S. ­357–364.

[698] Dilthey an August Fresenius1 Sehr geehrter Herr Doktor,

[vor dem 23. März 1887]

Sende anbei mit gehorsamster Empfehlung die versprochene Recension,2 von der ich Korrectur in meine Wohnung erbitte. In den jetzt ausgegebenen philos[ophischen] Abhandlungen, Zeller gewidmet (Fues Verlag) sind 10 Bogen eines Entwurfes einer Poetik von mir. Ich er© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

August Fresenius an Dilthey August Fresenius an Dilthey

167

laube mir Ihre Aufmerksamkeit auf dies Buch und meinen Versuch (der Sie ja wie ich weiß um der Poetik willen interessiren wird) zu lenken. Ergebenst der Ihrige Wilhelm Dilthey Original: Hs.; ABBAW, Fresenius-NL , Nr. 40. 1 August Fresenius (1850–1924): Philologe; Dr. phil., 1886–1891 Redakteur der Deutschen Litteraturzeitung, die in Berlin herausgegeben wurde; 1893 Mitarbeiter an der Weimarer Goethe-Ausgabe, 1897–1899 Mitarbeiter am Goethe-Archiv in Weimar. 2 D.s Besprechung von Julian Schmidts Geschichte der Deutschen Litteratur von Leibniz bis auf unsere Zeit. 3 Bde. Berlin 1886 (bis 1896 erschienen die Bände 4 und 5). – Diese Rezension sollte in der Deutschen Litteraturzeitung erscheinen. – Julian Schmidt war am 27. März 1886 gestorben.

[699] August Fresenius an Dilthey

Hochverehrter Herr Professor!

Berlin S[üd] W[est], 94 Zimmerstraße, 23. 3. 18871

Ihre Besprechung von Julian Schmidts Litteraturgeschichte verpflichtet mich Ihnen zu ganz besonderem Dank. Denn eine Besprechung, die so aus der Tiefe schöpft und das einzelne Buch aus einer solchen Kenntniß der gesammten Persönlichkeit des Verfassers heraus würdigt, ist naturgemäß etwas sehr Seltenes. Einer solchen Gabe gegenüber muß es fast kleinlich und ungeziemend erscheinen, an ihren Umfang den sonst üblichen Maßstab anzulegen. Wenn ich mich daher schweren Herzens entschließe, Sie mit der Bitte um Kürzung Ihres Aufsatzes zu behelligen, so geschieht es nur, weil ich mich dazu genöthigt sehe, obgleich ich bereit bin Ihnen bis an die äußerste Grenze des Möglichen entgegenzukommen. Die kleineren Recensionen in der D[eutschen] L[itteratur] Z[eitung] nehmen höchstens eine, die größeren höchstens zwei Spalten ein. Nur in Ausnahmefällen wird der Raum von zwei Spalten überschritten. Recensionen von drei Spalten kommen nur selten vor und nur zweimal, seit ich die Redaction führe, sind Recensionen zum Abdruck gelangt, welche vier Spalten füllten. Da nun Ihre Besprechung nach genauer Ausmessung und Be© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

168

Dilthey an Herman Grimm Dilthey an Herman Grimm 

rechnung fünf Spalten einnehmen würde, sehe ich in der That keine Möglichkeit sie unverkürzt zum Abdruck zu bringen. Selbst an Ihr Manuscript Hand anzulegen wage ich nicht, weil ein solches Verfahren ebensowenig meiner Neigung entspricht als es vermuthlich Ihre Zustimmung finden würde. Und auf alle Fälle würde die Sache darunter leiden. Unter diesen Umständen werden Sie meine Bitte verstehen und mir, wie ich hoffe, nicht als Undank auslegen, was nur die Erfüllung einer Pflicht ist, welche mir durch den Charakter der D[eutschen] L[itteratur] Z[eitung] auferlegt wird, und der ich mich, so gern ich es thäte, nicht entziehen darf. In der Hoffnung, daß Sie meiner Bitte Gehör geben und daß es Ihnen gelingen wird Ihrer Besprechung, ohne ihr eigentliches Wesen zu gefährden, an Umfang soviel zu nehmen, daß sie wenigstens das nur in vereinzelten Ausnahmefällen einer Recension zugestandene Maß nicht überschreitet, erlaube ich mir Ihnen Ihr Manuscript noch einmal zuzustellen. Indem ich den Ausdruck meines aufrichtigen Dankes wiederhole, bleibe ich

in ausgezeichneter Hochachtung Ihr ergebener Dr. August Fresenius

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 181, Bl. 11–12 R. 1 Im Original darüber: gedruckter Briefkopf: „Redaction der Deutschen Litteratur­ zeitung“.

[700] Dilthey an Herman Grimm Lieber Freund,

[nach dem 23. März 1887]

Des Lebens Mühe! Der Artikel ü[ber] Julian Schmidt Bd. III1 von Lit[teratur] z[eitung] zurückgeschickt. Er sei viel zu lang. Aber wenn ich ihn zusammenstreichen könne etc. – Das wäre nun wol das erste Mal. Liegt leider nicht in meinem Styl. Was nun thun? Ists Ihnen recht, möchte ich nun doch drauf zurückkommen, ihn in die Rundschau zu geben,2 ohne daß ich damit Ihrer Mildthätigkeit für ein späteres Heft derselben vorgreife. Ist Ihnen das recht? Dann mag ihn das Mädchen gleich hintragen, damit er mir wieder aus dem Hause kommt. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

169

Otto Ribbeck an Dilthey Otto Ribbeck an Dilthey

Nächster Tage, ehe ich reise, sehe ich Sie noch einmal u. wir könnens dann nochmals besprechen. Von Ihrem Uhland3 entzückt. Aber zu kurz. Ich stecke in der abstraktesten der abstrakten Abhandlungen. Treulichst Ihr W. Dilthey Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Br. 936. 1 1886 war der dritte von 5 Bänden der Geschichte der Deutschen Litteratur von Leibniz bis auf unsere Zeit J. Schmidts erschienen. 2 D.s Rezension erschien unter dem Titel Julian Schmidts Litteraturgeschichte in: DRS 52 (Juli 1887), S. 151–155; unvollständiger WA in: GS XI, S. 232–236. 3 H. Grimm: Zu Uhland’s hundertjährigem Geburtstage, in: DRS 51 (April 1887), S. 62–69.

[701] Otto Ribbeck an Dilthey Leipzig, 22. Mai 1887 So haben Sie denn auch erleben müssen, was bei regelmäßigem Lauf der Dinge keinem von uns Menschenkindern erspart bleibt! Und die es erfahren haben, können mit Ihnen empfinden, was es heißt, eine Mutter begraben.1 Um die Ihrige traure ich auch deshalb mit Ihnen, weil ich das Glück hatte, von ihrem edlen, sinnigen und liebenswürdigen Wesen bei zweimaliger Begegnung – einmal an ihrem gastlichen Tisch in Biebrich, dann vor einigen Jahren auf Wilhelmshöhe  – einen bleibenden, überaus wohlthuenden Eindruck zu ge­ winnen. Und wie viel haben Sie von ihr erzählt! Unsres trefflichen Stobbe jähes, schmerzvolles Ende2 wird auch Ihnen nahe gehen. Wir haben sein treues, zuverlässiges Herz sehr geschätzt, er war ein durch und durch loyaler Mensch, der auch nicht in seinem Fach aufging, sondern vielfache Interessen pflegte: der Verkehr mit ihm ist mir von Jahr zu Jahr lieber geworden. Ihre schöne, stoff- und gedankenreiche Abhandlung3 hat mir vielfache Anregung gegeben, und Ihre Hauptsätze haben meine freudige Zustimmung gefunden. Möchte sich doch ein Berufener finden, der, an Ihre Winke anknüpfend, in historischem Zusammenhange den psychologischen Vorgang des © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

170

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

poetischen Schaffens aus Selbstbekenntnissen oder glaubwürdigen Zeugnissen vollständig darstellte! Ob es meinem Versuch, von den Werken der römischen Dichtung eine lebendigere Anschauung zu geben, als sie in vorhandenen Büchern zu finden ist, gelingen wird, Ihre Teilnahme oder gar Ihre Zustimmung zu gewinnen, bin ich begierig zu erfahren, um mir daraus eine Lehre für die Fortsetzung zu nehmen. Wie schade, daß wir uns nicht in Baden-Baden treffen konnten, wo so schöne Zeit zu gründlicher Aussprache gewesen wäre! Grüßen Sie Ihre liebe Frau! Original: nicht überliefert; Erstdruck: Otto Ribbeck. Ein Bild seines Lebens aus seinen Briefen 1846–1898. Hg. von E. Ribbeck. Stuttgart 1901, S. 300 f. 1 D.s Mutter starb am 20. Mai 1887. 2 Johann Ernst Otto Stobbe (1831–1887): Jurist; 1856 a. o., 1859 o. Prof. für deutsches Recht in Breslau, 1872 in Leipzig. – Stobbe war am 19. Mai 1887 gestorben. 3 D.s Aufsatz über die Einbildungskraft des Dichters.

[702] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Mein lieber Freund,

[Anfang Juli 1887]1

Sie wissen es schon, wenn ich schweige, geht mir’s schlecht oder wenn mir’s schlecht geht, verberge ich mich wie jedes schamhafte kranke Geschöpf. Sonst wäre ja nicht zu verantworten gewesen, daß nach den schönen Klein-Oelser Tagen, in denen Ihre verehrte Frau und Sie sich so liebevoll unserer annahmen, kein Wort des Dankes, dann als der Enkel erschien,2 keines des Glückwunsches bei Ihnen anlangte. Es ist mir sehr schlecht ge­gangen. Mein Befinden war so daß ich alle Arbeit außer den Vorlesungen ganz habe suspendiren, ja selbst die Vorlesungen öfters aussetzen müssen – und Sie wissen was das bei mir besagt. Inzwischen fange ich Dank der völligen geistigen Entziehungskur wieder an aufzuleben, und dieser Brief ist der zweite – nach dem nach Bibrich der nächste – in dem ich mich wieder als lebendig vorstelle. Nun lassen Sie mich vorab Ihnen und Ihrer verehrten Frau zum Enkel unsre Glückwünsche sagen.3 Sie können sich denken, mit wie lebhaftem Antheil wir das gute Ergehen in Weimar – wo meine Frau vorher noch einen so schönen Tag verlebte – verfolgt haben und wie innig unsre Freude gewesen ist. Wissen Sie doch auch wie sehr wir beide Gräfin Bertha verehren und lieben. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

171

Von mir ist kaum was zu berichten. Ich thue einfach nichts – vegetire im Grunewald. Vor ein paar Tagen hielt ich meine Antrittsrede in der Akademie,4 am selben Tage auch Schmoller5 – wir haben beide mit stolzem Bewußtsein über die Geisteswissenschaften gesprochen – ein neuer Klang in der Akademie der letzten Zeit, gar lange nicht vernommen, und da Alles bis auf den letzten Platz gefüllt und voll Spannung war, deutete es doch auf eine beginnende Änderung in den Zeiten. Fahre jetzt fort im Grunewald zu brüten über dem nächsten Buch,6 das die Neueren, besonders Erkenntnißtheorie kurz behandeln soll. Ich verfestige mich darin: auf der Unterlage der europäischen Vernunftwissenschaft, wie sie mit den Theologien sich vereint hatte und eigentlich der europäische Glaube ist: Gott, unsterbliche Seele; Erkenntniß des vernünftigen Zusammenhangs, Handeln aus ihm, sind Systeme hervorgegangen, welche die großen Hauptzüge moderner Geistesarbeit zur Voraussetzung haben und in verschiedener Art benutzen. Rationalismus, Empirismus, Philosophie des congenialen Weltverständnisses oder wie sie Sie es nennen wollen. Dieser dritte Höhenzug unseres Denkens geht von Giordano7 und der Kunstphilosophie und Kunstübung der Renaissance, wirkt in Spinoza und Leibniz hinein (in den Schriften des letzteren läßt sich aus vielen Stellen der Einfluß einer ästhetischen Weltbetrachtung aufzeigen), ist mächtig in Shaftesbury, einem sehr merkwürdigen Centrum dieser Richtung, Rousseau, Winckelmann8 etc. etc. Wollen Sie es sich einmal überlegen? Dilthey Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 56; zwei Sätze (s. Anm. 3) sowie die Unterschrift wurden ergänzt aus den Korrekturbögen (Juni–August 1923) von BDY; Erstdruck der beiden ergänzten Sätze: Gründer, S. 271. 1 In BDY: „[Sommer 1887.]“. 2 Wolf Graf von Kalckreuth (1887–1906), Lyriker und Übersetzer von Gedichten Paul Verlaines und von Charles Baudelaires Die Blumen des Bösen. Er wurde am 9. Juni 1887 geboren. 3 Die beiden nachfolgenden Sätze wurden aus den Korrekturbögen (Juni–August 1923) von BDY ergänzt. 4 D. hielt seine Antrittsrede in der AdW am 30. Juni 1887, abgedr. in: SB der königl. preuß. AdW. Berlin 1887, S. 647–649; WA in: GS V, S. 10–11. 5 G. von Schmoller: „Antrittsrede“ vom 30. Juni 1887, in: SB der königl. preuß. AdW. Berlin 1887, S. 637–639. 6 Der Fortsetzung der Einleitung. 7 Giordano Bruno (1548–1600): ital. Naturphilosoph. 8 Johann Joachim Winckelmann (1717–1768): Archäologe und Kunsthistoriker. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

172

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

[703] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Klein-Oels den 4. Dezember Abends [1887]1

Ihr Brief 2 mit seinen wissenschaftlichen Sorgen heimelte mich an. Zögen mich doch nicht anders geartete von dem Gebiete, wo jene gedeihen ab! Über meine wissenschaftliche Isolation wollte ich nicht klagen. Denn bei un­ leugbarer Entbehrung habe ich doch dem Papiere so viel zu sagen, daß Un­ thätigkeit erst das Abgetrenntsein zum Übel macht. Ich habe nämlich nun nicht länger zögern können der Wirthschaft Johns ein Ende zu machen.3 Die Zeiten sind für eine energische und umsichtige Wirthschaftsführung schwer genug. Tritt nun hinzu, daß ein grober Fehler über den anderen gemacht, und als das Schlimmste, daß gar nicht dirigirt wird, so wird der Zustand unerträglich. So muß ich mit der Sehnsucht nach Contemplation im Herzen mich um das liebe Vieh, um Getreide, um Beschaffung von Geld kümmern, Fehler zu heilen oder zu verhindern suchen, kurz mich außerhalb des Paradieses bewegen. Als Folge ergiebt sich, daß ich auf meinen Wunsch wenigstens für einige Wochen während dieses Winters nach Berlin zu kommen verzichten muß. Ich hoffe bestimmt, daß Sie den Freien das Frühjahr zu dem Gefesselten führt. Aus Ihrem Briefe glaube ich entnehmen zu sollen, daß bezüglich des zweiten Bandes das historische Residuum Ihnen in so fern ein aesthetisches Un­ behagen bereitet als die Anknüpfung des Systematischen an jenes innerhalb des einheitlichen Körpers eines Bandes schwierig erscheint. Nun mag ja bei der hergebrachten Trennung des Historischen von dem Systematischen der Unterschied sich nur künstlerisch überwinden, verschleiern lassen. Anders für eine andere Auffassung der Geschichtlichkeit. Es mögen hierbei doch Differenzen unserer Betrachtungsweise unterlaufen. Denke ich mich Ihrer Aufgabe gegenüber, so ginge ich davon aus, daß das Zeitalter des Mechanismus: Galilei, ­Descartes, Hobbes virtuell Gegenwart ist. Die Denkrichtung, die Problemstellung ist eine aktuelle. Die Modifikationen, die der Zeitverlauf gebracht hat, erscheinen mir unwesentlich, und da mag ich wohl anders werthen. Denn z. B. die s.g. historische Schule halte ich für eine bloße Nebenströmung innerhalb desselben Flußbettes und nur ein Glied eines alten durchgehenden Gegensatzes repraesentirend. Der Name hat etwas Täuschendes. Jene Schule war gar keine historische sondern eine antiquarische, aesthetisch konstruirend, während die große dominirende Bewegung die der mechanischen Construktion war. Daher was sie methodisch hinzubrachte, zu der Methode der Rationa­lität nur Gesammtgefühl. – Andererseits aber bei der inneren Geschichtlichkeit des © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

173

Selbstbewußtseins ist eine von der Historie abgesonderte Systematik methodologisch inadaequat. Wie die Physiologie von der Physik nicht abstrahiren kann, so die Philosophie – gerade wenn sie eine kritische ist – nicht von der Geschichtlichkeit. Ist doch die ganze unkritische Kritik Kants nur geschichtlich zu verstehen, also zu überwinden. Das Selbstverhalten und die Geschichtlichkeit sind wie Athmen und Luftdruck – und – es mag dies einiger Maßen paradox klingen – die Nicht-Vergeschichtlichung des Philosophirens erscheint mir in methodischer Beziehung als ein metaphysischer Rest. Ich möchte hier die Grenzlinie erblicken zwischen Philosophie als Erkenntnißlehre und Psychologie als Einzeldisziplin. Gern hätte ich Sie als Programmatiker der neuen Zeitschrift gesehen.4 ­Zellers Aufgabenstellung ist keine neue, und auch nicht neu die tadellose Klarheit und logische Durchsichtigkeit seiner Formgebung. Wasser ist ein gutes Getränk, aber es macht nicht satt. Von Lektüre könnte ich manches erzählen, aber ich käme ins Weite und Weitläufige. Interessiren würde mich ein Urtheil Schmollers über von BöhmBawerk: Geschichte und Kritik der Capitalzins-Theorien zu erfahren.5 Es ist doch sehr merkwürdig – und die Einheitlichkeit aller Lebendigkeit dokumentirend – daß Capital als isolirter Faktor, als reine Kraft auftritt, als der Kraftgedanke Weltgedanke wird. Würde doch endlich der Gedanke abstrakter Vereinzelung gerade in der Nationaloekonomik als der Wissenschaft von den Regeln wirthschaftlicher Gestaltung überwunden! Dann wäre z. B. gleich erkannt, daß der Brotpreis an sich ob hoch ob niedrig kein Selbstwerth ist. Mechanismus wirkt eben immer nach dem Gesetze der Schwerkraft, unorganisch, während die natür­liche Marke des Lebens relative Independenz von der Schwerkraft ist, daher Cirkulation. Das neue Zeitalter von dem Sie in dem fünften Capitel sprechen wollen6 – mir, lieber Freund, erscheint es noch im Keime und eine wissenschaftliche Manifestation desselben soll doch der Odem sein, der alle Capitel durchweht. Doch es ist spät geworden und ich darf noch immer nicht unhöflich umgehen mit dem Schlaf. Lassen Sie mich nur noch erwähnen, daß die Meinen Gott sei Dank gesund sind. Von meiner Frau und mir Ihnen vier die schönsten und besten Grüße. In der Politik mitten in dem leidenschaftlichen und im Westen und Osten geradezu animalischen Getriebe – oder vielmehr abseits davon einsam wie alles große Unglück der Ablauf einer menschlich ergreifenden Tragoedie. Es neigt sich ein Leben ohne historische Spur zu hinterlassen. Nur7 der Christ steht über der Historie. Für das nächste Jahr sehe ich schwarz. Die Wässer werden sich nicht mehr länger dämmen lassen. Ich glaube an eine große und günstige historische Peripetie,8 aber wie hoch wird der Preis sein, der der Zukunft gezahlt wird! Dann © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

174

Dilthey an Hermann Usener Dilthey an Hermann Usener

möge auch der Mann nicht fehlen, der Reformator des Bewußtseins! – Gute Nacht und schicken Sie mir bald wieder ein Briefchen! Treu ergeben Yorck. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 57. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 Nicht überliefert. 3 Vermutlich der Name des damaligen Gutsverwalters von Klein-Oels; es könnte sich um den Landwirt und Schmied Robert John handeln. 4 1887 erschien der 1.  Jahrgang des Archivs für Geschichte der Philosophie in Berlin. Die Zeitschrift wurde von L. Stein herausgegeben, in Gemeinschaft mit H.  Diels, D., B. ­Erdmann und E. Zeller. – Ludwig Stein (1859–1930): in Ungarn geborener Philosoph; 1886 Habilitation in Zürich, 1889 o. Prof. am Polytechnikum Zürich, 1891–1910 in Bern, danach als freier Schriftsteller in Berlin lebend; Schüler E. Zellers. 5 Eugen Böhm von Bawerk (1851–1914): österr. Ökonom; 1875 Promotion, 1880 Habilitation in Wien, 1881 Dozent, 1884 Prof. in Innsbruck, 1895 österr. Finanzminister, 1904 Prof. in Wien. – Capital und Capitalzins. 2 Bde., Bd. 1: Geschichte und Kritik der Capitalzinstheorie. Innsbruck 1884. 6 Vermutlich ist der geplante 2. Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften gemeint. 7 In BDY: „Nun“. 8 Wende(punkt), Umschwung.

[704] Dilthey an Hermann Usener Liebster Hermann,

[Dezember 1887]

Längst wollt[e] ich Dir glückwünschen zu dem absolvierten Epikurbande;1 doch hoffte ich immer noch, einen Einblick gewinnen zu können: ich muß es nun aufgegeben. Denn ich habe nun mit einem Gewaltakt die Vorbereitungen für den zweiten Band für fertig erklärt, vertheile meine Papiere in Kapitel und sinne, brüte, bin versunken, doch mit der festen Absicht mich nicht fortreißen zu lassen meine Gesundheit außer Acht zu lassen. Zumal da mein Schlaf wieder sehr zu wünschen übrig läßt. Das übrige Hauswesen ist sehr munter, besonders der Junge ist durch die Sommerfrische ganz umgewandelt u. derb geworden. Klärchen wächst zu sehr, um Fett anzusetzen, während der Junge eine Art von derbem Stöpsel ist. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Hermann Usener Dilthey an Hermann Usener

175

Das Geld mit Dank erhalten. Was machst Du denn mit den doch neuerdings gefallenen Amerikanern? Hast Du sie behalten u. gedenkst das weiter zu thun? Jedenfalls kann freilich der drohende russ[ische] Krieg die Aktien be­ einträchtigen.2 Diels munter u macht überall ausgezeichnete Figur wo er auftritt. Freuden­ thal eben hier, wird nun hoffentlich endlich in Breslau Ordinarius werden.3 Zeller immer der Alte obwol er gern manchmal von den Lasten des Exami­ nirens etc. spricht. Tante Julian nun in ihrem neuen Bande mit allen Geistern, u sehr erfreut daß der letzte Allen so sehr gut gefallen hat.4 Überall wird wie ein Druck das tragische Schicksal des Kronprinzen empfunden. Briefe von ihm u von ihr hierher zeigen daß sie die Nachfolge in der Regierung durchaus im Auge behalten u. mit gutem Recht die pessimistische Stimmung über sein Befinden zu mindern bestrebt sind, welche seine Regierung im Beginn sehr erschweren würde, die ohnehin durch die Krankheit nun gar sehr an ver­ bindender Kraft gegenüber Adel Militär u Geist­lichkeit verlieren würde.5 Die Universitäten würden unter einem noch gesteigerten Regiment des Junker­ thums gewiß sehr verlieren. Das zeigt die neueste Erbitterung hierüber v[on] Ultramontanen gegenüber unserer Gesells[chaft] [?]. Herzliche Grüße u Weihnachtswünsche von Haus zu Haus. Treulichst Euer Wilhelm Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL , S 2103, 3, Nr. 33; Teile des Briefes sind als maschinenschriftliches Transkript hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 21. 1 H. Useners Epicurea erschienen 1887 in Leipzig. 2 Möglicherweise handelt es sich um die Geldanlage einer Erbschaft. Die genauen Umstände sind nicht mehr zu ermitteln. 3 Jacob Freudenthal, der seit 1878 als a. o. Prof. in Breslau tätig war, wurde 1888 zum o. Prof. ernannt. 4 Gemeint ist Julian Schmidt. – D. lobte in seiner Rezension bes. den dritten Band von dessen Litteraturgeschichte, deren Bände 1–3 1886 erschienen waren, a. a. O., S. 151. 5 Kronprinz Friedrich Wilhelm, der spätere König von Preußen und Deutsche Kaiser Friedrich III., litt an einer Krebserkrankung, die 1887 manifester geworden war.  – Er war seit 1858 verheiratet mit der britischen Prinzessin Victoria Adelaide Marie Luise ­(1840–1901), der ältesten Tochter der Königin Victoria von Großbritannien, und starb am 15. Juni 1888.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

176

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

[705] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Klein-Oels den 4. Januar [18]88.

Wenn ich in und mit meinen Gedanken einhergehe oder Notizen ­mache, so korrespondire ich mit Ihnen, dem einzigen Mitphilosophirenden. Da kommt denn die Ihnen vor Augen kommende Correspondenz leicht zu kurz. Und auch die heutige Antwort auf zwei freundliche Briefchen1 wird nur eine kurze sein können. In ihrem wesentlichen Theile aber verliert sie darum nichts an Gewicht, den mein herzlicher Dank für Ihre Freundeswünsche ver­bunden mit meinen gleichen treuen Wünschen für Ihr und der Ihren Wohlergehen darstellt. Sie klagen über Schlafmangel und seine Folgen. Gewiß ist er die Folge abendlichen Arbeitens, welches Sie vermeiden sollen. Setzen Sie sich nur selbst keinen bestimmten Termin für den Abschluß des zweiten Bandes, sondern erhalten Sie Sich das Behagen der Arbeit. Die Anforderungen der Planheit und sinnlichen Anschaulichkeit erscheinen mir nur theilweise gerechtfertigt, während Bestimmtheit zu den unerläßlichen Erfordernissen gehört. Fechner und Lotze hatten unstreitig ein seltenes Darstellungstalent. Aber ihre Denkweise erleichterte auch den Ausdruck. Aesthetische Analysis, das Verbleiben (in) dem metaphysischen Anschauungshimmel, der als Horizont das alleinige Aktionsgebiet des Mechanismus umschließt, findet leichter wörtlichen Ausdruck, bei der breiten Provenienz der Worte aus der Okularität erklärlich, als eine hinter die Anschauung zurückgehende Analysis. Dabei bleibt doch das Lotzesche Zentrum dunkel, weil Opsis und Mechanik trotz aller stylistischen Übermalung so getrennt neben einander verbleiben, wie in dem ­Parmenideischen Gedichte. Was dagegen in den Grund der Lebendigkeit eindringt, ist einer exoterischen Darstellung entzogen, woher denn alle Terminologie nicht gemeinverständlich, symbolisch und unvermeidlich. Aus der besonderen Art des philosophischen Denkens folgt die Besonderheit ihres sprachlichen Ausdrucks. Ich könnte mir grammatische Charakteristiken denken, denen gegenüber die philologisch-statistischen Nachweisungen über den Gebrauch einzelner Worte und Wendungen bei einzelnen Schriftstellern als Kärrnerwerk erscheinen würde. Die stumpfe Bezeichnung des Sprachgebrauchs würde Sinn und Werth erhalten. In Ihrem früheren Briefe haben Sie mit Recht bestimmt, was ich unter Histo­rizität des Bewußtseins nicht verstanden haben könne, ohne mich einer Metaphysik der Bewegung schuldig zu machen, an der aller Darwinismus, sobald er nicht nur ein heuristisches Prinzip, eine technisch-wissenschaftliche © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

177

Hypothese ist, krankt. Streng genommen würde solches Prinzip alle Erkenntniß und Erkennbarkeit aufheben. Das ist seit Platons Kritik der Heraklitschen Schule ein für alle Mal klar gestellt. Wenn ich der psychologischen Behandlung die historische gegenüber stellte, so geschah das in dem Sinne, in welchem man Naturrecht und positives Recht trennt. Ich verstehe unter der Disziplin der Psychologie natürlich etwas Anderes als die gegenwärtig traktirte, die durch die moderne Unterordnung unter Anthropologie oder gar Biologie, Disziplinen welche eine wahre Psychologie vielmehr voraussetzen als einschließen, an Wissenschaftlichkeit noch mehr verloren hat. Wesentlich werden die Ergebnisse der Psychologie wie die des Naturrechts negativer Natur sein und in einem gewissen Sinne wird sich die Schellingsche Scheidung in eine negative und eine positive Philosophie als ein tiefes und geistvolles aperçu herausstellen. Daß die gesammte psycho-physische Gegebenheit nicht ist sondern lebt, ist der Keimpunkt der Geschichtlichkeit. Und eine Selbstbesinnung, welche nicht auf ein abstraktes Ich sondern auf die Fülle meines Selbstes gerichtet ist, wird mich historisch bestimmt finden, wie die Physik mich kosmisch bestimmt erkennt. Gerade so wie Natur bin ich Geschichte und so einschneidend ist das Goethesche Wort von dem mindestens dreitausend Jahre Gelebthaben2 zu verstehen. Umgekehrt folgt daraus, daß Geschichte als Wissenschaft nur Psychologie der Geschichte sein kann. Alle andere Geschichtsschreibung ist, insofern sie berechtigt, Kunst. – Rankes hinterlassenen 8. Band gelesen.3 Wenn man auch von dem Fehlen des finishing durch den Meister absieht, vielmehr dies Moment in Betracht zieht, möchte ich Hanns[’] Ansicht beitreten, daß eine Weltgeschichte – wenn sie nicht Philosophie der Geschichte ist – nicht mehr möglich ist, sobald der im Bewußtsein gegründete einheitliche und universale Rahmen des Weltreichsgedankens schwindet. Außerdem mancherlei gelesen. Haben Sie einmal Calvins institutio angesehen?4 Mächtig und im höchsten Sinne eine historische Urkunde. Der die Welt bewegende dynamische Gedanke äußert sich hier auf religiösem Gebiete. Weiter von Dante zu ihm als von ihm zu uns trotz der so viel kürzeren Zeit. Statt Dante kann auch der Aquinate gesetzt werden. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 58. 1 Nicht überliefert. 2 Vgl. Goethe: West-östlicher Divan. Buch des Unmuts, in: Goethes Werke. Hg. von E. Trunz. Hamburger Ausgabe. Bd. 2, 10. Aufl. München 1976, S. 49: „Wer nicht von dreitausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben / Bleib im Dunkeln unerfahren, Mag von Tag zu Tag leben.“ 3 Leopold von Ranke war am 23. Mai 1886 im Alter von 91 Jahren gestorben. In seinen letzten Jahren arbeitete er an einer Universalgeschichte, die erst nach seinem Tod von sei© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

178

Dilthey an Hermann Usener Dilthey an Hermann Usener

nen Mitarbeitern und Schülern abgeschlossen wurde. – Weltgeschichte. 9 Teile in 15 Bden. Leipzig 1881–1895. 4 J. Calvin (1509–1564): Institutio christianae religionis. Basel 1536, letzte Fassung ­Basel 1559.

[706] Dilthey an Hermann Usener [Anfang Januar 1888] Herzlichste Glückwünsche liebster Hermann, Dir, Lily und den Kindern zum neuen Jahre. Du hast Deinen zweiten Band vor Dir1 wie ich den meinen.2 Nur daß Deiner wol Dir in der Form die gränzenlose Mühe erspart, die mir nun jetzt Schreiben macht. Alles ist in Kapitelchen geordnet, für die meisten derselben liegt schon eine ältere Ausarbeitung, zumeist aus Breslau noch, vor, Zettel ohne Zahl sind an diese Kapitel vertheilt. Aber indem ich schreibe, ist es als begönne bei jedem Kapitelchen die Arbeit von Neuem. Ich muß mich mit anderen trösten. Es sind bald 50 Jahre daß Lotze u. ­Fechner schrieben. Das Geschlecht das ihnen folgte hat bei der großen Unruhe in den einzelnen Wissenschaften, deren beständigem Wachsen, bei der Unruhe in den öffentlichen Zuständen u. persönlichen Lebensverhältnissen nicht vermocht dem Allem eine weite philosophische Behandlung des wissenschaftlichen Materials abzugewinnen. Lange, Dühring, Riehl, Laas3 – wer kennt sie alle – waren u. sind theilweise große Talente. Es blieb entweder bei Anregungen u. Gesichtspunkten oder bei tumultarischen Büchern. Sigwarts reifes Buch hat den Vorzug d[er] Abgeschlossenheit erkauft durch eine Abgränzung der Aufgabe, welche die eigentlich lebendigen Fragen großtentheils ausschließt. Und Wundts physiologische Physiologie ist schließlich das einzige Beispiel eines systematischen Neubaues auf einem philosophischen Gebiete u. in vieler Rücksicht bewunderungswürdig. So muß mich das Beispiel der Anderen trösten, wenn es mir nicht gelingt, das gesteckte Ziel zu erreichen. Diese Trauben hängen eben sehr hoch. Von Scherer wird nun die Poetik gedruckt.4 Ich hoffe sie wird mir, durch das was sie bietet, ermöglichen in meine philologische Darstellung das Empirische dh. vergleichend-geschichtliche Ergebnisse hinein zu arbeiten u. sie so zu ergänzen. Dann mag meine Arbeit aus ihrem Gefängniß in der Zellersammlung befreit, mit dem was ich immer sammle psychologisch empirisch ergänzt, u. durch die vergleichend histor[ische] Behandlung der Cardinalfragen die einzelnen Dichtungsarten vervollständigt, behaglich in Kapitelchen getheilt u. ausgebreitet, ein ganz hübsches Büchelchen werden. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Herman Grimm Dilthey an Herman Grimm

179

Hier rumort es da u. dort in der philolog[ischen] Abtheilung (im engsten Geheimniß zwischen uns beiden), ob man sich nicht completiren würde. Ich sehe nicht klar was dahintersteckt. Mich dünkt aber, Momms[en] u. andrerseits vielleicht die Regierung wünschen Wilam[owitz] hierher in Aktion zu bringen. Es ist mir ganz lieb wenn sie mit dieser Agitation herauskommen. Dann muß Dein Name auftreten u. die Wahl kann nicht zweifelhaft sein. Doch mag es noch Jahre dauern bis irgend ein entscheidender Vorgang aus diesem gegenwärtigen Rumoren herauskommt. Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL , S 2102, 3, Nr. 32; ein maschinenschrift­ liches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, 19.  1 Im Original: „Dich“. 2 H. Usener: Religionsgeschichtliche Untersuchungen. Erster Theil: Das Weihnachtsfest (Kap. I–III); Zweiter Theil: Christlicher Festbrauch. Bonn 1889. – D. arbeitete weiterhin am 2. Band seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften. 3 Friedrich Albert Lange (1828–1875): Philosoph; 1851 Promotion, 1855 Habilitation in Bonn, 1866 2. Habilitation, 1870 Prof. für induktive Philosophie in Zürich, 1873 in Marburg. – Der Philosoph Eugen Dühring (1833–1921): Jurist und Philosoph; 1863 Habili­ tation in Philosophie und Nationalökonomie, 1877 Entzug der venia legendi in Berlin wegen heftiger Angriffe auf die Universitäten, danach Privatgelehrter. – Alois Riehl (1844– 1924): österr. Philosoph; 1870 Habilitation, 1873 a. o., 1878 o. Prof. in Graz, 1882 in Freiburg, 1896 in Kiel, 1898 in Halle, 1905 in Berlin. – Der Philosoph Ernst Laas (­ 1837–1885). 4 Scherers Poetik erschien 1888.

[707] Dilthey an Herman Grimm   Lieber Freund,

[Januar 1888]

Glückliches neues Jahr. Ich sitze im Zimmer, da der Hals weiter fortfährt mir das Dasein zu erschweren. Für Mittheilung des Briefes von K[arl] besten Dank.1 Ich werde sehen, was sich thun läßt, und mögen Sie auch gelegentlich von K[arl] hören, ob in seinen Gründen etwas ist das meiner Ihnen mitgetheilten Intention ausschließend entgegensteht. Wie freute ich mich neulich, nicht nur Sie sondern auch den Knaben des alten Freundes Scherer bei mir zu haben.2 Schmoller erzählte mir daß er nun auf © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

180

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

ein Gymnasium kommen wird, und da wünsche ich recht herzlich, es möchte das Joachimsthal sein und Frau Scherer mit der so weiblichen Art u. zarten Weise möge das Kinderherz pflegen, das nun einmal, die Schulmeister mögen in literis thun was sie wollen, dieser Wärme bedarf. Wir zehren alle ein Leben lang von dieser Wärme und Herzlichkeit, die am Knie der Mutter u. von ihren Lippen eingesogen ward. Gedanken die an Weihn[achten] u Jahreswende jedesmal mit großer Gewalt mich bewegen, und stärker mit jedem Jahre. Ich sammle eben zwanzigjährige Beschäftigungen zu den ersten Kapiteln des historischen Theils: über die Geisteswissenschaften im 16 u. 17 Jahrhundert.3 Einmal endlich muß ich versuchen es niederzuschreiben. Naturrecht, Deismus, regelgebende ästhet[ische] Prinzipien sind als wirksame historische Mächte aus dem Innersten der construktiven Philosophie jener Tage erflossen. Aus einem wirklichen Glauben, der wissenschaftlich wohlbegründet war, immerhin aber nicht bewiesen. Wie denn alle großen Weltveränderungen nicht aus demonstrirten Sätzen, sondern einer thätigen Kraft, die in Begriffen wirksam ist, kommen. Treulichst, mein lieber Freund, der Ihrige Dilthey Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Br. 940. 1 Nicht überliefert. 2 W. Scherers Sohn Herman (1880–1900). 3 Gemeint ist das erste Buch des 2. Bandes der Einleitung in die Geisteswissenschaften. Vgl. D.: Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert, in: AGPh 4 (1891), S. 604–651 und 5 (1892), S. 337–400; WA in: GS II, S. 1–89, sowie D.: Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert, in: AGPh 5 (1892), S. 480–502 und 6 (1893), S. 60–127, 225–256, 347–379, 509–545; WA in: GS II, S. 90–245.

[708] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Mein lieber Freund,

[Anfang Juni 1888]1

Haben Ihre verehrte Frau Gemahlin und Sie innigen Dank, daß Sie sich meiner Frau so lieb annehmen. … © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

181

Von Politicis nichts zu melden. Führte gestern Frau Gerhardt2 zu Tisch, sie sagte, vielleicht werde der Kaiser noch die nächste (c. alle sechs Wochen eintretende)  Zeit überstehen, aber wol nicht die darauf folgende.3 Seine physische Ausstattung ist eben eine außerordentliche. Als Ministercandidat auch ­Hagemeister genannt.4 Vorgestern mit dem vergleichenden Coler5 eine Grunewaldwanderung gemacht. Den müssen Sie doch kennen lernen wenn Sie kommen. Eine Art von Meteor, wie ich mir Creuzer6 etc. denke. Innerlich construktiver Poet wie er ist fühlt er sich natürlich zu dem Poeten in mir hingezogen, dagegen vor dem Antimetaphysiker zieht er sich dann erschreckt in seine Poesie zurück. … Von Freund Rößler ein Faustartikel in den preuß[ischen] Jahrbüchern,7 der den geistigen Banquerutt dieses begabten Hegelschen Schwätzers noch sichtbarer macht als etwas früheres. … Schreibe an der Übersicht der Pädagogik8 und brüte über dem ersten abscheulichen historischen Buch der Einleitung. Die historischen Epochen der neuen Philosophie scheinen sich mir so abzugränzen: 1. Renaissance und Reformation. Elementarisches philosophisches Denken. Fortdenken der Alten. Central in dieser Zeit nach Aufgabe des mittelalterlichen Realismus der von dem System zurückbleibende allgemeine Psychismus als Erklärungsmittel der Gestirnbahnen, Organismen etc. Dann mit Galilei Beginn der construk­tiven Mechanik, welche die Geister bis zu Newtons Elementa9 beherrscht. Aber in den 80er Jahren des 17. Jahrhunderts tritt zu diesen Ergebnissen ein Neues hinzu, das ein Neues Zeitalter heraufführt. Überall beginnt die Analysis des Kleinen; diese Wendung fällt mitten in das Leben von Newton und Leibniz, nun erkenntnißtheoretische Analysis Lockes, die moralische etc. – der weitere Fortschritt besteht im Hinzutritt entwicklungsgeschichtlicher Methoden. Es sind drei verschiedene Methoden, die nacheinander angewandt. Doch nächster Tage das Genauere. Mache aufmerksam, daß von Windelband (in der Sammlung philologischer Handbücher) eine Geschichte der alten Philosophie,10 so entstanden aus Exzerpten aus Zeller, dann geistreich komplettiert, in manchem gescheit, in allem oberflächlich, doch hübsch zu lesen. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr.  59.  – Die beiden ersten Abschnitte des Briefes wurden aus den Korrekturfahnen (Juni–August 1923) von BDY ergänzt.  – Der letzte Satz wurde ergänzt aus dem Erstdruck: Gründer, S. 272. – Gründer ordnete ihn dem Brief 56 von BDY zu (hier Brief [702]). Da aber Windel­bands Geschichte der alten Philosophie erst nach Ostern 1888 erschien, wird er dem hier vorliegenden Brief ergänzt.  – Weder in der Fahnen­ korrektur (April–Mai 1923) von BDY noch in den Korrekturbögen (Juni– August 1923) ist dieser Satz enthalten. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

182

Dilthey an Heinrich von Treitschke Dilthey an Heinrich von Treitschke

1 In BDY: „[Sommer 1888.]“. 2 Wanda Gerhardt, geb. von Barby (1841–1903): Ehefrau des Mediziners Karl Adolf Christian Jakob Gerhardt (1833–1902), der seit 1885 Prof. für innere Medizin und Direktor der Charité in Berlin war. 3 Friedrich III. starb am 15. Juni 1888 an seiner Krebserkrankung. Seine Regentschaft währte 99 Tage. 4 Vermutlich Robert Eduard von Hagemeister (1827–1902): Verwaltungsjurist und Politiker; 1856 Landrat, 1866 Oberregierungsrat in Stralsund, 1871 Regierungspräsident in Oppeln, 1877 in Düsseldorf, 1883 Oberpräsident von Westfalen. 5 Josef Kohler (1849–1919): Jurist; 1878 Prof. in Würzburg, 1888 Prof. für bürger­ liches Recht, Handels- und Strafrecht sowie Rechtsphilosophie. – Der Arbeitsschwerpunkt J. Kohlers war die Vergleichende Rechtswissenschaft. 6 Georg Friedrich Creuzer (1771–1858): klass. Philologe und Mythenforscher; Prof. in Marburg, Leiden und Heidelberg; Freund Goethes und Clemens Brentanos. 7 K. Rößler: Der Dresdner Faustfund und die Entstehung des Faust, in: PJ 61 (1888), S. 592–610. 8 Im SS 1888 hielt D. neben einer Vorlesung über Allgemeine Geschichte der Philosophie mit ausführlicher Darstellung der neueren (5std.) und neben Übungen aus dem Gebiet der G ­ eschichte der neueren Philosophie (1std.) eine Vorlesung über Geschichte und System der ­Pädagogik (3std.). – In der AdW hielt er am 19. Juli 1888 einen Vortrag Ueber die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft, abgedr. in: SB der königl. preuß. AdW. Berlin 1888, S. 807–832; WA in: GS VI, S. 56–82 sowie in: W. Dilthey: Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft. Hg von H. Nohl. Langensalza 1930 und in: W. Dilthey: Schriften zur Pädagogik. Hg. von H.-H. Groothoff und U. Herrmann. Paderborn 1971, S. 83–107; vgl. auch GS IX, S. 163 ff. 9 I. Newton: Astronomiae Physicae & Geometricae Elementa. Oxford 1702. 10 W. Windelband: Geschichte der alten Philosophie (Handbuch der classischen Alterthums-Wissenschaft in systematischer Darstellung. Mit besonderer Rücksicht auf Geschichte und Methodik der einzelnen Disziplinen. Hg. von I. Müller. Abtlg. 5.  Bd.  1, Teil 1.) Nördlingen 1888. Der Band erschien nach Ostern 1888.

[709] Dilthey an Heinrich von Treitschke [25. Juni 1888] Hochverehrter Kollege u. Freund, Mittwoch um 6 Uhr will Graf York, der zum Landtag kommt, bei mir essen, da meine Frau abwesend – ein bescheiden vergnügtes Junggesellenessen. Ich weiß welche Freude Sie ihm machten, wenn Sie mitessen wollten. Bitte schlagen Sie es uns nicht ab. Ich denke auch Wildenbruch1 u. Diels werden mitessen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Heinrich von Treitschke Dilthey an Heinrich von Treitschke

183

Kalkreuth junior2 kann leider den Sommer nicht kommen. Aber er ist sehr dankbar daß Sie ihm sich malen zu lassen gestatten u. wird im Winter dazu herkommen. Was für ein Schauspiel am vorigen Donnerstag! Der kindlich gute u vornehme Weierstraß nunmehr geschunden u. ein wenig angebraten von seinem kleine Freunde, den er sich aufgezogen!3

Wie immer der Ihrige Wilhelm Dilthey4

Original: Hs; StB PK Berlin, HA , NL H. von Treitschke, K. 5, Nr. 129, Bl. ­27–28. 1 Ernst von Wildenbruch (1845–1909): Schriftsteller, Jurist und Diplomat; 1877 Richter in Eberswalde und Berlin, später Tätigkeit im Auswärtigen Amt, 1897 Geheimer Legationsrat; Schwager Yorcks. 2 Auch der Vater Leopold von Kalckreuths, Eduard Stanislaus von Kalckreuth (1820– 1894), war ein Maler. 3 Karl Weierstraß (1815–1897): Mathematiker; 1856 Dr. hc. in Königsberg, Lehrer am königl. Gewerbeinstitut und Prof. in Berlin. – Evtl. ist sein Schüler Georg Cantor ­(1845–1918): Mathematiker; 1872 a. o., 1879 o. Prof. in Halle gemeint. 4 Ebenfalls am 25. Juni 1888 schreiben D. sowie seine Frau, die sich in Klein-Oels aufhielt, auch an F. Th. Althoff, um ihn zu dem Essen einzuladen: „Hochzuverehrender Herr Geh[eime] Rath, am 27ten 5 Uhr wird unser Freund, Graf Yorck bei uns in Berlin essen. Sie würden ihn sowie meinen Mann sehr erfreuen, wenn Sie auch an dem kleinen häus­ lichen Essen Theil nehmen würden; es sollen glaube ich, nur noch Treitschke und Diels dabei sein. Wäre ich in Berlin, so käme ich selbst, Ihnen meine Bitte vortragen, so aber muß ich es aus der Ferne, und hoffe, daß Sie auch so meinem Mann ein freundliches ‚Ja‘ senden. Grüßen Sie Ihre liebe Frau auf ’s allerherzlichste von mir und danken Sie ihr für ihren sehr lieben Brief, den ich bald beantworten werde. Ich denke, sie ist jetzt wieder in Berlin und Sie lassen sich ‚das Weiberregiment‘ wieder gern gefallen. Mit den herzlichsten Grüßen bin ich Ihre Sie hochverehrende Käthe Dilthey. (Graf Yorck sowie sein Sohn lassen sich bestens empfehlen).“ – [von der Hand D.s:] „Zugleich, verehrter Freund, mit Ihren Zeilen kommt folgender Brief meiner Frau an Sie. Theile nur mit daß Frau v. Wildenbruch [­Maria Karoline, geb. Freiin von Weber (1847–1920), Enkelin des Komponisten Carl Maria von Weber und seit 1885 mit E. von Wildenbruch verheiratet] freundlich übernommen hat in d[er] Herrengesellschaft die Leitung zu übernehmen, damit wir fein artig sind. Unter diesen Umständen verschmäht uns vielleicht auch Ihre Frau Gemahlin nicht, der ich mich bestens empfehle.“ (Original: Hs.; GStA PK Berlin, HA, FA u. NL, NL Friedrich Theodor Althoff, Nr. 702, Bl. 67–68 R)

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

184

Dilthey an seine Frau Katharina Dilthey an seine Frau Katharina 

[710] Dilthey an seine Frau Katharina [Juli 1888] Meine liebste Käthe, ich sende m[einer] Karte1 lieber gleich e[inen] ordentlichen Brief nach, s[ie] war in Erwartung m[eines] Sekretairs geschrieben, nun ist dieser unpräparirt gekommen, so habe ich ihn geschickt, die Bibl[io­ theks]bücher d[er] Univ[ersitäts]b[ibliothek] herauszusuchen: die schreckl[iche] Zeit der Ablieferung: mein Ansehn ist glücklicherweise so angenehm gestiegen daß der angenehme Chef der Kön[iglichen] Bibl[iothek] Wilmans doch geboten hat, ich brauchte nicht abzuliefern, er bitte nur daß ich den Kollegen nichts davon sage. So ist diese Quälerei hoffentlich für immer hinter mir. Nun schreibe ich Dir auf dem Balcon, der jetzt voll blühender Blumen u. Bohnen ist, der Regen tröpfelt leise, nebenan arbeiten Clärchen u. Auguste für Dich u. Leni ist seit 24 St[unden] mit einem Schreiben an Dich beschäftigt. Wenn ich Alles überlege, scheint mir für Euch Abreisen das Richtigste. Goldstein2 hebt immer wieder hervor daß Ernährung für Dich der Kern, auch für Max können Soolbäder nur schaden, wenn s[eine] Ernährung nicht dabei ausgezeichnet sei. Der Luftwechsel ferner wird gewiß auf Euch alle e[ine] belebende Wirkung üben. U. Kreuth3 ist doch offenbar gerade für die heißeste Zeit. Freilich kenne ich weder Kreuth noch e[in] andres Soolbad noch Reichenh[all]. Also kann ich nur m[einen] Eindruck aus der Ferne aus­ sprechen. Die Inhalationen hätten Dir gewiß gut gethan, dafür hast Du dort vorzügl[iche] Molken. Solange ich dort, kann ich dann wahrsch[einlich] da auch baden, da Kreuth e[in] ‚Wildbad‘ ist, also wol Gastein[,] Baden etc. ähnlich. Denn mir geht es fortdauernd herzlichst schlecht. Daß Dein Kath[arrh] wenn er vorhanden chronisch wäre, ist ja doch kein Grund anzunehmen; ich möchte glauben bei richtiger Wahl e[ines] neuen Ortes würde er rasch fortgehen. Der Maßstab liegt doch darin daß Reich[enhall] Dir schlecht thut: dann ist doch ein Wechsel angezeigt. Nun wäre eine andre Frage, ob Du beim Übergang an e[inen] neuen Ort Ziemssen4 in München über die Wahl desselben und Dein Verhalten befragen solltest. Frau Alth[off] war sehr dafür daß das jetzt gleich geschehe wo Du noch eine längere Zeit am neuen Ort vor Dir hättest, um zu sehen ob Du Dich vor dem Herbst nicht herstellen könntest. Ich wage keine Entscheidung darüber, jedenfalls mußt Du ja im September e[inen] Münch[ener] Arzt consul­ tiren, um zu hören, ob die Rückreise räthlich ist. Aus der Entfernung schwer was zu sagen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

185

Dilthey an Hermann Usener Dilthey an Hermann Usener

In Bezug auf Max ist mir zweifellos daß Kreuth für ihn ebensogut. Wie ich Dir mehrmals schrieb gebe ich nur auf die Beseitigung des ganzen scrophu­ lösen5 Zustandes, also auf die Soolbäder. Auf das Inhaliren gebe ich weniger. Wir beide wissen, daß die Gefahr für die Ohren ihm das Ängstlichste. Hier kann nur durchgreifendes Soolebaden helfen: welche Todesangst steht man sonst aus wenn er vom Gymnas[ium] zurückk[ehrt] u. über Ohren­schmerzen klagt. Diese Entschlüsse: Zu Hause lassen oder nicht, diese Angst wie er zurückkommt erträgt der Zustand m[eines] Herzens schlechterdings nicht mehr. Und objektiv muß d[ie] Gefahr vermieden werden. Da helfen nur die Bäder selber. Das Inhaliren hilft für den Augenblick: nach der ersten Erkältung zu Hause sind die Ergebnisse halb geschwunden etc. Daher wäre ich der Meinung: Monate lang anhaltende künstl[iche] Salzbäder würden mindestens ebensogut wirken, aber nur Bäder können helfen, den skrophulösen Zustand zu beseitigen. Der Husten ist ja wie der Schnupfen nur momentanes Symptom, das gleich bei nächster Gelegenheit, nachdem es vorüber zurückkehrt. Aus allen dies[en] Gründen halte ich Kreuth mindestens für ebenso gut für ihn. [Briefschluss fehlt.] Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 h, Nr. 3. 1 Nicht überliefert. – Katharina D. hielt sich mit ihrem Sohn Maximilian zur Kur in Bayern auf (vgl. Ehlers, Bd. I, S. 373). 2 Vermutlich ein Arzt. 3 Wildbad Kreuth: Kurort in Oberbayern. 4 Der Münchener Mediziner Hugo von Ziemssen. 5 Skrofulose: Haut- und Lymphknotenerkrankung.

[711] Dilthey an Hermann Usener Mein liebster Hermann,

[Anfang Oktober 1888]1

In aller Unruhe komme ich heut erst dazu Euch ordentlich zu berichten. Käthe war 8 Tage zurück in Berlin u. ich in Begriff mit den Kindern nun auch zurück zu reisen, als das kleine Mädchen erschien.2 Abends war Käthe noch munter u. fleißig gewesen, um 11 Uhr fühlte sie sich unbehaglich u. schon um 4 Uhr war das kleine Mädchen da. Alles geht vortrefflich. Ich reiste gleich hinüber u. gab die Kinder in die Villa der Gräfin Helene,3 überzeugte mich daß © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

186

Dilthey an Hermann Usener Dilthey an Hermann Usener

Alles gut ging u. da Gräfin Helene selber unwohl war, also den Jungen nicht so controliren konnte, kehrte ich um u. hierher zurück. Denn der Junge hat den Armbruch im Gesammtbefund immer noch nicht überwunden, insbesondere ist ja nun seine […] zu behandeln. Ich will nun den 9ten Tag abwarten, u. dann erst Käthen die Unruhe der 2 Kinder wieder ins Haus bringen. U. nun vom neuen Ankömmling! So hübsch wie Max, kein Fleckchen an dem ganzen wohlgebildeten u. runden Körperchen, viel kräftiger als die zwei früheren Kinder, was wir wol besonders Käthens Aufenthalt bei den lieben Freunden im Sommer zu danken haben. Nach einiger üblicher Noth – eine Amme, die wir schon vierzehn Tage vorher genommen hatten, wurde auf dem Bahnhof weggeholt – haben wir am 4ten Tage eine sehr tüchtige Amme bekommen. Käthens Befinden ist durchaus normal, u. obwol sie sehr angegriffen ist, hoffe ich doch daß Alles weiterhin so gut verlaufen wird. An dem kleinen Mädchen habe ich die größte Freude: es sieht so klug in die Welt u. ist so hübsch: ich freue mich es bald wieder in Berlin zu haben. In meiner Arbeit bin ich wie Ihr denken könnt schlecht vorgerückt, nun hoffe ich aber daß ruhige u. fruchtbare Zeiten kommen werden, in denen die Freude an d[en] Kindern u. an der Arbeit eine längere Zeit durch ungestört nebenein­andergehen. Laß einmal von Euch hören u. seit alle tausendmal von uns gegrüßt. Dein alter Wilhelm Was sagst Du zu der Rapidität mit der die Gymnasialfrage die Gemüther in Anspruch nimmt u. der radikale Standp[un]kt sich die Herschaft verschafft? Das ganze Kultusministerium schwenkt ab, einige wie Althoff ausge­ n[ommen]. Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL , S 2102, 3, Nr. 23. 1 Datierung nach einer Notiz G. Mischs im Brieforiginal: „Anfang X 1888 (Misch)“. 2 D.s Tochter Katharina Laura Emilie Helena, gen. Leni, wurde am 30. September 1888 geboren. 3 Helene Gräfin Harrach, geb. Gräfin von Pourtalés (1849–1940); verheiratet seit 1868 mit dem Maler Ferdinand Graf Harrach (1832–1915), wohnhaft in Berlin.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

187

Dilthey an Herman Grimm Dilthey an Herman Grimm

[712] Dilthey an Herman Grimm Lieber Freund,

[25. Oktober 1888]

Herzlichen Dank für Ihre freundlichen Wünsche.1 Das kleine Geschöpfchen wird allgemein sehr niedlich gefunden. Meiner Frau geht es gut, sie empfängt vorn in der rothen Stube schon ihre Besuche und wünscht nichts lebhafter als daß Sie hereintreten, und erwartet es nun auch alle Tage. Dasselbe wünscht Ihr Freund. In der Akademie rumort es gewaltig. Und in Berlin hat nur der Anwesende Recht. Ich schicke Ihnen zwei Kleinigkeiten von mir nicht, da ich sie Ihnen bald selbst geben kann. Leider machen mir noch die Augen zu schaffen. Von Neuigkeiten werden Sie auch dort vernommen haben; Lehmann schon in Marburg,2 Brentano in Wien I (der Philosoph) einen Jungen3 sodaß das Geschlecht der Brentanos neue Sprossen treibt, was mich sehr erfreut hat; in München Prantl gestorben u. ein Herr Jodl zu seinem Nachfolger bestimmt;4 Gerhardt Rektorat mit sehr schöner Rede angetreten;5 Hinschius unser Vertreter im Herrenhaus was mich so erschütterte daß ich mich für 24 Stunden mit Hübler verbrüderte;6 andere Horrenda an einem andren berühmten gelehrten Orte bevorstehend; Vischer7 hier u. von Zeller und mir bemuttert u. beonkelt – der Platz reicht nicht Alles Furchtbare u. Schöne zu schreiben was die Natur hier durcheinander hervorbringt, kommen Sie u. hören selbst[.] Ihr Dilthey Original: Hs.; HStA Marburg; Bestand 340 Grimm, Br. 937. 1 Nicht überliefert. 2 Max Lehmann (1845–1929): Historiker; 1868 Gymnasiallehrer in Berlin, 1875 Archivar am Geheimen Preußischen Staatsarchiv und Redakteur der Historischen Zeitschrift, 1879 Dozent an der Militärakademie in Berlin, 1888 o. Prof. für Geschichte in Marburg, in Leipzig, 1893 Prof. für mittelalterliche und neuzeitliche Geschichte in Göttingen. 3 Franz Brentano, geweihter Priester und Prof. für Philosophie in Wien, musste wegen seiner Heirat mit Ida Lieben (1852–1894) 1879 auf seine Professur verzichten. Er arbeitete danach als PD. – Am 27. Juni 1888 wurde sein Sohn Johann Michael (1888–1969) geboren. 4 Carl Prantl starb am 14. September 1888. – Friedrich Jodl (1849–1914): Philosoph; 1872 Promotion, Habilitation, 1885 Prof. in Prag, 1896 in Wien; Jodl war ein Schüler C. Prantls, wurde aber nicht sein Nachfolger in München. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

188

Dilthey an Herman Grimm Dilthey an Herman Grimm

5 Der Mediziner K. A. Ch. J. Gerhardt (1833–1902) war 1888/89 Rektor der Univer­ sität Berlin. 6 Paul Hinschius (1835–1898): Jurist; 1872 o. Prof. für Kirchenrecht in Berlin.  – ­Bernhard Hübler (1835–1912): Jurist; 1868 a. o. Prof. in Berlin, 1869 o. Prof. in Freiburg, ab 1870 in Berlin mit dem Schwerpunkt Staats- und Kirchenrecht sowie Rechtsgeschichte. 7 Der Kunsthistoriker Robert Vischer.

[713] Dilthey an Herman Grimm [25. Oktober 1888]

Lieber Gevatter,

Eben hatte ich Ihnen geschrieben, Tags vorher mit Schmoller[,] Brunner,1 Zeller Alles besprochen, Zeller herrliche Stimmung u. Gesinnung wie immer gefunden, u. Gegenantrag verabredet: da lese ich in d[er] Zeit[un]g daß Sie den Winter nicht lesen können. Erschrecke zunächst wegen Ihres Bekundens u. bitte Sie recht herzlich mir darüber zu schreiben. Erschrecke dann über das ungünstigste Zusammentreffen. Gestern [war] Frau Zeller bei uns, die Sie verehrt wie wir, wir haben zusammen nur geklagt u. überlegt. U. ich hoffe noch die Zeitungsnotiz ist nicht richtig und Sie erscheinen plötzlich gesund u. munter, zum Schrecken der Cläffer, unter uns. Heut Donnerstag d[en] 25ten Akademie. Wird möglicherweise e[in] Antrag angemeldet. Wir beabsichtigen dann in 14 Tagen also c. d[en] 8ten November e[inen] Gegenantrag. – Ich schreibe [nach] Lugano, nur freilich ungewiß ob der Brief Sie erreicht. Morgen fange ich zu lesen an,2 recht hart, da die Augen es so erschweren u. die Schonung schwierig wird. Herrlichstes Herbstwetter, 12 Grad im Schatten, glücklicherweise. M[eine] Frau grüßt Sie tausendmal, ebenso die zwei ‚Erwachsenen‘. U. ich bin, wie immer, der alte dankbare u. getreue Freund (wenn Sie auch v[on] Freundschaft nichts halten)[.]

W. Dilthey

verte! [auf dem nachfolgenden Blatt:] Bedienen Sie sich nur für ev[entuell] schleunige Mittheilungen[,] daß die Notiz irrig u. Sie kommen u. lesen[,] oder [für] Aufträge[,] des Alles vereinfachenden zeitlich auch kürzenden Telegraphen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

189

Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Brief 5989. 1 Heinrich Brunner (1840–1915): österr. Rechtshistoriker; 1866 a. o., 1868 o. Prof. für deutsches Recht in Lemberg, 1870 in Prag, 1872 in Straßburg, 1873 in Berlin. 2 D. las im WS 1888/89 über Logik und Erkenntnistheorie (3std.), Psychologie als Erfahrungswissenschaft (3std.) und bot Anwendungen der Psychologie auf die Pädagogik, als Ergänzung der psychologischen Vorlesung (1std.) an.

[714] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Klein-Oels den 30. 11. [18]88.

Lange habe ich nichts von mir hören lassen. Wiederholte und längere Zeit andauernde Affektion der Augen war hinderlich. Einige Jagden etc. wirkten demnächst ermüdend und intellektuell depravirend. Auch heute nach zweitägigem Jagen bei Sauerma1 bin ich müde und arbeitsunlustig. Ihr Briefchen2 aber erinnert deutlich an meine Versäumniß. So sollen Sie wenigstens ein Lebenszeichen erhalten. Von den erwähnten Büchern sind mir keineswegs alle unbekannt. Riehls Kritizismus Bd. 1 habe ich vor langer Zeit gelesen, in die Fortsetzung nur hineingesehen.3 Ich habe den Gesammteindruck eines scharfsinnigen aber todten Denkens, im Wesentlichen eines Denkens am littera­ rischen Stoffe behalten. Näheres Urtheil würde Einsicht in meine damaligen Randbemerkungen nöthig machen. Spencers4 breiiger Rhetorik, einer echten Rentiersdenkerei gedenke ich allerdings nach wie vor aus dem Wege zu bleiben. Eben geöffnete Bücherpackete brachten unter Anderem Paulsen Ethik, Kaftan Wahrheit der christlichen Religion.5 In beide Sachen hineingesehen, ein Kreuz geschlagen und beide zur Rücksendung bestimmt. Sie wissen was ich von der Möglichkeit einer Ethik als Wissenschaft halte. Trotzdem kanns immer etwas besser gemacht werden. Für wen eigentlich sind solche Bücher? Registraturen über Registraturen! Das einzig Bemerkenswerthe der Trieb von der Physik zur Ethik zu kommen – auf geradem Wege. Frischweg, kritik- und geschichts-los. Als wenn die großartige eleatische Antinomie sich niemals abgespielt hätte! Man muß die kenntnißlose Dürftigkeit des einleitenden Capitels von Paulsen sehen, um dergleichen für möglich zu halten. Und ebenso abgetragen wie die ethischen Kategorien von Pflichten, Tugenden, Gütern – eine Schematik, der, weil sie das ist, aller einheitliche Eintheilungsgrund verloren gegangen ist, mit dem aesthetischen Glauben Schleiermachers alle Einheitlich© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

190

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

keit, bloß der der Nationaloekonomik entlehnte reine Maßbegriff des Werths als inhaltloses Trennungszeichen, nicht als copula verbleibt – ebenso wissenschaftlich fadenscheinig die Identifikation von natürlicher und christlicher Wahrheit. Und dabei eine Anmaßung des Vortrags als wenn das Gesagte nicht lauter längst bekannte Trivialitäten wären. Wie muß sich jenen beiden gegenüber als ein Ganzer und wirklicher Wissenschaftler Zeller fühlen! – Diese Strebungen scheinen mir nur interessant als symptomatisch. Die ἀρχαί der Naturwissenschaft sind Hypothesen geworden, das veräußerlichte Denken hat damit allen Halt verloren, über die im Grunde moralische Selbstgewißheit D ­ escartes’ durch weitere Abstraktion hinausgeschritten. Nun suchen Stimmung  – Geschmack – und Utilitätsbesorgniß einen festen Boden, den sie nur in todter Gegebenheit, deren Sicherheit nur ihr Vorhandensein ist, finden können. Rentiersstandpunkt. Anders wie auf dem Gebiete der Ethik aber nicht besser bei Herrn Kaftan und Genossen. Der Pilatusstandpunkt im Ganzen und Großen der gegenwärtige. Es fehlt eben Erkenntnißtheorie. Damit ists nicht gegangen, nun wird ohne solche Prüfung die Ethik als ‚zeitgemäß‘ angegriffen. Merkwürdig, daß die Überlegung nicht kommt, daß Ethik syndesmotisch niemals gewirkt hat noch wirken kann. – In die Abhandlungen von Schmoller wie in Gierkes Genossenschaftstheorie6 habe ich hineingesehen. Die Besprechung Ihres Buches von ersterem ist von annähernder Verständnißempfindung, wenn auch eigenthümlich vage im Ausdruck, die damit verbundene Kritik Mengers7 dagegen unzutreffend und wenig scharf.8 Schmoller und Gierke sind Geistesverwandte, beide bewegt von einem großen wissenschaftlichen Impulse, beide Realisten im Kampfe mit dem noch herrschenden Nominalismus. In dem Gefühle des höheren Prinzips haben sie ihre Stärke. Sie bedürfen beide – einer von ihnen unter ausdrücklicher Hinweisung – des Philosophen, der dem Gefühle die feste Gedankengestalt gebe. Mittlerweise greifen sie auf den historisch vorhandenen Realismus des deutschen Rechts- und Wirthschaftslebens zurück. Ihm entnimmt Gierke Rechtskategorien, die approximativ anwendbar sein mögen. … [Briefschluss fehlt.] Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 60. 1 Johann Georg Freiherr von Sauerma von der Jeltsch (1842–1910): Gutsherr in Niederschlesien, königl. preuß. Kammerherr, ab 1890 Mitglied des deutschen Reichstags. 2 Nicht überliefert. 3 A. Riehl: Der philosophische Kritizismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft. Geschichte und System. 3 Bde. Leipzig 1876–1887. 4 Herbert Spencer (1820–1903): engl. Philosoph und Soziologe; Autodidakt und freier Schriftsteller; Vorläufer des Sozialdarwinismus. 5 F. Paulsen: System der Ethik. Mit einem Umriß der Staats- und G ­ esellschaftstheorie. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Hermann Usener an Dilthey Hermann Usener an Dilthey

191

Berlin 1889. – Julius Kaftan (1848–1926): ev. Theologe; 1873 a. o., 1881 o. Prof. in Basel, 1883 in Berlin. – Die Wahrheit der christlichen Religion. Basel 1888. 6 O. Gierke: Das deutsche Genossenschaftsrecht. 4 Bde. Berlin 1868–1913. 7 Carl Menger (1840–1921): österr. Ökonom; 1873 a. o., 1879–1903 o. Prof. für Poli­ tische Ökonomie und Statistik in Wien. 8 G. von Schmoller: Die Schriften von K. Menger und W. Dilthey zur Methodologie der Staats- und Sozialwissenschaften, in: Ders.: Zur Litteraturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaften. Leipzig 1888, S. 275–304. (= Besprechung von C. Menger: Unter­ suchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und der politischen Ökonomie insbesondere. Leipzig 1883 sowie von D.: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Bd. 1. Leipzig 1883.)

[715] Hermann Usener an Dilthey Bonn, den 5. dez[ember] [18]88. Mein lieber Wilhelm, wie schmälich bin ich bei Dir in rückstande. Noch habe ich Dir und Käthe auch meine freude auszusprechen zu der so glücklichen ankunft Eures zweiten töchterleins, und schon erfreut mich Käthe durch eine mit eigener hand adressierte zusendung einer neuen abhandlung von Dir.1 Wir sorgten bereits, da wir von Käthes und der kleinen befinden, trotz der bitte die Lilly ausgesprochen, keine nachricht erhielten; umso erfreulicher war uns die stillschweigende antwort, die in jener adresse lag. Also nun doppelten und dreifachen glückwunsch, nachdem alle schwäche, wie wir hoffen dürfen, so vollständig überwunden ist. Für Deine pädagogische abhandlung hast Du besonders gute glückliche stunden gehabt. Man wird, trotzdem man, wie immer bei Dir, mitzuarbeiten hat, ordentlich angesteckt durch Deine gute laune. Ich habe den entwurf mit grosser freude gelesen. Wirst Du dasselbe von meiner arbeit sagen können,2 die Dir inzwischen wohl von F. Köpp überbracht worden ist? Ich möchte es wünschen, aber ich glaube nicht, dass Dir alles gefallen wird. Du wirst freilich in kap. II sehen dass ich in diesem kalenderjahre (denn das sind alle früchte erst der letzten konzentrierten arbeit) ein bischen weiter gekommen bin, als ich damals war, wo ich noch blos in festgeschichtlichen untersuchungen steckte. Aber diese neuen ergebnisse und die rein an der hand der eigenen untersuchung fortlaufende darstellung sind es, welche nicht bloss für die ganze gruppe der schwarzröcke aller färbungen anstössig sein sondern teilweise auch Dir bedenken einflössen werden. Ich bin sehr begierig, von Dir altem theologen ein © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

192

Hermann Usener an Dilthey Hermann Usener an Dilthey

beruhigendes und aufrichtendes urteil zu hören. Es handelt sich darum, ist der rechte weg gewiesen zu voller erkenntnis des bildungsprozesses unserer religion und kirche von Paulus an? Von den theologen habe ich fast nirgends brauchbare vorarbeit gefunden, das „fast“ setze ich hinzu wegen einiger punkte der Gnosis besonders; es war eine oft entmutigende arbeitslast, die ich mir auf­ gepackt; alles musste [von] mir durch selbständiges durcharbeiten dieser quellenmasse herausgefunden werden. Das kann bei einem ersten versuche nur mangelhaft geraten, zumal wenn man unter der täglichen not, dem setzer nahrung zu geben, nicht nur erst schreiben, sondern vielfach sogar erst nachforschen muss. Ich bin etwas müde, aber hoffe bald mit dem 3.  teile zunächst mit dem druck der beilagen zu beginnen. Morgen abend geben wir einen zauber, in der ….loge!3 Theater essen tanz! Lilly und Mariechen sind seit einer woche in fieberhafter tätigkeit. Ich hoffe, es gelingt, und werde dann mich doppelt wohl fühlen. Wir hatten viele gesellige schulden angesammelt. Und nun, mein Liebster, herzlichste grüsse von haus zu haus, vor allem an Deine frau

Dein getreuer H. Usener.

Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 10. 1 D.s Akademie-Abhandlung Ueber die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft. 2 H. Usener: Religionsgeschichtliche Untersuchungen. Zweiter Theil: Christlicher Festbrauch. Bonn 1889. 3 Entzifferungslücke im Transkript.

[716] Hermann Usener an Dilthey Lieber Wilhelm und Käthe,

Bonn, 23. dez[ember] [18]88

zum ersten weihnachtsfeste, das Ihr in fünfzahl begehen könnt, senden wir alle Euch herzlich teilnehmende glückwünsche. Wir hoffen und wünschen, dass Ihr alle, eltern wie kinder, es in ungetrübter gesundheit feiert. Lilly ist eifrig mit einpacken beschäftigt, so gestattet Ihr mir, der interpret auch ihrer © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

193

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

grüsse und wünsche zu sein; den inhalt des päckchens wünscht sie zu einem anzug für den kleinen Max verwendet. Hoffentlich lasst Ihr uns bald etwas genaueres über Euer aller ergehen hören; was Zeller schrieb, konnte uns nicht genügen.1 Dieser liebenswürdige mann hat mir einen grossen sympathischen brief geschrieben; aber ich sehe darin dass wir uns wenig verstehen. Ich habe nun leider mehrere universitätsprogramme herzurichten, die mir viel zeit und mühe kosten werden und mich zunächst von der hauptsache, der fertigstellung von th[eil] III dem schlusse des weihnachtsfestes ferne halten. Hoffentlich geht Dir’s mit Deinen unternehmungen besser. Mit den besten treuesten wünschen zum neuen jahr für Dich und Dein haus Dein H. Usener. Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 11. 1 E. Zeller schreibt an H.  Usener am 15.  Dezember 1888: „Dilthey läßt Sie bestens grüßen. Sein und der Seinigen Befinden ist zur Zeit befriedigend.“ Vgl. Ehlers, Bd.  II, S. ­406–408, hier S. 408.

[717] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Lieber Freund!

[Dezember 1888]1

Meine Frau ist heute Abend in die Quitzows gegangen;2 ich bin durch meine Augen noch immer von solchen Vergnügungen ausgeschlossen. Übrigens sind die Quitzows, von allem Persönlichen abgesehen, hier obligatorisch, jeder anständige Berliner sieht sie wenigstens einmal wie zu Schillers Leb­zeiten die Maria Stuart. Ich benutze nun ein halbes Stündchen des Abends, Ihren lieben Brief zu beantworten, der wie jedes Wort von Ihnen im ganzen Hause, bis zu Max herunter große Freude macht, gelesen, wieder gelesen und durch­ gesprochen wird. Zunächst sah ich mit Freude, daß Ihre Augen wieder alle Dienste thun, ja sogar zu Kaftan und Paulsen ausgereicht haben. Etwas enttäuscht war ich dann, über Ihre Eindrücke von den schlesischen Kaisertagen bis auf Ihr Herkommen vertröstet zu werden. … © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

194

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

Bei uns geht es mit dem Befinden meiner Frau langsam doch ohne Zwischenfall vorwärts. Das kleine Mädchen gedeiht vorzüglich, Clärchen hat in der Schule wieder den alten Stand erreicht und über Max werden Sie hoffentlich wenn Sie kommen sich freuen. Ich bin zufrieden und der Augenkatarrh ist nun endlich ziemlich vorüber, nur Schonung noch nötig. Neben reichlich zugemessener Arbeit, an welcher die lästigen Amtsgeschäfte wie sie neben den ja angenehmen Vorlesungen nebenherlaufen, einen großen Anteil haben, regnet es Bücher. Sie kommen aus allen Windgegenden, man kann sich ihrer nicht erwehren. Rankes Vorlesungen bei König Max 3 mußte ich ungern zurücklegen, den Velasquez von Justi4 habe ich angefangen, vermag doch aber nicht durch so viel gelehrtes Buschwerk und niederen Wald mich durchzuarbeiten. Ich muß mich an einzelne wirklich glänzende Bilder wie das von Philipp IV.5 halten. Was hätte Justi z. B. aus der Renaissance in Spanien machen müssen, welche auch hier wie überall so merkwürdig die nationale Dichtung vorbereitet. Ihm fehlt der Mut des Überblicks. Dann ist von Sigwart die neue Auflage des ersten Bandes der Logik gekommen,6 bei kleinerem Druck und größerem Format erheblich stärker geworden, sonach sehr vergrößert. Auch das zurückgelegt. Paulsen jedoch zog mich an und ich begann ihn zu lesen. Lieber Freund, die naturalistische Bewegung in der Wissenschaft hat etwas Unaufhaltsames. Wir erleben nun heute, allem was wirklich geschieht zum Trotz, daß die liberalisirende Gesellschaftslehre von Bastiat, Bentham und den Mills sich nunmehr auch der Ethik bemächtigt.7 Die Voraus­setzung dieser Lehre ist, daß wer für sich sorgt, auch am besten für die Wolfahrt der andern sorgt, oder wer diese Wolfahrt fördert, hierdurch auch am besten sich selber nützt. Die wunderbare Zweckmäßigkeit der gesellschaftlichen ­Maschine ist durch eine Harmonie aller Interessen bedingt. Sie haben Recht, dies als eine satte Rentiersphilosophie zu bezeichnen. Man sollte einen Auszug davon unter die Arbeiter verteilen, ob sie an solcher Sattheit der oberen Classen sich mitsättigen und wärmen. Getragen wird diese platte Lehre, die nun wirklich rückständig ist, durch die moderne Biologie. Darwin und Herbert ­Spencer verleihen ihr einen Schein von Wissenschaft, jedoch verschweigt diese Anwendung auf das Menschenleben, daß die Natur überall Sieg des Stärkeren, Fressen und Gefressenwerden als Hülfsmittel braucht, Dasein, Gattungen zu erhalten und zu steigern. So ist ein fetter, satter und behaglicher Militarismus von Bentham her zu Herbert Spencer entwickelt worden, dann hat ­Ihering8 die Mechanik des gesellschaftlichen Lebens vermittelst der Triebfedern von Lohn, Strafe und Zwang sowie das historische Gesetz vom Überleben der Sitte nach dem Schwinden ihrer ersten Motive und im Wiederersatz derselben durch neue Motive hinzugefügt. Und nun sehen wir wie – in breitem, flachem Lauf – diese Moral der Satten sich ausbreitet; so trivial als bei Paulsen erscheint © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

195

sie allerdings bei keinem anderen, aber sie verfügt auch bei nie­mandem über einen so glänzenden Styl und eine solche Kraft, Verständniß auch bei dem Schlafseligsten zu erzwingen. Mich beschäftigt nun nach meiner Ihnen bekannten Art, da alles was wirkt irgendwo eine Kraft dazu haben muß, worin das Recht einer sol­chen Sittenlehre gelegen ist. Es giebt in der Moral wie in der Aesthetik und Pädagogik durchgreifende allgemeingültige Regeln. Hier bemerke ich in Parenthese, daß Sie mir wol über die pädagogische Abhandlung in der Akademie etwas hätten sagen dürfen, wenn man ihr auch, zumal in dem hastigen letzten Teil, den Armbruch von Max anmerkt. Also diese Regeln gehen auch durch die Moral hindurch und hier sind sie der Aus­druck der Weisen in welchen auf Grund der menschlichen Natur, die Gesellschaft nach der Harmonie ihrer Inter­essen auf die Handlung der Einzelnen reagirt. Dasselbe kann auch so aus­gedrückt werden, daß das Individuum in diesem Gefüge der Gesellschaft nur dann ohne Reibun­gen handelt, wenn es in den Zweckzusammenhang derselben sich ein­ fügt; die durch die Gesellschaft hindurch gehenden Zwecke wirken wie Naturkräfte; wie das Fallgesetz überall gilt wo Körper sind, so gilt auch überall daß Rechtschaffenheit im wirtschaftlichen Verhalten allein ein nirgend gestörtes Aufsteigen der ganzen Person zur Folge hat. Ebenso wirkt, daß freundliches, sympathisches, hilfreiches Verhalten von allen Seiten Liebe erwirbt. Diese Urteile wirken um so stärker, die Regeln greifen um so energischer durch, je gleicher die Lage der Personen und je solidarischer ihre Interessen verbunden sind; sie wirken daher am stärksten in der mittleren Schicht der gegenwärtigen Gesellschaft. Die Naturgeschichte der Entstehung dieser Regeln wäre in der That historische Moraluntersuchung. Wie in der gegenwärtigen Gesellschaft im Lichte der Geschichte Rechtsregeln sich bilden so auch herrschen die moralischen Gefühle; gleichsam Institute des moralischen Verhaltens. Aber diese ganze Sittenordnung welche ein durchschnittliches mora­lisches Verhalten garantirt, das niemals aus der Kraft persönlicher Sitt­lichkeit gleichmäßig und zuverlässig entspringen würde, ist natürlich nur die Unterlage für den geschichtlichen Proceß und den persönlichen Vor­gang von persönlicher Sittlichkeit und Religiosität. Diese geht gerade von den Erfahrungen des Weltlaufs aus; daß Glück, im gewöhnlichen Sinne des Wortes, nicht das Gegengeschenk für sittliche Hingabe ist, die Gebrechlichkeit der Welteinrichtung, der Undank dem die Aufopferung begegnet, die Geltung des Scheins, der Sieg der kalten Berechnung, wel­che Reibungen vermeidet, über den Enthusiasmus: hiervon gehen Sitt­lichkeit, Religion und Poesie, kurz das höhere Leben aus; die Transcendenz der Aufopferung an das Individuum und der Hingebung an Zwecke, die an sich einen grenzenlosen Wert haben, ist die Wurzel aller Transcendenz überhaupt. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

196

Dilthey an Kurd Laßwitz Dilthey an Kurd Laßwitz

Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 61. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 E. von Wildenbruch: Die Quitzkows. Schauspiel in vier Akten. Dresden 1888. – Das historische Drama wurde am 9. November 1888 im königl. Schauspielhaus in Berlin uraufgeführt. 3 Auf Einladung von König Maximilian II. von Bayern (1811–1864) hielt L. von Ranke 1854 und später mehrmals in Berchtesgaden private Vorlesungen über die Weltgeschichte für den König. – Ueber die Epochen der neueren Geschichte. Vorträge dem Könige Max dem II. von Bayern im Herbst 1854 zu Berchtesgaden gehalten. Hg. von A. Dove. Leipzig 1888. 4 C. Justi: Diego Velasquez und sein Jahrhundert. 2 Bde. Bonn 1888. 5 Velasquez war Hofmaler am Hof Philipp IV. (1605–1665). 6 Ch. Sigwart: Logik. 2 Bde. Tübingen 1873 und 1878. – Die 2. Aufl. des 1. Bandes erschien 1889, die des 2. Bandes 1893. 7 Frédéric Bastiat (1801–1850): franz. Ökonom und Politiker; Vertreter des ökonomischen Liberalismus. – Jeremy Bentham (1748–1832): engl. Jurist, Philosoph und Sozialreformer; Begründer des Utilitarismus.  – James Mill (1773–1836): schottischer Theologe, Philosoph u. Strafrechtsreformer; Vater von John Stuart Mill (1806–1873): engl. Philosoph und Ökonom; beide Mills waren Vertreter einer utilitaristischen Ethik. 8 Der Rechtswissenschaftler Rudolf von Ihering (1818–1892): Der Besitzwille. Zugleich eine Kritik der herrschenden juristischen Methode. Jena 1889.

[718] Dilthey an Kurd Laßwitz Lieber Herr Professor!

[Dezember 1888]1

Für die Übersendung des neuen so interessanten Aufsatzes über Galileis Theorie der Materie sage ich Ihnen meinen besten Dank,2 ich glaube aber, daß ich Ihnen für mehrere Aufsätze nicht ordnungsmäßig gedankt habe. Mich freut gar sehr, zu sehen, wie die Einzelarbeiten sich allmälig zu dem Ganzen einer Geschichte der Atomistik während des 17.  Jahrhunderts zusammenordnen; mich dünkt, es wäre jetzt die Zeit für Sie, Ihre Forschungen in einem Zuge abzurunden und zusammen zu fassen. Besonderen Dank schulde ich Ihnen daß Sie als alter Schüler und Freund, aus Ihrem Verständniß heraus meinen schwer zugänglichen Arbeiten freundlich die Wege bahnen. Lassen Sie einmal von Ihnen ein Wort vernehmen treulich der Ihrige Wilhelm Dilthey. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

197

Dilthey an Hermann Escher Dilthey an Hermann Escher

Original: Hs.; Diktat D.s von unbekannter Hand; FB Gotha, Chart. B 196, 2 a, 156. 1 Datierung nach einer Notiz Laßwitz’ im Original: „beantw[ortet] 9. 1. [18]89“. 2 K. Laßwitz: Galilei und das moderne Denken, in: Die Nation 5 (1888), S. 321–323, 335–337.

[719] Dilthey an Hermann Escher1 Ew. Hochwohlgeboren

Berlin, Jan[uar] 7. 1889.

ersuche ich hierdurch ganz ergebenst um guetige Benachrichtigung dar­ ueber, welche umfassenderen Handschriftensammlungen aus dem Gebiete der neueren (seit ca. 1600) Litteratur Philosophie und Wissenschaft Ihre Bibliothek besitzt. Verzeihen Sie, wenn ich hinzufuege, daß Sie durch fr[eun]dliche bald moeglichste Uebermittlung mich zu ganz besonderem Dank verpflichten wuerden. Ganz ergebenst der Ihrige D.r Wilhelm Dilthey o[rdentlich]-oe[ffentlicher] Prof. a[n] /  U[niversität] Berlin Mitgl[ied] der k[öni]gl[ichen] Acad[emie] d[er] W[issenschaften] Original: Hs.; Diktat D.s von unbekannter Hand; HA der ZB Zürich, Autogr. ZB: Dilthey, W. 1 Hermann Escher (1857–1938): Bibliothekar; 1881 Promotion und Unterbibliothekar, ab 1887 Leiter der Stadtbibliothek Zürich, 1917 Direktor der Stadt- und Kantonsbibliothek Zürich. – Diese Anfrage D.s vom 7. Januar 1889 ging an verschiedene Bibliotheken. Die in diesem Band herausgegebenen Antwortschreiben mehrerer Bibliothekare sind Reaktionen auf diesen „Rundbrief“. D. benötigte Informationen über die Handschriften-Bestände für seinen Vortrag über Archive für Literatur, den er am 16. Januar 1889 vor der neu gegründeten Gesellschaft für Literatur in Berlin hielt.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

198

Karl Gerhard an Dilthey

[720] Karl Gerhard 1 an Dilthey Münster i[n] W[estfalen], den 8. Januar 1889. Ew. Hochwohlgeboren habe ich einige der Handschriften, welche die Paulinische Bibliothek aus dem Gebiete der Philosophie und neueren Literatur besitzt, umstehend verzeichnen lassen. Ähnliche Handschriften philosophischen Inhalts, meist Collegienhefte über Logik, Dialektik etc. aus dem 17. und 18. Jahrhundert sind noch mehrere vorhanden, die aber, wie es scheint, ziemlich werthlos sind. Zur genaueren Orientierung darüber erlaube ich mir Sie auf den demnächst (vielleicht noch in diesem Monat) im Druck erscheinenden ausführlichen Katalog unsrer Handschriften von Oberbibliothekar Professor Ständer2 in Breslau ergebenst aufmerksam zu machen. Mit vorzüglicher Hochachtung Dr. Gerhard Bibliothekar.3 Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 37, Bl. 243–243 R. 1 Karl Gerhard (1847–1921): Bibliothekar; 1876 Kustos der UB Bonn, 1888 Biblio­ thekar der Königl. Paulinischen Bibliothek in Münster, 1891 Oberbibliothekar der UB Königsberg, 1893 Abteilungsdirektor der königl. Bibliothek Berlin, 1899–1920 Direktor der UB Halle. 2 Joseph Ständer (1842–1917): klass. Philologe und Bibliothekar; 1865 Promotion in Bonn, 1870 Kustos, 1872 Sekretär der UB Bonn, 1876 Bibliothekar der UB Münster, 1882 der UB Greifswald, 1883 Prof. ebd., 1886 Oberbibliothekar der UB Breslau, 1901–1907 Direktor der UB Bonn. 3 Auf dem im Original nachfolgenden Blatt folgt eine handschriftliche Aufstellung des Bestands an philosophischen Handschriften.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Arnold Schmidt an Dilthey

199

[721] Arnold Schmidt 1 an Dilthey

  Hochverehrter Herr Professor!

Berlin S[üd] Sebastianstr. 25 9. 1. [18]89.

Hierbei erlaube ich mir, Ihnen ganz ergebenst zu übersenden, was ich bisher an Notizen sammeln konnte. Das reichhaltigste Material habe ich über Herbart, und zwar aus den Vorreden von Kehrbach zu seiner Ausgabe und aus Anmerkungen Zillers gefunden.2 Herbarts Nachlaß ist anscheinend aus den Händen seiner Wittwe3 in den Besitz der Königsberger Universitätsbibliothek gelangt, wo er sich jetzt befindet. Ich habe aber auch für manches einzelne an Briefen und Denkschriften, die nicht zum Nachlaß gehören, den Privatbesitz gefunden  – Czolbes Nachlaß ist vielleicht im Besitz von ­Johnson (Plauen), der die Grundzüge der extens[ionalen] Erkenntnistheorie herausgegeben hat;4 denn er sagt, es sei noch ungedrucktes Manuscript da, aber nicht, daß es irgend wo niedergelegt sei.  – Für Baader ergiebt sich auch aus den nach­gelassenen Schriften nicht, wo die Handschriften niedergelegt sind; ich habe nur die eine Vermutung Hoffmanns gefunden.5 – Daß Fichtes Nachlaß in Händen seines Sohnes ist, läßt sich vermuten; entsprechend der Nachlaß Schellings. Denn der Briefwechsel beider ist von ihren Söhnen ohne Angabe des Aufbewahrungsortes veröffentlicht. – Unter den Herausgebern von Krauses Werken befindet sich sein Sohn, vermutlich hat der Nachlaß sich damals ­ izenmann ist noch im Familienbesitz befunden; aber wo ist er jetzt?6 – Von W einiges in Kiel, andres nach seiner Bestimmung an Jacobi übergeben, weshalb ich es in seinem Nachlaß vermute.7  – Über Echtermeyer, Feuerbach, Gans, Solger, Strauss8 habe ich dagegen gar keine Notiz, über Humboldt so gut wie keine. Dagegen teilte mir Herr Oberlehrer Pröhle mit, daß im Archiv des Gleimschen Familienstiftes in Halberstadt der Nachlaß von Gleim, Uz und E. v. Kleist sei; Archivar sei Oberl[ehrer] Dr. Schneider in Halberstadt, von dem man wohl Näheres über den reichen Inhalt der Sammlung erfahren kann.9 – Zach[arias] Werners Nachlaß vermutet Pröhle in Weimar, über Niemeyer gab er mir die Notiz, daß sein Enkel Buchhändler in Halle ist; Tiecks Großneffe ist Prof. Bernhardy am Luisenstädtischen Gymnasium hier,10 ein Brief von Tieck ist im Privatbesitz meines Kollegen Werner;11 eine Nichte von ­Brentano ist die Frau von Prof. Herm[an] Grimm.12  – Das sind die Notizen, die ich Pröhle verdanke, und die ich beifüge für den Fall, daß Sie ihnen wertvoll sind. [Briefschluss fehlt.] © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

200

Arnold Schmidt

Original: Hs.; der unvollständige Brief ist hinterlegt in: ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 255, Bl. 75–76 R. 1 Obwohl der Briefschluss fehlt und damit auch die Unterschrift des Briefsschreibers, ist eindeutig, dass dieser Brief von dem Berliner Bibliothekar Arnold Schmidt geschrieben wurde, denn die Adresse des Absenders und die Handschrift stimmen überein mit Brief [730]. 2 Johann Friedrich Herbart’s Sämtliche Werke. In der chronologischen Reihenfolge. Hg. von K. Kehrbach und O. Flügel. 19 Bde. Langensalza 1887–1902. – Karl Kehrbach (1846 oder 1848–1905): Lehrer und Germanist; 1872 Lehrer in Leipzig, 1883 Privat­ gelehrter in Berlin, 1885 Promotion ebd., 1894 Ernennung zum Prof.; Herbartianer.  – ­Tuiscon Ziller (1817–1882): Pädagoge; 1853 Habilitation, 1854 PD, 1861 Gründer des pädago­gischen Seminars in Leipzig; Anhänger Herbarts. 3 Mary Jane Herbart, geb. Drake (1791–1876). 4 Heinrich Czolbe (1819–1873): Arzt und Philosoph; 1844 Promotion, 1848 Militärarzt, 1867 Austritt aus dem Militärdienst, Privatgelehrter.  – Grundzüge der extensionalen Erkenntnisstheorie. Ein räumliches Abbild von der Entstehung der sinnlichen Wahr­ nehmung. Hg. von E. Johnson. Plauen 1875. 5 Franz Xaver von Baader (1765–1841): Arzt und Philosoph. – Franz Hoffmann (1804– 1881): Philosoph; 1835 o. Prof. in Würzburg; Schüler F. von Baaders. – F. Hoffmann initiierte zusammen mit anderen die Herausgabe von Franz von Baader’s sämmtlichen Werken. 16 Bde. Leipzig 1851–1860. 6 Karl Christian Friedrich Krause (1781–1832): Philosoph; 1797 Studium in Jena, ­Hörer Fichtes und Schellings, 1802 Habilitation, 1814 erneute Habilitation in Berlin, 1824 dritte Habilitation in Göttingen. 7 Thomas Wizenmann (1759–1787): ev. Theologe und Philosoph; 1783 Hauslehrer; enger Freund des Schriftstellers und Philosophen F. H. Jacobi. 8 Ernst Theodor Echtermeyer (1805–1844): Philosoph, Schriftsteller und Literatur­ historiker.  – Ludwig Feuerbach (1804–1872): Philosoph.  – Eduard Gans (1797 oder ­1798–1839): Rechtsphilosoph und Historiker.  – Karl Wilhelm Ferdinand Solger (1780– 1819): klass. Philologe und Philosoph. – David Friedrich Strauß (1808–1874): Philosoph und ev. Theologe. 9 Christoph Ferdinand Heinrich Pröhle (1822–1895): Lehrer und Schriftsteller; 1855 Promotion, 1859–1890 Lehrer in Berlin. – Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803): Dichter; Gründer des „Halberstädter Dichterkreis“; der NL Gleims befindet sich noch heute im Hause Gleims in Halberstadt. – Johann Peter Uz (1720–1796): Dichter. – Ewald Christian von Kleist (1715–1759): Dichter. – Robert Schneider: Archivar und Oberlehrer am Real­g ymnasium in Halberstadt. 10 Friedrich Ludwig Zacharias Werner (1768–1823): dramatischer Dichter; Studium in Königsberg (bei Kant). – August Hermann Niemeyer (1754–1828): ev. Theologe, Pädagoge, Schriftsteller und Dichter. – Bernhardy: nicht zu ermitteln. 11 Bibliothekar in Berlin. 12 Gisela Grimms Mutter, Bettina von Arnim (1785–1859), war eine geb. von Brentano.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Hermann Usener

201

[722] Dilthey an Hermann Usener Lieber Hermann!

[9. Januar 1889]1

Es wird auch heute kein Brief, wie er Deines Buches würdig wäre, aber ich will wenigstens einem solchen Zeilen voransenden. Zunächst herzlichen Dank an Euch beide, daß Ihr zu Weihnachten so freundlich an uns gedacht habt. Dann aber muß ich Dir aussprechen so langsam ich in Deinem Buche voranschreite, bei großer Ungunst der Umstände, so viel stellt sich mir schon dar, daß es von Epoche machender Bedeutung ist. Der erste Schritt der wirklich über die Schranken der Voraussetzung der Tübinger Kritik weiter führt. Zugleich, was Dir wol noch wichtiger ist, erstes Eindringen in den realen Vorgang der Mythenbildung überhaupt; ich finde ingeniös2 wie Du das Ver­hältniß zwischen den dogmatischen Veränderungen und den Veränderungen im Mythenbestande dazu benutzt hast Schlüsse von dem einen Gebiete auf das andere zu machen. Ebenso wie Du den Cultus und die mythischen Symbole in Beziehung setzest, über alles Nähere ist ein ausführlicher Brief immer aufgespart worden; das Buch sollte erst zu Ende gelesen werden; ich wollte gern die Ansicht Harnacks3 hören, die Dir gewiß interessant sein wird, obwol er Dir ja selber wol geschrieben hat; also Du mußt noch einige Geduld haben. Aus dem zweiten Bande, soviel Raum für ihn Vorlesungen und Geschäfte lassen, bin ich nun für einige Tage in einen Vortrag gezogen worden, mit dem ich am künftigen Mittwoch eine von uns begründete Gesellschaft für deutsche Litteratur zu eröffnen gedachte und der dann auch gleich gedruckt werden soll,4 nur macht freilich das Befinden unserer lieben Tante sehr fraglich ob er jetzt gehalten werden wird:5 Dazu kam dann, daß Käthe sich gar nicht erholte, sie machte mir große Sorge; nun ist sie seit einer Woche in Kösen,6 findet sich besser und wird in diesen Tagen zurückkehren. So mußt Du noch einige Zeit mit mir Geduld haben und dieser heutige Brief soll Dir nur sagen, daß ich von der beispiellosen Gelehrsamkeit und dem Combinationsvermögen in Deinem Buche ganz voll bin. Mit herzlichem Gruße für Dich, Lilly und die Deinen Dein Wilhelm. Original: Hs.; Diktat D.s von unbekannter Hand; ULB Bonn, Usener-NL , S 2102, 3, Nr. 10; ein lückenhaftes maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 20. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

202

Hermann Usener an Dilthey

1 Datierung nach einer Notiz Useners im Original: „Erh[alten] 10 jan[uar] [18]89“. 2 Im Original und im Transkript: „ihn geniös“. 3 Adolf Harnack (1851–1930): ev. Theologe und Kirchenhistoriker; 1876 a. o. Prof. in Leipzig, 1879 o. Prof. in Gießen, 1886 in Marburg, 1888 in Berlin. 4 D. hielt am 16. Januar 1889 einen Vortrag über Archive der Litteratur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie vor der Berliner Gesellschaft für deutsche Litteratur, abgedr. in: AGPh 2 (1889), S. 343–367; WA in: GS IV, S. 555–575. 5 D.s Tante Marie Heuschkel (1808–1889) starb im Februar 1889. 6 Bad Kösen: Solebad nahe Naumburg / Sachsen-Anhalt.

[723] Hermann Usener an Dilthey Bonn, 11. jan[uar] [18]89. Mein lieber Wilhelm, Dein gestriger brief war mir eine grosse freude und tröstung. Er hat mir vor allem die beruhigende gewissheit gebracht, dass Du nicht, wie ich besorgt hatte, einzelne peinliche auseinandersetzungen, die ich nicht vermeiden mochte, missbilligst. Und dann empfinde ich es als eine besondere belohnung, wenn nicht blos die philologische jugend, (ich meine die generationen aufwärts bis etwa zu Diels und v. Wilamowitz) auf die allein ich sichere hoffnung setze, sondern auch von den älteren einer diesen mühseligen arbeiten volles verständnis und warmes mitempfinden mit entgegenbringt. Dass Du als freund und schwager zu günstig urteilst, schadet dabei nichts. Wer so wenig weiss wie ich, der muss einmal mit seinem wenigen gut hauszuhalten suchen (das nennst Du kombinieren), und zum andern fortwährend viel viel lesen und lernen (das nennst Du gelehrsamkeit). Aber allerdings war meine stille absicht, unsere theologen aufzurütteln, und ihnen zu zeigen was arbeiten heisst. Sie haben mit wenigen ausnahmen, die man an den fingern einer hand bequem herzählen kann, in ihrer unseligen bemühung um schlagwörter des tags längst verlernt nicht nur zu arbeiten, sondern auch zu lernen. Wie oft habe ich mich geschämt bei einem geringen kathol[ischen] geistlichen mehr positives wissen von theologischen dingen zu finden als bei meinen kollegen von der prot[estantisch] theol[ogischen] fakultät. Und vollens, der wahrheit hat nie einer ins gesicht geschaut; sie belügen zuerst sich selbst; aus lauter unkritik und unhistorie1 werden sie [hypo]kritiker2 wie jüngst herr Steck in Bern3 usw. Wie die hauptpartie entstanden ist, interessiert Dich vielleicht. Es war jetzt gerade vor einem jahre, als ich mich von einer mehrmonatlichen widerwilligen und darum verdummenden und lähmenden beschäftigung mit den © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Hermann Usener an Dilthey

203

Gnostikern in die rein theologische untersuchung über die textgeschichte von Lukas III, 22 rettete. Als die alte fassung und ihre dauer endgültig festgestellt war, ergab sich alles andere fast mit einem schlage, in wenigen tagen standen die grundzüge der ganzen untersuchung fest, die sich zwingender notwendigkeit wie glied an glied zu kette reihte. Du kannst Dir die aufregung dieser tage denken, ich stand in gefahr den schlaf zu verlieren. Aber mit fastnachtszeit musste ich die dinge beiseite legen; erst kamen die amtsarbeiten dazwischen, dann musste ich 3 monate der augen wegen allem lesen und schreiben ent­ sagen, und die amtstätigkeit des sommers gestattete nur den druck in langsamem tempo zu beginnen, aber nicht weiter zu schreiben. Das ist erst seit ende september geschehen, unter täglichem kampf mit dem setzer der nach manuskript schrie und auch sein werk korrigiert haben wollte. Besonders gern mochte ich Dein urteil hören über den abschnitt p 153 ff. „aus der geschichte des taufsakr[aments].“ Mir kam vor als sei dies das beste, aber ich kann mich täuschen. Es ist eine erfahrungstatsache dass der mensch sich damit am meisten zu gut tut, was er am schlechtesten kann, weil es ihm nämlich am meisten mühe macht. Mit Harnack stehe ich in keiner verbindung. Ich habe ihm einmal etwas geschickt und er hat darauf danke gesagt. Seitdem ich in seiner dogmen­ geschichte den abschnitt ü[ber] d[ie] Gnosis mir habe vorlesen lassen,4 kümmere ich mich auch nicht weiter um das was er macht. Wenn ein mann, der sich mehr als ein jahrzehnt als forscher mit der Gnosis beschäftigt hat, die quintessenz seiner einsichten in das schlagwort zusammenfassen kann „die Gnosis ist die akute verweltlichung des Christentums“ so erwarte ich von demselben keine förderung und belehrung mehr. Er ist ja ein wirklich arbeitsamer und strebender mensch, aber er hat nichts rechtes gelernt. Es ist immer ein unglück, wenn ein theologe sich einbildet philologisch zu arbeiten. Was macht Hilgenfeld5 darum für dummheiten. Der minister, dem ich natürlich das buch als „corpus delicti“ einreichte, hat sich darüber von herrn Weiss vortrag halten lassen!6 Noch habe ich nicht einmal die übliche empfangsbescheinigung erhalten – das erfreulichste von allem was ich zu hören bekam war mir ein brief des theologen Weizsäcker.7 Das wird aber auch wohl der einzige der jetzigen theologen sein, der mit mir etwas anzufangen weiss. Übrigens will ich doch Dir das bekenntnis ablegen, dass eines der wichtigsten anliegen dabei mir war den beweis dafür zu liefern, dass die philo­logie nicht blos ein kuriositätenwissen sondern eine lebendige wissenschaft sei, die mit dem leben fühlung hat. Was ich darüber in der vorrede gesagt hatte, haben mir aber meine freunde gestrichen und sie hatten recht. Man soll nicht selbst in den laden legen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

204

Rudolf Reicke an Dilthey

Eine grosse freude war uns von Dir zu hören, dass Käthe sich so rasch wieder hergestellt fühlt und Du sie demnächst zurückerwartest. Aber sehr befremdet war uns Deine nachricht über Tante. Nach unseren letzten nachrichten (von ende voriger woche) war der zustand unverändert. Hast Du neuere nachrichten von einer schlimmeren wendung? Lass uns doch ein wort davon wissen, und etwas mehr von Käthe und den kindern. Mit herzlichsten grüssen von haus zu haus Dein H. Usener. Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 12. 1 Im Original: „unhistorisie“. 2 Scheinheiliger, Heuchler. 3 R. Steck: Prof. der Philosophie in Bern. 4 A. Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte. 3 Bde. Tübingen 1886–1890. 5 Adolf Hilgenfeld (1823–1907): ev. Theologe; 1850 a. o. Prof., 1869 o. Honorarprof., 1890 o. Prof. für neutestamentliche Exegese in Jena; 1858–1907 Hg. der Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie. 6 G. von Goßler. – Bernhard Weiß (1827–1918): ev. Theologe; 1852 a. o. Prof. in Königsberg, 1862 o. Prof. in Kiel, 1880 Oberkonsistorialrat in Berlin. 7 Carl Heinrich von Weizsäcker (1822–1899): ev. Theologe; 1861 o. Prof. für Kirchenund Dogmengeschichte in Tübingen.

[724] Rudolf Reicke an Dilthey Hochverehrter1 Herr Professor!

Königsberg 12. I. [18]89.

Es war meine Absicht, die Beantwortung Ihrer Anfrage2 so lange aufzuschieben, bis ich derselben eine Druckschrift beilegen konnte, aus welcher Sie einiges über den Inhalt des Kantschen Nachlasses auf der hiesigen Bibliothek entnehmen könnten. Die Fertigstellung hat sich leider verzögert. Da ich nun aber aus Ihrem Schreiben an Arnoldt,3 das erst den Weg von hier an Prof. Dr. Franklin Arnoldt nach Breslau und von da als Einlage wieder hierher zurück gemacht hat, so eben ersehe, dass die Sache für Sie dringender ist, als ich vermuthete, so beeile ich mich Ihnen Folgendes ergebenst mitzutheilen: © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Rudolf Reicke an Dilthey

205

Der handschriftl[iche] Nachlass Kants auf der hiesigen Königl[ichen] u. Universitäts-Bibliothek, zum grössten Theil wol durch Schenkungen in den 30er u. späteren Jahren erworben, besteht fast nur aus losen Blättern verschiedensten4 Formates. Schubert hat dieselben behufs Benutzung für die mit Rosenkranz gemachte Ausgabe der Werke Kants in 13 Convolute geschieden und innerhalb dieser geordnet.5 Diese Convolute (erst in neuester Zeit mit A–N bezeichnet) enthalten von Schuberts Hand folgende Inhaltsangaben: A. 18 Blätter u. Papierstreifen zur Physik u. zur Mathematik B. 12 Bll. zur Critik der reinen Vernunft C. 15 Bll. zur Logik und gegen Eberhard.6 D. 33 Bll. zur Metaphysik. Wider den Idealismus. E. 78 Bll. u. Papierstreifen zur Moral, zur Rechtslehre und zur Critik der practischen Vernunft. F. 23 Bll. Kants Ansichten über allgemeine Gegenstände der Politik u. des reinen Staatsrechts aus den Jahren 1785–1799. G. 28 Bll. Kants Ansichten zur Religionsphilosophie u. natürlichen Religion. Zum Streit der Facultäten. H. 59 Bll. zur Anthropologie J. 6 Bll. zur physischen Geographie K. 15 Stücke ‚Kleine Concepte von Kants Hand gekauft auf der Bücherauction des Prof. Gensichen‘.7 L. 61 Pieçen „Kleine Denkzettel von Kants Hand aus der letzten Zeit seines Lebens. (gekauft auf der Prof. Gensichenschen Bücherauction) Dazu 3 Memorienbücher von H[er]rn pp Buck durch H[er]rn Ober[-]G[eheimen] R[egierungs]R[at] Reusch“.8 M. (36 Pieçen) „Allgemeine biographische Nachrichten[,] Entwürfe zu Briefen[“] N. „LXIII Briefe an Kant, (auf der Bücherauction des Prof. Gensichen gekauft)“. Dazu noch 6 andere Briefe. Hierzu bemerke ich nun, dass bereits die 4 ersten Convolute A–D vollständig u. wortgetreu in den beiden Jahrgängen der Altpr[eußischen] Monatschrift 1887 u. 1888 veröffentlicht worden sind und aus dieser in einer Sep[arat]Ausg[abe] unt[er] d[em] Tit[el]: ‚Lose Blätter aus Kants Nachlass’ mitgetheilt von Rudolf Reicke. l. Heft‘ (19 ¼ Bog[en]) demnächst zum Preise von 6 Mark in den Handel kommen; selbstverständlich werde ich in der bisherigen Weise die Publication fortsetzen; das Convolut N (Briefe an Kant enthaltend) aber wird in der von mir in Verbindung mit Sintenis in Dorpat geplanten Ausgabe des Briefwechsels Kant’s Aufnahme finden.9 Zu dem Nachlasse Kants gehört noch seine eigenhändige Doctor-Dissertation „de igne“ aus d[em] J[ahre] 1755, nach welcher die Ausgabe bei Rosenkranz © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

206

Rudolf Reicke an Dilthey

u. Schubert besorgt ist. Nicht von Kant herrührend, aber auf ihn bezüglich und mit den übrigen Convoluten aufbewahrt ist eine biographisch werthvolle Sammlung „Kantiana“ aus Walds Nachlass, welche ich bereits im J[ahre] 1860 veröffentlicht habe.10 Endlich sind noch zu erwähnen das Handexemplar der Kritik d[er] rein[en] Vernunft (1. Ausg[abe]) mit handschrift[lichen] Bemerkungen, die Benno Erdmann im Jubeljahr der Kritik publicirt hat,11 u. ein paar Compendien von Wolfianern, die Kant nach damaliger vorgeschriebener Sitte seinen Vorlesungen zu Grunde gelegt u. mit Bemerkungen versehen hat. Diese sind, resp. werden von mir copirt u. edirt werden. Dies ist der handschriftl[iche] Nachlass auf der hiesigen K[öni]gl[ichen] Biblio­thek.  – Ich selbst besitze einige Autographa von Kant, wie dgl. wol an nicht wenigen Orten bei Autographensammlern sich vorfinden werden (eines davon, eine lateinische Rectoratsrede „De Medicina corporis quae Philosophorum est“ hat mein Sohn Johannes Reicke im XVIII. Bde (1881) der Altpr[eußischen] Mon[atsschrift] mitgetheilt),12 ferner das sehr wertvolle Hand­exemplar von Kants Beobachtungen üb[er] d[as] Gef[ühl] f[ür] d[as] Schöne u. Erhab[ene] (1. Ausg[abe] v[on] 1764) mit Papier durchschossen und vielen handschr[iftlichen] Bemerkungen versehen; das Druck-Manuscr[ipt] zu Kant’s Schrift „zum ewigen Frieden“ (vgl. Kehrbach’s Ausg[abe] S.  XXI f.)13 eine Abschrift, mit Correcturen u. einem Anhang von Kants Hand; endlich einige Bogen aus dem Druck-M[anu]sc[ript] (Abschrift) der Relig[ion] innerh[alb] d[er] G[renzen] d[er] bl[oßen] V[ernun]ft. Sonst ist mir nichts von handschriftl[ichen] Beständen aus Kants Nachlass am hiesigen Orte bekannt. Was Dorpat betrifft, so besitzt die dortige Universitäts-Bibliothek 2 starke Bände mit Briefen an Kant, von denen ich den einen zur Abschrift hier gehabt, und den andern Sintenis copirt behufs der oben erwähnten Ausgabe von Kant’s Correspondenz. Einzelnes ist daraus bereits von Sintenis sowie von mir in der Altpr[eußischen] Mon[atsschrift] veröffentlicht. Ueber die dort noch vorhandenen Lehrbücher für Kants Vorlesungen kann Prof. Benno Erdmann die beste Auskunft geben, der bereits Einiges in seinen Reflexionen Kants zur Kritischen Philosophie veröffentlicht hat.14 Aus Hamburg weiss ich nur zu berichten, dass der dortige Pastor Dr. Alb[recht] Krause das nachgelassene grosse aber leider nur fragmen­tarische M[anu]sc[ript] Kants vom Uebergange von den metaph[ysischen] Anf[an]gs­ gr[ünden] der Naturwissensch[aft] zur Physik besitzt,15 aus welchem ich den grössten Theil in den Jahrg[än]g[en] 1882–188416 der Altpr[eußischen] Mon[atsschrift] veröffentlicht habe, Fortsetzung u. Schluss zu geben aber leider in Folge von Zerwürfnissen mit dem jetzigen Besitzer zur Zeit be­hindert bin. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Rudolf Reicke an Dilthey

207

Ich weiss nicht, ob Ihnen diese meine Mittheilungen in Betreff der angeregten Frage nach dem Nachlasse Kants genügen werden; sollten sie es nicht, so bin ich gern bereit weitere Auskunft zu ertheilen. Wenn Sie aber unter „Bestand der Kantschen Hinterlassenschaft“ noch andere als handschr[iftliche] Bestände meinen, so werde ich wol kaum in der Lage sein, darüber Auskunft geben zu können; es müssten denn etwa die silbernen auf Kant geprägten Medaillen sein, das Diplom für Kant als Mitglied der Petersburger Academie, ein paar Gedichte auf Kant auf Atlas gedruckt u. in Sammt u. Seide gebunden (das eine von Reinhold Lenz ist in der Altpr[eußischen] Mon[atsschrift] 1867 abgedruckt)17 u. vielleicht noch einige Kleinigkeiten, auf die ich bisher nicht geachtet habe. Voll Verehrung Ihr ganz ergebenster Rudolf Reicke. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 252, Bl. 275–275 R und 289–290 R; Erstdruck: Stark, S. 73–74. – Einen Teil dieses Briefes von R. Reicke hat D. wörtlich aufgenommen in seinen Aufsatz Archive der Litteratur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie, in: AGPh 2 (1899), S. 343– 367, hier S. 356–357; vgl. GS IV, S. 555–575, hier S. 566. 1 Im Erstdruck: „Hochgeehrter“. 2 Nicht überliefert. 3 Vermutlich ging das Schreiben damals zunächst irrtümlich an den Breslauer Kirchenhistoriker Carl Franklin Arnold (1853–1927) und nicht an Emil Arnoldt (1828–1905): Philosoph, Privatgelehrter und Kant-Forscher; 1853 Promotion, 1874 Habilitation. – Der Brief D.s ist nicht überliefert. 4 Im Erstdruck: „verschiedenen“. 5 Friedrich Wilhelm Schubert (1899–1868): Historiker; 1823 a. o. Prof. in Königsberg und Berlin, 1826 o. Prof. in Königsberg. – Karl Rosenkranz (1805–1879): Philosoph; 1831 a. o. Prof. in Halle, 1833 o. Prof. in Königsberg. – Kant’s Sämmtliche Werke. 12 Bde. Hg. von K. Rosenkranz und F. W. Schubert. Leipzig 1838–1842. 6 Johann Adolf Eberhard (1739–1809): Philosoph; 1763 Gymnasiallehrer, 1778 o. Prof. der Philosophie in Halle; Kant-Kritiker. 7 Johann Friedrich Gensichen (1759–1807): Mathematiker; Prof. in Königsberg; Freund Kants und Erbe seiner Bibliothek. – Nach dem Tode Gensichens wurde seine Bibliothek, zusammen mit der von Kant ererbten, im Februar 1808 versteigert (vgl. hierzu Stark, S. 29 f.). 8 Friedrich Johann Buck (1722–1786): Philosoph und Mathematiker; 1741 Promotion, 1743 Magister; 1747 Inspektor der Königsberger Stadtbibliothek, 1748 zweite Promotion, 1753 unbesoldeter a. o. Prof. in Berlin, 1758 o. Prof. für Logik und Metaphysik, 1770 o. Prof. für Mathematik in Königsberg. – Christian Friedrich Reusch (1778–1848): Verwal© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

208

Christoph Ferdinand Heinrich Pröhle an Dilthey

tungsjurist; 1803 Assessor bei der preuß. Regierung in Königsberg, 1815 Oberpräsidialrat, 1824 Kurator an der Universität Königsberg. 9 Franz Leopold Friedrich Sintenis (1835 oder 1836–1911): Pädagoge; Oberlehrer in Dorpat; Hg. von Briefen Kants in den 1880er Jahren. 10 Samuel Gottlieb Wald (1762–1828): ev. Theologe; 1783 Magister der Philosophie, 1786 Prof. der griech. Sprache in Königsberg, 1793 o. Prof. der Theologie und der griech. Sprache ebd., später zudem Prof. für Geschichte und Rhetorik ebd. – R. Reicke (Hg.): Kantiana. Beiträge zu Immanuel Kants Leben und Schriften, in: Neue Preuß. Provinzialblätter. 3. Folge, Königsberg 1860 (als Seperatdruck in demselben Jahr erschienen). 11 Kants Kritik der reinen Vernunft. Aus Kants Nachlaß. Hg. von B. Erdmann. Kiel 1881. 12 Johannes Reicke (1861–1941): ältester Sohn Rudolf Reickes; Bibliothekar in Göt­ tingen. – Kant’s Rede „De medicina corporis quae Philosophorum est“, in: AMS 18 (1881), S. 293–309. 13 Der Pädagoge K. Kehrbach (1846–1905) gab zwischen 1877 und 1884 die Hauptwerke Kants in Reclams Universalbibliothek heraus. 14 B. Erdmann (Hg.): Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie. Aus Kants handschriftlichen Aufzeichnungen. Zweiter Band: Reflexionen Kants zur Kritik der reinen Vernunft. Leipzig 1884. 15 Caesar Ernst Albrecht Krause (1838–1902): Hauptpastor in Hamburg. – Das nach­ gelassene Werk Kant’s: Vom Uebergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik mit Belegen populär-wissenschaftlich dargestellt. Frankfurt /  Main 1888. – Ein ungedrucktes Werk von Kant aus seinen letzten Lebensjahren. (Uebergang von den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik). Als Manuscript hg. von R. Reicke, a. a. O. 16 Im Erstdruck: „1882–1889“. 17 Der Dichter Jacob Michael Reinhold Lenz (1751–1792), der in Königsberg Vorlesungen Kants gehört hatte, schrieb eine Ode an Kant: Als Sr. Hochedelgebohrnen der Herr Professor Kant, den 21sten August 1770 für die Professor-Würde disputirte, in: R. Reicke: Reinhold Lenz in Königsberg und sein Gedicht auf Kant, in: AMS 4 (1867), S. 647–658, hier S. 655–658.

[725] Christoph Ferdinand Heinrich Pröhle1 an Dilthey   Verehrter Herr Professor

Berlin 14. Januar 1889.

Ihre Bestrebungen in Bezug auf Archive für Litteratur haben mich sehr interessiert.2 Das Gleim’sche Archiv in Halberstadt habe ich seit mehr als dreißig Jahren durchforscht und den wesentlichen Inhalt in meinem Buche über Gleim (10 Bogen Biographie und 30 Bogen Anhang von Briefauszügen) niedergelegt, welches ich gern noch publicieren möchte.3 Der Herr Minister4 un© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

209

Herman Escher an Dilthey

terstützte es wiederholt und ich möchte Sie bitten Ihre etwaigen Unternehmungen so wie die der Gesellschaft so zu richten, daß die Publication meines umfassenden Werkes dadurch nicht ausgeschlossen, überhaupt nicht gehindert wird. Da der Klopstockverein (das Klopstockarchiv) zu Quedlinburg mein Werk ist, so halten Sie mir diese Bitte in Bezug auf Gleim zu gute. Auch Scherer war der Ansicht, daß mein Buch über Gleim erscheinen müsse, ebenso schon Wilhelm Grimm. Mit der Bitte mich Ihrer Frau Gemahlin zu empfehlen, mit welcher ich kurz nach Julian Schmidt’s Tode5 einige Worte in dessen Hause gewechselt zu haben glaube, Ihr hochachtungsvoll ergebenster Pröhle. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 255, Bl. 11–12 R. 1 Der Lehrer und Schriftsteller Christoph Ferdinand Heinrich Pröhle (1822–1895), der 1858–1890 Gymnasiallehrer in Mühlheim / Ruhr, später in Berlin war. 2 Wahrscheinlich ist diesem Brief ein Schreiben D.s an Ch. F. H. Pröhle vorausgegangen, in welchem D. sein Vorhaben der Gründung von Archiven für Literatur vorgestellt hat, denn D. hielt seinen Vortrag über Archive der Litteratur in ihrer Bedeutung für das S­ tudium der Geschichte der Philosophie am 16. Januar 1889, Pröhles Brief aber ist bereits vom 14. Januar 1889. 3 Vgl. Ch. F. H. Pröhle: Lessing, Wieland, Heinse: Nach den handschriftlichen Quellen in Gleims Nachlasse dargestellt. Berlin 1879. Ein weiteres Buch Pröhles über Gleim wurde nicht publiziert. 4 G. von Goßler. 5 Der Literarhistoriker Julian Schmidt war am 27. März 1886 gestorben.

[726] Herman Escher an Dilthey Stadtbibliothek Zürich.

Z[ürich] 25 II 1889 Herrn Prof W Dilthey Berlin.

In der Allg[emeinen] Schweizer-Zeitung vom 24 II lese ich soeben einen Auszug aus einem Vortrage, den Sie in der literarischen Gesellschaft über Archive für Literatur gehalten haben. Da ungemeinlichsterweise der Gegenstand mich © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

210

Dilthey an Herman Grimm

ganz speciell interessiert, so gestatten Sie mir wol die Anfrage, ob Ihr Vortrag od[er] genauere Ausführungen über den von Ihnen behandelten Gegenstand gedruckt erscheinen werden u wo. Empfangen Sie zum voraus meinen verbindlichsten Dank u die Versicherung vollkommener Hochachtung Herman Escher. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 255, Bl. 111.

[727] Dilthey an Herman Grimm   Lieber verehrter Freund!

[Ende Februar 1889]

Ich hätte Ihnen eine Welt zu schreiben aber die Zeit u. dies Blatt schränken mich darauf ein heut nur Ihnen zu sagen, daß wir, Mann u. Frau, Ihre Aufsätze mit sehr großer Freude gelesen haben. Insbesondere freue ich mich nunmehr mit der Hauptfrage des letzten Aufsatzes, der Schulfrage, ganz einverstanden zu sein.1 Beifolgende Erklärung wird gewiß ganz in Ihrem Sinne sein und ich bitte nur sie mir umgehend unterschrieben zurück zu senden.2 Mir hat das Geschenk eines Herrn Krohn, zur Begründung einer Art Aca­ démie française, eine große Bewegung hervorgerufen, von der ich die heilsamsten Folgen von uns Allen erhoffe;3 zunächst ist heute Weinhold4 aus Breslau hier, um wegen seiner Übersiedelung nach hier zu verhandeln; wir essen heut mit ihnen bei Althoffs. Was ist das denn mit Schwendorfer[?] für eine Teufelei?5 Es scheint, daß derselbe nicht wieder nach Breslau zurück kann, nach der Art wie er von dort fortgegangen ist, und mich will auch dünken er will nicht zurück; solche unruhigen Personen sind immer gefährlich. Uns geht es leidlich; mit meiner Frau geht es sehr langsam; ich bin fleißig an meinem Buch, ein paar Aufsätze schicke ich Ihnen in diesen Tagen. Dieser Winter war besonders reich an Evenements,6 schreiben lassen sich die Sachen schwer, doch ich werde es aber nächstens versuchen; senden Sie mir nur Ihre genaue Adresse. Die Akademie[-]Vorschläge pausieren; aber wenn die Dummheit mit einer besonderen Académie française in den Brunnen fällt, wie schon sicher ist, und es uns anstatt dessen gelingt, eine Erweiterung unsrer historischen Abteilung in nationalem Sinne herbeizuführen, und so unsre preußische Akademie zu © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Herman Grimm

211

einer deutschen, wirkenden, mit der Nation in Beziehung stehenden, Schritt für Schritt zu machen, dann wird hierdurch auch Ihre Sache in erwünschtem Sinne, und in für Sie ehrenvollster Weise erledigt. Nächstens mehr darüber und derselbe alte getreue

Wilhelm Dilthey

Bitte nochmals dringend um genaue Angabe Ihrer Adresse wo Sie sind! – Original: Hs.; Diktat D.s von unbekannter Hand; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Br. 935. 1 H. Grimm: Die deutsche Schulfrage und unsere Classiker, in: DRS 55 (1888), S. ­257–281. 2 Nicht überliefert. 3 Im August 1888 hatte das Ministerium des Inneren der königl. AdW zu Berlin ein Schreiben zur Begutachtung vorgelegt. Es enthielt die Mitteilung, dass ein Herr Krohn aus Güstrow sich an den Reichskanzler gewandt habe, mit dem Angebot, 100.000 Mark zur Errichtung einer Deutschen Akademie in Berlin zu stiften. Im Oktober 1888 setzte die Akademie daraufhin eine Kommission zur Prüfung dieser Angelegenheit ein. Nach deren und weiteren Beratungen in der Akademie war sich die Mehrzahl der Akademiemitglieder darüber einig, dass man keine Nachahmung der Académie française wolle. Doch Einigkeit über die Verwendung der in Aussicht stehenden Mittel konnte in den darauffolgenden Monaten nicht hergestellt werden. Ein Vorschlag, den auch D. unterstützte, war, das Geld für eine Krohn-Stiftung für Deutsche Sprache und Litteratur oder eine Reichsanstalt für Deutsche Sprache zu verwenden, welche der Erforschung der Deutschen Sprache und Literatur sowie der Herstellung von Editionen herausragender deutscher Schriftsteller dienen sollte. – Auf die von der Akademie schließlich 1889 abgesandten Gutachten erfolgte keine Antwort. Das Angebot des Herrn Krohn wurde wohl zurückgezogen. (Vgl. zu diesem Vorgang: Geschichte der Königl. Großpreuß. AdW zu Berlin. Im Auftrage der Akademie bearbeitet von A. Harnack. Bd. II. Berlin 1900, S. 603–614). 4 Der Philologe Karl Gotthelf Jacob Weinhold (1823–1901) wechselte 1889 von Breslau nach Berlin. 5 Nicht zu ermitteln. 6 Ereignisse.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

212

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

[728] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Mein lieber Freund,

[Ende Februar 1889]1

Herzliche Glückwünsche zu Ihrem Geburtstag. Sie feiern ihn diesmal bei der Tochter und dem Enkel. Wie gern hätten wir diese Feier getheilt. Möge das neue Jahr Ihre Arbeit fördern. Sie wissen wie mein ganzes Herz dabei ist, daß was Sie lange in Kopf und Herzen haben auf das Papier komme. Sie sind das uns allen schuldig. Und einen Dienst werden Sie mir insbesondere damit leisten. Eben komme ich vom Mittagessen bei Althoff, wo wir Weinhold ange­ toastet haben, der nun Ostern hierher kommt. Wie gedenke (ich) täglich der schönen Zeit mit Ihnen! Wie vermisse ich Sie täglich! Ich schreibe diese Zeilen in der Prüfung Geflüster. Gestört von Neun Examinirenden und Plaudernden um mich. Und ich muß den Brief fort­ schicken, da ich jeden Augenblick zum Examen kommen kann. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 62; die beiden letzten Sätze des Briefes wurden aus den Korrekturbögen (Juni–August 1923) von BDY ergänzt. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen.

[729] Friedrich Wilhelm Schirrmacher1 an Dilthey Hochverehrter Herr College! Zu meinem großen Bedauern hinderten mich massenhafte Arbeitsansprüche der letzten Tage, Ihre geschätzte Anfrage umgehend zu beantworten. Das unserer Univ[ersitäts-] Bibl[iothek] gehörige M[anu]s[kript] „Von der Philosophie als einem System“ ist mit einem Schreiben Kants, Königsberg, d[en] 18. Aug[ust] 1793 (von welchem wir leider nur eine Abschrift be­sitzen, das Original schenkte Beck 2 laut einer eigenen Eintragung an einen Engländer, Namens Semple3) an Beck übersandt worden. Es ist nicht von Kants Hand, jedoch von derselben vielfach verbessert und mit zahlreichen Rand­ bemerkungen und Erweiterungen versehen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Friedrich Wilhelm Schirrmacher an Dilthey

213

Das, was Beck in seinem edierten Auszug ausgelassen hat, ist recht ansehnlich und im M[anu]s[kript] mit Bleistift angestrichen. Die Randbemerkungen Kants sind hierbei, soweit ich es oben verfolgt habe, stets mit aufgenommen. Die Annahme unseres Herrn Collegen B. Erdmann über Art und Weise der von Beck beliebten Änderungen trifft keineswegs zu. (Cf. Kant’s Kritik d[er] Urth[eilskraft] XVI)4 Ich will das Verfahren durch ein Beispiel verdeutlichen. Der Abschnitt „Von der Aesthetik des Beurtheilungsvermögen[s“] (Erdmann p. 355) findet sich im M[anu]s[kript] ohne alle Veränderung (nur daß dieser Abschnitt als der VIII bezeichnet ist) bis p. 363, doch in der abweichenden Weise, daß in diesem die ganze Folge von: „Hier ist nun vorzüglich nöthig[“] (Erdmann S. 359) bis zum Schluss unter einer Anmerkung steht. Dagegen hat Beck eine von Kant gegen den Ausgang dieses Capitels gemachte, wichtige Ausführung fortgelassen und eben so das ganze folgende, sieben Folioseiten lange Capitel IX : „Von der teleologischen Beurtheilung“. Beck ändert nichts, er lässt nur ganze Abschnitte fort. Eben so fehlt der ganze Abschnitt  II, [„]Von dem System der obern Erkenntnissvermögen, das der Philosophie zum Grunde liegt[“]. – Einstweilen nur soviel. Als ich nach dem Jahre 1880 Erdmanns Edition in die Hände bekam und mit dem M[anu]s[kript] verglich, gedachte ich dieses vollständig herauszugeben und begann es abzuschreiben, bin aber durch andere Arbeiten völlig davon abgekommen. Dass seitdem unser M[anu]s[kript] in irgend jemandes Händen gewesen sei, wüsste ich nicht. Zum Schluss, hochverehrter Herr College, noch folgende Bemerkung. Heute erhielt ich von Ihnen eine Correspondenz-Karte, die offenbar für Herrn Prof. Erdmann bestimmt war.5 Die an ihn gerichtete Frage ist durch meine Ausführung erledigt, unerledigt muss ich leider die mir nicht aufgetragenen Grüsse an die Herrn Collegen Freudenthal und Erdmann lassen, dafür aber habe ich die Freude mich Ihnen selbst mit herzlichstem Gruss zu empfehlen. Ihr

aufrichtig ergebener Fr. Schirrmacher.

Rostock, d[en] 4. März [18]89. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 252, Bl. 237–238. 1 Friedrich Wilhelm Schirrmacher (1824–1904): Historiker und Bibliothekar; 1863 Prof. für Geschichte an der königl. Ritter-Akademie in Liegnitz / Schlesien, 1866–1904 o. Prof. in Rostock, ab 1886 zudem Erster und Ober-Bibliothekar der Universitätsbibliothek ebd. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

214

Arnold Schmidt an Dilthey

2 Jacob Sigismund Beck (1761–1840): Philosoph; Studium der Mathematik und Philo­ sophie in Königsberg (bei Kant), 1791 Magister und Doktor der Philosophie sowie PD, 1799 o. Prof. der Metaphysik in Rostock; Anhänger Kants. 3 John William Semple (?–1842): Übersetzer von Kants Grundlegung zur Metapyhsik der Sitten nebst Abschnitten aus anderen ethischen Schriften Kants. Edinburgh 1836; neue Aufl. unter dem Titel: The Metaphysic of Ethics. Edinburgh 1869. 4 Immanuel Kant’s Kritik der Urtheilskraft. Hg. von B. Erdmann. Leipzig 1880. 5 Nicht überliefert.

[730] Arnold Schmidt an Dilthey

Hochverehrter Herr Professor!

Berlin S[üd] Sebastianstr[aße] 25. 4. III. [18]89.

Da ich durch den Druck meiner Doktorarbeit bisher so sehr in Anspruch genommen bin, daß ich Ihnen über meine Durchsicht des Schopenhauerschen Nachlasses nicht mündlich berichten konnte, so möchte ich mir erlauben, Ihnen schriftlich Mitteilung darüber zu machen. Die 6 Bände Kollegienhefte, die sich unter den 16 Bänden des Nachlasses finden, sind diejenigen, welche Schopenhauer als Student in Göttingen und Berlin nachgeschrieben hat. Philosophische Vorlesungen hat er nur in seinem 3. Semester (W[inter] 1810⁄11) (Metaphysik und Psychologie bei Schulze;1 Nachlaß Bd 2.), in seinem 5. (W[inter] 1811⁄12) (Über das Studium der Philosophie und über die Thatsachen des Bewußtseins bei Fichte; Bd VI) [gehört], dann im S[ommer] 1812 Geschichte der Ph[ilosophie] während der Zeit des Christentums bei Schleiermacher (Bd. V; ebenda ein Auszug aus Boeckhs Kolleg über Plato nach einem Heft von Iken),2 schließlich im W[inter] 1812⁄13 noch einige Stellen aus einem Heft von Reinert3 über Fichtes Rechts- u. Sittenlehre. Die Diktate von Schulze sind am Rand mit Anmerkungen ­Schopenhauers begleitet, die er durch Ego als eigene bezeichnet. Meist notiert er ruhig eigene Gedanken oder kritisiert vom Standpunkt Kants aus. Im Heft über Psychol[ogie] (Bd II. Bogen 12 p 1.) äußert er sich aber so geringschätzig über seinen Lehrer, daß er ihn Rindvieh u. infernale Bestie nennt. Ebenso aburteilend und schmähend sind (fast) alle Anmerkungen zu Fichtes Kolleg über die Thatsachen des Bewußtseins. Z. B. findet sich dreimal das Citat: „Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.“ Oder Bogen 29 p 3 in einer Anmerkung die Worte: Fich­tesche © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Arnold Schmidt an Dilthey

215

Mißgeburten, wahnsinniges Geschwätz, sein Hirngespinst, rasender Unsinn; an andrer Stelle: Gallimathias,4 bei dem man sich nichts deutliches denken kann, seine Schüler zu Narren haben. Darnach läßt sich wohl nicht vermuten, daß Schopenhauer jemals der Fichte­schen Lehre (die er als Wissenschaftsleere bezeichnet) geneigt gewesen ist. Bd. 7–9 des Nachlasses sind eigene Ausarbeitungen zu seinen Werken, begonnen 1828, [18]30 u. [18]32; die andern Bände habe ich nicht eingesehen, doch läßt ihre Bezeichnung im Katalog nicht darauf schließen, daß es Hefte seien, nach denen er gelesen hat. Dagegen habe ich die Vorlesungsverzeichnisse nachgesehen und folgendes gefunden. Vom Sommer 1820 bis 1821 hat Sch[openhauer] dreimal „die gesamte Philosophie oder die Lehre vom Wesen der Welt u. des menschlichen Geistes“, dann im W[inter] 1821⁄22 „Dianöologie u. Logik, d. h. Theorie des Anschauens u. Denkens“ (publ[icum]) und im S[ommer] 1822 wieder die erste Vorlesung angezeigt. Vom W[inter] 1822⁄23 bis S[ommer] 1826 las er nicht, und dann vom W[inter] 1826⁄27 bis W[inter] 18331⁄32 mit unbedeutenden Änderungen des Titels „die Grundlegung zur Philosophie, begreifend Dianöo­logie u Logik, oder die Theorie der gesamten Erkenntnis“. Nach dieser Untersuchung des Schopenhauerschen Nachlasses denke ich möglichst bald an den von Nicolai5 und Francke6 zu gehen, doch möchte ich Sie, hochverehrter Herr Professor, noch bitten, mir gütigst darüber Auskunft geben zu wollen, in welcher Richtung dieser Nachlaß eine wünschenswerte und erfolgreiche Untersuchung erfahren kann, und auch ob beim Nachlaß Schopen­hauers vielleicht noch eine von mir übersehene Frage erledigt werden kann. Ich verbleibe mit vorzüglicher Hochachtung Ihr ergebenster Arnold Schmidt. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 37, Bl. 309–312 R. 1 Gottlob Ernst Schulze alias Aenesidemus-Schulze (1761–1833): Philosoph; 1783 Magister, 1788 o. Prof. der Philosophie in Helmstedt, 1810 in Göttingen; Lehrer Schopenhauers. 2 Carl Iken (1789–1849): Bremer Privatgelehrter für klass. Philologie; während seiner Berliner Studienjahre 1811–1813 benutzte Schopenhauer die handschriftl. Mitschriften von Iken zu August Boeckh’s Platonkolleg. – Vgl. Ueber Platon, Auszug aus einem Heft, das Iken in Boeckhs Collegio geschrieben. (StB PK Berlin, NL Schopenhauer, V, Bl. 167–170; http:// www.schopenhauersource.org). 3 Johann Baptist Reinert (1790–1853): schweiz. Jurist; Politiker und Staatsbeamter in Solothurn. – Vgl. A. Schopenhauer: Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden. Hg. von © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

216

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

A. Hübscher. Bd.  2: Kritische Auseinandersetzungen (1809–1818). München 1985, hier S. 237–244: Karakterische Stellen aus einem Heft des Reinert aus Solothurn in Fichte’s Kollegio über Rechtslehre 1812 geschrieben. 4 Verworrenes Geschwätz. 5 Friedrich Nicolai (1733–1811): Popularphilosoph, Schriftsteller und Buchhändler. 6 Georg Samuel Francke (1763–1840): ev. Theologe; Prof. in Kiel; Anhänger Ch. Wolffs.

[731] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund,

Klein-Oels den 7. März [18]89.

Nehmen Sie und Ihre verehrte Frau unseren herzlichen Dank für die freundliche Aufnahme Veronikas.1 Auch für den liebenswürdigen Brief habe ich zu danken. Zunächst bitte ich Sie der Vermittler dieses meines besten Dankes bei Ihrer Frau zu sein. Sobald ich Zeit habe, schreibe ich selbst. Hier fand ich natürlich eine Menge zu thun vor. Dies und eine Grippe, welche seit mehreren Tagen und noch heute meine Frau im Bette hält, haben die alte Gemüthlichkeit noch nicht aufkommen lassen. So, noch außerhalb des Para­dieses der Arbeit erweckte mir die Lektüre Ihres Grundrisses2 bis pag. 58, die mich gestern am späten Abende beschäftigte, eine wahre Sehnsucht nach bekannten Gefilden. Ich habe beim Lesen eine wahre Freude gehabt. Was nun das Ganze betrifft, so meine ich, daß innerhalb des Zweckrahmens eines biographisch-litterarischen Grundrisses die Arbeit eine überhaupt sowie insbesondere in hodegetischer3 Beziehung vortreffliche ist. Außerhalb dieses Rahmens liegt der aitiologische4 Gesichtspunkt, dessen Durchführung vielleicht auf die Struktur der Schrift, auf Werthung, Breite der Darstellung, Gewichtsvertheilung und Schätzung von Einfluß sein würde. Da aber diese Betrachtungsweise eine neue, die Resultate derselben, auch wo sie ausgesprochen, nicht festes Allgemeingut geworden, so konnte der Grundriß auch nicht in einen tieferen inneren Rapport mit Ihrem Buche von Ihnen gesetzt werden. Nicht so daß nicht eine Fühlung vorhanden sei, die Berührung zumal an einzelnen Punkten merklich, aber eine Durchdringung war ausgeschlossen durch die Stellung der Aufgabe und den Zweck der Schrift. Wenn ich nun bei einzelnen Bemerkungen doch von aitiologischem Gesichtspunkte mich leiten lassen sollte, so sehen Sie dies dem Interesse an dem von Ihnen behandelten Inhalte nach. Überdem bitte ich meine wenigen Bemerkungen als ‚unverantwortliche‘ anzusehen. Ohne Zeit zur Vorbereitung, zum Nachschlagen und zur Einsicht © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

217

in meine Notizen und momentan noch außerhalb des lieben Gedankenkreises erscheint mir jede Äußerung eine Kühnheit, die aber Ihre Freundschaft zu verantworten hat. p. l u. 2. moderne philologische Methode, scheint mir der Hinweis auf Winckel­mann und hinter Boeckh der Name Welcker5 zu fehlen. p. 3. am Ende: würde ich außer und vor Augustinus Origenes namhaft machen. p. 5. unter den Fragmentsammlungen würde ich neben Mullach Carsten aufführen.6 Als Quellen würde ich noch anführen Hippokrates und Hippolyt natürlich mit dem obligaten ‚Pseudo‘. Aufgefallen ist mir, daß Hippo­k rates überhaupt keine Erwähnung findet. p. 6. für die Geisteswissenschaften etc. wiederum Winckelmann, Wolf. Für Mathematik Cantor. p. 7. zu Thales aus phönikischem Geschlechte cf. Diels Archiv für Gesch[ichte] d[er] Philos[ophie] II. 2.7 p. 17. unvollkommene Sokratiker: Sokratiker strikter Observanz. p. 19. meines Erachtens muß Plato geradezu als Erfinder der Logik bezeichnet werden. Schriftstellerische Stadien, oder wenigstens innere Charaktere seines Schriftthums: 1. das dialektische 2. das logische 3. das konstruktive (politische). Hiermit ein Drittes zu Schleiermachers und Hermanns8 Auffassung oder vielmehr Resultat kausal-historischer Betrachtung gegenüber 1.  der aesthetischen Schleier­machers 2. der okkasionellen Hermanns. Ich wünschte daß diese beiden letzteren, vorliegenden, Gesammtauffassungen Platons als solche und als über den philologischen Spezialuntersuchungen liegend und sie beeinflussend in ihrer Gegensätzlichkeit hervorgehoben worden wären. p. 23. Wohl zu weit ginge es die bedeutendsten Arbeiten über die einzelnen Dialoge anzuführen. Wäre nicht übel. Daß die zweifelnde Dialektik das Übergewicht in der Akademie erlangte ist kurz erwähnt. Die Erklärung wäre sehr erwünscht. Mir scheint die Sache an sich noch ganz unaufgeklärt. Ich glaube daß die Schulbenennung Hinderniß der Einsicht ist. p. 10. trage ich zu Heraklit nach, daß Schuster und Teichmüller genannt werden müssen, wenn Lassalle Erwähnung findet.9 p. 27. Rhetorik des Aristoteles bezeichnet als Durchführung des Platonischen Gedankens. Verbirgt die diametrale Differenz, die Abhängigkeit des Aristoteles von Antisthenes und, früher, Gorgias,10 kurz der rhetorischen Technik, gegen welche in Opposition die metaphysische Grammatik Platons. Die Grammatik bleibt seitdem rhetorisch. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

218 p. 30.

p. 32.

p. 33.

p. 35. p. 36. p. 37.

p. 38. p. 49.

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

Allgemeine Charakterisirung des dritten Stadiums, scheint mir die derzeitige wesentlichste Bewußtseinsstellung: die Stoa nicht ganz zu treffen. Die Stoiker halten – nur so konnte das Platonische Weltbild verdrängt werden, so daß es wohl im weitesten Sinne psychologisch, nie mehr aber naturwissenschaftlich-mathematisch den Mechanismus verdrängen konnte  – eine großartige geschlossene Ontologie, von der die ethische Haltung ebenso abhängig war wie umgekehrt. ([F.] Ogereau, essai sur le système philosophique des Stoïciens. [Paris] 1885). Die Kraft lag in der Brauchbarkeit. Utilitarismus, der ein ethischer gewesen ist und wohl sein kann (Sokrates, A ­ ntisthenes, Stoa). Das Verhältnis der Epikureer und Stoiker scheint mir noch nicht aufgeklärt. In der Ontologie kaum große Differenzen. Leider wissen wir wenig von Epikur, nur das Außenwerk. Hier liegt eine Frage. Experiment im eigentlichen technischen Sinne haben, wie ich glaube, die Alten gar nicht gekannt. Zergliederung, Vergleichung und mathematische Bestimmung waren die einzigen Methoden dem Objekte nahe zu kommen. Dem Experimente liegt der Kraftgedanke zu Grunde. Ich finde nirgends den Vorgang. ich würde die Welterklärung des Demokrit nicht als die des sinn­ lichen Denkens bezeichnen. Dem Idealen steht das Mechanische gegenüber. Sinnlich beides oder keines. Ja die Bildlichkeit, εἶδος,11 sinnlicher als das Atom, dessen Gestaltsmoment nur im Zwecke wurzelt. Mir scheint daß wir noch immer sittlich und sinnlich in einen falschen Rapport setzen. Demokrits Standpunkt weniger sittlich, weil weniger frei und unlebendig, nicht weil sinnlicher. über Logos etc. Heraklits äußere ich mich nicht, weil dazu eine Darstellung das Recht geben müßte. desgleichen über den bedeutungsvollen, tiefen Einblick gewährenden terminus πρόληψις,12 der meiner Meinung älterer Provenienz ist. wäre schön gewesen eine kurze Hindeutung, wie die des ontischen Halts entbehrende Sittlichkeit als das Geziemende – Convention – gefaßt werden mußte ebenso wie aus demselben Grunde Wahrheit und Recht auf Koinonia13 gegründet. Neue neben der alten her­ gehende Art der Fassung des Naturrechts. Convention, Koinonie, common sense gehören zusammen. gelehrte Litteratur über die Skepsis fehlt. Cicero, Varro, Seneca vortrefflich. Essener von den Pythagoreern beeinflußt? Vorweltliche Materie auch semitisch. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

219

p. 50.

Philo scheint mir noch weit bedeutungsvoller als dargestellt. Eine hübsche nach Heinze erschienene,14 wenn auch nichts wirklich Neues gebende Arbeit von [Henry] Soulier, la doctrine du Logos chez Philon [d’Alexandrie. Turin] 1876. Übrigens bei Philo der Geist in Gestalt einer Taube. Daher also bei den Evangelisten. Litteratur über die Gnosis würde ich noch erwähnen Baur. p. 51. Nach Holtzmann und Harnack gehört innerlich und nach seiner Bedeutung Marcion nicht zu den Gnostikern,15 mit denen er im Wesentlichen nur die negative Stellung dem Alten Testamente gegenüber gemein hat. Seine Bestimmung des Demiurg aus ganz anderem Motive. Er hat etwas von einem Allonger.16 – Außerordentlich bedeutender Mensch.   Emanation kein allgemeiner gnostischer Begriff. Bei Philo nur bildlich und Abhängigkeit von Philo groß. So viel in Eile für heute. Es war mir eine große Freude wenn auch flüchtig wieder zu Ihnen zu reden. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr.  63.  – Der erste Abschnitt des Briefes wurde aus den Korrekturfahnen (Juni–August 1923) von BDY ergänzt. 1 Veronika Yorck von Wartenburg (1867–1959), Tochter Paul Yorcks. 2 D. hatte Yorck offensichtlich seinen Biographisch-literarischen Grundriß der allgemeinen Geschichte der Philosophie geschickt. Diesen Grundriß hatte D. erstmals 1885 für die Hörer seiner Vorlesung über die Geschichte der Philosophie drucken lassen. Im Sommersemester 1889 erfuhr der Grundriß eine 2. Auflage, weitere folgten 1893, 1897, 1898 und 1905. – WA des Grundrisses von 1905 in: GS XXIII, S. 1–160. 3 Wegführend. 4 Ursächlich, begründend. 5 Friedrich Gottlieb Welcker (1784–1868): klass. Philologe und Archäologe; 1809 o. Prof. für griech. Literatur und Archäologie in Gießen, 1816 in Göttingen, 1819 in Bonn; Gründer und Direktor der Bonner Universitätsbibliothek. 6 F. W. A. Mullach: Fragmenta philosophorum Graecorum. 3 Tle. Paris 1860–1881. – S. Karsten: Philosophorum graecorum veterum operum reliquiae. 2 Bde. Amsterdam 1835 und 1838. 7 H. Diels: Thales ein Semite?, in: AGPh 2 (1889), S. 165–170. 8 K. F. Hermann: Geschichte und System der platonischen Philosophie. Bd. 1. Heidelberg 1838. 9 Paul Robert Schuster (1841–1877): ev. Theologe, Philosoph, Philologe; 1873 a. o. Prof. für Philosophie in Leipzig. – Heraklit von Ephesus. Ein Versuch, dessen Fragmente in ihrer ursprünglichen Ordnung wiederherzustellen. Leipzig 1873. – G. Teichmüller: Neue ­Studien zur Geschichte der Begriffe. 3 Bde. Gotha 1876–1879, hier Bd.  1 und 2.  – F.  Lassalle (1825–1864): Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesus. Nach einer neuen Sammlung seiner Bruchstücke und der Zeugnisse der Alten dargestellt. 2 Bde. Berlin 1858. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

220

Rudolf Reicke an Dilthey

10 Gorgias von Leontinoi (ca. 483 v. Chr. – 375 v. Chr.): Rhetoriklehrer und Philosoph. 11 Form, Idee. 12 Vorwegnahme. 13 Gemeinschaft durch Teilhabe. 14 M. Heinze: Die Lehre vom Logos in der griechischen Philosophie. Oldenburg 1872. 15 Heinrich Julius Holtzmann (1832–1910): ev. Theologe; 1861 a. o., 1865 o. Prof. in Heidelberg, 1874 in Straßburg. – Die Gnosis und das Johanneische Evangelium, in: Die Anfänge des Christenthums. Beiträge zum Verständnis des Neuen Testaments. Ein Vortragszyklus gehalten im Berliner Unions-Verein im Winter 1877. Berlin 1877.  – A. ­Harnack: Grundriß der Dogmengeschichte. 2 Bde. Freiburg / Breisgau 1889–1891, hier Bd.  1: Die Entstehung des Dogmas und seine Entwickelung im Rahmen der morgenländischen Kirche. Freiburg 1889. 16 In BDY: „Alloger“. – Allonger (franz.): Verlängerer.

[732] Rudolf Reicke an Dilthey   Hochverehrter Herr Professor!

Königsberg 8. März [18]89

Auf Ihre am 6ten d[es] M[onats] gegebene und heute am 8ten erhaltene Karte1 erlaube ich mir sogleich folgendes mitzutheilen. Wenn ich auf Ihrer Karte des Adressaten Namen von Kants Brief vom 25. Juni 1787 Prof. „Schulz“2 richtig gelesen habe, so ist mir ein solcher bisher gänzlich unbekannt gewesen u. falls ein solcher Brief von Kant an Prof. Schulz in Jena wirklich existirt, ist mir natürlich sehr viel daran gelegen, eine getreue Abschrift davon zu erhalten. Mir will dies aber sehr zweifelhaft erscheinen: Ein Prof. Schulz in Jena, an den Kant geschrieben hätte, ist mir noch nicht vorgekommen; ich vermuthe, er wird Schütz heissen müssen, Prof. Schütz3 in Jena, der bekannte Redacteur der Jenaischen Allg[emeinen] Lit[eratur]Z[ei]t[un]g; ist dies so, dann ist der Brief Kants vom 25. Juni an ihn abgedruckt in Chr[istian] G[ott]fr[ied] Schütz[:] Darstellung seines Lebens hrsg. von seinem Sohne. Bd.  II (Halle 1835) S. 208–209, und hieraus wieder abgedruckt in der Rosenkranz-Schubertschen, wie den beiden Hartensteinschen Aus­ gaben der Werke Kants. Auffallender Weise ist aber bei allen als Datum der 25. Jan[uar] angegeben, was aber durchaus unzulässig ist, da Kant’s Brief eines fertigen Exemplars der 2ten Aufl[age] der Vernunftkritik gedenkt, in welcher das Vorwort jedoch erst im „Aprilmonat 1787“ unterzeichnet ist. Ist meine Vermuthung hinsichtlich des Prof. Schütz statt Schulz richtig, so wäre mir doch eine Vergleichung des Abdrucks mit dem Original mit genaue© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Rudolf Reicke an Dilthey

221

ster Angabe der etwaigen Abweichungen äußerst erwünscht u. ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie die Gewogenheit haben wollten, dies zu veranlassen. Und überaus dankbar bin ich Ihnen noch ganz besonders dafür, daß Sie mir diese Mittheilung gemacht haben, die ich als ein beredtes Zeichen Ihres Interesses ansehe, mit dem Sie meine beabsichtigte Ausgabe von Kants Brief­wechsel nicht nur erwarten, sondern auch begleiten. Für den Sep[arat]-Abzug Ihres Aufsatzes in der „Deutschen Rundschau“,4 den ich mit größtem Interesse gelesen habe und dessen Tendenz ich nur bil­ ligen kann, bin ich Ihnen zu freudigem Danke verbunden; ich erhielt ihn am 4ten d[es] M[onats]. Wenn Sie aber in Ihrer Karte anfragen, ob ich Ihren „ersten Aufsatz“ erhalten habe, so kann ich dies leider nur verneinen; es sollte mich freuen, wenn ich diesen auch noch erhalten könnte. Bei meiner ersten Antwort auf Ihre Anfrage nach handschriftl[icher] Litteratur auf unserer Bibliothek habe ich in meinem Eifer für Kant ganz über­ sehen, dass wir auch einen ziemlich beträchtlichen Theil Herbartscher Papiere besitzen als ein Vermächtniss der Wittwe Herbarts. Liegt Ihnen daran, Genaueres darüber zu erfahren, so bin ich gern bereit darüber zu berichten. Dr. Kehrbach5 benutzt dieselben für seine Herbart-Ausgabe und sie liegen zur Zeit in der dortigen Universitäts-Bibliothek; sie wären übrigens beinahe für uns verloren gegangen und dem schlimmsten Schicksal der Zerstreuung anheimgefallen, wenn ich nicht wie ein Spürhund dahinter gewesen wäre, was mir damals den Zorn des weiland Prof. Tuiscon Ziller6 in Leipzig eingetragen hat. Anderes, besonders die Briefe Herbarts, scheint verloren zu sein, woran ich aber unschuldig bin. Verehrungsvoll Ihr ganz ergebener dankbarer R. Reicke. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 252, Bl. 278–279 R. 1 Nicht überliefert. 2 Johannes Schultz (1739–1805): Prof. der Mathematik und Hofprediger in Königsberg; Anhänger Kants. 3 Christian Gottfried Schütz (1747–1832): Philosoph; 1773 a. o., 1777 o. Prof. in Halle; Anhänger und Briefpartner Kants. 4 D.: Archive für Litteratur, in: DRS 58 (1889), S. 360–375; WA in: GS XV, S. 1–16. 5 K. Kehrbach und O. Flügel (Hg.): Johann Friedrich Herbart. Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. 19 Bde. Langensalza 1887–1912. 6 Der Herbartianer Tuiskon Ziller war 1882 gestorben. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

222

Gustav von Goßler an Dilthey

[733] Gustav von Goßler an Dilthey Berlin, den 30. März 1889. Ministerium der geistlichen Unterrichts- und Medicial-Angelegenheiten Ew. Hochwohlgeboren sage ich für die mir mittelst gefälliger Zuschrift vom 6.  März d[es] J[ahre]s übersandten beiden Aufsätze1 meinen verbindlichen Dank. Ich habe dieselben mit vielem Interesse gelesen und werde die angeregte Frage wegen der Begründung von Literatur-Archiven noch zum Gegenstande weiterer Erwägungen in meinem Ministerium machen. Goßler An den Königlichen ordentlichen Professor Herrn Dr. Dilthey Hochwohlgeboren hier.2 Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14n, Nr. 2. 1 Nicht überliefert. 2 Bereits am 28. März 1889 hatte das von G. von Goßler 1881–1891 geleitete preuß. Kultusministerium an D. geschrieben: „Ew. Hochwohlgeboren danke ich verbindlichst für die unterm 6. d[es] M[onats] erfolgte freundliche Uebersendung Ihres Aufsatzes über die Bildung besonderer Archive für die deutsche Literatur, indem ich ergebenst hinzufüge, daß ich von den darin gemachten Vorschlägen für eine umfassendere und sachgemäßere Sammlung unserer Literatur mit besonderem Interesse Kenntniß genommen habe. Der Geheime Kabinets-Rath, Wirkliche Geheime Rath [Unterschrift unleserlich]“ (Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 n, Nr. 1).

[734] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff   Sehr verehrter Herr Geh[eime] Rath,

[Frühjahr 1889]

H[errn] Prof. Nehring1 habe ich immer ganz fern gestanden, so vermag ich nicht die gewünschte Auskunft zu geben. Jedenfalls kann ja doch der Zuschuß zu der wissenschaftlich hochgeachteten Zeitschrift2 kaum zurück­ © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

223

gezogen werden. Vertrauenswertheste Auskunft erhalten Sie von Prof. Weinhold über Alles was die arg vernachlässigte Breslauer Universität betrifft, deren große Be­deutung in nationaler Hinsicht, wie Sie wissen, eine meiner Lieblingsüberzeugungen ist. Weinhold’s reiner ächt deutscher Charakter u. intime (nur für den Schlesier so zu erlangende)  Kenntniß Schlesiens würde Ihnen in Bezug auf die von Ihnen berührte wie jede andere Frage von unschätzbarem Werthe sein, zumal ja leider der Kurator in sozialer wie wissenschaftlicher Rücksicht der Universität nur flüchtigste Beachtung schenkt. Verzeihen Sie diesen Stoß­seufzer! Verzeihen Sie die unwillkürliche Äußerung meiner alten Liebe für diese Gränzwacht des Ostens! Vielleicht daß die jetzt schwelenden politischen Erwägungen Ihnen eine Handhabe bieten, für die Bresl[auer] Universität zu erlangen was sie bedarf: eine Steigerung ihres moralischen Gewichts. Vor 20 Jahren bildeten Professoren mit höheren Offizieren Beamten u. Richtern ein zusammenhaltendes von nationalem Bewußtsein getragenes, die slavischen Elemente a­ ssimilirendes Ganze: was ist daraus geworden! In Verehrung u. Ergebenheit der Ihrige W. Dilthey Original: Hs.; GStA PK Berlin, HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, B Nr. 29 Bd 2, Bl. 166–167. 1 Władysław Nehring (1830–1909): Slawist; 1867 o. Prof. für slawische Literatur in Breslau. 2 Nicht ermittelt.

[735] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Hochverehrter Herr Geh[eime] Rath, da Herr v. Miaskowski1 sich gerade mit den theoretischen Grundlagen der polit[ischen] Ökonomie nicht schriftstellerisch befaßt hat sondern mit anderen mir fernliegenden Gebieten dieser Wissenschaft, so habe ich über ihn als Gelehrten mir leider kein Urtheil bilden können. Über seinen Erfolg als Docent habe ich keine Kenntniß. Als Mensch ist er mir im persönlichen Verkehr jederzeit liebenswürdig u. von feinen Formen erschienen, in amtlichen Beziehungen redlich, zuverlässig u. sehr eifrig. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

224

Dilthey an Herman Grimm

Mit lebhaftem Bedauern, über Ihre Hauptfragen nicht ausreichend unterrichtet zu sein, in Verehrung der Ihrige Wilhelm Dilthey B[erlin] 31⁄3 [18]89. Original: Hs.; Diktat D.s von der Hand Katharina D.s; GStA PK Berlin, HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, B Nr. 29 Bd. 2, Bl. 128–128 R. 1 August von Miaskowski (1838–1899): Nationalökonom; Dezernent in der baltischen Zivilverwaltung in Riga, 1871 Habilitation in Jena, 1874 o. Prof. in Basel, 1875 in Hohenheim / Stuttgart, 1881 in Breslau, 1889 in Wien, 1891 in Leipzig. – D. kannte Miaskowski aus seiner Breslauer Zeit.

[736] Dilthey an Herman Grimm Mein lieber Freund, Eben bekomme ich die erschütternde Nachricht daß Sie Ihre Frau verloren haben.1 So aus heiterem Himmel, wie unmöglich, als damals der Tod Scherers war. Ein Zusammenleben von Kindesbeinen an und in allem Höchsten und Schönsten, durch das Bedeutende ihrer Natur allen so nützlich, nun zerstört. Mein lieber Freund, jeder der an Sie mit Liebe denkt, wird nun das Eine wünschen: möchten Ihre physischen Kräfte, die ja nach Ihrer zarten Natur nur begränzt sind, nicht auf eine zu schwere Art in Anspruch genommen werden, wenn Sie so in der Ferne, wenn auch von Verwandten umgeben, das Alles tragen und dann sich in der neuen Einsamkeit einrichten müssen. Ich entbehre es tief nicht bei Ihnen zu sein. Verfügen Sie über mich ganz nach Ihrem Gefallen. Jetzt kommt alles darauf an, daß Sie Ihre Kräfte schonen, dem Gefühl der Einsamkeit sich nicht zu rücksichtslos überlassen, vielmehr das was für Sie noch zu thun ist, in’s Auge fassen. Ich habe Ihnen lange nicht geschrieben, da harte Zeiten waren. Die Auf­ lösung der lieben alten Tante, täglich zu erwarten, traf gegen Ende des Febru­ar ein, ich reiste sogleich nach Biebrich, u. dort ist dann das elterliche Haus nun definitiv aufgelöst worden. Angegriffen kam ich hier her. Um mich nur Arbeit. So kam ich nicht zur Stimmung, Ihnen zu schreiben. So schwer es Ihnen sein wird, in die vereinsamte Wohnung zurückzukehren: doch ist es das was Sie jetzt bedürfen, die alten lieben ruhigen Zimmer, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

225

Rudolf Reicke an Dilthey

das Amt, den Verkehr mit jungen Menschen, deren Leben erst anfängt und mit dem Ihren verbunden ist, die feste Stelle im Fluß menschlicher Ver­ änderlichkeit, die Ansprüche, die der einzelne Tag an Sie macht, die festen Verhältnisse, die Sie mit den gebliebenen Ihrigen u. den Freunden verbinden. Möchte ich doch bald vernehmen, mein lieber Freund, daß Sie ebenso fühlen. 5⁄4 [18]892 Burggraf[en]str[aße] 4.

In alter Treue, Ihr alter Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Br. 930. 1 Gisela Grimm starb am 4. April 1889. 2 D. schreibt: „5⁄3 [18]89“.

[737] Rudolf Reicke an Dilthey Hoch verehrter Herr Professor!

Königsberg 14. IV. [18]89.

Soeben habe ich Ihren interessanten Aufsatz über „Archive der Litteratur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Geschichte der Philo­ sophie“ in dem Archiv für Gesch[ichte] d[er] Philos[ophie] gelesen1 und wünsche nun nichts sehnlicher, als dass ich einen Abdruck davon meiner KantSammlung einfügen könnte. Sie werden es daher natürlich und verzeihlich finden, dass ich mich direct an Sie mit der ergebensten Bitte um gütige Zusendung eines solchen Abzuges wende. Aus Ihrem Aufsatz entnehme ich zu meiner grössten Verwunderung u. Freude, dass auf der Rostocker Bibliothek 7 Briefe Kants an Beck aus den Jahren 1791 u. [17]92 vorhanden sind; genau so viele kann ich aus dieser Zeit aus Erwähnungen in Beck’s Briefen nachweisen, die ich als Anhang zu meiner Schrift „Aus Kant’s Briefwechsel“ (K[öni]gsb[erg] 1885)2 veröffentlicht habe. Selbstverständlich werde ich sogleich an den dortigen Oberbibliothekar Herrn Prof. Schirrmacher die angelegentliche Bitte richten, mir die Originale auf kurze Zeit behufs Abschriftnahme auf die hiesige Königl[iche] Bibliothek zu © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

226

Hermann Usener an Dilthey

schicken; dass sie für mich von grösster Wichtigkeit sein werden, lässt sich aus den Beck’schen Briefen vermuthen. Sollten Sie die erwähnte kleine Schrift von mir noch nicht besitzen, dieselbe aber wünschen, so wird es mir zur grössten Ehre gereichen, Ihnen ein Exemplar zu übereignen. Wegen des angeblichen Briefes von Kant an Prof. Schulz in Jena d[e] d[ato] 25. Juni 1787 haben Sie wol noch keine nähere Auskunft erhalten? Noch eine Anfrage wollen Sie mir freundlichst gestatten: Kürzlich ist im Buchhandel erschienen: Dessoir, Karl Philipp Moritz als Aesthetiker (Berlin[.] Carl Dunckers Verl[ag]) 57 S[eiten]. gr. 8.3 Ich vermuthe, dass sie eine Berliner Doctor-Diss[ertation] ist. Verhält es sich so? u. ist das Ganze als Diss[ertation] gedruckt? u. kommt sie in den Tauschverkehr der Universitäten? Verehrungsvoll Ihr dankbar ergebenster R. Reicke. Original: Hs; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 252, Bl. 277–279. 1 AGPh 2 (1889), S. 343–367. 2 R. Reicke: Aus Kant’s Briefwechsel. Vortrag gehalten an Kant’s Geburtstag, 22. April 1885, in der Kant-Gesellschaft zu Königsberg. Mit einem Anhang enthaltend Briefe von Jac. Sigism. Beck. Beck an Kant u. von Kant an Beck, in: AMS 22 (1885), S. 377–449; auch separat erschienen. 3 Max Dessoir (1867–1947) Philosoph und Psychologe; Studium in Berlin und Würzburg, 1889 Promotion in Berlin (bei D.), 1892 Habilitation ebd., 1897 a. o., 1920 o. Prof. ebd. – Gr. 8 = Buchformat Großoktav. Es handelt sich um Dessoirs Dissertation.

[738] Hermann Usener an Dilthey Mein lieber W[ilhelm],

Bonn, 17. april [18]89.

… Und nun noch ein anderes anliegen. Mommsen schreibt mir dieser tage die hiobspost, dass das ministerium entgegen unseren sehr bestimmten anträgen uns als nachfolger nicht Oldenberg sondern …1 senden werde, um O[ldenberg] dann nach Kiel zu setzen.2 Ich weiss nicht, was der universität Kiel nun diese ehre verschafft (in Deinem falle hatte es ja die ranküne Sybel er© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Friedrich Wilhelm Schirrmacher an Dilthey

227

möglicht), und was unserer fakultät, nach dem schmerzlichen verlust K ­ ekulés3 nun nicht den zuwachs einer wissenschaftlich bedeutenden persönlichkeit verstattet. Blosse persönliche verstimmung A[lthoff]s gegen O[ldenberg] kann nicht der einzige grund sein; ich vermute irgendeine intrige, deren fäden vielleicht gar in Bonn endigen. Ich bitte Dich inständig, mit bekannter diplomatie von A[lthoff] zu erruieren was dahinter steckt. Sollte wirklich alle hoffnung vergeblich sein? Mommsen, der in solchen dingen bestens unterrichtet zu sein pflegt, betrachtet freilich die sache als vollendete tatsache. Ich kann Dir garnicht genug sagen, wie schmerzlich für mich besonders dieser lauf der an­ gelegenheit ist, wie viele hoffnungen damit zu grunde gehen; aber Du kannst Dir leicht denken, was für mich und meine studien ein wedenforscher von O[ldenberg]’s art bedeutet haben würde. Ist Carl noch bei euch? Dann grüsst ihn herzlich. Dir aber und den Deinen sende ich mit vielen treuen grüssen von haus zu haus die besten wünsche zum feste. Dein H. Usener Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 13. 1 Auslassung im Transkript. 2 Hermann Oldenberg (1854–1920): Indologe; 1881 a. o. Prof. für Sanskrit in Berlin. – 1889 wurde Oldenberg auf Betreiben Mommsens o. Prof. in Kiel (vgl. Rebenich / Franke, S. 207, Anm. 495). 3 Reinhard Kekulé von Stradonitz (1839–1911): Archäologe; 1870 a. o., 1873 o. Prof. für Alte Kunstgeschichte in Bonn, 1889 Direktor der Antikensammlung der königl. Museen in Berlin und Honorarprof. – Nachfolger Kekulés in Bonn wurde der klass. Archäologe Georg Loeschke (1852–1915), der seit 1879 Prof. für klass. Philologie und Archäologie in Dorpat gewesen war. Er lehrte bis 1912 in Bonn, danach in Berlin. – Zur Neubesetzung der Bonner Professur 1889 vgl. Rebenich / Franke, S. 315, Anm. 855.

[739] Friedrich Wilhelm Schirrmacher an Dilthey Hochverehrter Herr Kollege! Nach Empfang Ihres letzten Schreibens1 richtete ich schriftlich mit Übersendung des mir für ihn übersandten Briefes an Cand[idat] Schwarz2 die Frage in Betreff der Briefeabschriften und unmittelbar nach der Absendung erschien © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

228

Friedrich Wilhelm Schirrmacher an Dilthey

er, noch ohne sie erhalten zu haben, persönlich bei mir. Auf meine Anfrage erklärte er mir, wie ich mir das denken konnte, dass es ihm unmöglich sei, die Abschriften zu übernehmen. Sehr erklärlich, da er zu Hause, in dem Rostock nahen Klingendorf, ernstlich an seine Staatsprüfungs-Arbeiten gehen muss. Nur auf mein besonderes Dringen war er darauf eingegangen, die erste Abschrift zu übernehmen. So habe ich mich denn an einen Anderen gewandt. Dr. Schleker,3 welchen ich hier seit mehreren Semestern für die Bibliothek anlerne, hat sich bereit erklärt, die Briefe abzuschreiben und zwar soll das möglichst schnell geschehen, denn in Folge Ihrer Mittheilungen hat sich denn auch schon Herr Dr. Reicke mit dem Gesuch an mich gewandt ihm die Briefe nach Königsberg an die Univ[ersitäts-]Bibli[othek] zur Abschrift zu senden. Da Sie mich, wofür ich sehr danke, bereits darauf vorbereitet hatten, konnte ich ohne Bedenken auf sein Gesuch eingehen mit dem Vermerk, dass ich die Briefe zunächst für Ihren Gebrauch abschreiben liesse. Er war so freundlich, mir seinen mir bisher unbekannten Vortrag – Aus Kant’s Briefwechsel – zu übersenden, woraus ich sah, dass die mir vor Jahren gemachte Mittheilung, von unseren Kant-Beck’schen Briefen sei bereits für den Herausgeber der Kant’schen Briefe Abschrift ge­ nommen, auf einem Irrthum beruhte. In Folge Ihrer Anregung habe ich mich alsbald an die Anthropologie gemacht, einzelne Abschnitte des M[anu]s[ript]s mit der Ausgabe bei Rosenkranz4 verglichen, indessen keine Abweichungen gefunden, was mich aber nicht abhalten soll, den Vergleich weiter fortzusetzen, um Ihnen gelegentlich darüber zu berichten. Dabei will ich nicht unerwähnt lassen, dass ich aus dem Nachlass meines Vaters, der in Königsberg geboren war und auch dort studiert hat, ein vortrefflich geschriebenes Collegienheft der Anthropologie besass – irre ich nicht, so war der Zuhörer Kants später Prediger in Marienburg – welches ich durch meinen Fachgenossen Prof. Karl Hopf5 an die Königsb[erger] Univ[ersitäts-]Bibl[iothek] schenkte, nicht ohne zuvor den Inhalt mit der gedruckten Anthropologie verglichen zu haben, wobei sich starke Abweichungen ergaben. Da ich über den Empfang meines Geschenkes Seitens der Bibl[iothek] keine Mittheilung erhalten, ich auch in Ihrem Vortrage „Die Archive der Litt[eratur] etc“ S. 357 Collegienhefte nach Kant’schen Vorträgen nicht erwähnt finde, habe ich die Gelegenheit benutzt und bei Herrn Dr.  Reicke angefragt, ob die Univ[ersitäts-]Bibl[iothek] mein M[anu]s[kript] wirklich besitzt. Schliesslich kann ich Ihnen zu meiner grossen Freude über weitere Ent­ deckungen noch Folgendes berichten: Mit den Briefen K[ant]’s an Beck und der Einleitung der Kritik der Urteilskraft findet sich zusammengebunden „Metaphys[ische] Anfangsgründe © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Friedrich Wilhelm Schirrmacher an Dilthey

229

der Rechtslehre“, mit dem vorausgehenden Vermerk von K[ant]’s Hand, dass die in Veranlassung der Recension in den Götting’schen Anzeigen 28. Stück, 18. F[e]br[uar] 1797 geschriebenen Bemerkungen in der zweiten Auflage nach S. 159 der ersten eingeschaltet werden sollen. Ein Vergleich mit dem Druck ergab sehr erhebliche Abweichungen, so dass ich dafür halte, es müsse das ganze M[anu]s[kript], auch mit allen durchgestrichenen Stellen auf das correcteste abgeschrieben werden. Es wird mir eine grosse Freude sein, sobald ich nur6 etwas freiere Hand habe, die nicht leichte Arbeit selbst zu übernehmen. [2.] Folgt in dem die Anthropol[ogie] enthaltenden Manusciptenbande auf 9 Folioseiten von Kant’s Hand ein wichtiger Beitrag zur „Religion innerhalb der Grenzen etc“ enthaltend: ein Anschreiben, offenbar an die Theol[ogische] Facultät zu Königsberg: „Ich habe die Ehre Ew. Hochehrwürden drey philo­ soph[ische] Abhandlungen die mit der in der Berl[iner] Monatsschrift (Lücke)7 ein Ganzes ausmachen sollen, nicht sowohl zur Censur etc“ und danach zwei Vorreden, die ich nirgends in Kant’s Werken finden kann. [3.] Habe ich darin ebensowenig finden können das sich an Nr. 2 anschliessende M[anu]s[kript]: Über Kästners Abhandlungen, gleichfalls von K[ant]’s Hand, 6 Folioseiten, beginnend: „Stücke von eines Kästners oder Klügels Hand können jeder Sammlung einen Werth geben etc.“8 Soviel, verehrtester Herr Kollege für heute. An Gelegenheit zu weiteren Aeußerungen und Mittheilungen wird es uns sicherlich nicht fehlen.

Mit herzlichem Gruß hochachtungsvoll Ihr Fr. Schirrmacher

Rostock, d[en] 21. April [18]89. Wo nur die übrigen Briefe Kants an Beck hingekommen sind, da wir doch einen Theil derselben aus des Letzteren Nachlass durch Prof. Francke erhalten haben? Ich werde alles versuchen, ob, wenn möglich, dahinter zu kommen.9 Original: Hs; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 253, Bl. 86–87 R. 1 Nicht überliefert. 2 Nicht mehr zu ermitteln. 3 Ludwig Schleker (1849–1907): klass. Philologe und Bibliothekar; 1887 Bibliothekar an der UB Rostock, 1895 an der Stadtbibliothek Hamburg. 4 Karl Rosenkranz (1805–1879): Philosoph; 1833 o. Prof. in Königsberg; Schüler ­Hegels. – Kant: Sämmtliche Werke 12 Bde. Hg. von K. Rosenkranz und F. W. Schubert. Leipzig 1838–1842. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

230

Dilthey an Herman Grimm

5 Karl Hopf (1832–1873): Historiker und Byzantinist; 1858 a. o. Prof. und Bibliothekar in Greifswald, 1864 o. Prof. für Geschichte und Oberbibliothekar in Königsberg. 6 Im Original nachfolgend: „in“. 7 Entzifferungslücke in Kants Anschreiben an die Fakultät. 8 Abraham Gotthelf Kästner (1719–1800): Jurist, Mathematiker und Epigrammatiker; 1733 Notar, 1739 Habilitation, 1746 a. o. Prof. in Leipzig, 1756 o. Prof. der Naturlehre und Geometrie in Göttingen. – Georg Simon Klügel (1739–1812): Mathematiker und Physiker; 1763 Promotion in Göttingen, 1766 o. Prof. der Mathematik in Helmstedt, 1788 in Halle. 9 Postskriptum auf der ersten Seite des Originals über der Anrede.

[740] Dilthey an Herman Grimm   Lieber Grimm!

[Ende April 1889]

Aus der fremden Hand sehen Sie, daß ich meinen Augen wieder zu viel zugemuthet habe und daß sie rebelliren. Ich will dennoch keine Stunde ver­ streichen lassen, ohne Ihnen zu antworten.1 Unmittelbar nach Ihrem schweren Verluste, telegraphirte und schrieb ich Ihnen, Sie haben doch wol beides erhalten. Gern hätte ich Ihren früheren Brief 2 beantwortet, hätte ich gewußt, wo Sie finden? – Ich kann Ihnen nicht sagen, wie mich Ihr erster Brief3 und entsprechende Mitteilungen Ihres Bruders4 beruhigten, wie mich Ihre Absicht aus den gleichmäßigen Forderungen des Tages, wie das Amt sie mit sich bringt die unschätzbaren, darin liegenden Vorteile zu ziehen, glücklich machte. So mögen Sie denken, wie schmerzlich mich Ihr heutiger Brief 5 berührt; ich entnehme ihm mit Betrübniß wie körperlich angegriffen Sie sind. Und ich muß fürchten, daß das beste Mittel das Gleichgewicht in Ihrem Gemüth herzustellen, von Ihnen nicht wird angewandt werden können. Doch, wenn Sie auch ein paar Wochen später zu lesen beginnen: kommen Sie nur, fangen Sie an, die Freude an der Thätigkeit des Tages, an den jungen Gesichtern um Sie wird das ihrige thun. Mein lieber Freund, wir sind alle hier, wie sich’s der alte Fritz6 dachte, auf einer Art von Wachtposten. Wenn Sie zur Zeitung greifen, und nun von Östreich, von den um uns liegenden Staaten lesen, so fühlen Sie wol, daß wir Idealisten in denen die erhaltenden Kräfte der gesellschaftlichen Ordnung und zugleich ihrer Fortgestaltung lebendig sind, einen strengen Dienst haben; solange wir eben sehen, denken und schreiben können. Überzählen Sie, es sind © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Herman Grimm

231

unsrer nicht viel, und ohne Ihnen etwas Schönes sagen zu wollen, Sie sind ganz unentbehrlich. Auch glauben Sie ja, daß nicht ich allein so empfinde. Ihres tapferen Entschlusses freuten sich alle Ihre Freunde, nicht zu gedenken, daß sich vieles hier geebnet hat und es uns Ihrer Ankunft und Ihrer Thätig­keit bedarf; nur mündlich wird sich darüber sprechen lassen. Das ist meine Art die Sache anzusehen. Aber mein lieber Freund, wie könnte ich mir anmaßen zu beurteilen was Sie sich zutrauen? Dürfen Sie nicht kommen dann will ich gern Ihr chargé d’affaires7 sein und alles in Ihrem Sinne ausrichten, sorgen Sie nur, daß Sie wieder gesund werden. Ich war die Ferien sehr fleißig. Neue Ausgabe des Grundrisses, habe ich Ihnen den Aufsatz im Archiv gschickt? ich habe wichtige Kantpapiere gefunden und bereite ihre Veröffentlichung vor; will auch das Capitel über Schleier­machers Plato fertig machen und in der Akademie lesen; Dienstag den 30. fange ich zu lesen an.8 Meine Frau und der Junge sind auf 14 Tage nach Kösen, das Kleinchen gedeiht und wird jetzt von Muttchen unter Anwendung vieler warmer Decken, Abschluß von der Luft und ähnlichen nützlichen Maßregeln behandelt. Clärchen hat eine besondere Stube gekriegt, in welcher Sie sie als Kronprinzessin eingerichtet finden werden. Das Trippeln des lieben Jungen in allen Zimmern entbehre ich stündlich, Althoff ist sehr wol auf, Zellers haben ihren Sohn bei sich. Kekulé ist angelangt,9 und wer ein Stück Kunstangelegenheiten besitzt hält sich die Taschen zu, denn irgend Jeman­ dem muß er das abnehmen, was er bedarf. Das nächste Opfer ist Robert,10 der mal irgend wohin ins Exil gehen wird. Was mich betrifft, so trete ich in Scherers Fußstapfen und suche auf der Straße Personen, die aus Handschriften von Philo­sophen Monographien machen wollen; wichtiger ist, daß ich besser schlafe. Brentano ist in Leipzig erschienen,11 er fällt stets auf die Butterseite, selbst wenn er von einem Thurm fiele. Soviel heute mein lieber Freund, Ernst und Tagesgeschwätz durcheinander; möge es Sie getrösteter finden. Treulich Ihr Dilthey Original: Hs.; Diktat D.s von fremder Hand; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Br. 919. 1 Der vorausgegangene Brief Grimms ist nicht überliefert. 2 Nicht überliefert. 3 Nicht überliefert. 4 Robert Grimm. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

232

Friedrich Wilhelm Schirrmacher an Dilthey

5 Nicht überliefert. 6 Der preuß. König Friedrich II. (1712–1786), gen. Friedrich der Große oder der „alte Fritz“. 7 Geschäftsträger. 8 D. las im SS 1889: Allgemeine Geschichte der Philosophie mit ausführlicher Darstellung der neueren (5std.), Geschichte und System der Pädagogik (3std.) und hielt Übungen aus dem Gebiet der Geschichte der neueren Philosophie ab. – Den Vortrag über Schleiermachers Platon hielt D. erst am 6. Januar 1898 in der königl. AdW zu Berlin. 9 R. Kekulé von Stradonitz’ Ernennung zum Direktor der Antikensammlung der königl. Museen und zum Honorarprof. wurde am 2. Mai in der Fakultät bekannt gegeben. 10 Carl Robert (1850–1922): klass. Philologe und Archäologe; 1873 Promotion, 1876 Habilitation in Berlin, 1877 a. o., 1880 o. Prof. in Berlin, 1890 in Halle. 11 L. Brentano wechselte 1889 von Wien nach Leipzig.

[741] Friedrich Wilhelm Schirrmacher an Dilthey   Hochverehrter Herr College! Hiermit überreiche ich Ihnen die gewünschten Abschriften, die schon eher eingetroffen wären, wenn nicht Herr Schleker seine Arbeit durch eine mehr­ tägige Reise hätte unterbrechen müssen. Ich habe dieselben mit den Originalen verglichen und nichts auszusetzen gefunden. Herr Sch[leker] ist ein fast ängstlich genauer Abschreiber. Sollte es sich nach Ihrem Wunsch um Abschriften der übrigen Kant-Manuscripte handeln, so würde Herr Sch[leker] die Arbeit gerne übernehmen. Über die Anthropologie werde ich Mittheilungen machen sobald ich nur zur Vergleichung etwas freiere Hand habe. Mit herzlichem Gruß hochachtungsvoll Fr. Schirrmacher Rostock, d[en] 6. Mai [18]89. Original: Hs; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 252, Bl. 239.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Ludwig Schleker an Dilthey

233

[742] Ludwig Schleker an Dilthey

  Verehrter Herr Professor!

Rostock, St. Georgstrasse Nr. 3. 12. 5. 1889.

Seit gestern im Besitz Ihres geehrten Schreibens vom 10ten d[es] M[onats]1 teile ich Ihnen ergebenst mit, daß ich mit der Ausführung Ihres Auftrages morgen beginnen werde. Die beiden ersten Teile der Arbeit hoffe ich bis zum 20ten Mai fertig zu schaffen, erhebliche Schwierigkeiten bereitet, soweit ich die Sache bisher übersehen habe, nur eine mit ungewöhnlich kleiner Schrift geschriebene Randglosse. Ihrem Wunsche entsprechend glaube ich zu verfahren, wenn ich bei der Abschrift das Ende jeder Zeile des Originals durch zwei Striche //, das Ende jeder Seite des letzteren durch ein Kreuz bezeichne †. Die Zeichen sind so gewählt, daß sie ein anderes Aussehen haben als diejenigen Zeichen im Original, die auf eine Bemerkung des Verfassers hinweisen; die Zahl der auf jeder Seite des ­Originals befindlichen Zeilen werde ich angeben und überhaupt auf einem besonderen Bogen zugleich mit Absendung der Arbeit an Sie einige Bemerkungen zwecks Vermeidung etwaiger Mißverständnisse vorausschicken. Es wird mir eine Freude sein, wenn es mir gelingt, auch diese Arbeit in einer Sie zufriedenstellenden Weise anzufertigen. Mit vorzüglicher Hochachtung zeichne ich, Ihr sehr ergebener Dr. L. Schleker. Original: Hs; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 252, Bl. 15a–15a R. 1 Nicht überliefert.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

234

Hermann Usener an Dilthey

[743] Hermann Usener an Dilthey Liebster W[ilhelm]

Bonn, 19. mai [18]89.

… Ich habe schwere arbeit in diesem semester durch 2 sozusagen neue vorlesungen (darunter eine über Epikur-Lucretius), seminar examina u. a. Und gerade in dieser woche kam ich nicht zum aufschauen. Daher meine ver­spätete mitteilung. Ich freue mich sehr auf die ausspannung der pfingsttage; wahrscheinlich treffe ich mich mit Carl in Weimar. Für die insorr. att. II 3 v[on] supplement werde ich Dir sehr dankbar sein, und werde suchen das mir fehlende (II 1,2) antiquarisch zu erwerben.1 Ich werde dann wohl sie mir selbst holen müssen. M[ommsen] macht sich eine besondere freude daraus mich bei A[lthoff] zu verhetzen; jetzt hat er, wie Lilly in erfahrung gebracht zum zweiten mal einen brief, worin ich mich stark über unser ministerium ausgesprochen, an die adresse A[lthoff]’s gebracht. Er tut es wohl zunächst um A[lthoff] auf eine für ihn selbst billige weise zu ärgern; dass er damit aber etwas recht wenig schönes tut scheint ihn nicht zu berühren. Mit treuem gruss Dein H. Usener. Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 14. 1 Aufgrund eines offensichtlichen Fehlers im Transkript nicht mehr eindeutig zu er­ mitteln. Möglicherweise ist gemeint A. Kirchhoff: Inscriptiones Atticae anno Euclidis ­vetustiores. Addita est tabula geographica conspectum civitatum societatis Deliae. Wien 1873.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

235

Rudolf Reicke an Dilthey

[744] Rudolf Reicke an Dilthey Hochverehrter Herr Professor!

Königsberg 31. Mai 1889.

Es ist mir eine wahrhaft wohlthuende Genugthuung, dass Sie meiner Edition der losen Blätter so viel Interesse schenken und wird mir dadurch die Freude, die ich während der ersten Lectüre als Herausgeber an ihnen empfand, erneut und erhöht. Die Ehre Ihrer Gunst ist mir die beste Belohnung für die oft nicht leichte Mühe des Lesens sowol wie auch des Datirens. Dass ich dabei nicht immer das Richtige getroffen haben mag, will ich gerne zugeben; im Grunde liegt dieses Bestimmen, wenn man so viel Handschriften Kants aus den verschiedensten Perioden, wie mir vergönnt ist, gesehen und geprüft hat, schliesslich doch im Gefühl und da muss dann wol das Beweisen aufhören. Auf den speciellen Fall Ihrer Anfrage1 eingehend erlaube ich mir folgendes zu bemerken. Von den in dem Duisburgschen Convolut2 befindlichen fünf für die K[öni]gl[iche] Bibliothek erworbenen Kant-Blättern No. 4–8 sind zwei Blätter chronologisch bestimmt, das eine mit absoluter Gewissheit, No. 4 als Concept zum Schreiben Kants an Geh[eimen] Rath Prof. Suckow3 betr[effend] seine durch ihn vermittelte Berufung nach Erlangen im Dec[ember] 1769; das andere No. 8 mit grösster Wahrscheinlichkeit: es kann wegen des Datums des benutzten Briefes nicht früher als Ende Mai 1775 geschrieben sein. Vergleicht man nun mit diesen die übrigen, so weist Nr. 5 die meiste Aehnlichkeit mit No. 4 auf und ist von mir wegen seines Inhalts noch früher, ins Jahr 1763 verlegt; Nr. 7 gleicht zu auffallend der No. 8; ich kann bei wiederholter Prüfung beide nur wieder in die 70er Jahre legen. Einen durchaus andern Character, den einer weit mehr ausgeschriebenen Hand trägt nun die frag­ liche No. 6; ich kann sie unmöglich in die 70er Jahre oder gar noch früher stellen; eine sorgfältige Vergleichung mit anderen fest datirten Autographen der 80er und aus dem Anfang der 90er Jahre zwingt mich, No. 6 so zu datiren wie ichs gethan habe; am ehesten würde ich mich für die letzten 80er Jahre entscheiden. Wenn Sie meiner Arbeit die grosse Ehre erweisen wollen, sie in der Akademie der Wissenschaften vorzulegen, so kann mir dies nur höchst willkommen sein, und ich werde die Ausführung Ihrer Absicht mit freudigstem Danke begrüssen. Die Beckschen Kantbriefe habe ich noch nicht erhalten; ich werde aber noch heute an Prof. Schirrmacher schreiben und sie mir für die Pfingstwoche, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

236

Friedrich Wilhelm Schirrmacher an Dilthey

wo ich die meiste freie Zeit haben werde, erbitten. Auf Ihre Publication im Archiv bin ich, wie Sie sich denken können, in hohem Grade gespannt;4 schon im Voraus bitte ich um einen Abdruck davon. Auf meine Anfrage wegen der Dessoirschen Dissertation über Karl Phil[ipp] Moritz als Aesthetiker deuteten Sie an, dass ihr Verf[asser] mir dieselbe gern übersenden wird; da dies bis dato nicht geschehen ist, möchte ich ihn sehr darum bitten, u. darf ich mir erlauben, es durch Sie zu thun? Mit ergebenstem Gegengrusse verehrungsvoll Ihr dankbarer R. Reicke. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 252, Bl. 286–287. 1 Ein entsprechendes Schreiben D.s ist nicht überliefert. 2 Handschriften aus dem Besitz des Arztes und Kunstsammlers Karl Ludwig von Duisburg (1794–1868), dessen Onkel Friedrich Karl Gottlieb von Duisburg (1764–1824) bei Kant studiert hat. 3 Simon Gabriel Suckow (1721–1786): Philosoph und ev. Theologe; 1745 a. o., 1752 o. Prof. der Philosophie in Erlangen, ab 1765 zudem o. Prof. für Mathematik und Physik. – Kant ging 1769 nicht nach Erlangen, sondern blieb in Königsberg. 4 D: Die Rostocker Kant-Handschriften. Herrn Professor Schirrmacher zugeeignet. I: Acht Briefe Kants an Jakob Sigismund Beck, in: AGPh 2 (1889), S. 592–650; WA unter Weglassung eines Teils der Einleitung D.s in: GS IV, S. 310–353.

[745] Friedrich Wilhelm Schirrmacher an Dilthey Hochverehrter Herr College! In Folge vielfacher Belastung während der letzten Woche muss ich mich heute auf Übersendung der von mir genau verfolgten Abschriften beschränken. Die Arbeit erforderte sehr große Sorgfalt, ohne welche sie werthlos blieb, dass sie von Dr. Schlecker in jeder Hinsicht geübt worden ist, davon habe ich mich überzeugt. Die von mir ausgestrichene Titelbezeichnung „Anthro­ pologie“ hat er irrthümlich gemacht. Im Lauf der nächsten Woche werde ich Ihnen bei freierer Zeit über das M[anu]s[kript] der Anthropologie berichten, nachdem ich durch eingehende Vergleiche mit den Drucken zu ganz klaren Anschauungen gekommen bin, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

237

Ludwig Schleker an Dilthey

desgl[eichen] über den manuscript[ischen] Anhang zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre. Mit herzlichem Dank erkläre ich [mich] mit den gütigen Vorschlägen Ihres letzten Schreibens1 durchaus einverstanden. Mit bestem Gruß Ihr Fr. Schirrmacher Rostock, d[en] 31. Mai [18]89. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 252, Bl. 236. 1 Nicht überliefert.

[746] Ludwig Schleker an Dilthey

Verehrter Herr Professor!

Rostock, St. Georgstr. 3. 6. Juni 1889.

Vorläufig übersende ich Ihnen Abschriften, beziehungsweise Auszüge aus Akten, die auf Thätigkeit und Lebensverhältnisse Becks Bezug nehmen. Irr­ thümlicher Weise ist er gelegentlich „Johann“ statt „Jacob“ genannt, in den Diplomen, die ich gesehen, steht nur der letztere Name. Morgen theile ich Ihnen auf Grund des Aktenmaterials die Belege für nachstehende Angaben sowie Anderes, was ich noch nicht habe feststellen können mit: Geboren ist B[eck] 6. Aug[ust] 1761 (wo?), gestorben am 29 August 1840 als Dekan der philos[ophischen] Fakultät i[n] Rostock. Am 9. Aug[ust] 1808 u. 1. Juli 1821 ist er zum Rector der Universität gewählt worden. Sein Anfangs­ gehalt 1799 ist auf 300 Thaler festgesetzt worden, nachdem zuvor die Landes­ regierung die Stadt zu einer nicht allzu kärglichen Besoldung aufgefordert hatte. – In vorzüglicher Hochachtung, Ihr sehr ergebener Dr. L. Schleker Original: Hs; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 253, Bl. 46–46 R. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

238

Ludwig Schleker an Dilthey

[747] Ludwig Schleker an Dilthey

Verehrter Herr Professor!

Rostock St. Georgstr. 3. 7. 6. [18]89.

Der großen Eile, mit der ich schreiben muß, bitte ich etwaige Flüchtig­keiten zu Gute zu halten. Es ist mir nicht – selbst nicht annähernd [–] möglich geworden, die Arbeit so weit zu fördern, als es mir gestern möglich schien, daher nur eine kurze Darstell[un]g des Vorfalles v[om] J[ahr] 1802, die Sie zu haben wünschten. Alles was ich schreiben werde stammt einzig u. allein aus hiesigem Stadtarchiv. – Beck schreibt a[m] 25 Juli 1802 an d[en] Bürgermeister Wiese, es sei eine Anfrage aus Potsdam an ihn gekommen, ob er einen Ruf als Pro­ fessor der Philosophie bei dem adeligen Cadettensohn in Berlin, falls er ihm gemacht würde annehmen oder ausschlagen würde. Er bittet ohne seine Absichten auszusprechen, hiervon dem Rath Anzeige zu machen. Am 22. Juli schreibt Prof. Ziegler1 an Dr. Joch (Mitglied des Raths). Es sei völlig gewiß, obgleich er es nicht von ihm selbst wisse, daß Beck ein[en] Antrag nach Berlin an d[as] Cadettencorps mit Gehalt v[on] 5002 u. freier Wohnung zu gehen, habe. Die Universität sei in Gefahr, ihren geschicktesten u. berühmtesten Professor zu verlieren. 30. Juli. Committeeprotokoll. Der Rath will auf alle Fälle den Fortgang B[eck]’s verhindern, schlägt eine Gehaltserhöhung von 200 zu den bisherigen 400 vor u. legt der Bürgerschaft dringend ans Herz, einen desbezüglichen Beschluß fassen zu wollen. 30. Juli. 2 Bürgerschaftssitzungen. Man erkennt die Bedeutung eine solche Kraft der Univ[ersität] zu erhalten an, beschließt aber nur eine Erhöhung des Gehaltes um 100. 9. August. (expediert a[m] 11ten) Bürgermeister und Rath theilen dies dem Professor Beck mit. Nach einigen Tagen antwortet Beck er nehme den Antrag v[on] Rath u. Bürgerschaft an, bleibe gern in Rostock, da es an jedem fremden Ort langer Zeit bedürfe, sich die gute Meinung derer zu erwerben, an deren Meinung einem recht denkenden Berufsmann gelegen sein müsse. – Meine Arbeit denke ich, falls ich nicht von Ihnen, verehrter Herr Professor darüber eine andere Anweisung erhalte folgendermaßen einzurichten. Äußere Lebensschicksale. Geburts- u Todestag, in Rostock bekleidete Nebenämter (Rectorat etc). – Erwähnung der Werke die er namentlich hier verfaßte, Erwähnung der Recensionen darüber; eine Abschrift der Recensionen © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Friedrich Wilhelm Schirrmacher an Dilthey

239

jedenfalls nur, wenn Sie mir das, nachdem meine Arbeit in Ihre Hände gelangt ist, besonders auftragen. Ich bitte sehr um Entschuldigung wegen der unschönen äußeren Form dieses Briefes, konnte es aber nicht besser machen, wenn ich das Eintreffen dieses Briefes mit dem Hamburger Nachtzuge gegen 6 Uhr früh bewirken wollte. Ihre Karte vom 6. Juni3 habe ich heute erhalten. Mit ausgezeichneter Hochachtung Ihr sehr ergebener Dr. L. Schleker. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 253, Bl. 45 und Bl. 44–44 R. 1 Werner Karl Ludwig Ziegler (1763–1809): ev. Theologe und Philologe; 1791 a. o. Prof. der Theologie in Göttingen, 1792 o. Prof. in Rostock. 2 Im Original folgt ein Kürzel für: Reichstaler. 3 Nicht überliefert.

[748] Friedrich Wilhelm Schirrmacher an Dilthey Hochverehrter Herr Kollege! Die hochgradige Hitze und Hetze der letzten Wochen hat nun doch leider meinen Vorsatz vereitelt, Ihnen schon am letzten Sonnabend über unsere beiden Kant-M[anu]s[kripte] „Anthropologie und erläuternde Bemerkungen“ Bericht abzustatten. Die erstere macht den Eindruck die Handschrift der Vorlesung zu sein, doch deckt sich der Inhalt, geringe Abweichungen ausgenommen, mit dem des ­Druckes. Die Paragraphen stimmen aber nicht überein. Fünf längere Streichungen enthält das M[anu]s[kript], welche wohl abgeschrieben werden dürften. Das zweite M[anu]s[kript] enthält auf halb gebrochenen Folioseiten von fremder Hand Abschrift der Recension in den Gött[ingschen] Anz[eigen], 28. Stück, 18. Febr[uar] 1797. Die frei gelassenen Halbseiten hat Kant zu den erläuternden Bemerkungen benutzt, oder, richtiger gesagt, benutzen wollen, denn, die Einleitung abgerechnet, beziehen sie sich in der Hauptsache nur auf N.° 2 des Druckes: Rechtfertigung des Begriffs von einem auf dingliche Art persönlichen Recht. In drei von einander abweichenden Ausführungen enthal© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

240

Friedrich Wilhelm Schirrmacher an Dilthey

ten sie bei weitem mehr als der Druck und sind aeußerst lehrreich in Bezug auf Kants Art und Weise zu arbeiten. Sobald Herr Dr. Reicke das M[anu]s[kript], welches er in dieser Pfingstwoche zur Abschrift der Briefe benutzt, zurückgeschickt hat, geht Herr Dr. Schlecker auch an diese Arbeit. Meine Nachforschungen nach dem Verbleib der weiteren Briefe Kants an Beck sind bis jetzt erfolglos geblieben, werden aber fortgesetzt. Hat sie Beck anderweit, nicht an Prof. Francke,1 verschenkt? Noch suche ich vergebens in den Akten nach einer Notiz darüber, ob unsere Kant-M[anu]s[kripte] wirklich alle von dem Letzteren an unsere Bibliothek kamen und wann? Vielleicht kann mir mein Amtsvorgänger, Otto Mejer,2 auf die Wege helfen.

Mit herzlichstem Gruß Ihr aufrichtig ergebener Fr. Schirrmacher.

Rostock, d[en] 11. Juni [18]89. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 252, Bl. 240–240 R; Erstdruck des letztes Absatzes des Briefes in: Stark, S. 49. 1 Friedrich Joachim Christian Francke (1795–1869): ev. Theologe und Philosoph; 1828 a. o. Prof. der Philosophie in Rostock. 2 Otto Mejer (1818–1893): Staats- und Kirchenrechtler; 1842 PD für Staats- und Kirchenrecht in Göttingen, 1847 o. Prof. für Kirchenrecht in Königsberg, 1850 in Greifswald, 1851 in Rostock, 1874 in Göttingen, 1885 Präsident des Landeskonsistoriums der Landeskirche Hannover.

[749] Friedrich Wilhelm Schirrmacher an Dilthey Hochverehrter Herr College! All’ die Arbeitshetze, die das ablaufende Semester mit sich gebracht hat, ließ mich nicht bisher dazu kommen, Ihnen so recht herzlich für Ihre gütige Zu­eignung zu danken.1 Die Freude des Genusses Ihrer Abhandlung habe ich mir natürlich sofort nach deren Empfang bereitet, dann aber kamen so viel amtliche Geschäfte, – Concilsitzungen, Commissionsberathungen in Betreff der Stipendien- und Stundungsangelegenheit, die Bibliotheks-Jahresrechnung © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

241

Rudolf Reicke an Dilthey

und Anderes, daß ich nun doch mit dem Abschluß des Manuscripts zu einem weiteren Bande der Geschichte Spaniens nicht fertig geworden bin. Ich habe deshalb von einer weiteren Reise abgesehen und gehe übermorgen bis Ende September nach Warnemünde, um den Druck sicher überwachen zu können. Mit den besten Wünschen für gründlichste Erholung werden Ihnen meine Strandgedanken in die Schweizer Berge folgen. Bin ich wieder zurück, dann gehe ich selbst an die Abschrift der bereits bezeichneten, von Kant durchstrichenen Abschnitte der Anthropologie und an die fortlaufende Darlegung aller Unterschiede des M[anu]s[kript]s von den Drucken.

In aufrichtiger Verehrung der Ihrige Fr. Schirrmacher.

Rostock, d[en] 3. August [18]89. NB. Auf einen Druckfehler erlaube ich mir aufmerksam zu machen: S. 648

unten steht: Prof. Roppe statt: Koppe.2 Mit Spannung sehe ich dem nächsten Heft entgegen. Vielleicht kann ich mich in Warnemünde (Bismarckstr. 10) an der Abhandlung ergötzen.3 Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 252, Bl. 234–234 R. 1 D. hatte seinen Beitrag über die Rostocker Kant-Handschriften „Herrn Professor Schirrmacher zugeeignet“. 2 Johann Christian Koppe (1757–1827): Jurist und Universitätsbibliothekar; 1782 Advokat der Rostocker Gerichte, 1784 Sekretär der Universität Rostock, 1786 Promotion, 1789–1821 PD und zweiter Universitätsbibliothekar in Rostock. – Der Schreibfehler „Roppe“ statt „Koppe“ ist im WA nicht korrigiert (vgl. GS IV, S. 352). 3 Das Postskriptum wurde vom Briefschreiber über die Anrede gesetzt.

[750] Rudolf Reicke an Dilthey   Höchstverehrter Herr Professor!

K[öni]gsb[er]g 8⁄8 [18]89.

Ihre freundliche Zuschrift erhielt ich am 31.  v[origen] M[onats]1 u. ich habe wahrlich allen Grund, Ihnen sehr dankbar dafür zu sein, ganz besonders © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

242

Rudolf Reicke an Dilthey

auch für den Ausschnitt aus den Sitzungsberichten, der mir bezeugt, daß Sie mir die große Ehre angethan haben, meine Veröffentlichung der losen Blätter in der Akademie vorzulegen.2 Wie sehr mich das freut, können Sie sich denken. – Den Abdruck Ihrer Nr. I der Rostocker Kanthandschriften habe ich erhalten u. sofort mit dem größten Interesse durchgelesen. Wie treffend haben Sie auf Grund des nunmehr gedruckt vorliegenden Briefwechsels zwischen Beck u. Kant ihr Verhältniß zu einander klar gelegt. Besten Dank für Ihre gütige Zusendung. Es war natürlich, daß ich Ihren Abdruck der Kantbriefe mit meiner Abschrift und den Originalen selbst, die ich noch hier hatte, verglich. Es freut mich, daß Sie die diplomatische Genauigkeit, die bisher viel zu sehr hintangesetzt worden ist, nicht verschmäht haben, übereinstimmend mit der auch von mir Kant gegenüber beobachteten Treue. Mir sind, abgesehen von wenigen geringfügigen Abweichungen nur 3 Stellen aufgefallen, die ich mir erlauben möchte zu berichtigen. Die wichtigste ist, daß auf S.  622, Z[eile] 18 v[on] unt[en] ein ganzer von „daß“ abhängiger Satz ausgelassen ist, im Original heißt es nämlich: „daß von Gegenständen der Sinne keine Erfahrung möglich sey, als nur, so fern ich a priori voraussetze, daß sie insgesammt u.s.w.“ – ferner auf S. 624 Z[eile] 1 v[on] ob[en] muß statt „an“ wol „von“ gelesen werden, was auch mehr dem Sinne entspricht; endlich: auf S. 637 Z[eile] 11 v[on] ob[en] lese ich „spürbare“ statt „spätere“. Möchten nun bald dieser ersten Nummer auch die übrigen nachfolgen! Im nächsten Doppelheft der Altpr[eußischen] Mon[atsschrift] wird von Dr. Arnoldt im 1sten Anhang zu seiner Abhandlung: „Die äußere Entstehung und die Abfassungszeit der Kritik der reinen Vernunft“ in erschöpfender Weise Kants Verhältniß zu Lessing abgehandelt;3 in einer längeren Anmerkung kommt er dabei auch auf Ihre Abhandlung über Lessing in den Preuß[ischen] Jahrb[üchern] von 1867 zu sprechen. Sobald ich einen Abdruck habe, werde ich ihn Ihnen zuschicken. Mit der Bitte die Verzögerung u. Eilfertigkeit meiner Zeilen gütigst zu entschuldigen verbleibe ich mit herzlichen Grüßen und Wohlwünschen Ihr

dankbar ergebenster R. Reicke.

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 252, Bl. 274–274 R und Bl. 288. 1 Nicht überliefert. 2 SB der königl. preuß. AdW zu Berlin vom 20. Juni [1889]. Gesammtsitzung: „H[er]r Dilthey las über einige Handschriften Kant’s auf der Rostocker Bibliothek und legte zugleich © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

243

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

die Veröffentlichung der losen Blätter aus Kant’s Nachlass Heft I. 1889 von H[er]rn Rudolf Reicke in Königsberg vor.“ 3 E. Arnoldt: Zur Beurtheilung von Kant’s Kritik der reinen Vernunft und Kant’s Prolegomena. Anhang zu der Abhandlung: Die äussere Entstehung und die Abfassungszeit der Kritik der reinen Vernunft. No. 1. Einige Notizen zur Beurtheilung von Kant’s Verhältniss zu Lessing, in: AMS 26 (1889), S. 395–460.

[751] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Lieber Freund,

[14. August 1889]1

Seit gestern sind wir hier, in dem entzückendsten Schwarzwaldthale: ein Hôtel von dem Comfort wie Hôtel Baur in Zürich2 hineingedichtet in die schwarzwälder Bergschönheit. Meiner Frau ist nur die Luft zu mild, da das Thal gegen Nord und Ost geschlossen ist. Aber wie wir dem Herbst zugehn, wird auch diese südliche und geschützte Lage sich als erfreulich erweisen. Jede Stunde aber sagen wir: ganz wie für Sie eigens gemacht. Die Luft entzückend mild, grüne Matten und Wälder soweit das Auge reicht, der größte Comfort, Diners wie in Hôtel Metropole in Berlin. Die Josephsquelle3 wird auch von den eisensuchenden Gästen stets zuerst getrunken. Es ist der sanf­ teste Tarasper,4 mit einigem Eisengehalt. Charakterisirt sich bei einem nicht unbeträchtlichen Eisengehalt durch das Vorherrschen von Glaubersalz; sie ruft einen rascheren Stoffwechsel und vermehrte Ausscheidungen hervor und zeigt sich vorzugsweise wirksam, wenn bei mäßiger Anregung der Absonderungen zugleich eine stärkende Wirkung beabsichtigt wird. … Wollte ich Ihnen die Wirkung an mir schildern, so müßte ich poetisch werden. Ich kenne Karlsbad, Tarasp und andre rohe und gemeine Gewässer. Hier aber müßte man in die dichterische Sprache greifen, um sich auszusprechen. Man kann dann Eisen­quelle dazu nehmen oder wie meine Frau und ich thun werden, zu solcher übergehen. Der Tag stellt sich für uns mit der Cur auf 11 Mark. Sie würden natürlich im ‚Fürstenbau‘ wohnen,5 und dann 13–14 Mark täglich gebrauchen. Von Bedienung, Comfort und Lebensüppigkeit wird man erstickt. Sie brauchen weder Diener noch Ihre Utensilien zu kaltem Bad etc. mitzubringen: alles hier exquisit. Sie brauchen sich nur eben zwei Hundertthalerscheine und zwei Anzüge einzustecken und Alles andre macht sich. Ich bitte Ihre verehrte Frau, Gräfin Helene6 und Gräfin Bertha aufs inständigste, Ihnen Alles ein­zupacken, Sie in den Wagen zu setzen und fortzuspediren. So bekommen Sies für Ihre Augen und Ihr Gesammtbefinden nie wieder – und fürs Gemüth © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

244

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

nicht leicht wieder. Das Zimmer suchen wir Ihnen aus wenn Sie schreiben. Wir halten dann hier Philosophencongresse. Auch mit Riehl7 Zusammen­ treffen schon verabredet. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 64. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 Das Luxus-Hotel Baur au lac, das noch heute existiert. 3 Die Heilwasserquelle wurde 1733 nach dem Fürsten Joseph Friedrich von Hohenzollern-Sigmaringen benannt. 4 Heilwasser der Tarasper Quellen. – Tarasp: Gemeinde im schweiz. Kanton Grau­bünden. 5 D. und seine Frau hielten sich in Bad Imnau im Zollernalbkreis auf. Der Fürstenbau, 1733 erbaut, dient bis heute als Hotel. 6 Gräfin Helene Yorck von Wartenburg, geb. von Kalckreuth (1852–1925): Zweite Ehefrau von Paul Yorcks Bruder Hans (1844–1912). Seine erste Ehefrau war die Schwester ­Helenes, Anna von Kalckreuth (1850–1879). Sie war am 13. April 1879 gestorben. 7 Der österr. Philosoph Alois Riehl (1844–1924), der seit 1882 o. Prof. in Freiburg war.

[752] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Klein-Oels den 21. Aug[ust] [18]89.

Einladend, verlockend und herzlich erquickend war Ihr Brief vom 14. d[es] M[ona]ts, jene dankbar von mir empfundene Wirkung bleibt ungemindert, auch wenn ich der Lockung nicht folgen kann. Gewiß wäre es schön, wenn wir wieder einmal in freier Ungebundenheit nach antiker Weise ohne Rückund Hinblick auf das: ‚Es steht geschrieben‘ und ‚der pp. hat schon gesagt‘ die eigene Lebendigkeit wandelnd und redend in Gedanken umsetzen könnten. Gegenwärtig aber muß ich auf diesen Genuß verzichten. Statt vieler Gründe seien nur zwei erwähnt. Meine Augen sind noch nicht in dem Zustande, daß ich eine Reise riskiren könnte. Leicht könnte es geschehen, daß ich unterwegs von verstärkter Augenentzündung befallen würde und in Berlin oder Frankfurt acht Tage im Hôtel zubringen müßte. Die durch die Untauglichkeit des linken Auges veranlaßte vermehrte Anstrengung des rechten rief eine Entzündung des letzteren hervor. So habe ich lange Zeit ohne die Freude der Arbeit hin­bringen müssen, durch Vorlesen einigermaßen genährt. Seit zwei Tagen geht es nun besser und heute hoffe ich Unterbrochenes langsam und in homöopathischen Dosen wieder aufnehmen zu können. Das zweite Mo© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

245

ment, welches mich hier fesselt, ist die Einquartierung. Ich habe das ganze Haus voll Offiziere und zwar nicht für ein oder zwei Tage, sondern bis zu Anfang des nächsten Monats. Sie sehen, daß es mir nicht möglich ist, im schönen Schwarzwaldthale mit Ihnen zu wandern und zu diniren. Die Speisekarte mit dem Punkt über dem i, der Schlußbemerkung: Und wie!! hat uns Allen viel Spaß gemacht. Ich muß bei dem freundlichen Ehepaare doch dezidirt in dem Rufe eines argen Genußmenschen stehen. Dem sei nun wie ihm wolle – ich bin der Meinung, daß es wenig unverwöhntere Menschen giebt wie mich – so freue ich mich über Ihr Wohlergehen, daß Sie den ansprechenden milde wirkenden Brunnen gefunden haben, der Ihrer fein organisirten und reiz­baren Physis entspricht.  – Ein Frühstück mit neun oder zehn Offizieren hat diesen Brief unterbrochen. Leopold1 heute früh eingetroffen, schießt in der Nähe Hühner. Mehrere Wagen heute nach Ohlau. Ein Hin und Her und nur in meinem Zimmer ruhige Zwischenstunden. – Gern spräche ich mit Ihnen über die moderne englische Logik. Das daß, nicht das was derselben von dem höchsten psychologisch-historischen Interesse. An Originalität Lotze und Sigwart dem gegenüber gering. Der konsequente Allogismus als Logik. Nebensächlich aber mir persönlich interessant, daß Bain2 die Assoziations­theorie als wissenschaftliches Dogma kritisirt, wobei Bemerkungen, in denen ich eigene Gedanken wiederfinde. Allerdings ist er weder tief noch radikal. Die Wellenschwingungen hervorgerufen durch das exzentrische Prinzip, welches vor mehr als vierhundert Jahren eine neue Zeit heraufführte, scheinen mir bis zum Äußersten weit und flach geworden zu sein, die Erkenntniß bis zur Aufhebung ihrer selbst fortgeschritten, der Mensch so weit seiner selbst entrückt, daß er seiner nicht mehr ansichtig ist. Der ‚moderne Mensch‘ d. h. der Mensch seit der Renaissance ist fertig zum Begrabenwerden. Jene Bewegung beginnt übrigens offenbar weit früher als die Wiederentdeckung des Griechenthums im 15. Jahrhundert. Sie datirt im Allgemeinen gesprochen vom Jahre 1300 her. Die deutsche und die romanische Mystik, Occam, Duns Scotus, Marsilius (­Marsiglio), Philipp IV.,3 Dominikaner, Franciskaner  – Alles Elemente derselben Bewegung und die bestimmenden für die neue Zeit, lange vor der s. g. Renaissance und dem florentinischen Platonismus. Letzteres eine Neben­strömung wie die deutsche aesthetische. Zu jener Zeit schon zerfällt die universale Formgestalt. Die große Unterströmung thut ihr Werk so lange vorher, ehe Bacon Spektakel macht. Hieraus schon und überhaupt für den Analytiker ergiebt sich die Einseitigkeit und das Schiefe von Burckhardts Auffassung.4 – Doch meine Zeit ist abgelaufen. Seien Sie herzlich gegrüßt und zu der wirkungsvollen Schönheit des Badeaufenthalts beglückwünscht. Möge der Herbst Sie mit Ihrer verehrten Frau wieder nach dem alten Oels führen. Lassen Sie mich doch wieder ein Wörtchen wissen über Ihrer beider Befinden und ­Ergehen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

246

Alfred Biese an Dilthey

Original: nicht überliefert; Erstdruck; BDY, Nr. 65. 1 Leopold von Kalckreuth, Yorcks Schwiegersohn. 2 Alexander Bain (1818–1903): schottischer Philosoph und Psychologe; 1845 Prof. für Mathematik und Physik in Glasgow, 1848 in London, 1860 o. Prof. der Logik in Aberdeen; Freund J. St. Mills und wie dieser Vertreter der Assoziationspsychologie. 3 Philipp IV. (1605–1665): König von Spanien. 4 J. Burckhardt: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel 1860; Geschichte der Renaissance in Italien. Stuttgart 1868.

[753] Alfred Biese1 an Dilthey Hochverehrter Herr Professor! Gestatten Sie, daß ich Ihnen auch noch den beifolgenden Separatdruck übersende, da er in den Anmerkungen noch näher, als ich früher konnte, die Anknüpfungspunkte mit Ihren wertvollen Erörterungen aufzuweisen sucht. Es wäre mir sehr lieb zu erfahren, daß Sie meinen Darlegungen zustimmen, so z. B. auch hinsichtlich des Brinkmann’schen Werkes.2 Um die Thatsache, daß die Naturbeseelung ebenso wie Mythologie und Poesie allgemein menschlich ist – was Brinkmann leugnet – noch genauer an der griechischen Litteratur zu erhärten, wie jener dieselbe nicht finden wollte, habe ich eine besondere kleine Abhandlung über die poetische Naturbeseelung bei den Griechen kürzlich an Herrn Professor Steinthal für die Z[ei]tschr[ift] für Völkerpsychologie gesandt.3 Ich erhielt aber noch keinen Bescheid. Mir scheint, es wird Zeit, mit dem Wahn –, die Metapher sei ein äußerer Zierrat oder durch ein einschmuggelndes „wie“ resp. „gleichsam“ zu erklären resp. „glaubhaft“ zu machen, – zu brechen. Wenn ich dazu einen kleinen Anlauf gemacht haben sollte, so würde meine Aufgabe gelöst sein. Die am Schlusse der Exkurse verhießene Abhandlung werde ich als Pergamonnarbeit Ostern herausgeben; der Aufsatz „zur Technik des Properz“, von dem ich Ihnen erzählen durfte und den ich auch fortsetzen werde, wird wohl in nicht zu ferner Zeit im Rhein[ischen] Museum erscheinen;4 ich werde mir dann erlauben, denselben Ihnen zu übersenden. Meinen alten Pagen, der sich Ihrer sehr wohl erinnerte, traf ich in voller geistiger Rüstigkeit und Frische vor und haben wir gar manches lebhafte Gespräch über Poetik, Philosophie und Litteraturgeschichte gepflogen. Hier finde ich nur selten Gelegenheit, über die mich besonders interessierenden © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

247

Fragen zu disputieren; es ist gar bedauerlich, wie sehr das philosophisch-ästhe­ tische Interesse bei noch so gescheidten Fachgelehrten jetzt im Rückgang begriffen ist und wie enge die Kreise der Meisten sind; der Eine kümmert sich nur um die Textgestaltung eines Schriftstellers und der Andere nur um eine syntaktische Erscheinung bei einer kleinen Reihe von […]; so notwendig die Arbeitsteilung ist, so verhängnisvoll doch auch wiederum für so Viele!

In vorzüglicher Hochachtung Ihr ergebenster Dr. Alfred Biese

Kiel 27. IX . [18]89. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 160, Bl. 21–22 R. 1 Alfred Biese (1856–1930): Literarhistoriker und klass. Philologe; 1878 Promotion, 1879 Gymnasiallehrer, 1899 Gymnasialdirektor; Freund Theodor Storms und Hg. von dessen Werken. 2 Karl Gustav von Brinkmann (1764–1847): schwed. Diplomat und Dichter; Freund Schleiermachers. 3 Der Aufsatz ist nicht in der Zf V erschienen, vgl. aber A. Biese: Die Entwicklung des Naturgefühls bei den Griechen und Römern. 2 Teile. Kiel 1882–1884. – Der Sprachwissenschaftler und Philosoph Heymann Steinthal (1823–1899). 4 Properz, eigentl. Sextus Aurelius Propertius (48 v. Chr.–15 v. Chr.): röm. Dichter von Liebeselegien. Der Aufsatz Zur Technik des Properz wurde angekündigt in: A. Biese: Das A ­ ssociationsprincip und der Anthropomorphismus in der Aesthetik. Ein Beitrag zur Aesthe­tik des Naturschönen. Kiel 1890, S. 5, Anm., erschien aber weder im Rheinischen Museum noch anderswo unter diesem Titel.

[754] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Kl[ein-] Oels den 2. Novemb[er] [18]89.

Ihr heute hier eingegangener Brief1 traf auf meine Intention Ihnen zu schreiben, um Sie in der Heimath zu begrüßen, nach dem Abschluß Ihrer odysseischen Wanderung. Während derselben waren Sie mir nicht erreichbar. Das dankbar empfangene Telegramm aus Finstermünz,2 wo Sie doch wohl nur flüchtig sich aufhielten, gab auch keinen Fingerzeig darüber, wo Sie länger © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

248

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

zu verweilen beabsichtigten. Sie hatten Sich eben für einige Zeit aus der Welt entfernt, so daß Geldbriefe sogar als unbestellbar an den Absender zurück­ gelangten. Glückliche und zweifellos fruchtbare Isolation. Das ist die Gestalt des modernen Lebens, daß man reisend die Einsamkeit besitzt. Ich unter­ dessen habe dieselben Sterne und dieselben Bäume und Felder über und vor mir gehabt und im Übrigen auch ein reichlich Maß von gedanklicher Einsamkeit, nur daß sie nicht fruchtbringend war. Es fehlt eben die Lockung der Gegenrede. Überdem störende Sorgen verschiedener Art, die der stoischen Lebenshaltung, die gemeiniglich zu sehr nach dem harten römischen Körper, den sie mit der Zeit empfing, angesehen wird und nicht nach ihrem feinen autochthonen griechischen Geiste, das Verständniß zu öffnen geeignet waren und sind. Hier zunächst einige Nachricht von unserem Ergehen: Bertha war recht angegriffen und konnte erst vor ungefähr acht Tagen ihrem Manne und Kinde nach Weimar nachfolgen. … Ihre Natur erquickte mich wieder sehr, wie ein schönes Instrument Kindes- und Mutterliebe harmonisch wieder­ tönend. Heinrich ist stark beschäftigt. … Ist er hier, so fehlt es nicht an Wortgefecht und handelt es sich um etwas Aesthetisches, so ist er ganz bei der Sache. Begabung spricht hier mit, aber wo ist die Grenze zwischen Wirkung der Be­gabung und der Bildung? Unsere moderne technische und utilitarische Bildung bewirkt oder befördert, daß die Aesthetik menschlich kompletirt. cf. Lange, Lotze usw. Letzthin handelte es sich um den Zufall in der Dramatik, insbesondere im spanischen Theater, worüber ich glaube einiges Gute, historisch Gesehenes gefunden zu haben. Gelegentlich erzähle ich Ihnen davon, um daran den Unterschied zwischen wirklicher Analysis und den üblichen Formvergleichungen und Okkasionsherleitungen zu demonstriren. Jüngst hat auch wieder ein Schererscher Schüler solch antiquarischen Stoff zusammengebracht in einem dicken Buche, dessen ganzer Inhalt mir bei flüchtigem Einblick äußerlich zu sein schien. Heiliger Gottsched!3 … Daran aber denke ich ein kleineres Quartier für einige Monate in Breslau zu nehmen, Sie können sich denken: nicht meinetwegen. Ich bliebe lieber hier, wo ich denn auch oft sein werde, da eine auch bescheidene Behaglichkeit in Berlin außer dem Bereiche der Möglichkeit liegt. Es giebt Thematen, über die ich nicht gern spreche. Auch genügen wenige Worte. Hier wie mit wenigen Ausnahmen im ganzen Osten Deutschlands ist dies Jahr eine Mißernte gewesen. Ich habe im vorigen Jahre nur eine Mittelernte gehabt, heuer drei­tausend Schock Getreide weniger. Rechnen Sie durchschnittlich das Schock nur zu drei Scheffel, das Übrige weist jede Preistabelle nach. Welche Entfernung von der Wirklichkeit zeigt die Rhetorik des Reichstages. Wie sehr hat Platon Recht bezüglich der Rhetorik. Freilich auch die Forderungen der Regierung – nicht gerade die rein militärischen, die nothwendig sein mögen – wie wenig berück© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

249

sichtigen sie die vorhandenen Kräfte. Der tief begründete Conflikt, im letzten Grunde eine psychische Antinomie, zwischen abstrakter Selbstbestimmung und gemeinsamer Wohlfahrt ist die Krankheit der Zeit, ein Riß im Bewußtsein. Composition des Syndesmos,4 dieser Wahn- oder Irrsinn der Revolution, ist eine Danaidenarbeit. Man stelle doch einmal die Frage woher es komme, daß das empfindsame Humanitätsgefühl des 18.  Jahrhunderts es zu keiner Humanität als gestaltender Kraft gebracht hat und die Antwort wird gefunden werden. In diesem Falle nun wären die bekannten Monopole Wohlfahrts­ einrichtungen und Postulate. Aber allerdings konstitutionelle Garantien da­ gegen, d. h. Sicherung abstrakter individueller Independenz giebt es dabei nicht. Der schärfste Ausdruck des sich in sich Widersprechenden ist Sozialdemokratie. – Wie radikale Bewußtseinszustände allseitig sich manifestiren und in dieser totalen Energie ihre Historizität kenntlich machen, so ist es das the­ tische Prinzip, welches auch den Charakter der modernen Logik d. h. der englischen Logik bestimmt, welche die einzige modern-originale ist. Die Intention derselben ist von Ihnen richtig bezeichnet, aber diese Intention ist – Postulat und das Postulat ein unkritisches. Schon der Ausgangspunkt, die Ansicht über das, was Urtheil sei, ist durch besondere historische Verhaltung bestimmt. Das Hinzuthun als welches urtheilen gefaßt wird, diese Auffassung ist die Voraussetzung des Substitutionsgedankens. Die Berechtigung der jedesmaligen Substitution aber ist schließlich der Erfolg. Hinter ihm liegt doch wieder der psychische Nexus, der die Seele der Platonischen Logik ist. – Die Aristotelische ist zu einem erheblichen Theile Rhetorik. Ich meine, daß man übersieht, wie ganz verschieden die Tendenz der antiken und der modernen Logik ist. Unter demselben Namen verbirgt sich Verschiedenes. Jene war deklaratorisch, diese will heuristisch sein. Ja, trotz Prantl,5 eine Geschichte der Logik, nicht eine solche der logischen Schriften wäre noch zu schreiben. – Am Oberflächlichsten ist in der logischen Frage Kant. Sein Formalismus ist eine Sandbank in Mitten des großen mechanistischen logischen Stroms. Stubenluft! Es geht ihm hier wie bezüglich des Problems der Raumgestalt, ja meiner Meinung nach zuletzt auch in Bezug auf seine Gegnerschaft gegen Hume. Im Grunde ist doch die bloße Applikationsnorm – zürnen Sie nicht über den Ausdruck – eine Trivialität. Was sagen Sie zu Freytag über den Kronprinzen?6 Mir ist erschreckend, wie Herz und vornehmes Taktgefühl aus der Öffentlichkeit verschwunden ist. So roh ist doch kaum jemals noch die Kritik gewesen. Alle Zeitungen des Lobes voll, über dies Schlimmste, was über einen nicht starken, aber so gütigen und Herrn Freytag so freundlichen Mann gesagt worden ist und werden konnte. Dagegen ist ja Geffcken7 unschuldig. Empörend das Verfahren und die Haltung Freytags, der gar nicht verstehen, nur richten kann. Dieser bourgeois des Jahres 1848 wendet in bornirtem Hochmuth sich selbst als Maßstab an, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

250

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

um danach eines Anderen Werth zu bestimmen. Das ist die sogenannte bürgerliche Moral, die am kräftigsten in der Öffentlichkeit ist, nach Außen hin. Von der Höhe des: Gott sei mir armen Sünder gnädig! weiß sie nichts. Das trifft auch Nebenpunkte. Daß die armen Kerls, die soeben gehorsam bis zum Tode Ihr Leben eingesetzt haben, nachher hungerig und durstig Thüren aufbrechen, das, erklärt Herr Freytag, sei die schlimmste Seite des Krieges. Gute Moral eines, der von fern der Gefahr zugesehen hat, und unmenschlich bei dem, der doch den Jammer eines Schlachtfeldes gesehen hat. In solchen Augen­ blicken Reflexionen über den Johanniter-Orden, die überdem, wie mir Hanns sagte, der in solchem Spitale beschäftigt gewesen ist, unwahr sind. Wie un­ bedeutend gegen diese Seelenkleinheit ist die Schwäche des Kronprinzen, die kaiserliche Erscheinung zu repräsentiren. Wie unschuldig. Aber wie gehässig solch Einzelnes herauszuheben. Derartige Schwächen müssen die Conture sein für das Gesammtbild, wenn sie überhaupt erwähnt werden müssen. Der Kronprinz repräsentirte gern, aber eine Idee, die ihm heilig war und die er in schwerer Zeit hoch gehalten, als deren Gestalt er sich fühlte. Ich meine in der Schrift ist nichts unrichtig, aber Alles unwürdig, ja unwahr. Und die vielen Judasküsse machen den Verrath des Herzens nicht gut. Welche Freunde hat der arme Herr gehabt! Er hatte eine Schwäche für Litteratur, Kunst, Geist. Er sah nicht, daß keines von diesen ein Selbstwerth ist. Doch es ist spät geworden und somit Zeit diese Epistel zu schließen. … Hier starke Aufregung im Kreise – ich bin wohl der ruhigste. Die Husaren nämlich, die seit hundertundfünfzig Jahren in Ohlau garnisoniren, kommen zum April nach Gumbinnen8 und Umgegend. Damit fällt allerdings auch für mein Haus angenehmer Umgang fort. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 66. 1 Nicht überliefert. 2 Nicht überliefert. – Finstermünz in Tirol / Österreich. 3 Johann Christoph Gottsched (1700–1766): Literaturtheoretiker. 4 Zusammenhang. 5 C. Prantl: Geschichte der Logik im Abendlande. 4 Bde. München 1855–1870. 6 Vgl. G. Freytag: Der Kronprinz und die deutsche Kaiserkrone. Erinnerungsblätter. Leipzig 81889. 7 Friedrich Heinrich Geffcken (1830–1896): Jurist, Diplomat und Politiker; 1872 o. Prof. für Völkerrecht und Staatswissenschaft in Straßburg. – Geffcken hatte 1888 unerlaubt Auszüge aus den Kriegstagebüchern von 1870/71 des verstorbenen deutschen Kaisers Friedrich III. veröffentlicht und wurde daraufhin von Bismarck des Hochverrats angeklagt. 8 Stadt und Kreis Gumbinnen in der Provinz Preußen.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

251

Hermann Usener an Dilthey

[755] Hermann Usener an Dilthey   Mein lieber W[ilhelm],

Bonn, 7. november [18]89.

Ihr habt uns trotz aller versprechungen in Eurem Gossensass1 vergessen. Vergeblich hofften wir in Heiligenberg2 und nachher hier auf eine nachricht, wo Ihr Euch niedergelassen und wie es Euch, namentlich Käthe ergehe, und waren in unruhiger sorge um die letztere. Nun nachdem Ihr sicher schon seit wochen in Eure winterquartiere eingerückt seid, bitten wir Euch sehr angelentlich um eine beruhigende auskunft darüber, wie Käthe der aufenthalt in den bergen bekommen ist. Wir selbst waren von dem aufenthalt auf Heiligenberg, wo wir mit dem anatomen Gegenbauer3 zusammen waren, zwar sehr befriedigt, aber die erfrischung wurde leider für Lilly durch eine böse zahn­ wurzelentzündung sehr in frage gestellt, die uns, da kein mittel die wachsenden schmerzen zu unterdrücken vermochte, schliesslich nötigte, auf raschestem wege erst Strassburg, dann die heimat anfzusuchen. Dort wie hier noch einmal war eine operation notwendig. Bei allem übel war wenigstens das gute, dass es vorüber ging ohne stärkere und nachhaltige erschütterung des nervensystems. An meine relig[ions]geschichtl[ichen] untersuchungen bin ich leider im reste der ferien nicht zurückgeführt worden, und ich sehe für den winter eine solche last von amtsgeschäften vor mir, dass ich schwerlich in der lage sein werde, diese arbeiten wieder aufzunehmen. Statt dessen habe ich mich mit rücksicht auf programmpflichten mich auf einem sonderbaren, mir unter mehreren gesichtspunkten sonderbaren gebiete herum getrieben, bei den büssern und einsiedlern der Palästinischen wüste im 4.– 6. Jh.! Dabei eine (scheinbar sehr heterogene) frage an Dich, bezw. Zeller wenn Du ihn sprichst: könnt ihr mir einen späteren philosophen (ich glaube ihn unter den älteren, vor-Proklischen Neuplatonikern suchen zu müssen) nachweisen, der die menschlichen sinne auf die vierzahl beschränkte, indem er den tastsinn …4 als einen generellen von den besonderen abtrennte? Das ist eine so auf­ fallende theorie, dass sie doch eine spur hinterlassen haben muss. Mir kommt viel darauf an, den mann zu ermitteln. Mit den herzlichsten grüssen an Dich und Käthe von unserem hause und mit den besten wünschen für Euer wohlergehen und Deine arbeiten in aller treue Dein H. Usener. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

252

Dilthey an Julius Walter

Original: nicht überliefert; ein lückenhaftes maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 15. 1 Ort in der Gemeinde Brenner in Südtirol. 2 Gemeinde im Bodenseekreis. 3 Karl Gegenbaur (1826–1903): Anatom und Physiologe; 1854 Habilitation in Würzburg, 1855 a. o., 1858 o. Prof. der Anatomie in Jena, 1873–1900 in Heidelberg. 4 Entzifferungslücke im Transkript.

[756] Dilthey an Julius Walter Donnerstag [21. November 1889]1 Hochverehrter Herr College, aller ergebensten u. herzl[ichen] Dank dafür, daß Sie so gütig sich in Sachen unseres heiligen Kant bemühen. Die Existenz des Schreibens von Kant an die Fakultät kann ich nicht bezweifeln, da sich 2 Concepte desselben in Rostock vorgefunden haben. Sein Inhalt steht in innerem Zusammenhang mit der Vorrede der Religion und dem Streit der Fakultäten. Es muß zwischen den Sommer 1792 u. Ostern 1793 fallen. Nachforschungen auf dem hiesigen Staatsarchiv scheinen auch nichts zu ergeben. So viel heute zu Ihrer Information mit vielen freundl[ichen] Grüßen.

Der Ihrige Wilh. Dilthey

Original: Hs.; Diktat D.s von der Hand Katharina D.s; Postkarte; Stadtarchiv Fürth, Autographensammlung Glockner, Nr. 24. 1 Datierung nach Poststempel.

[757] Rudolf Reicke an Dilthey Hochverehrter Herr Professor!

Königsberg 25. Nov[ember] 1889.

Sie würden mich zu großem Danke verpflichten, wenn Sie mir von Ihrem letzten Aufsatz im Archiv f[ür] Gesch[ichte] d[er] Philos[ophie]. B[an]d  III. Heft 1. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Rudolf Reicke an Dilthey

253

„Aus den Rostocker Kanthandschriften II“ einen Abdruck gütigst zukommen ließen1 als Fortsetzung zu Artikel I, den ich Ihrer Güte zu verdanken habe; desgl[eichen] wäre mir auch ein Abdruck Ihres Literaturberichts in demselben Heft2 sehr erwünscht als werthvolle Bereicherung meiner Kantiana. Als das neueste Heft des Archivs auf die hiesige Bibliothek geliefert wurde, ließ ich Ihren Aufsatz noch ungelesen, weil ich ganz zuversichtlich auf einen Abdruck von Ihnen rechnete. Da nun aber das Heft in den Journal-Zirkel soll, las ich ihn so eben noch durch und war erstaunt darüber, daß der Aufsatz über Kästner, der mir so sehr bekannt vorkam, noch ungedruckt sein sollte. Ich dachte sofort an die Jenaische Allg[emeine] Lit[eratur] Z[ei]t[un]g und richtig: da steht er als Theil einer Recension über das Eberhardsche Magazin3 in Nr. 283 u. 284 vom 26. u. 27. Sept[ember] 1790 Sp[alte] 807–813. So bestätigt er aufs schlagendste meine in den losen Blättern auf S. 80 in der Anmerkung ausgesprochene Vermuthung, daß Kant dem Hofprediger Joh[annes] Schultz das von diesem für seine Recension zu benutzende Material bogenweise zur Verfügung gestellt hat. Der bleibende Gewinn Ihrer Veröffentlichung ist, daß nicht Schultz, sondern Kant der eigentliche Verf[asser] jener ausführ­ lichen Rec[ension] in der Jen[aischen] A[llgemeinen] L[iteratur] Z[eitung] ist. Wie sind nun aber diese an Hofpr[ediger] Schultz gerichteten Bogen nach Rostock gekommen? Stammen sie vielleicht auch aus Becks Nachlaß? Hat Ihnen Prof. Schirrmacher darüber keine Nachricht geben können? Noch eine Bitte möchte ich mir bei dieser Gelegenheit erlauben an Sie zu richten. Im 1sten Heft des IIten Bandes des Archivs f[ür] Gesch[ichte] d[er] Phil[osophie] hat Pflugk-Harthung einen Aufsatz: „Palaeographische Bemerkungen zu Kants nachgelassener H[an]ds[chrift]“ S.  31–44 veröffentlicht,4 den ich sehr gern meiner Sammlung der auf jenes Opus posth[umum] bezüg­ lichen Schriften einverleiben möchte; ich wollte deshalb an den Verleger ­Georg ­Reimer schreiben. Da Sie aber doch wol mit demselben in dauernder Ver­ bindung stehen und Ihre Wünsche viel eher Berücksichtigung finden dürften, so möchte ich Sie freundlichst ersuchen, mir zu dem betreffenden Abdruck oder Ausschnitt zu verhelfen. Mit ehrfurchtsvollem Gruß Ihr dankbar ergebenster R. Reicke. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 252, Bl. 282–283.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

254

Rudolf Reicke an Dilthey

1 D: Aus den Rostocker Kanthandschriften. II: Ein ungedruckter Aufsatz Kants über Abhandlungen Kästners, in: AGPh 3 (1890), S. 79–90. 2 D: Jahresbericht von der 1887, 1888 erschienenen Literatur über die deutsche Philo­ sophie seit Kant, in: AGPh 3 (1890), S. 134–146. – Zum Folgenden vgl. auch D.: Kants Aufsatz über Kästner und sein Antheil an einer Recension von Johann[es] Schultz in der Jenaer Literatur-Zeitung, in: AGPh 3 (1890), S. 275–281. 3 Johann August Eberhard (1739–1809): Philosoph und Theologe; 1763 Lehrer, 1764 Prediger, 1778 Prof. in Halle; Kant-Kritiker; Hg. des Philosophischen Magazins zwischen 1788 und 1792. 4 Julius Albert Georg von Pflugk-Harthung (1848–1919): Historiker und Archivar; 1877 a. o. Prof. in Tübingen, 1886 o. Prof. in Basel, 1892 Archivar im Preußischen Geheimen Staatsarchiv in Berlin.  – Paläographische Bemerkungen zu Kants nachgelassener Handschrift, in: AGPh 1 (1889), S. 31–44.

[758] Rudolf Reicke an Dilthey Hochverehrter Herr Professor!

Königsberg 8⁄ XII [18]89.

Ihr gütiges Schreiben vom 28.  v[origen] M[onats]1 würde ich sofort beant­ wortet haben, wenn ich nicht geglaubt hätte, erst auf die Zusendung Ihrer mir in Aussicht gestellten Aufsätze aus dem 1. Heft des IIIten Bandes des Arch[ivs] f[ür] Gesch[ichte] d[er] Ph[ilosophie] warten zu müssen, um mich nöthigenfalls in meiner Antwort auf die Rec[ension] über Kästner beziehen zu können. Da diese Zusendung indeß nicht erfolgt ist, Ihr zweites undatirtes Schreiben2 mich aber belehrt, daß eine beschleunigte Auskunft meinerseits erwünscht ist, so beeile ich mich unter Benutzung einer freien Stunde am freien Sonntag das Nöthige mitzutheilen. Der Brief Kants an Schultz, worauf ich mich in meinen losen Blättern S. 80. Anm[erkung] berufe und auf den es für Sie wesentlich ankommt, ist nur kurz und lautet wie folgt in einer mir aus Warschau zugegangenen Abschrift: „Hiermit nehme [ich] mir die Freyheit Ew. Hochehrwürd[en] noch einiges (manches vielleicht schon in den vorigen zwey Bogen, doch nicht so klar, wie mich dünkt, vorgebrachtes) zum beliebigen Gebrauche in der Recension zuzusenden. Das Blendwerk von dem bildlichen, mit dem Eb[erhard] immer um sich wirft, scheint nöthig zu seyn aufzudecken, imgleichen auch die letzte Aufforderung, um ihn so geschwinde als möglich zu nöthigen, sich in seiner Blöße darzustellen. – Mit Mehrerem werde ich nicht beschweeren: außer nur etwas aus den Kästnerschen Aufsätzen, aber nur um ihm zu © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

255

Rudolf Reicke an Dilthey

zeigen, daß in diesen nichts sey, was ihm zum Vortheil gereiche. I. Kant d[en] 19 Juny 1790.“ Das Fragment des Briefes von Schultz an Kant hat nur Werth, wenn man es mit der in jenem Kantbriefe bestätigten Thatsache zusammenhält, daß Kant seinem Collegen und Ausleger Joh[annes] Schultz bogenweise das Material für des letzteren Recension über das Philos[ophische] Magaz[in] in der Jen[aischen] A[llgemeinen] L[iteratur] Z[eitung] zustellte. Leider hat sich zu dem Papierstreifen, den Kant für seine mathemat[ische] Aufzeichnung (A 10 der losen Blätter) benutzte, der abgeschnittene weit größere Theil unter den übrigen losen Blättern, soviel mir erinnerlich, nicht vorgefunden. Das Fragment enthält nur die folgenden Worte:3 Aus dem Angeführten scheint mir unwiderleglich hervorzugehen, daß von der von Schultz mit Beihülfe Kants gelieferten Rec[ension] in der A[llgemei­ nen] L[iteratur] Z[eitung] wenigstens die Eberhard und Kästner betreffenden Parthien – und diese nehmen den größten und wichtigsten Theil ein – ­K antisch sind; im übrigen mag Schultz aus sich für Kant schreiben. Ich hätte nicht übel Lust, den von Ihnen veröffentlichten Aufsatz Kants mir originaliter von Herrn Prof. Schirrmacher zu erbitten, wenn ich nur mehr Zeit für mich hätte und nicht durch die Vertretung des seit dem Sommer erkrankten und bis zum April k[ommenden] J[ahres] beurlaubten Chefs amtlich zu sehr in Anspruch genommen wäre; vielleicht ließen sich aus der Beschaffenheit, Umgebung u.s.w. des Originals Schlüsse ziehen, die über mancherlei, besonders auch über die Provenienz Aufschluß gäben. Verehrungsvoll Ihr

treu ergebener R. Reicke.

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 252, Bl. 280–281 R. 1 Nicht überliefert. 2 Nicht überliefert. 3 Das nachfolgende sehr fragmentarische und deshalb unverständliche Zitat wird in dieser Anmerkung wiedergegeben: „Ew. Wohlgebohrnen lezten Bogen, die ich | Da ich aber diese Boge | und mittlern noch | so werden Ew. Woh | nochmals beschwer | auch den vorletzten | gebohrnen ganz er | mir Dero Gedanken | Nachmittage geneig | einen Hauptpunkt | so halte ich es für | und habe sie daher | allen weitern Au| mit der größten | Ew.“

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

256

Rudolf Reicke an Dilthey

[759] Rudolf Reicke an Dilthey Sehr geehrter Herr Professor

K[öni]gsb[er]g 9⁄ XII. [18]89.

Auf Ihre Karte vom gestrigen [Tag]1 antworte ich umgehend, daß sich meine Behauptung, Schultz habe mit Benutzung eines Kantischen Aufsatzes die Rec[ension] über Eberh[ardts] philos[ophisches] Magazin geschrieben, nur auf Stück 1–3 des IIten Bandes bezieht (in Jen[aischer] A[llgemeiner] L[iteratur] Z[eitung]. 1790. No. 281–283.) Mehr habe ich weder auf S.  80 der „­losen Blätt[er]“ noch in meinen Briefen an Sie behaupten wollen. Die Recension über Stück 3 u. 4 des Isten B[an]d[es] des Magaz[ins] kam für mich gar nicht in Frage; denn von dieser ist ja Reinhold2 der Verf[asser], freilich auch mit Beihülfe Kants, wie dies aus den beiden Briefen des letztern an jenen vom 12. u. 19. Mai 1789 hervorgeht. (cf. K[an]ts S[ämmtliche] W[erke] v[on] Rosenkr[anz] u. Schub[ert]. B[an]d XI. Abth[eilung] 1.  S.  91–100 u. 100–108; s[iehe] besond[ers] S. 99 f.) Rec[censent] der beiden ersten Stücke des Isten Bandes des phil[sophischen] Magaz[ins] in d[er] Jen[aischen] A[llgemeinen] L[iteratur] Z[eitung] 1789 No. 10 u. No. 90 ist Rehberg3 (nach dem Zeugniß Reinholds in einem noch ungedruckten Briefe an Kant.) Mit bestem Gruß u. Wohlwunsch Ihr R. Reicke Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 252, Bl. 284. 1 Nicht überliefert. 2 Carl Leonhard Reinhold (1757–1823): Philosoph und Schriftsteller; 1787 a. o., 1791 o.  Prof. in Jena, 1794 in Kiel; Wegbereiter der Rezeption von Kants Transzendental­ philosophie. 3 August Wilhelm Rehberg (1757–1836): Philosoph, hannoverscher Staatsmann und politischer Schriftsteller; 1783 Sekretär des Herzogs von York, 1786 Sekretär des Geheimen Ratskollegiums in Hannover, 1814 Geheimer Kabinettsrat.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Rochus Ferdinand Freiherr von Liliencron an Dilthey

257

[760] Rochus Ferdinand Freiherr von Liliencron1 an Dilthey Hochgeehrter Herr!

Schleswig, den 11. Dezember 1889.

Die Zeit rückt heran zu der Sie Ihr der Allgem[einen] D[eutschen] Biographie gegebenes Versprechen den Artikel Schleiermacher zu schreiben, einzulösen haben werden.2 Ich bitte Sie mir das Manuscript bis künft[igen] März zu senden. Ich komme so frühzeitig hiermit, damit Sie sich die Ihnen bequemste Zeit für die Abfassung wählen können. Hochachtungsvoll ergeben R v Liliencron Klosterpropstei. Original: Hs.; Postkarte; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 252, Bl. 37. 1 Rochus Ferdinand Freiherr von Liliencron (1820–1912): Philologe; 1850 o. Prof. für deutsche Sprache und Literatur in Kiel, 1852 in Jena, 1876 Probst des Damenstifts St. Johannis in Schleswig; Hg. der Allgemeinen Deutschen Biographie. 56 Bde. Leipzig 1875–1912. 2 D.: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, in: ADB 31 (1890), S. 422–457; WA in: GS IV, S. 354–402.

[761] Rudolf Reicke an Dilthey K[öni]gsb[er]g 16. XII. [18]89. Besten Dank für die Abdrücke Ihrer Aufsätze u. den von Pflugk-Harthung; besten Dank auch für Ihre letzte Karte, die ich erst heute erhielt u. den Correcturabzug.1 Ich kann Ihrer Auseinandersetzung in allen Punkten nur beistimmen; höchstens könnte bei Kraus noch hinzugefügt werden, daß er in Nr. 100 Jen[aischer] A[llgemeiner] L[iteratur] Z[eitung] v[om] 25. Apr[il] 1788 Ulrichs Eleutheriologie mit Benutzung eines Aufsatzes von Kant recensirte. (s[iehe] lose Blätt[er]. S. 196.).2 Verehrungsvoll Ihr ganz ergebener R. Reicke. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

258

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

Original: Hs.; Postkarte; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 252, Bl. 233. 1 Nicht überliefert. 2 Christian Jakob Kraus (1753–1807): Philosoph und Ökonom; 1781 o. Prof. der praktischen Philosophie und der Cameralwissenschaften in Königsberg.  – Johann August Heinrich Ulrich (1746–1813): Philosoph; 1767 PD in Jena, 1776 o. Honorarprof., 1783 o. Prof. für Moral und Politik ebd.; Gegner Kants. – Eleutheriologie oder über Freiheit und Nothwendigkeit. Jena 1888. – Kant fertigte darüber einen Aufsatz an, der nicht gedruckt wurde, den aber Ch. J. Kraus, der Königsberger Kollege Kants, in seiner Rezension der Schrift Ulrichs verarbeitete.

[762] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey  

Lieber Freund.

Klein-Oels den 5. Januar [18]90.

Prosit Neujahr Ihnen und den Ihren! Und besten Dank für den freund­ lichen heute eingetroffenen Brief.1 Von der Freundesthat Ihrer Fahrt nach Leipzig hatten wir schon Kunde erhalten.2 Auch wir empfanden und empfinden sie wohlthuend und dankbar. Ihr Urtheil ist ein günstigeres als ich erwartet hatte. Ich erwarte nicht mehr die bisher fehlende Synthesis von Anschauungskraft und Verstand. Im Grunde und zuletzt fehlt es doch immer an wirklicher Arbeit, die die ausschließliche Vermittlerin ist. Darum werden m. E. wiederholt und häufig dramatische Scenen gelingen, kaum je ein ernsthaftes und tiefes Drama. Dies behalte ich für mich, denn der Mensch in seiner Art und Begabung ist mir sehr lieb und sympathisch. Sie wissen, daß ich die beiden ersten Akte, insbesondere den ersten, für das Beste halte, was ­Wildenbruch geschrieben hat. Aber die dort zu voller Anschauung gebrachten historischen Motive sind kein Fundament für das Folgende, bleiben im Widerspruche zu ihrem Eigenwerthe bloßer Hintergrund für die eigentliche Aktion, deren Grund in Folge dessen fehlt. Die Verinnerlichung, die Rückführung der reinen Thatsächlichkeit in das unsichtbare Kraftreich der Motive – daran fehlt es stets oder wenigstens sie ist ungenügend. Die Eselsbrücke der Liebe stellt sich immer als unvermeidlich dar. Das liegt auch bei Schiller vor, der darum bei aller Heldenhaftigkeit ein so dünner Dramatiker ist. Bei Schiller steht es, wie bei Kant und den so viel größeren Denkern, von denen dieser abhängig ist. Freiheitsgefühl und als Zuthat, innerlich symbebekotisch3 – Liebe. Jenes naturgemäß isolirend, diese die hinzugebrachte Verbindung, darum patho­logisch, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

259

wie die Sympathie bei Adam Smith.4 Und weil jenes kein Bindemittel und diese pathologisch, darum die treibenden Momente der Handlung äußer­liche, Situationsänderungen. Der Verstand ist in den Zufall verlegt, daher all das im tieferen Sinne Intriguenstück, welches in Spanien zu Hause ist. Aus Vorstehendem ist auch ersichtlich, warum Schiller von dem monotonen Liebesmotiv nicht lassen konnte. Es giebt Substanzdramen und Causaldramen. Letztere das was der moderne Mensch verlangt. Und trotz gegentheiligen Anscheins und geringwerthiger Ausführung ist der Erbförster von Ludwig5 mehr Causaldrama und daher weniger Intriguenstück als die große Dichtung: Der Wallenstein. Bei letzterem ist nun gar noch der undramatische Einfluß ­Goethes merklich. Goethes dramatische Gestalten haben die Beine wie die griechischen Bildsäulen zum Stehen aber nicht zum Gehen. So auch der Wallenstein, diese gesehene wunderbar konkrete Natur – er bewegt sich nicht, um ihn herum bewegt es sich wie um den Oedipus – und die Intrigue wie sie der Dichter in den Piccolomini6 explizirt, das ist das Dramatische und ganz wundervoll dargestellt. – Sie kennen wohl, lieber Freund, meine radikale Ansicht, wonach die ganze Fabel in der modernen Dichtung gleichsam verschluckt werden muß, ins Unsichtbare aufgelöst, so daß sie nur noch Darstellungsmittel, nur ein höheres oder breiteres Wort. Nur noch, um ein etwaiges Mißverstehen zu vermeiden: die antike Fabel (Aristoteles) nenne ich natürlich nicht Intrigue. Intrigue fängt an, sobald das Weltgefühl fortgefallen ist. … Haben Sie Sybel gelesen?7 Sehr glänzend gemacht. Philosophisches lese ich sehr wenig. Das würde mich stören. Kleineres von Zeller. Was der Alte macht, ist doch, soweit überhaupt der Blick reicht, sehr gut. Übrigens sein Herz ist doch ein theologisches. Besseres über Zwingli, als er, hat Niemand geschrieben.8 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 67. 1 Nicht überliefert. 2 D. nahm an der Aufführung von E. von Wildenbruchs Stück Der Generalfeldoberst am 1. Januar 1890 in Leipzig teil, das an den preuß. Bühnen verboten war. Vgl. hierzu Litzmann, Bd. 2, S. 83. 3 Zufällig, schicksalhaft (griech.: συμβεβηκός). 4 Adam Smith (1723–1790): schottischer Philosoph; 1751 Prof. für Logik, ab 1752 auch für Moralphilosophie in Glasgow. 5 Otto Ludwig (1813–1865): Schriftsteller und Komponist; Schüler von Felix Mendelssohn-Bartholdy); Begründer des poetischen Realismus. – Sein Drama Der Erbförster wurde am 4. März 1850 in Dresden uraufgeführt. 6 Der zweite Teil von F. Schillers Wallenstein-Triologie, betitelt Die Piccolomini, war am 30. Januar 1799 in Weimar uraufgeführt worden. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

260

Richard Loening an Dilthey

7 H. von Sybel: Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. Vornehmlich nach preußischen Staatsacten. 7 Bde., 3. Aufl. München und Leipzig 1890–1894. 8 E. Zeller: Das theologische System Zwingli’s in seinen Grundzügen dargestellt, in: Theologische Jahrbücher 12 (1853), S. 94–144, 245–294, 445–560; separat erschienen: Tübingen 1853.

[763] Richard Loening 1 an Dilthey   Hochgeehrter Herr Kollege!

Jena, 29. Januar 1890.

Zu meinem Bedauern bin ich nicht im Stande, Ihnen eine genauere Auskunft über die an mich gerichtete Frage betr[effend] den Ursprung der Censur der Fakultäten zu geben.2 Das mir erreichbare Material habe ich durch­gesehen, – daher auch die Verzögerung meiner Antwort –, aber nichts Aufklärendes gefunden. Eine kritische Geschichte der Bücherzensur fehlt überhaupt noch. Auf mittelalterliche Einrichtungen dürfte die Fakultätszensur m. E. kaum zurückzuführen sein. Den Universitäten stand zwar vielfach eine Aufsicht über das Bücher-Abschriften- und Verkaufs-Wesen zu; aber von einer Prüfung des Inhalts neuer Bücher habe ich vor der Erfindung der Buchdruckerkunst nichts gefunden. Die ersten Zensur-Verrechnungen gehen von den Päbsten aus, u. diese übertragen die Zensur den Ordinarien, d. h. den Bischöfen. In Deutschland wird die Zensur zuerst durch die Reichsgesetzgebung eingeführt (Reichsbescheid 1529 u. 1530, dann die Reichs-Polizei-Ordnungen von 1548 u. 1577), u. zwar soll dieselbe hiernach gehandhabt werden von den einzelnen LandesObrigkeiten u. den von diesen dazu verrechneten Beamten. Es ist mir zwar nun bekannt, daß in den partikularen Zensurverrechnungen des vorigen u. theilweise auch dieses Jahrhunderts mehrfach die Universitätsfakultäten mit der Zensur betreut werden; allein wo u. wie das zuerst aufgekommen ist u. wie diese Zensur von den Fakultäten in praxi gehandhabt wurde, das weiß ich nicht. Möglich, daß den Ausgangspunkt eine Bestimmung in den genannten Reichsgesetzen bildet, wonach Buchdruckereien nur in fürstl[ichen] Residenz-, Reichs- u. Universitätsstädten zugelassen werden sollen, wo sie leicht beaufsichtigt werden können. Von den Werken über die Geschichte der Zensur will ich noch eines an­ führen, welches mir nicht zugänglich ist u. welches möglicher-, aber nicht wahrscheinlicher Weise etwas über die Sie interessierende Frage enthält. Es © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

261

ist dies: [F.] Sachse, Die Anfänge der Bücherzensur in Deutschland, Leipzig 1870. Mit vorzügl[icher] Hochachtung bin ich Ihr ergebenster R. Loening. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 253, Bl. 272–274. 1 Richard Loening (1848–1913): Jurist; o. Prof. für Strafrecht in Jena. 2 D.s Anfrage ist nicht überliefert. – Sie steht vermutlich im Zusammenhang mit D.s Aufsatz: Der Streit Kants mit der Censur über das Recht freier Religionsforschung. Drittes Stück der Beiträge aus den Rostocker Kanthandschriften, in: AGPh 3 (1890), S. 418–450; WA in: GS IV, S. 285–309.

[764] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Mein Lieber Freund,

[Anfang Februar 1890]1

Ihre freundschaftlichen Zeilen haben mir sehr gut gethan und die Stimmungen der Influenza wohlthätig gemildert. Inzwischen ist sie bis auf den noch verweilenden Katarrh abgezogen; doch finde ich mich noch im Rücken und auf den Beinen schwach. Der Kopf war mir eine Woche erheblich occupirt, und so konnte ich das lange Verweilen in der Stube dazu benutzen, eine für die deutsche Biographie bald fällige Arbeit, Biographie Schleiermachers, zu machen. Sie ist gestern fertig geworden, wird aber leider erst im Mai gedruckt, ich freue mich sehr darauf sie Ihnen senden zu können. Sie werden dann sehen, wie unermeßlich, wenn auch nicht für den Kopf, die Arbeit war, da ich sie ganz aus den Quellen gearbeitet habe. Meine Ansicht über Schleiermachers System und Bedeutung ist wenigstens wie in einer Nußschale darin. In der Methode ist Schleiermacher durch die Vereinigung der subjektiven (trans­scendentalen) mit der objektiven Methode in der Ethik allen andren gleichzeitigen weit überlegen. So kommt er zu einer Grundauffassung, die man nur aus dem ästhetisch-schematischen Denken in das empirisch-vergleichend, causale Denken zu übersetzen braucht, um die auch gegenwärtig z. B. in Herbert Spencer herrschende Philosophie zu erhalten. Seine Religion mußte seiner ethischen Anschauung entsprechend das weltfreudige Bewußtsein sein, daß wir Gottes Gestalt und Organ in dessen siegreichem Hindurchdringen in der Welt seien, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

262

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

daß, da ethisches Wirken Gemeinschaft ist, der Antheil am Wirken für Gottes innen herankommendes Reich, das tiefe Gefühl darin von Gott abhängig, und mit ihm und der Weltabsicht in Harmonie zu sein, die höchste menschenmögliche Steigerung unsrer Vollkommenheit und Freude sei, deren ewiges Symbol Christus als Urbild, als Ideal ist, vor uns herschreitend. Mit dieser ästhetisch-heroisch-idealen Religiosität, die eigentlich die unsrer arischen Race (ältere vedische Religion, Parsismus, Germanismus etc.) ist, steht seine zunehmende Lebenserfahrung, der Geist der aufkommenden historischen Schule, sein christliches Gemeindebewußtsein in Widerspruch: und dieser, nicht der in der Vorstellung damit zusammenhängend auftretende Gegensatz von Pantheism und Theism, ist der herschende. Zumal Strauß[’]2 Ansicht daß Spinoza überall bei ihm versteckt lauere, bleibt im Symptomatischen und Zufälligen. Was sagt Ihr in der Thurmstube hausender spiritus familiaris philosophicotheologicus dazu? Daß wir die Alternative einer Nachbesserung der Weltmaschine von außen oder der Skepsis los würden, Allgemeinheit der Offenbarung etc.: das ist der Kern bei ihm. Dann habe ich angefangen, einen Plan der neuen zweistündigen Sommervorlesung über Ethik zu machen.3 Einmal mußte der große Versuch gemacht werden, ob mir dieser Abschluß meiner systematischen Gedanken ge­ lingen könnte. Dies hat mir denn ganz anders den Kopf heiß gemacht und thut es noch alle Tage. Ich fürchte, ich fürchte, Sie werden nicht mitgehen! aber warum sind Sie nicht wenigstens ein paar Tage hier, meine schlimmen Neigungen für Evolutionslehre, Anthropologie und Völkerkunde in Ordnung zu halten! Ich gehe von der Struktur des Seelenlebens, von dem System der Triebe aus. Der Punkt an dem ich im Fluß von Evolution und deren vagen Möglichkeiten, welchen die jetzigen modern denkenden Ethiker preisgegeben sind, festen Fuß fasse, ist, die psychologisch erkennbare Natur des Menschen, wie sie eben unser menschliches Seelenleben ausmacht, Ichbewußtsein etc. Den psychischen Zusammenhang, den wir in uns finden, betrachte ich als festen Standort. Freilich ist alle Energie des Denkens darauf zu concentriren, zu zeigen, daß im Ichbewußtsein etwas Unauflösliches ist, das nicht aus Elementen und Beziehungen zwischen ihnen abgeleitet werden kann; dennoch wird die Durchführung dieses Satzes immer nur Wahrscheinlichkeit ergeben: dieser Satz würde ja dann einen ganz festen Standort begründen. Nun entwerfe ich ein Bild vom Haushalt des Seelenlebens und der Stellung des Systems von Trieben und Gefühlen in ihm. Der Mensch ist im Kern ein Bündel von Trieben. Dieses Bündel trenne ich aus einander. Ich zeige, wie nun nach den psychischen Gesetzen, wie ich sie entwickle (s[iehe] Poetik),4 Züge des Willens als eines Lebens höheren Grades entstehen: ein solcher ist innere Steigerung, in © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

263

jedem Zustand wirkend, was dem Streben nach Entfaltung, Vollkommenheit, einer falschen Abstraktion, entspricht, und von den Gefühlen her in allen Vorstellungen, Bildern, Trieben wirkt. Ein andrer höherer Zug, sehr zusammen­ gesetzt in seinem Ursprung, liegt darin daß wir, nicht Atome, in allen Einzeltrieben einen mitbedingenden Zug von Mittheilung, Antheil, Gemeinsamkeit etc. haben. Der dritte höhere Zug ist daß wir andre als Selbstzweck zu achten in unsrer psychischen Constitution uns genöthigt finden. Dieses Alles aber entwickle ich mit einer gewissen empirischen Härte, mit unbefangener Anerkennung, daß aus den Diskrepanzen, Dissonanzen unsres Trieblebens Menschheit und Individuum sich schwer herausarbeiten. Der zweite Abschnitt ist Darstellung der großen socialen Processe von Arbeits­theilung, Differenzirung, Anpassung etc. in der Gesellschaft und der in ihnen gebildeten äußeren Organisation derselben sowie ihrer Kultur­systeme. Hier kommt das empirische Komplement des ersten Buchs der Geistes­ wissenschaften. Der dritte Abschnitt zeigt wie unter diesen Bedingungen unter den verschiedenen so ausgestalteten Individuis inmitten einer solchen Gesellschaft ein sittlicher Proceß unaufhaltsam die moralische Entwicklung der Menschheit erwirkt. Sittlicher Proceß: das ist natürlich nur ein abstrakter Ausdruck für ein neues Bündel realer Vorgänge, welche specifisch ethisch sind. Da die Triebäußerungen von Kampflust, Haß, Ausschließung Andrer aus der eignen Intressensphäre, Unterdrückung Andrer zum eignen Nutzen durchweg die Zufriedenheit der Individuen und der Gesellschaft mindern, so sind sie in einer almäligen Abnahme begriffen (wenn man absieht von einwirkenden Faktoren, welche hier Perioden herbeiführen). Da Neigungen gewisser Art dauernde Befriedigung herbeiführen, werden sie bevorzugt. Einer der wichtigsten Punkte Entstehung des Lebensideals als einer Macht. Hier tritt schon Mitwirkung von Religion, Mythos, Kunst in diesen Vorgang. Schrittweise kann man dann so die Entstehung der leitenden sittlichen Ideen in der aktiven menschlichen Gesellschaft ableiten: das heroische oder aktive Lebensideal, die Anerkennung des Selbstzwecks und seiner Sphären in Recht und (stoischer) Philosophie etc., die Bruderliebe und das Gottesreich, die Naturrechte des Individuums (sittlicher Kern des Naturrechts) etc. Der vierte Abschnitt hat dann die Entstehung der sittlichen Systeme oder Sittenepochen zu erklären und dieselben zu beschreiben. Sie haben die Willenszüge, Normen, Ideen zu ihrem Material und sind den Epochen der dichterischen Technik zu vergleichen. Die philosophischen Moralsysteme sind nur ihr reflektirter gespaltener etc. Ausdruck. Der fünfte Abschnitt schildert das gegenwärtige moralische Weltalter und unterscheidet zwischen den in ihm kämpfenden Moralsystemen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

264

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

Der sechste zeigt wie Personalität, Treue, Ideal, Gemeinschaft, Selbstwerth der Kultursysteme, Selbstzweck jedes Individuums als Lebenserfahrungen uns eines metaphysischen Zusammenhangs versichern, den wir aber nur in den lebendigen Erfahrungen selber besitzen, nie aber in abstracto ausdrücken können. Was ich metaphysisches Bewußtsein nenne. So erweist sich unbefangene Auffassung des Empirischen als überall zurückweisend auf seinen Realsinn und Realzusammenhang, der nicht überempirisch, aber dem Werth und der Bedeutung nach ein Metaphysisches ist. Nun ist aber genug philosophirt. Können Sies lesen, so lassen Sie mich doch bald darüber ein Wörtchen hören. Vor Allem kommen Sie auf ein paar Tage zum Philosophiren, Plaudern, mit Heinrich und mir Diniren etc. her. Ganz nur für Sie: gestern unsre erste Sitzung der Schillercommission,5 ich mit ­Weinhold und E. Schmidt als Ausschuß gewählt und ich hoffe es wird sich nach meiner Überzeugung so formiren, daß die Quitzows (hiedurch Wildenbruch zum zweitenmale) neben einem andern Stück (2 Preise) prämirt werden.6 Dies wäre dann wirklich dem Kaiser 7 gegenüber sehr wichtig für Wilden­bruch, nicht blos Genugthuung, sondern wirksame Kraft. Von Frühjahrsplänen mündlich, kommen Sie! Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 68. 1 In BDY: „[Januar 1890.]“. 2 Der Philosoph und ev. Theologe David Friedrich Strauß (1808–1874). 3 D. bot im SS 1890 die Vorlesung Ethik, in ihren Principien und in einzelnen Ausführungen dargestellt (2std.) an. Darüber hinaus las er über Allgemeine Geschichte der Philosophie mit ausführlicherer Darstellung der neueren (5std.), über Geschichte und System der Pädagogik (2std.) und hielt Übungen und das Gebiet der Geschichte der neueren Philosophie ab. – D.s Ethik-Vorlesung hat H. Nohl 1958 unter dem Titel System der Ethik in GS X herausgegeben. 4 Vgl. D.: Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik, in: GS VI, S. 103–241, hier 2 Abschn., Kap. 2: Versuch einer psychologischen Erklärung des dichte­ rischen Schaffens, S. 139–177. 5 Ein Gremium, das über die Vergabe des Schiller-Preises, der seit dem 100. Geburtstag des Dichters im Jahre 1859 alle 3 Jahre vergeben wurde, entschied. Prämiert wurden herausragende dramatische Werke. 6 E. von Wildenbruch bekam 1890 nicht den mit 1000 Gold-Thalern dotierten Schillerpreis; ausgezeichnet wurden in jenem Jahr Theodor Fontane und Klaus Groth. – Nachdem Wildenbruch den Preis bereits 1884 zusammen mit Paul Heyse erhalten hatte, bekam er ihn ein zweites Mal 1896 für sein Drama Heinrich und Heinrichs Geschlecht. – In BDY: „prämiirt“, in den Korrekturbögen (Juni–August 1923) von BDY: „prämirt“. 7 Wilhelm II.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Karl Oldenberg an Dilthey

265

[765] Karl Oldenberg 1 an Dilthey

Hochgeehrter Herr Professor!

Berlin W[est] Wormser Str. 13. 11. II. [18]90

Im Auftrage des Herrn Professor Schmoller erlaube ich mir Ihnen mitzu­theilen, daß der noch nicht ausgegebene Brockhaus’sche Katalog der Prof. v[on] Holtzendorffschen Bibliothek 2 unter Nr 1410 folgende Schrift aufführt, die, wie er vermuthet, Ihnen von Werth sein würde: F. Kapp: Aktenstücke zur Geschichte der preußischen Censur- und Preßverhältnisse unter dem Minister Wöllner. 2 Thle. 1788–[17]96. Leipzig 1879– [18]80) 8° 128 pag. (S. A.) 1.20 Mark.

In größter Hochachtung ergeben Dr. Oldenberg

Original: Hs.; Postkarte; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 253, Bl. 32. 1 Karl Oldenberg (1864–1936): Nationalökonom; 1888 Promotion in Berlin (bei G. von Schmoller), 1891 Habilitation, 1897 a. o. Prof. in Marburg, 1902 o. Prof. in Greifswald, 1914–1929 in Göttingen. 2 Franz von Holtzendorff (1829–1889): Staatsrechtler; 1861 a. o. Prof. in Berlin, 1872 o. Prof. in München. – F. von Holtzendorff war am 4. Februar 1889 gestorben.

[766] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Klein-Oels den 21. II. [18]90.

Ihr ausführlicher, im Eingange von einem nicht eingetroffenen früheren Schreiben in Frageform redender Brief1 war mir zunächst als ein Zeichen wiedergewonnener voller Gesundheit sehr erfreulich und willkommen. Da ich wohl nicht vor Ihrer Fahrt nach dem Süden nach Berlin kommen werde, empfinde ich ein gesteigertes Bedürfniß mich über den reichen Inhalt Ihrer Mit­ theilungen und damit Zusammenhängendes zu äußern. Zuvor aber bitte ich recht dringlich nunmehr, nach Feststellung Ihres Reiseplans, wenigstens die © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

266

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

Pfingstzeit für hiesiges Zusammensein frei zu halten und in bestimmte Aussicht zu nehmen. Sie, Ihre Frau und Kinder, mein Schwager Erne2 und Frau – welch fröhliche Tafelrunde würde das geben! Kürzlich habe ich in Breslau, sehr gut aufgeführt, den Generalfeldoberst gesehen.3 Ich empfand die größte Lust eine Besprechung des Stücks in die schlesische Zeitung zu rücken. Nachdem diese aber eine ebenso dumme wie abfällige Kritik gebracht hatte, nahm ich im Hinblick auf frühere Erfahrungen davon Abstand. Schon früher nämlich hat die schlesische Zeitung ihrer Weisheit nicht konforme Ansichten zu veröffentlichen mir abgelehnt. Die Aufführung hat mich in manchen Punkten belehrt, so daß ich diesen und jenen Tadel revozire. Ich finde nunmehr durchgehenden historischen Zusammenhang, geschichtliche Causalität. Der Held ist nicht aktiv, aber eine heldenhafte Natur. Daß er nicht aktiv werden kann, ist seine besondere Tragik. Die historischen Potenzen sind stärker als er, aber niedriger, unwerther. Jene aber sind richtig gesehen, stark empfunden und gut dramatisch verkörpert. Ich gebe zu: alles basrelief, nicht hautrelief4 – immerhin greifbar. Die dramatischen und theatralischen Effekte koinzidiren. Daß der Held vor dem Zuschauer nicht stirbt, sein physischer Tod ins Unbestimmte gestellt ist, erscheint mir meisterhaft. Sein historisches Leben ist beschlossen. Er verschwindet, geht unter wie die Sonne. Das Reden von mangelnder Schuld, die Schuldfrage könnte gelegentlich dieses Trauerspiels einmal klar gestellt werden, wie Lessing weitgehende Aufklärungen an einen Einzelfall zu knüpfen liebte. Die Theorie von der Schuld als Essentiale jeder Tragödie ist gewachsen auf dem Boden der modernen rationalen Freiheitslehre. Es läßt sich dies auch äußerlich historisch nachweisen. Die antike Tragödie ist vergeblich gefoltert worden um sie zum Bekenntniß der Schuld zu bringen. Das Resultat des peinlichen Verfahrens war ein totales Mißverständniß des zu erklärenden Kunstwerks. Die große spanische Tragödie ist der peinlichen Frage entgangen, weil sie unbekannt war und im Allgemeinen noch unbekannt, jedenfalls unverstanden ist. Bei Shakspeare fand man Boden, wie denn Shakspearesche Tragik als allgemeine Norm genommen wurde, als Richtmaß. Shakspeare nun gehört jener historischen Denkrichtung im Allgemeinen an, allerdings als wunderbares Genie sie vertiefend. Die Schuld ist Natur, ein gegebener Charakter. Schon bei Goethe ist dies nicht mehr der Fall. Von einer Schuld kann ernstlich nicht die Rede sein im Götz, nicht tragisch sondern nur traurig und partikular ist die Verschuldung des Faust. Da wird nur die bürgerliche Moral resp. das Strafgesetzbuch tangirt. Bei Schiller ist die Schuld auch nicht als herabziehendes Gewicht beim Helden. Goethe kennt im Grunde so wenig eine Schuld wie Schleiermacher. Schiller aber mächtiger als sozialer denn als historischer Dichter verlegt die Schuld, die Schädlichkeit in die Convention der Gesellschaft. Wie ich und nicht-ich, Selbst und Welt zusammengehörig, dennoch © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

267

gegensätzlich sind, so kann die Tragik in jedem der beiden Pole liegen. Danach giebts eine Charaktertragödie und eine Situationstragödie. Die Situation als äußerliche gefaßt ist Intrigue. Schiller nähert sich bedenklich dem Intriguenstück. Die Bewegung liegt hierbei in der Umgebung, der Held bleibt das eleatische Eins. Der historische Zusammenhang der spanischen Tragödie und des auch zuerst in Spanien heimischen modernen Intriguenstücks ist ersichtlich. Die Situation kann aber auch eine innerliche sein. Damit ist ein Conflikt gegeben. Bei Shakspeare ist von Conflikt nicht die Rede. Geradlinig bewegt ist der Held, wie ein englisches Rennpferd läuft er, bis er fällt. Er fällt im Grunde immer durch sich selbst. Alle Relation, alle Copula negirt er, den Satz des Lebens zerreissend. Die Harmonie erscheint als Narrheit, wo nicht wie in den höchsten, den astralen Dichtungen Shakspeares die Harmonie als solche den Inhalt der Dichtung ausmacht. Das Gleichgewicht ist aufgehoben, das stabile zum labilen Gleichgewicht gemacht, Ruhe nur eine Modifikation der Be­ wegung. Eine historische Bewußtseinsstellung die jener Dichtung und die jener Naturwissenschaft, ja Wissenschaft überhaupt. Confliktstragödie aber von besonderer Tiefe ist die antike, welche eine so äußerliche Beschreibung durch den Compromißphilosophen Aristoteles gefunden hat. Lassen Sie mich davon nichts Näheres sagen, denn sonst nimmt dieser Brief kein Ende. Wie steht es nun mit dem Generalfeldzeugmeister? Er ist eine Situationstragödie, aber keine Confliktstragödie. Daß er dies nicht ist, nimmt ihm die Tiefendimension. Er ist aber auch kein Intriguenstück, denn die Bewegungen der Situation sind keine gemachten teleologischen. Tragisch ist immer ein radikaler psychischer Contrast. Hier kontrastiren nicht Sozietät und Held wie im sozialen Drama Schillers – denn wir haben ein soziales Drama und das ist nicht ein nur zukünftiges – sondern das historische milieu und der Held. Wallenstein ist zu all dem der Vater und das Jahr 1870/71 die Mutter. Tragisch ist hier daß der Mann der Gegenwart des Dichters in das 17te Jahrhundert gestellt ist. Seine Tragik ist seine Zeit. Damit ist gesagt, daß er im Wesentlichen eine rhetorische Figur sein wird. Aber nicht nur, daß er dies in ergreifender Weise sein kann und ist, sondern er ist dies um deshalb weniger schwerwiegend, weil er zwar der Held aber nicht die Hauptsache ist. Die Hauptsache ist der zeitliche Conflikt als solcher. – Auf mangelhaftes aber auch auf reizendes höchst gelungenes Nebenwerk, auf die meisterliche Vers- und Sprachbehandlung, darauf daß nicht eine Scene schleppend ist, Aufmerksamkeit und Theilnahme von Anfang bis zu Ende auf gleicher Höhe erhalten bleiben u.s.w. lasse ich mich nicht näher ein, sondern fasse mein Urteil dahin zusammen, daß wenn gleich das Stück in der That zu jetziger Zeit schwer aufführbar – auch mir – erscheint, es m. E. das bei Weitem Werthvollste ist, was Erne geschrieben hat, und un­ vergleichlich mehr als die Quitzows. Als Schillerpreisler würde ich gerade dies © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

268

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

Stück für mein Votum entscheidend ansehen. – Ihre Ansicht nun vom sozialen Drama als dem der Zukunft vermag ich weder zu theilen noch im Grunde zu verstehen. Den sozialen Roman hatten und haben wir. Ein soziales Drama scheint mir an demselben Fehler wie das bürgerliche Trauerspiel leiden zu müssen. Ich vermag auch in der Bezeichnung nicht mehr als ein Schema zu erkennen – selbstverständlich aller Belehrung zugänglich und offen. Dramatische Kraft hat sich an dem Stoffe versucht; Ibsen unerträglich und unter dem niveau gebildeter Empfindung und ernster Denkkraft. Überdem ohne jede Originalität. Probleme, welche die Franzosen aufgestellt haben, aber nichts­ nutzige. Ein anderer, ein wirklich Bedeutender Tolstoy, der aber die Natur des an sich Pathologischen auch nicht zu ändern vermag. Einer der bedeutendsten sozialen Romane ist Raskolnikow. Es läßt sich meiner Meinung nach aus Natur und Gesetz der dramatischen Kunst – aus der Art der Mittel – aufzeigen, warum der Stoff dieses ausgezeichneten Romans dramatischer Behandlung – natürlich nicht dem theatralischen Zuschneider – unzugänglich sein müsse. Wie ich denn meine, daß eine Untersuchung des Verhältnisses von Stoff und Mittel fruchtbar und förderlich sein würde. Endlich aber vermag ich dem Satze nicht zuzustimmen: das soziale Drama sei als Realismus berechtigt, solle das Feld haben und mittelst desselben könne der Dichter das Geheimniß seiner Zeit aussprechen. Ich möchte mich gegen die Kategorien von Realismus und Idealismus zunächst erklären, die mir geeignet scheinen Verständigung nicht zu erleichtern sondern zu erschweren. Corneille5 war seiner Zeit ein rechter echter Realist – wir, wenigstens die Mehrzahl, würden ihn jetzt einen Idealisten nennen. In gewissem Sinne darf kein Dichter Realist sein, wenn er Dichter sein will. Er muß abstrahieren, um wirksam zu sein, ja schon um zu dichten. Lehre von den psychischen Werthen und Vertretungen, von dem Weniger als Mehr u.s.w. Auch kann die dichterische Realität keine Palpabilität6 sein sondern Realität der Empfindung, damit von einer anderen Seite angesehen ideal. Was aber heißt Idealität? Man spricht davon als von einem Selbstverständlichen. Die Geschichte des Terminus macht ihn klar, aber zeigt einen vom Gebrauche abweichenden Sinn. Weiter: ruht das Geheimniß dieser Zeit in dem Problem? gewährt der Stoff das Mittel es dramatisch zu offenbaren? In gewissem Sinne möchte ich der Bejahung der ersteren Frage zustimmen, die zweite möchte ich verneinen. Nicht jede Zeit kann ihren poetischen Offen­ barer haben, nicht jedes große historische Problem ist der poetischen Behandlung fähig. Auch kommt das Dichterwort zuletzt und nicht zu Anfang. Da alle großen Dichterwerke dies bezeugen, enthalte ich mich der Beläge, beschränke mich darauf zu bemerken, daß Goethes Faust eine Epoche schloß und nicht wie die modernen Alexandriner uns immer und immer wieder versichern, ein womöglich äternes Programm, Vorbild für eine lange Zukunft darstellt. Was © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

269

aber die erstere Frage betrifft, so ist allerdings Gedanke und Tendenz des Sozialismus universal oder vielmehr: jener ist die organisatorische Seite desselben Problems, welches zugleich ein logisches, historisches, juristisches und theologisches ist und ein pädagogisches. Ich theile nun bis auf einen gewissen Grad Ihre Begeisterung für die letzten Schritte des Kaisers. Habe ich doch selbst ihm gegenüber an das Wort des großen Königs: roi des gueux7 erinnert. Auch ich meine, daß der internationale Appell dem Kaiser eine moralische Stellung in Europa giebt, wie sie kaum je vor ihm ein Herrscher gehabt. Der Effekt freilich wird ein weit bescheidenerer sein. Von dem Joch der Arbeiter wollen wir uns nicht impressioniren lassen. Darauf ist nichts zu geben. Stimmungen sind keine ernsten Motive. Auch drei Arbeiter, gestern souveräne Urwähler, fand ich heute mit Äxten versehen in meinem Walde beim Holzdiebstahl. – Politisch erscheint mir also nicht unbedenklich der Anschein einer Parteinahme für die Arbeiter, nach dem Verständniß der Interessenten d. h. der Arbeiter bezüglich aller ihrer Forderungen. Da wird und kann arge Enttäuschung nicht ausbleiben. Die internationale, die formal politische Aktion wird, wie ich fest glaube, an England scheitern. Diesem wird Frankreich, welches selbständig nicht gut ablehnen könnte, folgen. Damit wird der Glanz der Aktion nicht schwinden, wohl aber ein gut Theil des Erfolgs. Denn der internationale Wettbetrieb hindert eine genügende Regelung der Arbeiterverhältnisse, ganz zu schweigen von den exorbitanten Forderungen der Genußsucht und Trägheit. Unrichtig an sich aber halte ich die Generalisirung der Frage. Arbeiterfrage! Es giebt verschiedene Arbeiter und verschiedene Fragen. Der Maurer ist z. B. nicht hilfs­ bedürftig, wohl aber der kleine selbständige Tischler, die arme Näherin8 u.s.w. Da wo die Maschine den Lohn drückt, muß organisatorisch geholfen werden. Theile und herrsche gilt auch theoretisch. Oekonomie der Nahrungsmittel durch Anlage von Genossenschaftsspeichern u.s.w., dabei aber Schranken des Brandtweingenusses. Es ist eine jämmerliche Weisheit zu meinen, wenn der wohlhabende junge oder ältere Mann sich betrinke, könne es auch dem Arbeiter nicht übel genommen werden. Eines ist ein privater, das andere ein öffentlicher Schaden. Humanität als konstruktives Prinzip – aber keine Sentimentalität. Die staatliche Regelung des Börsenverkehrs würde dem Arbeiter mehr nutzen als eine Menge Vertretungsrechte. Summa Summarum: Weniger wäre Mehr gewesen. Ich fürchte: auch hier der Versuch durch Synthesis Syndesmos9 herzustellen. Nun wir werden ja sehen. So weit die Wahlen bis jetzt bekannt sind, sind sie ausgesprochen schlecht. Auf die Länge kaum anders möglich. Lassalle10 wußte, was er mit dem allgemeinen geheimen Stimmrecht wollte. Und hier ist der einzige Punkt, wo Bismarck einer Stimmung nachgegeben hat in seiner ganzen großen politischen Laufbahn. Ich glaube an eine starke Vertretung des Freisinns in dem neuen Reichstage. Die Agitation dieser Partei war © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

270

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

ebenso schamlos wie geschickt. Ich habe vor mir Flugblätter, die an geschickter Verlogenheit insbesondere durch Gruppiren und Verschweigen das Äußerste leisten. Das eine laudirt11 Bismarck als Zeugen mit Worten wie: ‚Gar artig sagte Fürst Bismarck‘ und nun folgt ein aus dem Zusammenhang gerissenes scheinbar passendes Wort. Aus solcher Beeinflussung erwächst die Reichs­ vertretung. Das ist sozialdemokratisch aber antisozial. Sandatome kann nur die geschlossene Faust zusammenhalten. Das Complement ist die Tyrannis. Was wird Alles unter ‚sozial‘ verstanden! Die Sozietät setzte sich an die Stelle des Staats status, verschluckte ihn, so daß Staat in höherem Sinne nur noch in der katholischen Kirche ist. – Eine schwere Folge wird möglicher Weise sich aus dem großsinnigen aber unartikulirten Vorgehen ergeben: der Rücktritt Bismarcks. Die Consequenzen sind schier unübersehbar. Vielleicht ist es günstig, daß die Diadochen auftreten, während Alexander noch am Leben ist. Denn auch in der Verborgenheit wirkt er wie Achill bei den Schiffen und der Übergang ist weniger gefährlich. Merkwürdig ist mir der 3te Band Sybel für die Psychologie Bismarcks gewesen.12 Ein Mensch, dem nie, sagen wir kurz, eine Idee den Verstand verdunkelt, bei dem Mittel und Zweck identisch: beide Macht sind, der immer mit Mächten rechnet, nie bis auf jenen einen Fall mit Stimmungen. Er bleibt sich weit ähnlicher als die veränderten Lagen anzunehmen veranlaßten. Er bleibt bis heute der Bismarck des Jahres 1847 und fühlt und weiß als seinen lebenslänglichen Gegner die Revolution. Alle anderen Feinde sind ihm nur Gelegenheitsfeinde, Revolution sein, er ihr Todfeind. Doch für heute genug. Morgen sei noch Einiges hinzugefügt. den 22. II. Nach Einsicht in die heutigen Zeitungen, die Erbauliches melden, drängt sich die Frage auf: war der Zeitpunkt für die Kaiserlichen Erlasse günstig gewählt? Ich möchte glauben, daß Bismarcks abweisende Stellungnahme auch darin begründet ist, daß er den Zeitpunkt für ungeeignet hielt. Und er ist ein Meister in Beurtheilung des Zeitgemäßen und Nichtzeitgemäßen. Allzu tragisch beurtheile ich den Wahlausfall nicht. Der Reichstag wird ein geschäftsunmöglicher sein im schlimmsten Falle. Auf alle Fälle schwierig wird die Politik des Zentrums. Glücklicher Weise haben wir kein parlamentarisches Regiment, sonst könnte in der That das große Deutschland in die Lage Bel­ giens kommen, welches genöthigt ist sich auf den Fels Petri zu stützen. Für die Behandlung der Arbeiterfrage wird der Wahlausfall nicht günstig sein. Auch Gutwilligkeit wird kopfscheu werden und leicht kann es kommen, daß die sympathische Stimmung des Kaisers alterirt wird. Zum Blutvergießen werden Bebel13 und Consorten es schon noch bringen. Auch das, an sich traurig, wol© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

271

len wir nicht zu tragisch nehmen. Schrankenlosigkeit muß eben in der Geschichte wie in Shakspeares Dichtung zum Verderben führen. Dahin scheint mir der von Ihnen mitgetheilte Ausspruch des weitsehenden Bismarck zu zielen. Stimmungspolitik ist widerspruchsvoll in sich selbst und darum immer schädlich. Man vergegenwärtige sich: dieselbe Regierung, welche an dem Sozialistengesetz festhielt, schwieg als es ihr aus der Hand genommen wurde und versuchte sich an die Spitze der gegnerischen Truppen zu stellen! Da mußte Confusion und Schaden wirken. Den Schritt hat Bismarck nicht mitgemacht. Jede ministerielle Gegenzeichnung unterblieb. Daß er aber an seiner Stelle blieb, war staatsrechtlich richtig und bedeutsam. Damit dokumentirte er im Gegensatze zu der parlamentarischen Doktrin, daß der Kaiser freie und selbständige Initiative hat, der Reichskanzler wie der Minister sein Diener ist, der nur den Abschied erbittet, wenn er materiell nicht einverstanden ist. Materiell aber ist Bismarck für das Wohl der Arbeiter, wie er in einer wenn auch ein­ seitigen so doch großartigen Gesetzgebung gezeigt und bewiesen hat. Also lieber Freund, als politischer Mann kann ich in Ihren Jubelruf nicht so ganz einstimmen. Es kommt in der Welt der Handlung gar sehr auf Art und Zeit an. Und je mehr Humanität um so weniger Sentimentalität. – Das Rasche und Abstrakte des Vorgehens fürchte ich auch auf einem anderen Gebiete, welches gleichwerthig der somatischen Fürsorge und gleichwichtig ist, dem pädago­ gischen. Hier wie dort wird, wie ich besorge, der Kraft und Güte des Wollens Weite des Blicks und Tiefe der Kenntniß nicht entsprechen. Der Kaiser drängt vorwärts – zu meiner Freude. Er ist der Überzeugung, daß das Unterrichts­ wesen durchaus reformbedürftig ist. Hierfür hat er die Majorität auf seiner Seite und in der Negative: es muß anders werden, bekenne ich mich zu der Majorität. Diese meine Ansicht habe ich dem hohen Herrn gegenüber klar ausgesprochen, wiederholt. Und wie ich weiß, nicht ohne Aufmerksamkeit für die Sache zu erwecken. Details erzähle ich gelegentlich vertraulich. Hören wir nun die letzthin laut gewordenen Stimmen ab. Zeller14 kenntnißreich aber scholastisch-todt. Er ist Vertreter der Minorität, die im Ganzen alles gut findet. Er hält die Universität für einen Selbstwerth und behandelt das Gymnasium nur im Hinblick auf die Universität, die so wie sie ist, gut sei. Der ganze Gesichtspunkt ein zu enger und die litterarische Geltendmachung unwirksam. Güßfeldt15 nicht an sich sondern durch seine Stellung bedeutsam: frisch, schneidig und intellektuell roh. Behandlung eines tief historischen Problems aus dem Sattel. Auch er gar nichts Neues bringend. Er weiß wohl nichts davon, daß Alles von Gedanken, was er vorbringt, von Locke stammt und in großem Zusammenhange gesagt worden ist. Die englische Provenienz wohl nicht bekannt aber die englische Art beim Kaiser wirksam. Es zeigt sich daß die falsche Bestimmung der ‚Wissenschaft‘ als Selbstzweck, eine Bestimmung welche or© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

272

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

ganisatorischen Ausdruck gefunden hat, sie dem Leben entfremdet hat. Daher bei frischen und lebendigen Naturen der Einfluß solcher Unwissenschaftlichkeit. Kenntnißreicher als Güßfeldt und lebendiger als Zeller: Paulsen.16 Und darum halte ich diesen für gefährlich. Ich wäre gern in die Lage gekommen mich berichtlich zu äußern. Eine in Aussicht gestellte Veranlassung ist nicht eingetreten – wie ich von vorn herein ihren Eintritt nicht angenommen hatte. Meines Erachtens ist zunächst die Frage zu zerlegen. Auf Grund historischer Betrachtung ist die jetzige Lage zunächst zu verstehen. Personifiziren wir die Potenzen des Preußischen Unterrichtswesens, so nennen wir Zedlitz17 (Kant), Altenstein18 (Hegel), Fried[rich] Aug[ust] Wolf, Schleiermacher, Humboldt. Die moralisch-rationale und die aesthetisch-intellektualistische Richtung  – beide haben gewirkt und Ausdruck gefunden, jene mehr im Volksschulwesen, welches frischer geblieben, diese mehr im Gymnasium. Übergreifend der Gedanke (Altenstein) zur Freiheit und zur Schönheit zu reglementiren. Gegen diese sich immermehr mit der Zeit steigernde und gesteigerte Tendenz wäre als politische Karte das Schlagwort: Selbstverwaltung zu verwerthen. In Ausführung desselben wären organisatorische Vorschläge zu machen und zwar äußere der Aufsicht, innere der Verfassung. Der Unterrichtsminister – wo möglich zu trennen vom Kultusminister – hat verwaltungsmäßig in die Materie gar nicht einzugreifen, ist im Wesentlichen nur Personalinstanz und Organ dem Landtage gegenüber. In jeder Provinz ein Unterrichtskurator. Ein beratendes Collegium für den Minister können die Kuratoren bilden. In ähnlicher Stellung zu den Kuratoren stehen Schulräthe, welche in einen organisatorischen Rapport mit dem Collegium der Professoren gesetzt werden können. Die Schulräthe werden gut besoldet, insbesondere aber erhalten sie sehr viele Reisediäten. Die wesentlichste schriftliche Arbeit derselben ist die Nachweisung, daß sie alle Diäten reisend verbraucht haben. Die Schulräthe üben an persönlicher Controle nicht mehr als irgend nöthig und haben wesentlich durch Rath und mündliche Besprechung darauf hinzuwirken, daß in weitem Rahmen eine gewisse Gleichartigkeit der Ausbildung gewahrt werde. Hier aber Latitüde.19 Conferenzen der Direktoren – ich spreche hier nur von den höheren Schulen, speziell von den Gymnasien – dienen zur allseitigen Verständigung. Alle Artikulation und Vereinzelung sei dem Direktor und dem Lehrerkollegium überlassen. Damit kommen wir zur inneren Verfassungsfrage, die Klarheit über den Unterrichtszweck voraussetzt. Der Unterrichtszweck nun ist nicht einer. Psychologisch und historisch nachzuweisen. Damit die Frage nach der Einheitsschule negativ beantwortet. Offen bleibe zunächst die Frage, ob bis zu gewissen Klassen gleicher Unterricht. Im Allgemeinen Differenzirung des Unterrichts, also der Anstalten. Ich will nun ausschließlich die Gymnasien ins Auge fassen. Zunächst die Verfassungsfrage, welche der Organisation am nächsten © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

273

steht: das Abiturientenexamen. Es wird einfach und ganz aufgehoben. Hundert Jahre ist es ungefähr alt und hat je mehr es ausgebildet wurde, desto mehr Übles gestiftet. Ursprünglich intentionirt als Zeugniß ist es Unterrichtszweck geworden. Das Reglement ist damit Unterrichtsnorm, ja Unterrichtsgegenstand geworden. An seine Stelle tritt lediglich das Gutachten des Direktors und des Lehrerkollegiums. Schon das wird gleichsam die Glasglocke abheben, freie Luft und Initiative schaffen und mit gesteigerter persönlicher Verantwortung Fröhlichkeit des Lehrens. Nun zu Stoff und Methode. Die bisher maß­ gebende aesthetische Philologie (Fr[iedrich] Aug[ust] Wolf, der der eigentliche intellektuelle Urheber der preußischen Unterrichtsreform zu Anfang dieses Jahrhunderts war, ist die Quelle für seines Schülers Boeckhs Ansicht welche sich in dessen Enkyklopädie20 findet, wonach Philologie als Alterthums­ wissenschaft schlechthin Universale Geisteswissenschaft ist) hat einfach erzieherischen Bankrott gemacht. Wer das leugnet, will nicht sehen. Beweis dafür, daß alle auch die begabten und guten Schüler degoutirt sind, der Lernstoff ihnen widerwärtig ist. Die Erkenntniß aus den Früchten aber ist die entscheidende und unwiderlegliche. Wer den Lernstoff, speziell die alten Sprachen nicht liegen läßt, thut es des Fachstudiums wegen. Was humanistisch wirken sollte, ist degradirt zum Fachinteresse, zum Handwerkszeug. Es war dies der nothwendige Verlauf. Idee mußte zum Schema werden, war es von der tragenden Empfindung der Einzelnen abgesehen, schon anfänglich. Und sogar die Unterrichtsverwaltung erkannte dies implizite an, indem sie durch Zuthaten, so recht echt sinnlos synthetisch, nützlichen Stoff hinzufügte, z. B. Fran­ zösisch. Ich freue mich nachträglich gesehen zu haben, daß ich den geistvollen Süvern21 auf meiner Seite habe, wenn ich das Französische aus dem Gymnasialunterricht herauswerfe. Beschränkung des Stoffs, Erhöhung des Interesses, Verinnerlichung des Wissens! Ich finde den Gesichtspunkt des Nutzens und der Fertigkeit angebracht für eine ganze Anzahl bestimmter Anstalten. Ein anderer Gesichtspunkt dagegen, wenigstens gleichwerthig an sich, ist entscheidend für das Gymnasium: der innerer geschichtlicher Bereicherung, der der Vergeschichtlichung. Danach ist der Lehrstoff zu wählen. Nachweis warum Sprachen und ausschließlich die alten Sprachen so wirken. Ausgang vom Ganzen der Lebendigkeit, wahre Analysis, Bildungskraft der Transposition u.s.w. kurz geschichtliches Verhalten und Methode gegenüber der naturwissenschaftlichen. Beschäftigung mit sich selbst im Anderen. Freilich von diesem Standpunkte aus eine ganz andere Lehrmethode. Doch kann ich darauf in diesem überlangen Briefe nicht eingehen. Solcher Unterricht aber ist des Staatswohls wegen erforderlich, nicht nur für Gelehrte, für Geistliche – ein evange­ lischer Geistlicher muß doch, will er von Luther sich nicht lossagen, das Neue Testament im Urtexte lesen können  – sondern auch für die höhere Bureau­ © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

274

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

kratie. Also Gymnasialbildung, die, darin hat Zeller ganz recht, auf der Universität nicht nachgeholt werden kann, muß für eine bestimmte Anzahl von Berufsarten verlangt werden. Für andere ist sie nicht erforderlich. Sei sie z. B. für die Ärzte fakultativ. Befreit aber wird das Gymnasium von allen drückenden Privilegien wie Berechtigung zum Dienst als einjähriger Freiwilliger, u.s.w. u.s.w. Da mögen besondere Prüfungen für derartige Benefizien eingerichtet werden. Endlich starke Erhöhung des Schulgeldes bei einem beliebigen Prozentsatze von vollen Freistellen für unbemittelte und besonders begabte Jungen. Entscheidung über die Aufnahme bei dem Lehrerkollegium. – Wie viel kann man bezüglich der Unterrichtsfrage frei lernen aus Platons Staat! Doch nun endlich Schluß! Sie werden müde sein, wenn Sie diese Epistel bis zu Ende gelesen haben. Wenige Punkte sind nur berührt aber das Thema ist zu groß für einen Brief.22 – Ich werde nachsehen, was von Vorberliner Sachen ich habe und senden resp. Mittheilung machen. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 69. 1 Nicht überliefert. 2 Gemeint ist Ernst von Wildenbruch. 3 E. von Wildenbruch: Der Generalfeldoberst (1889). Die Aufführung des Stückes war zunächst „wegen Unfreundlichkeiten gegen Österreich“ verboten worden. Vgl. Litzmann, Bd. 2, S. 70. 4 Basrelief: flacherhabenes Relief; hauterelief: hocherhabenes Relief. 5 Pierre Corneille (1606–1684): franz. Dichter. 6 Möglichkeit der Ertastbarkeit oder Greifbarkeit. 7 Der Ausspruch Friedrichs II.: „Je veux être un roi des geux.“ („Ich will ein König der Bettler sein.“). Vgl. Jean Richepin (1849–1926): Ballade du Roi des Gueux, aus der Verssammlung La Chanson des gueux. Paris 1876. – Am 4. Februar 1890 wurden die sog. Februarerlasse, welche Maßnahmen und Vorgaben zum Schutz der Arbeiter enthielten, auf Anordnung des Kaiser Wilhelm II. ohne die eigentlich nötige Gegenzeichnung des Reichskanzlers Bismarck veröffentlicht. (Vorausgegangen war dem Erlasse 1889 ein großer Streik der Bergarbeiter im Ruhrgebiet.) Zudem war Bismarcks Vorhaben, das Sozialisten­ gesetz unbegrenzt zu verlängern, am 25. Januar 1890 im Reichstag abgelehnt worden. Am 18. März 1890 reichte Bismarck daraufhin, unter großem Zuspruch des Kaisers, sein Entlassungsgesuch ein. Am 20. März bereits trat er von seinem Amt zurück. An diesem Tag fanden die Wahlen zum 8.  Deutschen Reichstag statt, bei denen die Sozialdemokraten (SAPD) siegreich abgeschnitten, die Kartellparteien (Deutschkonservative, Freikonservative und Nationalliberale) dagegen hoch verloren. 8 In BDY: „Nähterin“. 9 Yorck verwendet den Begriff hier im Sinne von: lebendiger, ursprünglicher Zusammen­ hang. 10 Der Führer der deutschen Arbeiterbewegung Ferdinand Lassalle (1825–1864). 11 Loben (lat.). © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Rochus Ferdinand Freiherr von Liliencron an Dilthey

275

12 H. von Sybel: Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. Vornehmlich nach dem preuß. Staatsacten. Bd. 3, 3. Aufl. München und Leipzig 1890. 13 August Bebel (1840–1913): Politiker; 1869 Mitbegründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), 1875 Mitbegründer der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAPD), 1892 Vorsitzender der SPD, in die sich die SAPD nach den Wahlen von 1890 umbenannt hatte. 14 Vgl. E. Zeller: Gymnasium und Universität. Ein Beitrag zur Frage der Schulreform, in: DRS 62 (1890), S.  216–239; WA in Ders.: Kleine Schriften. Bd.  2. Berlin  1910, S. ­516–552. 15 Paul Güßfeldt (1840–1920): Geograph, Forschungsreisender und Reiseschriftsteller; 1859 Studium der Naturwissenschaften und Mathematik, 1868 Habilitation in Bonn, Forschungsreisender in Amerika und Afrika, 1889–1914 Reisebegleiter Kaiser Wilhelms II. 16 P. Güßfeldt: Die Erziehung der deutschen Jugend, in: DRS 62 (1890), S.  25–51.  – F. Paulsen: Hoffnungen und Wünsche beim Schluß der Schulreform, in: Deutsches Wochenblatt 1 (1891), S. 6–10; WA in: Ders.: Gesammelte pädagogische Abhandlungen. Stuttgart 1912, S. 82–96. 17 Karl Abraham Freiherr von Zedlitz und Leipe (1731–1793): ab 1770 preuß. Justiz­ minister, ab 1771 zudem Leiter des Ganzen geistlichen Departments in Kirchen- und Schulsachen. 18 Karl vom Stein zum Altenstein (1770–1840): 1817–1838 preuß. Kultusminister. 19 Weite, Spielraum. 20 Ph. A. Boeckhs Vorlesungen über Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissen­schaften gab 1877 sein Schüler Ernst Bratuschek in Leipzig heraus. 21 Johann Wilhelm Süvern (1775–1829): Pädagoge und Politiker; 1800 Gymnasial­ direktor, wenig später o. Prof. in Königsberg, 1809 Staatsrat im Kultusministerium in Berlin; Schulreformer.  – vgl. D.: Johann Wilhelm Süvern, in: ADB. Bd.  37. Leipzig 1894, S. 206–245; WA in: GS IV, S. 451–506. 22 Die Hg. von BDY kommentiert: „Der Schluß des Briefes legt die Vermutung nahe, daß Yorck schon im Winter 1889/90 einen Anlauf genommen habe, sich schriftlich zur Schulreform zu äußern. Eine größere Arbeit über dies Thema, die nicht vollendet wurde, ist wohl im Herbst 1890 begonnen worden und hat Yorck dann während des Jahres 1891 beschäftigt.“ Vgl. P. Yorck von Wartenburg: Gedanken über eine Reform des Gymnasialunterrichts in Preußen. Hg. von I. Fetscher, in: Archiv für Philosophie 9 (1959), S. 285–312.

[767] Rochus Ferdinand Freiherr von Liliencron an Dilthey Hochgeehrtester Herr Professor!

Schleswig, 23. Febr[uar] [18]90

Ich bin erfreut zu hören, daß der Schleiermacher1 fertig ist und freue mich ganz besonders darauf, ihn zu lesen. Uebrigens haben Sie mit der Sendung, die © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

276

Dilthey an Ernst Reimer

ich an mich zu richten bitte, noch etwas Zeit; wir sind mit dem Druck erst bis Schla gediehen. In vorzüglicher Hochachtung ergebenst Ihr R. Liliencron Original: Hs.; Postkarte; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 252, Bl. 36. 1 D.s ADB- Artikel über Schleiermacher.

[768] Dilthey an Ernst Reimer1   Hochverehrter Herr Reimer,

[26. Februar 1890]2

Zum Zweck des Wiederabdrucks meiner ästhetischen Aufsätze möchte ich gern die Aufsätze über Lessing preußische Jahrbücher 1864, B[an]d 19 Seite 117–161; 271–294; 439–444 in einem Exemplar erhalten, da ich selbst keinen Abzug mehr besitze u. die Versuche einen solchen anderwärts zu erhalten vergeblich waren. Sie würden mich ungemein verpflichten, wollten Sie in ihrem Bodenlager nachsehen lassen, u. falls ein Exemplar sich noch vorfindet, mir es zukommen lassen, mit Anzeige des dafür zu Erstattenden. Im Übrigen erbitte ich mir von Ihnen die freundliche Erlaubniß diesen u. den Novalisaufsatz im Druck erneuern zu dürfen.

Mit ergebenster Empfehlung der Ihrige Wilhelm Dilthey

Berlin[,] Burggraf[en]str[aße] 4. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA , Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 73. 1 Ernst Reimer (1833–1897): Verleger; seit 1884 Inhaber und Leiter des Verlags G. E. Reimer. 2 Die Datierung erfolgt aufgrund einer Notiz im Original, die von einem Verlagsmitarbeiter vorgenommen wurde: „28⁄2. [18]90. 1 Preuß[ische] Jahrbücher 19ter B[an]d ⅔ u. 20ter B[an]d 4 gesandt.“ © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

277

Rudolf Reicke an Dilthey

[769] Rudolf Reicke an Dilthey Hochverehrter Herr Professor!

Königsberg, 21. März 1890

Besten Dank für die freundliche Uebermittelung der Correcturbogen, durch welche ich noch vor dem Ausgabe-Abdruck (von dem ich mir wenn es sein kann 2 Abdrücke ausbitten möchte, um einen meiner Kant-Correspondenz einreihen zu können) Kenntniß nehmen konnte von Ihren höchst interessanten Mittheilungen über Kants Censurleiden.1 Es hat mir sehr lange nichts so viel Vergnügen gemacht; denn leider bin ich noch immer  – jetzt schon 8 Monate lang – durch die Vertretung des erkrankten Bibliotheks-Chefs verhindert, mich dauernd mit Kant zu beschäftigen; daß darunter die Fortsetzung der losen Blätter leiden muß, ist erklärlich. Nun sehne ich mich schon recht sehr nach meiner Erlösung. Zu Anfang Mai ist des Bibliothekars Dr. Prinz2 Urlaub zu Ende und ich hoffe, daß ich dann einen längeren Urlaub oder wenigstens Verkürzung meiner Dienststunden vom Herrn Minister werde erhalten können, um an den losen Blättern sowol als auch ganz besonders an meiner Hauptaufgabe der Edition von Kants Briefwechsel ungestört arbeiten zu können. Wenn ich in diesem Falle auch auf Ihre Unterstützung durch Befürwortung meines Gesuchs beim Herrn Minister rechnen dürfte, würde ich Ihnen zu allergrösstem Danke verpflichtet werden. Was die Correcturbogen betrifft, so habe ich auf Grund meiner Sammlungen nichts zu bemerken, u. Ihrer Darstellung wird man nur durchweg zustimmen können. Nur in dem Datum des Briefes von Kiesewetter3 auf S.  424 ist wol „Januar“ nur ein Druckfehler statt Juni. Mir liegt das Original in der Sammlung der hiesigen K[öni]gl[ichen] Bibliothek vor, in welchem Kiesew[etter] an Kant über jenen Woltersdorfschen4 Antrag berichtet; oder liegt Ihnen ein anderer Brief von Kiesew[etter] – an wen? – unter dem 14. Januar 1791 vor?5 – Daß das officielle Schreiben Kants an den Decan der theol[ogischen] Facult[ät] Oberhofpred[iger] Joh[ann] Ernst Schultz6 nicht mehr oder noch nicht aufgefunden ist, ist sehr zu bedauern; sicherlich wird Prof. Walter7 die theolog[ischen] Facultäts-Acten darauf hin durchgesucht haben. Mit herzlichem Gruss u. in dankbarer Verehrung Ihr treu ergebenster R. Reicke © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

278

Rochus Ferdinand Freiherr von Liliencron an Dilthey

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 252, Bl. 28–29. 1 D.: Der Streit Kants mit der Censur über das Recht freier Religionsforschung. Drittes Stück der Beiträge aus den Rostocker Kanthandschriften, in: AGPh 3 (1890), S. 418–450; WA in: GS IV, S. 285–309. 2 Rudolf Prinz (1847–1890): Historiker und klass. Philologe; 1867 Promotion, 1873 Kustos der königl. UB in Breslau, 1882 Bibliothekar in Münster, 1888–1890 Direktor der UB Königsberg. 3 Johann Gottfried Carl Christian Kiesewetter (1766–1819): Philosoph; 1790 Promotion in Halle, 1793 Prof. für Philosophie, 1798 Prof. für Logik in Berlin; Meisterschüler Kants. 4 Theodor Karl George Woltersdorf (1727–1806): Oberkonsistorialrat; Mitglied der 1791 in Berlin eingerichteten Immediat-Examinations-Commission, einer Zensur-Behörde. – Woltersdorf erachtete die Schriften Kants als politisch gefährlich und schädlich. 5 In D.s in AGPh veröffentlichtem o.g. Aufsatz ist das Datum korrigiert. 6 Der Königsberger Prof. und Prediger Johann Ernst Schultz (1742–1806). 7 Vermutlich der Königsberger Philosoph Julius Walter.

[770] Rochus Ferdinand Freiherr von Liliencron an Dilthey Schleswig 25⁄3 [18]90 Verehrtester Herr! So eben kommen fast gleichzeitig, Sendung und Karte1 richtig an. Für heute nur meinen herzlichsten Dank. Ich freue mich auf Lesung der Biographie ganz besonders.

Ihr hochachtungsvoll ergebenster R. Liliencron

Original: Hs.; Postkarte; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 252, Bl. 35. 1 Nicht überliefert.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

279

Bernhard Ludwig Suphan an Dilthey

[771] Bernhard Ludwig Suphan an Dilthey   Verehrter Freund,

Am ersten April. 1890.

Ich werde die erste Gelegenheit wahrnehmen, concessu[?] Serenissimae clementissime regentis1 zur Publication der philosophischen  – oder wenigstens Philosophen-Briefe, welche Sie in Ihren so lieben wie seltenen Zeilen (sine die et consule2 und so jedenfalls während meines letzten und kürzeren Aufenthalts in Berlin aus Berlin entsandt) erwähnen und begehren, in Ihrem neuen ­Organon zu wirken. (Dieser Satz veranschaulicht interlinear alle retardirenden Motive, von welchen vide infra.3) An Reinhold ist ein (schöner) Brief von Kant und sieben von Fichte da: letztere zumeist so lang, daß ich in der Eile nicht ermitteln kann, ob sie auch schön sind. Nun aber kommen die retardirenden Motive. Es wäre doch am sichersten, Sie nähmen die besagten 1+7 Briefe auf ihre Ächtheit in Augenschein. Gelb und mürbe genug sind sie, um ächt zu sein. Dann nähmen Sie eine ganz zu­ verlässige Abschrift an Ort und Stelle – als eins der jüngsten Mitglieder der Goethe-Gesellschaft – und ließen sichs dabei wohl sein am Tage der Pfingsten, wo wir uns, wie die Apostel, auf dem Söller versammeln. An einer sedia4 sollte es nicht fehlen an selbiger Stelle, wenn Sie Ihre verehrte Frau Gemahlin5 mitbrächten. Machen Sie doch diesen Traum eines Anachoreten6 wahr. Auf der Rückseite sehen Sie das verführerische Tableau besagter Briefe.7 Ein anderer Kant-Brief ist nicht da. Wohl aber der erste Entwurf zum „ewigen Frieden“ von welchem Reicke eine Abschrift, ohne Publicationsbefugniß, erhalten hat. Und dann noch ein Notizheftchen aus spätester Zeit mit den bekannten culinarisch-philosophisch-ökonomisch-wunderlichen Eintragungen.

Mit besten und herzlichen Grüßen Ihr B. Suphan.

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 252, Bl. 64–65 R. 1 Kuriale Formel: Mit Erlaubnis von Durchlaucht, des gnädigsten Herrschers. 2 Ohne Datumseintrag (wörtl.: Ohne Tag und Konsul-Jahr). 3 Vide infra: siehe unten. 4 Eigentl.: Tragsessel des Papstes zu feierlichen Anlässen. 5 Am linken Rand vom Briefschreiber ergänzt: „Gruß und Verbeugung“. 6 Eremit. 7 Im Original auf der Rückseite von Bl. 65 R: Auflistung der Briefe. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

280

Dilthey an Kurd Laßwitz

[772] Dilthey an Kurd Laßwitz   Lieber Freund! Es war mein fester Vorsatz Ihnen erst zu schreiben nachdem ich Ihr Buch gelesen, inzwischen ist auch der zweite Band gekommen; ich selbst bin aber in so ganz andre Gegenden verschlagen, daß ich nicht weiß, ob ich in nächster Zeit lesen kann so sehr es mich dazu lockt. Lassen Sie mich also Ihnen heute nur meinen herzlichen Glückwunsch aussprechen, daß Sie diese große und bedeutende Arbeit haben abschließen dürfen.1 Sie werden gehört haben, daß wir in Bezug auf Breslau für Sie gewählt haben. Diesmal waren Sie auf der Vorschlagsliste, ich wünsche u. hoffe lebhaft, daß Sie das nächste Mal eine Professur erhalten durch welche Sie dann in eine Ihnen ganz entsprechende wissenschaftliche Lage und Umgebung kommen. Soviel heute. – Sobald die Umstände es so gut mit mir wollen, daß ich Ihr Buch lesen kann, vernehmen Sie mehr von mir.

Mit herzlichem Gruß der Ihrige Wilhelm Dilthey

Berl[in] d[en] 2. IV. [18]90 Original: Hs.; Diktat D.s von fremder Hand, FB Gotha, Chart. B 1962 a, 158. 1 K. Laßwitz’ Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton.

[773] Dilthey an Theodor Mommsen   Hochverehrter Herr Sekretair,1 Eine ausnehmende Überhäufung mit Amtsgeschäften, zumal mit Preisaufgaben etc. hat mir beim Beginn m[einer] Vorlesungen (darunter eine neue) noch nicht ermöglicht, König, Kausalprobleme2 zu lesen: so bitte ich den © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

281

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

Bericht in d[er] Akademie darüber auf die Sitzung nach der Muße der Pfingstferien vertagen zu dürfen. In Verehrung d[er] Ihrige Wilhelm Dilthey 2⁄5 [18]90 Original: Hs.; StB PK Berlin, HA , NL Th. Mommsen, K. 23, Bl. 3–3 R. 1 Th. Mommsen war 1874–1895 ständiger Sekretar der philos.-histor. Klasse der königl. preuß. AdW in Berlin. 2 Edmund König (1858–1939): Kommunalpolitiker u. Gymnasialprof. in Sondershausen. – Die Entwickelung des Kausalproblems von Cartesius bis Kant. Studien zur Orientierung über die Aufgaben der Metaphysik und Erkenntnisslehre. Leipzig 1888.

[774] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Mein lieber Freund,

[Mai 1890]1

Endlich nachdem die Vorlesung in der Akademie stattgefunden2 und die augenblickliche Manuscriptnoth in der Ethik überwunden, allerdings mit Aufstehen Morgens nach 4 Uhr und Essen als Nebensache behandeln: finde ich die Stunde Ihnen Allen meinen innigen Glückwunsch zu sagen.3 … Der Anklang, den der Vortrag in der Akademie fand, hat mir viel Freude gemacht. Leider ist noch viel an der Untersuchung zu thun. Im Verlauf bin ich nun auf ganz neue Dinge gekommen und gehe wie in einem unbekannten Lande. Wie gut ist meinem ganzen Menschen gewesen, wieder einmal mit Ihnen zusammen zu leben. Sagen Sie Ihrer verehrten Frau, welcher ja immer die Mühsal zufällt, unsren herzlichen Dank für den Antheil, welchen Sie durch ihre Freundlichkeit an den schönen Tagen hatte. Die Ethik könnte mich krank machen. Die drei Methoden sind nun reinlichst entwickelt. Übermorgen wird der Utilitarismus als Prinzip der sozialen Ethik in unsrem Jahrhundert abgeschlachtet werden; dann hebt sich mir aus einer unbestimmten Dämmerung das historische Prinzip, das die andre Seite der Intention unsres Jahrhunderts ausmacht. Jenes Prinzip das der Natur­ © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

282

Dilthey an Unbekannt

erkenntniß und der Herschaft des Menschen, dieses das der Organisation dieser Herren. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 70. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 D. hielt am 1. Mai 1890 in der AdW einen Vortrag mit dem Titel Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht, abgedr. in: SB der königl. preuß. AdW. Berlin 1890, S. 977–1022; WA in: GS V, S. 90–138. 3 Paul Yorcks jüngste Tochter, Veronika (1867–1959), verlobte sich mit Henning von Klitzing (1859–1927).

[775] Dilthey an Unbekannt Hochgeehrter Herr Doktor,

29. VI. [18]901

besten Dank für Ihre freundliche Übersendung.2 Daß ich den von Ihnen vertretenen Standpunkt billige, ergiebt sich Ihnen ja aus meiner von Ihnen angezogenen Abhandlung. Das allge[meine] Prinzip der Geschichtlichkeit des Seelenlebens, zu dem Sie S.  30 gelangen, habe ich ja eben (m[eine] Abh[andlung] S. 312) auf die Poetik anzuwenden gesucht.3 Die Verbindung von literarhist[orisch] empir[isch] vergleich[enden] Verfahren mit psycho­ log[ischer] Forschung (bei Ihnen S. 10) habe ich in der ganzen Abh[andlung] gegen d[ie] v[on] Scherer vertretene Richtung geltend zu machen gesucht. Die von Ihnen herausgehobenen Ergebnisse über die allgemeine Beschaffenheit des dichterischen Processes: reiches Seelenleben, schöpferische Phantasie (b[ei] Ihnen S. 28) sind b[ei] mir, u zwar besonders durch die von mir zuerst in dem Aufsatz in d[en] Monatsheften (citirt bei Scherer) vor ¼ Jahrh[undert] an­gegebenen Methode, v[on] Selbstzeugnissen auszugehen (b[ei] Ihnen S. 28) entwickelt etc. etc.4 Verzeihen Sie wenn ich Ihnen – weitere Stellen nicht berührend – offen ausspreche, daß die Stelle S. 3 wol dies Einverständniß der beiden Arbeiten in Methode u. Hauptsätzen nicht ganz zum Ausdruck bringt. Vergleichen Sie auch b[ei] mir 335 f. 425 ff. Sie können also denken daß mir eine große Freude ist Sie auf dem Wege, den ich eingeschlagen habe, rüstig u. mit Verfügung über eine volle Lebenskraft voranschreiten zu sehen. Ihre Hypothese über den Ursprung der Poesie im Epischen halte ich nicht für in unsrer jetzigen empir[isch] geschichtlichen Kenntniß, zumal der Natur­ völker, ausreichend gegründet. Ich sammle beständig in dieser Richtung u. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

283

es bestätigt sich beständig, daß die Grundbestandtheile ly[risch] ep[ischer] Dram[en] (S. 434 f. b[ei] mir) neben u. öfters ineinander auf Stufen da sind, hinter die wir nicht zurückgehen können. Verzeihen Sie d[ie] Flüchtigkeit[,] grüßen Sie Deussen’s5 v[on] m[ir].

In aufrichtiger Hochachtung d[er] Ihrige W Dilthey

Berlin, Burggraf[en]str[aße] 4. Original: Hs.; BStB München, HA , Autograph 73/5216. 1 Im Original: Datumseintrag von fremder Hand. 2 Nicht überliefert. 3 Vgl. D.: Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik, in: Philosophische Aufsätze, a. a. O., S. 304–482; WA in: GS VI, S. 103–241. 4 D. nimmt hier Bezug auf seinen Aufsatz Phantastische Gesichtserscheinungen von ­Goethe, Tieck und Otto Ludwig, der 1866 in WM 20, S. 258–265 erschienen war. D. nahm das hier Veröffentlichte wieder auf in seinen Beitrag zur Zeller-Festschrift von 1887, a. a. O., S. 401 ff.; WA in: GS VI, hier S. 178 ff. 5 Paul Deussen (1845–1919): Philosoph und Indologe; 1872 Hauslehrer in Genf und Habilitation ebd., 1875 zweite Habilitation für Philosophie an der TH Aachen, 1881 dritte Habilitation in Berlin, 1887 a. o. Prof. ebd., 1889 Ordinarius in Kiel; Freund Nietzsches seit der Schulzeit; Hg. von Werken Schopenhauers.

[776] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Kl[ein]-Oels den 30. 6. [18]90.

Ich höre von Unwohlsein, unter dem Sie zu leiden haben. Da komme ich denn fragend und baldige Wiederherstellung wünschend. Ein theilnahmsvoller Zuruf aus meiner regnerischen Einsamkeit. Erzählen könnte ich Ihnen nur aus dem Leben meines Zimmers und auch daher von nichts Ganzem, zu dessen Förderung es des anregenden und interessirten Gesprächs bedürfte. So habe ich mich, übrigens auch unter dem Drucke körperlichen Unbehagens, litterarisch herumgetrieben. Mein letzter Streifzug die Lektüre von Grimms Homer.1 Wie immer so geht es mir auch hier mit Grimm. Gemischte Empfin© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

284

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

dung, die zuletzt in dem Dilettantismus des Schriftstellers gegründet ist. Die Aufgabe war schön und ‚zeitgemäß‘ gestellt. Gegenüber der Rathlosigkeit und Erfolglosigkeit der s.g. philologischen Methode die Fruchtbarkeit einer auf unmittelbarer psychologischer Erfassung beruhenden Betrachtungsweise, welche nachfühlend, eingehend und vergleichend den dichterischen Vorgang, die poetischen Werth- und Kunstmittel zu erfassen, mit diesem Teleologischen die Personalfrage zu erledigen strebt. Kurz lebendiges Verhalten gegenüber dem mechanischen. Und die poetische Analysis von einem Dichter, also auf dem Boden des Objekts unternommen ist vielfach resultatreich. Der Verstand der Anordnung, der beabsichtigte Werth der Wiederholungen, die Tendenz und Tragweite der Zuthaten werden herausgestellt. Und damit erscheint in greller Bloßstellung die Bodenlosigkeit der Annahme einer innerlich zufälligen Crystallisation. Nicht urgirt2 sei das historische Manko, daß fehlt oder wenigstens beschwiegen ist die Einsicht in die Voraussetzungen der mechanisch-philologischen Methode, deren doktrinären Charakter nachzuweisen erwünscht gewesen wäre. Ein Dichter hat das Recht ohne begründende Untersuchung, ohne kontradiktorisches Verfahren direkt durch Experiment zu überzeugen. Freilich so weit darf er nicht zurücktreten sein eigenes Unternehmen durch Verlegung in die reine Subjektivität vor jedem Angriffe zu wahren. Mit dem Satze: ‚Jeder hat das Recht die Entstehung der Ilias zu denken, wie er will‘ und den unmittelbar darauffolgenden p. 243. [2]44. bricht er dem eigenen Unternehmen die Spitze ab. Es zeigt sich hierin die romantische Willkürlichkeit, die sich auch in anderer Beziehung an die Stelle mühsamer Arbeit setzt. Beweis hierfür z. B. die Stelle auf p. 245: ‚Die Mittel mit denen er wirkt, sind so wenig zu analysiren‘ etc. Gerade diese Analysis aber ist das Problem und in so weit sie durchgeführt wird das ausschließliche Beweismaterial für die Grimm­ sche Thesis. – Bedenklicher ist ein anderes Manko, das völlige Fehlen innerer Histo­rizität, in Folge wovon zwar das poetisch Menschliche, das Allgemeine der Homerischen Dichternatur kongenial erfaßt, die geschichtliche Besonderheit aber total mißkannt ist. Beweis hierfür die großentheils horrenden Vergleiche. Effekt die Übertreibungen, wie Andromache3 das ewig Weibliche, die Hineintragung des Schuldgefühls, die Ansicht von Entwickelungsstufen, Charakterentwickelung der Hauptfiguren. Wiedereinmal schadet die Verabsolutirung der reinlichen Erkenntniß, beeinträchtigt der Mangel an psychologischer Einsicht. Geniales Bummeln auf dem Boden der Geschichte ohne mit dem Spaten mühevoller Forschung ihn zu bearbeiten. – Das Buch kostet Grimm die Akademie.  – Schon in der übrigens meistens geistreichen Form und Dik­tion spricht sich dies Sehen von Oben her und gleichsam im Gehen aus. Größere Correktheit würde übrigens den Glanz der Diktion nicht be­ einträchtigen. So steht p. 282: um zu verweigern, wo es heißen muß: um zu© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

285

Unbekannt an Dilthey

zuerkennen. Mißleitend ist auch die Aufgabe des homerischen Vers­maßes. Das Versmaß ist ja nicht etwas Äußerliches. Die griechische Tra­gödie mußte aus sich heraus von dem Hexameter absehen. Er verbietet alle Dialektik, giebt vielmehr eine innere Betrachtungsdistanz. Wo nun Grimm Jamben wählt, wird die Seele des Inhalts geradezu geändert, wodurch sich die irreführende Vergleichung mit Shakspeare erst ermöglicht. – Doch genug, um deutlich zu machen, warum meine Empfindung eine getrübte ist. Vor einigen Tagen war für zwei Tage Leopold4 hier. Sachliche, Richtungsdifferenzen zwischen dem Direktor der Kunstschule, Grafen Görtz und ihm haben dazu geführt, daß Leopold, wahrscheinlich zum 1. Okt­ober, seine Stellung in Weimar aufgiebt.5 Es ist allseitig richtig und vor­nehm verfahren worden. Der Hausstand etablirt sich nun bis auf Weite­res in Hoeckricht, wo ich das Haus herrichten lasse. … [Briefschluss fehlt.] Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 71. 1 H. Grimm: Homer’s Ilias. Erster bis neunter Gesang. Berlin 1890; Zehnter bis letzter Gesang. Berlin 1895. 2 Hier im Sinne von: betonen. 3 In der griech. Mythologie die Frau des trojanischen Helden Hektor und in Homers Ilias die Mutter des Sohnes beider, Astyanax. 4 Leopold von Kalckreuth, der Schwiegersohn Paul Yorcks. 5 Emil Graf von Schlitz, gen. von Görtz (1851–1914): Bildhauer und Kulturpolitiker; 1884–1901 Leiter der Kunstschule Weimar. – L. von Kalckreuth legte 1890 in Weimar sein Lehramt nieder und ging mit einigen seiner Schüler nach München. Danach arbeitete er auf dem Gut Hoeckricht / Kreis Ohlau in Schlesien, 1895 wechselte er an die staatl. Akademie der bildenden Künste in Karlsruhe.

[777] Unbekannt an Dilthey Berlin, den 9. Juli 1890

Verehrter Herr Professor!

Entschuldigen Sie gütigst meine Freiheit, daß ich es ein Unbekannter wage, Sie mit einem Brief zu stören! Doch muß ich, ehe ich meine Sache vorbringe, sie für zweierlei um Vergebung bitten: einmal daß ich gestern Ihre Vorlesung über philosophische Ethik besuchte, ohne Sie vorher persönlich um Erlaubnis gebeten zu haben – ich hätte nur gerne einmal auf der Durchreise ein Kolleg bei Ihnen gehört –; u. sodann, daß ich nun schreibe, wiederum statt mich © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

286

Unbekannt an Dilthey

persönlich einzufinden – allein schriftlich fixiert kann ich meine Gedanken schärfer vorbringen als mündlich, u. ich möchte Sie nicht zu lange belästigen. Ich möchte übrigens wohl beide Versäumnisse nachholen, wenn ich wüßte, daß ich Ihnen nicht kostbare Zeit raubte. Nun mein Anliegen: Sie haben sich gestern in Ihrer Vorlesung an Ihre Zuhörer gewandt mit der Frage, ob jemand im Stand sei, das Gefühl der Zusammengehörigkeit u. Verwandtschaft, auf welches sich das sittliche Handeln in letzter Linie gründe noch weiter zu analysieren; Sie wären einem jeden dankbar, der dazu etwas beitragen würde. Ihren Dank nun freilich werde ich mir wohl nicht verdienen können, aber eine bescheidene Frage darf ich vielleicht anfügen in der Richtung auf obiges Problem, die mich zu sehr beschäftigt um sie verschweigen zu können u. die vielleicht noch über jenes Urphänomen zurückführt. Was Sie so schön über die Pflicht der Wahrhaftigkeit sagten, gibt mir den Mut, mich auszusprechen u. die Gewißheit, daß Sie mein Unterfangen nicht als Frechheit, sondern als „Gebundenheit“ verstehen u. milde beurteilen. Wohl ist das Gefühl der Zusammengehörigkeit, Verwandtschaft, Solidarität, wie jedes originale Gefühl, im Subjekt eine psychologische Thatsache, die nicht weiter zu analysieren ist. – Aber ob dieses Gefühl nicht zerstörbar ist? ob es nicht kritisch aufgelöst werden kann? u. was dann? Wenn die Ethik nicht bloß einfach das Handeln u. seine natürlichen Motive beschreibt, wenn es sich in der Ethik nicht bloß darum handelt, psychologisch zu erklären, wie die meisten Menschen dazu kommen, sich an diese u. jene Grundsätze zu halten – in diesem Fall könnte man sich ja wohl bei jenem Urphänomen als Erklärungsgrund beruhigen – wenn Ethik vielmehr die kritische Besinnung darüber ist: warum soll ich nun so oder so handeln? u. wenn auf Grund solcher Besinnung erst ein be­wußtes ethisches Handeln möglich ist, so bleibt doch immerhin die Möglichkeit offen, statt bei der Thatsache jener Gefühle stehen zu bleiben, vielmehr zu fragen: warum soll ich diese Gefühle an­erkennen, bejahen, nach ihnen handeln? soll ich sie nicht hintansetzen, sie mir abgewöhnen? warum soll ich den Andern respectieren, die Gesellschaft mir überordnen? U. wenn ein Mensch so weit ge­kommen ist, sich über dieses Grundgefühl so hinweg­zusetzen, daß er sich wirklich davon emancipiert hat, ist er dann für die Ethik überhaupt verloren? Es ließe sich erwidern: ja das heißen wir nun eben gerade ethisch, wenn man nach diesen Gefühlen handelt, u. sie hintanzusetzen ist eben un­ethisch. – Aber warum? Warum sind gerade diese Gefühle das Princip der Ethik? Muß ich nicht einen absoluten Grund haben, warum ich gerade diese Gefühle bejahen, als Grund meines Handelns anerkennen soll u. … [Briefschluss fehlt.] Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey; 13 p, Unbekannt, Nr. 1. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

287

[778] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [Juli 1890]1 Gern, lieber Freund, hätte ich Ihnen gleich geantwortet; aber das Wirrsal von Arbeit aller Art lastet auf meinem dumpfen Kopfe so daß ich froh bin, des täglich Nöthigen Herr zu werden. Ich laufe nun seit März wie der Esel im Tretrad: müde, oft mit Schwindel, Druck auf dem Kopfe. Zweimal für Preisaufgaben durcharbeiten je drei Wochen, Doktorarbeiten, Habilitationsgesuche, eingereichte Studentenarbeiten. Wöchentlich zehn Stunden Kolleg, zweimal wöchentlich daneben Sitzungen. Jede vierzehn Tage ein halb Dutzend Examenarbeiten. Bei diesem Allen ein neues Kolleg. Und dies Alles lastend auf einem müden Kopf. So konnte ich so viele mir gesandte Bücher, aber auch Grimms Homer und Schmollers Aufsätze,2 Munks Rindenlehre3 nicht lesen. Dagegen habe ich zur Vorlesung vielfach den neuen Band von Harnack4 benutzt und erstens Gutes über Römisches Philosophiren und seine Wirkungen auf die Kirchenverfassung und Scholastik gefunden und verwerthet. Dann mußte die Ritschlmäßige5 Beschreibung von zwei christlichen Gemüthszuständen, Typus Luther, Typus Augustin mich sehr interessiren; jedoch im Verhältniß zu der sehr großen Mannichfaltigkeit von Typen christlicher Gemüthsverfassung mangelhafte Auffassung; dennoch ein nützlicher Anfang, echt Schleiermacherisch, wenn man wie nöthig Gefühl und Willen im rechten Verhältniß dabei beschreibend annimmt und die alten langweiligen Querelen läßt, um vorwärts in der Historie zu kommen. Eben lese ich bei der Vorlesung die zwei dicken Bände meines Schülers ­Laßwitz über Atomistik, mit sehr vieler Belehrung, Ich kann Sie nur dringendst darauf aufmerksam machen. Sie müssen seine eigene Ansicht, daß die Construktion der mechanischen Prinzipien vermittelst apriorischer Denk­ mittel sich vollziehe[,] abziehen – soweit es geht; leider ist viel Geschichte von ihm corrumpirt durch diese Annahme. Dann aber bleibt ein höchst merkwürdiger Zusammenhang. Von Galilei bis Leibniz kann man bei Laßwitz eine Entwicklung verfolgen, in welcher die dem Auge auffaßbare Seite der Bewegung, das Durchlaufen des Raumes, die Locomotion ergänzt wird durch Begriffe, die eine innere Seite des Vorgangs construiren. sforza, impetu, momentum, der Impetus von Hobbes etc. Zuerst Kern des Vorgangs Ausbildung des Moment­begriffs, dann Einordnung des Begriffs von Druck, von Ruhe als gehemmter Bewegung in die Bewegungscategorie, dann kann nur so mit der Lehre von der Relativität der Bewegung (und Ruhe) reale Auffassung thatsäch© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

288

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

lichen Geschehens verbunden werden. So lassen die Begriffe von Spannkraft und lebendiger Kraft sich entwickeln. Das Gesetz der Erhaltung der Kraft läßt sich immer angemessen gestalten. Man sieht also in den Vorgang, in welchem die dynamische Betrachtungsweise die Natur construirt hat. – Die ersten Konceptionen hängen offenbar mit den psychistischen Theorien (bei Kepler z. B.) und der Scotistischen Willenslehre (Oxford) zusammen. Hier erschließt sich wirklich ein Gebiet, auf welchem die Bedeutung einer Weise sich und die Dinge zu erleben, in einer gegebenen Zeit, für die wissenschaftliche Construktion der Wirklichkeit nachgewiesen werden kann. Über meine Ethik würden Sie sich freuen und bekreuzigen zugleich. Ich übertrumpfe den Utilitarismus! Zeige, daß er eine Construktion von oben nach unten ist. Gehe von den simplen Thatsachen aus, daß Willensweisen mit einer Erweiterung und Hebung unsrer Gefühlslage verbunden sind, Willens­ aufwand in seinen Formen, Erfahrung von Verwandtschaft im Nacherleben etc. etc. Festhalten der Selbigkeit des Willens im Wechsel etc. Hierbei ist mir einerlei ob einmal jemand diese Urphänomene des Sittlichen wird reduciren können. Aber ich vertheidige die concreten Realitäten der sittlichen Antriebe gegenüber den abstrakten Prinzipien, eine männliche Sittlichkeit, die in ihnen sich fühlt, gegenüber der sentimentalen altruistischen, utilitaristischen etc. Jedenfalls wenn der Akademieaufsatz fertig ist will ich dies Stück des zweiten Bandes gleich auch ausarbeiten. So allein, daß ich Einzelnes fertig mache und drucken lasse, kann ich vorwärts gehen. Alles Pädagogische ruht. Mir sagte neulich ein vielorientirter Schulrath ich sei gar nicht bei der Enquête.6 Nun aber will ich nichts als die Abhandlung fertig machen und abreisen.7 Wir hoffen den 2ten August reisen zu können. Wenn ich nur Stand halte und nicht schließlich krank werde. … Wir gehen zunächst nach Brennerbad8 oben auf dem Brenner: eine wilde raue Carlylesche Art von Gastein, nichts als stark wehende Winde, Felsen und Haide und Sonne und Wasser. Dann gehen wir nach Gossensaß,9 nachdem wir von Brenner aus Quartier voraus genommen haben. So oder so, irgendwie, sehen wir uns gewiß und Sie mögen dann sehn wie sich’s da oben in beständiger Bewegung lebt. Treulichst Ihr D. Sie und Comtesse Bertha müssen in Sachen Carlyle lesen: zum socialen Frieden, von Schulzes Sohn.10 Muß höchst merkwüdig sein. Wildenbruchs letztes Stück auf dem Königlichen Theater angenommen.11 … [Briefschluss fehlt.] © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

289

Alfred Goldscheider an Dilthey

Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 72. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 G. von Schmoller: Zur Social- und Gewerbepolitik der Gegenwart. Reden und Aufsätze. Leipzig 1890. 3 Hermann Munk (1839–1912): Physiologe und Mediziner; 1862 Habilitation in Berlin, 1869 Assistenzprof. ebd., 1876 Vorstand des physiologischen Instituts an der Berliner Tierarzenei-Schule, 1897 o. Honorarprof. in Berlin. – Ueber die Functionen der Grosshirnrinde. Gesammelte Mittheilungen aus den Jahren 1887–80. Berlin 1881. 4 A. Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte. Bd. 3. Freiburg 1890. 5 Albrecht Ritschl (1822–1889). ev. Theologe; 1852 a. o. Prof. in Bonn, 1864 o. Prof. in Göttingen. 6 Zur Vorbereitung einer preuß. Schulkonferenz, die der damalige Kultusminister G. von Goßler für den 4.–17. Dezember 1890 anberaumt hatte, wurde eine Enquête-Kommission eingerichtet. Das Thema der Konferenz war die Zukunft der deutschen Gymnasien. 7 D.s Abhandlung Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Außenwelt und seinem Recht, die aus seinem Vortrag vom 1. Mai 1890 erwuchs, ist in den SB der königl. preuß. AdW zu Berlin am 9. September 1890 ausgegeben worden. 8 Im 19. Jh. bekannt wegen seiner Heilquellen (ital.: Terme di Brennero). 9 Damals bedeutender Kurort in der Gemeinde Brenner. 10 Gerhart von Schulze-Gaevernitz (1864–1943): Nationalökonom und Politiker; juristische Promotion und Habilitation in Göttingen, 1891 zweite Promotion, 1893 a. o., 1896 o. Prof. in Freiburg; Schüler L. Brentanos; Sohn des Heidelberger Staatsrechtlers H ­ ermann von Schulze-Gaevernitz (1824–1888). – Zum socialen Frieden. Eine Darstellung der socialpolitischen Erziehung des englischen Volkes im neunzehnten Jahrhundert. Leipzig 1890. 11 E. von Wildenbruchs Drama Die Haubenlerche wurde am 20.  September 1890 im Deutschen Theater Berlin uraufgeführt.

[779] Alfred Goldscheider1 an Dilthey   Hochgeehrter Herr Professor!

Berlin, 9. 8. [18]90.

Euer Hochwohlgeboren theile ich ergebenst mit, daß die Correctur mir bis heute noch nicht zugegangen ist.2 Da ich morgen Sonntag auf drei Wochen nach Wiesbaden gehe, so bitte ich eine eventuelle Versäumniß mir nicht übel auslegen zu wollen, welche vielleicht dadurch entstehen könnte, daß event[uell] noch heute oder morgen die Correctur käme und von mir mit nach W[iesbaden] genommen werden müßte. Ich gestatte mir gleichzeitig an die Reichsdruckerei unmittelbar die Mit­ theilung gelangen zu lassen, daß die Correktur, falls sie nicht bis morgen über© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

290

Robert Sommer an Dilthey

händigt werden kann, postlagernd nach W[iesbaden] gesandt werde und hoffe, daß E[uer] H[ochwohlgeboren] hiermit übereinstimmen werden.

Mit vorzüglicher Hochachtung Ihr sehr ergebener Dr. Goldscheider

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 354, Bl. 385–386. 1 Alfred Goldscheider (1858–1935): Neurologe; 1881 Promotion in Berlin, Arzt an der Charité, 1889 Militärarzt, 1891 Habilitation, 1894 leitender Arzt am Krankenhaus Moabit, 1898 a. o. Prof., 1907 o. Honorarprof. in Berlin, 1906 Leiter des Virchow-Krankenhauses, 1910 Leiter des poliklinischen Universitätsinstituts, 1911 o. Prof. ebd. 2 D. hatte A. Goldscheider offenkundig die Korrekturfahnen seines im Druck befindlichen Akademie-Vortrags Beiträge zur Lösung der Frage zum Ursprung unsereres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht zur Korrektur geschickt. – D. hat in der Abhandlung Bezug genommen auf A. Goldscheider: Untersuchungen über den Muskelsinn, in: Archiv für Physiologie 1889, S. 369 ff. und Supplementband, S. 206 ff. Vgl. D: Beiträge, in: SB, a. a. O., S. 987 ff. und in: GS V, S. 100 ff.

[780] Robert Sommer1 an Dilthey Hochverehrter Herr Professor!

Würzburg am 15 August 1890

Endlich muß ich mein Schweigen entschuldigen. Leider habe ich aus einem Satz Ihres Briefes2 heraus gelesen, daß vom 2ten August an eine Verwendung meiner Antwort unmöglich wäre. Es steht nämlich da: „ich will den Aufsatz vor meiner Abreise am 2. August in den Abhandlungen der Akademie in Druck geben.“ Ich habe ebenso wie Prof. Rieger,3 den ich über Ihre Darlegung zu Rathe gezogen hatte, den obigen falschen Schluß aus den Worten gezogen, derart daß ich den Passus über eine eventuelle Verwendung bei der Correktur auf die Zeit bis zum 2. August verlegte. Ich hätte nach meiner Auffassung Ihnen bis spätestens 22 Juli antworten müssen, hatte auch angefangen und hätte Ihnen einiges gesandt, wenn nicht eine alles in Bewegung setzende Inspektion von Seiten des neuen Ministers v. Mueller4 gekommen wäre. Jetzt erst ist mir der Sachverhalt klar geworden. Der Correktur sehe ich mit Ungeduld ent­ gegen. Nun zur Sache. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Robert Sommer an Dilthey

291

Krishaber, der leider hier nicht zu haben ist, aber in Ribots Revue philo­ sophique besprochen wird bei Gelegenheit eines Artikels über Taine, muß sehr mit Vorsicht verwendet werden.5 Offenbar sind Störungen bei Leuten mit Aortenklappeninsufficienz gemeint, bei welchen das Blut mit großer Kraft in die Adern und auch ins Gehirn geschleudert wird aber vermöge des Fehlens eines Abschlusses der Aorta vom Herzen (eben wegen des Mangels an den Klappen) in das Herz zurückprellt und dadurch plötzliche Gehirnanämie hervorruft. Hierbei treten Schwindelgefühle, Halbohnmachten etc. auf mit gleichmäßiger Schwäche aller Denkvorgänge. Hierbei scheint mir die Minderung des Selbstbewußtseins (a) und das Sinken der Kraft in der Vorstellung der Realität der Außenwelt (b)  gleichmäßig von einer Ursache, nämlich der plötzlichen Gehirnanämie und der dadurch bedingten Schwäche sämmtlicher Vorstellungen bedingt zu sein. Jedenfalls läßt sich hier nicht sicher schließen, daß b von a abhängig ist. Ich habe mich dagegen bemüht, Fälle zu finden, wo die Kraft der Vor­ stellungen abgesehen von denen, welche sich auf den eigenen Körper beziehen, also besonders in Fällen wo die körperlichen Bewegungsimpulse fehlen, er­ halten ist, und habe mich gefragt, ob unter diesen Umständen den an sich lebhaften Vorstellungen das Prädikat „real“, wodurch wir eine Zugabe zu der bloßen Vorstellung machen, weniger erteilt wird als im entgegengesetzten Falle, ob also bei dem Fehlen der Bewegungsimpulse den an sich deutlichen und lebhaften Vorstellungen etwas fehlt nämlich die Qualität der Wirklichkeit. Ich habe hier einen Kranken, bei dem etwas derartiges vorzuliegen scheint. Der Mann erkrankte an Sinnestäuschungen, welche besonders in der Nacht auftraten. Aus körperlichen Symptomen wurde hier geschlossen, daß diese Hallucinationen erste Äußerungen einer Paralyse (Gehirnerweichung) seien. Bei dieser Krankheit tritt meist eine Art Vergessen auf die Lage und den Zustand des eigenen Körpers ein. Daher liegen sich diese Kranken sehr leicht den Rücken auf. Wir haben also im speciellen Falle einen Mangel an Bewegungsimpulsen bei starker Erregung der centralen Sinnlichkeit. Und nun kommt das Merkwürdige: dieser Mensch bezeichnet seine nächtlichen Sinnestäuschungen nicht, wie es sonst stets bei Hallucinationen ist, als wirklich, sondern spricht immer nur von Phantasien und Träumen. Offenbar fehlt seinen Sinnesvorspiegelungen bei aller Lebhaftigkeit noch etwas, was sie eben für sein Bewußtsein zu wirklichen machen würde. Hier handelt es sich also nicht um eine allgemeine Verwaschenheit der Vorstellungen wie im Krishaberischen Fall, sondern um ein Deficit von Be­ wegungsimpulsen bei lebhafter Erregung der centralen Sinnlichkeit. Und hier wird in der That den lebhaften Sinnesvorspiegelungen das Prädikat der Wirklichkeit nicht beigelegt. Nun muß ich sagen, daß nach meiner Erfahrung hal© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

292

Robert Sommer an Dilthey

lucinierende Menschen keineswegs ihrem körperlichen Bewußtsein so entrückt sind, als man manchmal annimmt. Ein Hallucinant empfindet z. B. Berührungen seines Körpers sofort, und ich meine in ihrem Sinne daß gerade das Erhaltensein dieses körperlichen Bewußtseins seine Sinnestäuschungen mit Realität ausfüllt, während er im andern Falle nur ein traumartiges Phantasieren in sich bemerken würde. Und gerade diese Ausstattung der Sinnes­ täuschungen mit dem unserem Selbstgefühl entnommenen Prädikat der Exi­ stenz führt diese Menschen der paranoia zu, während sie sonst phantasievolle Träumer bleiben würden. Hauptsächlich möchte ich Sie noch auf eine Sorte hypnotischer Erscheinungen hinweisen nämlich auf die Methoden des Hypnotisierens durch Gefangennehmen der Augenmuskelthätigkeit. Ich halte das für ein Eindämmen der Innervationsthätigkeit, welche die Grundlage unseres körperlichen Bewußtseins ist, auf ein Minimum, für eine Verdrängung aller anderen Inner­ vationsempfindungen. Einer Person, der man so die Grundlage ihres Bewußtseins und zugleich diejenigen Willensregungen, durch deren Vermengung mit unseren Anschauungen diese erst das Prädikat real bekommen, geraubt hat, kann man dann alle anderen „Ichs“ suggerieren, aber allen diesen suggerierten Vorstellungen scheint trotz ihrer Lebhaftigkeit das Prädikat der Wirklichkeit zu fehlen, was freilich in den Schriften über Hypnotismus wenig hervor­ gehoben wird. Ich glaube, daß Sie in der Eindämmung der Innervations­ impulse bei dem Hypnotisieren einen wichtigen Anhaltspunkt für Ihre Lehre haben. Für heut schließe ich und hoffe sehnlichst auf die Correctur. Mit herzlichem Gruß für Sie und Ihre verehrte Frau Gemahlin, bei welcher ich mich in den nächsten Tagen noch schriftlich bedanken werde, mache ich für heut Schluß, um den Brief noch abgehen lassen zu können.

Ihr ganz ergebener R. Sommer

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 354, Bl. 382–384. 1 Robert Sommer (1864–1937): Psychiater und Philosoph; 1887 Promotion in Philosophie, 1888 Approbation, 1889 Assistenzarzt an der Psychatrie in Rybnik / Schlesien, 1890 Assistent K. Riegers in Würzburg, 1895 a. o., 1896 o. Prof. in Gießen. 2 Nicht überliefert. 3 Konrad Rieger (1855–1939): Psychiater; 1887 a. o., 1895 o. Prof. in Würzburg. 4 Ludwig August von Müller (1846–1895): Jurist; 1890–1895 bayer. Kultusminister. 5 Maurice Krishaber (1836–1888): ungar. Mediziner (HNO-Arzt). – D. nimmt in seinen Beiträgen Bezug auf M. Krishabers Schrift: De la Névropathie cérébro-cardiaque. Paris 1873. – Sommer meint den Aufsatz H. Taines: Les Vibrations Cérébrales et la pensée, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

293

in: Revue philosophique de la France et de l’étranger. Hg. von Th. Ribot. Bd. 3. Paris 1877, S. 1–9. Vgl. GS V, S. 117–121. – Théodule Ribot (1839–1916): franz. Philosoph und Psychologe; 1888 Prof. der Experimental-Psychologie am Collège de France in Paris; Begründer der franz. Psychologie.

[781] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

  Mein lieber Freund,

Gossensaß am Brenner [August 1890]1

… Es war zuletzt für mich eine furchtbar angestrengte Zeit. Die Geschichte der Philosophie zu Ende zu bringen, las ich fünfmal je 65 Minuten und dann eine Stunde danach noch eine zweite Vorlesung. Zwei Sitzungen an den Nachmittagen wöchentlich. Unter diesen Umständen mußte ich die ethische Vor­ lesung fertig schreiben, und schließlich die Akademieabhandlung2 wieder aufnehmen und so gut es ging zu Ende bringen. Sie hat mir noch große Qualen verursacht. Schließlich habe ich sie in die Druckerei geschickt und erwarte von den Einfällen bei der Korrektur hier das Beste. Ihr Umfang ist so daß sie in gewöhnlichem Druck 6–8 Bogen betragen würde. Ich bin unermeßlich b­egierig, was Sie nun dazu sagen werden. Mir ist sie nun nur ein Conzept, an Irrenärzte, Physiologen etc. zur Vollendung, an Philosophen zur Beurtheilung zu ver­senden. Noch die eine Abhandlung über innre Wahrnehmung und Zeit – dann ist der zweite Band beinahe gefüllt. Für den historischen Theil habe ich viel Neues erwogen, bei Gelegenheit von Laßwitz[’] Atomistik, die ich Ihnen noch sehr empfehle. … Heute nicht mehr, nur noch daß Sie ‚zum socialen Frieden‘ von Schulze (Sohn des ci devant Breslauers)3 über England sehr interessiren wird (be­ sonders über Carlyle). Steuerdirektor Burghart der hier war erzählte daß er für ­Miquel ein Memoire eben abgeschickt habe und die Steuerreform los gehen soll.4 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 73. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 D.s Beiträge. 3 Ci – devant: ehemaligen.  – H.  von Schulze-Gaevernitz, Vater von G. von SchulzeGaever­nitz, hatte bis zu seinem Tod im Oktober 1888 in Breslau gelehrt. – G. von Schulze© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

294

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

Gaevernitz: Zum socialen Frieden. Eine Darstellung der socialpolitischen Erziehung des englischen Volkes im Neunzehnten Jahrhundert. Leipzig 1890. 4 Nach der Abdankung Bismarcks wurde 1890 Georg Leo von Caprivi (1831–1899) Reichskanzler des Deutschen Kaiserreichs. Die neue Regierung begann, Reformen in verschiedenen Bereichen durchzuführen. Dazu zählt die große Steuerreform des neuen Finanz­ministers Johannes Franz von Miquel (1828–1901), der seit 1890 dieses Amt inne hatte. Die Reform wurde 1891 eingeführt und hat im Wesentlichen noch heute Gültigkeit. – Vermutlich Franz Emil Emmanuel von Burchard (1836–1901): Jurist und Politiker; 1882–1886 Staatssekretär im Finanzministerium; 1887 Präsident der preuß. Seehandlungsgesellschaft, der späteren preuß. Staatsbank.

[782] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Mein lieber Freund.

Wildbad Gastein den 28. 8. [18]90.

Wie sehr und wie lange ich als Correspondent in Ihrer Schuld bin, will ich gar nicht erst auszurechnen versuchen, sondern lieber gleich mit den Nach­ richten über unser Ergehen beginnen. Seit mehr als acht Tagen bin ich nun hier mit meiner Frau. Wir sind sehr gut untergekommen und gehören ganz und voll zu dem Wilde welches, rentabler als die Gemsen, oekonomisch ab­ geschossen wird. Da ich mich aber hinreichend vorbereitet hatte und diese Schattenseite reichlich in Rechnung gestellt hatte, wende ich gleichmüthig den Blick hiervon ab und richte ihn ungetrübt – wenn auch in Anbetracht der hiesigen starken Lichtreflexe durch eine blaue Brille – auf die wundervolle Naturgestalt. Die Combination von Phaenomen und Firmament, daß das Harte die Natur des wolkig Duftigen annimmt, der Contrast und die Transposition der Sinnesaussagen ist das Reizende. Darin scheint mir die besondere Lebendigkeit dieser Gebirgsnatur zu liegen, die nur1 deshalb einen besonderen Reich­ thum von Sagen hervorruft. Auch psychisch ist das Gleichgewicht ein labiles. So schön die natürliche Ansicht und Perspektive ist, so kann ich nach einigen Tagen mich damit nicht beruhigen. Daher habe ich durch Kenntniß der Sagen des Gasteiner Thals, noch mehr aber durch ein prächtiges kleines Buch, eine poetische Verlebendigung der Geschichte des Thals zur Zeit der Reformation mir die innere, die historische Perspektive verschafft. So ist mir das Natürliche menschlich und persönlich geworden und herzliche Theilnahme leitet auf langen Spaziergängen meine Schritte. Ein merkwürdiger und merkbarer Effekt der hiesigen Höhenluft, an die ich mich übrigens erst gewöhnen mußte, ist die gesteigerte Beweglichkeit. Fußtouren, die ich in Oels scheuen würde, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

295

werden hier ohne Weiteres unternommen und ausgeführt und erinnerte nicht ein Herzgefühl an Vorsicht, so würde ich die wirklichen Höhen­regionen aufsuchen. … Ich kann sagen: die letzten Monate ist es mir körperlich nicht gut gegangen. Da habe ich denn die leichtere rezeptive Beschäftigung der Lektüre traktirt. Einige tausend Seiten Kirchen- und Dogmengeschichte in meiner Weise Tropfen für Tropfen mit dem Bleistift in der Hand habe ich unter Anderem zu mir genommen. Das dreibändige Werk von Harnack ist unbestreitbar sehr gelehrt und charactervoll. An vielen Stellen auch geistvoll. Die Betonung des personellen Faktors in der Religion ist verbunden mit einer bemerkenswerthen Fähigkeit Personen historisch zu fühlen. Die wissenschaftliche Substanz des Ganzen ist und heißt Ritschl. Charakteristisch der streng wissenschaft­liche Gegensatz gegen den Geist der Tübinger Schule incl[usive] Strauß. Das ist das Neue und Bemerkenswerthe. Freilich die Lokalisation der Religion außerhalb des2 Intellekts ist schon Schleiermacherisch. Aber bei diesem ist die Scheidung in so fern weniger reinlich, als das Gefühl aesthetisch tingirt ist. Der lebendigen Zeit aber entspricht die Grundansicht, daß Person die eigentlich geschichtliche Größe ist. So weit ganz gut. Aber ein Riß und eine zentrale Dunkelheit geht durch das Ganze. Dogmatik wird als deteriorirende Alteration3 der Religion dargestellt. Hier fehlt der mißachtete Philosoph d. h. Psychologe, der den unvermeidlichen Zusammenhang von Empfinden und Vorstellen – Darstellen – nachweist und aufklärt. Dem Griechenthum als bösem Faktor wird Alles in die Schuhe geschoben und damit die Geschichte als berechtigter Faktor auf die Tage Luthers reduzirt. Und wo bleibt Paulus? Diese kritisch sicherste kirchen- und dogmengeschichtliche Größe? Er wird nur angezogen bei Augustin und bei Luther. Eine Geschichtserzählung der Dogmen­entwickelung wobei Paulus verschwiegen ist, weil er allerdings gleich einem streckenweise unter dem Boden fließenden Wasser nicht immer sichtbar ist. Aber Geschichtskenntniß ist zum besten Theile Kenntniß der verborgenen Quellen. Vor Allem aber kein Paulus zu seiner Zeit, weil er und seine Theologie nicht in das Schema der vorstellungsmäßigen Verunreinigung paßt. Dogmenverständniß und Werthung muß auf die lebendigen Motive der Gedankengestaltungen ein- und zurückgehen. Da mildert sich der scharfe und todte Gegensatz des Entweder-Oder. – Weiter: von jenem Standpunkte der Personalität aus konnte eine Dogmengeschichte ohne vorheriges Leben Jesu nicht geschrieben werden. Endlich aber: der Ausblick ist unklar. Lehre wird doch verlangt, ja sogar neue Dogmen­bildung. Welche soll das sein? Und wo ruht die religiöse Gewißheit, wenn von aller Psychologie abgesehen werden soll? Dann bliebe doch nur äußere Satzung. So erscheint mir das Werk als eine große Arbeitsleistung einer kräftigen, gelehrten, charaktervollen, aber nicht tiefen und nicht reichen Natur. – Welch © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

296

Alfred Goldscheider an Dilthey

erhebliches Quantum Welt steckt doch in Ritschls Reich Gottes als religiöser Beherrschung aller Natur. … [Briefschluss fehlt.] Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 74. 1 In BDY: „um“; – „nur“ wurde aus den Korrekturbögen (Juni–August 1923) von BDY übernommen. 2 In BDY: „der“. 3 Verschlechternde Gemütsbewegung.

[783] Alfred Goldscheider an Dilthey   Hochzuverehrender Herr Professor!

Berlin, 3.10. [18]90.

Indem ich Euer Hochwohlgeboren für die überaus gütige Übersendung Ihrer Abhandlung1 und hierbei zugleich nochmals für die so wohlwollende Aufnahme und Berücksichtigung meiner Arbeiten meinen ergebensten Dank ausspreche,2 gestatte ich mir auf die von Ihnen gestellte Frage, ob ich die ganze Auffassung in den Zusammenhang meiner psychologischen Betrachtung aufnehmen könne, kurz zu erwidern, daß meine Vorstellungen durch das Studium Ihrer Abhandlung in hohem Grade vervollkommnet worden sind, ohne sich irgendwo untreu zu werden. In dem Satze Seite 14, welcher damit endigt, daß das Hemmungsbewußtsein, das in der Widerstandserfahrung auftritt, ein DruckempfindungsAggregat zur Vorbedingung hat, liegt für mich der Beweis, daß Ihre philo­ sophischen Entwicklungen recht physiologisch basiert sind, und ich schätze mich glücklich, daß3 ich fühlte, daß bei den Funktionen des Muskelsinns den Sensationen, welche mit dem Widerstand verknüpft sind, eine höhere Bedeutung zukomme als ihnen von meinen Mitarbeitern eingeräumt worden war, durch Ihre scharfen Ausführungen gerechtfertigt zu sein. Da Euer Hochwohlgeboren zugeben, daß innerhalb dieses Druckempfindungs-Aggregates eine Empfindung besonderer Art sich heraushebt (S. 12), diejenige, welche ich als Widerstandserfahrung schlechthin bezeichnet habe, und welche ihren eigentlichen Charakter erst durch die mit ihr einhergehende, durch sie markirte Hemmung der Intention bekommt, so dürfte man doch wohl auch annehmen können, daß eben diese Empfindung, durch ihre eigenthümliche Qualität erkennbar, in uns das Erinnerungsbild einer Hemmung, eines Wider­ © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Alfred Goldscheider an Dilthey

297

standes auch dann hervorrufen wird, wenn sie entsteht, ohne daß ihr gerade eine Intention, ein Bewegungsvorstellungsbild vorhergegangen. Wird dies zugegeben, so glaube ich mich berechtigt, diese Empfindung besonderer Art als „Merkmal“ eines Widerstandes, somit als Widerstands-Empfindung zu bezeichnen, trotzdem sie diesen Charakter erst wie ich zugebe durch eine Willens-Erfahrung bekommen kann. Was den Satz S.11 betrifft: „Der Größe der hierbei aufgewendeten Arbeit oder Kraft werden wir uns bewußt“, so ist in demselben keine Vorstellung präjudicirt, wie wir uns dieser Kraft bewußt werden, und wie ich meine[,] läßt sich meine Ansicht, daß wir uns derselben nicht durch eine an den Impuls geknüpfte Empfindung, sondern vielmehr durch die in seiner Folge entstehenden, an seine Wirkungen geknüpften Sensationen bez[iehungsweise] deren Erinnerungsbilder bewußt werden, sehr wohl in Ihre Betrachtung einfügen. Bezüglich der weiteren Bemerkungen in Ihrem mich sehr ehrenden Schreiben4 möchte ich mich dahin äußern, daß mir augenblicklich nichts gegenwärtig ist, was ich zur näheren Begründung, Berichtigung oder weiteren Ausführung hinzufügen könnte bez[iehungsweise] hinzuzufügen für erforderlich hielte, daß ich dagegen mit größter Freude bestimmtere, von Euer Hochwohlgeboren erwünschte und gestellte Fragen über das Ihren Ausführungen zu Grunde gelegte sinnesphysiologische Material beantworten würde, soweit ich dazu im Stande bin. Ihrer freundlichen Werthschätzung nochmals dankend bin ich

mit vorzüglicher Hochachtung Euer Hochwohlgeboren ganz ergebener Dr. Goldscheider

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 175, Bl. 109–112 R. 1 Nicht überliefert. 2 D.s Beiträge; zu Goldscheider vgl. GS V, S. 100 f. 3 Im Original: „das“. 4 Nicht überliefert.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

298

Konrad Rieger an Dilthey

[784] Konrad Rieger an Dilthey Hochverehrter Herr College!

Würzburg. 17. X. [18]90.

Mit bestem Dank für die gütige Übersendung Ihrer mich in höchstem Grade fesselnden Abhandlung, verbinde ich die Bitte, beiliegende kleine Gegengabe1 freundlich aufnehmen zu wollen. S.63 der Schrift dürfte in nächster Beziehung stehen zu dem wichtigen Cardinalproblem, das Sie aufgestellt haben. Doch dürfte überhaupt meine Auffassung der sogenannten hypnotischen Erscheinungen einigermassen hergehören, da ich die jeweilige Verfassung des sogenannten „Bewusstseins“ wesentlich von Zuständen der Muskelcontraction abhängen lasse. Mit dem Hypnotismus an u. für sich mag ich mich aber jetzt nicht mehr befassen. Im Jahr [18]83 war es noch ein reinlicher Gegenstand.2 Seither ist es durch zu viele Hände besudelt worden. Ich habe im Jahr [18]87 einen gepfefferten Artikel über den Unfug veröffentlicht in der „Zeitschrift für die gesammte Strafrechtswissenschaft“ (Bd.7),3 von dem ich aber leider keinen Separat­abdruck mehr besitze. Meine Auffassung der psychologischen Bedingungen des sog. ‚Hypnotismus‘ ist über dem sonstigen Altweibergewäsche zum Glück völlig unbemerkt geblieben, so dass sie sich auch noch nach sieben Jahren als eine immaculate4 ausgeben darf. Doch ich mache es wie der Kukuk in der Fabel, der, wenn andre nicht von ihm sprechen, um so mehr selbst von sich spricht; statt dass ich Ihre Fragen beantwortete: Über „diejenigen Fälle, in welchen sinnliche Wahrnehmung mit dem Zweifel an ihrer Realität vorhanden ist, oder Hallucination mit dem Bewusstsein ihres Charakters auftritt“ – möchte ich Sie besonders bitten, eine im vorigen Jahr erschienene Schrift einzusehen: „Die Hallucinationen im Muskelsinn“ von Dr. A. Cramer, Freiburg 1889.5 Sie enthält viele für Ihre Frage wichtige Citate u. auch interessante eigene Mittheilungen. Ich glaube, dass Sie an der Hand dieser Citate rasch in alles eindringen werden, was in der psychiatrischen Literatur für Sie wichtig ist. Ich werde mit grösster Aufmerksamkeit der weiteren Entwicklung Ihres Problems folgen. Auch die Psychiatrie würde ganz andere Fortschritte machen, wenn ihr von der Philosophie eine bessere Psychologie geboten würde. So steckt sie noch gänzlich in der Zwangsjacke des Cartesianismus. Ich persönlich bin schon ca. seit dem Jahr 1882 der Ansicht, dass von einer Psychologie, deren Fundament die völlig scholastische qualitas occulta „Emp© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

299

findung“ ist, absolut nichts zu hoffen ist, dass wir einer völlig neuen Psychologie bedürfen, die von nichts ausgeht als von der Thatsache, dass wir eine Muskelmaschine, dass wir „Fleisch“ sind, dem durch Sinnespforten einige regulirende Reize zukommen. Als höchstes Problem der Psychologie denke ich mir dann das, den Process aufzuzeigen und zu beschreiben, wie dieses „Fleisch“ – „Wort“ wird (umgekehrt als es bei Johannes heisst). Verzeihen Sie diese etwas mystische Formulierung; aber ich finde keine treffenden Worte, um das, was mir vorschwebt, kurz zu bezeichnen. Mit nochmaligem besten Dank für Ihre freundliche Aufmerksamkeit Ihr verehrungsvoll ergebenster Rieger. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 175, Bl. 115–118. 1 Nicht überliefert. 2 K. Rieger: Der Hypnotismus. Jena 1884. 3 K. Rieger: Einige irrenärztliche Bemerkungen über die strafrechtliche Bedeutung des sogenannten Hypnotismus, in: Zeitschrift für die gesammte Strafrechtswissenschaft 8 (1888), S. 315–324. 4 Unbefleckte. 5 Johann Baptist August Cramer (1860–1912): Psychiater; 1887 Promotion in Marburg, 1889 Arzt in der Landesirrenanstalt in Eberswalde, 1895 Habilitation in Göttingen, 1887 a. o., 1900 o. Prof. ebd. – Die Hallucinationen im Muskelsinn bei Geisteskranken und ihre klinische Bedeutung. Ein Beitrag zur Kenntniss der Paranoia. Freiburg 1889.

[785] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Mein lieber Freund.

Klein-Oels den 22.10. [18]90.

Seit lange bin ich als Correspondent in Ihrer Schuld, will daher Ihr gestri­ ges Schreiben1 alsbald mit bestem Danke beantworten, noch bevor ich Ihrem Wunsche gerecht werden kann, meine Gedanken über Unterrichtsreform schriftlich zu fixiren und diese Notizen Ihnen zuzustellen. Ihnen aus unseren Gesprächen nicht schon Bekanntes wird sich kaum ergeben. Doch werde ich in Kürze zusammenstellen, was mir zu sagen erforderlich und erwünscht erscheint und das Ergebniß übersenden. Bei der Kürze der Zeit und daher der © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

300

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

Form werden die Motive der Postulate nur angedeutet, von einer historischen Begründung wird ganz abgesehen werden müssen. Daß Sie den Entschluß gefaßt haben sich vernehmen zu lassen, freut mich sehr.2 Sie wissen, daß ich dies für sachgemäß, ja in mehr als einer Hinsicht für erforderlich ge­halten habe und halte. Sollte der Grund dafür, daß Sie die ursprüngliche Abneigung Sich zur Sache zu äußern überwunden haben, in Ihrer Berufung in die ­enquête-Kommission bestehen, so läge ein doppelt Erfreuliches vor. Ich hege den stillen Wunsch zu den Gestrichenen zu gehören, was mir auch wahrscheinlich ist bei der Breite des Abstrichs. Ein günstigeres Feld würde mir die demnächstige Kommissionsberathung im Stadium des Herrenhauses gewähren. Denn ohne Gesetzesform wird sich die Unterrichtsreorganisation doch nicht vollziehen lassen. Auch in rein persönlichem Interesse wünsche ich mir Freiheit. Denn ich habe die feste Absicht vom Januar ab mit Heinrich vier Monate in Italien zu verleben. – Wenn der Kaiser den Landtag selbst eröffnet, so werden wir uns am 12. Nov[ember] in Berlin sehen. Die Unruhe innerhalb des alten Staatsgebäudes nimmt, mir bedenklich, zu. Unterrichtswesen, Steuerwesen, Gemeindeordnung! ‚Es muß sich Alles Alles wenden.‘ Leider mit Hast, ohne Rast. Von dem Rhetor Miquel3 erwarte ich Schlimmes. Er ist ein glaubensloses Talent. Die Parteiverschiebungen können monströs werden. So kann ich mir denken, daß ich mit Windhorst4 gemeinsame Opposition mache gegen den platten Animalismus H. Spencerscher Paedagogik. Denn weit lieber ein Aquinate als ein Materialist. Auf H. Spencer kommt die Sache der Modernsten doch hinaus. Tendenz der Erziehung Kräftigung der Selbstsucht und das in einem Staate der gebaut ist nicht auf Interesse sondern auf Gehorsam. Ich fürchte man gräbt an den Fundamenten, nicht nur von Seiten der Sozialdemokraten. Diese haben m. E. in Halle einen großen Erfolg davongetragen.5 Praktische Schüler Spencers, mit dessen Begriff von Wissenschaft sie operirt haben. Daß Liebknecht6 und Bebel,7 die Selbstwerthe welche mächtig sind durch die große Reihe der hinter ihnen befindlichen Nullen, die Bewegung in das gewerkvereinliche Geleise leiten wollen, ist höchst bedeutsam. Organisation des Kampfes Aller gegen Alle. In England bis auf einen gewissen Grad möglich ohne Aufhebung des Staats. Aber bei uns? Das Buch von dem jungen Schulze-Gävernitz8 eine schöne Arbeit, aber jung an Er­ fahrung. Brentano ists, dem man dazu Glückwünschen kann. Er erscheint als ‚der Meister‘.9 Daß er es über Schmoller davongetragen, kommt mir nicht unerwartet. Eine epimetheische Natur hat eben immer das Nachsehen. – Also bald ein Weiteres, wenn auch Geringes. Original: nicht überliefert; BDY, Nr. 75. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Herman Grimm an Dilthey

301

1 Nicht überliefert. 2 D.: Schulreform und Schulstuben; aus dem Nachlass veröffentlicht in: GS VI, S. ­83–89. – D. hat den Aufsatz anlässlich der Schulkonferenz 1890 verfasst. 3 Der nationalliberale Politiker Johannes von Miquel (1828–1901) war seit 1890 preuß. Finanzminister. 4 Ludwig Johann Ferdinand Gustav Windthorst (1812–1891): Jurist und kath.-kon­ servativer Politiker; seit 1871 Reichstagsabgeordneter und Führer der Zentrumspartei; entschiedener Gegner Bismarcks im sog. „Kulturkampf“. 5 Parteitag der SPD in Halle 12.–18.10.1890. 6 Wilhelm Liebknecht (1826–1900): Politiker; Gründungsmitglied der SPD. 7 August Bebel war neben Liebknecht Gründer der SDAP (1869) und ab 1892 einer der Vorsitzenden der SPD. 8 G. von Schulze-Gaevernitz: Zum socialen Frieden. Eine Darstellung der socialpolitischen Erziehung des englischen Volkes im Neunzehnten Jahrhundert. Leipzig 1890. 9 Der Nationalökonom und Sozialreformer („Kathedersozialist“) Lujo Brentano war der akademische Lehrer von G. von Schulze-Gaevernitz.

[786] Herman Grimm an Dilthey

Lieber Dilthey,

meine Gedanken für den Beweis der Existenz der Dinge sind folgende.1 Die Menschheit produciert (vielleicht nach gesetzlichen Procenten) gesunde, d. h. völlig harmonische ausgebildete Exemplare, welche wir Persönlichkeiten nennen. Diese Persönlichkeiten sind als solche nicht zu erklären, sondern werden dank des Consensus communis als solche empfunden und bezeichnet. Diese Persönlichkeiten sind in ihrer Zusammensetzung nicht nachweisbar, sondern vorhanden, wie Elemente chemischer Art vorhanden sind, sie sind Urtypen. Diese Persönlichkeiten haben die Kraft und den Wunsch, sich auszusprechen, und was sie sagen ist das dem Durchschnittsmaasse der Menschheit Entsprechende. Das Wahre. Unsere Aufgabe ist, diese Äusserungen der Persönlichkeiten zu hören, zu sammeln und mit unseren eigenen Gedanken (uns den ihrigen unterordnend) zu vergleichen. Die Resultate dieser Arbeit haben Werth für die Allgemeinheit. Sie haben die Neigung, menschliche Gedankenoperationen pathologisch zu erklären. Sie legen Werth auf Erfahrungen von Leuten, welche durch Leiden irgendwelcher Art einseitigen Reiz empfangen. Diese mit einem Minus be­hafteten, eo ipso unharmonischen Menschen können keine Maaßgebenden Phaenomene produciren. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

302

Theodor Lipps an Dilthey

Der Satz cogito ergo sum hat nur Sinn, wenn der[,] welcher cogitat, eine Persönlichkeit ist. Sagen wir X. Nur für ihn passt der Satz. Für Herrn Y. müsste es lauten, X cogitat, ergo ego Y sum. Dieses Beispiel passt für alle philosophischen Operationen, wo nicht von Persönlichkeiten ausgegangen wird. Sie sprechen da von den Hallucinationen vieler Leute: wer denn kann sich selber in krankhaften Zuständen genügend beobachten? Ich habe auch noch nie eine Beobachtung erlebt, die sich auf das geistige Wesen eines Andern bezog, die nicht falsch gewesen wäre. Hoffentlich geht es Ihnen besser als mir. Viele Grüsse an Frau und Kinder.

Der Ihrige H. Grimm.

30. oct[ober] 1890. Mit einem alten Besenstiele von Feder geschrieben, die ich 1863 zuletzt gebraucht habe. Ihr Heft zu lesen, hat mir fürchterliche Mühe gemacht, Ihrer Art Gelehrten schreiben nicht verständlich für arme ungelehrte Invaliden. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl. 37–38. 1 Offensichtlich hatte D. seine Beiträge an H. Grimm geschickt, der mit diesem Brief darauf reagiert.

[787] Theodor Lipps an Dilthey Hochverehrter Herr Professor

Breslau, den 1. Nov[ember]18901

Beifolgend erlaube ich mir Ihnen die Einladung zur Mitwirkung an den ‚Beiträgen zur Aesthetik‘2 zu übersenden. Ich füge persönlich den dringenden Wunsch und die ergebenste Bitte hinzu, daß Sie der Sache Ihr Wohl­ wollen und wenn es Ihnen möglich sein sollte, Ihre werktätige Unterstützung zuteil werden lassen möchten. Es bedarf nicht der Versicherung, daß wir es als eine Bürgschaft für die Lebensfähigkeit und Zukunft des Unter© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

303

Carl Stumpf an Dilthey

nehmens betrachten würden, wenn Sie sich zu solcher Unterstützung entschließen könnten. In vorzüglicher Hochachtung Ihr

ganz ergebener Th. Lipps.

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl. 44–45. 1 Im Original über der Anrede der Briefkopf: „Beiträge zur Ästhetik. Herausgeber: Prof. Dr. Theodor Lipps, Breslau, Charlottenstraße 10 [–] Prof. Dr. R[ichard] M[aria] Werner, Lemberg, Staszica 8 [–] Verleger: Leopold Voss, Hamburg, Hohe Bleichen 18.“. 2 Der erste Band der Beiträge zur Ästhetik erschien 1891 in Hamburg und Leipzig. Er enthält den Beitrag von Th. Lipps Der Streit über die Tragödie, jedoch keinen D.s.

[788] Carl Stumpf an Dilthey Verehrtester Freund,

München 7 Nov[ember] 1890

ich muss Ihnen vor Allem mein Compliment über Ihre ausgezeichnete Abhandlung machen und Ihnen nicht blos dafür danken sondern auch, wie Sie wünschten, offen meine Gedanken darüber schreiben.1 Ich habe sie sofort durchstudirt, konnte aber nicht gleich zum Schreiben kommen. Das reiche tatsächliche Material, das Sie gegenüber der beliebten blos abstracten Untersuchungsweise hineinzuweben wussten, macht ja ebenso wie die Darstellungsform die Lectüre zum Genuss. Vollkommen bin ich nun mit Ihnen einverstanden 1) dass die bisherige „intellektualistische“ Erklärung, sei es dass man bewusste oder unbewusste Schlüsse annimmt, die Sache nicht erschöpft 2) dass der gewöhnliche Glaube an die Aussenwelt (abgesehen von den Er­ wägungen des Philosophen) nicht auf abstracten Schlüssen beruhen kann 3) dass Willenserfahrungen in gewissem Sinne bei der Entstehung dieses Glaubens mitwirken u. eine grosse Rolle spielen. Dagegen weiss ich nicht, ob ich der näheren Fassung dieser letzten Behauptung zustimmen kann, da mir der Ausdruck Erfahrungen des Willens, den Sie an zahlreichen entscheidenden Stellen anwenden, nicht vollkommen ein© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

304

Carl Stumpf an Dilthey

deutig scheint. Erfahrungen über meine Willensacte u. über die Hemmungen, die sich ihrer Ausführung entgegenstellen, sind als Erfahrungen so gut wie die über Farben, Töne, oder über innere Zustände beliebiger Art Denkacte. Sie haben nur eben in diesem Fall zu ihrem Gegenstand einen Willen. Die Überzeugung von der Aussenwelt scheint sich nun zu bilden nicht indem wir wollen u. in der Ausführung gehemmt werden, sondern indem wir diese Wollungen u. Hemmungen wahrnehmen und die Wahrnehmungen mit anderen combiniren. So aufgefasst würde ich denn die Hereinziehung des Willens nicht als ein Verlassen der „intellektualistischen“ Erklärungsweise überhaupt an­ sehen, sondern vielmehr als eine Erweiterung derselben, indem das Material der Denktätigkeiten, die zum Glauben an die Aussenw[elt] führen, genauer u. vollständiger bestimmt wird. Allerdings muss wol auch das Princip insofern corrigirt werden, als es sich hier nicht um abstracte Schlüsse handeln kann. Und hier scheint mir die Hauptschwierigkeit zu liegen. Es ist beinah unmöglich, das concrete Denken – hier wie überall – zu beschreiben, wenn man nicht in die Ausdrücke zurückfallen will, die dem abstracten entnommen sind. Wenn das Pferd ein Wirtshaus-Schild wiedererkennt trotz veränderter Umstände der Beleuchtung u.s.f., so erkennt es dasselbe an gewissen abstracten Merkmalen, die wir durch Allgemeinnamen bezeichnen u. unter „Schild“ zusammenfassen, und doch nicht an u. durch den Begriff Schild selbst. Im Hinblick auf diese Schwierigkeit, die mir auch in anderen Gebieten vielfach begegnet ist (ich weiss nicht, ob ich sie hier gut charakterisirt habe), glaube ich vollkommen zu begreifen, warum Sie sich so energisch gegen die „intellec[tualistische]“ Auffassung wenden. Aber es will mir scheinen, dass Sie bei dieser Polemik zu weit gegangen seien. Doch kann ich das nur mit Vorbehalt aussprechen, da eben hier Alles auf die Definition der „Willenserfahrungen“ ankommt. Auch möchte ich zwischen der psychologischen Entstehung des naiven Glaubens und der logischen Begründung der philosophischen Ansichten über die Aussenwelt schärfer unterscheiden. Für letztere dürfte sich doch keine andere wissenschaftl[iche] Form als die der Hypothese finden. Wenngleich dabei wesentliche Elemente aus dem psychologischen Process als brauchbares Material herübergenommen werden, darunter die Willenstatsachen, so kommt man damit doch nicht zur Aussenwelt mit Haut und Haar, sondern zu einer recht abstracten Formel, in der sogar die Raumanschauung verschwunden und nur deren mathematische Merkmale übriggeblieben sind. Sie haben sich freilich solche Abweichungen vorbehalten, indem Sie neben u. nach der Analyse des gemeinen2 Glaubens eine „Erweiterung des Horizontes“ und einen „wolverstandenen Sinn“ derselben gelten lassen u. dessen Ermittelung als Aufgabe der Wissenschaft betrachten. Mir scheint aber, dass man auch die Wurzel der © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Carl Stumpf an Dilthey

305

„lebendigen“ Überzeugung logisch prüfen u. reconstruiren muss. Eine wissenschaftliche Überzeugung dürfte doch, wenn und soweit überhaupt, nur unter dieser Bedingung zu Stande kommen. Kurzum ich kann den Intellectualisten principiell nicht los werden. Hätten wir Ihre Abhandlung neulich bei Ihrem freundlichen Besuch schon vor uns gehabt, wie Manches hätte sich dann vielleicht in Kürze unter uns erledigen lassen; hoffentlich gibt sich im nächsten Jahr Gelegenheit, wo wir uns wol auch auf dem Brenner ansiedeln werden. Haben Sie die neue Psychologie von William James, 2 Bde, schon ge­ sehen?3 Ein ausgezeichnetes Werk, das beste ohne Zweifel, das wir haben. Wundt kommt schlecht darin weg. Vgl. I 89, 415, II 28, 277. Vacillating, obscure, hazy, full inanity, mere sound and skin – das sind die Beiwörter, die er hier bekommt. Ich dachte dabei an unser Gespräch über ihn. In meinem an ­Ebbinghaus gesandten Artikel wird auch das kritiklose Darauflosexperimentiren in seinem Laboratorium schärfer als es sonst bei uns üblich ist, verurteilt, und hoffentlich nicht ohne Wirkung. Ich zeige, dass die jahrelang fortgesetzten Lorenz’schen Versuche (über 100.000) in der ganzen Anlage vollkommen verfehlt sind, reiner Zeitverlust.4 Noch Wünsche für ein gutes Studienjahr und für die ganze Familie, an deren Besuch wir uns gern erinnern, und herzliche Grüße

von Ihrem C. Stumpf

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 140, Bl. 240–242 R. 1 Nicht überliefert. – D.s Beiträge zur Lösung der Frage vom Usprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und und seinem Recht. 2 Im Original darüber in runden Klammern: „lebendigen“. 3 William James (1842–1910): amerik. Psychologe und Philosoph; 1876–1907 Prof. für Psychologie und Philosophie an der Harvard Universität; Begründer des Faches Psycho­ logie an amerik. Universitäten; Vertreter des Pragmatismus. – The Principles of Psychology. 2 Bde. New York und London 1890. 4 C. Stumpf: Über Vergleichungen von Tondistanzen, in: ZPPS 1 (1890), S. 419–462; Ders.: Besprechung von C. Lorenz: Untersuchungen über die Auffassung von Tondistanzen. Wundts Philos. Studien VII. Band. 1.  Heft (1890), S.  26–103, in: ZPPS 1 (1890), S. 140–141. – Bei letzgenannter Schrift handelt es sich um die Dissertation des WundtSchülers Carl Adolf Lorenz. Leipzig 1890.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

306

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

[789] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

[Klein-Oels den 10.11.1890]1

Zur Landtagseröffnung komme ich wohl nicht nach Berlin, da mein rechtes Auge wieder einmal nicht in Ordnung ist, dem Herrenhause übrigens auch keine Vorlage anfänglich zukommen soll. Zürnen Sie nicht, daß ich zur Schulreformfrage noch nichts sendete. Meine Aufzeichnungen haben einen umfänglicheren Charakter angenommen als ich selbst annahm und überdem hindert das Auge. Sobald ich fertig, sende ich den Aufsatz.2 Nunmehr scheint mir fraglos, daß auch ich zu den glücklichen Gestrichenen gehöre. Es wäre voraussichtlich doch nichts zu erreichen gewesen, persönlich aber ists weit bequemer nicht betheiligt zu sein. So reiner Vortheil. Übrigens kommt die Sache im Stadium der Legislation doch noch einmal unsereinem unter die Hände. Große Freude brachte mir die Nachricht von Heinrichs3 Assessor. In der Annotation zu Ihrer Abhandlung über die Außenwelt begriffen, bekam ich Ihre Aufforderung bezüglich der Schulreform. Ich mußte daher jene angefangene Arbeit abbrechen und ruht sie seitdem und bis ich die Schulfrage  los bin. Sind denn Sie in der Enquête-Kommission? Gern wüßte ich dies sowie die Namen der Mitglieder. Wenn nicht die Organisationsfrage gestellt und radikal erledigt wird, dann wird nichts herauskommen. Alle Änderung der Methode, wie sie so oft schon versucht worden, führt zu nichts, wenn es in jener Beziehung beim Alten bleibt. Es ist geradezu komisch zu sehen, wie die Weisen seit dem Jahre 1848 mit salbungsvollen wohlmeinenden Vorschlägen sich im Kreise drehen, sich bewegen ohne vorwärts zu kommen. Wiese, Schrader4 und Consorten doch alle halbe Denker. Freiheit aber Polizei, Spontaneität aber Bestimmung, Individualität aber Gleichheit. In solchen Widersprüchen treibt sich ein Compromißsentiment herum. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 76. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 Yorck hat diesen Aufsatz nicht abgeschlossen. Er wurde erst aus seinem Nachlass von J. von Kempski herausgegeben: Gedanken über eine Reform des Gymanasialunterrichts in Preußen, in: Archiv für Philosophie 9 (1959), S. 285–313. 3 Yorcks ältester Sohn Heinrich. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

307

Johannes Rehmke an Dilthey

4 Ludwig Adolf Wiese (1806–1900): Pädagoge und Ministerialbeamter; 1829 Promotion, 1838 Prof. am Joachimsthaler Gymnasium in Berlin, 1848 Direktor des Marienstiftsgymnasiums in Stettin, 1852 Dezernent für das höhere Unterrichtswesen im preuß. Kultusministerium. – Karl Wilhelm Franz Gabriel Schrader (1834–1913): Jurist und Politiker; 1881–1913 Reichstagsabgeordneter; Mitbegründer vieler sozialer Einrichtungen.

[790] Johannes Rehmke1 an Dilthey   Hochverehrter Her College!

Greifswald 29⁄11 [18]90

Wie lange schon liegt die Feder gespitzt, um Ihnen meinen herzlichen Dank für die Uebersendung des Akademie-Vortrages zu übermitteln.2 Von jeher hat mich das, was Sie geschrieben, sehr angezogen und ich erinnere mich noch lebhaft, wie ich als junger Student der Theologie, nachdem ich das erste Heft Ihres „Lebens Schl[eiermacher]“ gelesen, in Kiel so gerne zu Ihnen in Beziehung gekommen wäre; wenn nicht die Schüchternheit mich abgehalten hätte, würde ich schon damals mich Ihnen persönlich genähert haben. Auch dieser letzte Vortrag hat mich ungemein interessirt. Wenn sich jetzt, nachdem ich selbst eine lange Entwicklung hinter mir habe, in das Lesen Kritik hineinmischt, so werden Sie dies begreifen; das Philosophiren ist, trotzdem daß Philosophie die Allgemeinwissenschaft sein soll, immer individuell, das Gegebene überhaupt bricht sich für den Einzelnen doch stets unter seinem individuellen Sehwinkel, und Philosophiren gründet sich auf Selbstbesinnung: in diesem Sinn hat meiner Meinung nach Fichte mit seinem bekannten Ausspruch völlig Recht.3 Eine kurze Anzeige Ihres Vortrages habe ich schon vor 14 Tagen an Ebbinghaus für die neue Zeitschrift gesandt;4 der mir zur Verfügung gestellte Raum gestattete mir nicht große Ausführlichkeit in der Wiedergabe und noch weniger kritische Ausführungen. Ob ich die Inhaltsangabe Ihnen recht gemacht habe, möchte ich seiner Zeit wohl gerne erfahren; ich nahm heraus, was mich besonders interessirte und suchte dem Grundgedanken vor Allem in der Darstellung gerecht zu werden; aber ich bitte, daraus nicht abzunehmen, als ob die Einzelnachweise desselben mich nicht als gespannten Leser gesehen hätten; gerade sie weiß ich als feine „Brüsseler Arbeit“ sehr wohl zu schätzen. Gefreut hat es mich sehr, daß auch Ihnen die Versuche von Helmholtz und Zeller durchaus ungenügende sind;5 sie sind offenbare Erschleichungen, die uns in der Streitfrage nicht weiter führen. Doch auch Ihren Versuch zur Lö© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

308

Johannes Rehmke an Dilthey

sung kann ich nicht als gelungen betrachten. In einem kurzen Briefe läßt sich natürlich keine genügende Widerrede führen; wenn mich das Glück einmal zum Besuch nach Berlin brächte, so möchte ich wohl um längeres Gehör bei Ihnen bitten. Hier nur kurz dieses: in Ihrem Vortrage scheint mir das nicht auseinandergehalten zu sein, was ich die Außenwelt überhaupt und das Einzelding der Außenwelt nennen möchte. Ihre Erörterungen gehen auf das Letztere und hier stimme ich denselben, obwohl ich in Betreff des Kerns unsres individuellen Bewußtseins nicht Ihrer Willensansicht bin, dennoch bei; die Analyse des Gegebenen ist eine gar vortreffliche. Aber die Realität eines Dinges der Außenwelt ist noch nicht die Realität der Außenwelt, und ich meine, jene kann gar nicht gewonnen werden, ohne daß schon das Bewußtsein von dieser vorliege. Trotz allen Willensimpulses, Druckempfindens, Vergleichens und Unterscheidens früheren Bewegungs- und jetzigen Druckempfindens, und trotz allen „Widerstandsempfindens“: dies alles auch zusammengefaßt, kann meiner Ansicht nach das Bewußtsein von einem Realen außer mir nur ent­ stehen, wenn ich schon das Bewußtsein von dem „außer mir“, von der Außenwelt überhaupt habe. Daher sehe ich auch in Ihrem Nachweise eine Erschleichung oder, wie die Alten sagten, eine „Subreption“. Meine eigene Auffassung und „Lösung“ hätte ich gerne schon in einer „Grundlegung der Philosophie“ veröffentlicht, aber die Herausgabe dieses Buches verzögert sich immer wieder, theils weil ich während des Schreibens in Betreff des schon Niedergeschriebenen wieder „klüger“ werde und dann das Alte umstoße, theils ich mich anderen Arbeiten, die mir der Kampf ums Dasein aufzwingt, widmen muß. So geht die Arbeit langsamer vorwärts als ich selber wünsche. Augenblicklich schreibe ich einen Artikel über die Seelenfrage für Ebbinghaus’ Zeitschrift, der mir mehrere Wochen Zeit nimmt; wäre nicht das leidige Geldverdienen, so arbeitete ich lieber an meiner auch in Vorbereitung zum Druck befindlichen Psychologie.6 So gerne hätte ich Sie in diesem Jahre einmal gesprochen; da die Umstände mir das Reisen nicht gestatteten, hoffte ich immer, Sie auf einem Ausfluge nach Rügen oder dem Norden hier begrüßen zu können. Vielleicht bringt der kommende Sommer die Gelegenheit!

In vollkommener Hochachtung bin ich Ihr ergebener J. Rehmke.

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl. 35–36 R.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

309

1 Johannes Rehmke (1848–1930): Philosoph; 1875 Promotion in Berlin, 1885 a. o., 1887 o. Prof. in Greifswald. 2 Nicht überliefert. – D.s Beiträge. 3 Vgl. J. G. Fichte: Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre (Erstveröffentlichung in: Philosophisches Journal 5 (1797), S. 1–47), in: Sämmtliche Werke. Hg. von I. H. Fichte. 8 Bde. Berlin 1845–1846; ND Berlin 1971, Bd. 1, S. 419–449, hier S. 434: „Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist.“ 4 Rezension J. Rehmkes: W. Dilthey. Beiträge zur Lösung der Frage nach dem Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt, in: ZPPS 2 (1891), S. 133–136. 5 Vgl. E. Zeller: Ueber die Gründe unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt, in: Ders.: Vorträge und Abhandlungen. Bd.  III. Leipzig 1884, S.  225–285.  – H.  von Helmholtz: Die Thatsachen in der Wahrnehmung. Rede, gehalten zur Stiftungsfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 1878, in: Ders.: Vorträge und Reden. Bd.  2. Braunschweig 1903, S. 213–247, Beilage: S. 387–406. 6 J. Rehmke: Lehrbuch der allgemeinen Psychologie. Leipzig 1894.

[791] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Mein lieber Freund.

Klein-Oels den 17.12.[18]90.

Wie lange ich nichts habe von mir hören lassen  – ich mag es gar nicht nachrechnen. Willens Ihnen Umfänglicheres als einen Brief zuzusenden zögerte ich von einem Tage zum anderen. Rücksicht auf den Zustand meiner Augen und wiederholtes körperliches Unbehagen verzögerten die Arbeit, bei der wie gewöhnlich die Innehaltung der thematischen Grenzen das Schwierigste ist. Gern möchte ich vor Antritt meiner italienischen Reise den Aufsatz abgeschlossen haben. Wenn ich so mit der Feder in der Hand spreche, so ist es doch im Wesentlichen zu Ihnen, daß ich rede, und die Hoffnung, daß dies oder jenes Ihnen gefallen möchte, ist der Hauptantrieb. Nun kam wieder ein beredtes Zeichen Ihrer freundschaftlichen Theilnahme: der Separatabdruck Ihres Artikels über Schleiermacher.1 Da will ich denn wenigstens den herzlichen Dank nicht länger zurückhalten. In anderer Gedankenrichtung mich bewegend bin ich zu aufmerksamer Lektüre noch nicht gekommen. Eine pietätische Freude erweckte mir, daß Sie im Litteraturnachweise Braniß’ Arbeit aufgeführt haben.2 Vor vielen Jahren habe ich diese Arbeit gelesen, die einen schwachen Punkt der Schleiermacherschen Systematik zwar trifft, aber ungenügend und ohne Tiefe des psycho-historischen Blicks behandelt, rein formal und echt metaphysisch. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

310

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

Was sagen Sie nur zu dem Verlaufe der ‚Schulfrage‘? Wünsche[,] aber keine Gedanken. Das Ganze kommt auf ein todtes Hinzu- oder Hinweg-thun heraus. Nach meiner Ansicht liegt ein Bankerott vor, aber nicht nur auf einer Seite. Soweit man nach den mageren Zeitungsnotizen urtheilen kann, war der Klügste und Lebendigste doch Paulsen.3 Der Minister sucht dem Kaiser ein x für ein u zu machen. Er wird bald eine Enttäuschung erleben. Schade um den Kultusminister, gut für das Unterrichtswesen. Der circulus vitiosus liegt in der regimentalen Sphäre des Unterrichts und datirt von lange her. Auf das zu Grunde liegende antinomische Verhältniß will ich bestimmt hinweisen. Besser für die Sache, wenn Sie es thäten. – Heinrich ist nun hier und erholt sich von der Examenanstrengung jagend. Er theilte mir mit, daß Sie mit Ihrem körperlichen Befinden nicht zufrieden seien. Hoffentlich haben Sie beim Eintreffen dieser Zeilen keinen Grund mehr zu solcher Klage. Ja, lieber Freund, für Jemand, der wie Sie mit und in sich lebt, ist Berlin ein anstrengendes milieu, Kraft verzehrend ohne entsprechend Substanz zu bieten. Eine andere Nachricht erfreute mich ungemein, die Mittheilung nämlich, daß Sie ins Auge gefaßt hätten im Frühjahre uns in Rom oder Florenz zu besuchen. Lassen Sie doch ja den Plan Wirklichkeit werden. Wie schön wäre solcher gemeinsame Genuß! Auch körperlich würde Ihnen dieser Ausflug gewiß sehr zuträglich sein. – Und nun, lieber Freund, in aller freundschaftlicher Nachsicht lassen Sie ein Wörtchen von Sich hören von Ihrem und der Ihren Ergehen. Und nähern Sie dem Einsiedler auch wieder einmal ein Stückchen Welt. – Abends im Bette lese ich die Briefe Rankes.4 Doch sehr reizend. Seine Historiographie erhält auch von daher Licht. Die ganze Geschichte ein in einandergreifendes Kräftespiel von nur phänomenalem Werthe. Neben anderem erstaunlich die totale Goethelosigkeit. – Abstraktion der Okularität von aller Empfindung, die rein persönlich bleibt. Da nun historische Wirklichkeit Empfindungsrealität ist, so Geschichte Phänomen, höchstens der hinter Wolken verborgenen Gottheit lebendiges Kleid. – An persönlichen Notizen hätte der Herausgeber Dove Einiges hinzuthun müssen. Der ist ja nun übrigens wieder in sein natürliches Fahrwasser eingemündet.5 Er hat Hanns6 davon geschrieben. Die drei Faktoren hiesiger Geselligkeit: Schloß, Villa und Hoeckricht kommen zusammen, so weit es die isolirende Winterkälte gestattet. In den nächsten Tagen wird es durch den Beginn der Jagden lebhafter. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 77. Der letzte Absatz des Briefes wurde aus den Korrekturbögen (Juni–August 1923) von BDY ergänzt.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

311

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

1 D.s Beitrag: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, in: ADB 31 (1890), S. 422–457; WA in: GS IV, S. 354–402. 2 Der Philosoph Christlieb Julius Braniß (1792–1878), der in Breslau gelehrt hatte, war Yorcks Lehrer und ein häufiger Gast in Klein Oels. Yorck hat ihm seine Jugendschrift gewidmet, die sich aus einer Prüfungsarbeit für den höheren Verwaltungsdienst ergab: Die Katharsis des Aristoteles und der Oedipus Coloneus des Sophokles. Berlin 1866. – Ueber Schleiermacher’s Glaubenslehre. Breslau 1824. 3 Der Philosoph und Pädagoge Friedrich Paulsen (1846–1908). 4 Der Historiker und Ranke-Schüler A. Dove gab die letzten 6 Bände, Bd. 49–54, von Rankes Sämmtlichen Schriften nach dessen Tod im Jahre 1886 zwischen 1887–1890 heraus. Im letzten Bd. ist enthalten: L. von Ranke: Zur eigenen Lebensgeschichte. Leipzig 1890. 5 A. Dove war 1870 Redakteur der Zeitschriften Die Grenzboten und Im neuen Reich, 1890–1893 und 1895–1897 redigierte er die Allgemeine Zeitung in München. 6 Yorcks jüngerer Bruder Hans.

[792] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Mein lieber Freund,

[Dezember 1890]1

Die Feiertage sind vor der Thür, ich bin von den Vorlesungen frei, da mahnt Ihr erfreulicher Brief zur Weihnachtsäußerung. Zunächst meine Freude daß Sie diese Weihnachtszeit umgeben von einer so großen und im Ganzen glücklichen Familie, in einer eigenen Arbeit, der Erfüllung eines lange gehegten Reisewunsches in der schönsten Form so nahe verleben dürfen. Ihr Aufsatz ist ein wahrer Segen.2 Das Ergebniß der Konferenz ist so gänzlich unbefriedigend, für das große Publikum, die Zeitungen, das Abgeordnetenhaus, aber auch für den ernster den Fragen ins Auge Sehenden, daß wir nun erst am Anfang der ganzen Sache stehen. Die geheime Geschichte war folgende. Vor dem Zusammentritt war Goßler in täglicher Erwartung seines Falles, dies weiß ich ganz sicher. Die Diversion3 machte der alte Bundesgenosse der humanistischen Studien, der vortreffliche (denn so sehe ich ihn an) ­Lucanus.4 Ein Mensch dieser Welt, vielerlei als zu nehmen oder zu lassen ansehend, skeptisch, aber dann dahinter einige feste Überzeugungen, von denen er nicht läßt, einst durch diese Festigkeit auch für Goßler unschätzbar. Er hat den Kaiser bestimmt, seine Ideen über Deutsch, Geschichte, körperliche Übungen und gesunde Entfaltung auf den Gymnasien selber zur Durchführung bringen zu lassen, dagegen der ungemessenen Begehrlichkeit der Realgymnasien, die nun vor der Konferenz nach dem juristischen Studium die Hände ausstreckten, und die in der That von ihrer Existenz unabtrennbar ist, durch Vernich© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

312

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

tung dieser Existenz ein Ende zu machen. Ein Einschnitt den nur der Kaiser selbst machen und vielleicht auch er nicht durchsetzen kann; wir werden ja sehen! Nun kam die Imperatorenerscheinung des Kaisers inmitten seines dienstpflichtigen Senates. Wiederum war die Stellung der humanistischen Parthei festgelegt durch die der Realgegner. Diese (Paulsen) traten nun zunächst dafür auf, daß an den Gymnasien nichts wo möglich geändert werden dürfe. Sint ut sunt.5 Dann war ja ihr Schicksal besiegelt. Dann in der Sitzung in welcher der Kaiser anwesend war brachte Paulsen den Antrag ein, man möge für das Abgangsexamen der Realanstalten für die Universität die Reifeanforderung an abgehende Kadetten zu Grunde legen. Eine Bauernfängerei gröblichster Art, übrigens lächerlich mißglückt, da P[aulsen] seine Sache auch in der Form sehr schlecht begründete und der Kaiser nur mit dem Kopf schüttelte und dann sagte: Cadettenhaus und Officiersbildung aus dem Spiel! stehen unter mir! ­Zeller aber, der dem entgegen auf Friedrich den Großen hinwies, der das Griechisch aus Officiersbildung strich und für Studirte forderte, hatte einen durchschlagenden Erfolg damit und Er ist in der Schlußrede des Kaisers, die sich das aneignete, gemeint. Sie sehen durch diese Taktik müßten sich auch die Humanisten in ihrer Aktion bestimmt finden. Auch ich wirkte wo ich konnte dahin daß dieselben die Freiheiten, Erleichterungen, Änderungen, welche der Kaiser forderte, und theilweise mit Recht forderte, an den Gymnasien her­ beiführten. Leider haben sie bei dem Maturitätsexamen sich schulmeisterlich und pfäffisch, bei dem Deutsch gedankenarm, bei der Geschichte unter­ thänig gezeigt: drei große Fehler, die ihre Situation sehr verschlechtert haben. Aber das Durchgreifende ist doch, wenn es gelungen, die Realgymnasien wieder aufzulösen, dann können falsche Reglements immer wieder geändert werden. Nun aber entstehen natürlich sehr große Schwierigkeiten, da das sociale Bedürfniß, die Berufswahl in etwas reiferes Alter zu schieben, nun gar nicht befriedigt ist. Zugleich wird von Polytechnikern, Architekten etc. eine starke Opposition ausgehen. Man muß also billig sein. Gelingt die Hauptsache, die Realgymnasien zu beseitigen und durch kluge Einrichtungen entbehrlich zu machen, dann ist Vieles erreicht. Alles Innerliche, wirklich Sociale, wirklich Politische – Vacat!6 Noch einmal, wie schade daß Sie nicht darin waren! Ein Aufsatz von mir, schon von der National-Zeitung angenommen, liegt.7 Ich möchte von den nun zu erwartenden Angriffen, die über die Konferenz herfallen und sie zerfleischen werden, doch vielleicht einen abwarten. Dann sollen noch ganz andre Aufsätze von mir folgen.8 Dieser erste zahm, weil für die National-Zeitung. Also lieber Freund, es ist nöthig, wichtig und überaus heilsam daß Sie schreiben und das nächste Jahr wird von Streitigkeiten hef© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

313

tigster Art über diese Sache erfüllt sein. Kann man nicht irgendwie den Kern oder Position des Kaisers und der Konferenz festhalten und entwickeln, dann wäre jedes Schreiben nutzlos, vielleicht schädlich. Doch das muß man können. Dann läßt sich entwickeln, wie die Verfassung der Schulen, die Freiheit, die Schulen zu geschichtlichen und socialen Geschöpfen zu bilden, nun die Hauptsache sind. Aber wie man sich zu stellen hat, wird ja bald noch klarer werden, sobald erst das Abgeordnetenhaus gesprochen haben wird, wodurch dann erst die ganze Lage sich klärt. Lassen Sie doch ein Wörtchen hören, in welcher Stellung zu den Partheien Sie das Nothwendige, das jenseits dieser Partheien steht, sagen wollen. Denn gerade diese Stellung ist, da einmal die Interessen alle um die Partheifrage sich drehen, von sehr großer Importanz. Ich arbeite eben an dem historischen Stück des zweiten Bandes: psycholo­ gische und sociale Philosophie des 17.  Jahrhunderts, will es dann gleich ins Archiv geben und so aufs Trockne bringen.9 In Mußestunden an Zusätzen zu meinen Aufsätzen über Dichter und Poesie (natürlich ausgenommen den großen), aus denen eine Poetik erwachsen muß.10 … Möchte es sich verwirklichen lassen, daß wir Ihnen in Italien einen Besuch abstatten. Theilen Sie vielleicht gütig diesen Bericht in der Villa11 mit tausend Empfehlungen und besten Weihnachtswünschen mit. Ihr Herr Bruder würde mir einen rechten Gefallen thun, wollte er meine Artikel über Lessing (preuß[ische] Jahrb[ücher] 1867), Novalis, Grimm Goetheanzeige in Zeitschrift für Völkerpsychologie 1877 durchsehen und mir sagen wo er Verbesserungen und Zusätze wünschen würde.12 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 78. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 Yorcks Aufsatz Gedanken über eine Reform des Gymnasialunterrichts in Preußen, der erst postum veröffentlicht wurde. 3 Angriff von der Seite. 4 Hermann von Luccanus (1831–1908): Jurist und preuß. Staatsrat des Geheimen Zivil­k abinetts Kaiser Wilhelms II.; 1878 Ministerialdirektor, 1881 Unterstaatssekretär im preuß. Kultusministerium, 1886–1906 Geheimer Kabinettsrat und Chef des Zivil­k abinetts des Kaisers. 5 Sie seien, wie sie sind. 6 Es fehlt! 7 D: Schulreformen und Schulstuben. – Der Aufsatz wurde nicht, wie von D. geplant, in der Nationalzeitung abgedruckt; G. Misch gab ihn erst 1924 aus D.s Nachlass heraus: GS VI, S. 83–89; vgl. auch GS IX, S. 142–147. 8 Diese Absicht wurde nicht realisiert. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

314

Dilthey an Oskar Walzel

9 D.: Das natürliche System der Geisteswissenschaften im siebzehnten Jahrhundert. – Der Aufsatz erschien in: AGPh 5 (1892), S. 480–502 und in AGPh 6 (1893), S. 60–127, 225–256, 347–379, 509–545; WA in: GS II, S. 90–245. 10 D. hatte vor, seine Poetik, die er in seinem Beitrag für die Zeller-Festschrift 1887: Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik skizziert hatte, weiter auszuarbeiten. Damit im Zusammenhang steht sein Vortrag Ueber den Werth der verschiedenen Methoden in der Aesthetik, den er am 30. April 1891 in der AdW in Berlin hielt. Diesen Vortrag, der nicht veröffentlicht wurde, hat er verarbeitet in seinem Aufsatz Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe. Er erschien im August 1892 in: DRS 72 (1892), S. 200–263; WA in: GS VI, S. 242–287. – In den frühen 1890er Jahren entwickelte D. den Plan eines Buches, das den Titel tragen sollte: Poetik. Versuch einer Anwendung anthro­ pologischer und vergleichender Methode auf den Stoff der Literaturgeschichte (vgl. hierzu GS VI, S. 307–310). 11 Die Hg. von BDY merkt an: „In der Villa wohnte damals Paul Yorcks jüngster Bruder Hanns mit Frau.“ 12 D.: Ueber Gotthold Ephraim Lessing, in: PJ 19 (1867), S. 117–161 und S. 271–294; veränd. WA in: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Vier Aufsätze. Leipzig 1906, S. 1–136, 395–400 sowie in: GS XXVI, S. 12–112. – Novalis, in: PJ 15 (1865), S.  596–650; WA in: Das Erlebnis und die Dichtung, a. a. O., S.  201–282, 401–405 sowie in: GS XXVI, S. 173–223. – Ueber die Einbildungskraft der Dichter [Abhandlung im Anschluss an H. Grimm: Goethe. Vorlesungen gehalten an der königl. Uni­ versität zu Berlin. 2 Bde. Berlin 1877], in: Zf V 10 (1877), S. 42–104; umgearbeitet und unter dem Titel Goethe und die dichterische Phantasie abgedr. in: Das Erlebnis und die Dichtung, a. a. O., S. 137–200, 400 f.; WA in: GS XXVI, S. 113–172.

[793] Dilthey an Oskar Walzel 1 Lieber Herr Doktor!

[1890]

Nehmen Sie meinen herzlichen Dank für die freundliche Gabe eines so schönen Exemplares Ihrer Edition, welches mir vor ein paar Tagen der Ver­leger überbrachte.2 Seit dieser Zeit habe ich die Freude gehabt, Partien dieser Correspondenz, welche von mir einst mühsam gelesen wurden, nur im glatten Drucke genießen zu können. Ueberall scheinen mir Ihre Anmerkungen gründlich und sachentsprechend. Ich kann würdigen, welche Belesenheit und welche Arbeit zur Herstellung dieser Edition erforderlich war. Aus der Art wie ich selbst die Correspondenz benutzt habe[,] gewahren Sie ja, daß ich Manches nicht würde haben zum Drucke bestimmt, inzwischen ist nachdem so Vieles bekannt geworden und insbesondere Reichlin3 so den Paulus’schen Nachlaß ausgeschüttet hat über Schlegels Haupt, die Frage viel schwieriger geworden ist © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

315

als sie zur Zeit meiner Veröffentlichung war; mögen Sie nun nach einer so umfassenden Editionsarbeit zu eigener Untersuchung übergehen können, dann kann Ihnen ja nichts fehlen, daß sich auch bald Ihre Lage, entsprechend Ihren Bedürfnissen gestaltet. Mit bestem Gruß der Ihrige

Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; Diktat D.s von fremder Hand; ULB Bonn, Walzel-NL I, Inventar­ nummer H 90. 4. 1 Oskar Walzel (1864–1944): österr. Literaturwissenschaftler; 1897 Prof. in Bern, 1907 o. Prof. für Literatur- und Kunstgeschichte an der TH Dresden, 1921–1933 in Bonn. 2 O. Walzel: Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder Wilhelm. Berlin 1890. 3 Karl Alexander Freiherr von Reichlin-Meldegg (1801–1877): kath. Theologe und Philosoph; 1828 a. o., 1830 o. Prof. in Freiburg, nach dem Bruch mit der kath. Kirche 1832 Dozent für historische Hilfswissenschaften, 1839 a. o., 1840 o. Prof. für Philosophie in Heidelberg. – Heinrich Eberhard Gottlob Paulus und seine Zeit. Stuttgart 1853.

[794] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Mein lieber Freund.

Klein-Oels den 15. Januar [18]91.

In den nächsten Tagen gedenke ich nun meine Reise anzutreten. Mitten in zu Erledigendem ein kurzes Wörtchen der Verabschiedung an Sie, den ich in acht Wochen in Rom zu begrüßen hoffe. Mancherlei wollte ich noch vor der Abreise absolviren, aber der Faden läßt sich nicht abspinnen, er muß durchschnitten werden. Den Tag meiner Abreise kann ich noch nicht bestimmen. Meine Frau erkrankte vor zehn Tagen an der sehr schmerzhaften Gürtelrose. Ich warte nun den Ablauf der Entzündung ab, um dann sofort aufzubrechen. Zunächst nach München, von dort entweder in einem Zuge bis Rom oder mit Aufenthalt in Bologna. Dies sei vom Wetter abhängig gemacht. Wir sitzen hier im Schnee vergraben, rechte Arbeitsgelegenheit. So füllen sich die Bogen, ohne daß der Abschluß erreicht wäre. Erforderlich wäre doch ein Buch, keine Abhandlung.1 Dazu aber fehlt es an der Zeit. – Ich meine, daß es durchaus unrichtig ist sich von der Conferenz2 das Thema stellen, die Aufgabe beschränken zu lassen. Sachlich unrichtig und unpolitisch. Die impulsiven Intentionen des Kaisers gehen weit über den Conferenzrahmen. Wird der allgemeinen Tendenz auf Grund der Erkenntniß der geschichtlichen Lage der Weg gezeigt, so © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

316

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

wird dies von größerem Effekt sein als die Auseinandersetzung über Spezial­ fragen. Eine Spezialfrage aber ist auch die des Realgymnasiums. Auch der Standpunkt von dem Universitätsbetriebe aus erscheint mir nicht hoch genug gegriffen. Wird jener doch nicht außerhalb der pädagogischen Bewegung zu halten sein, gehalten werden dürfen. Die Schwierigkeit der Darstellung liegt in der stofflichen Beschränkung bei allseitigem Zusammenhange. Das Streichen ist demnach oft mühsamer als das Schreiben. Ich gedenke nur zur Reform des Gymnasialunterrichts mich vernehmen zu lassen. Gelingt es, so muß der Theil ein Segment sein. Auch ich bin der Meinung daß die Sache nicht eilig ist. Aber mir kommt nun Rom und Italien mitten hinein. Jedenfalls will ich versuchen, den Faden festzuhalten. – Das Rankesche Wort habe ich wieder erfahren: Einsamkeit ist der Genuß des Allgemeinen. Nun aber wird mir das bunte Spiel fremden Treibens erwünscht sein. Hoffentlich finde ich eine warme Wohnung in Rom, damit man nicht ganz außer sich komme. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 79. 1 Yorcks Aufsatz Gedanken über eine Reform des Gymnasialunterrichts in Preußen. 2 Die Schulkonferenz hatte vom 4.–17. Dezember in Berlin stattgefunden.

[795] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Mein lieber Freund,

[Januar 1891]1

Ich freue mich unermeßlich für Sie, daß Ihnen nun, unter so günstigen Umständen, freien Herzens, vom Grafen Heinrich begleitet, Italien gründlich zu sehen vergönnt ist. Solche intime Kenntniß eines anderen Volkes und seiner Menschen rechne ich zu den höchsten Genüssen, und ist für Menschen unsrer Art unvergleichlich mehr als jede Art von Naturgenuß. Also Glückauf! Möge Ihnen Alles wohlgelingen! … Ich habe mich in den Weihnachtsferien, einem plötzlichen Impuls folgend, aus allem Systematischen in das erste Buch des nächsten Bandes, das historische geworfen, um diesen ewigen Rest aufzuarbeiten. Wie ich Ihnen schon sagte, will ich die Ausbildung der Erkenntnißtheorie etc. nur ganz kurz ab­ machen. Hierüber ist so viel geschrieben, die Hauptschriften sind so durchgearbeitet daß es ekelt Mehr zu sagen, und in dem Systematischen muß ja dann doch die Auseinandersetzung mit den bedeutendsten Positionen erfolgen. Da© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

317

gegen die Geschichte der Geisteswissenschaften, die Folge der Stellungen, die Methoden, die Ergebnisse: das ist ausführlicher zu behandeln, als Grundlage für das Systematische. So schreibe ich also an den Kapiteln über das natürliche System der Theologie, Jurisprudenz, Aesthetik etc. Alte Sammlungen über die Analysis des Menschen im 16. und 17. Jahrhundert, über allgemeine Staats[-] und Rechtslehre suche ich nun in Ordnung zu bringen und wo möglich zu vervollständigen. Wenn ich je schwere Arbeit hatte, so ist es diese. Ein in unsrem Sinne noch fast unbearbeitetes Gebiet; ungeheure Massen von Literatur. Für das nächste Archivheft will ich das Kapitel: ‚Analysis des Menschen im 16. und 17. Jahrhundert‘ fertig machen.2 Für einen Vortrag in der Akademie das nächste: die allgemeine Rechts[-] und Staatslehre des 16. 17. Jahrhunderts (bis zur französischen Revolution das natürliche System verfolgt).3 … Das letzte, doch nicht das letzte in meinem Intresse sondern eigentlich nächst Ihrer Reise das Allererste: Ihre Schulbroschüre! Es geht mir wie Ihnen: Das Interesse erlahmt bei dem Gefühl daß in diesem Momente Niemand mehr über diese Frage etwas lesen will. Die Kommission ist sang- und klanglos begraben. Die kleine Kommission, die eingesetzt ist, und die Arbeiten im Ministerium gehen fort, jedoch fragt niemand danach. Daraus aber folgt nur Eines. Es müßte etwas kommen, das die ganze Frage auf ihre Höhe hebt und so Schwung und Leben in die Sache brächte. Und das müssen Sie schreiben! Das kann Niemand wie Sie! Wenn Sie nun also den Abschluß aufschieben, so darf das nur ein Aufschieben sein, besser fände auch dieses nicht statt. Besser mit dem was Sie nun einmal haben, und wie Sie es haben in die Druckerei! Jedenfalls werde ich auch in Ihre italienische Ferne Ihnen von Allem was geschieht berichten. Furchtbare Niederlage von Goßler daß das Gesammtministerium seine ganze naturwissenschaftstrunkene Art die Kochsche Sache zu behandeln verworfen hat.4 Aber ein solcher Fehlgriff (schon war mit Koch nach langen Conferenzen ein Vertrag auf Grundlage von 3 Millionen, Staats-Geheim­mittelVertreibung und andrem Unsinn geschlossen) schadet ihm natürlich gar nichts. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 80. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 D.: Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert, in: AGPh 4 (1891), S. 604–651; 5 (1892), S. 337–400; WA in: GS II, S. 1–89. 3 Im Jahr 1891 hielt D. keinen Vortrag zu diesem Thema in der königl. preuß. AdW. 4 Die Hg. von BDY merkt an: „Prof. Robert Koch trat 1890/91 zuerst mit einem Heilmittel gegen die Tuberkulose auf. Das preuß. Staatsministerium beschäftigte sich damals mit einer Vorlage, deren Ziel die Errichtung einer Anstalt zur Erzeugung und Vertreibung des Heilmittels war.“ © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

318

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

[796] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

  Mein lieber Freund.

Rom den 4. Maerz [18]91. Pension Tellenbach via due Macelli 66.

Beinahe fürchte ich, daß Sie mich zu den Verschollenen zählen. Doch tröste ich mich damit, daß Sie Rom kennen, die Ansprüche, die es an Zeit und Aufmerksamkeit macht. Ich bin nun fünf Wochen hier gewesen und habe nach Kräften versucht einen Begriff dieser merkwürdigen Doppelstadt, in der in der That das Alte im Wesen neu und Alles Neue alt ist, zu gewinnen. Ich glaube mein Ziel erreicht zu haben. Wer Rom nicht historisch sieht, sondern nur aesthetisch, der begreift es nicht. Und in aller zeitlichen Differenz die physiognomische Einheit zu erkennen, ist der eigentliche Genuß. Der Charakter ist im Wesentlichen der des natürlichen ungemessenen Wollens, eine merkwürdige Willensabstraktion. Und die natürlichen Bedingungen entsprechen ganz der historischen Gestalt. Die vulkanische Provenienz der Campagna, die in der merkwürdigen Bewegtheit der Linien ihre Genesis repräsentirt, ist der adaequate Boden der geschichtlichen Machtgestalt. Nirgendwo wird man so bedeutsam den Coincidenzpunkt von großer Geschichte und großer Natur wiederfinden. Der Überschlag von Natur in Geschichte und umgekehrt giebt auch den besonderen landschaftlichen und allgemein aesthetischen Zauber. Die Baugebirge der Imperatoren sind wieder Naturgewächse, Hügel geworden, die neues Leben tragen. Man kann nicht unterscheiden, wo das Menschenwerk aufhört und die Natur beginnt. Wo aber das Werk noch nicht zur Erde geworden ist, da erscheint es in dem Colossalen der Dimensionen wie ein Naturprodukt. Bis in die Technik hinein kann man diesen Zusammenhang verfolgen. Die vulkanische Erde gewährt ein Bindemittel, welches versteint und dadurch allein Riesenbauten ermöglicht. Das Licht der Gräzität umspielt, aber durchdringt nicht den dunklen Ernst des römischen Charakters, ebenso wenig wie später der Glanz der Renaissance. Das blieben fremde Elemente. ­Julius  II.1 und vor Allem Sixtus V.2 haben das Antlitz der Stadt gebildet, nicht Leo X.3 oder Clemens VII.4 Jene ersetzten radikal und doch in derselben Tendenz das Rom des Augustus. Diese politisch typische Figur kann nur hier erkannt werden, aus seinen Werken und – aus Macchiavell. Augustus ist der eigentliche Erfinder des historischen Imperatorenthums, welches nicht wie das König­thum ein Gegensatz sondern ein Complement der Demokratie ist. Nach diesem anstaltlichen Typus ist auch der ganze Bau der katho­lischen © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

319

Kirche aufgeführt. Auch hier gehen die Analogien bis ins Einzelne. Die Einzelheiten des Cultus, die Cultussucht, die nämlichen. Das alte Rom hatte noch mehr Tempel als das neue Kirchen und meist an derselben Stelle. Die Combination von Macht und Gebundenheit dieselbe. Das pomerium5 hat sich nur verschoben. Auch jetzt will der Römer ein Imperium, aber als seine Repräsentation. Das Eigengefühl verlangt die Macht und den Glanz des Imperators, der unbeschränkter Beamter und Repräsentant. Macht ist Alles.  – Das Alles läßt sich in allen Gebieten, dem religiösen, politischen, aesthetischen be­ legen, in alle Zeiten bis zum heutigen Tage verfolgen. Seiner Bewußtseinsstellung nach ist Rom zeitlos, daher das ewige Rom keine Redensart. Darum ist es der Sitz der Metaphysik – im Gegensatze zur Transzendenz. Rom begreift nicht, wie kein Römer, den Tod. – In diesem paganischen Medium bricht sich das Christenthum. Für eine tiefe Natur wie Luther bedurfte es nicht der Verwaltungsdepravation unter Leo X. Das war occasio, nicht causa. Die Renaissance des Christenthums war unvermeidlich, aber mußte von Außen her kommen. Die Renaissance der Moral predigte in gewaltigster Einseitigkeit Michel Angelo in der sixtinischen Capelle. Die stummen einfachen Kreuze, von Christen in die Steine des carcer Mamertinus6 geritzt, sie kamen durch Luther zu Worte. Wenn etwas gewaltiger ist als M[ichel] Angelos jüngstes Gericht, dieses größte moralisch-kritische Bekenntniß, so sind es jene Kreuze, die Lichtpunkte an einem unterirdischen Himmel, die Zeichen der Transzendenz des Bewußtseins. – Freilich das Schriftgelehrtenthum und der Verbalismus unserer s.g. Kirche vermag es nicht gegen den Katholizismus, der gestützt auf die Abstraktion der Aeternität der persona die gesammte Physis als ein bloßes Mittel hingiebt. – Doch All das sei Gesprächen vorbehalten. – Morgen früh gehen wir nun für vierzehn Tage nach Florenz. Wie schön wenn wir uns dort träfen! Für die Osterzeit kommen wir hierher zurück. Anfang April geht es nach Neapel und Sicilien. Lassen Sie mich ein Wörtchen über Ihre Pläne wissen. … [Briefschluss fehlt.] Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 81. 1 Julius II. (1443–1513): 1503–1513 Papst. 2 Sixtus V. (1521–1590): 1585–1590 Papst. 3 Leo X. (1475–1521): 1513–1521 Papst. 4 Clemens VII. (1478–1534): 1523–1534 Papst. 5 Die Grenze zwischen Stadtgebiet und Umland (lat: post moerium). 6 Der carcer Tullianus, Mamertinische Kerker oder Tullianum ist ein im 3. Jh. v. Chr. auf dem Forum Romanum erbautes Gefängnis in Rom.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

320

Dilthey an Ernst Reimer

[797] Dilthey an Ernst Reimer1 Sehr verehrter Herr Reimer, Herr Kollege Diels sagt mir von seinem Aufsatz über den neuen Fund (1 Bogen), der natürlich in unsrem Archiv Allem vorgeht.2 Da nun die Raumüberschreitung Ihnen gewiß unlieb, so verschiebe ich gern meinen Aufsatz3 in das nächste Heft, zumal ich ihn doch nur halb geben könnte und ich gern noch an ihm bessere. Nur daß in diesem folgenden Hefte mir dann ein größerer Raum zu Verfügung stehen müßte. Wenn Herr Stein4 kommt und ich nicht mehr da sein sollte, machen Sie ihm wol gütig Mittheilung. Ich kann es nicht da er schon unterwegs ist. In alter Verehrung der Ihrige Wilhelm Dilthey Berlin Burggraf[en] Str[aße] 4. 7⁄3 [18]91. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA . Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 74–75. 1 E. Reimer war der damalige Inhaber des Reimer Verlags, in dem das AGPh erschien. 2 H. Diels: Zwei Funde, in: AGPh 4 (1891), S. 478–491. 3 D.s Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert. 4 Der Philosoph und Soziologe Ludwig Stein (1859–1930) war Hg. des AGPh.

[798] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [Mitte März 1891]1 Mein lieber Freund, Ihr heutiger Brief war mir und uns  – auch Clärchen mußte bei der erneuten Lektüre zuhören – eine große Freude.2 Ihr Schweigen war mir begreiflich. Ich hätte längst, zumal zu Ihrem Geburtstag geschrieben, aber vernahm ich Ihre Adresse, so war sie zu Hause vergessen, wollte ich schreiben, so fehlte sie mir. In Gedanken habe ich Sie treulich begleitet. Wie ich vernehme geht ein Tagebuch von Ihnen3 um in das ich ja dann auch Einblick später zu erlangen hoffe. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

321

Auf unser Wiedersehn in Italien haben wir verzichten müssen. Ich bin überarbeitet. … Zudem muß ich eine Abhandlung für die Akademie auf den 30. April schreiben.4 So haben wir denn beschlossen, Frau, Max und ich, selbdrei uns an den Lago maggiore zu setzen, Frühlingsluft uns umwehen zu lassen, und ich will das Kapitel über Ästhetik für mein Buch schreiben, das ich dann in der Akademie vorlese. Gar sehr schwer haben wir uns von dem Gedanken mit Ihnen zu sehen und Städte zu genießen los gemacht. Nachdem ich bis Weihnachten am Systematischen des nächsten Bandes gearbeitet hatte, auch ein wenig an den Aufsätzen, einen Schulartikel geschrieben der noch liegt, habe ich mich seitdem mit aller Gewalt in den historischen Theil geworfen. In demselben behandle ich vornemlich die Historie der Geisteswissenschaften. Ich arbeite nun, nach längrer Sammlung meiner Materialien überhaupt, seit einigen Wochen an: die Analyse des Menschen und die Erkenntniß der sittlichen Autonomie im 16. und 17. Jahrhundert. Soll zunächst mit vielen Belegen, zumal dem Abschluß einer vieljährigen Beschäftigung mit der Affektenlehre des 17. Jahrhunderts im Archiv erscheinen.5 Indem ich schreibe, meine ich daß es größeren Zug habe als irgend etwas das ich vorher schrieb. Doch mag Täuschung dabei sein. Nun bin ichs satt, und will mich in einer schönen Gegend an einer ästhetischen Betrachtung erholen. Wir denken etwa den 11 oder 12ten zu reisen, etwa den 15. am See zu sein, wo uns in Pallanza6 poste restante Briefe treffen. Fänden wir jemanden der ein paar Tage dort Max unter seine Fittige nähme, so kämen wir zu Ihnen herüber. Jedenfalls erhalten wir ja von Ihnen dorthin Notiz. Da meine Frau Florenz noch nie sah, wäre es mir eine besondre Freude, Ihr die Hauptsachen zu zeigen. Wir waren dem Krieg recht nahe. Wir entbehren die mächtige Faust, die den Dreibund zusammen halten konnte.7 Da Häseler8 im Generalstab ablehnte, ist dort auch das souveräne Vertrauen gemindert. Geklatscht wird mehr als billig und gut und die bösesten Seiten von Berlin machen sich geltend. Nicht nur wünschen die Räthe selbst von Goßler daß er endlich gehe und seine Chance Oberpräsident zu werden nimmt ab, auch Bötticher9 u. a. stehen nicht mehr recht fest, und dies vermehrt das Mißbehagen, daß jeder sich seiner Zukunft als Chef oder unter seinem Chef nicht sicher weiß. In der Schulangelegenheit wird nun geltend gemacht, die Berechtigungsfrage gehöre nicht in das Schulgesetz, sondern falle den einzelnen Departements zu, die ihr Bedürfniß kennen: Sie sehen, völliger Banquerutt der Leitung durch das Unterrichtsministerium und Retraiteblasen10 in Bezug auf Realgymnasien. So wird hierin wol eine Versumpfung eintreten, auf lange hinaus. … [Briefschluss fehlt.] Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 82. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

322

Carl Stumpf an Dilthey

1 In BDY: „[März 1891.]“. 2 Die Hg. von BDY merkt an: „Am 15. März vermerkt Yorck in seinem italienischen Tage­buch, daß er einen Brief von D. erhalten habe: Dilthey kann nicht nach Rom kommen. Sie wollen ein paar Wochen in Pallanza zubringen.“ – In der Edition des Yorckschen Tagebuchs ist dies nicht nachweisbar. 3 Vgl. Graf P. Yorck von Wartenburg: Italienisches Tagebuch. Hg. von S. von der Schulenburg. Darmstadt 1927. Neue Ausgabe Leipzig 1939. 4 Am 30. April sprach D. in der Akademie Über den Werth der verschiedenen Methoden in der Ästhetik. Der Vortrag blieb unveröffentlicht, ist aber in den Aufsatz Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe aufgenommen worden, in: DRS 72 (1892), S. 200–263; WA in: GS V, S. 242–287. 5 D.: Das natürliche System der Geisteswissenschaften im siebzehnten Jahrhundert, in: AGPh 5 (1892), S. 480–502; 6 (1893), S. 60–127, S. 225–256 und S. 347–379; WA (mit Zusätzen aus den Handschriften) in: GS II, S. 90–243. 6 Ein Ortsteil von Verbania am Lago Maggiore. 7 Am 6. Mai 1891 wurde der „Dreibundvertrag“, der am 20. Mai 1882 zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und dem Königreich Italien geschlossen worden war, verlängert. Um Italien stärker an das Defensivbündnis zu binden, wurde vereinbart, Ita­liens Kolonien in Afrika zu schützen. 8 Gottfried von Haeseler (1836–1916): 1889 Oberquartiertmeister im preuß. Generalstab; 1890–1903 General der preuß. Kavallerie. 9 Karl Heinrich von Boetticher (1833–1907): Politiker; 1869 Regierungsrat im preuß. Innenministerium, 1880–1897 Staatssekretär im Reichsamt des Inneren, 1881 deutscher Vizekanzler. 10 Retraiteblasen: Zapfenstreich (bei der Kavallerie) blasen.

[799] Carl Stumpf an Dilthey Verehrtester Freund,

München 19. III [18]91

Wir bedauern Sie sehr ob dieser Unfälle und ob ihrer Ursachen; doch hoffe ich, dass auch Baden Ihnen allen gut thun wird, es soll ja ein fast südliches Klima haben. Uns wäre es indessen doch unmöglich gewesen, Ihnen nach Lugano zu folgen. Der Kleine hustet etwas und die Entfernung von Lugano wäre doch ganz bedeutend weiter als von Bozen, das für uns nur ½ Tagesreise bedeutet, während Lugano 1½ – 2 Tage erfordert. Ich hatte Ihnen dies nach Bellinz[ona] und Pallanza1 geschrieben u. die Hofffnung ausgedrückt dass wir uns vielleicht auf Ihrer Rückkehr irgendwo doch sprechen könnten, wenn ich auch im April wegen Brentanos2 Besuch nicht auf länger abkommen kann. Nun wird © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Carl Stumpf an Dilthey

323

wol auch diese Hoffnung aufgegeben werden müssen. Um so sicherer hoffe ich Sie im Herbst zu treffen, wo Sie dann hier ja einen starken Magnet an Lujo’s haben werden, der namentlich auf Ihre verehrte Frau seine Anziehung zu üben nicht verfehlen wird. Das W[undt]- Manuskript ist fertig.3 Am Einfachsten wird es sein wenn ich Ihnen seinerzeit (im April) einen Fahnenabzug sende u. um Ihre Bemerkungen bitte. Sachlich ist W[undt] Schritt für Schrittt aufs Evidenteste abgeführt, uns genügt meistens dazu die kurze Gegenüberstellung dessen was ich gesagt habe u. dessen was er mich sagen lässt. Es ist einfach in die Luft gefochten; u. der Eifer, in den er sich hineinredet, u. das Pathos der Rede wirken dadurch doppelt lächerlich. Er dürfte den Streich schwer bereuen. Ob wir nun überhaupt fortkommen, ist auch fraglich geworden. Meine Frau liegt seit gestern u. ich werde nachher vom Arzt hören, was es sein mag, fürchte aber, dass es eine Verzögerung jedenfalls zur Folge haben wird. Jetzt muss ich noch in den Ferien eine Arbeit für die Akademie machen, wofür noch kein Jota gethan ist; Anfang Mai ist die Sitzung. Ich denke, Studien über Tetens,4 die mich früher gelegentlich kürzer beschäftigten, abzurunden u. hoffe für die Gesch[ichte] der Psychologie und Erkenntnistheorie daraus etwas zu gewinnen. Harms5 hat sich doch dabei nicht auf der Oberfläche gehalten. Mit herzlichstem Gruss von Haus zu Haus Ihr treuergebener C. Stumpf Bitte, künftig meinen Vornamen mit auf die Adresse zu schreiben u. zu unterstreichen, da es noch einen Prof. Stumpf gibt; oder „Georgenstr. 16 b “[.] Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 160, Bl. 261–262 R. 1 Bellinzona und Pallanza: nordital. Städte in der Nähe des Lago Maggiore. – Nicht überliefert. 2 Gemeint ist Lujo Brentano. 3 C. Stumpf: Wundts Antikritik, in: ZPPS 2 (1891), S. 266–293. 4 Johannes Nikolaus Tetens (1746–1807): Philosoph und Mathematiker, 1763 Prof. für Physik in Bützow, 1776–1785 Prof. der Mathematik und Philosophie in Kiel, 1789 Tätigkeiten im dänischen Staatsdienst. 5 Der Philosoph Friedrich Harms (1819–1880). – Die Philosophie in ihrer Geschichte. I. Psychologie. Berlin 1878. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

324

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

[800] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Mein lieber Freund.

Messina den 17. April [18]91.

Gestern fand ich in Neapel einen Brief meiner Frau vor, in dem sie mir schreibt, daß Sie einen dreimonatlichen Urlaub genommen hätten. Ich hegte die Hoffnung, daß wir uns zu Pfingsten fröhlich in Oels treffen würden. Nun diese Nachricht, die mich beunruhigt, weil ich folgere, daß Sie Sich nicht wohl befinden. Vielleicht ist die Nachricht irrthümlich, hoffentlich die Folgerung falsch. Lassen Sie mich doch ein Wörtchen von ihrem Befinden wissen. … Ich erzähle heute nichts von all dem gesehenen und erlebten Reichthume. Wie gern erzählte ich Ihnen bei fröhlichem Zusammensein! Würde es Ihnen nicht auch körperlich wohlthun, wenn Sie mit Ihrer verehrten Frau und Mäxchen einen behaglichen Aufenthalt bei uns machten? wo möglich un­beschränkt durch Amtspflichten? Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 83.

[801] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Mein lieber Freund,

[23. April 1891]1

Herzlichen Dank für die freundschaftliche Theilnahme, die aus Ihrem Briefe spricht; ich freue mich Ihnen schreiben zu können, daß irgend eine Vertauschung von Personen hierbei obwalten mag; allerdings hatte ich Ende des Semesters anhaltend über den Hals zu klagen, doch denke ich, es wird kein Anstoß für das Sommersemester daraus erwachsen. In Baden hatten wir schlechtes Wetter anhaltend. Ich bin denn sehr fleißig gewesen und habe ein gutes Stück einer Abhandlung über Methoden und heutige Ergebnisse der Ästhetik geschrieben,2 heut in acht Tagen ist sie in der Akademie (theilweise nach ihrer Länge) zu lesen;3 dann noch Manches nachzuarbeiten. Ich gehe gelind gegen den Kultus der Fechnerschen Methode vorwärts, und hoffe, Sie werden an diesem – Stück des dritten Bandes (!)4 Ver© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

325

gnügen haben. Von Donnerstag an soll dann der historische Theil des zweiten Bandes weitergeschrieben werden, zunächst zum Abdruck im Archiv im nächsten Heft, also auch bald Ihnen vorzulegen. Mit großer Freude begleite ich Ihre gründliche Durchmusterung Italiens und der Kunst. Sie haben das Glück in der vollen Reife historischen Denkens diese großen Eindrücke ganz in sich aufzunehmen und durchzuarbeiten. Ich bin für Sie froh und befriedigt daß das so, und unter den günstigsten Umständen und der angenehmsten Begleitung dazu, hat geschehen können. Wie freue ich mich darauf von Ihnen persönliche aus ihren Eindrücken zu vernehmen. Ich halte auch an einiger Hoffnung fest daß wir, meine Frau und der unvermeidliche Knabe Max, Ihrer gütigen Einladung Folge leisten können. Aber Alles hängt am Fortgang der historischen Arbeit, die für das Archiv versprochen ist. Inzwischen grüße ich Sie und Grafen Heinrich herzlich und gönne Ihnen daß Sie auch noch nach Griechenland einen Ausflug machen. Hier Weyrauch,5 ultraorthodox-conservativ, ins Kultusministerium! etc. etc. Goßler für Breslau ins Auge gefaßt! Treulichst verfaßt während einer langweiligen Akademiesitzung von6 Ihrem Wilhelm Dilthey Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 84. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 D.s Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe. 3 Am 30. April 1891 trug D. in der königl. preuß. AdW vor: Über den Werth der verschiedenen Methoden in der Ästhetik. 4 Der 3. Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften wurde, wie auch der 2., nicht realisiert. 5 Ernst von Weyrauch (1832–1905): Jurist, preuß. Beamter und konservativer Politiker; 1865 Generalsekretär des kurhessischen Staatsministeriums, 1866 Legationsrat im Außen­ ministerium, 1881 Konsistorialpräsident in Kassel, 1891 Unterstaatssekretär im preuß. Kultusministerium. 6 In BDY: „Von“.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

326

Dilthey an Hermann Usener

[802] Dilthey an Hermann Usener Liebster Hermann,

[Mai 1891]

Meine treuen Glückwünsche zu Deinem Jubiläum, das wie mir eine Einladung zu einer Aufführung zeigt[,] Morgen gefeiert wird.1 Du siehst auf eine glückliche selten erfolgreiche Zeit zurück. Wie gern hätte ich sie mit Dir in Bonn durchlebt: es hat nicht sein sollen. Und immer noch empfinde ich einen Schmerz, wenn ich denke, wie nahe das war, wie schön es gewesen wäre und wie ich Dich und das Gespräch mit Dir[,] ich kann fast sagen[,] täglich vermisse. Bonn und der Verkehr mit Dir dort wären die naturgemäße Fort­ setzung meines Lebens gewesen, und wer weiß, was wir zusammen da gemacht u. worauf wir gekommen wären. Du hast nun in dieser Zeit auch der Geschichte der alten Philosophie die größten Dienste geleistet. Und nun wo Du gewiß beschaulich die nächsten Jahre überdenkst, wird die Mythologie und Religionsgeschichte gewiß die erste Rolle in diesen Gedanken spielen. Ich freue mich darüber. Es ist und bleibt die Frage der Fragen, mag mans systematisch oder historisch anfassen. Und nun, wie Welt und Wissenschaft aussehn, ists besonders drängend. Von der Philologie aus hat ja Rohde2 mitzuhalten begonnen u. auch Diels hat sich hineingeworfen. Aber sie werden die Religionsgeschichte nicht da anfassen, wo aktuelle Entscheidung in ihr steckt. Das kannst Du allein von Allen. Ich habe eben Harnacks3 zweiten Band angesehen. Glänzend geschrieben, manchmal strömt die Rede wie ein Lavastrom. Geistreich. Gelehrt. Aber der Grundgedanke ist doch ein Rückschritt: er ist Neander redivivus.4 Der Glaube der Gegenwart über die höchsten Dinge soll zurückgedrückt werden auf die fromme Stimmung, welche in Christus einen vertrau­lichen Verkehr mit Gott eröffnet und so die Seligkeit verbürgt sieht. Wenn aber irgend ein Zug wissenschaftlicher Erkenntniß der Religionen heute sicher ist, so ist es die Vergleichbarkeit der religiösen Processe in den großen Religionen, sonach die absolute Unmöglichkeit das Christenthum als eine unvergleichbare Art von Religion zu betrachten. Der Theologe kann eine allgemeine, nach Stufen unterschiedene Offenbarung vertreten; aber Harnacks Standpunkt ist antediluvianisch.5 – Ich sehe nun daß seine historische Auffassung nur das Ergebniß dieses Standpunktes ist. Das Dogma ist der Sündenfall des in sich absoluten Christenthums und in Luther wird eben nur bereichert das Ur­christenthum aus diesem Sündenfall durch prinzipielle Aufhebung des Dogma wiederhergestellt. Die Schlange im Paradies der urchristlichen Gemeinden ist die Philosophie. Als ob es etwas nützte zu zer© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Hermann Usener

327

stören, was Tags darauf wieder da ist, Vorstellung Bild des Innerlichen. Als ob Luther das gethan hätte. An diesem Punkte wird Harnak Sophist. Und dieser Glaube an Seligkeit in Christus hat ja zu seiner Voraussetzung lauter philo­ sophische Conceptionen: Gott, die unsterbliche Seele. Sind diese nicht im metaphysischen Bewußtsein gegeben und bewährt, das alles höhere Leben begleitet, dann ist der Glaube eben grund[-] und bodenlos. – Nun sieht man wie dieser Standpunkt das Urchristenthum auf eine Insel, die ältesten Gemeinden, setzen muß. Daher seine absichtliche Vermeidung, die wirkliche Kulturmischung und Ideenmischung jener Zeit, die in den Gemeinden vorhandenen Gegensätze etc. anzuerkennen. Wo bliebe sonst der Typus des vollkommenen Glaubens, von dem Alles ausgeht u. zu dem zurückzukehren die Weisheit der Geschichte sein soll. Möge also das nächste Jahrzehnt Dir die Religionsgeschichte des Jahrhunderts vor Christus und der Jahrhunderte nach ihm bringen. Wunderlich wird sein, wenn Mommsen seinen Band, mit der christlichen Kirche drin, entschieden doch unter Harnacks Einfluß, aber als äußerste Linke dieses Standpunktes ans Licht bringen wird.6 Aber ich muß schließen – ein Vortrag von Dümmler7 über Alchvin8 nähert sich dem Ende. Und mit ihm diese Blätter. Käthe sendet mit mir Euch beiden und den Kindern unsre treuesten Glückwünsche. Möge der Tag Euch freudig vorübergehen. Treu Dein Wilhelm Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL , S 2102, 3, Nr. 28; ein maschinenschrift­ liches Transkript des Briefes mit einer Auslassung ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 28. 1 H. Usener feierte das Jubiläum seiner 25jährigen Lehrtätigkeit in Bonn. Zu diesem Anlass fand eine Agamemnon-Aufführung statt; vgl. Ehlers, Bd. I, S. 409 f. 2 Erwin Rohde (1845–1898): klass. Philologe; 1869 Promotion, 1870 Habilitation in Kiel, 1876 o. Prof. in Jena, 1878 in Tübingen, 1886 in Leipzig und Heidelberg; Studienfreund F. Nietzsches. 3 A. Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte. Bd.  2: Die Entwicklung des kirch­ lichen Dogmas I. Freiburg / Breisgau 1887. 4 August Johann Wilhelm Neander (1789–1850): ev. Theologe und Kirchenhistoriker; 1812 a. o. Prof. in Heidelberg, 1813 o. Prof. in Berlin. – Der wiederauferstandene Neander. 5 Vorsintflutlich. 6 Evtl. Th. Mommsen und A. Harnack: Zu Apostelgeschichte 28, 16 in: SB der AdW zu Berlin, philos.-histor. Classe. 1895, S. 491–503. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

328

Königliches Konsistorium der Provinz Pommern an Dilthey

7 Ernst Ludwig Dümmler (1830–1902): Historiker und klass. Philologe; 1858 a. o., 1866 o. Prof. in Halle; 1876 Mitglied der Monumenta Germaniae Historica, 1888 deren Präsident. – Alchvinstudien, in: SB der königl. preuß. AdW. Berlin 1891, S. 495–523. 8 Alcuin oder Alchvin (735–ca. 804): Gelehrter und wichtigster Berater Karls des Großen.

[803] Königliches Konsistorium der Provinz Pommern an Dilthey Stettin, den 27ten Mai 1891 Auf das gefällige Schreiben vom 5ten d[es] M[ona]ts,1 betreffend die Berufung Schleiermacher’s nach Stolp und dessen dortige Amtsthätigkeit g[egebener] z[eit], erwiedern wir Ew. Hochwohlgeboren ergebenst, daß unsere Akten hierüber nichts enthalten, da dieselben erst nach 1804 beginnen. Dagegen er­ geben die Akten der hiesigen deutsch-reformirten Superintendentur Einiges über diesen Gegenstand und es werden Ihnen Seitens des derzeitigen Super­ intendenten Herrn Konsistorialrath Graeber2 weitere Mittheilungen dieserhalb zugehen. Küster [?]. An den ordentlichen Professor Herrn Dr. Dilthey Hochwohlgeboren in Berlin Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 99, Bl. 70–70 R. 1 Nicht überliefert. 2 Friedrich Graeber (1848–1917): ev. Theologe; Prof. für neutestamentl. Exegese in Kiel, Generalsuperintendent der Kirchenprovinz Pommern.

[804] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Mein lieber Freund,

[Anfang Juni 1891]1

Aus einem Briefe von Gräfin Bertha 2 hören wir, wie wenig gut es bei Ihnen geht. Der lange von Ihnen erwartete unerfreuliche Gast ist wirklich eingetre© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

329

ten, und hat Sie an Zimmer und Sopha eine Zeitlang unter Schmerzen gefesselt. Gerade nach der Reise, die Ihnen so sehr gut bekommen war, hätte ich das nicht erwartet. … Gestern hatte ich die letzte Korrektur meines Aufsatzes.3 Es sind 2½ Bogen, und erst die erste Hälfte! An der zweiten habe ich heut zu schreiben begonnen: vor den Ferien soll sie auch gesetzt sein, damit ich Ruhe habe. Dann erst kommt das 17.  Jahrhundert auf welches es abgesehen war. Leider können Sie ehe der Schluß da ist, die Sache nicht übersehen: auf diesen und seine Pauken und Trompeten geht das Vorhergehende los. Bekommen werden Sie es ja schon in diesen Tagen. Aber wie gut oder schlecht es auch sei, es hat mich täglich zwölf bis dreizehn Stunden außer Athem gehalten, und so kann ich erst heute, nach flüchtigen Zeilen, von denen ich nur das dunkle Gefühl habe daß die ganze Hast meiner Existenz darin war, Ihnen behaglicher Schreiben, nochmals dankend der schönen Tage bei Ihnen gedenken, herzlich Ihnen sagen, wie ich antheilvoll Nachricht ersehne ob Alles hinter Ihnen liegt und Sie wieder in der behaglichen Arbeitsfrische, in der ich Sie fand, nun leben. Von Schulsachen kein Wort. Uhlig etc.4 Orden bekommen, also doch wie es scheint noch personae gratae und ihre Sache nicht aufgegeben. Offenbar aber die Sache aus dem Stadium leichtsinniger Promessen5 in das der Nachdenklichkeit getreten, was für Sie höchst erwünscht. Der Löwe des Tages jetzt hier Herr Candidat Göhre6 in der socialdemokratischen Fabrik. Wir möchten dem sterbenden Herbert Spencer den Orden pour le mérite erwirken, aber die Akademie, welche das Vorschlagsrecht hat, ist einmal wieder specia­ listisch toll. Wenn Sie in solcher Stimmung ist vermag auch Helmholtz Nichts über sie. Im Übrigen müssen Sie kommen die Ausstellung7 zu sehen: Italiener und Spanier eine große Kunst, Michetti8 überwältigend, Sie werden sehen daß die ganze deutsche Malerei sich umwendet. Die Übermacht der zwei romanischen Völker über unsre unmalerische Nation ist zu groß. Dazu das Intriguantenthum vor dem Publikum enthüllt. Das zweifellos beste Portrait der deutschen Ausstellung, der Moltke der Parlaghi9 zurück gewiesen, dann vom Kaiser hinein befohlen, und nun in der deutschen Ausstellung der einzige Anziehungspunkt neben der Susanna im Bade von Böcklin,10 hier ‚die Sara‘ genannt, wie der Kladderadatsch commentirt: ‚lasse se das‘: so der Ehegatte der feisten Jüdin die es behaglich nimmt, zu dem Attentäter: alle nehmen es behaglich. Schlechterdings muß aber Graf Kalckreuth einmal herüberkommen, sich die Italiener und Spanier anzusehen. Herzliche Grüße dorthin. Von Ihnen aber bald ein Wörtchen. Bis zum 3ten August sind wir hier. … Wie weit ist Ihre Abhandlung? © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

330

Dilthey an Hermann Usener

Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 85. 1 In BDY: „[Sommer 1891.]“. 2 Nicht überliefert. 3 D.s Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert. 4 Gustav Uhlig (1838–1914): klass. Philologe; 1864 PD in Zürich, 1869 a. o. Prof. ebd., Gymnasialdirektor in Heidelberg; 1890–1914 Hg. der Zeitschrift Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und humanistischen Bildung. 5 Schuldverschreibungen. 6 Paul Göhre (1864–1928): ev. Theologe, Nationalökonom und Politiker; 1894 Pfarrer in Frankfurt / Oder, 1896 Mitbegründer des Nationalsozialen Vereins, 1906 Bruch mit der Kirche, 1918 Unterstaatssekretär im preuß. Kriegsministerium, 1919 Staatssekretär im preuß. Staatsministerium.  – Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie. Leipzig 1891. 7 „Internationale Kunst-Ausstellung veranstaltet vom Verein Berliner Künstler an­ lässlich seines fünfzigjährigen Bestehens 1841–1891. Berlin 1891.“ 8 Francesco Paolo Michetti (1851–1929): ital. Maler. 9 Elisabeth Vilma Lwoff-Parlaghy (1863–1923): ungar.-amerik. Porträtmalerin. 10 A rnold Böcklin (1827–1901): schweiz. Maler, Zeichner und Bildhauer des Symbo­ lismus.

[805] Dilthey an Hermann Usener   Mein liebster Hermann,

[18. Juni 1891]

Zu dem Vergnügen, Mitglied der Körperschaft zu sein in der ich mich eben wieder langweile, habe ich Dir nicht gratulirt,1 da die Gesellschaft in die Du eintratst zwar ganz anständig aber für das was Du bist doch nicht angemessen war. Dies ist dadurch bedingt gewesen, daß jedesmal Vorträge mit zur Abstimmung kommen müssen. Inzwischen ist es doch hübsch daß wir geistig so gleichsam zusammensitzen. Es wäre freilich anders gewesen wenn Du anstatt Wilmans,2 der ja vermittelst Gebh[ardt]’s3 das Ordentliche, doch nicht mehr thut, hier säßest. Wie gern kämen wir zu Eurer silbernen Hochzeit nach Bonn.4 Aber ich bin so vollständig fertig gearbeitet, daß ich ordentlich in die Alpen muß. Dies würde aber weder vor noch nach diesem Zeitpunkte möglich sein, da eine so weite Reise und deren Kosten mit den 2 älteren Kindern ja nicht so abgekürzt werden kann. Es ist sehr schade, und auch das ein großer Nachtheil der weiten Entfernung. Es ist für mich unermeßlich schwer und mit erheblichen Geld­ © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Hermann Usener

331

opfern verknüpft, die Kinder in den Ferien, in denen allein ich sie doch ordentlich genießen und auf sie wirken kann, bei mir zu haben. So haben wir jetzt seit Wochen Max täglich von seinem Klassenlehrer Unterricht geben lassen, damit er das Pensum absolvirt hat, wenn wir auf die Reise uns begeben. Aber Ihr Lieben, wie wäre es denn, da Ihr doch reist, Ihr suchtet mit den ­andren Familiengliedern in Tyrol eine Zusammenkunft zu dem festlichen Tage zu ermöglichen? Wohin wir reisen, steht noch nicht fest. Wir denken zunächst an Trafoi, Sülfen, Bormio,5 wo ich nach des Arztes Wunsch wo möglich Bäder nehmen soll. Ich bin begierig, wie Du über die übersandten Stücke, ich möchte sagen Brocken des zweiten Bandes denkst. Derselbe wird die Geschichte der Geistes­ wissenschaften und ihrer Erkenntnißtheorie enthalten, alsdann aber die Erkenntnißtheorie. Der dritte Band wird dann die einzelnen Geisteswissenschaften, Methoden Prinzipien etc. enthalten. Eben mache ich eine ästhetische Abhandlung fertig, die auch in diesen Band gehört. – Sehr begierig bin ich Näheres über Deine Untersuchungen über älteste Sitten und Inscriptionen [?] etwas zu vernehmen. Eben spricht Diels über von England edirte Papyri, von denen Einer ein Stück Homerischen Textes vor der alexandrin[ischen] Redaktion enthält – und dieses Textstück enthält eine Anzahl Verse mehr.6 Es stellt sich doch immer das Unerwartete heraus. Denn wenn das nur ähnlich durchgehend ist, fehlt ja vielfach für die Lachmann’sche Kritik7 die Basis. Die Notiz darüber kommt in die Berichte. Und nun tausend herzliche Grüße Euch Allen und vielen Dank für Deinen und Lillys Brief.8 Treulichst Dein Wilhelm Postsc[riptum] Diesen in der Akademie geschriebenen Zeilen füge ich noch zu Hause eine Entschuldigung hinzu, daß in dem Abschiedsdrängen des Semesterschlusses ein ruhiger ungestörter Brief unmöglich ist. Es giebt Tage an denen ich für mich in kein Buch sehen kann. Macht die Ferienfrage bei Euch auch solche Unruhe? Es ist als ob das Ministerium auf eigene Arbeit der Professoren gar keinen Werth legte. Ist diese doch augenscheinlich zumal hier in Berlin in Rückgang, und die Sammlung zu einem ordentlichen Ganzen fehlt. So mußte ich den mich Befragenden, da ich daran gewesen wäre Dekan zu werden auf das Entschiedenste erklären, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

332

Dilthey an Hermann Usener

daß ich es bei meiner Arbeitslast nicht könne. Wir haben Diels gewählt, der eine wahrhaft bewundernswürdige Leistungskraft entwickelt und jetzt in unsrer Philologie wie Du denken kannst an der Spitze marschirt. Zeller hält sich ebenfalls in einer gleichen Rüstigkeit u. die neue Auflage von Band I wird gedruckt, u. zwar gänzlich neu umgearbeitet u. so erweitert daß sie in 2 Bänden ausgegeben wird.9 Treitschke, der gestern bei uns Whist spielte, was er jetzt gern thut sich zu zersteuen, ist mit seinen Augen noch sehr wenig gebessert, obwol es ja vorwärts geht: vielleicht ist neben der Nicotinvergiftung doch auch die Überarbeitung vieler Jahre einwirkend. Mommsen ist ein Herz u. eine Seele mit Harnack, woraus wir alle schließen daß es mit der Darstellung des Christenthums in der röm[ischen] Geschichte Ernst wird, ich aber muß außerdem vermuthen daß die Auffassung Harn[ack]’s, dessen Bedingtheit von Ritschl in seinem letzten Bande, wirklich zur völligen Verkennung des Thatbestandes führt, ihn stark beeinflussen wird. Mich soll doch verlangen, ob die Herschaft der Ritschlschen Schule, welche nunmehr mit dem prakt[ischen] Christenthum, der inneren Mission, dem christl[ichen] Sozialismus in Beziehung getreten ist, andrerseits immer schärfer jeden allgemeingeschichtlichen u. damit philos[ophischen] Hintergrund der Theologie ablehnt, diese vielmehr auf eine bloße Partikularität stellt[,] andauern wird, da gerade diese Einschränkung der religiösen Wahrheit auf den Bezirk der christlichen Kirche ganz aus der modernen Geschichtswissenschaft herausfällt. Nochmals herzl[iche] Grüße von mir Käthe u. den Kindern v[on] Haus zu Haus. Treulichst Dein Wilhelm Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL , S 2102, 3, Nr. 27; ein maschinenschriftliches Transkript des „Postscriptum“ mit größeren Auslassungen ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 24. 1 Am 4.  Juni 1891 wurde H.  Usener als korrespondierendes Mitglied in die königl. preuß. AdW zu Berlin aufgenommen. 2 Der klass. Philologe und Generaldirektor der königl. Bibliothek in Berlin August ­Wilmanns. 3 Oscar von Gebhardt (1844–1906): klass. Philologe und Bibliothekar; 1880–1884 Bibliothekar der UB Göttingen, 1891 Direktor der Druckschriftenabteilung der königl. Bibliothek Berlin, 1893 o. Honorarprof. und Direktor der UB Leipzig. 4 Die Silberhochzeit von Lily und Hermann Usener war am 4. September 1891. 5 Orte in den Ötztaler Alpen. 6 H. Diels: Ueber die Excerpte von Menons Iatrika in dem Londoner Papyrus 137, in: Hermes 28 (1893), S. 407–434. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

333

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

7 Der Philologe K. K. F. W. Lachmann (1793–1851). 8 Nicht überliefert. 9 E. Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Erster Theil, erste Abtheilung: Allgemeine Einleitung: Vorsokratische Philosophie. 1.  und 2. Hälfte, 5. Aufl. Leipzig 1892.

[806] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Mein lieber Freund,

[Ende Juni 1891]1

Ihr gestriger Brief 2 hat mir einen rechten Schrecken verursacht. Ich hatte was Ihnen in den letzten Wochen begegnet nicht entfernt so schwer ver­ anschlagt. … Endlich aber erschreckte mich in Ihrem Briefe daß Sie Ihre Arbeit liegen lassen, und bedauern aus der halbfertigen vorgelesen zu haben. Ich müßte mir einen ewigen Vorwurf machen, wäre ich der Anlaß dazu daß Sie diese Arbeit zurücklegten.3 Sie können sich schlechterdings auf keine bessere Art ins Publikum einführen als indem Sie in dieser wichtigsten Frage unseres geistig-sittlichen Lebens das Wort ergreifen. Ich bin überzeugt daß es außer Ihnen schlechterdings Niemand kann. Vor mir jedenfalls haben Sie außer anderen großen Vorzügen das voraus daß die Auffassung des Geschichtlichen als der Äußerung des Lebens selber, welche wieder Leben schafft, ich möchte sagen die Freiheit in welcher Sie das Gebiet dessselben auffassen, Ihnen für den Nachweis des pädagogischen Werthes der geschichtlichen Welt eine kräftigere Sprache, eine wirksamere Tiefe giebt, wie ich dies aus dem Vorgelesenen ersah und Ihnen aussprach. Nie könnte ich so concentrirt und kraftvoll diesen Hauptpunkt entwickeln, und Niemand, glaube ich, könnte es. Hierzu kommt Ihr nahes und intimes Verhältniß zu dem pädagogisch-religiösen Problem. Dieses erscheint mir gegenwärtig als besonders drückend. Natürlich entzieht hier die Schwierigkeit der Lage sich der Kenntniß des Publikums: man weiß davon nur in der Stille des Schulzimmers. Alle Anstalten füllen sich mit Halb-Orthodoxen der älteren Form, oder mit Ritschlianern, oder mit solchen die eben blos die Vortheile für Anstellung haben wollen. Ich bin kein Christ, in specifischem Sinne, das wissen Sie; aber vom Standpunkt meiner gleichsam vergleichend geschichtlichen Religiosität lese ich Harnacks zweiten Band mit tiefster Abneigung. Dieser Versuch, das Christenthum von den letzten Räthseln und Überzeugungen loslösen zu wollen und zu einem partikularen Datum zu machen, das nicht mit der Menschennatur sondern nur mit einem nominalistischen © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

334

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

Gotte zusammenhängt, für diese Partikularität Beamte zu instruiren, gleichsam Landräthe Gottes, muß die tieferen Wurzeln des Christenthums überall durchstechen, durchschneiden und durchsägen. Er entspringt aus dem Vertrag mit dem Atheismus des wissenschaftlichen Denkens. Es ist eine politische Abmachung. Kann man nicht sagen, daß die unbefangene Auffassung, mehr das Erleben, ja das Erfahrenmüssen der inneren Thatsachen eine Auffassung des Zusammenhangs der Dinge herbeiführt, welche mit der Religion übereinstimmt, nicht durch mathematischen Beweis, doch aber auf dem Boden von Thatsächlichkeit und überwiegend einleuchtenden Schlüssen, und welche sich dann im Leben selbst durch die Übereinstimmung mit der Natur der Dinge immer mehr bewährt, giebt es nicht das was ich metaphysisches Bewußtsein in meinem Buche genannt habe, im Unterschied von aller wissenschaftlichen Metaphysik,4 Inneres Erleben von Vorgängen die mit Naturvorgängen keine Analogie haben: dann kann das entwurzelte partikulare Datum der Religion nur verdorren und absterben. Gegenwärtig bemüht sich die Schule, mehr noch als Sie aus den Zeitungen ersehen können, vermittelst der Anschließung an sociale Frage, innere Mission Boden zu gewinnen. Aber gerade der sozialistische etc. Arbeiter etc. bedarf doch einer Begründung oder doch Verbindung des religiösen Datums, von Vogt5 loszukommen. Dies Mauleselthum, diese Vermischung von Psychophysischer Korrelatenlehre mit einer vom nominalistischen Himmel gefallenen Offenbarung ist ganz unproduktiv. Hier müssen Sie das erlösende Wort sprechen. – Endlich haben Sie Verwaltungseinsichten, die unentbehrlich sind, soll die Reform der Institutionen nicht den Eindruck bloßer Zukunftsmusik machen. – Also lieber Freund, sobald Ihre Gesundheit es gestattet, nehmen Sie das wichtige, ja unentbehrliche Geschäft wieder auf. Meine einzelnen Bedenken betrafen ja nur die Art der Formulirung. Ich wollte nur[,] Sie möchten nicht durch zu scharfe Zuspitzung Bedenken erregen oder erleichtern. Ich wollte nur durch meinen Moderantismus, der doch nur auf die Form geht, Ihrer Arbeit nützlich sein. Ich schließe für heute. Wir wollen in die Ausstellung fahren. Lassen Sie bald wieder ein Wörtchen vernehmen. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 86. 1 In BDY: „[Sommer 1891.]“ 2 Nicht überliefert. 3 Yorcks Arbeit Gedanken über eine Reform des Gymnasialunterrichts in Preußen. 4 Vgl. D.: Einleitung in die Geisteswissenschaften, GS I, S. 386. 5 Carl Vogt (1817–1895): deutsch-schweiz. Politiker und Naturwissenschaftler; wichtiger Vertreter des naturwissenschaftlichen Materialismus; 1847 o. Prof. für Zoologie in Gießen, 1852 o. Prof. für Geologie, 1872 o. Prof. für Zoologie in Genf. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

335

Dilthey an Kurd Laßwitz

[807] Dilthey an Kurd Laßwitz [nach dem 7. Juli 1891] Nehmen Sie, lieber Herr Professor meinen herzlichsten Dank für Ihre so freundliche Anzeige meiner ‚Außenwelt‘.1 In einer ganz andren Gedankenreihe begriffen, verspare ich eine nähere briefliche Rückantwort auf den Herbst, wo ich mich mit der Frage auseinandersetzen muß. Ich habe neuerdings in Bern einen Vorstoß für Sie gemacht, habe aber keine Hoffnung, da dort knappes Geld. Treulichst Ihr W. Dilthey Original: Hs.; Postkarte; FB Gotha, Chart. B 1962 a, 160. 1 K. Laßwitz war seit 1884 als Gymnasialprof. in Gotha tätig. – Besprechung von D.s Beiträgen unter dem Titel: Die Wirklichkeit der Außenwelt, in: Münchner Neuste Nachrichten 44, Nr. 300 vom 7. 7. 1891.

[808] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Lieber Freund,

Berlin, Sonntag d[en] 20. Juli [18]91.

ich eile Ihnen das eben eingetroffene, noch feuchte Exemplar des Auf­satzes zu schicken, mit welchem der IIte Band beginnen soll, bemerke nur dazu:1 Bitte sich Capitel zu denken. 605 bis 623 reicht das erste Capitel. Von ihm strahlt als von dem eigentlichen Centrum die ganze Darstellung der schrittweisen Abnahme der europäischen Metaphysik und ihrer Umsetzung in das metaphysische Bewußtsein (vergl. Band I) aus. 623 bis 624 repräsentirt zwei schon geschriebene kleinere Capitel, für die diesmal kein Raum war. Auf den Schluß S. 651 folgt in der nächsten Nummer viertens der Protestantismus im Norden und die Durchsetzung der moralischen Autonomie vermittelst desselben. Fünftens Bacon als Typus der Auffassung des Menschen unter dem Gesichtspunkt der Civilisation d. h. Herrschaft des Menschen über die Natur vermittelst der Naturwissenschaft. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

336

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

Hierauf folgt dann die Darstellung der durch diese Analysen etc. der europäischen Menschheit ermöglichten freien und lebendigen Darstellung des Menschen in der Geschichtschreibung und der Kunst, als höchster Ausdruck aller dieser Gedankenarbeit, reichend von der bildenden italienischen Kunst bis Shakespeare, Corneille und Rembrandt. Dies ist der erste Abschnitt. Der zweite behandelt das was ich das natürliche System in den Geisteswissenschaften nenne und zeigt besonders auch zum ersten Male das Fortwirken der Stoa in diesem System. Der dritte behandelt das Zeitalter der Analysis in den Geisteswissenschaften im 18ten Jahrhundert. Der letzte die modernen Methoden, Evolution, historische Auffassung, Studium der Entwickelung des Individuums usw. Eben mache ich den ästhetischen Aufsatz fertig.2 Was würden Sie davon meinen, wenn ich ihn Ebbinghaus gäbe und ihn zugleich im Separatabzug erscheinen ließe? Der letzte Theil macht mir sehr viel zu schaffen. Und nun, lieber Freund, herzliche Grüße und lebhaftester Wunsch zu vernehmen, daß Sie sich wieder ganz wohl und munter fühlen und Ihre so viel wichtigere Arbeit als das was ich machen könnte, gut voranschreitet. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 87. 1 Das Übersandte ist der erste Teil des Aufsatzes Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert. – Die im Brief angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf den Erstdruck in: AGPh 4 (1891), S. 604–651. 2 D.s Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe.

[809] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Mein lieber Freund.

Klein-Oels den 22. 7. [18]91.

Wenn auch nur in eiligen wenigen Worten sollen Sie herzlichen Dank haben für Ihre beiden freundlichen Schreiben.1 … Ihrer Drucksendung sehe ich mit Begierde entgegen. Sie haben die Denk- und Arbeitslust bei mir einiger Maßen angefacht. Wir wollen sehen, wie weit es den Berg hinauf gehen wird. Ihr zweiter Band ist ja nun formirt und artikulirt. Ist er in schöner Weise und kräftigem Schwunge beendet, dann steht der dritte vor Ihnen – wie es dem Wanderer zu gehen pflegt, der vor dem erstiegenen Gipfel einen höheren noch vorgelagert sieht. Dieser Band muß m. E. das neue Prinzip als konstitutives zur © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

337

Geltung bringen. Es kann nicht scharf genug ausgesprochen und bestimmt genug nachgewieen werden, daß die letzten 3 Jahrhunderte vergangen sind, nicht das Capital für die erforderliche neue geschichtliche Wirthschaft abgeben, insbesondere daß die aesthetische Aushilfe, das aesthetische Complement der Mechanik Bankrott gemacht hat. Eine ganze volle Selbstbesinnung nach Entkleidung von der wissenschaftlichen Convention! Nach meiner sich befestigenden Überzeugung stehen wir an einem historischen Wendepunkte ähnlich wie das 15. Jahrhundert. Im Gegensatz zu der Art des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der in verschärfter Abstraktion und Isolation besteht, bildet sich ein Neues dadurch, daß der ganze Mensch wieder einmal Stellung nimmt und hinzutritt zu dem Probleme des Lebens. Jedesmal ist es eine neue Lebensstellung und -Auffassung, welche eine neue Epoche einleitet und bestimmt, nicht irgend eine neue Einzelentdeckung oder -Erfindung und seien sie auch von der größten Tragweite. Der Faden der Wissenschaft ist so lang und immer dünner gesponnen, daß er nunmehr der impetuosen Frage: Was ist Wahrheit? gegenüber reißt. Wo das Erkennenswerthe als unknowable (Spencer) bestimmt wird, verliert das Erkennen sein Existenzialrecht. Es muß kritisch zu sich selbst gebracht werden nach solcher Exzentrizität, die den allgemeinen Probalismus zur Folge hat. Die Richtung die solches Denkresultat als Dogma nimmt: die Sozialdemokratie zieht daraus die richtige Consequenz. Sie macht Ernst, weil sie ernsthaft ist und bleibt nicht bei skeptischem Spiele. – Wir leben hier still und noch gastlos, umhüllt von beständigem Regen, der der Menschen Arbeit und Mühe und Hoffnung schwer geschädigt hat. … Heinrich erwarte ich binnen kurzem. Meine Gedanken wandern noch häufig mit ihm in Italien. Das Erlebniß war doch zu groß, um bald für erledigt erklärt zu werden. – Und nun danke ich Ihnen nochmals herzlich für Ihre erwärmende und belebende Theil­ nahme. Lassen Sie bald wieder ein Wörtchen hören. Yorck 2

23. 7.

Eben Sonderabdruck eingetroffen. Beim Durchblättern freute ich mich dem Scipio Africanus3 zu begegnen. Zu der Stelle aus Livius hätten Sie die noch schärferen Worte Senecas hinzufügen können: Ubicumque vicit Romanus, habitat.4 Dieser Philosoph war übrigens nicht minder wie sein Schüler und Herr Schauspieler. Dies Beider innerstes Wesen. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 88.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

338

Robert Sommer an Dilthey

1 Siehe Brief [806] und [808]. 2 Die Unterschrift wurde aus den Korrekturbögen (Juni–August 1923) von BDY ergänzt. 3 Über Scipio Africanus vgl. GS II, S.  9 und die Stelle aus Livius, ebd. S.  10: „se in armis ius ferre et omnia fortium virorum esse“. 4 Seneca: Ad Helviam Matrem. De Consolatione, VII,7: „Wo immer ein Römer gesiegt hat, wohnt er.“

[810] Robert Sommer an Dilthey Verehrter Herr Professor!

W[ürzburg] 21.VIII. [18]91.

Leider muß ich das Studium Ihres Aufsatzes1 abbrechen um Sie nicht zu lange auf die Correktur warten zu lassen. Ich habe mit großem Vergnügen Ihre Gedanken verstanden. Hätte gern noch einige Bemerkungen gemacht. Können Sie mir nicht noch rasch ein Correkturexemplar zuschicken? Die Bemerkungen bitte ich als Monologe aufzufassen, jedes Rathschlagen liegt mir fern. – In Ribot ist Krishaber2 eingetaucht [?]. Was ich neulich über die Herzerkrankungen schrieb, die Krishaber vermutlich meint, war eben Vermutung, welche mir nach dem Lesen der Correktur nicht ganz stichhaltig scheint. ­K rishaber ist, wie mir auch Rieger3 sagt, offenbar kein scharfer Beobachter, welcher jeden einzelnen Zug kritisch analysiert. Die mitgeteilten Krankheitsbilder sind mir medicinisch nicht scharf genug umrissen. Erlauben Sie, daß ich rathe, den Einfluß der Herzerkrankungen auf das Zustandekommen der Zustände nur als medicinische Möglichkeit hinzustellen, hingegen die S.e 1 Ihrer Carte scharf in Vordergrund [?] zu stellen „daß nur ein Faktor genau verfolgbar ist, die Sinnesstörungen und deren Einfluß auf Welt- und Selbstbewußtsein …“.4 Ich werde von jetzt an dauernd die Störungen des Selbstbewußtseins bei Nervösen und Herzkrankheiten im Auge behalten und glaube Ihnen bald Material bieten zu können. Dieses ganze Thema wird Sie so wie so gewiß noch weiter beschäftigen, es steht ja im Centrum aller Psychologie. Daher möchte ich auch nicht in hastiger Weise den mir vorliegenden Krankheitsfall ausspielen. Auch hier läßt sich ein wichtiger Einwurf erheben, daß nämlich bei diesem mit Paralyse behafteten Manne solche scharfe Grenzbestimmungen zwischen Traum und Realität kaum zu erwarten sind. Außerdem ist Ihre Bemerkung über N ­ ikolais Hallucinationen5 einwandsfrei. Vielleicht deuten Sie nur vorübergehend an, daß doch nach psychiatrischer Erfahrung keineswegs mit lebhaften Sinnesvorstellungen immer die Vorstellung der Realität verknüpft ist.6 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

339

Diesen Gesichtspunkt werde ich weiter beobachten. In einem vor zwei Jahren erschienenen übersetzten russischen Buche (von einem ­Petersburger Nervenarzt) vermeine ich sicher den Unterschied von Hallucinationen mit und ohne Realitätsvorstellung gefunden zu haben. Der Herr kommt leider gleich mit Gehirnbahnen und physiologischen Postulaten. Leider kann ich mit größter Mühe diese mir damals aufgefallene Schrift nicht ausfindig machen. Nun Schluß, um 2. 26 geht der Zug nach München. Der Brief muß fort. Bald mehr. Herzliche Grüße für Sie und Frau Gemahlin

R. Sommer

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 175, Bl. 113–114 R und Bl. ­387–390. 1 Gemeint ist D.s Realitätsabhandlung: Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht. 2 Der franz. Philosoph und Psychologe Théodule Ribot (1839–1916), der seit 1876 die Zeitschrift Revue philosophiques de la France et de l’ étranger in Paris herausgab. – Der ungar. Arzt Maurice Krishaber (1836–1883). 3 Der Würzburger Psychiater Konrad Rieger (1855–1939). 4 Nicht überliefert. 5 Vgl. GS V, S.  119.  – Der Schriftsteller, Kritiker und Verleger Friedrich Nicolai ­(1733–1811). – Beispiel einer Erscheinung mehrerer Phantasmen, in: Neue Berlinische Monatsschrift, Nr. 203 (Mai 1799), S. 321–360. 6 Im Original folgen einige Blätter (Fasz. 175, Bl.  387–389 R) mit ausführlichen „Bemer­kungen“ R. Sommers zu einzelnen psychischen Phänomenen sowie psychologischen Erklärungen und Hypothesen, die hier nicht aufgenommen wurden.

[811] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Mein lieber Freund,

[Sommer 1891]1

Mit einem Wort wenigstens will ich mich nach guter alter Sitte beim Antritt unsrer Wanderungen von Ihnen verabschieden. Wir gehen nach Bormio. … Ich denke ich werde mich auf Eine Vorlesung im Winter einschränken, vier Stunden sind genug.2 Dann darf ich auch hoffen daß in der zweiten Hälfte des Winters endlich der Druck des zweiten Bandes beginnen kann. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

340

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

Die ästhetische Abhandlung3 ist fertig und ich habe mich doch nicht anders entschließen können als sie Rodenberg4 zu geben, obwol sie für diesen zu lang (2 Bogen Rodenberg) und zu schwerwiegend ist. Ich habe noch ungeheuer über dem zweiten Theil gebrütet und diesen dann um ein Drittel des Ganzen ergänzt, sodaß nun die Hauptsätze einer neuen Anti-Fechnerschen Ästhetik darin sind. Dagegen habe ich leider das 15.  16. Jahrhundert nicht zu Ende gebracht. Ich blieb hängen an der Darstellung des neuen nordischen christlichen ­Ideals des Protestantismus und seiner Entwicklung bis zu der Lehre von der moralisch-religiösen Autonomie. Schwierigkeit gegenüber Harnack … 1.  nach­ zuweisen aus den Quellen daß das Luthersche ‚Lebensideal‘ gar nichts Neues 2. daß das Neue an Luther eben in der almälig entfalteten nun original erfaßten religiösen, natürlich symbolisch ausgedrückten Auffassung des Bandes der Wirklichkeit und des Zusammenhangs derselben liegt. 3. Daß die wirk­liche Auflösung des Dogma von innen heraus aus dem religiös-sittlichen Bewußtsein stattgefunden hat, gleichmäßig und halbwahr in Pietismus, Aufklärung und Spekulation, da eben das Rest von Nonsens im Tiefsinn unerträglich war. Nachweis daß wirklich eine Auflösung nur durch Erkenntnißtheorie möglich etc. Theologen können keine Dogmengeschichte machen. Dann bei der Stellung der Kunst von den Florentinern des 15. Jahrhunderts bis Corneille in Europa in Rücksicht auf die Auffassung des Menschen hänge ich an den Zeugnissen über intellectuelle Einflüsse auf die bildenden Künstler. Ein Punkt der mir durch ablehnenden technischen Hochmuth nicht abgemacht ist. Hier in Berlin konnte mir Niemand helfen. Vielleicht Vischer.5 Windelbands neues Heft Geschichte der Philosophie6 ist da, er hat sich mit seiner ‚Problem‘-methode tief in die Nesseln gesetzt. Geistreich ist er dabei und Sie müssen es ansehen. Mein Buch steht zum Greifen vor mir. Ich brauche Freiheit, komme sie wie sie wolle. Lassen Sie mich wenn wir nach Bormio kommen ein Wörtchen von Ihnen finden. Ich will dort den letzten systematischen Theil Band  II zu entwerfen suchen, der besonders lebhaft vor mir steht. Dilthey7 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 89. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 D. hielt im WS 1891/92 zwei Vorlesungen: 1.  Logik und Erkenntnistheorie (3std.), 2. Psychologie als Erfahrungswissenschaft (3std.) und bot Anwendungen der Psychologie auf die Pädagogik, als Ergänzung zur psychologischen Vorlesung an. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

341

3 Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe. 4 Der Journalist und Schriftsteller Julius Rodenberg (1831–1914), der seit 1874 die Deutsche Rundschau herausgab. 5 Der Kunsthistoriker und Ästhetiker Robert Vischer. 6 W. Windelband: Geschichte der Philosophie. Freiburg / Breisgau 1892. 7 Die Unterschrift wurde aus den Korrekturbögen (Juni–August 1923) von BDY ergänzt.

[812] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Mein lieber Freund.

Kl[ein]- Oels den 26. 10. [18]91.

In der Heimath sollen diese Worte Sie begrüßen und Willkommen heißen. Daß es Ihnen gut ergangen, meldete ein langer liebenswürdiger Brief Ihrer Frau, die mit aesthetisch empfindendem Auge irdische und himmlische Pracht genießend die Schönheitsempfindung in Worten wiederklingen ließ. Wie und daß es uns unterdessen sorgenvoll ergangen, haben Sie wohl vernommen. Ich spreche nicht davon, da nunmehr es sich zum Besseren gewendet hat. Daß Ihr letzter Aufsatz1 mich höchlich interessirt hat, bedarf keiner Versicherung. Im Allgemeinen bin ich ganz einverstanden und bewundere die intime Klarheit. Im Einzelnen bleiben ja Wünsche und Differenzen. Da ich im Augen­blicke von einigen Gedanken besessen bin, auch wieder einmal mit meinen Augen haushälterisch umgehen muß, so kann ich mich nicht anders als abgerissen und flüchtig äußern. Hobbes schätze ich höher. Die nordische Eigen­thümlichkeit verlangt, daß man sie nicht rein auf Italien und den Romanismus radizire.2 Weiter meine ich, daß in Ergänzung resp. Correktur von Burckhardt betont werden muß, daß die Renaissance mit dem 13. Jahrhundert beginnt, daß im Ursprunge die Bewegung eine religiöse war. Die neue Bewegung beginnt mit Joachim Floris3 und Franz von Assisi.4 Im Allgemeinen wissen Sie, daß ich die wissenschaftlich-technische Bedeutung der Theilung in Organisation und Cultursystem anerkenne, als Gestaltsprinzip aber für bedenklich erachte. Der locus des geschichtlichen Problems ist die Einheit der Motive, die in gleicher Weise die Handlung und den Gedanken bestimmen, so daß der Gedanke aus der Handlung klar wird und umgekehrt. Die Handlungsweise Sixtus des Vten, dessen innerer geschichtlicher Character aus dem milieu Macchiavells hervorgewachsen ist, demonstrirt tiefer und in konkreterer Fülle die geschichtliche Bewußtseinsstellung als Macchiavells Abstraktion. Leben ist Alles und – das Problem, und die Handlung macht das Wort deut© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

342

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

licher als das Wort sich selbst. – Entschuldigen Sie diese unklare Eruption. – Was sagen Sie zu H. Grimms Pädagogik?5 Ist der Aufsatz eine Sturmleiter, um in die Akademie einzusteigen unterstützt von Allerhöchster Hilfe? Dies von einem Grimm! Die Erziehung, Bildung in Form von Eröffnung! Dem Knaben wird dies und jenes eröffnet und zwar bis zur Prima Lügen. Dahin ist der Glaube an Autorität gebracht! Dahin verliert sich der letzte Romantiker. Für die Kindheit, die ihrem Wesen nach universal und wie allverlangend so allbedürftig ist, soll die Humanität ersetzt werden durch politischen Patriotismus. Ich habe dergleichen nicht für möglich gehalten. Genug davon. – Welch sonderbarer Heiliger ist es, der sich Paul de Lagarde6 nennt? Er scheint mir eine Dühringartige7 Natur. Enormes Wissen ohne wissenschaftlichen Gesammtsinn. Sagen Sie mir doch gelegentlich etwas über den merkwürdigen Menschen. – Heinrich ist hier und wartet auf seine amtliche Verwendung. Wäre die wirthschaftliche Noth dieses Jahres nicht so groß, wir gingen nach Spanien. Die gleichsam centrirte Kraft der Volksindividualität dort muß doch sehr merkwürdig sein. Nun lieber Freund, lassen Sie mich mein langes Schweigen nicht entgelten sondern mir bald ein Wörtchen zukommen. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 90. 1 D.s Abhandlung Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert. 2 Hier i. S. von: zurückführen (lat. radix: Wurzel). 3 Joachim Floris, gen. Joachim von Fiore (1145–1202): Abt, Ordensgründer und Geschichtstheologe. 4 Franz von Assisi (1181/82–1226): Gründer des Franziskaner-Ordens. 5 H. Grimm: Der Geschichtsunterricht in aufsteigender Linie. Ein Versuch, in: DRS 68 (Juli–September 1891), S. 437–456. 6 Der ev. Theologe und Orientalist Paul Anton de Lagarde (1827–1891). 7 Der Philosoph, Jurist und Nationalökonom Eugen Dühring (1833–1921).

[813] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Mein lieber Freund,

[31. Dezember 1891]1

Ein Gruß und herzlichstes Wünschen wenigstens soll heut in dem still-heite­ ren Klein-Oels auf der Thurmstube des heiligen Hieronymus2 erscheinen. Möge Ihnen das Jahr in dieser Stube Sonnenschein, Schaffensfreude, den phi© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

343

Dilthey an Hermann Usener

losophischen Himmel im Gewahren des Wirklichen in seinem Zusammenhange gewähren. Allen Ihrigen, voran Ihrer verehrten Frau Gemahlin, ebenfalls unsre herz­ lichen und getreuen Wünsche. Wir haben uns mit den verschiednen Sorten von Krankheit weiter herumgeschlagen. Es ist langweilig davon zu erzählen. Über Berlin liegen Nebel, Regen, Dunkel, Pessimismus, Influenza, psychische Begleiterscheinungen, ein gedankenloses Verdunkelungsministerium. Nur spärliche Menschen begegnet man an diesem letzten Jahrestage auf der Straße. Den meisten kommt der Ultimo nicht bequem. Allen erscheint das Leben als eine ‚mühsame Angelegenheit‘. Niemand zerbricht sich aber darüber den Kopf was danach sein wird, da Jeder meint genug mit ihm selber geschoren zu sein. Eine grämliche, müde und gedankenflüchtige Gesellschaft! Und in der Thurmstube des heiligen Hieronymus entsteht langsam und lautlos über dies Alles ein menschliches Verständniß. Möge es im neuen Jahre gedeihen. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 91. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 D. wohnte während seiner Aufenthalte in Klein-Oels in der Turmstube. Symbolisch hierfür steht der Kirchenvater Hieronymus (347–420), der verschiedentlich als „heiliger Hieronymus im Gehäus“ in Kupferstichen etc. dargestellt wurde.

[814] Dilthey an Hermann Usener Liebster Hermann,

[Anfang Januar 1892]

Herzlichste Glückwünsche zum neuen Jahre: möge es Euch was Euch erwünscht und nur was Euch erwünscht bringen. Der Tod der armen Marie bewegt mich immer noch;1 ich sehe sie vor mir wie sie im vorigen Frühling wenn wir von einem Gange zurückkehrten mit dem frauenhaften Lächeln, das nur ächtgeborenen Frauen eigen ist, uns entgegentrat, oder wie sie mit diesem Lächeln an Mäxchens Bettchen saß; Anlage zur schönsten Weiblichkeit war durch die zunehmende Habsucht in ihr verkümmert; ihre leidenschaftliche willensstarke Natur hatte sich hierauf geworfen. Gerade in diesem Zusammenhang ist ihr Tod höchst tragisch gewesen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

344

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

Es hat mich sehr gefreut aus D[einem] Brief, den Zeller mir mittheilte, auch dem Bericht von Karl zu vernehmen wie frisch u. schaffensfroh Du bei Deiner Mythologie und Religion bist. Deiner ruhigen Gründlichkeit u. Combina­ tionskraft wird schließlich sich Alles unterwerfen. Ich verliere durch meine Arm-Gelenk-Affektion, dazu Masern der Kinder unermeßliche Zeit u. habe im Berliner Leben für meine Arbeiten so wenige übrig. Karl war ein paar Tage bei uns, doch krank, u. im Gemüth von der Art wie seine Ideen u. Vorarbeiten durch neben u. nach ihm rüstig Schreibenden zu unnützem Papierhaufen werden u. wie sich das nicht ändern zu wollen scheint sehr bekümmert. Käthe grüßt nebst der Kinder ebenfalls auch alle vielmals Treu Euer Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. G. Misch, Nr. 296. 1 D.s Schwester, Marie Lade, war am 30. September 1891 gestorben.

[815] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Mein lieber Freund.

Klein-Oels den 6. Januar [18]92.

Ich benutze eine nächtliche Stunde, um Ihnen herzlich zu danken für Ihren Glückwünschenden Brief. Möge auch Ihnen die neue Jahreszahl eine Glückszahl sein, das Frühjahr aber uns hier zusammenführen zu altem Gedanken­ verkehr in unwandelbarer Gefühlsgemeinschaft. Ihr Berliner Stimmungsbild war mir sehr interessant. Gewiß haben Sie da nicht zu grau gemalt, wenn gleich zu hell und licht bei dem Gegenbilde der Kleinoelser Thurmstube. Auch sie ist nicht so isolirt, wie für ernste Arbeit unserer Art erforderlich. Auch hier macht sich der Nebenmensch unliebsam bemerkbar. Bald ist auf eine frivole Klage mit langen Deduktionen zu antworten, bald Miquels1 schauderhaftes Gesetz nebst den noch schlimmeren ministeriellen Anweisungen durch­zunehmen, bald treten die wirthschaftlichen Schwierigkeiten dieses ertrags­armen Wirthschaftsjahres über die Schwelle meines Friedens u.s.w. Ich © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

345

verstehe den Gang ernster Denker und großer Arbeiter in die Einsamkeit. Immerhin will ich nicht klagen. Sehen mich auch, wenn ich nach einigen Wochen gezwungener Nebengeschäftigkeit zu ihnen zurückkehre, die eigenen Aufzeichnungen fremd an, so finde ich mich doch nach einiger Zeit und Anstrengung in den alten Kreisen wieder zurecht. Und dann genieße ich das stille Selbstgespräch und den Verkehr mit dem Geiste der Geschichte. Der ist in seiner Klause dem Faust nicht erschienen und auch dem Meister Goethe nicht. Ihm würden sie nicht erschrocken gewichen sein, so ernst und ergreifend die Erscheinung sein mag. Ist sie doch brüderlich und verwandt in anderem, tieferen Sinne als die Bewohner von Busch und Feld. Die Bemühung hat Ähnlichkeit mit dem Ringen Jacobs, für den Ringenden selbst ein sicherer Gewinn. Darauf aber kommts an erster Stelle an. – Ich gedenke nun die nächsten Monate mich still zu Hause zu halten. Die Eröffnung der Herrenhaussitzungen hat mich nicht nöthig. In Breslau habe ich auch nichts zu suchen. Letzthin war ich einmal dort zu einem Diner eingeladen. Ich lernte den Fürstbischof 2 kennen und bei Tische neben ihn gesetzt hatte ich ein interessantes Gespräch. Der Mann ist sehr klug und von liebenswürdiger Art. Wie erstaunlich weise ist doch der kirchliche Bildungsgang eingerichtet und wie perfekt gestaltet der regimentale Verfassungsverband! Staatsrechtlich angesehen war der ­K aiser ­Augustus der erste Papst und der kaiserliche Senat das erste Cardinalskollegium. Bei jener Gelegenheit wurde auch die Kriegsfrage von militärischer Seite behandelt und die gegenwärtige Situation als ernst angesehen. Weiß man davon etwas in Berlin? den 7ten Januar. Heute nur noch die besten Grüße. Die Sonne lockt einen Gang durch den Park zu machen. Noch mehr locken die grünen Bogen, die ich zum Arbeiten benutze. Trotz dieser heilsamen Farbe mahnen ab und zu die Augen. Wie geht es mit Ihrem rechten Arme? Ich erinnere, daß Klein-Oels einer der besten Kurorte ist. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 92. 1 Vermutlich die vom preuß. Finanzminister Johannes von Miquel durchgeführte ­Reform des Steuersystems („Miquelsche Steuerreform“). 2 Georg Kopp (1837–1914): 1881 Bischof von Fulda, 1887–1914 Fürstbischof von Breslau, 1893 Kardinal.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

346

Hermann Usener an Dilthey

[816] Hermann Usener an Dilthey   Mein lieber Wilhelm,

Bonn, 9. januar [18]92.

… Das kleine aufsätzchen,1 das Du so stürmisch begehrst, folgt als drucksache. Möge es Dir gefallen; für mich hatte der kleine fund grossen reiz. Der einzelne punkt gestattet weiteren ausblick. Ich sehne mich sehr, den arbeitstisch von den verpflichtungen, die mir von aussen aufgedrungen sind, frei zu machen und zu grösseren zusammenhängenden arbeiten aus dieser verzettelung herauszukommen. Nächstens wird Dir ein aufsatz über die aristot[elischen] kommentatoren2 zukommen. Ich hoffe dass Du zu den akademikern gehörst, die das vermächtnis Schleiermachers in ehren halten und es als ehrenpflicht der Berl[iner] ak[ademie] ansehen, das begonnene werk der A[ristoteles-]kommentatoren in würdiger weise ohne kürzung zu ende zu führen. Ich hoffe auch, dass, wenn’s not tut, Du dafür bei andren arbeitest. Wir haben das neue jahr nicht ganz günstig angetreten. Marie3 musste sich am 29. mit starker influenza legen; gottlob ist sie seit 2 tagen wieder ausser betttes. Auch Lillys gesundheit und kraft lässt zu wünschen. Ich suche mich so durchzuschlagen. Dir und den Deinigen mit den besten grüssen von haus zu haus das beste wünschend Dein H. Usener Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 16. 1 Vermutlich H. Usener: Zur Inschrift von Elaia, in: Rheinisches Museum 47 (1892), S. 154–157; WA in: Ders.: Kleine Schriften. Bd. 3. Hg. von R. Wunsch. Leipzig und Berlin 1914, S. 460–463. 2 H. Usener: Rezension: Commentaria in Aristotelem Graeca I; II 1,2; IV, 2; IX; XI; XVI; XVII; XVIII, 3; XIX, 1,2; XXIII, 1, 2, 3, 4. – Supplementum Aristotelicum I, 1,2; II, 1,2, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen. Göttingen 1892, S. 1001–1022. 3 Marie Usener (1867–1931): Tochter H. Useners.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Christoph Sigwart an Dilthey

347

[817] Christoph Sigwart an Dilthey Verehrtester Freund,

Tübingen 18. Jan[uar] 1892

besten Dank für Ihren Brief,1 den [ich] schon längst trotz meiner fabriciellen Trägheit zu einer Antwort gebracht hätte, wären nicht die Feiertage, und was darauf folgte in unserem Hause eine sehr lebhafte Unterbrechung alles erhofften Denkens gewesen. Meine Tochter aus Basel2 hatte ihren bald 3jährigen Jungen3 mitgebracht, u neben dessen körperlicher geistiger Unruhe, seinen komischen Einfällen und seiner possierlichen Mischung von ostpreußischem und Basler Dialect war zu keinem Sitzen im Hause kommen. Von Berlin war mein Georg hergekommen u berichtete, was er gesehen u erlebt. Von ihm erfuhr ich wenn auch mit lebhaftem Bedauern, daß Sie eine Zeit lang wegen Ihres jungen Botanikers4 in Sorge gewesen waren u daß Ihre verehrte Frau zu leiden habe. Ich wünsche von Herzen, daß Alles wieder gut geworden sei – für die Freundlichkeit mit der Sie meinen Sohn aufnehmen, noch einen besonderen Dank. Er ist für jede Anregung, die ihm aus einer für ihn neuen lebhaften Welt kommt, sehr empfänglich, u ich hoffe daß sein wissenschaftliches Interesse, das hier nicht recht lebendig werden wollte, durch die stärkeren Reize der Berliner Welt vollends aufwacht. Daß Sie an den Schwierigkeiten der Psychologie laborieren kann ich lebhaft mitfühlen – geht es mir doch auch so, daß je länger ich mich mit der Sache beschäftige, desto complicierter die Probleme werden. Eine weitgehende Abhängigkeit psychischer Processe von den jeweiligen Gehirnzuständen ist ja unläugbar, und wer einen so launenhaften Kopf hat wie ich, empfindet es doppelt. Aber wie das zugehen soll, darauf ist schwer sich einen Vers zu machen. Alle die Versuche, sich von Einzelnem ein Bild zu machen, was in der Gehirnsubstanz vorgehen soll, um die einzelnen psychischen Vorgänge zu bedingen, alle Combinationen von Vorstellungen u.s.w. sind bis jetzt eigentlich ziemlich kindisch; gesetzt wir hätten in einem Theil des Gehirns ein Photographie­ album von allen successiven Gefühlsbildern, zu neuen Bildern eine Sammlung von Photographien, die fortbildet und meinetwegen auch zusammenhängende Sätze u Melodien aufbewahrte u bei Gelegenheit wieder abführte  – welche materielle Basis soll man für die endlosen Combinationen suchen, in die diese Elemente treten, in welcher Zelle sitzt dazu die Erlaubniß des Unterschieds, der Gleichheit dieser Bilder, und was muß im Gehirn sich verändern u wachsen, wenn ich eine Rechnung ausführe oder eine geometrische Figur erfinde und neue Eigenschaften an ihr entdecke? Wenn man mit der Hypothese © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

348

Christoph Sigwart an Dilthey

wirklich Ernst macht, so folgt umgekehrt, daß die materiellen Gesetze der Berechnung der Gehirnsubstanz, die chemischen Processe oder an was man sonst denken will, als dann folgen, wenn logische Schlüsse und Anschauungs­ resultate auftreten, selbst etwas Abgeleitetes sind, u ihnen logische Gesetze zu Grunde liegen müssen. Ich habe dieser Tage auch den Mechanismus[?] so anschaulich zu machen gesucht. Geht das Rechnen nur als Begleiterscheinung von Gehirnprocessen vor, so muß unser Gehirn eine Rechenmaschine sein, welche multiplicirt, dividirt, potenzirt, reducirt u.s.w.; wenn man ihr die Gesichtsbilder einer algebraischen Gleichung bietet, so muß sie arbeiten u die Bilder derselben müssen sich hin u herschieben bis das Resultat heraus kommt – nach rein mechanischen Gesetzen. Und man kann nicht sagen, diese mechanischen Gesetze seien eben […] der Gehirnsubstanz eingeprägt, denn einmal ist es allererst erfunden worden, u auch im Einzelnen kann es sich nicht um bloße Wiederholung einzelner Processe handeln, für die man zur Noth eine mechanische Basis annehmen könnte. Also steht die Maschine von Haus aus unter arithmetischen oder geometrischen Gesetzen, und die Reihenfolge der mechanischen Veränderungen bringt das Resultat nur daraus heraus, weil die Gesetze derselben so beschaffen sind, daß sie mit den logischen Verhältnissen übereinstimmen. Die Rechenmaschine arbeitet auch mechanisch, aber nur weil ihre Theile vom Erfinder so disponiert und ihre Bewegungen so ge­regelt sind, daß sie richtig arbeitet; ihr letzter Grund also ist eine logische Gesetzmäßigkeit, u ihre mechanische Leistung nur aus diesem Grunde zu verstehen; der Zusammenhang, der unmittelbar verständlich ist, ist ein logischer Zusammenhang u aus diesem ergibt sich als Folge die Construction der Maschine. Damit kommt man also auf eine Spinozische oder Hegelsche Identi­f icierung mechanischer Causalität und logischer Folge. Vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aber ist es eine bloße, durch nichts nachweisbare, jedenfalls einseitige Hypothese, daß der Zusammenhang der Gehirnveränderungen eine lückenlose Causalreihe darbiete. Was wissen wir denn von den Vorgängen im Gehirn, welche die geistigen Vorgänge begleiten? Im Einzelnen so gut wie nichts, nicht einmal für die einfachsten Reizempfindungen. Daß für die rein chemischen Vorgänge der Ernährung u.s.w. ein physicalischer Zusammenhang besteht, ist ja ohne Weiteres vorauszusetzen, aber man kann ihn nicht im Einzelnen nachweisen; daß bei der Arbeitsleistung eines Muscels Spannkräfte erbracht werden, die in Form von chemischen Dispositionen vorhanden sind, ist auch unzweifelhaft, aber was diese Spannkräfte auslöst, wissen wir wieder nicht. Und wie steht es denn mit der Erklärung auch nur des organischen Wachsthums in der Pflanze, der Zellenbildung u.s.w.? Die chemischen und physicalischen Gesetze mit samt dem Princip der Erhaltung der Kraft sind keine vollständige Erklärung; alle Ge© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Christoph Sigwart an Dilthey

349

setze setzen einen Thatbestand voraus, auf den sie anzuwenden sind, sie sagen, daß bei einer gewissen Disposition u Bewegungsstiftung der Theile bestimmte Veränderungen folgen müssen. Im Großen u Ganzen läßt sich die Anordnung der Massen im Weltraum, von der der ganze Verlauf abhängt, nicht erklären, er ist einfach gegeben; im Einzelnen läßt sich die Formbildung einer Zelle u ihre Zusammensetzung aus differenten Stoffen nicht erklären, und die ernsthaften Physiologen in Botanik u Zoologie sind meines Wissens sehr bescheiden geworden gegenüber den Hoffnungen eine Zelle aus Chemie u Physik zu begreifen. Und könnte man sie begreifen, so wäre sie schließlich nur aus der Gesammtconstitution zu begreifen, da doch ihre Lebensbedingungen zum großen Theile kosmische sind, wie Wärme u Licht; wir kommen doch auf einen mechanisch unerklärbaren Rest. Hinsichtlich des Princips der Erhaltung der Kraft aber habe ich noch zu Einem andern Resultate kommen können als dem das ich in § 100 meiner Logik5 ausführte: es ist ein formales Gesetz für den Ablauf der Veränderungen in der materiellen Welt, u unter gewissen Bedingungen für diese auch empirisch nachweisbar; aber es hindert ja, wenn Clausius6 recht sah, nicht, daß schließlich alle materielle Veränderung aufhörte u alle Bewegung sich zu gleichvertheilten Wärmeschwingungen verwandele, aus denen nichts weiter hervorgehen kann, u damit nichts übrig bleibt, worauf es anwendbar wäre. Es widerspricht aber seinem Grundgedanken – causa aequat effectum – daß die psychischen Erfolge gewisser Hirnveränderungen, die doch auch wirklich sind, einfach als 0 gesetzt werden; ich kann nur einen Widerspruch darin sehen, wenn auf materiellem Gebiete der ganze Ertrag von Bewegung u Wirkung, der als Umformung einer gegebenen Energie gefordert wird, zu Tage treten soll, u nun zugleich, ohne daß das im ursprünglichen Sinn eingeschlossen wäre, eine psychische Begleiterscheinung auftreten soll, für die das Aequivalent fehlt. Zieht man aber die psychischen Vorgänge mit herein, u setzt für diese irgend ein Aequivalent ein, so ist jene Grundannahme durchbrochen; dann müßte auf materiellem Gebiet etwas verschwinden, ohne materielle Folgen zu haben u erst auf dem Umweg durch den Willen hindurch u die von ihm abhängigen Bewegungsimpulse kann ein Aequivalent in der mechanischen Welt wieder erscheinen. Die ganze Betrachtungsweise, welche Ihnen Anstoß erregt, läßt das bewußte Geschehen einfach aus der Rechnung fort, als wäre es gar nicht da. Ich glaube auch, daß Sie zu viel concediren, wenn Sie, wie der alte Cartesius, dem Willen nur die Direction vorhandener Kräfte zuweisen wollen u im Uebrigen den lückenlosen Zusammenhang der materiellen Vorgänge bestehen lassen wollen; es war bei Cartesius physikalisch unmöglich, eine Richtung zu ändern, ohne daß eine vorher nicht vorhandene mechanische Kraft einwirkte, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

350

Christoph Sigwart an Dilthey

u nur für ihn möglich, weil er glaubte, es komme nur auf die Summe der Bewegung an, u die Veränderungen der Richtung afficieren diese nicht; aber zur Veränderung einer Richtung gehört Kraft, die anderswo verschwinden mußte; oder in heutiger Sprache, zur Auslösung von Spannkräften gehört eine wenn auch minimale letztendige Kraft; die Kanone geht nicht von selbst los; wenn auch das größte Wirkverhältniß [?] zwischen der lebendigen Kraft u den Wirkungen der Spannkräfte vorhanden ist. Ich sehe gar Eine Schwierigkeit, die vom Princip der Erhaltung der Kraft herrührte anzunehmen, daß die psychischen Vorgänge, die doch unter sich einen greifbaren, ja den für uns verständlichsten Zusammenhang haben, in dem gesammten Causalzusammenhang […] sind; eine Aequivalentzahl kann man freilich weder zwischen Luftschwingungen und Gefühlsbildern, noch zwischen Willensentschlüssen und Innervationsvorgängen aufstellen. Wozu psychologisch jene Theorie führte, sieht man am deutlichsten bei Münsterberg,7 der den Willen zur Bewegung in einen Complex von Empfindungen auflöst, u damit das specifische Factum des Wollens läugnet. Für das geistige Leben, würde ich weiter ohne Bedenken sagen, gilt überhaupt die Gleichung zwischen Ursache und Wirkung nicht in dem Sinne, in dem sie auf physischem Gebiete gilt, weil wir es hier eben mit Entwicklung und Neuschöpfung, nicht bloß mit der Transformation von Bewegungen unveränderlicher Elemente zu thun haben. Das sind so meine Gedanken; ich sehe aber, daß ich Ihnen schon viel zu lesen zugemuthet habe. Wenn wir, was ich lebhaft hoffe, uns bald wieder sehen, können wir weiter conversieren. Inzwischen herzliche Wünsche für Sie, die Ihrigen u freundlichste Grüße auch von meiner Frau.

Ihr freundschaftlich ergebener

C. S.

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 190, Bl. 186–187 R und Bl. ­184–185 R. 1 Nicht überliefert. 2 Luise Charlotte Therese Klebs (1865–1931), seit 1888 Ehefrau von Georg Albrecht Klebs (1857–1918): seit 1887 o. Prof. der Botanik in Basel. 3 Ludwig Emil Werner Klebs, geb. 1889. 4 Gemeint ist D.s Sohn Maximilian. 5 Ch. Sigwart: Logik. 2 Bde. Tübingen 1873–1878, 2. durchges. und erw. Aufl. Freiburg / Breisgau 1889–1893. 6 Rudolf Julius Emanuel Clausius (1822–1888): Mathematiker und Physiker; 1854 Prof. für Physik an der Königl. Artillerie- und Ingenieurschule in Berlin, 1855 an der Technischen Hochschule Zürich, 1867 in Würzburg, 1869 in Bonn; Clausius gilt als Entdecker des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik und als Schöpfer des Begriffs Entropie. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Hermann Usener

351

7 Hugo Münsterberg (1863–1916): deutsch-amerik. Philosoph und Psychologe; 1885 Promotion in Leipzig (bei W. Wundt), 1888 Habilitation, 1892 a. o. Prof. in Freiburg, 1892 Gastprof. in Harvard, 1895 Prof. in Freiburg, 1897 in Harvard. – Die Willenshandlung. Ein Beitrag zur physiologischen Psychologie. Freiburg / Breisgau 1888.

[818] Dilthey an Hermann Usener 22. Januar 18921 Liebster Hermann, mir ist Alles recht was Ihr über Ring beschließt. Da ich zumeist nur 4 % erhalte, ist mir nichts daran gelegen, ob ich 4 % oder 4 ½ % erhalte, falls nur die Sicherheit unbedingt ist. Sonach waltet nach Eurem Gutdünken. Und ebenso in Bezug auf die Art der Auszahlung dort u. der Einzahlung bei Meier.2 Die Sache kann ja dann sehr vereinfacht werden, da so gleichzeitig dort Geld frei wird. Gewiß wäre nützlich wenn Du dort in die Meierei, die mir in Rücksicht der Söhne nicht zweifelsohne ist, hinein sähest. Zwar kann dies bei jeder andren Gelegenheit ebensogut geschehen. Sollte aber eine Mittelsperson nöthig sein bei einer solchen Zusatzhypothek, welche bei Gericht anwesend ist und der Eintragung beiwohnt, was mir nicht ist und worüber ich noch keine Erkundigung bei den juristischen Freunden eingezogen habe, so würde natürlich die Verbindung beider Zwecke durch Deine An­ wesenheit, wenn eine solche Anwesenheit Dir überhaupt paßt, sehr in unsrem Interesse sein. Hoffentlich ist notarielle Beglaubigung der Vollmacht an Dich, die stets kostspielig u. langweilig, nicht erforderlich. Deine Aufklärung über den Werth der Kommentatorenausgabe an solche die lieber von solchem Werthe nichts hören, wird gewiß gute Wirkung thun. Inzwischen ist vor Kurzem Seitens der Regierung die Bewilligung eines neuen regelmäßigen Zuschußes von 10.000 Mark gekommen, welcher aus­drücklich neben u. nach dem Abschluß e[iner] röm[ischen] Inschr[ift] der Fortsetzung der Commentatoren und erst nach deren Abschluß andren ­Zwecken bestimmt ist. Wir sind aber in einer Kanzlerkrisis. Das Projekt die Gesellschaften von Götting[en] u Leipzig mit Wien und München zu einem Verbande mit Berlin zusammenzuschließen, in Wien aus dem Bedürfniß der Anlehnung, hier aus dem der Hebung der zurückgehenden Univ[ersität] Göttingen entstanden, ist von Mommsen gefördert worden u. wird von ­A lthoff unterstützt.3 Ich meinerseits finde daß die Einheit der Leitung von Unternehmungen und die einfache Sicherheit unsres Verhältnisses zur Regierung dadurch geschädigt, die Gefahr von […] gesteigert wird etc. So denken nicht © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

352

Dilthey an Hermann Usener

Wenige. Die naturw[issenschaftliche] Abth[eilung] verhält sich ablehnend, zu dieser Sache kommt d[ie] nun schwierig werdende Stellung v[on] C ­ urtius4 z[ur] Ak[ademie], welcher leider nichts gern aufgiebt u. darüber wol überall seine persönliche Entscheidung verlieren wird. So hat denn Mommsen vorgestern nach der Sitzung erklärt er werde 1. April das Sekretariat niederlegen. Als ich mit ihm sprach meinte er, er fände k[eine] Unterstützung in dem was er noch machen wolle. Nächsten Donnerstag werden wir ihm den Wunsch daß er bleibe aussprechen, und er wird sich wol wie Bismarck halten lassen. Geht er oder Curtius, so ist nach m[einer] Überzeugung Diels die gegebene Person. Curtius hätte ich gewünscht er hätte sich von d[er] Univ[ersität] zurückgezogen, u. bei der Akademie hätte er seine disponible Kraft eingesetzt. Es scheint nun anders zu kommen. Herzliche Grüße von Haus zu Haus treulichst D[ein] Wilhelm Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL , S 2102, 3, Nr. 11. 1 Datierung nach einer Notiz Useners im Original: „Erh[alten] 23 jan[uar] [18]92[;] ant[wort] 24/I“ – „geschr[ieben] 22 jan[uar].)“ 2 Der Hintergrund dieser finanziellen Absprache ist nicht mehr zu ermitteln. Vermutlich steht sie im Zusammenhang mit dem Erbe D.s und seiner Schwester Lily. 3 Initiiert von der Wiener AdW entstand der Plan zu einem Zusammenschluss von mehreren europäischen Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften. Der damalige Sekretar der philos.-histor. Klasse der Berliner AdW, Th. Mommsen, bemühte sich sehr um die Realisierung dieses Projektes. 4 Ernst Curtius (1814–1896): klass. Philologe, Archäologe und Historiker; 1844 a. o. Prof. für klass. Philologie in Berlin, 1856 o. Prof. in Göttingen, 1868 o. Prof. für alte Geschichte und Archäologie sowie Leiter des alten Museums in Berlin, 1871–1893 Sekretar der philos.-histor. Klasse der Berliner AdW.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

353

[819] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg  Mein lieber Freund, 2

[Januar 1892]1

Gern hätte ich Ihnen längst in dieser bewegten Zeit über meine hießigen Eindrücke geschrieben; schließlich läßt sich doch nur sprechen über das was vorgeht. Praktisch empfinden Sie wie ich: Ihre Unterrichtsschrift ist hochnothwendig; wahrscheinlich wird auch nöthig sein, daß Sie zum Herrenhaus kommen, sich in die Kommission wählen lassen und im Plenum sprechen. Denn die Sachlage soviel man ohne an der Komödie theilzunehmen sehn kann: Zedlitz3 wirklich fromm, unbekümmert um die Fortdauer einer ihm wenig sympathischen Stellung, aber von einem stillen Fanatismus für das Positive, die religiöse Einzelheit, die Confession, unfähig, durch wissenschaftliches Denken hindurchgegangene Religiosität zu verstehen. Er hat Eynern4 nach dem Zusammenstoß sprechen wollen, Verständigung suchen; als dieser jedem Bedauern über gegenseitige harte Worte durch die Berufung auf die parlamentarische Luft auswich, sagte er: dann spreche er als Christ ihm aus daß er zu weit gegangen. In den Ministerialsitzungen sagt er wol: wenn ich Ostern noch Minister bin. Aber er hat eine ruhige unbeugsame Energie. – Caprivi5 gehörte wie Treitschke gern erzählt zu den ‚nassen Engeln‘, den Gardeofficieren, die sich in der Kirche unter den Augen Friedrich Wilhelm IV.6 gern zeigten, um sich dann an dem Frühstück bei Habel7 zu erholen. Treitschke meint, er sei kalt wie eine Hundenase, andere halten ihn für aufrichtig fromm. Jedenfalls war er in seiner Aktion von einer ganz falschen Voraussetzung über Pläne der Nationalliberalen geleitet. – Der Kaiser hat bei der Zusammenkunft bei ­Zedlitz mit keiner Silbe sich über seine eigene Ansicht ausgesprochen. Geäußert hat er sonst, er wünsche daß auch dies Gesetz wie die früheren unter Mitwirkung der Hauptpartheien zu Stande komme. Die Tendenz ist also das Gesetz zurechtzustutzen. Ob im Abgeordnetenhaus dafür die Conservativen noch zu haben sind? So hört man denn auch, dem Herrenhaus werde diesmal die moderirende und abwiegende Rolle zufallen. So schwirrt es durcheinander. Morgen früh kommen eine Anzahl von Ordinarien, darunter Treitschke, Brunner, Schmoller, Helmholtz etc., zusammen, um über eine Erklärung sich zu vereinbaren. Zugleich wird von Halle eine kommen, von der ganzen theologischen Fakultät mitunterschrieben. Die öffentlichen Äußerungen sind nothwendig und werden hintereinander kommen, damit die Regierung fühle, in welchem Grade die Wahlen bedroht sind, wenn © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

354

Carl Stumpf an Dilthey

die Regierung uns dieser Papstherschaft und dem Kampf freier Volksschulen untereinander aussetzt. Für uns handelt es sich um mehr: geht dies Gesetz ungefähr so durch, dann zwingt es zu einer Ultra-Regierung, die den Kaiser verbittert, und deren Erbschaft dem Freisinn zufällt. Dieser hat keinen innigeren Wunsch als daß es durchgehe. Ich habe mich herzlich der im ganzen guten Nachrichten von Klein-Oels gefreut, und Ihrer freundlichen Erinnerung an Klein-Oels als Kurort. Ich wünsche es möchte das sich verwirklichen. Mit meinen eigenen Arbeiten ist es in diesem schauderhaften Winter so schlecht als noch nie gegangen; ich bin nervös, des Treibens müde. Glücklich und gepriesen sei die Thurmstube des heiligen Hieronymus! Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 93. 1 In BDY: „[Anfang 1892.]“ 2 In BDY: „Wein“. 3 Robert Graf von Zedlitz und Trützschler (1837–1914): preuß. Beamter und Offizier; 1881 Regierungspräsident in Oppeln / Schlesien, 1886 Oberpräsident der Provinz ­Posen, 1891–1892 preuß. Kultusminister. In dieser Funktion legte Zedlitz den Entwurf eines christlich-konservativen Volksschulgesetzes vor. Nach Protesten aus dem liberalen und protestantischen Bürgertum trat er zurück. 4 Ernst von Eynern (1838–1906): Großkaufmann und nationalliberaler Politiker; 1879 Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses, 1886 Fraktionsgeschäftsführer der Nationalliberalen, 1892 Mitglied im Fraktionsvorstand. 5 Nach dem Protest gegen die Vorlage des neuen Volksschulgesetzes und dem daraufhin erfolgten Rücktritt des Kultusministers bot auch Reichskanzler Caprivi, ein preuß. General, seinen Rücktritt an. Dennoch behielt er sein Amt formell bis 1894. 6 Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861): 1840–1861 König von Preußen. 7 Die Weinhandlung Gebrüder Habel in Berlin, Unter den Linden 30 (die „Probierstube Preußens“).

[820] Carl Stumpf an Dilthey

Lieber Freund!

München, Georgenst[raße] 18 8. II [18]92

Beiliegender Brief anlässlich des Wundtschen Schlussworts1 dürfte Sie interessiren; er dient mit zur Charakteristik Wundts. So fasst W[undt] den Begriff des Schülers, daß er einen, den er 3 Jahre speziell unterwiesen und auch später aus© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

355

Carl Stumpf an Dilthey

drücklich als Schüler anerkannt, nun verleugnet, weil er eben nicht mehr auf seine Worte schwört. Natürlich weiß W[undt], daß ich Münst[erberg] meinte, da dieser allein (in seinen „Beiträgen“) Ergebnisse von Tondistanzschätzungen ausser Lorenz veröffentlicht hat u. ich ja die Veröffentlichung erwähnte.2 Der andre „grosse Unbekannte“, Ebbinghaus, der natürl[ich] wie Münsterberg sich mit der anonymen Erwähnung einverstanden erklärte, müsste nun eigentlich meinem Gefühl nach für seine angegriffene Ehre eintreten, sei’s auch nur gelegentlich. Aber ich möchte ihn zu einem unbequemen u. mög­ licherweise schädlichen Schritt nicht verleiten; er würde ja ebenfalls W[undt]’s tödtlichen Hass auf sich laden. Dagegen glaube ich’s meiner eigenen Sache schuldig zu sein, daß ich mir von Beiden die Erlaubnis erbitte, sie später einmal, sei’s auch nach Jahren, wenn jede Nachwirkung einer persönlichen Feindschaft W[undt]’s ausgeschlossen ist, mit Namen citire, damit wenigstens für die Nachkömmlinge, die etwa Veranlassung haben sollten, diese Controverse nachzusehen, die bezüglichen Stellen meines Schlusswortes nicht so aus der Luft gegriffen scheinen, wie sie W[undt] hinzustellen sucht. Was meinen Sie dazu? Die Ausführungen W[undt]’s über die Behauptung der „Logik“ zeigen doch wieder nur, dass er damals wie so oft unüberlegtes Zeug hingeschrieben. Denn „ohne besondere Versuchsbedingungen“ heisst doch wirklich nichts anderes als „ohne Resonatoren sondern mit freiem Ohr“. Und nun wird er wild, wenn Jemand daran Anstoss nimmt.3 Auf die stärkste Anschuldigung in meinem Schlusswort4 – dass er Mein u. Dein nicht mehr unterscheide, indem er meine Thesis in der ganzen Sache als die seinige hinstellt – hat er merkwürdigerweise gar nicht reagirt; hier scheint ihm selbst seine hochentwickelte Sophistik den Dienst versagt zu haben. In Eile herzl[ich] grüssend Ihr

C. Stumpf

Die Tropfen in M[ünsterberg]’s Brief5 (den ich zurückerbitte) sind keine Thränen – sondern Regentropfen. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 184, Bl. 329–330 R. 1 W. Wundt: Auch ein Schlusswort, in: Philos. Studien VII (1892), S.  633–636.  – C. Stumpf hatte 1890 einen Aufsatz veröffentlicht mit dem Titel: Über Vergleichungen von Tondistanzen, in: ZPPS 1 (1890), S. 419–462. Darin kritisierte er Versuche über Ver­ gleiche von Tondistanzen des Wundt-Schülers Carl Adolf Lorenz (Untersuchungen über die Auffassung von Tondistanzen, Diss. 1890, in: Philos. Studien VI (1890), S. 26–103) © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

356

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

sowie die entsprechenden Abschnitte in Wundts Grundzügen der physiologischen Psychologie. 2 Bde., 3.  umgearb. Aufl. Leipzig 1887. Auf diesen Aufsatz C. Stumpfs reagierte Wundt mit dem Beitrag: Über Vergleichungen von Tondistanzen, in: Philos. Studien VI (1891), S. 605–640. Darauf wiederum antwortete Stumpf mit dem Beitrag: Wundts Antikritik, in: ZPPS 2 (1891), S. 266–293 und S. 426. Es folgte von seiten Wundts: Eine Replik C. Stumpf ’s, in: Philos. Studien VII (1892), S.  298–327. Stumpf erwiderte darauf: Mein Schlußwort gegen Wundt, in: ZPPS 2 (1891), S. 438–443. Der letzte Gegenschlag in diesem Disput kam von Wundt: Auch ein Schlußwort, in: Philos. Studien VII (1892), S. 633–636. 2 H. Münsterberg: Beiträge zur experimentellen Psychologie. 4 Hefte. Freiburg / Breisgau 1889–1892, hier Heft 3, S. 37–41; C. A. Lorenz: Untersuchungen über die Auffassung von Tondistanzen. Diss. 1890, in: Philos. Studien VI (1890), S. 26–103. 3 Vgl. W. Wundt: Eine Replik C. Stumpf ’s, a. a. O., S. 327: „Stumpf lässt mich behaupten, dass man niemals mit freiem Ohr ohne Einführung besonderer Versuchsbedingungen Obertöne wahrnehmen könne – genau das Gegentheil von dem, was ich gesagt habe.“ 4 C. Stumpf: Mein Schlußwort gegen Wundt, in: ZPPS 2 (1891), S. 438–443. 5 Nicht beigelegt.

[821] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Mein lieber Freund.

Kl[ein-] Oels den 9. II. [18]92.

Besten Dank für Ihren freundlichen Gruß und den Berliner Stimmungsbericht. Was mich anbetrifft, so bin ich jetzt nicht in der Lage meine Unterrichtsschrift zu vollenden. Ich stecke in anderer Arbeit, die ich nicht plötzlich unterbrechen kann und mag. Später will ich sie fertig stellen aus eigenem Bedürfnisse und Interesse an der Sache als solcher. Taugt sie etwas, dann wird sie ein Recht der Existenz haben abgesehen von der zeitlichen Okkasion. Übrigens arbeitet die Conferenz so langsam, ungenügend und innerlich haltlos, daß auch eine spätere Arbeit immer noch zeitgemäß sein möchte. Mit dem Volksschulwesen als solchem beschäftigt sie sich, wie Sie wissen, überhaupt nicht. Dies im Vordergrunde des Interesses stehende Thema, dessen fascinirende Kraft zur Zeit die Aufmerksamkeit von der Gymnasialfrage ablenken würde, erscheint mir ein außerordentlich komplizirtes, weil schon an sich konkretes. Politisch steckt dahinter die Kirchenfrage. Das wußte Windhorst,1 dem eine politisch kurzsichtige Regierung über das Grab hinaus seinen Wunsch erfüllt. Die Fragstellung des Entwurfs ist doch Kirchenschule oder Staatsschule trotz aller Betonung der rechtlichen Natur der Schulanstalt als staat­licher Ver© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

357

anstaltung. Die Frage mußte gesetzgeberisch nicht aufgeworfen werden. Die Praxis mußte ruhig weiter arbeiten. Das ist der wesentliche politische Fehler, daß überhaupt der gesetzgeberische Weg beschritten worden ist. Damit kam die Regierung an die Rechtsfrage heran: Verfassung ausführen oder abändern? Eine politisch höchst mißliche Position. Das öffentliche Rechtsbewußtsein ist aber dahin verstimmt, daß die Verfassungstreue materiell gefaßt und bestimmt wird, während die Beeidung doch nur den Sinn haben dürfte die Willensgewalt zu binden. Bei uns aber wie in Belgien sind die Katholiken bei Abfassung der Verfassungsurkunde weitsichtiger und schärfer denkend gewesen als der rhetorische Liberalismus, der gegen die eigenen Lebensinteressen den Rechtsstandpunkt einer materiellen Bindung durch die Verfassung bis zu dem Kulturkampfe, den Kurzsichtigkeit als ein hors d’oeuvre betrachtet, vertreten hat, die katholische Ansicht vom Dogma ins Politische übersetzt. Wie ist nun in formaler Beziehung die Lage? Die Regierung verbaliter verfassungstreu, die Verfassungspartei par excellence gegen eine Grundbestimmung der Verfassung. Das ‚Möglichst‘ aber ist zu schmal um sich dahinter verstecken zu können.2 Entscheidend eingreifen, ohne doch den einmal angerichteten politischen Schaden ganz repariren zu können, könnte die konservative Partei. Sie wäre – ich muß doch sagen wäre vielleicht – in der Lage Religion und Gewissensfreiheit gesetzgeberisch zu vermitteln, wobei sie den charaktervollen und ihr sympathischen Cultusminister konserviren würde. Aber innerlich ist dieser Partei die Kirchthurmpolitik zu nahe. Sie wie die Regierung meinen, daß Christenthum nur als Confession existirt, ein Abstraktum von den Confessionen sei, mit mehr Unrecht noch, wie der Naturwissenschaftler Farbe für eine Abstraktion von roth, blau usw. hält. Damit ist wiederum eine merkwürdige Verschiebung gegeben. Nach dieser Auffassung wird der Staat einer Partei, welche von dem christlichen Charakter des Staats unablässig spricht, doch zu einem nicht-christlichen Verbande, da er weder katholisch noch evangelisch ist. Nur von dem Gesichtspunkte aus, daß Christlichkeit die gemeinsame Substanz beider Confessionen ist, läßt sich die Schulfrage staatlich richtig behandeln – und ohne Anstoß nur im Verwaltungswege. Die Rolle nun, die Sie dem Herrenhause zuweisen, kann diese Körperschaft nicht spielen. Dafür hat die Regierung, Bismarck eingeschlossen, gesorgt und gewirkt. Das Herrenhaus bei der Landtagseröffnung in diesem Jahre ganz ohne Arbeit gelassen, im vorigen Jahre zunächst mit der Hundesteuer abgefunden, bekommt die gewichtigsten Gesetzentwürfe in den letzten Tagen der Session, unter geschäftlichem und regimentalem Hochdruck. Eine feste Parteibildung und die Möglichkeit dazu giebt es dort außer der Fraktion Stahl3 nicht. Die s.g. neue Fraktion ist nur ein Nebeneinander disparater Elemente, bestimmt nur durch den übrigens auch flüssigen Gegensatz gegen jene Fraktion. Das Grundgesetz der Composition © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

358

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

des Herrenhauses verhindert von vorn herein jede selbständige Kraft. Kommt der genannte Gesetzentwurf überhaupt an das Herrenhaus, so hat Aussicht auf Amendirungserfolg4 nur Herr von Manteuffel.5 Im Plenum eine Confession abzulegen oder in der Commission pro nihilo zu arbeiten ist nicht nach Jedermanns Geschmack und sachlich bedeutungslos. So weiß ich noch nicht, ob ich überhaupt nach Berlin kommen werde. Was die ministeriellen Personen angeht, so theile ich Ihr günstiges Urtheil über Zedlitzens Persönlichkeit. Aber man macht bei ihm die Erfahrung, daß administrativ und politisch Denken zwei ganz verschiedene Dinge sind. Seine polnische Politik beweist mir, daß auch große Begabung historische Schulung nicht zu ersetzen vermag. Ich ziehe hierbei in Rechnung, daß er dabei nicht die Initiative hat. Antirussische Tendenzen und persönliche Ansichten an höchster Stelle mögen maßgebend gewesen sein. Aber daß Zedlitz dazu die Hand geboten, hat mich überrascht und meinen Respekt vor seiner Begabung gemindert. Caprivi beurtheilt Treitschke ganz falsch. Er gehörte aller­dings zu den s.g. nassen Engeln. Diese aber, welche jenen Spitznamen bekamen, weil sie als Temperenzler6 nicht kneipten, waren weder Gardeoffiziere noch Kopfhänger, gingen nicht zu Habel und nicht unter den Augen Friedrich Wilhelms IV. in die Kirche. Vielmehr, von aktivem Pietismus, hatten sie eine werkthätige Diakonie eingerichtet und bevorzugten von Innen heraus die strengsten Prediger und Kanzlerredner. Beschränkt – ja, unlauter – nein. Vielmehr besonders ­lauter und in sich und in gedanklicher Enge aber Kraft der Gesinnung geschlossen. So auch ist Caprivi eine selten d. h. in seltenem Maße klare, in sich feste, uneigennützige ja stoische Natur. Man thut dem Manne und sich selbst positiv Unrecht, wenn man ihn anders beurtheilt. Daß er nicht an der rich­ tigen Stelle, ist eine andere Sache. Ich fürchte und glaube, daß er viel geschadet hat, in der Handelspolitik, in der polnischen Frage etc. Militärisch sehr begabt fehlt ihm meines Erachtens jede Genialität des Blicks. Nichts Erfinderisches ist in ihm. Ohne die Begabung Dinge und Verhältnisse gleichsam im Voraus zu spüren, beurtheilt er nur feste Gegebenheiten. Die Kunde der Motive ist ihm versagt. So sind wir unter seiner Leitung, wenn auch gewiß nicht allein aus seiner Spontaneität dahin gekommen, daß wir die zentrale Stellung in der politischen Welt verloren haben und durch theuere Klammern den Zusammenhalt erkaufen müssen, den unser früheres Schwergewicht natürlich bewirkte. Es sind eben die historischen Mächte stärker wie jede Schneidigkeit und die geschichtlichen Gewalten mächtiger als die bloße militärische Energie und Ordnungskraft.  – Bismarck nicht bloß abgesetzt sondern verleugnet,7 Windhorst todt – die Zeit Richters8 kommt herauf. Seine Geschäfte besorgen Andere z. B. der Minister des Inneren bis zu den nächsten Wahlen. Dann wollen wir sehen, was es geben wird. – Unerquickliche Aussicht! Daß © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

359

allein – oder nein nicht allein, aber radikal nur Pädagogik helfen könne, das wird immer mehr zum Allgemeingefühl. Da wird nun Dressur versucht statt Bildung. Und Religion wird als Anstalt gefaßt (Ritschl) und nicht als tiefste Geistesbewegung, als universelles historisches Element. Doch Sie haben Recht, das Alles läßt sich besser besprechen. Kommen Sie nur zu Ostern zum Zwiegespräch! – Mir werden die Tage zu kurz bei meiner langsamen Art, und das Interessante mehrt sich. Wie ein hoher Berg reichen die Schwierigkeiten gen Himmel. Wenn erst sie ihn sicher berühren, sind sie richtig orientirt und überwindbar. Treulichst Ihr Yorck.9 Die Raumfrage führte mich zu Stumpf. Den bekommen Sie nicht nach Berlin, so lang Helmholtz lebt. Seine Arbeit über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung10 (dieser nicht erkannte Pleonasmus kommt auf Rechnung Stumpfs, nicht auf die meine) ist tüchtig wenn auch nicht überall treffend in der Kritik. Über des Verfassers eigene Ansicht schweige ich im Interesse der Fertigstellung dieses Briefs. In so fern ist auch die Kritik unvoll­ ständig, als das geschichtliche Motiv der empiristischen Raumauffassung nicht erkannt – oder verschwiegen ist. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 94. 1 L. J. F. G. Windhorst, Jurist und kath. Politiker, war seit 1871 Mitglied des Deutschen Reichstags. Er starb am 14. März 1891. 2 Die Hg. von BDY merkt an: „Das ‚Möglichst‘ bezieht sich auf den Wortlaut des § 14 im Entwurf des Volksschulgesetzes, den der Kultusminister Graf v. Zedlitz im Januar 1892 dem Hause der Abgeordneten vorlegen ließ. Der Paragraph beginnt: ‚Bei der Ein­richtung der Volksschulen sind die konfessionellen Verhältnisse möglichst zu berück­ sichtigen.‘“ 3 Namensgeber der konservativen „Fraktion Stahl“ (später: „Alte Fraktion“) des preuß. Herrenhauses war der Rechtsphilosoph, Jurist und Politiker Friedrich Julius Stahl ­(1802–1861). 4 Amendierung: Einbringung eines Änderungsantrags zu einem Gesetzentwurf. 5 Otto von Manteuffel (1844–1913): konservativer Politiker; 1877–1898 Mitglied des Reichstags und der deutschkonservativen Partei und seit 1883 Mitglied des preuß. Herrenhauses, 1891 dessen erster Vizepräsident, 1892–1908 Vorsitzender der „Alten Fraktion“. 6 Anhänger einer Mäßigkeits- oder Enthaltsamkeitsbewegung. 7 Nachdem er die Unterstützung Kaiser Wilhelms II. verloren hatte, trat Bismarck am 18. März 1890 zurück. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

360

Max Dessoir an Dilthey

8 Eugen Richter (1838–1906): Jurist, Journalist und liberaler Politiker; 1869–1906 Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses, ab 1871 Mitglied des Reichstags. 9 Gruß und Unterschrift wurden aus den Korrekturbögen (Juni–August 1923) von BDY ergänzt. 10 C. Stumpf: Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung. Stuttgart 1873.

[822] Max Dessoir an Dilthey 28. 2. [18]92

Hochverehrter Herr Professor,

In: Schmidkunz, Psychologie der Suggestion, 1892 S.  260 ff.1 stehen wertvolle Auseinandersetzungen von Ola Hansson2 über sein dichterisches Schaffen, die aber nicht gut excerpierbar sind, so daß ich in dieser Weise Sie darauf aufmerksam machen muß. Auszuege aus anderen Quellen hoffe ich Ihnen naechstens bringen zu können, wenn ich mit diesem Teile meiner Vorbereitungen fuer die Vorlesung fertig bin. – In alter Dankbarkeit u. Verehrung Ihr sehr ergebener Max Dessoir Original: Hs.; Postkarte; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 159, Bl. 30–30 R. 1 H. Schmidkunz: Psychologie der Suggestion. Mit ärztlich-psychologischen Ergänzungen von Franz Carl Gerster. Stuttgart 1892. 2 Ola Hansson (1860–1925): schwed.-deutscher Schriftsteller; Mitglied des naturalistischen „Friedrichshagener Dichterkreises“.

[823] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Mein lieber Freund,

d[en] 29. 2. [18]92.

Zu Ihrem Geburtstag morgen sende ich Ihnen heute schon in früher Stunde vor den Vorlesungen meine treuen, herzlichsten Wünsche. Mögen Sie im Kreis Ihrer Familie und Ihrer Arbeit nur Freude erfahren. Wer weiß ob nicht in diesem Jahre Ihnen Heinrich eine Braut bringt? Und das sicher wird ja geschehen, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

361

daß Ihre Arbeit mehr dem Abschluß entgegen gefördert wird. Was Abschluß heißt, in der Philosophie, wie schwer und durch wie große Anstrengungen er heute von unserem Standpunkte aus, welcher von allen heutigen Arbeiten so wenig benutzen kann, so viel bestreiten muß, erreicht wird, das weiß nur wer sich auch ‚strebend bemüht‘. Wie die öffentlichen Dinge, an denen doch unser Herz hängt, in diesem Jahre laufen werden, vermag wol kein Prophet auch nur halb zu errathen. Nach den vielen Gesprächen die ich mit den verschiedensten Personen des Kultusministeriums und Abgeordnetenhauses hatte, ist der Gedanke der Regierung, das Schulgesetz würde eine definitive Verständigung mit den katholischen Bischöfen (Kopp) und folgerecht dem Centrum herbeiführen und dann könnten alle Kräfte zur Lösung der Aufgaben vereinigt werden. Hiervon klingt ja auch ein Ton aus der kaiserlichen Rede. Doch ist selbst die Mehrzahl der Beamten des Kultusministeriums nicht dieser Ansicht. Sie halten das Schulgesetz für einen Fehlgriff, aber sie wünschen alle daß Zedlitz bleibe, dessen menschlich offene und sachliche Art nach aller Urtheil gegen Goßler aufs angenehmste absticht. Da nun die Berathungen sich dehnen, so wird wahrscheinlich irgend eine Vermittlung zu Stande kommen, die die Dinge ohne Krisen weitergehen läßt. Mein Eindruck der Personen im Kultusministerium ist niederdrückend. Vorgestern sprach ich Schottmüller,1 und wie ein solcher munterer Windbeutel und Aufschneider eine solche Rolle spielen kann muß Unruhe erregen. In solchen Zeiten empfindet man doppelt, daß nur aus philosophischer Selbstbesinnung Vertiefung der höheren Classen kommen kann. Sie wird bei Ihnen mehr der Begründung religiöser Lebensstellung direkt dienen. Bei mir ist sie zunächst darauf gerichtet, die selbständige Macht der Geisteswissenschaften zu erhöhen, wodurch dann die selbständige Geltung der sittlichreligiösen Motive auch mehr zur Anerkennung gebracht wird. In den Ferien möchte ich nun das Grundgerüst einer erkenntnißtheoretischen Logik, sonach einige der Hauptcapitel des zweiten Bandes nach so langem Nachdenken ausarbeiten und in der Akademie Ende April vorlegen. Jetzt bin ich noch an der Fortführung der historischen Parthie. Längere Zeit hat mich die Fertigstellung der literarhistorischen Aufsätze beschäftigt und ich bin doch so weit daß im Frühling deren Druck anfangen kann.2 Sie sollen mit einem Aufsatz über die gegenwärtige Poesie endigen, der auf einen über Dickens und den eng­lischen Roman folgt; sonst würde das Buch der Aktualität entbehren. Was für Gesprächsstoff Alles für uns! wozu dann der lebhafteste Wunsch sich ein­f indet, mich mit Ihnen über unsre Beschäftigungen auszusprechen. Die Gedanken werden durch solche Gespräche mobil gemacht. Auch will sich diesmal Alles so schicken, daß wir Ihrer erneuten freund­ lichen Erinnerung an Klein-Oels sehr dankbar folgen möchten, wenn nur das © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

362

Dilthey an Konstantin Rößler

Trifolium:3 meine Frau, Max und ich Ihnen nicht zu viel werden. … [Briefschluss fehlt.] Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 95. 1 Konrad Schottmüller (1841–1893): Historiker; 1878 Prof. am Kadettencorps in Berlin, 1880 Gründung des Deutschen Historischen Instituts in Rom, seit 1890 Tätigkeit im Berliner Kultusministerium. 2 Der Plan wurde nicht realisiert. 3 Dreiblatt, Kleeblatt.

[824] Dilthey an Konstantin Rößler Berlin, 3. März [18]92.1 Mit großer Freude und herzlichem Antheil, mein lieber Freund, habe ich Ihren Übergang in’s auswärtige Amt vernommen.2 Ich mußte wol dabei so manches Spatzierganges gedenken, auf welchem Sie den Übergang in aktive politische Thätigkeit sich als letztes Ziel Ihrer Existenz wünschten. Was man in der Jugend wünscht hat man im Alter die Fülle.3 Und Ihnen ist es nun in einer Lebensphase zu Theil geworden, in der Sie noch lange Zeit mit reifen Erfahrungen Frische und Kraft des Handelns verknüpfen können. Möge sich Ihnen Alles weiter nach Ihren Wünschen schön gestalten. Meine Frau schließt ihre herzlichen Glückwünsche für Sie u. die Ihren mit an. In alter Freundschaft Ihr

Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; BA Berlin, NL 64/26. 1 Im Original: nachträgliche Datierung von fremder Hand. 2 K. Rößler war im März 1892 als Legationsrat ins auswärtige Ministerium eingetreten. Er bekleidete dieses Amt bis zu seiner Pensionierung am 1. Januar 1894. 3 Wörtliches Zitat aus Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: J. W. Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe, in 14 Bänden. Bd.  IX. Hg. von L. Blumenthal, 7. Aufl. München 1974, S. 217.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

363

[825] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Klein-Oels den 10. III. [18]92.

Trotz mannigfacher Inanspruchnahme doch wenigstens einige Worte des herzlichen Dankes für Ihre freundlichen Wünsche und der Freude über die Zusage Ihres Besuchs. Hierbei tragen wir, meine Frau und ich die Bitte vor, daß Sie beide außer Mäxchen auch Klärchen mitbringen möchten. Das gute Kind entfremdet sich sonst den Freunden gar zu sehr. Auch Bertha bat mich zu sagen, daß sie so gern Klärchen bei sich haben möchte. Diese könnte ja nach eigenem Belieben die Ferienzeit zwischen hier und Hoeckricht1 theilen. – Möge unser hoffentlich baldiges Zusammensein eine freundlich warme Sonne bescheinen. Gegenwärtig herrscht hier noch voller Winter. Von hier nichts Neues. Desto mehr, wenn auch nicht Differentes geschieht in Berlin. Ich habe die Empfindung das laufende Jahr werde uns Krieg bringen. Die Unbefriedigtheit ist ein ganz allgemeines Gefühl und die internationale Spannung doch so groß, daß der kleinste Anstoß die Entladung herbei­ zuführen genügend ist. Unsere Zeit hat etwas von dem Ende einer Epoche. Ein Zeichen dafür ist das Schwinden der elementaren Freude an der historischen Gegebenheit. Das Gefühl der Vergänglichkeit durchschauert wieder einmal die alte Welt. Es ist merkwürdig, ein trauriges Vorrecht schwerfälliger Innerlichkeit, wie in Deutschland alle allgemeinen Fragen zu Religionsfragen werden. In England ist die sozialistische Bewegung nicht minder radikal, doch aber psychisch partikular. Ebenso in den romanischen Ländern. In Deutschland, dem klassischen Lande der Religionskriege ist die ganze Psyche affizirt, daher die Bewegung religiös resp. irreligiös. Dem gegenüber sucht der Staat, der seinem Wesen nach zwischenkirchlich ist, seine Zuflucht in und bei der Kirche. Damit sind die Voraussetzungen des dreißigjährigen Krieges gegeben. Mit der Simultaneität, die aber allerdings nicht christlich indifferent sein darf, so daß sie den Judaismus einschlösse, giebt der Staat das Wesen seines kulturellen Rechtes auf. Die Ausdehnung der friederizianischen Toleranz über die Christlichkeit hinaus bildet eine Marke zwischen dem Staate des großen Königs und dem der großen Revolution. Die scheinbar paradoxe Aufgabe den christlichen Charakter des staatsmännischen Denkens Friedrichs nach­zuweisen wäre einer Bearbeitung und Lösung werth. – Zedlitzs wohlgemeinter aber schlimmer Versuch einer Bewußtseinsregelung wird ja nun voraussichtlich das Schicksal seiner Vorgänger erleiden d. h. in der Commission stecken bleiben. Die Weisheit ist zu billig. Nur der polizeiliche Gesichtspunkt © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

364

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

wird hervorgekehrt. Der Staat aber, der sich darauf beschränkt eine rechtliche und polizeiliche Einheit zu sein, wird, wie ein Schiff, hin und hergeworfen von den Wogen der elementaren historischen Gewalten. Die Dynamik der Sozietät läßt den status – Staat – nur als vorübergehende Erscheinungsweise – Einzelfall – gelten. Die Bewegungstheorie hat die Staatspraxis ergriffen. Wieder ein Fall und ein brennender Fall der großen geschichtlichen Consequenz. Wie hohl sind doch gegenüber solch innerem geschichtlichen Prozesse Comtes2 historische Schemata. Im Grunde Trivialitäten und daneben Irrthümer.  – Doch Stopp! Sonst komme ich von dem Hundertsten zum Tausendsten. Das sei lebendigem Gespräche vorbehalten. Original: Nicht überliefert, Erstdruck: BDY, Nr. 96. 1 Das Rittergut Hoeckricht, Kreis Ohlau / Schlesien, das zum Besitz der Familie Yorck gehörte. 2 Der franz. Philosoph Auguste Comte (1798–1857). – Course de philosophie positive. 6 Bde. Paris 1830–1842.

[826] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Montags [28. März 1892]1 Immer noch, lieber Freund, unsicher wann zu reisen möglich. Furchtbare Correkturen von mir setzen noch die Setzer in Schrecken. … Die Welt hier ist nicht schöner geworden. Es stellt sich immer mehr heraus daß das Zusammentreffen der Kurzsichtigkeit der Conservativen damit daß von dem Kaiser keine nähere Äußerung über seine Auffassung bis zum Kronrath zu erlangen war, den Sturz von Zedlitz herbeiführte. Ihm folgt die entschiedenste Anerkennung seiner reinen Handlungsweise. – Bosse2 kenne ich aus der staatswissenschaftlichen Gesellschaft, er ist wissenschaftlich tüchtig geschult, sehr gescheidt, und so hoffe ich daß die Wahl eine gute sein wird. – Doch was kann das helfen, da ja keine Majorität da ist mit welcher regiert werden kann! Aber wozu schreiben? Ich bin glücklich in der Hoffnung Sie bald zu sehn und zu sprechen. … Treulichst Ihr Dilthey3 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

365

Nun noch Einiges Neue. Bötticher4 geht, Herrfurth5 wahrscheinlich auch. Bosse tritt eher ausschließender conservativ als Zedlitz auf. Zedlitz hat jeden Staatsdienst in der einfachsten edelsten Art abgelehnt. In seiner Abschiedsrede im Cultusministerium hat er in der offensten und doch feinsten Art seinen Schmerz darüber ausgeprochen daß ihm nicht gelungen sei das Vertrauen seiner Majestät zu erwerben. Althof sagt, er habe wie ein Puritaner geredet, Alles als Urtheil Gottes hingenommen, da er selber in der Sache große Fehler begangen habe. Von der Stimmung hier können Sie sich keine Idee machen dh. in den Kreisen die im Staat leben. Niemand glaubt daß auf die Dauer überhaupt mit den vorhandenen Faktoren und Kräften werde regiert werden können. Hätte Zedlitz Ernst gemacht mit dem Gedanken des christlichen Staats, der eine wirkliche Seele hat, anstatt die confessionelle Auftheilung des Staats zu versuchen: vielleicht wäre ihm jetzt schon eine starke Parthei zugefallen: sicher wird sie es thun Jemandem der in ein paar Jahren dies Programm mit geistiger Kraft annimmt. Denn diese Seelenlosigkeit des Staatslebens ist un­ erträglich geworden. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 97. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 Robert Bosse (1832–1901): Jurist und Politiker; 1876 Vortragender Rat im preuß. Kultus­ministerium, 1878 im preuß. Staatsministerium, 1891 Staatssekretär des Reichskanzleramts, März 1892 – September 1899 preuß. Kultusminister. 3 Gruß und Unterschrift wurden aus den Korrekturbögen (Juni–August 1923) von BDY ergänzt. 4 Karl Heinrich von Boetticher (1833–1907): Jurist und preuß. Beamter; 1872 Regierungspräsident in Hannover und Schleswig-Holstein, 1880–1897 Staatssekretär im Reichsamt des Inneren, 1881–1897 Vizekanzler. – Boetticher verblieb in seinem Amt. 5 Ernst Ludwig Herrfurth (1830–1900): Jurist und preuß. Staatsmann; 1873 Tätigkeit im preuß. Innenministerium, 1888 preuß. Innenminister, 1892 Rücktritt vom Amt.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

366

Dilthey an Robert Vischer

[827] Dilthey an Robert Vischer Berlin, 21. 4. 18921 Verehrter Freund, es ist wie Sie vermuthen, ich sitze hier, mache dann nur nach Schlesien noch einen Ausflug. Wie gern wäre ich mit Ihnen zusammengetroffen. Ich schwieg weil ich Tag u. Nacht ein Stück Arbeit fertig machte.

Mit herzlicher Empfehlung auch an Ihre Frau Gemahlin der Ihrige Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; Postkarte; UB Tübingen, Md 788–36. 1 Datierung nach Poststempel.

[828] Hermann Usener an Dilthey Liebster Wilhelm,

Bonn, 17. mai 1892.

… Bei uns geht alles vortrefflich; Lilly ist trotz des hustens, der sie dort gequält von Berlin wunderbar erfrischt wie aus einem luftkurort heimgekehrt. Hermann ist wieder bei uns seit ostern und scheint in der obersekunda, in die er aufgestiegen, ohne schwierigkeit auch hier voranzukommen. Hans, eben vor dem physikum stehend, aber mit dem pflichtmässigen pensum längst fertig[,] ist von früh sieben bis zu sonnenuntergang in vorlesungen, übungen und namentlich im chemischen laboratorium beschäftigt; er gravitiert stark zur physik, worin er bereits die beiden praktischen anfängerkurse durchgemacht hat, nun treibt er mathemat[ische] physik u. degl. Für Deine letzte sendung grossen dank; ich lese an diesem vorgeschmack des 2. teils Deiner einleitung1 mit grösstem behagen, und freue mich zu sehen, wie Du verstehst, die religiösen, politischen und sogar wissenschaftlichen zustände Deinem zwecke, den umschwung der weltanschauung zu fassen, dienbar zu machen. Über einzelnes, besonders einige mir unvermittelte gedanken© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

367

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

gänge möchte ich mit Dir reden2 aber dazu ist heute nicht zeit. Ich soll mich zu einem diner anziehen und freue mich den brief wenigstens noch so absenden zu können. Mit den herzlichsten grüssen von haus zu haus Dein

H. Usener.

Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 17. 1 D.s Abhandlung Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert, deren Fortsetzung in AGPh 5 (1892), S. 337–400 erschien. 2 Im Transkript: „rechten“.

[829] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Mein lieber Freund.

Klein-Oels den 8. Juni [18]92.

Vergegenwärtigen Sie sich einen Menschen der in widerwärtiger prozessualischer Selbstvertheidigung, in resultatlosen landwirthschaftlichen Geschäftsbemühungen Zeit und Aufmerksamkeit darangeben muß, der in einem seiner Grundstimmung konträren milieu gefangen ist  – mein Bild wird vor Ihnen stehen und mein Schweigen werden Sie verstehen. Zur Betrachtung gehört Distanz, mit einer aggressiven Materie kann der Künstler nichts anfangen. Da bleibt kein anderes Verhalten als der Kampf. Heute aber will ich einen Moment Luft schöpfen, indem ich an Sie schreibe. Freilich nicht so wie ich möchte aus dem Ganzen meiner Ansicht heraus und von Innen heraus über Ihre schöne letzte Abhandlung.1 Solche Ruhe kann ich mir nicht gönnen. Nur Einzelnes vermag ich zu berühren. Zunächst aber lassen Sie mich Dank sagen für den Genuß, den die Lektüre mir gewährte und für Ihre beiden freund­lichen Briefe.2 Amüsirt hat mich die Notiz Ihres letzten Briefes, daß ­Helmholtz seine Erkenntnißtheorie in Goethe wiederzufinden meint. Die dem zu Grunde liegende historische Unkenntniß kann eben nur einem großen Naturwissenschaftler nachgesehen werden. Einen Historiker, der im Doktorexamen dergleichen sagte, würde ich durchfallen lassen. Solch ein Naturwissenschaftler kennt aber nur Einzelheiten, die er dann nach ihrer etwaigen, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

368

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

wenn auch nur scheinbaren Tauglichkeit verwendet. Freilich hätte sich Helmholtz schon an eine andere Einzelheit erinnern können, die ihn gewarnt haben würde: an die kritische Paraphrase des Spruchs: Ins Innere der Natur etc. von demselben Goethe.3 Übrigens ists doch ein eigen Ding mit Helmholtz’ Vindikationen: ‚meine Wahrnehmungstheorie‘, ‚meine Erkenntnißtheorie‘, obschon nicht nur Mill sondern schon Brown4 im Wesentlichen die gleiche Theorie aufgestellt haben. Subjektiv ist Helmholtz damit nicht im Unrecht, weil eine geniale Natur das Eigene nicht auf die Provenienz ansieht, wohl aber objektiv. Doch dergleichen ist im Grunde für jeden Menschen, er müßte denn ein moderner Philologe sein, gleichgiltig. An sich werthvoll ist das Wie und nicht das Woher. Das Wie einer großen historischen Epoche bringt, in Fortsetzung, Ihre letzte Arbeit zur Anschauung. Die Lucidität und Transparenz der Darstellung ist nicht genug zu bewundern. Sie haben damit erreicht, daß ein großer Kreis theilnahmsvoll sich genähert hat. Und wer einmal den Versuch unternommen hat eine große historische Bewußtseinsstellung zu analysiren, der vermag die Schwierigkeit und die Kunst ihrer Überwindung zu ermessen. Freilich daß die Analysis nicht noch weiter geführt werden könnte, möchte ich nicht behaupten. Noch mehr lassen sich die Gestalten in Kraft verwandeln und damit das Vergangene vergegenwärtigen. Auch spärliche Rankesche Verbindungen wie: ‚ein neues Moment trat hinzu‘ welche m. E. die Grenze der Analysis bezeichnen und welche Ranke stets anwendet, um bequem über einen Graben zu kommen, würden dann fortfallen. Mit vollem Rechte haben Sie das Willensproblem in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Um Gewißheit und Sicherheit handelte es sich dem bodenlos gewordenen Menschen. Diese Merkmale konstituirten, resp. bestimmten ihm die Wahrheit. Luther gewinnt die Sicherheit in der Transposition des Gemüths, der moralische Rationalismus (Erasmus, Zwingli5 etc.) in der mittelst Abstraktion erreichten Conzentration des Willens. Ich bin nicht Ihrer Ansicht, daß die Rechtfertigungslehre nur so lange existire als ihre dogmatischen Voraussetzungen gelten. Ihre dogmatische Fassung ist überhaupt m. E. gar nicht ihre Voraussetzung, sondern nur ihr theoretischer Reflex. Luthers Grundstellungnahme einer Transzendenz gegenüber aller, auch stoischer Metaphysik ist als Aufgabe weit aktueller als der moralische Rationalismus. Ich kann wohl nachempfinden eine nationale Vorliebe für das Frohgefühl persönlicher Selbstherrlichkeit, wie es Zwinglis Lebensodem ist. Aber anders steht es m. E. bei historischer Werthung – und Werthung für die Historie. Sie vindiziren jenem Standpunkte bei Ihrer Besprechung Francks6 die Bedeutung eines Organs für Geschichtsauffassung. Ich kann auch den Begriff der Geschichte nicht finden bei einem ethischen Nominalismus, dem alles Geschehen nur ein Paradigma. Dem gegenüber finde ich immerhin noch mehr Geschichtssinn in dem nicht gebrochenen Katholizis© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

369

mus, dem die Geschichte eine Erziehungsanstalt ist. Ich kann fernerhin mich davon nicht überzeugen, daß sowohl in dem Luthertum als auch in dem moralischen Rationalismus organisatorische Potenz gewesen sei. Eine luthersche Kirche giebts überhaupt nicht, sondern nur eine lutherische Lehre – Bekenntnißgemeinschaft. Die reformirte Kirche aber ist auch keine eigenthümliche Organisation, sondern ein sitten-polizeiliches Institut.  – Die Bewegung des 15. und 16. Jahrhunderts, wie sie sich in Deutschland und den unmittelbaren Nachbarländern besondert und vertieft, erscheint mir als eine originale Erneuerung des großen Gegensatzes: Augustinus – Pelagius.7 Pelagius ist ein britischer Mönch gewesen. Er ist die erste Zwingli-Natur in der Kirchengeschichte, getragen von einem fröhlich aktiven Selbstherrlichkeitsgefühl, welches wir nicht mit Stoizismus konfundiren müssen. Luther ist augustinisch – aber eines fehlt: die Garantie der Gnade, der Gnadenverband der Kirche. Wie Descartes als Garanten Gott braucht, wie Hamilton8 ebenso wie sein Gegner Mill als True­ holder ihn nöthig haben, so war Augustin die Kirche nöthig als Gnadengarantie. Das fällt bei Luther fort, der darum ein ganz freies Verhältniß zu Gott hat, statt aller Garantie nur persönliches Vertrauen. Das liberum arbitrium9 ist ihm allein auf Seiten Gottes. Darum ist er allein der religiose, alle Anderen sind säkular. Darum ist er allein der Empiriker, alle Anderen in der Wurzel metaphysisch. M. E. muß er als historische Kraft, als geschichtliches Motiv, nicht als Lehrgestalt betrachtet werden und zwar gar nicht als Lehrgestalt. – Aufgefallen ist mir, daß ich den Namen Calvins10 gar nicht gefunden habe. – Ein Anderes: Ich würde für wünschenswerth halten, wenn man den Versuch machte von all den Kategorien: Pantheismus, Monotheismus, Theismus, Panentheismus abzusehen. Sie haben an sich gar keinen religiösen Werth, sind nur formell und von quantitativer Bestimmung. Weltauffassung, nicht Gottesauffassung reflektiren sie und bilden nur den Umriß einer intellektuellen Verhaltung, auch hierfür nur eine formale Projektion. Auf das Thematische dieser Formbezeichnungen aber kommt es für das religiöse Moment wie für die geschichtliche Erkenntniß an. Mit dem ‚Einen‘ ‚Alleinen‘ usw. ist über den Werth nichts gesagt. – Ich habe den Eindruck gewonnen, wie wenn der Traktus11 der Gedanken des Verfassers, in so weit jene Arbeit ihnen Ausdruck gewährt, zu Lessing, Kant, Schleiermacher als zu historischen Erfüllungen, als zu fortdauernden Gültigkeiten, als zu auch der Gegenwart im Wesentlichen genügenden Lösungen führte. Ist der Eindruck richtig, dann würde dem Verfasser von Ihnen doch wohl widersprochen werden. Differenzen der Ansicht manifestiren sich ja zwischen uns bei Schätzung der Genannten. Sie werden dem nicht beistimmen, wenn ich sage, daß Luther der Gegenwart präsenter sein solle und müsse als Kant, wenn sie eine historische Zukunft in sich tragen wolle. Daß die Geisteswissenschaften den Kampf gegen die Naturwissenschaft © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

370

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

nicht erst unternehmen sollen, wenn nur Waffen der Vergangenheit vorhanden sind, die höchstens reparirt und neu geschärft werden müßten, das ist ja auch Ihre Ansicht und im Grunde Motiv Ihrer Lebensarbeit. Dann würde, immer wenn mein Eindruck richtig ist, die Neigung für deutsche Selbstherrlichkeitsempfindung Sie zu Werthsbestimmungen hinausgeführt haben, die der Systematiker beschränken würde. Wahrscheinlich aber trägt die Schuld an der Unsicherheit über des Verfassers Intention die bruchstücksweise Veröffentlichung einer großen historisch-philosophischen Conzeption. Sie wissen, daß ich dahin gehende Bedenken schon früher ausgesprochen habe. Doch genug der, wie ich selbst am besten empfinde, unzureichenden Bemerkungen. Ich wünschte, daß ich mich so recht vom Grunde her analytisch aussprechen könnte. Aber dazu fehlt Zeit und Stimmung. Möge beides mir wieder werden, ehe es zu spät. … [Briefschluss fehlt.] Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 98. 1 D.s Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert. 2 Nicht überliefert. 3 Goethe: Allerdings. Dem Physiker, in: J. W. Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. I. Hg. von E. Trunz, 10 Aufl. München 1974, S. 359: „ – O du Philister! – “ (Zitat aus dem Lehrgedicht des schweiz. Mediziners, Universalgelehrten und Dichters Albrecht von Haller (1708–1777): Die Falschheit menschlicher Tugenden (1730), Vers 289 f.) 4 Thomas Brown (1778–1820): schottischer Philosoph; 1810 o. Prof. für Moralphilo­ sophie in Edinburgh; Brown bildete die Assoziationspsychologie aus. 5 Erasmus von Rotterdam (um 1466/69–1536): niederländ. Theologe, Philosoph und Philologe des Humanismus. – Huldrych Zwingli (1484–1531): schweiz. Reformator. 6 Sebastian Franck (1499–1543): ev. Theologe und Publizist. – Vgl. D.: Das natürliche System der Geisteswissenschaften im siebzehnten Jahrhundert. Zweiter Artikel, in: GS II, S. 108 f. 7 Pelagius (ca. 350–420) war ein Vertreter der asketischen Lebensführung und ein Gegner von Augustinus’ Theologie der göttlichen Gnade; auf der Synode von Karthago im Jahre 418 wurde Pelagius seiner Schriften wegen als Häretiker verurteilt. 8 William Hamilton (1788–1856): schottischer Philosoph. 9 Freie Entscheidung. 10 Johannes Calvin, eigentl. Jean Calvin (1509–1564): Reformator. 11 Tractus (lat.): Zug, Lauf.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

371

[830] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [Juni 1892]1 Jeden Tag, mein lieber Freund, wollte ich auf Ihren mir höchst interessanten Brief erwiedern, um so mehr als aus ihm ein Ton von Müdigkeit und Verstimmung über die augenblicklichen Störungen, die aus Ihrer Existenz fließen, klingt. Wir arbeiten alle in gewissem Sinne pro nihilo. Die Lebenshinderungen umlagern in diesen Zeiten doppelt Jeden. Aber es giebt dann Monate in denen solcher Druck vervielfacht erscheint. Dann thut wohl, wenigstens zu wissen, daß Freunde mitempfinden, und daran erinnert zu werden, wie viel tiefer doch andere Leiden ins Fleisch schneiden. Wie dem aber auch sei: ich hoffe lebhaft, die Schwierigkeiten möchten bald gehoben sein, und die Thurmstube möge durch keinen Proceß mehr beunruhigt und durch befriedigende Pachtverträge erfreut werden. Die historische Werthung der verschiedenen Erscheinungen des 16.  Jahrhunderts war mir ja nicht das Wesentliche, sondern die Aufdeckung der thatsächlichen Ausdehnung des religiösen Universalismus im 16.  Jahrhundert. Die ganze Tragweite dieses Zusammenhangs würde mehr hervorgetreten sein, hätte ich nicht die englische Entwicklung mit Shakespeare zurückhalten müssen. Im Buch wird sich die Sache doch noch ganz anders machen. Ebenso werden schon die nächsten Stücke Ihnen den Zusammenhang dieser Seite der Bewegung mit den großen Aktionen des weiteren 16.  und 17.  Jahrhunderts zeigen. Das aber bleibt ja letzte Differenz: Die Positivität des Christenthums, dann der lutherischen Glaubensform ist mir für sich kein letztes Datum; auch die ‚Transposition des Gemüths‘ hat mir die Begründung ihres Rechtes nicht in dem bloßen religiösen Erlebniß der einzelnen Person; dessen Zeugnißkraft reicht nicht über dies Individuum hinaus; dasselbe kann sich geltend machen; aber gerade darin liegt die Schwierigkeit einer solchen Kraftprobe, weil die Mitmenschen, für welche man doch einmal schreiben muß, dem religiösen Erlebniß wenig Neigung und Anerkennung entgegenbringen. Daß ich dem religiösen Moment eine solche Bedeutung, einen solchen Zusammenhang mit allen geistigen Gewalten des 16. Jahrhunderts zu erweisen strebe, ist ja schon das Äußerste was diese Zeit verträgt. So werden Sie ja auch zur Analysis dieses Erlebnisses, wie jedes Erlebnisses fortgetrieben. Damit auf die hohe See der Menschheit. Was einmal hat geschehen und erlebt werden können, und war es auch in Christus, das ist in der Menschennatur gegründet, sonach im religiös Universellen. Die ‚Transscendenz gegenüber aller Metaphysik‘ ist eben das Helden© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

372

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

hafte und Religiöse in der Menschennatur, das sich selber wegwerfen kann. Wir können es nicht begreifen. Aber wir dürfen es auch nicht isoliren. Die bequemen Rankesken Übergänge, die Begränzung der Analyse, das Zurücktretenlassen des eignen doch erst aus der Kritik des 19. Jahrhunderts resultirenden Standpunktes: Das sind schriftstellerische Kunstgriffe, die Sie dem alten Praktikus nachsehn müsen, der wirken möchte und an Wirkungen auf die philosophischen Kollegen nicht denkt. Übrigens bin ich wieder in der Unterwelt. Schelten Sie! Aber ich habe versprochen daß zum Juliheft ein Stück wieder gegeben sein soll!2 Es geht mir wie dem Kollegen Ihering etc.: nur wenn ich muß werde ich fertig! Ich wate in einer See von Folianten: Socinianer,3 Leveller,4 Deisten, Naturrechtslehrer, wälze Cicero und Seneca, Telesio5 und Bruno.6 … [Briefschluss fehlt.] Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 99. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 Der erste Teil von D.s Abhandlung Das natürliche System der Geisteswissenschaften im siebzehnten Jahrhundert. Erster Artikel erschien in: AGPh 5 (1892), S. 480–502; WA ohne den ersten einleitenden Abschnitt in: GS II, S. 89–108. 3 Nachreformatorische Religionsgemeinschaft, die sich seit dem 16. Jh. in Polen unter dem Einfluss der ital. Humanisten Lelio Sozzini (1525–1562) und Fausto Sozzini (1539– 1604) gebildet hat. Sie lehnten die Trinitätslehre ab (Antitrinitarier). 4 Politische Strömung in England um die Mitte des 17. Jhs., die sich für die Religionsfreiheit, die Abschaffung der Ständegesellschaft und die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz einsetzte. 5 Bernardino Telesio (1508/09–1588): ital. Philosoph und Naturforscher. 6 Giordano Bruno (1548–1600): ital. Philosoph und Astronom.

[831] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Mein lieber Freund.

Klein-Oels den 18. Juli [18]92.

Der helle und fröhliche Reiseruf Ihrer verehrten Frau erklang soeben. Der gefesselte Prometheus beneidete offenbar den Adler des Zeus um seine Schwingen. Er war nicht fester gebunden als gegenwärtig ich an meine Scholle. Ich wünsche neidlos Glück, mich resignirend. Ich muß zunächst noch weiter Kärrnerdienste thun, um hoffentlich mir Freiheit und die Mittel zu ihrer Be­ © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

373

thätigung zu schaffen. Wer es nicht an sich selbst erfahren, kann die finanzielle Schwierigkeit des letzten Wirthschaftsjahres nicht ermessen. Mir hat es durch seine Ertragslosigkeit den Ertrag der Erkenntniß gebracht, daß das allgemeine wirthschaftliche Leben unserer Zeit frühere Nutzungsformen untersagt, insbesondere einem gebundenen Eigenthümer. Ich bin daher an die recht große Arbeit gegangen die Nutzungsformen wenigstens partiell zu vertauschen. … Bis ich dies Alles hinter mich gebracht habe, bin ich unfrei. Ich fühle mich geradezu als ein Anderer. Wie viele Tage vergehen ohne daß ich ein Buch aufschlage! Meine Gedanken, das stille ernste Wort, welches von Innen her und darum allgemein der Gegenwart gesagt werden muß, aus einer Region, welche hinter dem Kräfte- und Verhältnißspiele naturwissenschaftlicher Wissenschaftlichkeit liegt, ertönend, dies Wort welches kritisch ist, weil es die Realität ausdrückt, beinahe verklingt es meinem inneren Ohre. Der brutalste Ersatz der Vernünftigkeit: Der Kampf ums Dasein macht sich als ‚schlechte Wirklichkeit‘ bemerkbar. Ist er durchgeführt, die Aufgabe ausgeführt, dann hoffe ich den Weg zurückfinden zu können in meine geistige Heimath. Ob die Jahre dann noch ein Parergon,1 wie eine Reise nach England und Schottland gestatten werden, ist mir fraglich. Meine Reisewünsche stehen in einem inneren Zusammenhange mit meinen Arbeitsplänen. Schottland hat keinen gegenwärtigen Geschichtswerth trotz Carlyle. England mit seiner starren Legalität und doppelten moralischen Buchführung ist kein uns verborgener geschichtlicher Faktor. Die griechischen, italienischen, niederländischen Schätze, die es birgt, freilich die möchte ich gern einmal sehen und erfahren. Die stillen, tiefgründigen Wandelungen des geschichtlichen Bewußtseins, sie gehen doch stets von dem Continente aus. England setzt sie dann ins Werk und das Werk der Hände fällt dann den Ansatz verdeckend ins Auge. Dürfte ich mich jung verhalten, ich wäre jetzt in Katania, um die Kräfte am Werk zu sehen, die leidenschaftliche Schönheit zerstörend erzeugen. Als Bewußtseinsmächte wirken dort die Naturgewalten und umgekehrt. England, Amerika das ist ganz fertig, accomplished; das zeigt wieder Gladstones Triumph.2 – Und wie steht es nun bei uns? Wahrheit ist doch die größeste Macht. Die Wahrheit aber ist bei Bismarck. Ich meine, daß man die Veranlassung ihrer Geltendmachung außer Acht lassen kann. Wäre diese an sich schmerzliche Veranlassung nicht eingetreten, eine andere hätte im Laufe der Dinge sich ergeben. Das Tragische ist der Conflikt der Gefühle oder vielmehr, daß das beste Gefühl in Spannung tritt gegen einen bisher festen und festzuhaltenden politischen Grundsatz. Die Revolutionen sind nicht die gefährlichsten, bei welchen geschossen wird, die Krankheiten, welche das Messer erreichen kann, nicht die bedenklichen, sondern die schleichenden, verborgenen, weil allgemeinen Affektionen des lebendigen Systems. Bismarck erfährt, daß er einen institutionellen Fehler gemacht © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

374

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

hat, indem er die Stellung des Kanzlers nur dem Kaiser und nicht auch den deutschen Bundesfürsten gegenüber bestimmt und dadurch gesichert hat. Der atomistische Gedanke des Mandats fand auf dies Verhältniß Anwendung. Es wäre zu wünschen gewesen, daß vom Königthume her jene imperialistische Konstruktion eine Modifikation erfahren hätte  – und erführe. Luther hat einen ähnlichen Fehler gemacht in seiner Kirchenpolitik. Bismarcks Rolle ist nicht ausgespielt. Aber nicht mehr konstruktiv wird er wirken können, sondern kritisch und von Innen heraus für die Zukunft. Rom, Polen, Freisinn ist gegenwärtig zu stark für einen entwaffneten Helden. Deutschlands geographische und historische Mittellage ist verhängnißvoll. 1870/71 ist keine feste Größe, möge sie dazu werden. Das Alles eignet sich aber besser für ein Gespräch. Helmholtzens Vortrag3 finde ich, wie ich meiner verehrten Freundin4 bemerke, durchaus nicht unklar, aber als Lobrede auf Goethe unwahr. Daß ­Goethe keine purifizirten Farben gesehen, erklärt und ‚entschuldigt‘ nicht seine Farbentheorie. Es giebt keine Überbrückung des Gegensatzes Goethe – Helmholtz. Solch Versuch krankt an objektiver Unwahrheit. Helmholtzens Geschichtsunkenntniß ermöglicht ihm die volle Gutgläubigkeit. Doch genug für heute. Gutes und Bestes und einen vollen Reisegenuß ­wünschend Ihr treuer Freund Yorck. Janitschek,5 der Nachfolger Springers6 hat sich über Dante und Giotto ver­ nehmen lassen – dünn! Da habe ich doch etwas tiefer hineingesehen. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 100. 1 Beiwerk. 2 William Ewart Gladstone (1809–1898): brit. liberaler Politiker, viermaliger Premierminister. Nach dem Sturz seiner Regierung 1886 wurde Gladstone 1892 noch einmal für kurze Zeit, bis 1894, Premierminister. 3 H. von Helmholtz: Goethe’s Vorahnungen kommender naturwissenschaftlicher Ideen. Rede, gehalten bei der Generalversammlung der Goethe-Gesellschaft zu Weimar, den 11.  Juni 1892, in: DRS 72 (Juli 1892), S.  115–132 (auch separat erschienen: Berlin 1892); WA in: Ders.: Vorträge und Reden. Bd. 2. Braunschweig 1902, S. 337–361. 4 Katharina Dilthey. 5 Hubert Janitschek (1846–1893): Kunsthistoriker; 1879 a. o. Prof. in Prag, 1881 o. Prof. in Straßburg, 1891 in Leipzig. – Die Kunstlehre Dante’s und Giotto’s Kunst. Antrittsvorlesung, gehalten in der Aula der Universität in Leipzig am 4. Mai 1892. Leipzig 1892. 6 Der Kunsthistoriker Anton Springer (1825–1891), seit 1873 o. Prof. in Leipzig. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

375

Alfred Heubaum an Dilthey

[832] Alfred Heubaum1 an Dilthey Hochgeehrter Herr Professor!

München, 23. Juli [18]92.

Jetzt erst, nachdem ich die sich hier ergebenden Resultate meines Unternehmens übersehen kann, mache ich von Ihrer gütigen Erlaubnis Gebrauch, Sie mit meinen Angelegenheiten belästigen zu dürfen. Während ich anfangs mit großen Erwartungen an die hier befindlichen Handschriften ging, ergab sich doch bald, daß aus diesen wenig zu holen wäre, das Meiste vielmehr, allerdings vielfach zerstreut, gedruckt ist. Namentlich gilt dies von den Pirkheimer2 speziell angehenden Sachen. Aber immerhin habe ich doch auch hier wenigstens einige noch nicht veröffentlichte Briefe gefunden, welche ein interessantes Licht auf die Bewegung werfen. Von einem ungeheuren Reichtum freilich ist die Bibliothek mit Bezug auf gedruckte Schriften aus dieser Periode. Von den unbedeutendsten ­Predigern und obscursten Theologen eine ganze Zahl von Druckwerken, auch eine große Flugschriftenliteratur; ja diese ist so groß, daß ich darauf verzichten muß, sie hier an Ort und Stelle ganz durcharbeiten zu können. Ich werde mir doch noch eine ganze Reihe nach Berlin kommen lassen müssen. Da ich aber die wenige Zeit hier nach Möglichkeit für diese Zwecke ausnutzen will, so ist aus Kunstgenüssen und sonstigen Abwechselungen der Art bisher nur wenig geworden. Der einzige Ort, wo ich mich gewöhnlich in meiner freien Zeit aufzuhalten pflege, ist die Pinakothek; alles Übrige, auch die internationale Kunstausstellung habe ich trotz meines bereits 14tägigen Aufenthalts gänzlich unberücksichtigt gelassen. Den Starnberger See habe ich aber schon an dem letzten Sonntage aufgesucht und mich an dem herrlichen Grün seines Wassers und seinen reizenden Ufern erfreut; auch das Gebirge konnte man deutlich erkennen; aber der Genuß wurde dadurch gestört, daß ich am Nachmittag von einem scheußlichen Unwetter überrascht wurde. Überhaupt hat es hier in den letzten Tagen recht wenig schönes Wetter gegeben; fast immer ein trübseliger, grauer Himmel und beständig rieselnder Regen. Das liebe ich selbst dann nicht, wenn ich an die Arbeit gebunden bin; hier umsoweniger, als dadurch die mich umgebende Natur – ich habe nämlich ein niedlich gelegenes Zimmer nach dem Englischen Garten hinaus  – ein ganz melancholisches Aussehen erhält. Heute ist glücklicherweise wieder der erste schöne Tag seit langer Zeit. So weit es ging, hatte ich hier auch noch einige Dozenten in ihren Vorlesungen kennen lernen wollen, bin aber mit Ausnahme einiger katholischer © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

376

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

Theologen, welche mir durch die fürchterlichste Langeweiligkeit das Wiederkommen verleideten, nur erst noch zu Professor Stumpf gekommen, welcher in seinem logischen Kolleg die Günde gegen die atomistische Weltanschauung und in seinem ästhetischen die Bedeutung des goldenen Schnitts für die bildende Kunst erörterte. Der Philosophie scheint hier keine fruchtbare Stätte bereitet zu sein. – Die Zahl seiner Zuhörer betrug in beiden Vorlesungen nur etwa 20. [Briefschluss fehlt.] Original: Hs.; Brief-Fragment; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 k, Nr. 11. 1 Alfred Heubaum (1863–1910): Philosoph und Pädagoge; Dr. phil., Prof., Hilfsarbeiter im Kultusministerium, Schuldirektor, Begründer der Historisch-pädagogischen Literaturberichte. – Die Handschrift dieses Brief-Fragments lässt eindeutig erkennen, dass es sich bei dem Briefschreiber um D.s Schüler A. Heubaum handelt. 2 Willibald Pirckheimer (1470–1530): Übersetzer, Künstler, Jurist und Publizist; Freund Dürers und Humanist.

[833] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Mein lieber Freund.

Klein-Oels den 5. 8. [18]92.

Gestern aus Hannsens Rundschau lernte ich Ihre aesthetische Abhandlung1 kennen. Das ist doch Ihre eigenthümliche Domaine. Fein und schmiegsam in Wort und Gedanken und aus einem ganz eigenen Näheverhältniß von Empfindung und Vorstellung heraus und daher von der feinsten Begrifflichkeit. Und wie viel noch steht zwischen den Zeilen! Wie viel Exzitamente2 zu weiterem Denken! Die historische Artikulation ist vortrefflich und die drei Epochen gut herausgehoben. Groß und umfassend weil von Innen her gesehen. Einzelnes Vortreffliche wie z. B. das über das Porträt Gesagte zu erwähnen ist leider keine Zeit. Fast jede Seite bringt derartige innerliche Rektifika­ tionen.3 Gefällig und würdig ist übrigens die äußere Nachbarschaft der Staufferschen Briefe,4 Äußerungen einer substanzialen selbstwerthigen künstlerischen Natur. Ich nahm mir vor alsbald das Heft der Rundschau mir zu kaufen. Da kam heute Ihre freundliche, besonders dankbar begrüßte Sendung des Separatdrucks, begleitet von dem Sonderabdruck aus dem Archiv.5 Dem soll die nächste ruhige Stunde gewidmet sein. Heute für Beides herzlichen Dank. Haben Sie Sohm: Kirchenrecht6 angesehen? Bedeutend. Aus einem © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

377

inneren Totalverhältnisse zu der Sache heraus. Eine fundamentale Richtigstellung der bisherigen säkularen Ansichten über das ursprüngliche Verfassungsleben der Christen. Meine eigene nothgedrungene Säkularität hat mich noch in den Anfängen des schönen Buchs festgehalten. Auch hier ein Kopf, der sich über den Sinnesmechanismus und seine Anschauungsweise erhebt. Es kommt, wenn auch schüchtern, eben eine neue Zeit. Und in diesen Zusammenhang gehört Bismarcks Jenaer Rede,7 die in der That etwas Lutherisches hat. Und da glauben die Weltklugen klug zu urtheilen, wenn sie Bismarck als rede­seligen greisen Reiseprediger bezeichnen! Wo der Mann Wind in seine Segel sammelt für eine parlamentarisch populare Erhebung! Möge der Enthusiasmus sich organisatorisch bilden, damit er Kraft äußere. Dem alten Manne gehört die Zukunft. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 101. 1 Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe, in: DRS 72 (Juli–September 1892), S.  200–236; WA in: GS VI, S.  242–287.  – Hg. der DRS war J. Rodenberg. 2 Anregungen. 3 Berichtigungen. 4 In Band 72 der DRS folgt nach D.s Aufsatz ein Beitrag mit dem Titel: Römische Briefe von Karl Stauffer-Bern. Hg. von Otto Brahm.  – Karl Stauffer-Bern (1857–1891): schweiz. Maler und Radierer. 5 Der Erste Artikel von D.s Das natürliche System der Geisteswissenschaften im siebzehnten Jahrhundert. 6 Rudolf Sohm (1841–1917): Rechtshistoriker und Kirchenrechtler; 1870 a. o. Prof. für Kirchenrecht und Deutsches Recht in Göttingen, anschließend o. Prof. in Freiburg, 1872 in Straßburg, 1887 in Leipzig. – Kirchenrecht. Bd I: Die geschichtlichen Grundlagen. Leipzig 1892. 7 Bismarcks berühmte Ansprache am 31. Juli 1892 auf dem Marktplatz von Jena.

[834] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Mein lieber Freund,

[Anfang November 1892]1

Ich muß nur ein Lebenszeichen von mir geben, obwol ich meine Schuld nicht zahlen kann: der in der Hälfte abgebrochne Brief aus Moritz oder Rigi wird wol Bruchstück bleiben. Ich arbeitete in der zweiten Hälfte der Reise © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

378

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

piano fort, schlief aber immer schlechter, kam recht leidend hier an, und fahre fort mich sehr schlecht zu befinden. Der Wind in der hohen feinen Luft von Moritz hat uns Allen nicht gut gethan. Hier bin ich nun von Arbeit aller Art überfallen worden. Und so starrt mich das Bruchstück der Abhandlung desperat an. Neben der Vorlesung arbeite ich am Historischen sachte weiter. Lese eben Melanchthon.2 Dieser sittlich zartsinnige Mensch, der nach Art der griechischen Lehrer römischer Zeit an der Sittigung der Menschheit arbeiten wollte, der aber den massiven religiösen Leidenschaften des Zeitalters nur in der Stimmung, nicht in produktivem Denken überlegen war, und so melancholisch von Freund und Feind aufgezehrt wurde, ist eine rührende Erscheinung. Eine Kraft war er nur für die Bildung und den höheren Unterricht. Seine dogmatischen Begriffe in den loci3 sind alle elastisch. Das natürliche Licht und die Offenbarung sollen in den loci in ein Gleichgewicht kommen, eine äußer­ liche und todte Operation, die Erbsündenlehre, wenn sie sich zusammenzieht, giebt dem natürlichen Licht und der mit ihm verbundenen Freiheit das stärkere Gewicht: dann schnellt die Offenbarung in die Luft. Wird dann die Erbsünde stärker und massiver gemacht, so geht Freiheit, Sittengesetz, natürliches Licht in die Lüfte. Was für eine Satyre könnte man auf die großen Dogmatiker des 16. Jahrhunderts, Zwingli de vera et falsa religione,4 Melanchthon loci und Calvin institutiones5 schreiben! Wie irrt man sich ehe man diese sonderbare und fruchtbare Zeit kennt und die Reformation aus der inneren Erfahrung, etwa zusammen mit der Schrift ableitet. Die ganze Luft ist damals voll von Panpsychismus, Dämonen, Gespenstern, historischen Fabeln. Unter diesem Druck haben diese großen Menschen arbeiten müssen. Die Ansicht ist hier allgemein daß die Steuergesetzgebung und auch die Militärvorlage im Ganzen durchgehen werden. Über das protestantische Concil das hier tagt herrscht Schweigen. Barkhausen6 gilt als so ausnehmend schlau daß ihm zugetraut wird, er werde den Theaterbrand leicht löschen. Harnack ist mir hier wie überall nur unvollkommen verständlich. Es sind zwei Menschen in ihm, ein nach Ritschls Regel Glaubender und Kirchenregulirender und ein Kritiker. Im Grunde hat diesmal der erste sich ausgesprochen. Denn diese Vereinfachung des Apostolicum7 wäre zugleich eine Verschärfung der rechtlich zwingenden Autorität desselben. Er selbst wird von den unzähligen anonymen Briefen und dem gänzlichen Mißverständniß dessen, was er als Ritschlianer doch eigentlich will, sehr schmerzlich berührt. Mit lebhaftem Antheil verfolgen wir die furchtbare Erkrankung Ihres auch von uns so sehr verehrten Schwagers.8 Wir hören weniger als wir möchten, da wir Wildenbruchs mehrmals nicht getroffen haben. Dazu zürnt Wildenbruch seinen Freunden, eigentlich allen zusammen, weil Niemand seiner bei © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

379

der scharfen und ganz ungerechten Kritik des Meister Balzer9 in der Presse sich annimmt. Zumal die eben so widrige als colossal gelesene Zukunft,10 ein rechtes Zeitprodukt mit der Schriftstellerei al Fresco, hat sich’s zur Aufgabe gemacht, das Stück zu zersetzen. Indeß ist jede Antikritik eine Unmöglichkeit, wenn man nicht ein gelesenes Blatt ganz zur Verfügung hat, in welchem man jederzeit Schlag mit Gegenschlag erwiedern kann. Denn sonst wäre man ja den Insulten11 später hoffnungslos ausgesetzt, da man doch nicht immer Berichtigungen veröffentlichen kann, sondern in einem regulären Krieg müssen die Waffen gleich sein, und man muß Seitenhiebe mit Seitenhieben erwiedern können. Was ich also thun kann, wird nur sein, wenn die Theaterlage dann noch so ist wie jetzt, bei der nächsten Schillerprämiirung meinen Einfluß geltend machen. Daß der Schluß so ungenügend sei habe ich Wildenbruch gleich als ich von Ihnen zurückkehrte mit Vorschlägen zur Besserung auseinandersetzt. Dieser Schluß ist es,12 den auch die ihm Wohlwollenden durchweg tadeln. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 102. 1 In BDY: „[Herbst 1892.]“. 2 Philipp Melanchton, eigentl. Philipp Schwartzerdt (1497–1560): Reformator. 3 Ph. Melanchthon: Loci communes rerum theologicarum. Basel 1521. 4 H. Zwingli: Commentarius de vera et falsa religione. Zürich 1525. 5 Johannes Calvin, eigentl. Jean Calvin (1509–1564): Reformator. – Institutio christianae religionis. Basel 1536. 6 Friedrich Wilhelm Barkhausen (1831–1903): Jurist und Politiker; 1881 Direktor der Geistlichen Abtlg. im Kultusministerium, 1890 Kultusstaatssekretär im Ministerium der geistlichen Angelegenheiten, 1891 Präsident des Altdeutschen Ev. Oberkirchenrats. 1893 Präsident der Preuß. Hauptbibelgesellschaft; Mitglied des preuß. Herrenhauses. 7 Apostolisches Glaubensbekenntnis. 8 Yorcks Schwager Ernst von Wildenbruch. 9 E. v. Wildenbruch: Meister Balzer. Drama. Berlin 1892. – Die Uraufführung des Sozialdramas fand am 2. November 1892 im königl. Schauspielhaus in Berlin statt. Das Stück fiel durch. 10 Im Jahre 1892 von dem Schauspieler, Publizisten und Theaterkritiker Maximilian Harden (1861–1927) gegründete Wochenzeitschrift, die bis 1922 erschien. 11 Schwere Beleidigungen. 12 Das Komma wurde aus den Korrekturbögen (Juni–August 1923) von BDY ergänzt.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

380

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

[835] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

Lieber Freund.

Klein-Oels den 15. Dezemb[er] [18]92.

Ich wähle eine stille Abendstunde um Ihnen von meiner Freude über ihren zweiten Artikel: Natürliches System der Geisteswissenschaften im 17.  Jahrhundert1 zu sprechen. Die weit und tief angelegte Arbeit führt den Leser mit sich fort wie ein Strom den Schiffer, der die mannigfaltigen Arme des einen Stroms in der Bewegung, die, einheitlich, ihn fortführt, übersieht. Nicht ein chartographisches Neben- und Aneinander wird gegeben sondern der historische Athem weht einem entgegen: die heroische Art des moralischen Rationalismus ist empfunden und wird demzufolge nachempfunden. Die Breite des begründenden Studiums giebt eine Menge des Neuen auch dem, der eine der Ihren gleiche Ansicht von jener Zeitphysiognomie sich gebildet hatte. Und die Neigung und definitive Werthung jener bedeutenden Bewußtseinsstellung wie sie hier und da prononzirt zum Ausdrucke gelangt gereicht der Darstellung zum Gewinne. Zwar finden sich Hinweise auf die historische Insuffizienz jener ‚Glaubensstellung‘, aber die Freude an der aufrechten Heldenhaftigkeit überwiegt. Diese im Allgemeinen bis zu einem Endurtheile sich steigernde Werthschätzung bildet das persönliche Element in der auf genaues Studium der geschichtlichen Gegebenheit gegründeten Arbeit. Ohne jene nicht die Verlebendigung, ohne sie aber auch nicht die Möglichkeit der Differenz. Eine Darstellung der Verschiedenheit würde der umfangreichen Arbeit Schrittweise folgen müssen, selbst eine erhebliche Arbeit sein. Ist nun auch zuzugeben, daß einer Arbeit wie die Ihrige nicht anders nahe getreten werden dürfe als mittelst zusammenhängender arbeitsvoller Untersuchung, so darf von dieser Regel ein kurzer Brief eines konversirenden Freundes sich dispensiren. Denn hier handelt es sich nur um Eindrücke und nicht um Kritik. So wähle ich auch nur einzelne Punkte heraus, welche als Merkzeichen einer verschiedenen Gesammtwerthung betrachtet sein wollen. Nach Ihrer in Früherem wie Gegenwärtigem dokumentirten Auffassung neigt die eine Seite Luthers mehr dem Mittelalter zu als Zwingli und der Rationalismus. Ich meine, daß das Verhältniß ein umgekehrtes ist. Viel stärker als bei Luther ist der Nominalismus bei den Rationalisten ausgeprägt. Demgemäß ist die Denkweise des Rationalismus eine der katholischen verwandtere und bleibt so.2 Denn der Neokatholizismus des Tridentinums3 ist radikal auf den νόμος4 gegründet wie die Weltanschauung des Rationalismus.5 Die Tiefe des souveränen Gemüths bildet eine größere Differenz als die Independenz © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

381

des Willens. Nicht eigentlich religiös sondern national gegündet ist der Widerspruch der Rationalisten. Es ist das germanische Eigengefühl, nicht das Gottesgefühl, welches gegen fremde Willensorganisation im Rationalismus – bei den Reformirten – aufbäumt.6 Diese Gesetzesstellung – ob Eigengesetz oder Gesetz eines Anderen – vermag nun auch das Dogma nicht anders zu beeinflussen als daß Satzungen aufrecht erhalten oder verworfen werden. Daher ist gegen die Motive des Dogmas, die eigentliche intellektuelle7 Seele desselben der Rationalismus blind. Nicht eine Auflösung der Kirchenlehre findet durch Socinianer und Arminianer statt, weil keine Analysis, sondern eine mehr oder weniger weitgehende Streichung. Die Grenze des Abstrichs ergiebt sich aus der Art der ‚Glaubensstellung‘ der Polemiker – und sehr interessant ist eine erkenntnißtheoretische Untersuchung hierüber. Sie würde klarstellen, warum bezüglich der Theo­ logie am vereinfachten Theismus, bezüglich der Anthropologie an der individuellen Unsterblichkeit festgehalten wird,8 warum die Soteriologie9 entleert wird. Autonomie und Heteronomie haben eine quantitativ ganz verschiedene Glaubenslehre aber beiden ist der Lehrinhalt Satzung, Dogmen sind fertige Größen. Die intellektuelle Verwandschaft der inneren Form dokumentirt sich in der gleichen Lehre von der natürlichen Vollkommenheit, für welche Gnade Zuthat – etwas innerlich Zufälliges – ist. Die Zuthat wird verschieden, ja gegensätzlich bestimmt, aber die Denkrichtung ist die nämliche. Aus dem stoischen Nominalismus, der abstrakten Willensstellung, der Isolation des Wollens als des Erkenntnißorgans ergiebt sich die Unfähigkeit religiösen Zusammenhang zu verstehen. Auch die neukatholische Kirche ist stoisch-nominalistisch bestimmt. Auch sie erklärt nicht, sondern nimmt lediglich gegebenen Zusammenhang auf, verhält sich satzungsmäßig positiv, wie der Rationalismus satzungsmäßig negativ. Die Dogmatik war der Versuch einer Ontologie des höheren, des historischen Lebens. Die christliche Dogmatik mußte dieser widerspruchsvolle Niederschlag eines intellektuellen Lebenskampfes sein, weil die christliche Religion höchste Lebendigkeit ist. Das nicht adäquate Verhältniß von universaler Lebendigkeit und Vorstellungsgemäßheit erklärt den Charakter der religiösen Wahrheit als Dogma, Wahrheit muß Postulat werden.10 Der hinter die fertigen Gegebenheiten zurückreichende lebendige Verband gewährt nun gleichsam das Capital für die Entnahme der dogmatischen Begriffe, welche – und darin liegt das unterscheidende Merkmal zwischen Gnosis und Dogmenbildung – soteriologisch gefordert waren. Daher die Bestimmung Jesu als Sohn Gottes, nach dem lebendigen Verhältnisse absoluter Zugehörigkeit und Abhängigkeit – gegenüber der Fremdheit und Abhängigkeit des Machwerks. Daher die Lehre von der Sünde und von der Erlösung. Sie sagen: ‚Unerträglich ist die Lehre von der physischen Fortpflanzung © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

382

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

der Sünde (sagen wir lieber Sündhaftigkeit) von Generation zu Generation, empörend und widerlich geradezu die Vererbung der Schuld und der Verdamniß.‘ Und an anderer Stelle: ‚Wie verschoben ist doch nun dies ganze Verhältniß (Opfer) in der paulinischen Anwendung dieses Symbols auf den Tod Christi! Hier ist der, welchem das Opfer zu Gute kommt ein anderer als der welcher es bringt. … Nie nach der meisterhaften socinianischen Kritik ist die Opferlehre und Satisfaktionslehre von einem wahrhaften und klaren Denker  (?!) wieder vertheidigt worden. Sie war für alle Zeiten gerichtet.‘11 Das sind Verdikte und ich halte sie für unrichtig und ungerecht. Auch die metaphysischen Dogmen der Trinität und Zeugung erklären Sie für abgethan und von keinem aufrichtigen und klaren Denker erneuert! Auch hier ein Verdikt und ein ungerechtes! All jene dogmatischen Bestimmungen existiren noch in der lebendigen christlichen Gemeinde. Sie müssen doch also einen Werth repräsentiren. Wir dürfen als Psychologen und Historiker uns doch mit dem was Socinianer pp. begriffen, nicht zufrieden geben. Ein Dogma lebt so lange als das intellektuelle oder allgemein lebendige Motiv wirksam ist, welches es hervorgetrieben. Die dogmatischen Begriffe, welche Sie mit der rationalistischen Kritik erwähnen, sind alle, weil Christenthum Leben ist, der Tiefe der natürlichen Lebendigkeit entnommen. Hier allein war der fond für das ausreichende Symbol. Der ethische Nominalismus kann allerdings einen virtuellen Zusammenhang nicht ergreifen. Nicht ein Anderer sondern ein Mensch und historische Kraft ist Jesus: Das Kind gewinnt durch das Opfer der Mutter, ihm kommt es zu Gute. Ohne diese virtuelle Zurechnung und Kraftübertragung giebt es überhaupt keine Geschichte12 – wie denn der Rationalismus den Geschichtsbegriff nicht kennt. Und Sündhaftigkeit – nicht Sünde als Einzelnes – dem Religiösen ist sie auf Grund seiner Erfahrung ein unvordenkliches. Ist weniger ‚empörend und widerlich‘ wenn wir sehen  – ein alltägliches Bild  – Krankheit und Jammer sich vererben? Aus der Tiefe der Natur sind die Symbole geschöpft, weil die Religion an sich – ich meine die christliche – übernatürlich, nicht unnatürlich ist. Der Rationalismus hat seine Rolle ausgespielt. Beweis dafür der intellektuelle und moralische Jammer unserer Zeit, die Haltungslosigkeit des Gesammtbewußtseins. Die Aufgabe Ihres Werks ist eine neue Grundlegung der Geisteswissenschaften. Werden Sie nicht das Zuviel der Werthung, welche Sie einer Bewußtseinsstellung gewährten unter dem Zauber des Gegenstandes, widerrufen müssen, wenn die positive Aufgabe der Neu­ gstaltung herantritt? … [Briefschluss fehlt.]13 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 103.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

383

1 D.: Das natürliche System der Geisteswissenschaften im siebzehnten Jahrhundert. Zweiter Artikel, in: AGPh 6 (1893) S. 60–127; WA in: GS II, S. 108–161. 2 Die nachfolgenden Anmerkungen von D.s Hand und die Auflistung der von ihm in dem Brief vorgenommenen Unterstreichungen sind von der Hg. von BDY übernommen worden. – Anmerkung von D.s Hand: „Katholisch als: Mittelalter, umfaßt natürlich Rationalismus, Protestantismus ebenso, weil es eben die Tendenz nicht Autonomie der Vernunft, und Katholisch: als kirchlich regimentales Band bestimmt Dogma.“ 3 Das Konzil von Trient der röm.-kath. Kirche von 1545–1563, dessen Hauptanlass war, dass man die Notwendigkeit sah, auf die Lehre der Reformatoren zu reagieren. 4 Gesetz. 5 Anmerkung von D.s Hand: „Probabilismus zu fides implicita.“ 6 Anmerkung von D.s Hand: „ist dasselbe: germanischer Fortschritt in Religion – Protestantismus nicht universell.“ 7 In BDY: „intellektuellen“. 8 Anmerkung von D.s Hand: „Allerdings! Die individualistisch atomistische Voraus­ setzung des 15. 16. Jahrhunderts.“ 9 Theologische Lehre vom Erlösungswerk Christi. 10 Anmerkung von D.s Hand: „Jede begriffliche Analysis schafft ein Außereinander. Die Analysis des religiösen Lebens, nicht Dogmatik, muß synergistisch sein – oder Dogmatik muß überhaupt nicht sein – und dies ist das Ende.“ 11 Vgl. GS II, S. 142 f. 12 Anmerkung von D.s Hand: „umgekehrt: alle Geschichte ist solche Kraftübertragung, nicht blos das Christentum.“ 13 Von D.s Hand sind nach Angabe der Hg. von BDY in dem Brief folgende Stellen unterstrichen: „Die Tiefe des souveränen Gemüths bildet eine größere Differenz als die Independenz des Willens“; „Die Dogmatik war der Versuch einer Ontologie des höheren, des historischen Lebens“; „christliche Religion höchste Lebendigkeit ist“; „Der hinter die fertigen Gegebenheiten zurückreichende lebendige Verband gewährt nun gleichsam das Capital für die Entnahme der dogmatischen Begriffe, welche … soteriologisch gefordert waren“; „All jene dogmatischen Bestimmungen existiren noch in der lebendigen christlichen Gemeinde … Werth repräsentiren“; „weil Christentum Leben ist, der Tiefe der natürlichen Lebendigkeit entnommen. Hier allein war der fond für das ausreichende Symbol“; „die Religion an sich“.

[836] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Mein lieber Freund.

[vor Weihnachten 1892]1

Heute sende ich unsre herzlichen Wünsche zum schönen Weihnachtsfeste Ihnen und Ihrem ganzen Hause, wo die Söhne nun die Freude des Festes erhöhen werden. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

384

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

Dann herzlichen Dank für Ihren Brief über meine Abhandlung. Sie haben recht, und furchtbar rasch nähern sich uns die Katastrophen; die Glaubenslosigkeit dieses Zeitalters d. h. seine Unfähigkeit, Überzeugungen, welche den Menschen gegen die armselige umzingelnde geschwätzige, begehrliche, bietende, unterstützende gesellschaftliche Menge frei machen und ihn dem wahren im Unsichtbaren gegründeten Zusammenhang gegenüber finden, zu erhalten oder – was dasselbe – neu hervorzubringen, führt uns in diese Katastrophen. Ich bin weiter mit Ihnen darin einverstanden, es giebt zur Zeit keinen effektiven, ordentlich auseinandergelegten Glauben, welcher eine Fähigkeit besäße, zusammenzuhalten, sonst würde er zusammenhalten. Dies wird am besten durch die furchtbare nervöse Unruhe bewiesen, die sich hier im Centrum dokumentirt (Zeitschr[ift] Zukunft, eth[ische] Gesellsch[aft], Broschürenfluth, ein neuer drastischer Styl etc.). Sie haben endlich recht, mein Buch könnte ungeschrieben bleiben, wollte es einen der alten verbrauchten Standpunkte, etwa den moralischen Rationalismus, anpreisen. Sie haben alle gewirkt was sie konnten. Sie haben alle abgewirthschaftet. Fragt man nach dem letzten Grund der jetzigen Lage, so liegt er darin, daß nun erst die Naturwissenschaften aus der Position des 17.  Jahrhunderts die letzten Consequenzen gezogen haben. Die auf das Gesetz der Erhaltung der Kraft gegründete Lehre von den psychischen Begleiterscheinungen, diesen Irrlichtern auf dem Sumpf der geistlosen Materialität, ist in der ganzen Literatur der Gegenwart das einflußreichste Agens. Vorgestern las uns Wildenbruch das neuste Stück von (?) vor:2 wiederum ist es die räthselhafte, diesmal die hyp­ notisirende Animalität was nach ihm über das Leben entscheidet. Die Frage ist also vornemlich, welche Kräfte mobil gemacht werden können, diesen Einfluß zu überwinden. Nun ist mein Buch aus der Überzeugung hervorgegangen, daß die Selbständigkeit der Geisteswissenschaften und der in ihnen enthaltenen geschichtlichen Wirklichkeitserkenntniß hierzu beitragen könne. Anders ausgedrückt: die geschichtliche Welt führt durch die Selbstbesinnung auf eine siegreiche spontane Lebendigkeit, einen im Denken nicht formulirbaren, aber analytisch aufzeigbaren Zusammenhang im Einzelleben, im Wirken aufeinander, schließlich in einen höheren Zusammenhang besonderer und die naturwissenschaftlichen Mittel übersteigender Art, welchen herausheben, kraftvoll aussprechen nothwendig ist, soll er wieder zu gehobener und selbstbewußter Geltung kommen. Ich zweifle nicht daß ich mich in diesen Sätzen, wie anders Sie sie auch formuliren möchten, doch auch nach ihrer Formulirung ziemlich in Einverständniß befinde. Fragt man worin der Nutzen einer solchen Unternehmung für die thatsächlichen Kräfte von Religion, politischem Leben, Wirthschaft etc. bestehe, so folgt aus dem obigen Prinzip daß jede theoretische Arbeit nur Kräfte, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

385

­ eben frei machen, mit dem Bewußtsein ihres Gehaltes, Zweckes etc. erfüllen L könnte. Darin sind wir sicher wörtlich einig. Gerade in Bezug auf Theologie und Religion ist nun die Durchführung hiervon besonders schwierig. Ich habe in den letzten Jahren, in günstiger Lage, mit der größten Penetration sowol die geschichtlichen Gestalten des Christen­ thums als die jetzige religiöse Denkart der Menschen studirt. Dankbar konnte ich dabei die besseren Mittel der Analysis, die Technik des theologischen Metiers wie die Schule Ritschls sie ausgebildet (der Hauptgrund ihres gesteigerten Selbstgefühls) benutzen. Mein Ergebniß aber ist dem Geiste dieser Schule ganz entgegengesetzt. 1)  Ich finde überall die neuen religiösen Gemüthsprocesse von einer allgemeineren geistigen Disposition getragen. Das ‚als die Zeit erfüllet war‘3 wird für die Empfangenden anerkannt: man sieht nicht, daß es dann auch für den Gebenden gelten muß. Nach der einen Seite hat man es dann jedes Mal mit einer vereinfachenden Zusammenfassung zu thun, 2)  nach der anderen ist es eine Neuschöpfung. Der heilige Bernhard,4 Franz v. Assisi sind solche Momente: über das vorhandene gehen sie hinaus. 3) Luther, und zwar diese Person, hat, wie ich in der ersten Abhandlung nachzuweisen suchte,5 über die vorhandene christliche Religion hinaus eine höhere Stufe erreicht. Er thut das vermöge des bildlosen, freiheitsbedürftigen, impetuosen germanischen Geistes. Er hebt das Bildmäßig (begrifflich) Anschauliche und das Regimentale auf: er findet den ganzen Menschen, nicht katholisch den Vernunftbestandtheil, wofern er seine eigene Haut zu Markte trägt und die religiöse Arbeit selber leistet, nicht von theologischen Büchern und Priestern leisten läßt, dadurch in einem Zusammenhang mit Gott, der ihn über den Teufel und den Tod siegreich und wirksam macht. 4. Wenn nun aber der Inbegriff der centralen Dogmen des Christenthums von ihm festgehalten wurde, als selbstverständliche Voraussetzung seiner ganzen neuen Glaubensstellung, dies dann aber von den Socinianern ab in Zweifel gezogen: so finde ich über das Recht beider Partheien Folgendes zu sagen. Gewiß haben Sie recht, daß die Dogmen des Christenthums das nothwendige Erzeugniß des Glaubens in mit Intelligenz ausgestatteten Subjekten sind und sein mußten. Auch darin stimmen wir überein: wie sie aus der schöpferischen Macht des Christenthums geschichtlich entsprangen, sind sie der einzige Ausdruck desselben und es ist eine unsinnige Anmaßung der Ritschlianer sie durch andere neue Dogmen, gemacht nicht von Missionaren, Aposteln und Märtyrern, sondern von angenehm situirten Professoren, ersetzen zu wollen. Aber alle Dogmen müssen auf ihren universellen Lebenswerth für jede menschliche Lebendigkeit gebracht werden. Sie waren einst in einer geschichtlich begründeten Beschränkung entworfen. Werden sie von dieser befreit, dann sind sie freilich wenn Sie so wollen das Bewußtsein von der übersinnlichen und überverständigen Natur der Geschichtlichkeit schlechthin. In © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

386

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

diesem Satze schließe ich mich an die universale Tendenz dessen an, was ich als universalen Theismus, transscendentale Theologie bezeichne. Ich verwerfe aber in demselben die intellektuelle Fassung des Dogma. Diese herscht gerade so gut als in der speculativen Interpretation Hegels und Baurs in der Bekämpfung durch Ritschl und Harnack. Hiernach sind die Dogmen erster Ordnung, welche in den Symbolen Sohn Gottes, Genugthuung, Opfer etc. enthalten sind, in ihrer Einschränkung auf die Thatsachen der christlichen Geschichte unhaltbar, in ihrem universellen Sinne bezeichnen sie den höchsten lebendigen Gehalt aller Geschichte. Aber in diesem Sinne verlieren diese Begriffe ihre starre ausschließende und so Alles in besondre Fakticität wandelnde Beziehung auf die Person Jesu, welche alle anderen Beziehungen ausdrücklich ausschließt. Meine Aufgabe war nun, in der Epoche der Reformation in nuce Alles aufzuweisen, was sich später entwickelte. Ich faßte es in die drei Classen: Orthodoxie, Rationalismus und transscendentale Theologie (religiösen Universalismus) zusammen. Zu zeigen wie der religiöse Universalismus todtgeschlagen wurde. Wie nun der Rationalismus der Orthodoxie gegenüber Recht behielt. Nachher wird sich zeigen daß er der transscendentalen Theologie gegenüber sich verständnißunfähig erweist. Es wäre umständlich und unwirksam, stets zu wiederholen, das Dogma in seiner von mir geschilderten harten ausschließenden Partikularität sei aufgehoben. Sie schreiben ganz wie ich denke zu meiner Billigung der socinianischen Kritik: ‚Nicht ein Anderer, sondern ein Mensch und historische Kraft ist Jesus: das Kind gewinnt durch das Opfer der Mutter, ihm kommt es zu Gute.‘ Indem Sie selbst Opfer so als Symbol für ein universelles geschichtliches Verhältniß, aufgefaßt in seiner Lebendigkeit, gebrauchen: glaube ich hieraus das Recht erschließen zu dürfen, das thatsächliche Dogma des 16. Jahrhunderts, welchem Jesus in der That ein Anderer war, jede Ahnung des Verbandes geschwunden, jede Vergleichbarkeit dieses Opfers in die Hölle und den Scheiterhaufen verdammt, als durch den Socinianismus aufgelöst festzustellen. Was den von Ihnen geltend gemachten Glauben der Christengemeinschaft betrifft, so ist dieser eine fides implicita6 in einem etwas anderen Verstande. Beruhend auf der traditionellen Sicherheit und dem geistigen Übergewicht der äußerlich erscheinenden Kirche soweit er in der Masse noch vorhanden ist. Bei Nachdenklichen aller Classen, aus der Gemüthstiefe Alles was in diesen mächtigen Symbolen von einem übersinnlichen geschichtlichen Zusammenhang ein­ gewickelt ist: ganz unabhängig von der theologischen Partikularität. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 104. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Hermann Usener an Dilthey

387

1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 Die Hg. von BDY merkt an: „‚Das neuste Stück von [?]‘: der erwartete Name fehlt. Daß Wildenbruch ein eigenes Werk vorgelesen habe und ein ‚sich‘ zu ergänzen sei, ist nicht wahrscheinlich. Gegen diese Annahme spricht zunächst das deutlich geschriebene Wort ‚Stück‘, das auf ein Drama deutet. Es liegt aber in der Zeit kein Drama oder Dramenentwurf Wildenbruchs vor, worauf D.s Aussage passen möchte. Das ‚von‘ ist letztes Wort einer Zeile. Dahinter ist ein auffällig großer Raum frei geblieben. Man möchte glauben, dass D. den Namen eines ihm neu vorgestellten Dichters im Augenblick des Schreibens nicht gegenwärtig hatte und nachträglich einfügen wollte. Da, wie Herr Geheimrat Litzmann mitteilt, von August 1891 bis Mai 1897 kein Tagebuch Wildenbruchs vorliegt, konnte über die hier erwähnte Vorlesung nichts Genaueres ermittelt werden.“ 3 Bibel-Zitat: Galater 4,4. 4 Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153): Abt, Mystiker, einer der bedeutendsten Mönche des Zisterzienser-Ordens. 5 D.: Auffassung und Analyse des Menschen im 15.  und 16.  Jahrhundert. Zweite Hälfte, in: AGPh 5 (1892), S. 337–400, hier bes. S. 355–367; WA in: GS II, S. 39–89, hier bes. S. 53–63. 6 Eingewickelter Glaube.

[837] Hermann Usener an Dilthey Mein lieber Wilhelm,

Bonn, 23 dez[ember] [18]92.

Dein gestriger brief1 hat uns allen grosse freude gemacht. Eure guten wünsche erwidern wir von herzen, und ich freue mich mitteilen zu können, dass wir die frohen tage alle bis auf Hans, der in München bleiben musste, zusammen in guter gesundheit und in dankbarem sinne begehen. Diese tage der ruhe nach vorangegangen tagen des sturms und arbeitssamen monaten tuen mir ausserordentlich wohl, und den übrigen gliedern der familie geht es auch so. Die kinder haben sich in rührender weise angestrengt, namentlich ­Mariechen. ­Hermann hat uns durch seine physikalisch-mechanischen talente überrascht; er hat z. B. zwei thermometer, einschliesslich des glasgebläses, selbständig konstruiert und in wetteifer mit der schwester die holzplatten malerisch dekoriert. … 28. dez[ember] Der angefangene brief ist schändlich liegen geblieben. So geht es in diesen tagen. Je älter man wird, mit desto mehr fäden wird man ans leben gebunden, und diese ziehen in der masse hin und her, als unsere beweglichkeit sich verringert. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

388

Hermann Usener an Dilthey

Du hast mit Deinen aufsätzen im „Archiv“, denen ich mit dem grössten interesse folge einen schuss ins zentrum getan. Ich denke mir dieselben als entwürfe zu abschnitten des 2. teils Deiner geisteswiss[enschaften], vermute aber dass durch diese entwicklung der ursprüngliche plan des werks etwas verschoben worden ist und nun ein umfang von wenigstens 3 bänden erforderlich sein wird um den faden abzuspinnen. Wie weit willst Du denn diese betrachtungen im Archiv führen? Lies gelegentlich einen kleineren aufsatz, den ich in die theol[ogischen] aufsätze für Weizsäcker gestiftet habe.2 Die wenigen sonderabzüge, die ich erhielt, sind vergriffen, dass mir für Dich und viele kein verfügbarer mehr blieb. Es ist nur eine kleinigkeit, die eigentlich für das weihnachtsfest bestimmt war. Aber die allgemeinen betrachtungen, zu denen die wahrnehmung veranlasst, werden Dir vielleicht willkommen sein. Ich war fleissig in dem jahre. Leider ist es mehr vielerlei als vieles was ich geschaffen. Und deshalb bin ich wenig befriedigt. Alles durch äussere anstösse veranlasst, nicht … .3 In diesem winter hoffte ich an das weihnachtsbuch4 zu kommen und mir den arbeitstisch zu grösserem frei zu machen. Statt dessen muss ich heute für diesen morgen für jenen arbeiten. Möge Dir die kraft und lust des schaffens in frohem und erfrischendem häuslichen leben erhalten bleiben, nein sich steigern und Du wie Deine frau und die kinder Euch frischer gesundheit erfreuen. Das wünscht Euch zum neuen jahr mit herzlichen grüssen von alt und jung in meinem hause Euer H. U. Mein exemplar Deiner aufsätze ist eben bei Prof. Landsberg,5 der die Geschichte der d[eu]t[schen] rechtswiss[enschaft] von Stinzig6 selbständig (St[in­ zig] hat keine vorarbeiten hinterlassen) fortführt, und nach den proben, die ich mir vorlesen lies, ausgezeichnet, besser und tiefer greifend als es St[inzig] getan haben würde, wie ich aus vielen gesprächen mit dem verstorbenen weiss. Ich hoffe, dass es L[andsberg] wohl tun und ihn fördern wird, Dir zu folgen und sich an Dir zu reiben. Bin sehr begierig, mit ihm darüber zu reden. Original: nicht überliefert; ein unvollständiges maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 18.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

389

Dilthey an Ernst von Wildenbruch

1 Nicht überliefert. 2 Carl Heinrich von Weizsäcker (1822–1899): ev. Theologe; 1861 o. Prof. für Kirchenund Dogmengeschichte; führender Vertreter der historisch-kritischen Schule. – H. Usener: Die Perle. Aus der Geschichte eines Bildes, in: Theologische Abhandlungen, Carl von Weizsäcker zu seinem 70. Geburtstage 11. Dec. 1892 gewidmet. Freiburg i. B. 1892, S. 201–213. 3 Auslassung im Transkript. 4 Gemeint ist die Fortsezung von H.  Usener: Religionsgeschichtliche Untersuchungen. Erster Theil: Das Weihnachtsfest [Kap. I–III]: Zweiter Theil: Christlicher Festbrauch. Schriften des ausgehenden Mittelalters [Kap. IV]. 5 Ernst Landsberg (1860–1927): Jurist und Rechtshistoriker; 1887 a. o. Prof., 1899 o. Prof. in Bonn; Schüler von R. von Stintzig. 6 Roderich von Stintzig (1825–1883): Jurist und Rechtshistoriker; 1854 o. Prof. in Basel, 1857 in Erlangen, 1870 in Bonn.  – Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft. 4 Bde. Hg. und fortgeführt von E. Landsberg. München 1880–1910.

[838] Dilthey an Ernst von Wildenbruch

      Lieber Freund,

Freitag 6 Januar[1893] Abends

Diese Zeilen sind an Ihre Frau Gemahlin so gut als an Sie gerichtet, wie denn meine Frau ebenfalls die Empfindungen ganz theilt welche ich in denselben ausspreche. Als zwischen uns ein freundschaftliches Verhältniß langsam entstand und wuchs: beruhte dies darauf daß wir uns etwas zu sagen hatten und bei der Verschiedenheit des Gesichtspunktes eine große Übereinstimmung der Geistesrichtung in jedem Gespräch ermuthigend und erheiternd unsre Existenz beeinflußte. Noch mehr beruhte es dann darauf daß ich Ihren Charakter schätzen lernte und Sie[,] denke ich, den meinigen. Unter solchen Umständen ist es gegen mein Gefühl, dieses freundschaftliche Verhältniß nun ohne ein offenes Wort der Aussprache versumpfen zu sehen. Daher hätte ich schon als wir neulich zusammen nach Hause gingen, mich zu Ihnen ausgesprochen, hätte mich nicht das bestimmte Gefühl zurückgehalten, daß Beides, die bisherige Freundschaft und die jetzige Mißstimmung, Ihrer Beider gemeinsame Angelegenheit sei, wir also keine Aussprache und damit Verständigung wünschen könnten, an der nicht Sie beide, und beide aus vollem Herzen theilnehmen würden. Wenn ich es recht auffasse, begann doch ein Mißverständniß erst mit der Aufführung Ihres letzten Schauspiels.1 Ich wiederhole noch einmal, daß meine © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

390

Dilthey an Ernst von Wildenbruch

Frau[,] um das Stück zu sehen[,] sehr unwohl an jenem Tage aus dem Bett aufstand und ich daher sehr eilig war, sie gleich nach der Aufführung wieder nach Hause zu bringen. Ich kam am nächsten Morgen, dies zu erklären und über meinen Eindruck mich auszusprechen. Auch bemerkte ich nicht daß Sie gegen uns verstimmt seien. Wir freuten uns auf den Mittwoch bei Ihnen. Da kam von Ihnen die Mittheilung an uns Sie bedürften einige Zeit gänzlicher Ruhe. So hielten wir uns selbstverständlich fern. Seitdem haben wir Ihnen, wie ich denke, mehr als Einen Beweis gegeben, wie sehr wir in einer für Sie nicht leichten Zeit Ihnen nahe zu sein wünschten. Doch jedes Zeichen, welches von Ihnen zu uns darauf zurückkam, mußte ein feineres gesellschaftliches Gefühl, welches auch kleinere Andeutungen zu verstehen und zu berücksichtigen gewohnt ist, bestimmen, uns von Ihnen fern zu halten. So entstand für uns der peinliche Zustand, seinem Herzen nicht folgen zu dürfen ohne seine persönliche Würde zu beeinträchtigen. Und zwar ohne daß wir damals oder jetzt eine Ahnung des Zusammenhangs hätten. Denn niemals habe ich den ganzen Grund der Verstimmung von Ihnen beiden darin gesehen, daß ich nicht in der Presse für Ihr Stück eingetreten bin. Nach meiner Auffassung der Freundschaft handelt es sich in ihr um etwas, daß über Dichten, Philosophiren und Schreiben hinausreicht. Mehr als je bedarf man heute Menschen, mit denen man ohne Gefahr von Mißverständniß oder Indiskretion, ja in vollem Gefühl der Gemeinschaft sich aussprechen kann. Von da gehen auf alles Schaffen Wirkungen aus, da man in freundschaftlichem Gespräch von Verstimmungen sich befreit und das Gefühl, verstanden zu werden, umfängt. Dabei war es mir, wo meine Kompetenz besteht, stets Freude und Bedürfniß, mit Entschiedenheit für Sie einzutreten. Durch ein Auftreten in der Tageskritik aber würde ich aus meiner Natur und meinem Lebensberuf heraustreten. Jeder, der mich kennt, würde erstaunt nach meiner Absicht fragen, und sie in unsrem freundschaftlichen Verhältniß suchen. Ganz anders wäre, wenn es einmal der Gang meiner Arbeit mit sich bringt, daß ich aufathmen kann und mich den Fragen der Literatur zusammenhängend widmen. Da ich nun auch bei unsrer Aussprache über diesen Punkt den Eindruck hatte daß Sie dies zwar an mir vermissen, keineswegs aber deswegen an meiner Freundschaft zweifeln: so muß schlechterdings außerdem eine gewichtigere Ursache vorliegen. So bleibt wirklich nichts übrig als an einen Klatsch oder Mißverständniß zu denken. Und nicht wahr, dann ist es doch recht, sich über die Sache offen auszusprechen? Darum bitte ich um so mehr, je größeren Werth wir auf Ihre Freundschaft legen und je sicherer ich darüber bin, daß unser Verhalten gegen unsre Freunde so gut in ihrer Abwesenheit als in ihrer Anwesenheit niemals den geringsten Grund gerechtfertigten Mißtrauens geben konnte. Denn ich glaube nicht, daß Sie Jemanden beide haben außerhalb Ihres Verwandtenkreises, der in jedem © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

391

Ernst von Wildenbruch an Dilthey

Verhältniß und überall treuer[,] fester und klarer zu Ihnen stünde, als wir es bis auf diesen Tag gethan haben. Mit besten Grüßen von Haus zu Haus freundschaftlich der Ihrige Wilhelm Dilthey Original: Hs.; ABBAW, Wildenbruch-NL , Nr. 142. 1 E. von Wildenbruchs Drama Meister Balzer wurde am 2.  November 1892 urauf­ geführt und fiel durch.

[839] Ernst von Wildenbruch an Dilthey Verehrter Freund1

7. 1. [18]93.

Sie werden mir gern glauben, daß Ihr Brief einen starken Eindruck auf mich gemacht hat. Ihn zu beantworten, ist mir nicht ganz leicht, weil ich die Stimmung darin als vollkommen berechtigt anerkenne, auch zugeben muß, daß die äußeren Umstände richtig geschildert sind, und weil doch andrerseits die tiefsten Beweggründe zur gegenwärtigen Situation nicht voll darin erschöpft sind. Wenn Sie von „Mißverständnissen“ sprechen, so trifft der Ausdruck nicht voll zu, denn ein solches setzt einen äußeren Anlaß voraus, und ein äußerer Anlaß, wenigstens einer, der sich klipp und klar, und handgreiflich aufweisen und bezeichnen ließe, liegt nicht vor. Daß eine Mißstimmung vorhanden ist – wozu sollte es führen, wenn ich es bestreiten wollte. Und wenn Sie dieselbe von der Aufführung meines letzten Stückes datieren, so trifft auch das zu. Und, daß sich diese Mißstimmung nicht auf einen bestimmten Vorgang zurück führen ließe, und daß sie sich nicht ausschließlich gegen Sie richtet. Um Ihnen verständlich zu werden: die Erfahrungen, die ich nach dieser letzten Aufführung gemacht, haben Empfindungen in mir zur letzten Klarheit[?] gebracht, die sich seit Jahren in mir vorbereiten. Sie kennen meine Thätigkeit, Sie wissen wie ich durch dieselbe in den Brennpunkt der öffentlichen Meinungsschreiber versetzt bin, und Sie sind ein zu tiefgründiger Beurtheiler der Literatur und der literarischen Produktion, um nicht zu © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

392

Ernst von Wildenbruch an Dilthey

wissen, daß der Dichter sein Schaffen nicht von seinem Leben trennen kann. Was mein Schaffen hemmt, beeinträchtigt meinen Lebensorganismus – und Sie wissen so gut wie ich, wie rabbiat von gewissen Seiten diese Hemmungsversuche sind. Schweigend habe ich dies Jahre lang ertragen, weil immer, bei den früheren Gelegenheiten, Umstände mitsprachen, die eine äußere Erklärung für das Recht der Gegner möglich erscheinen ließen, der neue Herr, das heilige Lachen.2 Als aber aus Anlaß des letzten Stückes, bei dem alle diese äußeren Umstände wegfielen, das gleiche Geheul los brach, als auch jetzt nur die Gegner laut wurden, und von der anderen Seite, von Seite meiner Freunde, nicht eine Silbe der Entgegnung kam, da erfaßte mich etwas, was ich Mißstimmung nicht nennen kann, weil es mehr war, eine Art von Verzweiflung. Ich sagte nur, daß ich in diesem Stücke für das gekämpft hatte, was Deutschland zu Deutschland macht – und als nun aus diesem ganzen Deutschland nicht ein einziger zu Hülfe kam, um gegen eine undeutsche Rotte einzutreten, da kam ich zu dem Bewußtsein, daß ich für mein Schaffen keine Freunde habe und daß ich fürderhin nur noch auf mich allein angewiesen sei. Solches Bewußtsein macht einsam, und der Einsame ist nicht mehr zutraulich; das werden Sie begreifen. Sie werden weiter begreifen, wie es gemeint war, wenn ich vorhin gesagt habe, daß meine Mißstimmung allgemein, nicht gegen Sie ausschließlich gerichtet sei. Freilich darf ich dabei nicht verhelen daß Ihre Persönlichkeit bei den Gedanken, die mich in dieser Zeit bewegt haben, in vorderster Reihe gestanden hat. Das was mich hauptsächlich zu Ihnen geführt hat, war die Erkenntniß einer außergewöhnlichen, in Ihnen vorhandenen literarischen Beurtheilungskraft, und das was diesem Bewußtsein Vertrauen verlieh, war der Gedanke, daß Sie meinem Schaffen sympathisch gegenüber gegenüberstünden. Ob ich mich darin getäuscht habe oder nicht – jedenfalls ist diese Sympathie nicht stark genug zu thatkräftigem Eintreten gewesen. Sie haben mir Gründe dafür angegeben über die ich nicht mit Ihnen streiten will – immerhin begreife ich nicht recht, was es für einen Vorwurf vorbereite, wenn man­ erfährt, daß jemand aus Freundschaft, für den Anderen schriebe. Freundschaft entsteht doch schließlich aus geistiger Uebereinstimmung – und jedenfalls sind die Leute auf der gegnerischen Seite weniger bedenklich in dieser Beziehung, und dadurch beherrschen sie das Feld. Nachdem ich so, in Beantwortung Ihres offen­herzigen Briefes offenherzig meine Ansicht ausgesprochen habe, bleibt mir noch übrig, die Consequenzen aus dem allen zu ziehen. Sie sind sehr einfach: das was ich innerlich durchgemacht habe, bleibt als Erfahrung in mir, und wird bleiben; auch möchte ich es nicht hingeben wenn ich auch könnte; werde ich freilich nicht liebenswürdiger dadurch, so doch vielleicht reifer. Im Uebrigen ändert sich nichts, und darum sage ich Ihnen aufrichtigen Dank für Ihren Brief, der das Eis bricht und mir die Gelegenheit bietet, Ihnen © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

393

Hermann Usener an Dilthey

zu versichern, daß mir nichts ferner liegt, als die Absicht unser Verhältniß versumpfen zu lassen. Ich werde nie vergessen, wieviel ich im geistigen Verkehr mit Ihnen gewonnen habe, und würde es als einen Verlust empfinden, wenn mir dies in Zukunft verloren gehen sollte. In aufrichtiger Gesinnung biete ich Ihnen daher die Hand zur Fortführung des Gewesenen, und bitte Sie Ihrer verehrten Frau Gemahlin von mir und meiner Frau Gruß auszurichten. Freundschaftlich ergebenst Ihr

Ernst von Wildenbruch

Original: Hs.; GSA Weimar, Sign. 94/300,5. 1 Im Original darüber: „Antwort an Wilhelm Dilthey. Berlin 7.1.[18]93.“ 2 E. von Wildenbruch: Der neue Herr. Dresden 1891.  – Ders.: Das heilige Lachen. Dresden 1891.

[840] Hermann Usener an Dilthey Bonn, 20. januar [18]93. … Gespannt bin ich nähres von Dir darüber zu hören, was die epigraphiker der akademie für ein gesicht dazu gemacht haben, dass ich die ak[ademie] an den Aristot[eles-]commentatoren festgenagelt habe – hoffentlich habe ich es.1 Es wäre schmählich, wenn das grosse und wichtige unternehmen unvollendet abgebrochen würde. Ich hätte die sache gerne besser gemacht zu grösserer befriedigung für mich; aber dazu hätte ich weiter aussehende studien machen müssen. So habe ich das ganze bei hässlichem schnupfen und mitten in laufenden amtspflichten in wenig tagen heruntergeschrieben. Du darfst den aufsatz nur etwa mit dem massstab eines zeitungsaufsatzes beurteilen. Mit bestem gruss von haus zu haus Dein H. Usener. Mariechen, von deren influenza ich Dir vielleicht geschrieben, ist schon seit anderthalb wochen wieder frisch und munter, wir andern sind unbehelligt geblieben. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

394

Hermann Usener an Dilthey

Original: nicht überliefert; ein unvollständiges maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 19. 1 H. Useners Rezension von: Commentaria in Aristotelem Graeca und Supplementum Aristotelicum, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 26 (1892), S. 1001–1021; WA in: Ders.: Kleine Schriften. Bd. 3. Leipzig 1914, S. 193–214.

[841] Hermann Usener an Dilthey Mein lieber Wem,

Bonn, 24. januar [18]93.

vielen dank für Deinen musterhaft prompten brief1 und die interessanten mitteilungen desselben. Die letzteren veranlassen mich zu einigen bemerkungen, die zu erwägen ich Dir ans herz legen möchte. Dass Du den cartellvorschlägen der Wiener akademie, die durch die initiative von W. von Hartel2 herbeigeführt sind (ich weiss nicht, inwieweit ­Mommsen der spiritus rector dabei war), antipat[h]isch gegenüberstehst bedaure ich. Zunächst ist einleuchtend, dass es eine nutzlose verschwendung von geld, kraft und zeit ist, wenn verschiedene akademien in zusammenhang verschiedener unternehmungen dieselbe arbeit doppelt ausführen lassen. Solche überflüssige konkurrenz ist bereits vorgekommen, und muss sich, falls eine verständigung nicht zustande kommt, wiederholen zwischen unseren „Monumenta Germaniae antiquissima“ und der Wiener sammlung der Lat[einischen] Kirchenväter (so schon bei Ennodar,3 Eugippius,4 etc. künftig bei Cassiodoros5 u. a.). Wie die tätigkeit einer akademie durch verständigung mit der anderen gehemmt werden könne, verstehe ich nicht. Eure ak[ademie] z. B. teilt den ausgearbeiteten plan eines unternehmens an die Wiener mit: diese kann sich dann danach in ihren plänen einrichten; entweder kann sie davon erleichternde abstriche machen, oder, falls einzelne konkurrierende theile ihres eigenen unternehmens schon zu weit gefördert sind, bei Euch vorstellig werden und Euch zur erleichterung Eures ausgabebudgets behülflich sein. Ich sehe darin nur vorteil – gleich tüchtige leitung auf beiden seiten vorausgesetzt. ­Etwas anderes ist die verbindung sämtlicher akad[emien] zu gemeinsamer unterstützung und ausführung eines wiss[enschftlichen] unternehmens. Hier liegt bereits ein grosses analogum vor in den Monumenta Germaniae historica, in gewissem sinne auch in der Savigny-Stiftung. Auch hier kann ich nur wohlthätige folgen der vereinigung sehen, falls, wie sich doch von selbst versteht, jeder akade­ © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Hermann Usener an Dilthey

395

mie die selbständigkeit ihres entschlusses unverkümmert bleibt. Ein blosser majo­ritätsbeschluss der akademien dürfte nicht als verpflichtend anerkannnt werden, sondern jeder ak[ademie] müsste die freie entscheidung zustehen, ob sie sich an einem vorgeschlagenen unternehmen beteiligen wolle oder nicht. Es giebt wichtige arbeiten, welche von einer einzigen, noch so gut dotierten ak[ademie], will sie nicht ihre hände auf lange zeit binden, nicht aufgenommen werden können, sondern auf gemeinsame aktion angewiesen sind. – Wie gesagt, die sache selbst scheint mir geradezu nothwendig zu sein, es handelt sich um die klugheit und besonnenheit der die selbständigkeit wahrenden statutar[ischen]6 bestimmungen. Eure kanzlerkrisis erledigt sich hoffentlich einfach durch M[ommsen]’s bleiben. Ihr dürft ihn nicht fallen lassen. D[iels]7 wäre gewiss eminent geeignet wegen seiner zuverlässigkeit und gewandtheit in geschäften, aber ich möchte ihm nicht eine solche situation, voll von invidia,8 wünschen; es wäre nicht nur zu früh, sondern im hinblick auf den zurückgetretenen allzu peinlich. Die ganze welt würde von dem geschrei „intrigue“ widerhallen. Ihr seid M[ommsen] die anerkennung und dankbarkeit schuldig, ihn in jedem falle und auf jede weise zu halten. Doch genug, ich muss an mein seminar denken, obwohl mir graut, in dieses entsetzliche wetter nochmals hinaus zu müssen. … mit herzlichem gruss von haus zu haus Dein H. Usener Original: nicht überliefert; ein unvollständiges maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 20. 1 Nicht überliefert. 2 Wilhelm August Ritter von Hartel (1839–1907): österr. klass. Philologe; 1869 a. o., 1872 o. Prof. in Wien; 1891 Direktor der Hofbibliothek Wien, 1900–1905 österr. Kultusminister. – Die Wiener AdW bemühte sich um einen Zusammenschluss mit der Berliner und weiteren Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften. Am 12. Januar 1893 war daher in Berlin eine Kommission eingesetzt worden, die eine am 29. Januar 1893 in Leipzig stattfindende Konferenz von Delegierten der Akademien der Universitäten Berlin, Göttingen, Leipzig, München und Wien vorbereiten sollte. Aufgabe dieses Treffens war die Beratung und Aufstellung von Statuten für einen geplanten internationalen AkademienVerbund. Neben Th. Mommsen gehörten der Berliner Kommission E. Du Bois-Reymond, H. von Helmholtz, H. Diels sowie der klass. Philologe Johannes Vahlen (1830–1911) u. a. an. Th. Mommsen als Sekretar der philos.-histor. Klasse setzte sich sehr für das geplante „Cartell“ ein. Er fand jedoch in beiden Klassen der Berliner AdW wenig Unterstützung. Deshalb drohte er wiederholt mit seinem Amtsrücktritt und teilte am 17. Januar 1893 Althoff und am 19. Januar 1893 den Akademiemitgliedern mit, dass er sein Amt als Sekre© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

396

Hermann Usener an Dilthey

tar zum 1. April des Jahres niederlegen werde (vgl. Ehlers. Bd. 1, S. 453–457 sowie Rebenich / Franke, S. 627–638). 3 Magnus Felix Ennodius (473 oder 474–521): Bischof von Pavia. 4 Eugippius (ca. 465 – nach 533): frühchristlicher Heiliger und Schriftsteller. 5 Cassiodor (ca. 485–580): spätantiker röm. Politiker, Gelehrter und Schriftsteller. 6 Im Transkript: „stadutar.“. 7 H. Diels wurde 1895 der Nachfolger Mommsens als Sekretar der philos.-histor. Klasse der Berliner AdW. 8 Neid, Missgunst.

[842] Hermann Usener an Dilthey L[ieber] W[ilhelm].

Bonn, 14. 3. [18]93.

… Dass [s]ich Mommsen doch in zwölfter stunde hat halten lassen, war mir eine grosse freude. Nun sorgt aber auch, dass die cartellfrage in vernünftige bahnen geleitet wird. – Die ferien, die mir wohlthuen, gönne ich auch Dir von herzen; spanne Dich gründlich aus. – Sage doch, ist Glaser1 noch an der redaktion der Westerm[anns] monatshefte? Ich möchte gerne mit dieser anbändeln, und habe eben etwas, was die leute wohl brauchen könnten, fast fertig. Oder wende ich mich besser direkt an Westermann2 selbst? Mit herzlichen grüssen von haus zu haus Dein H. Usener. Original: nicht überliefert; ein unvollständiges maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 21. 1 Der Journalist und Schriftsteller Adolf Glaser (1829–1915), enger Freund D.s, war 1856–1878 und 1884–1907 Redaktionsleiter von Westermann’s Illustrirten Deutschen Monatsheften. 2 Friedrich Westermann (1840–1907): Verleger.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Hermann Usener

397

[843] Dilthey an Hermann Usener Mein lieber Hermann,

[24. März 1893]1

Hier das Aktenstück, das Geld beträgt doch für jeden 3750 Mark, die nach Wiesbaden zu senden sind? Ich bitte nun nur noch um die Mittheilung, ob ich das Geld einfach zu 1 April an Alexander Meier Senior2 senden soll, oder wie Du die Übermittelung arrangirt hast. Also bitte umgehend auf einer Karte, das Geld liegt bereit. Wenn Du in meine alten werthen Monatshefte schreibst, was mich freut, so wendest Du Dich an Dr. Adolf Glaser, Redakteur, Berlin (Straße mir un­ bekannt); er begegnete mir dieser Tage u. hat noch die Monatshefte. Für Deinen Weizsäckeraufsatz besten Dank, mit größter Freude gelesen, und die Sehnsucht wächst nach der Fortsetzung, die so vielen, mir besonders geradezu ein Bedürfniß wird. Habe ich Dir Melanchthon3 geschickt? Im Verlauf habe ich die ganze Frage nach der religiösen Leistung der Reformation nochmals vornehmen müssen, jetzt nach d[em] Mel[anchton] 1 noch ein 2 und auch ein 3 bald gedruckt, wobei Du an die Anordnung Dich nicht stoßen darfst. Eben arbeite ich nun für die Akademie an einem andren Stück aus der Philosophie selbst des 17 Jahrh[underts], am 4 Mai zu lesen.4 Du bemerkst natürlich mit D[einer] kritischen Spürkraft daß diese Arbeiten über Reformation zugleich für mich [als] Studien für den systematischen Theil dienen. Mommsen hätte den berechtigten Kern seiner Wünsche, Erleichterung des Austauschs für Abgränzung u. für Durchführung gemeinsamer Unternehmungen sofort haben können, wenn er offen procedirt hätte. Dann würde auch die Sache den viel erwünschteren Gang genommen haben daß Diels statt Vahlen5 Sekretair geworden wäre, was nun durch die Partheigruppierung welche sein Verfahren uns zur Wahrung der Würde der Akademie aufgenöthigt hat unmöglich wurde. Leider geht er aus der S­ ache mit einer solchen mora­lischen Niederlage und entsprechend mit so tiefer Ab­ neigung seinerseits gegen die Personen die sachlich andrer Ansicht waren und persönlich dabei immer für ihn eintraten (zu denen auch ich gehöre) hervor daß ich nicht glaube daß sein junges Sekretariat von langer Dauer sein wird. Ob es mir gelingt so rechtzeitig fertig zu werden daß wir, was Käthen wie mir gutthäte noch etwas fortkommen, muß ich geduldig und fleißig abwarten. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

398

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

Von Karl eben daß er dieser Tage nach Venedig was mich sehr für ihn freut. Mit herzl[ichen] Grüßen von Haus zu Haus Euer Wilhelm Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL , S 2102, 3, Nr. 12. 1 Datierung nach einer Notiz Useners im Original: „Erh[alten] u. beantw[ortet] (post­ k[arte]) 24/III [18]93“. 2 Vermutlich ein Rechtsanwalt. 3 D.: Das natürliche System der Geisteswissenschaften im siebzehnten Jahrhundert. Dritter Artikel, in: AGPh 6 (1893), S. 225–256; WA in: GS II, S. 162–186. 4 D. sprach am 4. Mai 1893 nicht in der Akademie. 5 Johannes Vahlen war 1893–1911 Sekretar der philos.-histor. Klasse der königl. preuß. AdW zu Berlin, 1893–1895 zusammen mit Th. Mommsen, ab 1895 zusammen mit H. Diels.

[844] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Mein lieber Freund.

Klein-Oels den 23. 4. [18]93.

Ich vermuthe Sie nunmehr wieder in Berlin von Ihrer Karlsbader Tour zurückgekehrt und richte daher diese Zeilen nach der Burggrafenstraße. Ihr freundlicher Gruß1 traf mich mitten in den Nebeln einer langdauernden Grippe, überdem in Anspruch genommen von landwirthschaftlichen Nöthen. Die Verpachtungen haben sich zerschlagen und mehr als je bin ich glebae adscriptus.2 Preisen Sie Ihr Loos, daß sich Ihnen das Lebensinteresse mit dem Berufe deckt. Gestern kam das Archiv mit Ihrer Fortsetzung.3 Ich habe erst hineinblicken können und freue mich auf die Lektüre. Weil ich keine Arbeitszeit fand, habe ich Vielerlei durcheinander gelesen. Die letzte kleine Arbeit von Diels4 ist sehr hübsch. Man sieht und erfährt, daß das Prinzip des Mechanismus schon damals die theoretischen Consequenzen aus sich herausgetrieben hat. Das darf aber den Unterschied der Zeiten, der Bewußtseinsstellung nicht verdecken. Experiment im modernen Sinne, welches an der Hypo­thesis hängt, hat es eben vor dem Dynamismus nicht gegeben weder bei Straton,5 noch sonst und nicht geben können. Es ist nicht ohne Gefahr über den Gleichförmigkeiten, die derselbe prinzipielle Ansatz hervorruft die Unter© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

399

schiede der lebendigen Verhaltung, welche der wissenschaftliche Träger ist, aus dem Auge zu verlieren. Das ‚modernste physikalische Theorem‘ (pag. 14) hat zum wissenschaftlichen Inhalt nicht die Analogie der Erscheinungen sondern ihre Vertauschbarkeit. Der an der Ähnlichkeit haftenden Anschauung bleibt die Rechnung, welche die Sache selbst ist, unmöglich. Wenn Diels p. 12 sagt: dem Straton ‚war die Schwerkraft der letzte Grund des Seins und Wirkens‘ so scheint mir diese Behauptung die Beläge weit und auf allen Seiten zu überragen. Diels hätte Gleichgewicht sagen müssen an Stelle von Schwerkraft. Er ist sich, wie aus Anmerkung 3 auf derselben Seite sich ergiebt, über die weltweite Differenz der beiden Begriffe nicht klar. Straton hätte, wenn jener Satz Diels’ richtig wäre, die Aristotelischen Qualitäten nicht konserviren können. Sie können sich denken, daß sehr nach meinem Sinne und Geschmacke das Werk des Stagiriten als Compromiß bezeichnet ist. Nur finde ich darin weniger ein Compromiß zwischen Platon und Demokrit, cf. die Qualitätenlehre, als zwischen Platon und Antisthenes. Erst eine Kritik des Aristotelischen Lehrgebäudes nach dem Gesichtspunkte der Quellen des Compromisses wird volle Erkenntniß des Aristoteles herbeiführen.  – Wenn Sie die Güte hätten Diels meinen besten Dank auszusprechen, so wird ihm das lieber sein als ein paar Worte von mir, dem Laien. Haben Sie einmal Augustin de trinitate gelesen? Acht der fünfzehn Bücher habe ich hinter mir mit dem Gefühle der Enttäuschung. Nur an einzelnen Stellen wird die Tiefe des Motivs sichtbar. Aus der Irrationalität blickt der Tiefsinn, das religiöse Postulat hervor und der Rekurs auf die lebendige psychische Struktur – selten genug – ist das Neue. Im Allgemeinen aber die überkommene todte, beobachtungslose Seelenlehre, ein Wirthschaften mit forma dei, forma servi6 und viel rhetorische Dialektik. Zu dem Merkwürdigsten gehört, was als nicht zu erörternde, fraglose Wahrheit angenommen wird: die Personalität des heiligen Geistes. Die Fraglosigkeit spricht für die geschicht­ liche Erkenntniß am Deutlichsten. An sich ist Personalität ein religiöses Postulat. Speziell aber wirkt nach der Philonische Semitismus. – Ob ich die fünfzehn Bücher hinter mich bringe, ist mir fraglich. Der Buchhändler schickte Schrader: die bewußte Beziehung zwischen Vorstellungen als konstitutives Bewußtsein.7 Scheint nicht erheblich. Fatale Identifikation von sich vorstellend verhalten und Vorstellungen, als einzelne, ­haben. Weiter: neue umgearbeitete Auflage von Wundt, Ethik.8 Welch ruheloses Wirthschaften mit demselben nicht ausreichenden Capitale! Abends im Bette Polybius:9 Welch sittliche und sachliche Tauglichkeit! Noch ungetrennt die sachliche Erwägung und die moralische Gesinnung. Die verständig-sittliche Persönlichkeit als maßgebende geschichtliche Größe. Wie viel gesunder und kräftiger dieser Standpunkt als z. B. der des Seneca. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

400

Dilthey an Hermann Diels

Hier noch immer trockene kalte Luft. Der dringend erwünschte Regen bleibt aus. Seit einigen Tagen schüchterne Gesangsversuche der Nachtigall. Mit Bestimmtheit rechnen wir auf Ihren und der Ihrigen freundlich zugesagten Pfingstbesuch. In dieser freudigen Erwartung mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus Ihr treu ergebener Yorck. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 105. 1 Nicht überliefert. 2 Lat.: „an die Schwelle gebunden“, leibeigen. 3 D.s Das natürliche System der Geisteswissenschaften im siebzehnten Jahrhundert. Dritter Artikel. 4 H. Diels: Über das physikalische System des Straton, in: SB der königl. preuß. AdW. Berlin 1893, S. 101–127 (auch separat erschienen). 5 Straton von Lampsakos (ca. 340 v. Chr. – ca. 268 v. Chr.): griech. Philosoph. 6 Gestalt Gottes und Gestalt des Dieners als Bestimmungen kirchlicher Amtsträger. 7 E. Schrader: Die bewusste Beziehung zwischen Vorstellungen als konstitutives Bewusstseinselement. Ein Beitrag zur Psychologie der Denkerscheinungen. Leipzig 1893. 8 W. Wundt: Ethik. Eine Untersuchung der Thatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens, 2. umgearb. Aufl. Stuttgart 1892. 9 Polybios (ca. 200 v. Chr. – ca. 120 v. Chr.): griech. Historiker.  – Hauptwerk: Historiai, 40 Bücher.

[845] Dilthey an Hermann Diels Lieber Freund, Zunächst habe ich mich vorläufigen ergebensten Dankes vom Gr[afen] York zu entledigen, den er Ihnen noch selbst aussprechen wird; er hat mit Begeisterung Ihre Abhandlung1 gelesen u. spricht sich in einem langen Briefe an mich darüber aus. Dann habe ich eine Anfrage. Am l0ten bin ich wieder in Berlin; auf den 1 Juni habe ich durch Tausch mit den Mathematikern meine Vorlesung in der Akademie geschoben. Die Ausarbeitung derselben wurde aber unterbrochen; auf die sehr angreifende Cur folgen, ohnehin schon precär 10 Stunden Vorlesung. Vielleicht haben Sie nun, zumal nach den Londoner Studien2 etwas das © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

401

Sie gern in der Gesammtsitzung vortragen, u. ich könnte mit Ihnen tauschen. Wann Sie lesen, ob in Gesammt- oder Classensitzung weiß ich freilich nicht, ist es aber nicht in den Herbstferien, so ist es mir gleich. Sie würden dann am 1 Juni lesen. Die Cur scheint mir zu bekommen, angreifend ist sie freilich mehr als ich dachte, u. auch leichte wissensch[aftliche] Lektüre kann ich nur selten zur Hand nehmen. Mit herzlichem Gruß von Haus zu Haus der Ihrige W Dilthey 28 April [18]93 Bad Karlsbad Pension Königsvilla Sollten Sie nicht können, erhalte ich wol bald eine Postkarte von Ihnen, da ich dann doch vielleicht versuchen möchte ob ich es anders arrangiren könnte, obwol das von hier schwer thunlich. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA , Sammlung Darmstädter 2a 1870 (8): Dilthey, 28–29 R. 1 H. Diels: Über das physikalische System des Straton, a. a. O. 2 H. Diels: Über die Excerpte von Menons Iatrica in dem Londoner Papyrus 137, in: Hermes 28 (1893), S. 407–434.

[846] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey      Lieber Freund.

Klein-Oels den 21. Juni [18]93.

Über das Hiesige sind Sie unterrichtet und damit auch, warum ich w ­ enig Muße und Sammlung zum Lesen, Nachdenken und Schreiben gehabt habe. … Meine Bemerkungen über Erdmanns Logik1 können daher nur kurz sein und beziehen sich nur auf p. 1 bis 428. Die Schußlehre habe ich noch nicht gelesen. Überdem fürchte ich zu spät zu kommen. Früheres Schreiben war aber in der That unmöglich. Der Totaleindruck des Buchs wird durch einen Vergleich deutlich. Ich kenne nur ein gleich ödes, lebloses Buch: Scherers Poetik. Die Logik I Erdmanns ist im Wesentlichen rein formal, schematisch. Er unterscheidet zwar © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

402

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

ausdrücklich seine Logik von der formalen, indem er die Bestimmung dem Vorstellungsinhalte entnimmt. Methodologisch aber macht die Provenienz keinen Unterschied. Gegeben, ein vorhandenes Inventar, sind ihm Vorstellungen, welche nach der todten Vorfindlichkeit als Dinge, Vorgänge, Beziehungen bestimmt sind. Die innere Differenz dieser Vorstellungsinhalte bleibt außer Betracht, weil von aller Psychologie, von aller psychologischen Pro­ venienzbestimmung abgesehen wird. Diese negative Stellung zur Psychologie ist die Marke methodologischer Metaphysik. Daran ändert nichts die skeptische Reservation bezüglich der unabhängigen Wirklichkeit und bezüglich ‚des Transzendenten‘. Diese Zurückhaltung bleibt ein metaphysisches Separat­ votum, nur daß vielleicht die Entfernung von der Frische der Wirklichkeit aesthetisch die scholastische Blässe erklärt. Eine unwirkliche oder wenigstens problematische Ontologie verbleibt als Basis. Sie ist die Grenze aller Analysis, die darum rein okular und formal bleibt. Der Ausgangspunkt der großen rational-mechanischen Logik ist beibehalten – aber des Geistes entkleidet. Die ‚Vorstellungen‘, wobei zwischen Vorstellung und Anschauung, Bild und Begriff gar nicht unterschieden wird, denn Erdmanns Inbegriffe sind nur quantitativ, nicht generisch weil nicht genetisch bestimmt, sind das Material, wie für die rationalen Mechaniker. Aber hier bei Erdmann ist das Material das Bestimmende, während dort die Bestimmung der geistigen Synthesis zuviel. Hier tritt das moderne pathologische Moment zu Tage, der Zusammenhang mit der sensualistischen Naturwissenschaft. Erdmann leugnet alle Synthesis, indem er sie als Ableitung unvollständig gegebener Merkmale faßt, cf. p. 121. Gegeben ist eben Alles und zwar als Vorstellungsinhalt  – und als Vorstellungs- resp. Denknothwendigkeit. Die letztere Gegebenheit enthält: das Identitätsverhältniß als maßgebend für Vorstellen und Denken (Denken gleichbedeutend mit Urtheilen und Schließen genommen) und das Gesetz des Widerspruchs als giltig für das Denken allein. Diese verschiedenartigen Gegebenheiten sind einfach nebeneinandergestellt, nicht anders wie bei Kant außeinander, nur im Effekt verbunden. Der faustische Versuch einer Herleitung der beiden intellektuellen Gegebenheiten wird schulmeisterlich abgewiesen, weil es an jedem historischen Verständnisse fehlt. Die außerordentlich reiche litterarische Bezugnahme ist stets eine todte philologische. Deutlich tritt bei der Anziehung Lockes, bei der billigen Kritik Booles jenes Manko zu Tage. – Betrachten wir die Stellung, welche Erdmann der Logik zur Erkenntnißaufgabe giebt. Das Urtheil ist dem Verfasser die durch den Satz sich vollziehende, durch die Inhaltsgleichheit der materialen Bestandtheile bedingte, in logischer Immanenz vorgestellte Einordnung eines Gegenstandes in den Inhalt eines anderen, pag. 262. ‚Das Urtheil vollzieht sich durch den Satz‘ drückt nur unvollkommen den Sinn des Verfassers aus. Der einzige Inhalt des Urtheils ist Explika© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

403

tion und zwar nur sprachliche, p. 290. Urtheil ist also nichts als Aussage, wenn auch nicht jede Aussage Urtheil. Urtheil ist sonach dem Wesen nach ein rhetorisches Gebilde, es führt über den Inhalt des Subjekts nicht hinaus. Die Subjektsvorstellung ist Inhalt und Maß. Man kommt mit dem Urtheile nicht weiter. Danach kann eine Erzählung nur eine Nebeneinanderstellung von Subjektsinhalten dem Wesen und Inhalte nach sein. Das Urtheil verwandelt bloß verbal das Zusammen in ein Nacheinander, das Geschlossene in eine Reihe. Ist nun aber Urtheil das ausschließliche Erkenntnißmittel, dann ist alle Erkenntniß gegenüber der Wahrnehmungs- und Erfahrungsgegebenheit verbal, rhetorisch. Die Naturerkenntniß, die dem Verfasser besonders präsent ist, nach den gewählten Beispielen zu urtheilen, ist sonach in dem Fortgange vom Wahrnehmen zum Erfahren (Abstraktion) gelegen, kein Urtheilsergebniß. Dem entsprechend ist die logische Nothwendigkeit zum Zwange degradirt. Sie hat keinen inneren Bezug. Sie folgt aus dem Satze des Widerspruchs. Aus der Controlle wird auf die Provenienz geschlossen, cf. pag. 373. Undenkbarkeit wird bald darauf mit der Unmöglichkeit der Verbindung identifizirt. Wie denn bei scheinbarer, distinktionssüchtiger Genauigkeit die Termini: unmöglich, unvollziehbar, nothwendig unvermeidlich, sicher  – wahrscheinlich, wahr  – wahrscheinlich etc. durcheinander geworfen werden. – Auf dem Gebiete des Thatsächlichen verbleibt somit die logische Leistung des Urtheilens. Der Gedanke daß es sich um einen Rechtsgrund handelt, ist von vorn herein abgewiesen. Die Thatsächlichkeit entscheidet über die Richtigkeit, und richtig und wahr bezeichnen dasselbe. Die Logik hat keinen spezifischen Werth mehr. – Hätte ich Zeit, so würde ich dem Gange des Buches folgend mein Urtheil und meinen Widerspruch bei jedem Paragraphen, beinahe bei jeder Nummer geltend machen. Aber zu der Abfassung einer ‚Gegenlogik‘ gehört weit mehr Zeit als Sie mir gesetzt haben. Ich kann daher mit flüchtigem Griffe nur weniges Einzelne herausnehmen: Gattungen und Arten werden wie Gegebenheiten ohne Weiteres eingeführt. Ihre spezifische Differenz wird mißkannt, ein Vorwurf der allerdings ungefähr alle bisherigen Lehrbücher der Logik trifft. Aber eine neue Logik ist doch auch darauf anzusehen, ob sie etwas Neues bringt. Zusammenhängend hiermit ist der Vorwurf der völligen Mißkennung des inneren Werthunterschiedes von Subjekt und Prädikat. Beides ‚Vorstellungen‘ nur nach dem Orte im Satze unterschieden. Damit basta! Schon damit ist gesagt, daß2 ein Mehres und Eindringlicheres als bisher nicht gegeben werden kann. Die Annahme einer positiven Abstraktion, die mit unreinen tropischen Ausdrücken wie Verschmelzung, Verdichtung operirt, ist sachlich nicht begründet, nur ein Postulat einer wissenschaftlichen Voreingenommenheit. Abstraktum wird durchgängig mit Allgemeinem Unbestimmten identifizirt. Dies wie die dogmatisch auftretende Ansicht wonach das Continuum von dem © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

404

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

Diskretum abgeleitet sei, ist lediglich eine Folge bestimmter allgemeiner, historisch bedingter Denkstellung. Man lese und staune, p. 113 § 21: die psychologische Grundlage unserer Stetigkeitsvorstellungen sind die Vorstellungen erfüllter Räume und Zeiten. Da wird der Nonsens recht deutlich: eine Vorstellungslehre zu geben ohne vorher das Problem der Verräumlichung angefaßt zu haben. Aber problematisch ist dem Verfasser nichts als das rhetorisch Problematische. Bei der Gelegenheit wird in der Nachfolge Anderer von dem Verfasser auch ‚Unbestimmt‘ und ‚Unendlich‘ konfundirt. Über Nothwendigkeit eine herausgegriffene Stelle: p. 402 folgert Verfasser aus der Nothwendigkeit eines Gliedes der Disjunktion die gegenseitige Ausschließung der Glieder. Es folgt aber natürlich daraus nicht das Verhältniß der Gegensätzlichkeit, die gegenseitige Ausschließung, sondern nur die Unmöglichkeit der Giltigkeit des anderen Gliedes. – Die Reichhaltigkeit der Beispiele ist eprouvant.3 Sie steht in geradem Verhältnisse zu der Ärmlichkeit der Gedanken. Eine Menge der Beispiele betrifft das Rhetorische, nach meiner Ansicht gar nicht das Logische. Ich habe mich daher im Allgemeinen enthoben der Prüfungsmühe. Nur weniges Einzelne greife ich heraus: Allgemeingiltig, weil allgemein gewiß und denknothwendig ist das ‚Urtheil‘: ‚Burg Giebichenstein liegt an der Saale‘, cf.  pag. 6.  Zur Verdeutlichung des übrigens ganz falsch bestimmten Unterschiedes zwischen Allheit und Ganzheit die Beispiele: ‚Alle Bäume dieses Waldes sind Eichen‘ und ‚der ganze Wald ist sein Eigenthum‘, wo in dem zweiten Satze auch über das Eigenthum des in dem Walde befindlichen Wildes ausgesagt sein soll! Der zweite Satz hätte lauten müssen: ‚Dieser ganze Wald besteht aus Eichen‘, wo denn das Beispiel aufgehört hätte beweiskräftig zu sein. Doch Sie werden ermüden und ich ermüde. – Das Buch hat nicht genug Schwergewicht um bei der Abfassung einer Logik berücksichtigt zu werden. Es kann ganz beiseite bleiben. Es ist wohl behufs eines Lehrstuhls geschrieben. Ob dieser Effekt abwendbar ist freilich sehr fraglich. Günstig für diesen Effekt ist, daß es nicht gelesen sondern mit Hilfe des Registers höchstens eingesehen werden wird. Überdem erkennen und empfinden Wenige die Gefahr radikaler Abtrennung ‚theoretischer und praktischer Weltanschauung‘, eine Abstraktion, mit der auch Erdmann sich salvirt.4 Nehmen Sie mit diesem Wenigen und Eiligen vorlieb. Wie schon anfänglich gesagt: Wäre mehr Zeit gewesen und bei uns der Unglücksfall5 nicht eingetreten, ich hätte Ihnen ein in sich zusammenhängendes und umfangreicheres Promemoria6 geschickt. Leben Sie recht wohl, kämpfen Sie ohne Verstimmung, mit dem Gefühle selbsteigener souveräner Freiheit. In Treuen der Ihre Yorck. p. 11[:] Identifikation von Erkenntnißtheorie und Metaphysik! © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Gustav von Schmoller

405

Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 106. 1 B. Erdmann: Logik. Bd. 1: Logische Elementarlehre. Halle 1892. 2 In BDY: „das“. 3 Bedrückend, ermüdend. 4 Im Sinne von: retten. 5 Nicht zu ermitteln. 6 Denkschrift, Merkzettel.

[847] Dilthey an Gustav von Schmoller [Juni 1893]

Lieber Freund,

Nach nochmaliger Überlegung möchte ich Sie doch nochmals herzlich bitten, von einer Bezugnahme auf den Brief Haym’s1 absehen zu wollen. Nach meiner festen Überzeugung, für welche ich einstehe, würden durchgehends die in der Psychologie sachkundigen Fachgenossen außer Wundt Stumpf für den hervorragendsten heutigen deutschen Psychologen erklären. Er ist sicher eine Zierde unserer Universität. Daher habe ich mich nur schwer in der Richtung eines Vorschlags nicht auf ihn allein, sondern nur in erster Linie entschieden. Die Mittheilung von Äußerungen, welche den thatsächlichen Mangel an Stumpf, den wir ja in Sitzung u. Bericht hervorheben werden, in eine grelle Beleuchtung rücken, würde nach meiner Ansicht sachlich falsch accentuiren, und wenn ich mich Ihnen gegenüber gern freundschaftlich vertraulich über die verschiedenen Personen ausgesprochen habe, so würde mir eine solche Aussprache der Commission gegenüber sehr schwer fallen und mich in meinem eventuellen künftigen Verhältniß zu einem nächsten Fachkollegen sehr präoccupiren.2

Herzlich der Ihre Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL G. von Schmoller, Nr. 119, Bl. 224–225. 1 Nicht überliefert. – Der mit D. befreundete Philosoph und Literarhistoriker Rudolf Haym (1821–1901). 2 Voreingenommen oder befangen machen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

406

Ludwig Delbrück an Dilthey

[848] Ludwig Delbrück1 an Dilthey

Sehr geehrter Herr!

Berlin 30. Juni 1893 Mauerstr[aße] 61⁄62 Tr[eppe].

In dem 4ten Bande des von Ihnen herausgegebenen, von meinem Groß­vater Prediger Jonas2 vorbereiteten Lebens Schleiermachers ist auf Seite 366 und den folgenden eine Anzahl von Briefen meines Großonkels Professor ­Ferdinand Delbrück 3 abgedruckt. Ich erlaube mir hierdurch die ergebene Anfrage, ob Sie mir diese Briefe wohl eine kurze Zeit im Original überlassen würden. Soviel ich weiß befindet sich der ganze Schleiermacher’sche Nachlaß noch in Ihren Händen. Ich bitte die Bemühung zu entschuldigen und sage Ihnen im Voraus meinen verbindlichen Dank. In größter Verehrung sehr ergebenst Ludwig Delbrück. Herrn Professor Dr W Dilthey Burggrafenstr[aße] 4II Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 k, Nr. 4. 1 Ludwig Delbrück (1860–1913): Bankier; seit 1886 Teilhaber des Bankhauses Delbrück, Leo & Co. 2 Der Schwiegersohn und Nachlassverwalter Schleiermachers Ludwig Jonas (1797–1859). 3 Johann Friedrich Ferdinand Delbrück (1772–1848): Philosoph und Rhetoriker; 1809 a. o., später o. Prof. für Philosophie in Königsberg, 1818 o. Prof. für Rhetorik in Bonn. – Vgl. D.: Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. Bd. 4. Vorbereitet von L. Jonas. Hg. von W. Dilthey. Berlin 1863, S. 366–383.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

407

Dilthey an Max Dessoir

[849] Dilthey an Max Dessoir1 [1. Juli 1893]

  Lieber Freund.

Eben dies eingelaufen. Wissen Sie sicher, dass wir nichts haben, so bitte ich es zu schreiben.2 Andernfalls würden Sie mich verbinden, wenn Sie Mittwoch oder Donnerstag Nachmittag nach vorheriger Anzeige durch Karte kämen und bei mir recherchierten. Könnten Sie bei dieser Gelegenheit meiner armen Bibliothek sich etwas annehmen, so wäre ich Ihnen sehr dankbar. Eben überlege ich, dass Sie verreisen wollen. Sie finden mich also morgen Nachmittag ebenso bis um 5 Uhr, wo ich Sitzung habe.

Mit herzlichem Gruss der Ihrige Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; Diktat D.s von der Hand Clara D.s, geschrieben auf dem von L. Delbrück empfangenen Brief [848]. 1 M. Dessoir ist vermutlich der Adressat dieses Briefes. – Er habilitierte sich 1892 in ­ erlin; 1892–1897 lehrte er als PD, blieb aber seinem alten Lehrer treu und erledigte MitB arbeiter- und Hilfskraftarbeiten für ihn. 2 D. nimmt hier Bezug auf das vorangegangene Schreiben L. Delbrücks vom 30. Juni 1893.

[850] Dilthey an August Schmekel 1   Lieber Herr Doktor,

[Juli / August 1893]

Es thut mir herzlich leid daß in meiner Ermun­terung an Sie, den Aufsatz für die Habilitation lieber etwas leicht zu nehmen und dem Zweck entsprechend rasch zu beenden, ein Anlaß zu schmerzlichen Erwägungen für Sie gelegen hat. Meine Ansicht war gerade Sie rasch in eine Situa­tion, welche Ihnen die Bewältigung Ihrer Lebensschwierigkeiten leichter machen würde, vorwärts zu bringen. Gerade indem Sie nun mit einem Vertrauen für das ich herzlich © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

408

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

dankbar bin, in diese Lebensschwierigkeiten mir Einblick geben, kann mich das nur in meinem Streben in dieser Richtung2 bestärken. So bin ich denn sehr froh daß Sie bis Beginn des nächsten Semesters fertig sein werden, für dieses ist es ja doch zu spät geworden. Wollen Sie mit mir Ihre Arbeit noch besprechen, was mich sehr freuen wird, so thun Sie es ja sobald der Stand derselben das erlaubt, denn ich weiß nicht ob und wann ich verreisen werde, eine Woche bin ich gewiß noch hier. Also auf Wiedersehen, ich lege den Biblio­thekszettel bei.

Mit bestem Gruß d[er] Ihrige W. Dilthey

Original: Hs.; UB Greifswald, Dilthey an Schmekel, Sign.: 4° Ms 500. 1 August Schmekel (1857–1934): klass. Philologe und Philosophiehistoriker; 1885 Promotion in Greifswald, 1893 Habilitation in Berlin, 1901 Dozent, 1906 a. o. Prof. in Greifswald, 1921 Ernennung zum persönlichen Ordinarius. 2 Im Original ist hiernach „nur“ wiederholt.

[851] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff 18.VIII.18931

  Hochverehrter Herr Geh[eime] Rath

Nächsten Montag oder Dienstag langen wir Abends in München an, wollen folgenden Tags wegen Zeitmangels in Wörgl2 Stumpf sprechen, dann nach Gastein weiter gehen. Haben Sie für mich irgend welche Befehle, so würde ich bitten, nach München, postlagernd, zu Montag Abend mir diese zukommen zu lassen, da wir dann Dienstag nach 10 Uhr Vormittags weiter reisen. Sollten Sie mir inzwischen nach den 15. geschrieben haben, so ist leider diese Benachrichtigung nach Gastein schon weiter gegangen. Also bitte etwaige Befehle umgehend München postlagernd, späteres dann Gastein postlagernd. Mit den besten Grüssen und Empfehlungen von Haus zu Haus

der Ihrige Wilhelm Dilthey3

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

409

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

Original: Hs.; Postkarte; Diktat D.s von fremder Hand; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, B Nr. 29, Bd. 1, Bl. 131–131 R. 1 Im Original: Datumsnotiz von fremder Hand. 2 Stadt im Bezirk Kufstein / Tirol. 3 Im Original eine Notiz Althoffs: „Geantw[ortet]: weitere Nachr[icht], sobald sich die Dinge geklärt hätten; in 8 Tagen hoffte ich Stumpf zu sehen. A[lthoff] 20/8.“

[852] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey [August 1893?]1 … Diese ungefähr wollte ich auseinandersetzen. Es ist wenigstens ein positiver Gedanke und Vorschlag aus der Sackgasse herauszukommen. – Gestern und vorgestern abend habe ich die Faustaufführungen gesehen. Der Gedanke der Darstellung des 2. Teiles durchaus verfehlt. Gelesen habe ich zu meiner Freude den größten Teil der Hypatia.2 Ich empfehle das schöne Buch zum Vorlesen. Zum Denken bin ich weiter nicht viel gekommen. Aber die Lust fängt wieder an sich zu regen. – Eben war Erne3 hier. Von gemeinsamen Bekannten habe ich noch keinen gesehen. Die Hitze beschränkt auf das Zimmer. Hoffentlich geht es bei Ihnen wieder gut und Ihre Frau ist wieder auf und munter. Bitte sagen Sie meine besten Grüße. Wenn Sie mir ein Wörtchen schreiben wollen, so bitte ich nach München zu adressieren, postlagernd. Guten Morgen und Adio Treu ergeben der Ihrige Yorck Original: nicht überliefert; Brief-Fragment; Erstdruck: Gründer, S. 355 f. 1 Die Datierung wurde von K. Gründer übernommen. 2 K. Gründer merkt an: „Charles Kingsley: Hypatia or New Foes with an Old Face. London 1833 u. ö. Dt. Übers. von Sophie von Gilsa. Leipzig 1858 (besprochen von Dilthey in der Preußischen Zeitung im November 1859). Diese Übers. durchgesehen erneut Halle 1891. Eine andre Übers. v. Helene Lobedan mit Illustrationen von W. Weimar, Berlin 1892. – Der Roman ver­k leidet die Kirchenkritik der englischen christlich-sozialen Reformbewegung in eine Erzählung aus dem 5. Jahrhundert.“ 3 Ernst von Wildenbruch. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

410

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

[853] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey [Herbst 1893]1 … Hier ein großer Kreis. Heute Nachmittag treffen Veronika mit ihrem Manne und Kindern2 ein. Kalckreuths in Höckricht.3 Auch wir haben hier täglich Regen u. in Folge dessen eine sehr geschädigte und mühsame Ernte. Ich freue mich der mich umgebenden Jugend, die wie der Frühling wirkt. Wissenschaftlich bin ich noch immer todt. Ich spüre keine Lust wissenschaftliche Bücher in die Hand zu nehmen. Das Denken bewegt sich im Zirkel und die Leute erscheinen mir wie die Fliegen, die immer wieder an die Glasfenster sich stoßen, bei dem Versuche hinaus und weiter zu kommen. Es muß eben einer das Fenster aufmachen, wozu aber viel Arbeit und Muße gehörte. Und nun leben Sie recht wohl und gesunden Sie zu neuer Kraft und alter Frische. Grüßen Sie mit gleichem Wunsche die Ihrigen. Treulich der Ihre Yorck. Das jüngste Buch von Herrmann gelesen.4 Er ist der Johannes der R ­ itschlschen Schule. Die harte Partikularität des Standpunktes hat Monotonie zur Folge. Es fehlt die Tiefe des Erlebnisses. Original: Hs.; Brief-Fragment; ABBAW, Ritter-NL , Nr. 28, Bl. 5–6; Erstdruck: Gründer, S. 356. 1 Die Datierung wurde von K. Gründer übernommen. 2 Veronika von Klitzing, geb. Gräfin Yorck (1867–1959), war seit 1890 verheiratet mit Henning von Klitzing (1859–1927). Sie hatte zwei Stiefkinder, geb. 1885 und 1886, und ein eignes Kind: Gerhard Kaspar Klemens Paul (1891–1976). 3 Bertha und Leopold von Kalckreuth lebten seit 1890 auf dem seit 1869 der Familie Yorck gehörigen Nachbargut Höckricht. 4 Johann Georg Wilhelm Herrmann (1846–1922): ev. Theologe; 1879 o. Prof. in Marburg.  – Der Verkehr des Christen mit Gott, im Anschluß an Luther. Stuttgart 1886, 2. Aufl. Stuttgart 1892.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

[854] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

  Sehr verehrter Herr Geheime Rath,

411

Bad Gastein Hôtel Bellevue 6. oder 7. Sep[tember] [18]93.1

Meinen ergebensten Dank dafür daß Sie mich mit dem Gang der so wichtigen Angelegenheit bekannt erhalten. Stumpfs haben uns hier in Gastein besucht. Ich fand ihn munter, ganz in seinen Arbeiten, er gefiel allgemein. An seiner Frau2 fand ich eine Verbündete. Der Moment ist nach der Art wie Hertling3 ihn dauernd von der Prüfungscommission ausschließt etc., sehr günstig. Ich sprach mit ihm in dem von Ihnen gewünschten Sinne; er will nichts Unmäßiges, andrerseits liegt in seiner Natur und seiner derzeitigen Lage, daß er eine gewisse Sicherung seiner pecuniären Situation braucht. Wie man in Baiern ihm entgegenkommen wird, wußte er selbst nicht vorauszusagen: ein Moment bildet, daß er männlich dem Eintritt Hertlings in die Akademie ganz offen entgegengetreten ist und ihn gehindert hat. Für seinen Vorlesungserfolg ist zu erwägen: kein Theolog hört bei ihm; für die Juristen ist durch einen Coup Brentano’s,4 der Stumpf sehr gekränkt hat, die Nationalökonomie in die Philosophie in Bezug auf das philosophische Zwangscolleg hineingesetzt und da der Nationalökonom den Juristen examinirt, tritt dieser nun natürlich in die Stelle des Philosophen; die Zuhörer der philosophischen Fakultät aber werden von Hertling examinirt. Trotzdem hatte Stumpf das letzte Mal in der Psychologie 90 dauernd fleißige Zuhörer: so ergiebt sich daß gerade für dieses Hauptcolleg, zumal wenn es in Berlin mit Demonstrationen u. Experimenten ausgestattet werden kann, ein durchgreifender Erfolg vorausgesehen werden kann. Von der Einrichtung des Laboratoriums hat St[umpf] eine sehr besonnene Ansicht, die Zeller zu besondrer Genugthuung gereichte. In der Hauptsache hat sich mein Eindruck noch bedeutend verstärkt: dieser von allen Naturforschern anerkannte naturwissenschaftliche Philosoph u. Psychophysiker ist zugleich ganz erfüllt von der höheren Würde des Menschen u. dem höheren Zusammenhang der Dinge. So ist er für jede Regierung, welche diese höheren Ansicht erhalten und aufbauen will, einfach unersetzlich u. unschätzbar. Im einträchtigen Zusammenwirken mit mir wird er erst zur vollen Wirkung gelangen. So folge ich Ihren Verhandlungen mit höchster Spannung.5 Über die Sache Paulsen6 wird es wegen der vielen zu erwägenden Momente besser sein mündlich in Berlin sich auszusprechen.

In unwandelbarer Verehrung der Ihrige Wilhelm Dilthey

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

412

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

Original: Hs.; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, Nr. 118 Philosophen (Beurteilungen), 1883–1906, Bl. 73–74 R. 1 Im Original: Datumseintrag von fremder Hand. 2 Hermine Stumpf, geb. Biedermann (1849–1930), seit 1878 mit C. Stumpf verheiratet. 3 Georg von Hertling (1843–1919): Politiker und Philosoph; 1880 a. o. Prof. in Berlin, 1882 o. Prof. in München; 1875–1890 und 1896–1912 Mitglied des Reichstags, 1912 Ministerpräsident von Bayern, 1917 Reichskanzler und preuß. Ministerpräsident. 4 Der Nationalökonom Lujo Brentano. 5 Für den fast 80jährigen E. Zeller, der sich im Jahre 1894 emeritieren lassen wollte, wurde ein Nachfolger gesucht. Es sollte ein Psychologe und Philosoph sein. In die engere Wahl wurden gezogen: C. Stumpf, B. Erdmann, H. Ebbinghaus und G. E. Müller. D. setzte sich in der Berufungskommission und bei Althoff sehr für die Berufung Stumpfs ein. Diese erfolgte am 4. Dezember 1893. Ostern 1894 kam Stumpf als o. Prof. nach Berlin. 6 F. Paulsen war seit 1878 a. o. Prof. der Philosophie und Pädagogik in Berlin.

[855] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Hochverehrter Herr Geh[eime] Rath,1 Nehmen Sie meinen von Herzen kommenden Dank für das Vertrauen, das Sie mir in dieser ganzen Angelegenheit schenken. Selbstverständlich bin ich gern bereit nach München zu gehen. Indeß erhalte ich eben von Stumpf einen Brief,2 nach welchem er nicht weiß, wann er den Minister nochmals sprechen wird und sich von Ihnen weiteren Ausstand erbitten will. Zugleich aber erweckt dieser Brief mir Bedenken, ob eine briefliche Darlegung nicht dieser Reise vorzuziehen sei. Stumpf scheint mir schon einen übermäßigen Begriff von dem Werth zu haben, der auf ihn gelegt werde, und mein Kommen würde diesen steigern. Zunächst habe ich ihn daher lieber brieflich ermahnt, das Markten und Verhandeln zu endigen, das nach dem vornehmen Auftreten von Berlin aus ihm gegenüber nicht am Platze sei. Gewiß ist die Geldfrage, wie Sie herausheben, ihm nur ein äußeres Entscheidungsmittel bei seinem inneren Kampfe, ob seine Kraft den Universitätsanforderungen und der Förderung seines großen Werkes zugleich gewachsen sei. Peinlich gewissenhaft wird und muß er diese Frage bei sich auskämpfen und sich klar werden ob er seine dortigen Auf­ gaben voll übernehmen kann. Nur wenn er nach eigener gewissenhafter Prüfung für sich zu diesem Ergebniß kommt, kann Segen in dieser Berufung sein. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

413

Ich habe also ganz in Ihrem Sinn an Stumpf geschrieben,3 von jedem weiteren Verhandeln und Markten scharf abgemahnt, ihn auf die inneren Gründe verwiesen. Für den Fall von Anstößen habe ich ihm eine Zusammenkunft vorgeschlagen. Ich habe aber dabei doch das Gefühl, daß wenn er selbst sich vor der großen u. schönen vor ihm liegenden Aufgabe scheut, es kaum rathsam ist, gegen diese innere Stimme in ihm etwas zu thun. Sollte er ablehnen, was ich nicht glaube, so habe auch ich sehr gutes Zutrauen sowol zu Elias Müller als zu Lipps, zumal nach der Logik des lezteren,4 die ich hier durchlese. Zurückkehren werde ich wol ziemlich spät da ich durch den verspäteten Schluß meiner Vorlesung und dann das Fertigstellen einer umfangreichen Abhandlung erst spät abgereist bin, dazu mir Arbeit für die Reise mitgenommen habe. Auch ist die Schlaflosigkeit meiner Frau leider immer noch fortdauernd. Wir sind jetzt erst 14 Tage hier, denken etwa in einer Woche weiterzureisen.

Mit meinen ergebensten Empfehlungen der Ihrige Wilhelm Dilthey

Gastein, Bellevue 12 September [1893]. Original: Hs.; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, Nr. 118 Philosophen (Beurteilungen), 1883–1906, Bl. 75–76 R. 1 Im Original: darüber die Notiz Althoffs: „Geantw[ortet]: besten Dank, ganz einverstanden, wir wollen ihn also ruhig gewähren lassen. A[lthoff] 16⁄9.“ 2 Nicht überliefert. 3 Nicht überliefert. 4 Der Philosoph und Psychologe Theodor Lipps (1851–1914). – Grundzüge der Logik. Hamburg 1893.

[856] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Rigi-Scheidegg 22 Sept[ember] [18]93 Hochverehrter Herr Geh[eime] Rath, ergebensten Dank für Mittheilung und Brief.1 Ich habe d[en] Eindruck daß St[umpf] in M[ünchen] bleibt. Wir sind © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

414

Dilthey an Ludwig Stein

für eine Woche auf dem Rigi (Rigi-Scheidegg). Mit den ergebensten Empfehlungen an Ihre Frau Gemahlin verehrungsvoll Ihr W. Dilthey Original: Hs.; Postkarte; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, Nr. 118 Philosophen (Beurteilungen), 1883–1906, Bl. 77–77 R. 1 Nicht überliefert.

[857] Dilthey an Ludwig Stein Rigi-Scheidegg 26 Sept[ember] [1893] Lieber Herr Kollege, ich sitze hier oben auf Rigi-Scheidegg, in tiefer Ruhe, in Nebel u. Schnee, schreibe ein wenig Systematisches zur Abwechselung. Denke hier bis Ende des Sept[ember] zu bleiben. Von meinem Archivbeitrag ist nun die Revision seit 2 Tagen in die Druckerei zurückgekehrt.

M[it] b[e]st[em] Gr[uß] Ihr W. Dilthey

Original: nicht überliefert; Hs.; Postkarte; Fotokopien der Originale: Dilthey-Forschungsstelle im Institut für Philosophie I der Ruhr-Universität Bochum.

[858] Max Dessoir an Dilthey Hochverehrter Herr Professor,

[1.10.1893]1

Meinem gestrigen Brief 2 lasse ich gleich eine Karte folgen, aber anderen Inhaltes: Ich finde soeben in der Zeitschr[ift] „Zukunft“ Juli d[es] J[ahres] einen Aufs[atz] von Ola Hansson „Vom kuenstlerischen Schaffen“3 u. ferner © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

415

Dilthey an Ludwig Stein

einige, wenngleich unbedeutende Bemerkungen ueber die Eigentuemlichkeit der dramat[ischen] Phantasie in Ludwig Eckardts4 Vorschule der Aesthetik 1865 II, 362 f.

In Verehrung der Ihrige Max Dessoir

Original: Hs.; Postkarte; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 159, Bl. 40–40 R. 1 Datierung nach Poststempel. 2 Nicht überliefert. 3 Der schwed.-deutsche Schriftsteller Ola Hansson, ein Freund M. Dessoirs, lebte zwischen 1890 und 1893 in Berlin. – Vom künstlerischen Schaffen, in: Die Zukunft 3, Nr. 27– 39 (1893), S. 321–325. 4 Ludwig Eckardt (1827–1871): österr. Schriftsteller. – Vorschule der Aesthetik. Zwanzig Vorträge. 2 Bde. Karlsruhe 1864–1865.

[859] Dilthey an Ludwig Stein d[en] 5 Oct[ober 1893] Lieber Herr Kollege, vermelde daß ich wegen Erkrankung m[einer] Frau immer noch auf Rigi-Scheidegg festgehalten bin, bis zum 10. Oct[ober] mindestens, was ich denn durch einsamst stillen Fleiß in m[einer] systematischen Arbeit gutzumachen suche.1 Vielleicht tritt schönes Wetter ein u. Sie machen e[inen] Ausflug hierher? Telegraph Luzern von da Telephon!

Mit herzl[ichem] Gruß d[er] Ihre W. Dilthey

Original: nicht überliefert; Hs.; Bilder-Postkarte Rigi-Scheidegg; Fotokopien der Originale: Dilthey-Forschungsstelle im Institut für Philosophie I der Ruhr-Universität Bochum. 1 D. arbeitete an der Fortsetzung der Einleitung und konzipierte den systematischen Teil  des 2.  Bandes. Im Nachlass D.s sind diese Manuskripte hinterlegt unter dem Titel Grundmanuskript zu Band II der Einleitung in die Geisteswissenschaften (Letzte Darstellung © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

416

Carl Stumpf an Dilthey

aus der Berliner Zeit). G. Misch bezeichnet diese Konzeption als Berliner Entwurf (GS V, S. LIII f., 429). Er datiert sie auf 1890/95 (GS V, S. XXIII). In Band XIX der GS, der diesen sog. Berliner Entwurf wiedergibt, konnte aufgrund einer Notiz D.s (Rigiübersicht) eine genauere Datierung auf den Herbst des Jahres 1893 vorgenommen werden (GS XIX, S. XV, 444, 448). Unterstützt wird diese Datierung durch Äußerungen D.s über seine Arbeit in dem obigen Brief an L. Stein sowie in dem nachfolgenden Brief an Yorck vom 1. November 1893.

[860] Carl Stumpf an Dilthey Lieber Freund!

Berlin, 5. Oktober 1893.

Schweren Herzens habe ich nun meinen Entschluß gefaßt  – an dem Ort, wo wir gemeinschaftlich wirken wollten. Sind mir auch alle Lichtseiten im Uebri­gen hier nur stärker vor die Augen getreten: ich scheitere an der Un­ möglichkeit, die mir ebenfalls nur deutlicher geworden, meine wissenschaft­ liche Lebensarbeit in den neuen Lebensverhältnissen mit der genügenden Concentration, Muße und physischen Frische fortzuführen und zu beendigen. Was ich bis jetzt von der Tonpsychologie1 veröffentlichte, galt mir nur als Vorbereitung der Hauptsache, die in den 2 letzten Bänden und den damit zusammenhängenden sonstigen Publikationen kommen soll. Bei meiner sehr lang­ samen Arbeitsweise kann ich, wenn ich die Kräfte zusammenhalte, doch nicht eher als in etwa 8 Jahren damit fertig zu werden hoffen. Und dabei handelt es sich nicht um ein mehr mechanisches Aufarbeiten, sondern um das Ausprobiren mancher Wege, die Ausgestaltung mancher Ideen, die mir noch nicht vollkommen bestimmt gegenwärtig sind. Ich fühle es, es sind die besten Jahre der Produktion. An Stelle dieser Aufgabe würde nun zunächst die andere, an sich ja auch verlockende, treten, der naturwissenschaftlichen Psychologie hier einen Boden zu erobern und sie in der Art zu pflegen, daß Berlin auch in dieser Hinsicht das Centrum der neueren Bestrebungen würde. Beide Aufgaben mit einander zu vereinigen – das wird mir nicht gelingen. Hätte ich meine Ton­ psychologie schon vollendet, wie gern würde ich dann zuschlagen. Seien Sie überzeugt, ich empfinde diesen Conflikt, über den ich nun so lange und immer intensiver sinne, der mir selbst den Schlaf vieler Nächte geraubt, traurig genug und lasse mein halbes Herz hier zurück, wo man mir in einer unvergeßlichen Weise entgegengekommen ist. Ich besprach mit Althoff die Idee, daß die Leitung des psychol[ogischen] Instituts ganz in andere Hände gelegt und mir nur die theoretischen Vor­lesungen © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Carl Stumpf an Dilthey

417

übertragen würden,2 mit dem Recht, meine eignen Arbeiten mit den Hilfsmitteln des Instituts zu fördern. Und Althoff ist sehr bereitwillig auch darauf eingegangen. Aber die Durchführung würde Schwierigkeiten machen. Ebbing­ haus3 kann nicht neben mir Ordinarius werden, wird also fortkommen. Für ihn müßte ein neuer Extraordinarius berufen werden, der die nöthige Initiative mit den nöthigen technischen und theoretischen Kenntnissen vereinigte und die schwere Verantwortung selbständig zu tragen vermöchte. Wo wäre ein solcher? Wie Sie sich die Sache dachten: Heranziehen von Assistenten, so erscheint sie mir nicht als Erleichterung sondern nur schwerer; ist ja überhaupt das In-Gang-Setzen schwerer, zeitraubender als die Fortführung eines bereits in Blüthe stehenden Instituts. Wie ich mich kenne, würde ich an die einmal übernommene Aufgabe alle Zeit und Kraft daransetzen und darin aufgehen. Sie halten mir vielleicht entgegen, daß ich ja doch in München das Näm­ liche anstrebe. Aber was ich dort unter dem Namen eines psycholog[ischen] Seminars einrichten möchte, ist doch nicht dasselbe. Ich will nur 1) gelegentlich (in den Sommersemestern) Uebungen abhalten, bei denen es nicht in erster Linie auf publikationsfähige Arbeiten, sondern auf bloße Orientierung der Theil­ nehmer, auf Demonstrationen zur Unterstützung der Vorlesung ab­gesehen ist, 2) meine eigenen Studien zur Tonpsychologie unter Mitwirkung geeigneter Schüler durchführen. Dagegen liegt, wie Sie mir schrieben, in der Intention der Fakultät und in der Consequenz ihres Antrages die Gründung eines Instituts nach Leipziger Art; und eine solche Erwartung hegt man offen­bar auch auswärts bei der neuen Berufung. Ich muß gestehen, daß mich dies schon damals, als Sie zuerst davon Erwähnung thaten (bei der vertraulichen Mittheilung des Fakultätsbeschlusses) stutzig machte, ob ich diese Leistung mit meinen sonstigen nächsten Zielen würde vereinigen können. Bücher schreiben, Vorlesungen halten und ein großes Institut leiten – das bringt in unserm Fache, glaube ich, nur Wundt fertig; aber alles leidet auch an den bekannten Mängeln. Ein Chemiker kann 25 und mehr Arbeitskräfte beschäftigen; er giebt ihnen Aufträge, die sie mit Hülfe von Assistenten nach festen Methoden durchführen. Ein Psychologe muß bei dem gegenwärtigen unreifen Zustand der Wissenschaft fast bei jeder einzelnen Arbeit selbst mitthun, weil man hier während der Untersuchung auf die Zulänglichkeit der Methode, auf den Einfluß von Factoren, an die man oft im Voraus kaum denken konnte, jedenfalls oft nicht gedacht hat, ja selbst auf eine Umänderung der Fragestellung Bedacht nehmen muß, und weil alles dieses nur beim Selbstarbeiten zu Tage tritt. Schließlich glaube ich aber auch abgesehen von den Ansprüchen des In­ stituts mein Werk nicht in gleich intensiver Weise hier fördern zu können, trotz der unschätzbaren geistigen Anregungen im Allgemeinen und auch speziell in musikalischer und musikwissenschaftlicher Hinsicht. Die Inanspruch© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

418

Carl Stumpf an Dilthey

nahme durch Prüfungen, Sitzungen u. dgl. wäre doch viel bedeutender; dazu die großen Wege, die auch bei Benutzung von Fahrgelegenheiten viele Zeit absorbiren, die Nothwendigkeit, aus Zeitersparniß möglichst Vieles in unmittel­ barer Folge bis zur Ermüdung zu absolviren u.s.w. In München ist die amt­ liche Thätigkeit außer den Vorlesungen fast gleich Null, in 5 Minuten bin ich in der Universität, kann zu jeder Stunde, wenn ich mich über etwas vergewissern will, einen Sprung in mein akustisches Kabinet machen; ich kann auch immer, wenn ich eine physische Auffrischung brauche, leicht 1–2 Tage in die schönste Natur gelangen. Darin geht es mir wie Helmholtz, si licet parva componere magnis:4 die Ideen kommen mir am besten beim Wandern, beim Steigen über waldige Berge. Wenn das Gehirn eine Ausspannung braucht, während deren es dann gleichwohl von selbst das Letzte und Beste thut, so finde ich sie nirgends besser als in kräftig anregender Luft und im Genuß einer großen Natur. Das ist, in diesem Maße wenigstens, etwas rein Individuelles, und ich weiß ja, daß Andere in Berlin intellectuelle Leistungen vollbracht haben, die himmelweit über den meinigen stehen – aber ich muß eben mit meiner Natur rechnen. Es war mit ein Zweck dieser Reise, mir die äußeren Verhältnisse, in denen ich zu leben hätte, während der Entscheidungstage ebenfalls gegenwärtig zu halten; ich bin darin ordentlich experimentell-psychologisch zu Werke gegangen. Wir haben probeweise eine Wohnung ausgesucht, in der zweckmäßigsten Gegend, in Ihrer Nähe (wenn Sie an Tauentzienstr[aße] 12 vorbeikommen, denken Sie an uns), ich habe von da auf verschiedene Weise den Weg zur Universität gemacht, die disponiblen Spazierwege abgegangen u.s.w. Auf’s Neue mußte ich die ungeheure Entwickelung dieser Stadt bewundern, fand auch den Grunewald nicht übel, und habe den Eindruck, daß ich sehr wohl hier leben, wirken, mich froh und glücklich fühlen könnte, zumal unter so lieben, in aller Weise entgegenkommenden Menschen. Meine Frau könnte es ja ohnedies noch viel leichter. Nur gerade in diesen Jahren der literarischen Produktion wird es bei meiner Eigenart besser in München gehen. Von andren Bedenken (wie von der fatalen Ferienordnung für die Kinder, die uns gerade in den nächsten Jahren empfindlich träfe) will ich nicht reden, da sie doch nicht ausschlaggebend sind, sondern nur hinzukommen. Lieber Freund, es thut mir weh, daß ich Sie nun so enttäusche. Aber Sie glauben mir gewiß, daß ich’s ernst genommen, und können sich denken, was ich in diesen 4 Wochen innerlich durchgemacht habe. Unzähligemale war ich bereits im Geist in der neuen Heimath, und habe mich endlich zu einem Entschluß gewaltsam zwingen müssen. Vor der Abreise hierher war ich ganz nahe daran, anzunehmen, da der dortige Minister noch in letzter Stunde sonderbare Pläne über die zukünftige Gestaltung des Examenswesens angedeutet hatte. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Carl Stumpf an Dilthey

419

Mit den Münchener Zuständen wird es denn auch, darin gebe ich Ihnen vollkommen Recht, für mich vorläufig nicht besser sondern eher schlechter werden. Es ist mir auch bei dieser Gelegenheit nicht geglückt, entscheidende Verbesserungen für das philosoph[ische] Studium durchzudrücken. Mit dem Staatsexamen werde ich wahrscheinlich definitiv nichts zu thun haben. Aber ich kann mich dann eben umsomehr auf die Arbeit werfen, um derenwillen ich jetzt diese glänzenden Aussichten darangebe. Was die Collegien betrifft, so will ich neben der Psychologie nun auch Aesthetik versuchen und hoffe, mit diesen beiden doch eine wachsende Hörerschaft zu finden, die durch keine Examensnoth hineingetrieben wird. Die pecuniäre Lage wird mir verbessert, aber natürlich bleibt sie weit hinter der hier lockenden zurück, selbst wenn ich 2–3000 M[ark] für den Mehrverbrauch von den hiesigen Einnahmen abrechne. Eben dies kann Ihnen zum weiteren Beweis dienen, daß ich nicht leichten Sinns den Entschluß gefaßt habe. Immerhin bleibt ja die pecuniäre Verbesserung und die Erinnerung an die mir von der maßgebensten Stelle, von der Berliner Fakultät, gespendete An­ erkennung als ein lebenslänglicher realer und idealer Gewinn zurück, und wird auch mit immerwährendem Dank gegen Sie, lieber Freund, verknüpft bleiben. Denn ich weiß wohl, daß ohne Sie die Dinge sehr leicht eine andere Wendung hätten nehmen können, ohne daß ich darum den Glauben an mich und meine Bestrebungen herabzustimmen brauchte, den Sie und die Fakultät mir in der wohlthuendsten Weise für mein Leben gestärkt haben. Hoffentlich bleibt aber auch persönliche Freundschaft von dieser Ablehnung unberührt; ich bitte Sie und Ihre liebe Frau darum. Meine Frau ist in diesen Tagen durch Verwandtenbesuche in Anspruch genommen, wird aber der Ihrigen auch baldmöglichst schreiben. Ich muß Althoff noch eine schriftliche Erklärung zusenden, habe mir aber ausgebeten, dies auf Dienstag d[en] l0. verschieben zu dürfen, da ich vorher noch mit dem bayr[ischen] Ministerium das, was zu erreichen ist, festmachen möchte; es wird freilich außer der Gehaltserhöhung fast Nichts sein. Nicht genug kann ich die vornehme, offene und liebenswürdige Art r­ ühmen, mit der Althoff diese Verhandlungen von Anfang bis zum Ende geführt hat. Er sprach natürlich zuletzt auch von dem, was nun geschehen könnte, und ich vehehlte nicht, daß mir Müller5 im Ganzen wohl geeignet scheine (ob er in einen ähnlichen Conflikt mit seinen literar[ischen] Plänen käme, weiß ich nicht, aber das Institut würde gut fahren). Ich beschränke mich indessen auf diese kurze Andeutung mit dem Bemerken, daß ich durchaus vermeiden möchte, Ihren etwaigen sonstigen Plänen in den Weg zu treten. Dies glaubte ich hinzufügen zu müssen, weil Althoff nach seinen früheren Aeußerungen für den Fall der Ablehnung die Berufung einer preußischen Lehrkraft schon © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

420

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

zum Wintersemester im Auge hatte. Ich wollte Ihnen daher doch die Möglichkeit offen halten, Ihren Plan mit Wundt zu realisiren, wie sehr ich dies auch für einen Mißgriff halten würde. Nun wies aber Althoff auf meine allgemeine Bemerkung etwas verwundert darauf hin, daß ja die Fakultät ihm bereits den Weg vorgezeichnet habe, der nun zu betreten sei, und drängte mich zu einer Aufklärung über jene etwaigen sonstigen Plänen zumal er ja ohnedies nichts ohne Sie thun würde. Da sagte ich ihm, daß Sie nun doch an Wundt gedacht hätten. Eigentlich reut es mich, daß ich auch nur soviel gesagt habe, da ich doch gerade den Zweck hatte, Ihnen die Aktion ganz frei zu halten. Aber bei Ihrem Verhältniß zu Alth[off] wird damit auch nichts verdorben sein. Nun leben Sie wohl für heute und bleiben Sie gut Ihrem stets treuergebenen (gez.) C. Stumpf. Original: nicht überliefert; eine handschriftliche Abschrift des Briefes von fremder Hand ist hinterlegt in: GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, Nr. 118 Philosophen (Beurteilungen), 1883–1906, Bl. 112–119. 1 C. Stumpf: Tonpsychologie. 2 Bde. Leipzig 1883–1890. 2 Althoff wollte ursprünglich Stumpf mit dem Aufbau eines psychologischen Instituts beauftragen. Der Plan wurde auf Wunsch Stumpfs nicht realisiert (vgl. hierzu: Gerhardt /  Mehring / Rindert, S. 170). 3 H. Ebbinghaus folgte im April 1894 einem Ruf nach Breslau. 4 Wenn man Kleines mit Großem vergleichen darf. (Vergil: Georgica, IV, 176). 5 Georg Elias Müller.

[861] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Hochverehrter Herr Geheimerath,

1

Rigi Scheidegg 8 Oct[ober] [18]93.

Ergebensten Dank für Ihren gestern Abend erhaltenen Brief,2 mit dem gleichzeitig ein Schreiben Stumpfs3 anlangte, das schön seine Dankbarkeit Ihnen gegenüber aussprach. Da es zugleich seine fortdauernden inneren Kämpfe anzeigte, erlaubte ich mir ihn telegraphisch zu bitten, einen nochmaligen sogleich abgesandten Brief von mir abzuwarten und eventuell unter Berufung auf meinen Wunsch die erforderliche minimale Fristverlängerung nachzusuchen. Ist dies nun, wie zu vermuthen, ergebnißlos, so bin ich ganz mit Ihrer © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

421

Absicht einverstanden, nun mit allen Kräften Elias Müller als den nach Lage der Sachen weitaus geeignetsten möglichen Mann zu gewinnen zu versuchen. Gegen die Wichtigkeit des Gelingens hiervon scheint mir gleichgiltig ob er etwa in dem bevorstehenden Semester noch lese, da ja alle Hauptvorlesungen doppelt auf tüchtige Weise besetzt sind. Ich fürchte bei ihm dieselben Bedenken als bei Stumpf. Gern werde ich dazu beitragen, sie durch jede Art von Entgegenkommen zu mindern. Habe ich nun mit der beschlossenen Ernennung von Paulsen als mit einer Thatsache zu rechnen,4 so darf ich Ihnen nun wol, was ich gern auf münd­ liche Besprechung verschoben hätte, im engsten Vertrauen meine Auffassung der Lage, die sich für mich daraus ergiebt[,] darlegen u. zwei Wünsche daran knüpfen. Das große Ziel, das Berliner philosophische Studium trotz der Gegensätzlichkeit der zusammenwirkenden Personen in Deutschland an die Spitze zu bringen, kann nur erreicht werden, wenn Verständigung über die Vorlesungsgebiete das Zusammenwirken erleichtert. Vertrete ich in der vorliegenden Combination die Geschichte der Philosophie, so scheint mir ein wirklich eingreifendes Wirken für dieselbe daran gebunden, daß ich die allgemeine Geschichte der Philosophie durch höchst regelmäßiges Lesen derselben zu solcher Virtuosität der Darstellung erhöbe, daß darin Berlin etwas für sich hätte. Gern, mit dem Gefühl inneren Berufes widme ich mich der Aufgabe, so die Geschichte des menschlichen Geisteslebens in nuce von den Studirenden mit durchleben zu lassen, sodaß sie zu einem geschichtlichen Bewußtsein der Lage der Gegenwart erhoben werde. Aber welche Aufgabe! Ich lese nominell 5stündig, thatsächlich 6–7stündig diese Vorlesung, nicht nur für mich auch für die Zuhörer fordere ich eine außergewöhnliche Anstrengung. Tritt nun neben diese Vorlesung, die einen über jeden Examenszweck hinausreichenden Aufwand von Zeit und Kraft vom Hörer fordert eine beredte, anmuthige Darstellung der Hauptansichten der wichtigsten Philosophen, wie sie der künftige Gymnasiallehrer oder Geistliche für die Examina und die ihm eingewöhnten nächsten Zwecke bedarf: dann muß ich entweder mich accommodiren5 – und was ich gebe ist nicht mehr was sie nur bei mir lernen können – oder ich muß mein Bestes unter großem Kraftaufwand vor einer Minderzahl geben: ich müßte es müde werden. Nun hat bisher Paulsen Vorlesungen über Geschichte der neueren Philosophie gehalten. Ich denke nicht daran das anders zu wünschen. Allgemeine Geschichte der Philosophie hat er noch nicht gelesen. Es wäre für unser Zusammenwirken von großem Werthe, könnten wir uns dahin verständigen, daß jeder unbeeinträchtigt sein Specialgebiet ausbilde, ich ihm Pädagogik und Ethik ganz überlasse u. nicht mehr berühre, er seinerseits die Vorlesung über allgemeine Geschichte der Philosophie mir ganz überließe. Er © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

422

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

ist ja so viel jünger als ich daß er diese Erweiterung seiner Vorlesungsthätigkeit, wenn er sie überhaupt beabsichtigt, auf die Zeit wenn ich nicht mehr lese verschieben kann. Übrigens habe ich Zeller angesprochen, daß ich ihm selbstverständlich, so lange er noch liest, Winters diese Vorlesung überlasse. Ich könnte diese Darlegung nur Ihnen machen, der mich kennt und sie in ihrem Sinn rein auffaßt: daß ich meiner schwer arbeitenden Individualität in ihrer eigensten Leistung auf dem Katheder Bethätigung ohne Accommodation erhalten möchte. Sie kann auch nur für Sie sein, da sie im zweiten oder dritten Munde leicht mißverstanden würde. Ich würde auch ferner nach meiner Art zu denken, eine Verständigung mit Paulsen in diesem Sinne nicht herbeizuführen suchen, ohne Ihnen davon Mittheilung zu machen u. Ihre innere Beistimmung erhalten zu haben. Wie viel erwünschter wäre mir freilich, wenn Paulsen als der Jüngere und Neueintretende mir damit entgegenkäme. Mein andrer Wunsch geht dahin daß erst nach Erledigung der andren Berufungssache Paulsen’s Ernennung erfolge. Ich leide schon tief unter der Dissonanz mit Zeller die nach so vieljähriger völliger Harmonie aus dieser Berufungsangelegenheit entsprang. Sollte nun was sehr möglich ist M ­ üller ebenfalls ablehnen und die Sache käme an die Fakultät zurück, so kann Paulsen nach seinem intimen Verhältniß zu Ebbinghaus nicht anders als gegen mich für diesen eintreten. Und so würde gleich im Beginn unser ohnehin so schwieriges Verhältniß, daß nur bei difficilster Behandlung sich für die Univer­sität erwünscht gestalten kann, unheilbar verderben. Ganz von der Chance zu schweigen, daß nach einer solchen Streitverhandlung in der Fakul­tät über E[bbinghaus], ich dann mit E[bbinghaus] in derselben Facultät zusammen­sitzen sollte: was nach meinem Gefühl kaum möglich ist.6 Wir stehen vor der Gefahr, nach dem was doch nach dem tief gegensätzlichen Verhältniß zu P ­ aulsen, nach meinem langen offnen Widerstreben gegen ihn zu überwinden ist, Verhältnisse zu schaffen, welche das philosophische Studium in Berlin zerrütten, anstatt es zu gestalten. Ich persönlich trete vor die Gefahr daß mir mein Wirken in Berlin verleidet, vielleicht unmöglich gemacht wird. Schwer liegt mir auch auf der Seele daß die Ernennung von Paulsen doch wahrscheinlich Zeller von Berlin vertreiben wird: ein ungeheurer Verlust. Mit herzlichem Vertrauen habe ich Ihnen ausgesprochen was mich in dieser so wichtigen Angelegenheit bewegt. Mögen Sie nun erwägen, wiefern Sie ihm beistimmen können. Gern hätte ich es auf mündliche Besprechung ganz verschoben. Nun soll es eine solche nur einleiten. Meine Frau ist leider hier erkrankt u. liegt seit einer Reihe von Tagen fest zu Bette, ein paar Tage müssen wir hier noch verweilen, ehe sie reisefähig ist. Dann erst können wir Clara nach Lausanne bringen.7 Wir dachten daher erst zwischen dem 18 u. 20 zurückzukehren, Montag d[en] 23. lese ich dann. Haben Sie aber gegen meine vorläu© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

423

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

fige Darlegung Bedenken u. können ein Handeln in entgegengesetztem Sinne nicht verschieben: so erbitte ich mir hieher, nach Rigi-Scheidegg, ein Telegramm: ich kehre als dann allein sogleich zurück. In treuster Verehrung mit den besten Grüßen meiner Frau an Sie u Ihre Frau Gemahlin der Ihrige Wilhelm Dilthey Original: Hs.; GStA PK Berlin, VI. HA FA und NL , NL Friedrich Theodor Althoff, Nr.  118 Philosophen (Beurteilungen), 1893–1906, Bl.  120–122 R; ein ­Passus des Briefes ist veröffentlicht in: Gerhardt / Mehring / Rindert, S. 166 f. 1 Im Original: darüber von der Hand D.s: „Vertraulich u. persönlich.“ 2 Nicht überliefert. 3 Vgl. Brief [860]. 4 F. Paulsen hatte im Frühjahr 1893 einen Ruf aus Leipzig erhalten. Im November 1893 wurde daraufhin sein Extraordinariat in ein Ordinariat umgewandelt, und Paulsen blieb in Berlin. 5 Angleichen, anpassen. 6 In der Berufungskommisssion zur Wiederbesetzung des Lehrstuhls Zeller, die Anfang 1893 eingesetzt worden war und der neben D. z. B. E. Zeller, H. Diels, H. von Helmholtz und G. von Schmoller angehörten, war man sich bereits am 1. Juli 1893 einig, die Kandi­ daten C. Stumpf und G. E. Müller vorzuziehen und H. Ebbinghaus und B. Erdmann zurückzustellen. Die erste Wahl der Kommission, und vor allem auch D.s, war Stumpf. Nachdem dieser sich im Oktober 1893 zunächst entschieden hatte, den Ruf nach Berlin nicht anzunehmen, kam neben Müller und Erdmann dann doch wieder Ebbinghaus als Kandidat ins Gespräch. Wegen prinzipieller sachlicher Differenzen mit Ebbinghaus versuchte D. dessen Berufung zu verhindern. Aufgrund seines großen Einflusses auf Althoff gelang dies D., und Ebbinghaus ging im April 1894 nach Breslau. 7 D.s älteste Tochter, Clara, sollte in ein Internat in Vevey / Lausanne gebracht werden.

[862] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

Hochverehrter Herr Geheimerath,

Freitag d[en] 13 Oct[ober] [1893] früh

Von Stumpf als Antwort auf meine formelle Mittheilung aus Baden-Baden eine Karte1 mit seiner Adresse: Kaiser Wilhelmstaße 12 u. der kurzen Notiz ‚er glaube nun selbst daß sich Alles machen werde‘. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

424

Clara Dilthey an Dilthey

Von verschiedenen Seiten tritt mir die über die Philosophenkreise weit hinausgehende Spannung u. die ganz allgemeine Überzeugung daß Stumpf weitaus der Erste in diesem Fach sei entgegen. Auch Usener erweist sich als ein Stumpf-Begeisterter. Von seinem Sohn (Physiker) in München2 vernahm er, daß die Mathematiker u. Physiker dort Stumpf mit großem Interesse hören u., was so selten, ihn als Jemanden ansehen, von dem sie für die Prinzipien ihres Fachs zu lernen haben. Er selbst hörte von ihm in der Akademie einen Vortrag über eine griechische musikalische Theorie:3 darin philologisch sichre Beherschung dieses schweren Griechisch bis zu eigenen trefflichen Conjekturen u. divinatorischer historischer Spürsinn. So etwas vereinigt nur ein wirkliches Genie. Baden-Baden läge nun vielleicht Ihrer beabsichtigten Reise noch entsprechender? Ich melde dies nur eilig u. bin bereit sobald Sie mich zu sehen wünschen. In Verehrung d[er] Ihrige Wilhelm Dilthey Original: Hs.; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, Nr. 118 Philosophen (Beurteilungen), 1883–1906, Bl. 123–124 R. 1 Nicht überliefert. 2 H. Useners ältester Sohn Hans studierte damals Physik in München. 3 C. Stumpf: Geschichte des Consonanzbegriffes. I. Theil: Die Lehre im klassischen Alterthum, in: SB der königl. bayer. AdW zu München, philos.- philol. Classe, Sitzung vom 3. Juni 1893. München 1893, S. 303; abgedr. in: Abhandlungen der königl. bayer. AdW. München 1901, S. 1–78.

[863] Clara Dilthey an Dilthey Mein lieber Papa.

Vevey, d[en] 19. Oktober 1893.

Mama hat sich endlich entschlossen, hier zu bleiben, aber es war sehr schwer, sie dazu zu bewegen. Sie wird nun wahrscheinlich morgen nach Clarence1 gehen in ein sehr schönes Hotel mit grossem Garten. Clarence hat den Vorteil, dass dort keine Schwindsüchtigen sind. Doch dazu kann ich Mama durchaus nicht bestimmen, dass sie mich mitnimmt, um sie zu pflegen. Es wäre gewiss meine Pflicht, abgesehen davon, dass ich furchtbar gerne noch eine zeitlang © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Clara Dilthey an Dilthey

425

mit Mama zusammen wäre; aber Mama will durchaus nicht, dass ich, einmal im Pensionat, gleich wieder heraus komme. Es geht Mama auch besser, und ich denke, dass sie sich auch so recht erholen wird. Eben war ich bei Mama, und sie hat mir Deinen Brief 2 vorgelesen. Du musst Dich aber schrecklich plagen, Du armer Papa, mit grossen und kleinen Angelegenheiten. Es ist doch ein Glück, dass Du wenigstens Marie3 hast. Müttchen4 scheint sich ja reizend zu benehmen. Mama möchte nicht, dass Müttchen herkommt. Es ist wunderhübsch hier. Es sind lauter sehr nette Mädchen. Gretchen Benecke ist meine Zimmergefährtin; sie ist riesig nett; auch Grete Hausrat ist sehr nett. Im Ganzen sind wir 7.  Mama hat wegen der Billete nach Erfurt geschrieben; sie bekommt eine Vergütung, wenn sie ein ärztliches Attest bringt. Da will sie morgen einen Arzt consultieren, auch wegen Max, der zwar nicht sehr häufig, aber doch immer noch ab und zu über Herzschmerzen klagt. Auch für den guten Jungen wird es sehr gut sein, wenn er noch hier bleibt; denn er führt hier ein sehr ruhiges Leben ohne jede Aufregung. Bitte, vergiss nicht, dass am nächsten Mittwoch Mama’s Geburtstag ist; ich traue Dir das zwar nicht zu, aber über den vielen Arbeiten und Geschäften, die Du jetzt hast, könntest Du es doch vielleicht vergessen. Ich schreibe Dir am nächsten Sonntag noch eine Karte mit Mama’s Adresse. Wir dürfen nur Donnerstags und Sonntags schreiben, und so hatte ich heut zum ersten Mal Zeit, an Dich zu schreiben; denn am vorigen Sonntag hat Mama mit mir eine Partie nach Schloss Chillon gemacht. Nun lebe wohl, lieber Papa, grüsse Müttchen und Leni recht sehr von mir. Meine besten Glückwünsche zum Geheimrat.5 Deine Clara. P. S. Grüsse auch Marie von mir. P. S. Viel Glück zur Stumpfschen Sache. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 i, Nr. 1. 1 Clarens: Ortsteil von Montreaux am Genfer See. 2 Nicht überliefert. 3 Vermutlich ein Dienstmädchen. Gemeint sein könnte aber auch Useners Tochter ­Marie (1867–1931), die sich derzeit in Berlin aufhielt (vgl. Ehlers, Bd. I, S. 460). 4 Vermutlich ist Katharina D.s Mutter, Clara Püttmann, gemeint. 5 D. wurde 1893 die nicht-akademische Ehrenbezeichnung Geheimer Regierungsrat verliehen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

426

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

[864] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff 22. oder 23.10.18931 Indem ich beifolg[enden] Brief Stumpf’s2 sende erneuert sich mir der Eindruck: womöglich solange St[umpf] noch in Baden ist (bis 2 Nov[ember]) die Sache zum Abschluß zu bringen wäre vom größten Werthe. Den beifolgenden billigen Wunsch berücksichtigen Sie vielleicht gütig mit e[inem] Worte. Dies schriftlich, da ich Ihre werthvolle Zeit nicht wieder be­ anspruchen wollte, bin aber in diesen entscheidenden Tagen stündlich zur Verfügung. In Verehrung u. Ergebenheit

d[er] Ihrige W Dilthey

Original: Hs.; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, Nr. 118 Philosophen (Beurteilungen), 1883–1906, Bl. 129. 1 Im Original: nachträgliche Datierung von fremder Hand. 2 Nicht überliefert.

[865] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Hochverehrter Herr Geh[eime] Rath.

[vor 26. Oktober 1893]

Indem ich mit bestem Dank die Briefe zurück sende, freue ich mich, dass dieselben in Bezug auf die wissenschaftliche Beurteilung mit unserem Berichte vollständig übereinstimmen. Müller ist naturwissenschaftlich universell, verstandesmässig ohne die aus Anschauungskraft quellende Originalität, vor­sichtig mit dem gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Denken fortschreitend. Stumpf ist der genialste Psychologe der Gegenwart und bestrebt, den natur­wissenschaftlichen Geist mit den höchsten Interessen des Menschen in Einklang zu bringen. In diesem tieferen Verhältnis zu Religion und Sittlichkeit steht er unter den naturwissenschaftli­chen Philosophen ganz allein. Dass Stumpf nach solchen Arbeiten, dazu in diesem Semester mit einer sehr schwierigen histo­rischen Arbeit beschäftigt, überarbeitet ist und hier­ © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff und Carl Stumpf

427

unter seine Vorlesungen sehr gelitten haben, muss doch ausgeglichen werden mit der Mittei­lung, dass seine psychologische Vorlesung im vorigen Semester gut besucht war, sein Vortrag, wie unser Bericht ihn auch schildert, klar, anschaulich und Interesse erregend ist. Aus den elenden bayrischen philosophischen Verhältnissen hierher versetzt, werden, wie einst bei Zeller, der in Heidelberg für einen schlechten Docenten galt, diese Eigenschaften sich gewiss glücklich entwickeln. Mit ergebenstem Dank für die Mitteilung, hoffend, bald die gewünschte Auskunft von Stumpf zu erhalten

in Verehrung

der Ihrige Wilhelm Dilthey

p.s. Inzwischen begegnete mir Zeller und bat mich, wenn ich Sie sehen würde, Ihnen doch zu sagen, dass Diels von Wölfflin1 in Coburg vernommen habe, Stumpf sei auch in Wien von der Facultät vorgeschlagen[.] Ich teile dies mit ohne eine Garantie in Bezug auf Richtigkeit oder Tragweite dieser Thatsache zu übernehmen. Original: Hs.; Diktat D.s von fremder Hand; GStA PK , VI. HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, Nr.  118 Philosophen (Beurteilungen), 1893–1906, Bl.154–155 R. 1 Eduard Wölfflin (1831–1908): schweiz. klass. Philologe; 1869 a. o., 1871 o. Prof. in Zürich, 1875 in Erlangen, 1880 in München.

[866] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff und Carl Stumpf Hochverehrter Herr Geh[eime] Rath,

26. Oct[ober] [18]93

Telegraphisch von Stumpf die hocherfreuliche Nachricht seiner Annahme. Beifolgend remittirter Brief von Lipps v[om] 22. Okt[ober] 1893, der damit gegenstandslos geworden, verdient doch nachsichtige Beurtheilung seiner Wunderlichkeit, weil er als Ästhetiker in der That in Breslau ein Fisch auf dem Sande ist. Möchte er nach München kommen!1 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

428

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff und Carl Stumpf

Der Sicherheit halber füge ich aus m[einem] Concept die 2 entscheidenden Stellen m[eines] letzten nach unsrem Gespräch an St[umpf] gesandten Briefs hinzu. [Dilthey an Carl Stumpf ]

d[en] 24 Oct[ober] [18] 93.

Gleichviel wie hoch die Differenz sei: H[err] G[e]h[eime] R[ath] A[lthoff] giebt nicht nur die persönliche Zusicherung, sondern das Ministerium wird in rechtlich bindender Form die Verpflichtung übernehmen, im eintretenden Falle aus dem angegebenen Fonds die ganze Differenz zu decken. H[err] G[eheime] R[ath] A[lthoff] hat mir die am Schluß seines Briefs befindliche Generalerklärung mitgetheilt, nach welcher etc. Darf ich Ihnen nach m[einer] Kenntniß e[inen] Rath geben, so ist derselbe sehr entschieden: nunmehr kurz u. sofort anzunehmen u. dem H[errn] Minister2 alsdann das Weitere zu überlassen. Gerade die vornehme Art, in welcher Sie diese Verhandlung geführt[,] hat hier den schönsten Eindruck gemacht. Es würde hoch auf­genommen werden, wenn Sie nun einfach zusagten, und ich kann mich dafür verbürgen, daß nach Abschluß der Sache, wenn Sie erst der unsrige sind, jeder angemessene Wunsch von Ihnen in jeder Rücksicht erfüllt werden wird. Dies die zwei entscheidenden Stellen, die ich sofort nach unsrem Gespräch möglichst wörtlich demselben entsprechend, hoffentlich zu Ihrer Zufriedenheit niedergeschrieben habe. In treuster Ergebenheit der Ihrige Wilhelm Dilthey3 Original: Hs.; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, Nr. 118 Philosophen (Beurteilungen), 1893–1906, Bl. 131–132 R. 1 Der Brief ist nicht beigelegt. – Th. Lipps folgte 1894 einem Ruf nach München. 2 Robert Bosse (1832–1901): 1892–1899 preuß. Minister der geistlichen, Unterrichtsund Medicinalangelegenheiten. 3 Diesem Brief an Althoff mit dem von D. beigefügten Inhalt seines Schreibens an C. Stumpf liegt im Nachlass Althoffs folgende undatierte Mitteilung D.s an Althoff voraus (GStA PK Berlin, VI. HA, FA u. NL, NL Friedrich Theodor Althoff, Nr. 118 Philosophen (Berurteilungen) 1893–1906, Bl. 130): „Mit meinem verbindlichen Dank für die Mittheilung verbinde ich, da nun wol rasche Beendigung anzustreben, die Frage, ob es genehm wäre, wenn ich Sie heut früh zum Gang nach dem Ministerium abholte, wenn dies erwünscht wäre, oder ob Sie eine andere Zeit bestimmen. Mit m[einen] ergebensten Empfehlungen W. D.“ © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

429

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

[867] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Mein lieber Freund,

30. Oktober 18931

Die Pause ist lange geworden; aber ich habe in einem Druck von Verpflichtungen, täglich mit Briefen belastet, gelebt, daß ich erst den heutigen Wahltag,2 an dem die Universität nicht liest und ich nicht wähle, benutze, Ihnen von uns zu schreiben. Meine Frau hat Ihrer verehrten Frau Gemahlin wol schon geschrieben, wie beim Gang von Klösterli auf Rigischeidegg ein Ge­ witter uns überraschte und sie seit dieser Zeit sehr zu leiden hat. Wir verbrachten drei Wochen in tiefster Einsamkeit auf dem Rigi, wo sie meist zu Bette lag; ich habe da in tiefstem Schweigen, allein mit den Bergen, sehr viel gedacht und gearbeitet. … Die philosophische Frage ist also nun so erledigt, wie es mir von Anfang als das Wahrscheinliche erschien. Stumpf kommt und Paulsen wird Ordinarius. Stumpf hatte bereits abgelehnt: mein Eingreifen hat gänzliche naturwissenschaftliche Radicalisierung der Philosophie hier verhütet. Sie wissen daß ich selbst diese Dinge sehr philosophisch ansehe. Das wodurch ich die Studenten wirklich philosophisch revolutionire, meine allgemeine Geschichte der Philosophie kann ich nun zur Perfektion bringen und kann doch dabei meine Bücher schreiben. Ich lese fortan nur Ein Kolleg im Semester und ich bin in der Lage nach dem Bedürfniß meiner Arbeiten Urlaub zu nehmen, zumal da zudem Zeller nun doch bleiben zu wollen scheint, was ich nie nach der Ernennung von Paulsen für möglich gehalten hätte. Es stellt sich heraus daß schon im Sommer, bei Anregung der ganzen Frage, Paulsens Ernennung von dem Ministerium beschlossne Sache war, Bosse selber es ihm persönlich zusicherte und es persönlich gewollt hatte, natürlich in Rücksicht darauf daß ein solches Zugeständniß an das Realgymnasium und seine Gönner seine Position verstärken würde. Wir werden nicht mehr regiert. Die Presse und die Partheien regieren die Regierung, die doch der Verfassung nach die Mittel hätte selber zu regieren. Die Kraft der Monarchie in Preußen war, angesichts der fortschreitenden Demokratisirung der Welt, eine Episode. Meine zwei Aufsätze für Sie lagen hier, da die Hand meiner Frau fehlt. Den neuen3 werden Sie im Archiv schon erhalten haben. Ich bitte ihn nur so anzusehen, daß ich die große Gruppirung der Entstehung des natürlichen Systems und die Materialien und Gesichtspunkte publiciren wollte, trotz des Zustandes meiner Augen in Juli und August und der damaligen Amtsgeschäfte. Ich bin froh daß ich es that. Denn ehe noch die Exemplare ausfliegen erhalte ich © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

430

Hermann Usener an Dilthey

begeisterte Äußerungen, die mir eine Herzensfreude sind. Aber der H ­ erbert ist mir ein Räthsel geblieben, der Styl ist durchweg abscheulich: Zusammenstoppelung.4 Das thut aber wenig. Ich schreibe nun an der Fort­setzung. Da ich aber in Psychologie und Erkenntnißtheorie begeisterte und viele Zu­hörer habe, so hat das doch zur Folge daß mich diese Fragen mehr als für die historische Arbeit gut occupiren. Eben brüte ich über Bruno.5 Eine mächtige mir höchst sympathische Gestalt, dieser classische Philosoph der Renaissance. Möchte ich ihn herausbringen können daß Sie Freude an ihm haben. Seine dunklen Beziehungen zu Shakespeare, Spinoza, Leibniz, rückwärts zu seinen Vorgängern! Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 107. 1 In BDY: „Berlin d[en] 1. Nov[ember] [18]93.“. 2 Am 30. Oktober 1893 fand die Urwahl zum preuß. Abgeordnetenhaus statt. 3 D.: Das natürliche System der Geisteswissenschaften im siebzehnten Jahrhundert. Fünfter Artikel, in: AGPh 6 (1893), S. 509–545; WA in; GS II, S. 213–245. 4 Gemeint ist der engl. Deist Herbert von Cherbury (1581–1648). – D.: Die Autonomie des Denkens und die konstruktive Rationalismus und der pantheistische Monismus nach ihrem Zusammenhang im 17. Jahrhundert, in: AGPh 7 (1894), S. 28–93, hier S. 30 ff.; WA in: GS II, 245–296, hier S. 248 ff. 5 D.: Giordano Bruno und Spinoza. Erster Artikel, in: AGPh 7 (1894), S.  269–283; WA in: GS II, S. 297–311 unter dem Titel: Giordano Bruno [mit Zusätzen aus dem Handschriften].

[868] Hermann Usener an Dilthey

Bonn, 3 nov[ember] [18]93

Liebster Wilhelm, aus einer gestern eingetroffenen sendung1 entnehme ich zu meiner freude, dass inzwischen Käthe wieder bei Dir eingetroffen ist, hoffentlich wohl und frisch. Mir ist auf diese weise ein zweites exemplar Deiner beiden letzten aufsätze zugekommen. Statt es zurückzusenden, möchte ich lieber fragen, ob ich es an eine andere adresse senden oder geben soll – es ist für mich ein und dasselbe einpacken. Zugleich möchte ich Dich auf einen scharfsinnigen aufsatz hinweisen, der Dir leicht entgehen könnte, während er Dich sehr interessieren wird. Mein college Mor[itz] Ritter2 hat in der beilage zur Münchner Allg[emeinen] zeitung Nr. 219 (vom 21 sept[ember] 1893) über den ‚streit zwischen politischer © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

431

Dilthey an Ludwig Stein

geschichte und culturgeschichte‘, geschrieben. Vermuthlich wirst auch Du den grundgedanken gut kennen, oder ihn bereits selbst gedacht haben; jedenfalls musst Du Dich mit ihm auseinandersetzen. Aus dem schönen, übrigens etwas angreifenden, bummelleben, das ich zu Berlin getrieben, bin ich jäh in das semester hereingeplumpst, das nun schon zwei wochen im gange ist. Ich kam wirklich am samstag fort trotz der verlockungen, die Ribbecks3 und Hartels4 anwesenheit und Du gegeben; und hatte es nicht zu bereuen, dass ich dadurch einen abend und vormittag für Braunschweig herausschlug, das ich noch nicht kannte. Frau und kinder fand ich wohl und munter zu hause vor. Dass Stumpf nun endgültig sich für Berlin entschieden, lese ich eben mit freude in der zeitung. Einen guten winter wünscht Dir und den Deinen

Dein H. Usener.

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 160, Bl. 78–78 R. 1 Nicht überliefert. 2 Moritz Ritter (1840–1923): Historiker; 1873 a. o. Prof. in München, 1873 o. Prof. in Bonn. 3 Der klass. Philologe Otto Ribbeck (1827–1898). 4 Der österr. klass. Philologe und Politiker Wilhelm August Ritter von Hartel (­ 1839–1907).

[869] Dilthey an Ludwig Stein Montags [21. November 1893]1 Werde, hochgeehrter Herr Kollege mich mit dem disponiblen Bogen begnügen, bitte aber, mir noch Ausstand zu geben in Bezug auf die Ablieferung: den Bogen überschreite ich nicht.

Mit besten Empfehlungen d[er] Ihrige W. Dilthey

Mit Salutato2 thun Sie einen guten Griff: freue mich sehr darauf. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

432

Dilthey an Ludwig Stein

Original: nicht überliefert; Hs.; Postkarte; Fotokopien der Originale: Dilthey-Forschungsstelle im Institut für Philosophie I der Ruhr-Universität Bochum. 1 Datierung nach Poststempel. 2 Coluccio Salutati, auch: Lino Collucio di Pierio di Salutati (1331–1406): ital. Humanist und Politiker. – L. Stein: Colluccio Salutati: Francesco Novati: Epistolario di ­Coluccio Salutati. Bd. 1 (1891). Istituto storico italiano No. 15. Rom, histor. Institut. Bd. 1, in: AGPh 6 (1893), S. 559–560.

[870] Dilthey an Ludwig Stein Hochgeehrter Herr College! Ungewiß ob meine Karte richtig abgegangen, wiederhole ich: einverstanden, werde mich auf den Bogen einschränken, bitte aber noch um einigen Ausstand, da ich den Umfang eines Bogens genau einhalten werde, ist es ja auch noch mit einiger Verzögerung noch angängig. Auf die Herausgabe der Hauptschrift des so wichtigen Salutato höchst begierig mit bestem Gruß

Der Ihrige Wilhelm Dilthey

Berlin d[en] 22. November 1893. Burggrafenstr[aße] No 4. Original: nicht überliefert; Hs.; Postkarte; Fotokopien der Originale: DiltheyForschungsstelle im Institut für Philosophie I der Ruhr-Universität Bochum.

[871] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Hochverehrter Herr Geheimrath, mit lebhaftem Bedauern habe ich schon von Dr. Reicke von Ihrem Unwohl­ sein vernommen. Derselbe läßt sich Ihnen bestens empfehlen. Nachdem ich © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

433

nun mit diesem conferirt u. mit einer Verlagshandlung Rücksprache genommen habe konnte ich die Darlegung über die Kantausgabe u. deren Kosten nun abschließen u. es bleibt nur übrig, sie abschreiben zu lassen. Bis spätestens Montag ist sie in Ihren Händen. Ich glaube, daß mit 18000–21000 M[ar]k binnen 6 Jahren nach dem vorzulegenden Plane, die Ausgabe hergestellt werden kann. In diesem habe ich auch am Beginn angedeutet, welche Gesichtspunkte geeignet sein möchten, das Interesse des Kaisers an dem Unternehmen zu wecken. In der Hoffnung, daß diese Zeilen Sie wieder bei guter Gesundheit antreffen, mit ergebenstem Dank von uns beiden für das schöne Geschenk, welches Max hochbeglückt hat, in Verehrung der Ihrige Wilhelm Dilthey B[erlin] d[en] 30/11. [18]93. Original: Hs.; Diktat D.s von der Hand Katharina D.s; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, B Nr. 29, Bd. 2, Bl. 132–132 R.

[872] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

[November oder Dezember 1893]1

Bei stark besetzten, wenn auch wegen des Mangels der Congenialität der Aufgabe nicht erfüllten Tagen kam ich nicht dazu Ihnen nach der Lektüre der letzten Archivabhandlung alsbald zu schreiben, so sehr ich wünschte mich auszusprechen, ich möchte sagen: zu antworten. Denn Ihre schönen Arbeiten, Erfüllungen mancher Gespräche erscheinen mir in meiner Isolirung als Fortsetzungen der lebendigen Rede. Überblicke ich die Gesammtheit des in den einzelnen Abschnitten bisher Gebotenen, so stellt sich mir das planvolle Ganze in seiner bedeutungsvollen Neuheit dar. Burckhardt ergriff und analysirte eine historische Epoche von einem immerhin beschränkten Gesichtspunkte aus, ohne zukunftsreichen Ausblick, mehr als Künstler denn als Philosoph. Ranke sah nur und erkannte daher nur ein Spiel der Kräfte, eine historische Phaenomenalität, den Reflex einer zwar bezugslosen, doch aber vorhandenen wenn auch beschwiegenen Metaphysik. Taine rückte und zwang © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

434

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

Alles in das Schema des Sensualismus, Buckle unter den alterirenden Gesichtspunkt der baaren Utilität. Die beiden letzteren negirten den Begriff der Geschichte. Andere aitiologische2 Historiographien als die der genannten Männer liegen seit Hegel nicht vor Ihnen. Und hier tritt nun das Neue auf, daß nicht eine dogmatische Position  – in weitem und wissenschaftlichem Wortverstande – die Voraussetzung der Auffassung ist, sondern das Leben das Organon für die Auffassung der geschichtlichen Lebendigkeit ist. Der Standpunkt wird zur Geltung gebracht, daß Leben das primäre Datum ist, von dem alle, auch die allgemeinsten Kategorien derivirt sind. Daher die Nähe des Verständnisses, die Wärme der Darstellung. Sie geben hiermit die Anwendung vor der Begründung. Ich möchte von meinem Stand- und Gesichtspunkte aus bemerken, daß die wissenschaftlich adaequate Darstellungsweise regressiv sein würde. Die Geschichtserkenntniß, welche von der eigenen Lebendigkeit aus sich rückwärts wendet zu dem der Erscheinung nach Vergangenen, der Kraft nach Aufbehaltenen würde in der Darstellung eine Analysis der Gegenwart der Vergangenheit vorausschicken und damit zugleich eine Controle bieten für das Geschichtliche gegenüber dem Antiquarischen. Nur was der Kraft nach gegenwärtig, in der Gegenwart aufzeigbar ist, gehört zum Bereiche der Geschichte. Aber solche analytische Unternehmung würde den künstlerischen Reiz einbüßen, der Ihre Wiedererweckungen auszeichnet. Sehr schön und mit breitem Pinsel gemalt ist das Gesammtbild des ersten Abschnittes der letzten Abhandlung, und das viele Einzelne, dem ich ein ‚sehr schön‘, ‚sehr gut‘ beigesetzt habe, zu erwähnen, würde den Umfang eines Briefs überschreiten. Lassen Sie mich lieber einige Punkte der Divergenz oder des Belehrung suchenden Zweifels berühren und durch eine allgemeine Bemerkung einleiten. Alle geschichtliche Kraft wirkt universal. Tritt eine neue historische Epoche ein, so geschieht dies, weil eine der Grundfunktionen der Lebendigkeit gleichsam die Dominante wird. Einzeln hervorgehoben bestimmt sie den ganzen psychischen Inhalt, ein Bewußtseinsvorgang, der für den Anheber der Epoche, den Eponymen3 derselben, häufig eine tiefinnere Tragik wirkt und birgt. Von hier aus läßt sich das Leiden der wirklich Großen verstehen, welches im Grunde Eigenleiden ist und nicht in ihrem Verhältnisse zur Welt besteht. Alle mit, um, und nach ihm Aufstehenden, wenn auch nicht wie er ergriffen, gleichen ihm doch darin, daß ihre Wirkung eine universale ist, wenn sie historische Poten­zen sind. Solche Wirkungsweise gehört in Eins dem Gebiete der Cultur­ systeme wie dem der Organisation an. Scheinbar abstrakte Leistungen  – Galilei, Helmholtz, um gleich aus der gegenwärtigen scheinbaren Weltfremdheit ein Beispiel zu nehmen – sind geschichtlicher Natur, weil und in so fern sie Einzelausdrücke einer universalen Richtung sind und weil sie universal wirken, mag der Träger derselben dies wünschen oder nicht. Neben diesen Fuß© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

435

stapfen des geschichtlichen Geistes giebt es reflektorische Erscheinungen, die Betrachter und Systematiker zweiter Hand, die nicht universal, nicht organisatorisch wirken. Diese Negation ist für ihre Art beweisend – Beweis des Geistes und der Kraft. Wenn ich nun von hier aus zwei der von Ihnen behandelten Männer betrachte, so geschieht dies insbesondere bezüglich des Einen mit aller Belehrung erbittenden Reserve, bei dem Anderen liegt eine erhebliche Verschiedenheit der Werthung vor. Ist Herbert von Cherbury thatsächlich von der geschichtlichen Importanz, daß er neben den Großen rangirt? Hat er in der That den Streit zwischen fides und ratio beigelegt? Und hat nicht Bodin,4 der schon sechzehn Jahre nach der Geburt Herberts starb, die rationale Religiosität mit einer von jenem wohl nicht überbotenen Klarheit ausgesprochen? Mir ist Herbert unbekannt. Ich kann daher nur bekennen, daß die durch Sie mir gewordene Kenntniß von des Mannes Denken für mich nichts Zwingendes bezüglich der Werthung gehabt hat. Eine von mir weniger mangelhaft motivirbare Differenz betrift Spinoza. Aber hier liegt die andere Schwierigkeit vor, daß eine Begründung meiner Ansicht beinahe ein Buch erfordern würde. Zu Grunde liegt wohl eine Verschiedenheit der historischen Auffassung. Kraft und Nerv der geschichtlichen Lebendigkeit des 17ten und der ersten Hälfte des 18ten Jahrhunderts sehe ich in dem moralischen Mechanismus. Ich schreibe diese ungewöhnliche Wortverbindung absichtlich. Der religiöse Reflex ist der abstrakte Theismus. Die Werkthätigkeit des arbeitenden Verstandes bildet den Traktus der großen Geschichte. Descartes, Hobbes, Galilei, ­Huygens,5 Grotius,6 Leibniz sind Faktoren und Organe der gewaltigen Bewegung, deren Wesen konstruktiv-erfinderisch ist. Philosophisch am Klarsten, religiös am Großartigsten in der Erscheinung von Leibnitz. Und hier überall der historische Wahrheitsbeweis, der Erweis der Kraft – die mächtige und universale Wirkung. Den Strom der Bewegung finde ich abgedämmt zu einem Teiche, der auch nicht einmal ein Mühlenrad treibt, bei Spinoza. Er war nicht umsonst Jude. An Stelle der Erfindung die Praxis des Brillenschleifens. Das klingt trival, ist’s aber nicht. An Stelle des werkthätigen Theismus, ein todter, im Grunde nur räumlich umfassender oder logisch-grammatisch verbindender Deismus – nicht eigentlich Pantheismus, denn dafür fehlt die Wärme des Lebensgefühls den einzelnen Erscheinungen gegenüber. Der amor dei inhaltund arbeitlos. Der Jude stand damals nicht an der geschichtlichen Arbeit. Die mechanische Psychologie ohne ingeniösen Eigengedanken, die Affektenlehre desgleichen – litterarisch Herübergenommenes und dies – für mich die Hauptdiskrepanz seines Systems – ohne die logische Spitze, das kosmische Complement der Kraft, unter die Glasglocke des Contemplationsresiduums, der Substanz gestellt. Sehe ich wie ein einzig Competenter wie Leibniz über S­ pinoza urtheilte, so erkenne ich schon hieraus, wie gefälscht und verschönt der © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

436

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

S­ pinoza Goethes und Schleiermachers ist. Da aber erst und in der naturwidrigen Umgestaltung kommt eine Wirkung Spinozas zu Tage. Da wird die bloße Copula erfüllt mit poetischem Eigengefühl. Unabhängig von dieser Werthungsfrage ist der außerordentlich interessante und arbeitsreiche Nachweis der Zusammenhänge Spinozas mit den Alten. Ich drücke mich so allgemein aus, weil die Stoa doch nicht als alleinige Rüstkammer erscheint. Auch scheint mir trotz Schmekel7 eine genaue Contourirung der zeitlich verschiedenen stoischen Richtungen eine noch ausstehende Aufgabe. Cicero sind scharfe Begriffsbestimmungen doch kaum zu entnehmen. Und Galen,8 der nachchristliche Kleinasiate, steht unter dem Einflusse der mannigfaltigsten Richtungen. Mich interessirte alsbald die Frage nach der psychischen resp. erkenntnißtheoretischen Möglichkeit der Spino­zistischen Adaptionen und ich denke, daß sich diese Frage lösen läßt. Doch Sie werden den Schluß dieser Epistel herbeiwünschen, die vor Allem Ihnen bezeugen soll, welche Anregung und freudige Theilnahme ich wieder und immer wieder Ihnen verdanke. Was Sie mir von dem Ergehen Ihrer verehrten Frau während des Schweizer Aufenthalts schrieben, war mir ganz unerwartet. Nach dem Briefe Ihrer Frau an die meinige glaubten wir Sie beide bei guter Gesundheit und freuten uns für die Freunde des herrlichen Wetters in der herrlichen Umgebung. … Um das Lesen nicht zu verlernen, nehme ich des Abends den jüngst erschienenen 1. Band der Griechischen Geschichte von Beloch9 vor. Der Name klingt semitisch, das Buch macht nicht den Eindruck. Die ersten 100 Seiten die ich gelesen, finde ich vortrefflich gearbeitet. Das Buch ist O. Ribbeck zugeschrieben. Für E. Meyer nicht angenehm, dessen griechische Geschichte in naher Aussicht steht.10 Durch die Affaire Stumpf haben Sie sich in aller Stille ein wahres und großes Verdienst erworben. … Doch genug nun endlich. Ich freue mich auf den Winter, der mich wieder dem Schreibtische etwas näher bringen wird. – Wie recht haben Sie: Der Begriff der Regierung ist verloren gegangen. Regieren heißt jetzt Administriren. Effekt der Bewußtseinsstellung auf die Organisation.

Stets in Treue Ihr Yorck11

Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 108. 1 Die Datierung wurde von der Hg. von BDY übernommen. 2 Auf Ursachen zurückgehend und das Wissen darauf gründend. 3 Eine Person, deren Name stellvertretend für eine Epoche steht, Namengeber für eine Epoche. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

437

4 Jean Bodin (1529 oder 1530–1596): franz. Philosoph und Staatstheoretiker. 5 Christian Huygens (1629–1695): niederl. Astronom, Mathematiker und Physiker. 6 Hugo Grotius (1583–1645): niederl. Philosoph und Rechtsgelehrter. 7 A. Schmekel: Die Philosophie der mittleren Stoa in ihrem geschichtlichen Zusammenhange dargestellt. Berlin 1892. 8 Galen oder Galenos von Pergamon (129 oder 131–199 oder 201): griech. Arzt und Anatom. 9 Karl Julius Beloch (1842–1929): Althistoriker; 1879 a. o., später o. Prof. in Rom, 1912 o. Prof. in Leipzig. – Griechische Geschichte. Bd. I. Straßburg 1892. 10 Eduard Meyer (1855–1930): Althistoriker und Altorientalist; 1885 o. Prof. in Breslau, 1889 in Halle, 1902 in Berlin. – Geschichte des Alterthums. 5 Bde. Stuttgart und Berlin 1884–1902. 11 Die Grußformel wurde aus den Korrekturbögen (Juni–August 1923) von BDY ergänzt.

[873] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

  Lieber Freund,

[Anfang Dezember 1893]1 Sonnabend.

Haben Sie vielen, vielen Dank für Ihre so freundschaftlichen und unterrichtenden Worte über die letzten Aufsätze: Sie sind der Leser, an den ich immer denke, wenn ich mich zum Schreiben niedersetze: von Ihnen kommt mir Alles vertieft zurück. Mein Kopf ist ganz unter Wasser, in einer See von Arbeit. … Einen ganzen Monat habe ich über dem Problem einer monumentalen Kant­ausgabe gebrütet, für welche ich nun einen genau specificirten Plan von zwölf geschriebnen Bogen verfaßt habe. Sie wird so gut als sicher zu Stande kommen, eine große Sache die mich mit hoher Befriedigung erfüllt: Wiederauferstehung des Kant der mittleren Lebensjahre. Nun bin ich wieder zu den Aufsätzen zurückgekehrt, leider mit Hast, noch ist erst Eine Seite des Bogens geschrieben, und Anfang Januar soll er erscheinen. Es könnte das Beste werden: Giordano Bruno als Philosoph der Renaissance und sein Verhältnis zu Spinoza.2 Aber dahinter steht schon der Aufsatz über Süvern3 für die Biographie.4 Was würden Sie dazu sagen, wenn ich die Gelegenheit beim Schopf ergriffe und denselben so erweiterte, daß eine kurze Darstellung der Unterrichtsreform von 1810 ff. daraus würde, als Gegenbild gegen das planlose Treiben von heute? Ich würde es dann Zeller zu seinem 80. Geburtstag widmen.5 Die Sache lockt mich. Doch erst muß der Bogen geschrieben sein. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

438

Christoph Sigwart an Dilthey

Heut nur soviel über meinen Arbeitstisch, als armen Dank für Ihren schönen Brief, sobald der Aufsatz fertig, Mehreres. Stumpf heut da, heut Abend mit H. Grimm zusammen bei mir. Gestern tafelten wir sehr vergnügt bei Althoff. Treulichst Ihr W. Dilthey6 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 109. 1 In BDY: „[Dez. od. Nov. 1893.]“. 2 D.: Giordano Bruno und Spinoza. Erster Artikel [Fortsetzung], in: AGPh 7 (1894), S. 269–283; WA in: GS II, S. 297–311. 3 Der Lehrer, Politiker und Schulreformer Johann Wilhelm Süvern (1775–1829). 4 D.: Süvern, in: ADB 37 (1894), S. 207–245; WA in: GS IV, S. 451–506. 5 E. Zellers 80. Geburtstag am 22. Januar 1894 stand bevor. 6 Die Grußformel wurde aus den Korrekturbögen (Juni–August 1923) von BDY ergänzt.

[874] Christoph Sigwart an Dilthey Verehrter Freund

Tübingen, 7. Dec[ember] 1893

Sie werden unheimlich, denn offenbar haben Sie die Fähigkeit des Ge­ dankenlesens sogar in die Ferne. Ich hatte allerdings einmal die Absicht, die der Uebersetzung des kurzen Tractats beigegebenen Parallelen zwischen ­Spinoza und Bruno durch nicht minder frappante Uebereinstimmungen zwischen dem tract[atus] theol[ogico] politicus und Bruno’s Aeußerungen über das Verhältniß von Philosophie und Religion zu ergänzen, die Absicht ist aber nicht zur Ausführung gekommen. Die einzige Aeußerung, die gedruckt ist, findet sich, soviel ich mich erinnere, in einer Recension von Avenarius[’] Phasen des Spinozismus im lit[erarischen] Centralblatt,1 wo ich sage, daß Aven[arius] das directe Verhältniß zu Bruno mit mehr Zuversicht annehme, als ich selbst behaupten möchte  – ich halte immer noch für möglich, daß in der Literatur, die ich nicht kenne, Verbindungsglieder zwischen den Anschauungen Brunos und Spinoza’s stecken könnten; sicher ist mir nur, daß auf irgend einem Wege der Platonismus der Renaissance auf Spinoza eingewirkt © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Christoph Sigwart an Dilthey

439

hat. Ihre Hinweisungen auf den großen Einfluß der Stoa auf die Gedankenkreise jener Periode haben mich lebhaft interessiert und in der Hauptsache überzeugt. Daß Sie mit meinen psychologischen Ausführungen2 einverstanden sind, hat mich sehr gefreut; ich hatte den Eindruck, daß irgend einmal etwas gegen die Ueberschätzung der jetzigen Richtung der psychologischen Forschung gesagt werden müßte. Die Dinge müssen ja einmal verfolgt werden, um zu sehen, daß nichts dabei herauskommt, was zur Lösung der eigentlich psychologischen Fragen hilft; zum Theil ists ja der reine Sport, der mit experimenteller Psychologie getrieben wird. Daß Sie Stumpf gewonnen haben, ist gewiß richtig; ich habe allen Respect vor seiner Gründlichkeit und seinem Scharfsinn, und ziehe ihn in dieser Hinsicht Erdmann weit vor, der immer zu schnell fertig ist und lauter Frühgeburten producirt, wenn er auch allerhand anregende Gedanken hat. Ich bin begierig, wen sie jetzt nach München berufen; soviel ich gehört habe, denken sie an den Göttinger Müller, der mir aber doch ein ziemlich unfruchtbarer Kopf zu sein scheint. Daß Zeller sich so schnell wieder erholt, ist mir eine große Freude; er hat doch eine wunderbar zähe Natur. Bei uns sah’s in den letzten 14 Tagen auch ziemlich übel aus; ich habe 14 Tage Vorlesungen verloren, obgleich ich einen verhältnißweise leichten Anfall hatte, dagegen sind meine Frau und zwei Töchter schwerer gepackt worden, meine Frau3 liegt seit bald 3 Wochen an einem vielverbreiteten Lungenkatarrh, der sich nur langsam bessert, sodaß der Winter ziemlich still für uns werden wird, und nur die Ankunft des dritten Enkels in Basel eine Auffrischung der Stimmung bot. In den Herbstferien bin ich in Grafenberg gesessen, um meiner Tochter4 Gesellschaft zu leisten die sich dort zu erholen hatte; es ist doch ein einzig schöner Aufenthalt und für meine Bedürfnisse wie gemacht. Sehr schön wäre es, wenn wir uns im Frühjahr wieder irgend wo treffen könnten; die beiden letzten Osterferien war ich mit meiner Frau in Pallanza5 und habe bei der Gelegenheit einmal Jürgen Bona Meyer kennen gelernt; ich spüre mein zunehmendes Alter daran, daß ich wärmedürftiger werde. Ihrer verehrten Frau und meinem jungen botanischen Freund6 beste Grüße von uns beiden: lassen Sie den Winter gut vorübergehen.

Mit herzlichem Gruß Ihr ergebener C Sigwart

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl. 40–41 R. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

440

Dilthey an Wilhelm von Christ

1 Richard Avenarius (1843­–1896): Philosoph und Psychologe; 1877 o. Prof. für Philosophie in Zürich – Ueber die beiden ersten Phasen des Spinozischen Pantheismus und das Verhältniss der zweiten zur dritten Phase. Leipzig 1868. – Ch. Sigwarts Rezension erschien in: Literarisches Centralblatt für Deutschland. Jg. 1869, Nr. 5 (23. Januar), S. 109 f. 2 Vgl. Ch. Sigwart: Logik. Bd. 2: Die Methodenlehre, 2., durchges. und erw. Aufl. Freiburg / Breisgau 1893, S. 518 ff. 3 Charlotte Sigwart, geb. 1836, seit 1860 Ehefrau Sigwarts. 4 Luise Ch. Th. Klebs. 5 Ortsteil von Verbania am Gardasee. 6 D.s Sohn Maximilian.

[875] Dilthey an Wilhelm von Christ 1

  Verehrter Herr College!

Berlin den 23. Dezember [18]93 Burggrafenstraße 4. II.

Indem ich Ihnen für das Vertrauen in Ihren freundlichen Zeilen 2 herzlich danke, darf ich davon ausgehen, dass auch wir bei unseren Beratungen die Psychologie als den Theil der Philosophie angesehen haben, von welchem uns in dem gegenwärtigen Stadium die anderen Zweige der Philosophie Gehalt und Leben empfangen u. der auch die meisten Verknüpfungspunkte für die einzelnen Erfahrungswissenschaften gegenwärtig bietet. Nur ein echter solider Psychologe steht heute im Mittelpunkt der Philosophie u. kann nach allen Seiten hier fruchtbar wirken. Erwägt man nun die vor Ihnen liegenden Möglichkeiten,3 so würde natürlich in erster Linie Sigwart in jeder Rücksicht der Erste sein. Aber Sie wissen gewiss, dass er schon vor einem Duzend Jahren Berlin abgelehnt hat. Sind Sie über seine Intentionen nicht ganz sicher, so würde ja ein Privatbrief an ihn gewiss ausreichen, sich über diese Sicherheit zu verschaffen. Nach ihm sind nun gewiss die drei von Stumpf vorgeschlagenen Philo­ sophen die für die von Ihnen angedeutete Nachfrage am meisten entsprechenden. Ich würde für Sie für eminent geeignet Lipps halten. Denn derselbe liest nicht nur alle Hauptkollegien, sondern zeigt auch in seinen Arbeiten bei großer Gründlichkeit die Neigung u. das Vermögen aus dem Großen zu schaffen. Ich kenne ihn nicht näher, aber bei jeder Berührung ist er mir als ein Mann von großer Energie erschienen, u. er würde den Standpunkt einer unabhän­ gigen Philosophie nach seiner freisinnigen Richtung in kirchenpolitischen Fragen stets fest vertreten. Er wäre aber auch der Mann dazu durch allseitige © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Wilhelm von Christ

441

Vertretung der ganzen Philosophie, auch der Geschichte der Philosophie, u. zwar durch geistvolle Behandlung derselben für eine unabhängige Philosophie Gewicht zu verschaffen. Neben ihm u. Müller würde ich aber auch Ebbinghaus für eine sehr gute Wahl Ihrerseits halten, unser eigener Vorschlag war ein Compromiss; der Schwerpunkt desselben lag nur darin, dass wir für unseren hiesigen Zweck, da wir drei ordentliche Professoren der Philosophie, ineinandergreifend in ihrem Wirken, haben werden, denjenigen haben wollten, welchen wir innerhalb der in Frage kommenden Altersgrenzen als den am meisten originalen u. productiven Psychologen ansehen. Diesen wirklich zu erhalten, darauf war unser ganzer Vorschlag gerichtet. So durften wir schon aus practischen Gründen ­Ebbinghaus nicht mit in das Gefecht bringen. Hätten wir Stumph nicht erhalten können, so würde ich für meinen Teil Ebbinghaus ganz für ebenso geeignet als Müller gehalten haben. Wenn auch seine Arbeiten auf Psycho­logie bisher eingeschränkt waren, so hat er doch mit seinen Vorlesungen über Geschichte der Philosophie[,] Logik u. Erkenntnisstheorie einen sehr grossen Lehrerfolg. Er ist ursprünglich Philologe, so hat er für Geschichte der Philosophie eine völlig zureichende Ausstattung, liest sie gern u. wird gern darin gehört. Überhaupt fällt für ihn sehr ins Gewicht, dass er ein ausgezeichneter Dozent ist. Und zwar ist er ausgezeichnet gerade durch seine Klarheit, sein pädagogisches Geschick, seine Befähigung den Stand der Wissenschaft in jeder Frage lebendig u. mit anschaulichem Beispiel mitzuteilen, das Entscheidende herauszuheben. Er ist Protestant, wird die Selbstständigkeit der Philosophie in kirchenpolitischen Fragen entschieden zur Geltung bringen u. wird durch seinen vorzüglichen Vortrag sich u. seinem Standpunkt ganz entschieden Geltung zu verschaffen wissen. Dabei hat er die Rüstigkeit u. innere Kraft eine umfangreiche Thätigkeit zu entfalten. Da ich Ihnen, verehrter Herr College, meine volle u. ganze Überzeugung ausgesprochen habe, für welche ich einstehe, so überlasse ich Ihnen auch gern u. mit herzlichem Zutrauen ganz, welchen Gebrauch Sie von meinen Mit­ teilungen zu machen, angemessen finden. In aufrichtiger Verehrung u. mit dem herzlichen Wunsch, dem Landsmann4 bald auch einmal persönlich zu begegnen,

der Ihrige Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; Diktat D.s von fremder Hand mit eigenhändiger Unterschrift D.s; StB PK Berlin, Autograph W. von Christ, Bl. 1–2 R. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

442

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

1 Wilhelm von Christ (1831–1906): klass. Philologe; 1860 a. o., 1863 o. Prof. in München. 2 Nicht überliefert. 3 In München wurde ein Nachfolger für C. Stumpf gesucht, der den Ruf nach Berlin ­gerade angenommen hatte. Sein Nachfolger wurde 1894 Th. Lipps. 4 W. von Christ stammte, wie D., aus Hessen-Nassau.

[876] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Mein lieber Freund,

Berlin 30. Dec[ember] [18]93.

Unsre herzlichsten Wünsche zum neuen Jahr. Wir hörten schon daß Sie es heiter, umgeben von angenehmem Besuch antreten werden. Möge es Ihnen nur Gutes bringen und uns zum Philosophiren nach Art der Alten wieder vereinigen. Mein neulicher flüchtiger Brief konnte auf Ihre schönen Darlegungen nicht eingehen, die Sie an meinen letzten Artikel knüpften. Heut habe ich etwas mehr Zeit. Ein neuer Artikel (über Giordano) ist von mir eben in zweiter Korrektur gelesen. Auch der unglückliche Süvern schreitet vorwärts. Und da­ zwischen schreibe ich ein paar Seiten, einen Scherz zu Zellers 80. Geburtstag am 22. Januar über das merkwürdige Diktat Goethes an die Stein1 Ende 1784 bei Anlaß ihrer gemeinsamen Spinozalektüre.2 Gegenüber den Schulmeistern, welche meinen Goethe sei Spinozist mit einem Zusatz von Leibniz, oder durch dessen Brille Spinoza betrachtend, gewesen, will ich den eigenen Lebenspunkt der Speculation in Goethe an dem Aufsätzchen aufzuzeigen suchen. Es ist das Bewußtsein von der Verwandtschaft jedes Wirklichen mit uns, dabei aber doch der Unerfaßbarkeit einer jeden Realität, ihrer Aneignung in einer dunklen Totalität unsrer Kräfte, dabei aber doch der extensiven und intensiven Unendlichkeit dieses uns einschließenden Universums. In dem Erscheinen des Erdgeistes und dem Monolog in Wald und Höhle hat er damals seine ganze Philosophie ausgesprochen und diese (kann) ganz nun an dieser Niederschrift erläutert werden. Er steht also im schärfsten Gegensatz gegen den Rationalismus des Spinoza. Daher erhielt auch diese Weltansicht als sie durch Naturstudium sich näher ausbildete einen ästhetisch lebendigen Charakter, der dann auch Metamorphose, Evolution, Monade zu einer Art von Interpretation des Universums aus der ästhetischen Lebendigkeit der Phantasie und ihres Lebensgefühls einschließen konnte. Es ist keine Philosophie, es ist keine Natur­wissenschaft, es ist eine Reproduktion der Lebendigkeit des Universums © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

443

in der Einbildungskraft und daher nach ihrem Grundvorgang von Metamorphose und Evolution. Lesen Sie doch bitte die zwei Seiten einmal. Sie stehn in ­Geigers Goethe-Jahrbuch, ich denke im vorletzten Bande,3 und schreiben mir ein Wörtchen darüber. Aber ich komme zu Ihrem Brief zurück. Herbert muß Ihnen bei mir einen unzureichenden Eindruck machen. Dies kommt daher weil ich ohne hinter ihn zu kommen abschließen mußte. Ich konnte aus meinen Studien keinen entscheidenden Schluß in Bezug auf die Genesis und den Kern des merkwürdigen Mannes machen. Dann heben Sie den ‚moralischen Mechanismus‘, ‚abstrakten Theismus‘, ‚Werkthätigkeit des arbeitenden Verstandes‘ gegenüber dem Pantheismus hervor, als den wirksameren Zug des 17. Jahrhunderts. Sie sehen aber S. 75 daß ich mir dies auch vorbehalte. Da ich aber von ­Spinoza zeigen werde daß er sich mehr an die Renaissance in seinem Kern anschließt, ebenso von Shaftesbury, wogegen von Descartes ab der Deismus dh. die Lehre vom unabhängigen Bestand und gesetzlichen Verlauf des Universums gegenüber seinem Baumeister bis Leibniz und Newton, ja bis Voltaire und Friedrich den Großen einen einheitlichen Charakter und einheit­liche Machtwirkung gehabt hat: so habe ich diese Gruppe vorausgeschickt. Den Spinoza nur aus äußeren Gründen, das lange Bedachte los zu werden. So denke ich werden Sie schließlich zufrieden sein. Im Buch wird natürlich die Ordnung eine andere, sie ist ja hier durch den Gang der Untersuchungen bedingt. Der Plan der kritischen Kantausgabe  – ein Gegenstück zu der Goethe­ ausgabe, aber von einer ganz andren Fruchtbarkeit wie ich hoffe, ist von mir in einem ganzen Buch von Denkschrift dem Ministerium übergeben, findet Beifall und seine Ausführung ist nun wol gesichert. Damit kommt dann die lange lange Arbeit der Kantphilologie zu ihrer wahrhaften nutzbringenden Bestimmung und abschließenden Benutzung. Meine Frau wird gewiß selber schreiben. Es geht ihr ganz leidlich. Mir leider nicht. Ich bin müde. Die Arbeit wird mir schwer. Ein paar Tage habe ich gefaullenzt, bin dabei aber nur auch noch schwermüthig geworden. Allen meine herzlichsten Glückwünsche zum neuen Jahr. In Treue Ihr

Wilhelm Dilthey.4

Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 110.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

444

Wilhelm Rein an Dilthey

1 Charlotte Albertine Ernestine Freifrau von Stein (1742–1827): Hofdame der Herzogin Anna Amalia und Freundin Goethes und Schillers. 2 D.: Aus der Zeit der Spinoza-Studien Goethe’s, in: AGPh 7 (1894), S. 317–341, hier S. 318 ff.; WA in: GS II, S. 391–415, hier S. 392 ff. – Eingegangen ist in diesen Aufsatz auch D.s Beitrag Zu Goethes Philosophie der Natur, der bereits in AGPh 1 (1889), S. 45–48, erschienen war. 3 B. L. Suphan: Mittheilungen aus dem Goethe- und Schiller-Archiv: Aus der Zeit der Spi­noza-Studien Goethes 1784–85, in: Goethe-Jahrbuch 12 (1891). Hg. von L. Geiger, S. 3–12. 4 Glückwünsche und Grußformel wurden aus den Korrekturbögen (Juni–August 1923) von BDY ergänzt.

[877] Wilhelm Rein1 an Dilthey



Jena, d[en] 30. Dez[ember] [18]93.

Haben Sie herzlichen Dank für Ihre freundl[iche] Zusage. Die ‚Encyklopädie‘2 ist auf mindestens 4 Bände LFol., je 40 Bogen, angelegt, so daß Sie also für „Schleiermacher“ Raum genug erhalten können, um der Bedeutung des Mannes gerecht zu werden. Ihrem Beitrag für unsere neue Zeitschrift3 sehe ich gern entgegen. Ihre Akad[emie-]Rede4 ist in unseren Kreisen sehr viel gelesen worden u. hat vielerlei Anregung gewährt. Kennen Sie die „Erläuterungen zum Jahrb[uch] d[es] Ver[eins] f[ür] w[issenschaftliches] B[uchwesen]“, Dresden, Kämmerer 1890 (XXI. Jahrgang) Seite 10–20? Hier wird zu Ihrer Rede von verschiedenen Seiten her Stellung genommen,5 auf die zu antworten sehr erwünscht erscheint.

Mit größter Hochachtung Ihr ergebener W. Rein

Original: Hs.; Postkarte; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 162, Bl. 71–71 R. 1 Wilhelm Rein (1847–1929): Pädagoge; 1871–1876 Lehrer in Barmen und Weimar, 1876 Seminardirektor in Eisenach, 1886 Honorarprof., 1912 o. Prof. in Jena. 2 Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik. 7 Bde. Hg. von W. Rein. Langensalza 1895–1899. 3 Die Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik. Hg. von W. Rein und O. Flügel (ab 1907 zusammen mit K. Just), erschien 1894–1914.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

445

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

4 D.: Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft. Vortrag, gehalten vor der AdW zu Berlin am 19.7.1888, abgedr. in: SB der königl. preuß. AdW. Berlin 1888, S. 807–832; WA in: GS VI, 56–82. 5 Nicht ermittelt.

[878] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg 6. Jan[uar] [18]94. Eben, mein lieber Freund, vernehme ich aus dem Brief Ihrer verehrten Frau Gemahlin,1 für den wir sehr dankbar sind, daß neben Augen Gichterscheinungen Sie belästigen. Ich bitte herzlich zu probiren ob Fachinger oder Obersalzbrunn täglich eine Flasche Ihnen besser thut. … Nur diese Worte. Tief unten in einer dunklen Fluth. Übermorgen der Aufsatz über die Goethe-Spinozasache für Zellers Geburtstag (22. Jan[uar]) zum Druck nöthig. Wie gern spräche ich mit Ihnen darüber! Das geistige Reich wird mir in seiner Continuität immer klarer. Süvern2 vor fünf Tagen abge­ brochen, im Hintergrund lauert Giordano Bruno3 – Papiermassen. Kantausgabeangelegenheit4 vorwärts. Vorgestern mit schlechtem Erfolg mit einem Pastor Krause,5 Besitzer des letzten Kantmanuscriptes, den wir aus Hamburg herbeiriefen, einen Tag durch verhandelt.

Tausend Grüße. Treu und ganz der Ihre W. Dilthey.

Original: nicht überliefert, Erstdruck: BDY, Nr. 111; der letzte Abschnitt und die Grußformel des Briefes wurden aus den Korrekturbögen (Juni–August 1923) von BDY ergänzt. 1 Nicht überliefert. 2 D.s Beitrag über Süvern, in: ADB 37 (1894), S. 207–245; WA in: GS IV, S. 451–506. 3 Vgl. D.: Giordano Bruno und Spinoza. Erster Artikel (mehr nicht erschienen), in: AGPh 7 (1894), S.  28–91; WA unter dem Titel Giordano Bruno (mit Zusätzen aus den Handschriften) in: GS II, S. 297–311. 4 In den Korrekturbögen von BDY: „Goetheausgabeangelegenheit“. 5 Gemeint ist der Hamburger Pastor C. E. A. Krause.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

446

Dilthey an seine Tochter Clara

[879] Dilthey an seine Tochter Clara

[Anfang Januar 1894]

Mein liebes Klärchen wie lange wünschte ich Dir schreiben zu können, aber das Gedränge von Arbeiten war zu groß, wie ein See waren sie in den ich ganz untergetaucht war. Eben erhalte ich nun die Abh[andlung] zu Zellers Geburtstag fertig, u. kann einmal den Kopf über das Wasser heben um zu athmen. Deine Frage über die Unsterblichkeit des Menschen will ich zuerst be­ antworten. Zweifellos giebt es eine geistige Kraft in uns, welche nicht das Produkt von Zuständen der Materie ist. Denn die Materie zeigt ganz andere Gesetze als die des geistigen Lebens sind. Vergleiche ich auch nur zwei Farben, so ist die Verbindung derselben in der untheilbaren Einheit eines Bewußtseins erforderlich, in welcher sie aneinandergehalten werden: diese kann aber unmöglich Leistung der Materie sein. Dasselbe beweisen noch deutlicher die Verbindungen der Eindrücke in einer Objektvorstellung. Auf ganz andere Weisen dann unser sittliches Bewußtsein. Wenn nun ein geistiges Prinzip in uns waltet, so könnte man denken daß dieses nach unserem Tode in irgend andre Formen überginge wie die Materie unseres Körpers es thut. Ist dies nicht der Fall dann wäre ein persönlicher Fortbestand anzunehmen. Eine Demonstration giebt es auf diesem Gebiete nicht. Wir können beweisen daß ein geistiges Prinzip in uns ist und unseren Körper überlebt, aber die Form seiner Fortexistenz ist dem strengen Beweis unzugänglich. Es scheint so zu sein, daß wir nur in Zusammenhang mit dem was wir sittlich aus uns machen unsre höchsten Überzeugungen sollen bilden können. Und hier denke ich wie Goethe. Wer durch sittliche Anstrengung etwas macht, der kann sicher sein daß dieser sein Selbstwerth als der höchste den die uns bekannte Wirklichkeit hervorbringt nicht untergehen wird. Dementsprechend sichert auch das Christenthum nur den Wiedergeborenen dh. denen welche in sittlicher Arbeit in Zusammenhang mit der übersinnlichen Welt gestorben sind das Himmelreich zu. Siehe darüber Paulus in seinen Briefen besonders an die Korinther. Diesen ist aber auch gewiß daß sie zum geistigen Zusammenhang der Dinge, den sie empfinden wenn sie einsam die Sterne über sich erblicken, in einen Zusammenhang getreten sind, den nichts auf­ heben kann. Deine Briefe, mein liebes Kind, machen uns große Freude. Ich hoffe Du wirst nicht nur Französisch als Sprache lernen sondern auch den großen Pascal, Corneille, Racine Dir aneignen. Diese Schriftsteller haben eine eigene Größe, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

447

ein Ideal persönlicher Würde (genérosité nennt es Descartes) in sich welche sie zu den Lieblingen Friedrichs des Großen machte. In den Nächten u. Tagen vor seinen großen Schlachten, zwischen allen Wechselfällen seiner Kriege stärkte sich der große König an ihnen. Etwas Königliches ist über sie ausgebreitet. Sie wußten wie große Menschen fühlen. Wenn Du so das Französische auch an der Seite der Literatur gründlich treibst, wie ich wünsche, so müßtest Du freilich Deine ganze verwendbare freie Zeit auch demselben zuwenden. Und das wünsche ich von Dir. Laß mich doch einmal von Deiner Lektüre vernehmen. Im Englischen lies doch besonders Carlyle. Besonders die französische Revolution u. über Helden u. Heldenverehrung.1 Dann aber die herrlichen ­Essays von Macaulay (bes[onders] Milton, Clive),2 und über die englische Literatur französich Taine histoire de la literature anglaise.3 Nächstens mehr. In Liebe u. Treue

Dein Vater

Meine ergebensten Empfehlungen an Fräulein Sournier. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 k, Nr. 3. 1 Th. Carlyle: The French Revolution. A History. London 1837. – On Heroes and Hero Worship and the Heroic in History. London 1841. 2 Thomas Babington Macaulay (1800–1859): brit. Politiker und Historiker.  – Criticial and Historical Essays. 3 Bde. London 1843; dt. Übers. in 5 Bänden. Braunschweig ­1852–1858, darin die Aufsätze über John Milton und Lord Clive. 3 H. A. Taine: Histoire de la littérature anglaise. 4 Bde. Paris 1864.

[880] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Mein lieber Freund.

Klein-Oels den 11. 1. [18]94.

Kommt es heute auch nur zu einem Zettelchen, länger kann ich meinen herzlichen Dank nicht anstehen lassen für Ihre freundschaftlich fürsorglichen Zeilen, durch die Sie mir eine große Freude bereitet haben. Weder mit den Augen noch mit den gichtischen Erscheinungen ists schlimm. … © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

448

Rudolf Eucken an Dilthey

Freudig überrascht hat mich das gute Klärchen durch einen freundlichen Brief zum Jahresschlusse. Treue des Gemüths ist doch die beste Gabe. Wäre ich nicht ein so schlechter Briefsteller, ich hätte dem liebenswürdigen Kinde längst geantwortet. In den nächsten Tagen soll es geschehen. Und was möchte ich Ihnen Alles schreiben! Gedanken aus dem Lande der Verheißung, in das die Füße nicht tragen sollen, Betrachtungen über die zerrüttete Gegenwart, Bemerkungen über litterarische Neuigkeiten, über Zeichen der Zeit, Fragen über Berolinismen wie ‚Verdun- und Schiller-Preis‘.1 Eine Mannigfaltigkeit für das Gespräch einiger Tage. Nun ich hoffe auf Ihr Kommen im Frühjahr. Denn Berlin sieht mich nicht. … Lassen Sie dem Archenbewohner wieder einmal freundliche Botschaft zukommen und seien Sie mit all den Ihrigen herzlich gegrüßt von Ihrem treu ergebenen Yorck. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 112. 1 Verdun-Preis: Ein von König Friedrich Wilhelm IV. erstmals 1844 gestifteter Preis, der anlässlich der vergangenen 1000 Jahre seit dem Vertrag von Verdun im Jahre 843, in dem die Dreiteilung des Karolingischen Reiches nach dem Tode von Ludwig dem Frommen, dem Sohn Karls des Großen, geregelt worden war, alle fünf Jahre für das beste Werk über deutsche Geschichte vergeben wurde. Er war dotiert mit 1000 Talern Gold und einer goldenen Gedenkmünze. – Im Jahre 1894 ging der Preis an B. Erdmannsdörffer für seine Deutsche Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zur Regierungszeit Friedrichs des Großen, die in 2 Bänden 1890–1893 erschienen war. – Der Schillerpreis, der seit 1859 alle drei Jahre für das beste dramatische Werk vergeben wurde, war 1893 ausgesetzt worden. 1896 erhielt, abweichend von den Vorschlägen der Schillerpreiskommission, die neben E. von Wildenbruch auch Gerhart Hauptmann vorgeschlagen hatte, von Wildenbruch den Preis für sein Werk Heinrich und Heinrichs Geschlecht.

[881] Rudolf Eucken an Dilthey

Hochverehrter Herr College!

Jena 27⁄1 [18]94.

Die Woche darf nicht zu Ende gehen, ohne daß ich Ihnen für die liebenswürdige Zusendung danke, womit Sie mich erfreut haben. Ich habe die verschiedenen Abhandlungen mit großem Interesse und unter förderlichster Anregung © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Rudolf Eucken an Dilthey

449

gelesen. Fesseln sie an sich durch die Bedeutung des Inhalts und den Zauber der Form, so sind sie mir persönlich außerdem wertvoll angesichts der bevorstehenden Neubearbeitung der „Lebensanschauungen der gr[oßen] Denker“.1 Ich werde die betreffenden Abschnitte sehr umarbeiten müssen und hoffe in diesem Interesse lebhaft, daß Ihre Untersuchungen rasch herauskommen, und ich möglichst weit so wertvolle Weisungen nutzen kann. Namentlich ein­ greifend ist Ihre Behandlung der Reformatoren,2 sie stellt die Sache in ein völlig neues Licht, und das unter so sicherer Begründung in den Quellen, daß die Theologen – wenigstens so weit sie überhaupt wissenschaftlich denken – nicht so leicht daran vorbeikommen können. Hoffen wir das Beste! Jedenfalls thut eine Belebung des religiösen Problems von philosophischer Seite dringend Noth. Die Theologen gehen ja wieder ganz in’s Enge und vergessen über der Zunft die Menschheit. Hoffentlich ist es Ihnen und den verehrten Ihrigen seit der Zeit, wo wir uns sahen, durchaus nach Wunsch gegangen. Auch bei uns stand alles wohl, nur daß ich vor Weihnachten eine recht tüchtige Influenza durchzumachen hatte und 14 Tage die Vorlesungen aussetzen mußte. Das hat natürlich auch die Arbeit an meiner philos[ophischen] Lebensanschauung sehr gehemmt, und ich bin nun in gespanntester Thätigkeit, das Versäumte einigermaßen nachzuholen. Meine Frau3 und ich empfehlen uns Ihnen und Ihrer hochverehrten Frau Gemahlin bestens, und ich verbleibe mit freundlichen Grüßen

Ihr verehrungsvoll ergebener R. Eucken.

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl. 42–43. 1 R. Eucken: Die Lebensanschauungen der großen Denker. Eine Entwicklungsgeschichte des Lebensproblems der Menschheit von Plato bis zur Gegenwart. Leipzig 1890, 2. umgearb. Aufl. Leipzig 1897. 2 D.: Die Glaubenslehre der Reformatoren, aufgefaßt in ihrem entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang, in: PJ 75 (1894), S. 44–86. 3 Irene Eucken, geb. Passow (1863–1941), seit 1882 Ehefrau R. Euckens.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

450

Dilthey an seine Tochter Clara

[882] Dilthey an seine Tochter Clara [1. Februar 1894] Mein liebes Clärchen, es ist mir recht schwer daß Du Deinen Geburtstag1 in der Fremde verlebst: aber Du weißt doch daß unsre herzliche Liebe Dir eigen ist u. wir an dem Tage im Herzen bei Dir sein werden. Sei gut mein liebes Kind: das Bewußtsein stets nach bestem Wissen redlich, reinlich, dem entsprechend was man dem eigenen Charakter und dem Wohl Anderer schuldig ist gehandelt zu haben ist das einzige unzerstörbare absolute Gut des Menschen. So kann er jedem frei ins Angesicht sehen. Damit hängt eng zusammen: gieb Deinem Dasein einen inneren Werth durch eigenes Leben in Dir und un­ ablässige Beschäftigung mit einer schönen höheren geistigen Welt. Mögest Du diese Zeit der Pension recht benutzen, in der Stille, welche Dir dort gegönnt ist, zu lernen, zu sinnen, in Dir zu leben. Sehr große Freude haben mir Deine Zeichnungen bereitet, zumal da der Hund augenscheinlich nach der Natur gemacht ist. Auch die anderen? mir scheint nicht. Zeichne nur im freien in jeder freien Viertelstunde. Hier fehlt Dir dann die Natur, in diese kannst Du dort Dich einleben. Die Dauer Deines Aufenthaltes wollen wir ruhig vom Lauf der Dinge erwarten der sich noch nicht wol voraus sagen läßt, da er von so verschiedenen Faktoren abhängt. Nach Karlsbad brauche ich hoffentlich nicht zu gehen; da ich peinlich in der Mäßigkeit bin, scheint nach den beiden Bädern Stillstand eingetreten; was ich thun kann, ohne das gefährliche Karlsbad durchzukommen thue ich gewiß. Nach meiner jetzigen Vorstellung der Sache werde ich künftigen Winter nicht lesen, sondern in diesem die Geisteswissenschaften zu Ende bringen. Die literarhistor[ischen] Aufsätze von mir sollen in 2 Bänden unter dem Titel: Dichter als Seher der Menschheit zu Weihnachten erscheinen.2 Ich bin unermeßlich fleißig gewesen u. konnte jetzt 3 Abhandlungen gleichzeitig verschicken, eine vierte wird in diesen Tagen fertig, ein Plan zu einer großen Kantedition, die der Goetheausgabe ähnlich sein wird, ist von mir in 7 Bogen ausgearbeitet und wird ziemlich sicher durchgehen. Jetzt mahnt mich das Herz allerdings in langsamerem Tempo zu arbeiten. Doch möchte ich so gern noch die begonnenen Werke zu Ende führen, um der Wissenschaft das zu leisten was ich eben kann. Max ist von dem Unterricht doch oft recht angegriffen. Der Lehrer ist sehr gut. Mehr als 4 Stunden hätte er nie zu arbeiten mit den Stunden, wenn er hintereinander arbeiten wollte. Zweimal bekommt er gar nichts auf: darauf freut er sich stets. Er macht sehr gute Fortschritte und lernt das Latein gar nicht © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an seine Tochter Clara

451

schwer. Der Lehrer ist etwas philiströs, aber gewissenhaft, eifrig und überlegt. Leni arbeitet während der Stunden auch für sich, und wenn Du kommst kann sie hoffentlich lesen u. schreiben, auch etwas rechnen. Mama geht es ganz leidlich, Husten existirt nicht mehr, aber Inachtnehmen im höchsten Grade ist natürlich erforderlich. Ich selbst bin natürlich sehr abgearbeitet, u. so macht mir jetzt das Herz zu schaffen, doch will ich jetzt etwas nachlassen bis ich wieder davon freier bin. Zeller sehr munter als Excellenz.3 Es freute mich daß ich dies in Anregung bringen u. fördern konnte. York geht es gar nicht gut: Augen, Herz, jetzt auch gichtische Anfänge. Die Gräfin ist da, dick u. wohl u. beständig in ärztlicher Behandlung, doch gut u. liebenswürdig: nur daß sie Max nicht leiden kann. Grimm hat sich wieder bei uns angefunden. Soden4 habe ich neulich bei der Universitätsfeierlichkeit gesprochen, er läßt Dich schönstens grüßen, wollte dieser Tage mich besuchen, wegen der Agendensache.5 Nun sei heiter mit Deiner Freundin an Deinem Geburtstag. Treu

D[ein] Papa

Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 k, Nr. 6. 1 Clara D. hatte am 3. Februar Geburtstag. 2 Dieses Projekt wurde nicht realisiert. Zu dieser geplanten Sammlung D.s vgl. D.: Die große Phantasiedichtung und andere Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte. Hg. von H. Nohl. Göttingen 1954 sowie GS XXV. 3 Titel für Wirkliche Geheimräte. 4 Hermann von Soden (1852–1914): ev. Theologe; 1881 Pastor in Dresden und Berlin, 1890 Habilitation, 1893 a. o., 1913 o. Prof. in Berlin. 5 Der Hintergrund dieser Bemerkung ist unbekannt. – Mit dem Begriff „Agende“ bezeichnet man in der ev. Kirche das Buch bzw. die Bücher, in welchem bzw. in welchen die feststehenden und die wechselnden Stücke des regulären Gottesdienstes sowie die Amtshandlungen aufgeführt sind.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

452

Kurd Laßwitz an Dilthey

[883] Kurd Laßwitz an Dilthey

Hochgeehrter Herr Professor.

Gotha, d[en] 28. Februar 1894. Schützenallee 23.

Wenn ich mir erlaube, Ihre Zeit mit einigen Zeilen in Anspruch zu nehmen, so geschieht es diesmal im eigensten Interesse, und ich würde mich scheuen, mich an Sie zu wenden, wenn ich nicht wüßte, daß ich mich Ihrer freund­ lichen Gesinnung erfreuen darf. Die Bewegung, welche augenblicklich in die Besetzung philosophischer Lehrstühle gekommen ist, hat es mir deutlich gemacht, daß, wenn ich überhaupt noch hoffen darf, jemals in die akademische Laufbahn zu kommen, im Anschluß an die jetzigen Veränderungen wohl die letzte Gelegenheit ist. Mein Wunsch, von hier fort und in andre Umgebung zu gelangen, hat sich mit den Jahren gesteigert, aber zugleich nähert sich auch die Altersgrenze für neue Lebensordnungen. Daß meine Hoffnungen nicht ganz unberechtigt sind, haben Sie selbst durch freundliches Urteil und Zusage Ihrer Verwendung wiederholt bestätigt, und meiner Dankbarkeit brauche ich Sie nicht erst zu versichern. Es ist ja aber in diesen Angelegenheiten nicht möglich ein Ziel zu erreichen, wenn nicht in den maßgebenden Kreisen eine wohlwollende und einflußreiche Persönlichkeit immer wieder aufs neue eingreift; und dies ist der Grund, warum ich mir erlaube, hochgeehrter Herr Professor, Ihnen mich heute in Erinnerung zu bringen. Erscheint dies unbescheiden, so mögen Sie mir dies in Rücksicht darauf verzeihen, daß mir in meiner hiesigen Isolierung kein andrer Weg offen steht, in dieser für mich wesentlichen Lebensfrage etwas zu thun.

Mit hochachtungsvollem Gruße Ihr treu ergebener Kurd Laßwitz.

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl. 39–39 R.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

453

Dilthey an seine Tochter Clara

[884] Dilthey an seine Tochter Clara [März 1894]

Meine liebe Clara,

Draußen kämpft Schneewetter mit vorbrechenden Sonnenstrahlen, ich will nun noch eine Zeile Euch schreiben um in das Freie zu eilen. Es ist mir recht schwer fern von den zwei kränklichen zu heilenden zu sein: möge nur Alles gut gehen! Wolle mein liebes Kind in Bezug auf unsern Max das was wir öfter besprochen immer im Sinne behalten. Er bedarf so sehr der Liebe die ihn schützend umgiebt. Das macht er einen wenn man mit ihm zusammen ist öfter vergessen. In der Ferne fühlt man es um so tiefer. Thue mir also die Liebe, damit ich ruhig sein kann, recht regelmäßig Stunden mit ihm zu halten. Laßt ihn auch rechnen, sowie täglich nur drei Zeilen schön u. orthographisch nach Diktat schreiben. Ich bitte auch Fräulein Kathi recht herzlich darum, ihn nicht fern von Euch zu halten sondern gut u. herzlich u. fest ihn heranzuziehen: er liebt sie so u. so wird es ihr leicht sein ihn zu beein­f lussen. Gestern ging ich im Schnee zu Stöckl.1 Abends war ich noch mit Dahn2 etwas zusammen. Ein wunderlicher Poet! Aber ich studire diese Menschenclasse immer da ich glaube als ihr etwas verwandter als andre Historiker u. Philosophen, sie doch einmal tiefer verstehen zu können. Die Sonne kommt, u. ich will heraus in’s Freie. Zuvor unten noch einen flücht[igen] Blick in die Zeitung werfen. Was für Dinge in den letzten Tagen! Deutschlands Zukunft wird immer dunkler. Wir treiben der Auflösung der Monarchie entgegen, da diese jede Selbstständigkeit außer sich zerstör[en] macht.

Euch Allen t[au]s[en]d Gr[ü]ße von Eurem Papa.

Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 k, Nr. 1. 1 Nicht ermittelt. 2 Der Rechtswissenschaftler, Historiker und Schriftsteller Felix Dahn (1834–1912), seit 1888 o. Prof. in Breslau.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

454

Dilthey an Kurd Laßwitz

[885] Dilthey an Kurd Laßwitz 2. März [18]94.1

Lieber Freund!

Bei den gegenwärtigen Schiebungen hab ich Ihrer natürlich schon lebhaft gedacht; jedoch mit sehr geringer Hoffnung, nach der Lage der Sachen. Die Vacanz durch Stumpf, führt nach dem Verlauf, den die Sache genommen hat, zu keiner Aussicht. In Würzburg wird ein Ultramontaner befördert werden, kommt es dann neben ihm noch zu einem Ordinariat in wissenschaftlicher, selbstständiger Richtung, so wird dabei wohl der Einfluß von Volkelt 2 maß­ gebend sein. Gerade mit diesem steh ich aber in gar keiner Beziehung. Sollte ich von andrer Seite her gefragt werden, so würde mir das eine erwünschte Gelegenheit sein, für Sie dort einzutreten. Soviel heute eilig, mit bestem Dank für Ihren Brief u. Ihr Vertrauen. Sobald ich mehr höre, werde ich es Ihnen melden.

In treuer Gesinnung der Ihrige Wilh. Dilthey

Original: Hs.; Diktat D.s von fremder Hand, FB Gotha, Chart. B 1962 a, ­161–161 R. 1 Im Original: Datumseintrag von der Hand Laßwitz’. 2 Johannes Volkelt (1848–1930): Philosoph; 1879 o. Prof. in Jena, 1883 in Basel, 1889 in Würzburg, 1894 in Leipzig.

[886] Dilthey an Erich Schmidt Verehrter Freund, Sehr dankbar daß Sie mich auf die unangenehme Sache aufmerksam ­machen u. ich werde sogleich nach m[einer] Rückkehr Sorge tragen daß bei Publikation des Ganzen die Sache geändert wird. Der b[e]tr[effende] Grieche kam zu mir u. erbat ein Thema. Ich sagte ihm: da die Minorsche Ausgabe dieser Vorles[ungen] von A[ugust] W[ilhelm] ­Schlegel1 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Erich Schmidt

455

nun da sei und dieselbe mir ein sehr wichtiges Moment in der Gesch[ichte] der Ästhetik zu sein scheine, da mir dies bei Haym2 auch nicht erschöpfend dargestellt scheine: so schlage ich ihm dies Thema vor. Ich ahnte nicht wie wenig Deutsch das Schaf wußte: es verstand mich nicht einmal. Ich muß nun bei der Durch­sicht, da meine Augen gerade damals sehr ange­griffen waren und ich mir Alles vorlesen lassen mußte, gerade diese Bemerkung daß es unge­druckt etc., unbeachtet gelassen haben. Ich war sehr enttäuscht von der Arbeit. Halte aber daran fest in solchen Fällen daß man mangelhaft vorgebildeten Ausländern die Möglichkeit lassen muß ihre Stu­dien bei uns durch den Doktor abzuschließen. Nur erklärte ich daß eine durchgehende Verbesse­rung nöthig sei, machte Zeichen dafür an den Rand etc. Nun kam das träge Schaf u. erwies sich unfähig u. unlustig sich selbst anzustrengen, erwartete vielmehr daß ich die Arbeit thue. Da sagte ich dem Dekan daß ich das mit m[einen] zur Zeit sehr angegriffenen Augen nicht könne, u. schlug ihm vor, daß der neue Privatdozent Dr. Schmekel3 gegen ein Honorar gemeinsam mit dem griechischen Schaf diese Arbeit verrichte. So ist es geschehen. Daher sah ich sie nicht mehr. Natürlich werde ich künftig in ähn­ lichen Fällen wenigstens die Korrekturbogen nochmals ansehen. Daß Sie in der Poetik stecken u. mich dabei gebrauchen können, freut mich gar sehr.

Mit bestem Gruß von Haus zu Haus d[er] Ihrige Wilhelm Dilthey

Klein Oels. 2 April [18]94 Original: Hs.; GSA Marbach, 61, 285; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: ABBAW, Erich-Schmidt-NL , Nr. 7. 1 A. W. Schlegel: Über schöne Litteratur und Kunst (1801–1804). Hg. von J. Minor. Heilbronn 1884. 2 R. Haym: Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen ­Geistes. Berlin 1870. 3 A. Schmekel hatte am 11. Januar 1894 seinen Habilitationsvortrag gehalten und war von der Berliner Fakultät anschließend zum PD ernannt worden.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

456

Dilthey an Unbekannt

[887] Dilthey an Unbekannt Hochgeehrter Herr Doktor,

[April 1894]

Besten Dank für Ihre Schrift. Leider kann ich Ihrem Wunsche nicht entsprechen. In der Arbeitspause der Osterferien hätte ich sie gern gelesen. Jetzt habe ich eine Ausarbeitung angefangen, die ich nur wenn meine Amts­pflichten es fordern unterbrechen darf, u. dies wird langehinaus dauern. So konnte ich nur flüchtige Blicke in ihre Schrift werfen. Melden sie sich zur Habilitation, so wird mir ja die Unterbrechung meiner eigenen Arbeit zur amt­lichen Pflicht, aber sie entschuldigen mich wenn ich jetzt nach der jetz[igen] Arbeitslage ein Studium derselben zum Zweck privaten Urtheils ablehne. Greift später das Thema in den Gang eigener Arbeit, dann werde ich sie auch ohne äußeren Anlaß gern studiren. Für den Zweck einer Habilitation, an unsrer Universität, von dem sie schreiben, sind die äußeren Umstände hier so ungünstig als möglich. Drei Ordinarien, auch wenn Zeller ausscheidet, u. sechs Privatdocenten: denn inzwischen hat sich Herr Schmekel für Gesch[ichte] d[er] Phil[osophie] habilitirt u. Herr Schumann1 aus Gött[ingen] wird so gut als sicher hierher übersiedeln. Wogegen an andren großen Univ[ersitäten] wie München, Leipzig, Heidelberg, Bonn Privatdocenten sehr erwünscht sein müßten. Unter dies[en] Umständen würden wir doch nur mit e[inem] solchem jungen Dozenten eine Ausnahme machen können, welcher eine erhebliche Förderung unsres Bestandes von Wissen an irgend welchen Punkten herbeigeführt hätte. Bei dem Durchblättern kann ich natürlich nicht erkennen, daß nun Ihre Ansicht, sofern sie über […] e[ine] Verwerthung des naturwissenschaftlichen Denkens von Kant für die Erklärung seiner Transzendentalphilosophie hinaus geht[,] in der objektiven allseit[i]g[en] Erk[enntnis] Kants weiterhilft. Hinzu kommt in Ihrem Interesse daß bei 6 Vordermännern Ihre Chancen hier irgendwie gefördert zu werden höchst gering sind, wogegen an anderen Univ[ersitäten] in Folge dort vorhandener Lücken in den Vorlesungen Sie eine Arbeit thun würden, die nützlich u. bei günstigem Ertrag auch auf äußere Anerkennung Anspruch gewähren würde. Doch dies Alles ließe sich nur mündlich gründlicher erörtern. Mit noch­ mal[igem] best[em] Dank der Ihre W. Dilthey © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

457

Original: Hs.; Briefentwurf, StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 p, Unbekannt, Nr. 2. 1 Friedrich Schumann (1863–1940); Psychologe; Assistent von G. E. Müller; 1885 Promotion, 1892 Habilitation in Göttingen, 1894 Assistent von C. Stumpf in Berlin, 1902 a. o. Prof. in Berlin, 1905 o. Prof. in Zürich, 1909 in Frankfurt.

[888] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Mein lieber Freund.

KIein-Oels 31. Mai [18]94.

Soeben ist Mitternacht vorüber, der 31ste hat zu sein begonnen. Ich sitze in meinem Thurmzimmer als derzeit einziger Bewohner des ganzen Hauses. … Da ich nun am Tage schwer dazu komme einen Brief zu schreiben, von zwar nichtigen aber nothwendigen Geschäften in Anspruch genommen, so wähle ich diese nächtliche Stunde und Stille Ihnen Gruß und Antwort auf Ihre Zeilen vom 26. d[es] M[ona]ts1 zu senden. Hoffentlich treffen diese Worte Sie wieder gesundet und frisch an. Wir müssen den Kopf abwenden von der sich bemerkbar machenden Relati­vität des körperlichen Befindens, über welches ich auch ein Liedlein sin­gen könnte, lieber aber verschweige. Sie haben doch den großen Vortheil der Concordanz der Aufgabe und Neigung. Das ist doch eine große Sache und zu Dank verpflichtend. Ich bin noch nicht dazu gekommen Gomperz2 zu lesen. Was Sie mir als durch die Lektüre veranlaßt sagen interessirt mich sehr, wenngleich ich nicht abzusehen vermag, was uns veranlassen sollte dem innerlich so wahrscheinlichen Ausspruche den Glauben zu versagen, Pythagoras sei der Erfinder des Kosmos gewesen. Denn Kosmos ist nicht das All oder das Ganze, ihm vorgehende Bezeich­nungen, sondern die harmonische Fügung des Ganzen und daher ein von Verhältnißbestimmung abhängiger Terminus. Kosmos ist der erste, der aesthetische Ausdruck des Logos. Es ist ein neuer Schritt zu ihm von dem πέρας und ἄπειρον,3 der Schritt von der Dichotomie zum Syndesmos, von der Dialektik zur Logik. Ganz eigentlich ein erfinderischer Fortschritt. Es ist ein neues konstruktives Moment, welches, Gedanke eines universalen Menschen, – denn ich glaube nun einmal an die Per­son Pythagoras und daß Menschen und nicht daß hand- und fußlose Ideen die Geschichte bewegen – sich auch zum ersten Male sozial-poli­tisch geltend macht. Es ist der erste große Schritt hinter die Erscheinung zu kommen. Die anschauliche Umgebung hatte das Denken bestimmt. Die Bühne des πέρας © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

458

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

und des ἄπειρον war die maritim-terrestrische Artikulation der kleinasiatischgriechischen Welt. Überall mare clausum. Das Uferlose, Unbegrenzte als Hintergrund, das entsprechende Symbol oder Bild eines anschaulichen Denkens für das Freiheitsgefühl des sich aufrichtenden Denkens. Nicht das Wasser als solches – das Meer jenseits der Buchten ist das Prinzip des Thales. Das Unbekannte, Geahnte wird immer als radix4 gewerthet. Auch wenn ich Zeit und Muße hätte, so würde ich meiner Meinung folgend zu den Fragmenten selbst zurückkehren, erst wenn ich mir meinen Vers gemacht, Referate Anderer ansehen. Denn mit den Fragmenten, wenn sie nicht zu spärlich, steht es doch so, daß sie lauter Segmente sind, die den Kreis angeben und nachzeichnen lassen. Philosophisches Denken ist an sich systematisch. Doch ich gerathe in Passion. Und doch, um mich eines Ausdrucks von Dickens zu bedienen, ist dies ein Echo verklungener Schritte. – Was Sie von der landwirthschaftlichen Auguren­versammlung sagen, ist ganz meine Ansicht. Man denkt so formalistisch, daß man Organisation als Güterquelle ansieht. Durch solchen Stein anstatt des Brodes wird sich die Bewegung nicht beruhigen lassen. Das Land wird in steigendem Maße sich betonen dem Staate gegenüber. Ein weiteres und das elementarste inhaltliche Moment hat der Staat sich selbst überlassen. So wird es als eine eigene Macht sich erheben. – Arnim-Brentano5 habe ich gelesen. Zunächst vom Herausgeber schlecht gemacht. Das ist höhere Buchbin­ derarbeit. Der Mann hätte doch etwas wenigstens von Ihrem Schleier­macher lernen sollen. Brentano nicht neu; bodenlos und ohne ernste Wahrheit. Dies ists worin Arnim ihm so weit überlegen ist. Da ist noch Wirklichkeit der Stimmung. Aber mehr nicht. Eine reiche reine stim­mungsvolle Natur, gewiß von großem persönlichen Zauber aber ohne jede Gestaltungs- und Erfindungskraft. Wo er dichtet, macht er Anlei­hen. Und das Wort ist Farbe, nicht Gestalt. Das ist nichts als Vergangen­heit. Schreiben Sie Ihren Schiller. Das ist lebendige Geschichte. Mit herzlichem Gruße treu ergeben Ihr Yorck.6 Aus dem ganzen Kreise sind doch die wirklich Bedeutenden die bei­den Grimms.7 Wie schön die Vorrede von Wilhelm Grimm zu den däni­schen Heldenliedern!8 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 113. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

459

Dilthey an Theodor Mommsen

1 Nicht überliefert. 2 Th. Gomperz: Zu Heraklits Lehre und den Überresten seines Werkes, in: SB der kaiserl. AdW in Wien (1886). Wien 1887, S. 997–1055. 3 Das Unbegrenzte, Unendliche und das Begrenzte, die Grenze. 4 Wurzel. 5 Achim von Arnim und die ihm nahestanden. Hg. von R. Steig und H. Grimm. Bd. I: Achim von Arnim und Clemens Brentano. Stuttgart 1894. – Achim von Arnim, e­ igentl. Ludwig Joachim (1781–1831): bedeutender Dichter der Hochromantik. – Clemens B ­ rentano (1778–1842): bedeutender Dichter der Spätromantik; lebenslanger Freund A. von Arnims. 6 Die Grußformel wurde aus den Korrekturbögen (Juni–August 1923) von BDY ergänzt. 7 Jacob und Wilhelm Grimm. 8 Altdänische Heldenlieder, Balladen und Märchen. Uebers. von W. Grimm. Heidelberg 1811, Vorrede: S. V–XL.

[889] Dilthey an Theodor Mommsen Hochverehrter Herr College,

Freitags 26 Juli [18]94

Die Erstattung des Berichtes habe ich schon Herrn Vahlen1 zugesagt, in der Voraussetzung daß am überbürdeten Ende des Semesters mindere Gründ­ lichkeit erfordert werde; nur müßte ich den von mir früher erstatteten Bericht einsehen. Dies kann ich damit verbinden daß ich Montag 12 ¼ Uhr in der Akademie nach dem Kantaktenstück suche. Es war ein kurzer Vorschlag dieses Unternehmens, gleichzeitig mit dem Harnackschen Plan der Regierung vor­gelegt, zur Begründung der Nothwendigkeit reichlicherer Geldmittel. Da ich das Jahr in welchem ich die Monum[enta] Paed[agogica]2 zuerst u. damals ablehnend begutachtet habe nicht mehr erinnere, wäre ich dankbar, wenn Sie dem Castellan aus irgend einer Übersicht über die Geschäfte dies Datum mit­ theilen oder irgendwie zeitlich ungefähr bestimmen könnten, da mein Nachsuchen sonst wol keinen Zweck hätte, das Aktenstück aber nicht entbehrt werden kann. Der richtige Weg in der Sache der Mon[umenta] Paed[agogica] scheint mir jetzt zu sein, eine mäßige Regierungsunterstützung zu empfehlen, wodurch dann auch die anderen Staaten zu Beihülfen aufgefordert würden: so könnte das immerhin verdienstliche Unternehmen, dessen Mangel an plan­mäßiger Ordnung und an Einschränkung im Papierconsum leider der­ selbe geblieben ist oder sich doch nur wenig gebessert hat, über Wasser gehalten werden. Ergebenst Wilhelm Dilthey © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

460

Dilthey an Conrad Ferdinand Meyer

Original: Hs.; StB PK Berlin, HA , NL Th. Mommsen, K. 23, Bl. 4–5. 1 J. Vahlen war neben Th. Mommsen damaliger Sekretar der philos.-histor. Klasse der königl. preuß. AdW zu Berlin. 2 Die Schriftenreihe Monumenta Germaniae Paedagogica. Schulordnungen, Schulbücher und pädagogische Miscellaneen aus den Landen deutscher Zunge wurde seit 1886 von K. Kehrbach herausgegeben.

[890] Dilthey an Conrad Ferdinand Meyer1 [September / Anfang Oktober 1894] Wilhelm Dilthey Professor der Philosophie Mitglied der Academie der Wissenschaften. Berlin W. Burggrafenstraße 55. [Vermerk von D.s Hand:] alter Freund von Julian Schmidt und unglückliches Mitglied der Schillercommission. Es gehört zu den Wünschen meines Lebens, Sie einmal zu sprechen. Nun bin ich hier in Ihrer Nähe im Hôtel-Pension Au2 bis zum Sonntag Abends. Sollte es Ihre kostbare Zeit gestatten, wäre es mir eine außerordentliche Freude Sie aufzusuchen.

In Verehrung [Wilhelm Dilthey]

Original: Visitenkarte mit handschriftlichen Mitteilungen D.s; ZB Zürich, Ms. CFM 331.4. 1 Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898): schweiz. Dichter; 1880 Ehrendoktorwürde der Universität Zürich. – Seit 1893 lebte Meyer in Kilchberg am Züricher See. 2 Halbinsel Au, gelegen zwischen den Orten Horgen und Wädenswill am Züricher See.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

461

Dilthey an Theodor Mommsen

[891] Dilthey an Theodor Mommsen G.RD Hôtel Simplon & Terminus Luino – Lac Majeur L. Albertini, Propr[iétaire]

Luino, d[en]11.10.1894.

  Hochverehrter Herr College, die Verzögerung meiner Rückkehr nach Berlin u. des Beginnens meiner Vorlesung bis zum 24ten Nov[ember], welche durch ein Augenleiden herbeigeführt ist, wird Ihnen seitens des Ministe­ riums mitgetheilt sein. Ich schreibe dennoch diese Zeilen wegen zweier Angelegenheiten in der Akademie. Sollte die Annahme des Kant-Antrags im Plenum eines begründenden Wortes bedürfen, welches Ihrer Darlegung zugefügt würde, so habe ich an Weinhold1 als Mitantragsteller nun ein solches geschrieben,2 die weiteren Schritte selber müßten ohnehin wohl ausstehen bis Stumpf in die Akademie u. die entsprechende Commission aufgenommen ist. Da der Antrag auf dessen Aufnahme selbstverständlich u. die Verhandlung sicher ohne Anstoß ist, so scheint sie meiner Anwesenheit nicht zu bedürfen. Außer diesen Zeilen schreibe ich an Weinhold,3 Schmoller4 u. Diels,5 ob sie nicht diesen Antrag ein­ bringen wollen u. erbiete mich zu einer schriftlichen Begründung, falls sie das wünschen. Die Correktur meiner beiden Vorträge in der Akademie,6 die nun ein Ganzes bilden, ist meiner Augen wegen bis jetzt unvollendet geblieben. Ich hoffe aber, daß ich sie nächstens fertig stellen darf. Meine Frau u. ich empfehlen uns Ihnen u Ihrer verehrten Frau Gemahlin7 auf’s Beste. Sie können denken, wie der Tod von Helmholtz8 uns erschüttert hat, umsomehr müssen wir dankbar sein, Sie noch so wirkungskräftig zu besitzen; daß wir in Ihnen einen Führer des Berliner wissenschaftl[ichen] Lebens haben u. recht lange behalten, ist für uns Alle von unermeßlichem Werthe. So hoffe ich, daß diese Zeilen Sie in bester Gesundheit antreffen.

In verehrungsvoller Gesinnung der Ihrige Wilh. Dilthey.

Original: Hs.; Diktat D.s von der Hand Katharina D.s; StB PK Berlin, HA , NL Th. Mommsen, K. 23, Bl. 6–6 R. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

462

Dilthey an Gustav von Schmoller

1 Der Philologe K. G. J. Weinhold war seit 1889 o. Prof. in Berlin. 2 Nicht überliefert. 3 Nicht überliefert. 4 Vgl. den nachfolgenden Brief. 5 Nicht überliefert. 6 D.: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, vorgetragen in der AdW am 22. Februar und 7. Juni 1894, in: SB der königl. preuß. AdW. Berlin 1894, S. 1309–1407; WA (mit Zusätzen aus den Handschriften) in: GS V, S. 139–237. 7 Maria Auguste Mommsen, geb. Reimer (1832–1907), Tochter des Leipziger Verlegers Georg Andreas Reimer und seit 1854 Ehefrau Th. Mommsens. 8 H. von Helmholtz war am 8. September 1894 gestorben.

[892] Dilthey an Gustav von Schmoller

G.RD Hôtel Simplon & Terminus Luino – Lac Majeur L. Albertini, Propr[iétaire]

Luino, d[en] 11. Okt[ober] 18941 (Diktat von meinem Mann!)

Lieber Freund, Sie werden schon von dem Reiseunfall vernommen haben, den ich mit meinen Augen erlitten. Schon von Andermatt mußte ich nach dem Süden in milde Luft u. dort einen Arzt consultiren. Nach verschiede­nen Schwankungen in der staub- u. windfrei­en Luft des monte generoso2 anscheinend hergestellt, trat ich die Rückreise an. Am Züricher See, wo wir uns die letzten Tage noch aufhalten wollten, um einen Übergang zum Norden zu haben, erlitt ich einen so schweren Rückfall, daß ich nun dem trefflichen Arzte Recht geben mußte, daß nur ein längerer Aufenthalt in ganz milder Luft meine Augen wiederherstellen kann. Ich habe mir nun Urlaub genommen bis zum 24. Nov[ember], gegenwärtig sind wir in Luino am lago maggiore, wo gerade die grünen Berge mit Wald u. Matten meinen Augen sehr wohl thun. Morgen ge­denken wir nach Stresa 3 überzusiedeln, wo dieselben Bedingungen bestehen. Das Wetter ist herrlich, voll­ständig sommerlich ohne zu heiß zu sein. So hoffe ich denn mit wiederhergestellten Augen zurückzukeh­ren. Die lange u. weite Trennung von den K ­ indern, die schon am 4ten unsere Rückkehr erwarteten ist uns freilich sehr arg, aber meine Frau kann ich ja jetzt weniger als je entbehren, zumal ich doch lang­sam in meiner Arbeit diktirend u. vorlesen lassend fortzuschreiten mich bemühe. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Gustav von Schmoller

463

Über Ihre Verhandlungen in Wien haben wir mit großem Intresse am Züricher-See die Berichte der Frankfurter Zeitung gelesen.4 Der Ver­lauf der Verhandlungen über die Vereinbarungen der Arbeitgeber war ja ein sehr befriedigender. Bren­tano’s extremer Standpunkt scheint eine entschiedene Niederlage erlitten zu haben. Dagegen war für die Agrarfrage Wien augenscheinlich nicht der richtige Boden, sonst wäre doch wohl der Congreß zu einer festeren Stellung gekommen, was ich im Interesse dieser Lebensfrage sehr gewünscht hätte. Alles in Allem hat diese Versammlung offenbar eine sehr große Theilnahme in der Presse u. der öffentlichen Meinung erregt. Daß die Vorbereitungen der Kant-Ausgabe um einen Monat hinausgeschoben werden ist kein Unglück, da es ja ohnehin wünschenswert ist, daß Stumpfs Aufnahme in die Akademie vorhergehe. Den Antrag in Bezug auf diesen können Sie mit Diels in meiner Abwesenheit ebenso gut stellen, wenn es Ihnen richtig er­scheint. Falls Sie von mir eine Begründung wünschen, so brauchen Sie mir nur eine Karte zu schreiben (Stresa, Hôtel des Iles Boromées) u. ich schicke Ihnen dieselbe sofort. Helmholtz[’] Tod u Zellers Fortgang5 haben ja nun in der Fakultät eine große Veränderung herbei­geführt. Wir werden mit einigen Wenigen umso ­fester zusammenhalten müssen. Können Sie ein Exemplar Ihrer letzten Abhandlung über die Methoden der politischen Ökonomie6 entbeh­ren, so würden Sie durch deren Übersendung unter Kreuzband mir einen Gefallen erweisen, da ich sie in der psychologischen Abhandlung gern noch in der Correktur hineinbringen möchte.7 Diese ist durch meine Augen auch im Rückstand geblieben. Ich gebe Ihnen dann dieses Exemplar wieder zurück, da das meinige sich gewiß wiederfindet. Glauben Sie, daß mir die Encyclopädie, aus welcher die Abhandlung entnommen ist,8 nützlich sein würde? Meine Frau u. ich grüßen Sie u. Ihre liebe Frau aufs Herzlichste u. hoffen, daß Sie gute Kur in Gastein gehabt haben.

In treuer Gesinnung der Ihrige Wilh. Dilthey.

Original: Hs.; Diktat D.s von der Hand Katharina D.s; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL G. von Schmoller, Nr. 119, Bl. 232–232 R. 1 Im Original: Notiz von der Hand Schmollers: „beantw[ortet] 13ten Oct[ober] [18]94“. 2 Schweiz.-ital. Grenzberg am Südrand der Alpen. 3 Ital. Kurort am westlichen Ufer des Lago Maggiore. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

464

Dilthey an Hermann Usener

4 Vermutlich hielt der 1873 gegründete Verein für Socialpolitik, dessen Vorsitzender G. von Schmoller 1890–1917 war und dem auch L. Brentano angehörte, im Herbst 1894 seine Jahrestagung in Wien ab. 5 1894 gab Zeller seine Lehrtätigkeit an der Berliner Universität auf und verzog nach Stuttgart. 6 G. von Schmoller: Volkswirtschaft, Volkswirtschaftslehre und -methode, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Hg. von J. Conrad, L. Elster, W. Lexis, E. Loening. Bd. 6. Jena 1894, S. 527–563. 7 Vgl. GS V, S. 148, Anm. 8 Das Handwörterbuch der Staatswissenschaften, das 1890–1897 in 6 Bänden und 2 Supplement-Bänden in Jena herausgegeben wurde.

[893] Dilthey an Hermann Usener Liebster Hermann,

[Anfang November 1894]

Ich eile Dir zu antworten.1 Verzeih wenn es etwas desultorisch2 geschieht. Auch so ist fraglich ob Du meiner Ansicht noch zu nutzen im Stande sein wirst. Ich bedaure daß Du dem gewöhnl[ichen] Kunstgriff nachgabst, durch einen ganz unbillig gestellten Termin Dich zu hastigen Entschlüssen treiben zu lassen. Ein p.p. Benndorff3 u. eine bb4 Staatsreg[ierung] dürften Dir der­ gleichen nicht zumuthen. Nie hätte es Dir das preuß[ische] Ministerium in einem solchen Falle zugemuthet. In der Sache selber gehe ich davon aus daß Du nicht gehen darfst.5 Böte man mir heute Wien: so fiele mir nicht ein zu gehn, u. doch ist Bresl[au] nicht Bonn, Prag nicht Wien. Das ganze Kulturbestreben in Östreich ist Spiegelfechterei u. der gegenw[ärtige] Minister ist eine jesuitische Natur, welche privatim sich als v[on] dem Katholic[ismus] bedrängt hinstellt, faktisch unter Einer Decke spielt. Schein: das ist das Ganze. Denke daß ein Jehring,6 der wahrhaftig nicht feinfühlig ist, bereit war, an jeden Ort der Welt zu gehn. Frage einen Brunner,7 der Prag jeder Zeit als eine jesuitische Hölle, in der die Deutschen an langsamem Ärger dörren bezeichnet hat. Aus keiner armseligen deutsch[en] Univ[ersität] ginge leicht ein Mensch in diesen Pfuhl wüthigen Parteihasses, in welchem die Regierung nicht einmal den Beteiligten recht zu unterstützen die Kraft hat. Ich sage es mit Bedacht: Benndorff ist ein sentimentaler, menschenunkundiger Phantast, und was er Dir etwa schreibt, ist ganz unbrauchbar. Wie kannst Du ohne irgend eine ordentliche unparth[eiische] Nachricht in diesen Pfuhl Dich begeben wollen! © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Hermann Usener

465

Dies ist meine heilige Überzeugung. Man kann politisch laisser faire, wenn man unter einer guten Regierung lebt, man kann raisonniren über das Einzelne, wenn man einem im Ganzen wohlgefügten Unterrichtssystem angehört. Hätten wir doch bei uns die Mittel, daß alles besser wäre: u. daher ist unser Zorn gerecht. Aber wie anders stellt sich Alles, wenn man diesem verruchten Höllenbrodel von Jesuitismus Völkermischmasch etc. sich gegenüber findet. U. nun vergleiche damit Deine Lage. Geradezu die schönste u. angenehmste Univ[ersität] Deutschlands. Das Schlimme hast Du hinter Dir. Nun sollten in dieser herrlichen Lage Deine Arbeiten reif werden u. Dein Einfluß auf die Studenten dadurch ganz neue Ausgangspunkte gewinnen. Das Berliner Gerede solltest Du verstummen machen, welches den Personen zuschiebt, was in der Sache gegründet ist, u. mit seinem Hypokritismus8 uns beiden wol gleich verhaßt ist. Indem Du gehst, beraubst Du Dich der Möglichkeit, ihm Deine volle bedeutende Person und ihre künftige Wirksamkeit in einer bedeutenden Lage gegenüberzustellen. Denn nie wird in dem Höllenbrodel Prag, mit diesem elenden Material Dir die Möglichkeit geboten werden, eine irgend hervortretende Wirksamkeit zu entfalten. Ich betrachte aber weiter Deine Forderung als zu hoch gegriffen, u. vermuthe daher, daß sie nicht bewilligt werden wird. Jede Forderung bemißt sich nach dem Gebotenen. Hättest Du wie B[ernays] einen Ruf nach Heidelb[erg] gehabt: so könntest Du etwa versuchen, diese Forderung zu stellen, u. selbst dann zweifle ich ob Du damit durchgedrungen wärest. Wie Du Dich einmal zur Berliner Clique gestellt hast: mußt Du dies doch auch in Rechnung bringen. Man kann nicht sich mit den Leuten überwerfen u. alsdann verlangen daß sie eine außergewöhnliche Bewilligung ­machen. Liebster Hermann! als Du Dich mit Haupt,9 Bernays etc. überwarfest mußtest Du Dir selber die Folgen davon in dem Urtheil jener über Dich sagen. Man kann diese Gesellsch[aft] nicht beleidigen, ohne daß sie ihren Bannfluch in Form eines scharf geprägten Urtheils aussprechen. In diesem sind Haupt u. Mommsen ganz einig. Sie werden es daher als einen Triumph betrachten, Dich in guter Form in Bonn durch einen der Ihren ersetzt zu sehen. Niemand ist ihnen so unangenehm als Du. Gerade weil Du bedeutend u. in einer bedeutenden Stellung bist: werden sie als einen Triumph betrachten, Dich aus Bonn herauszuintriguiren. Deine Aufgabe muß sein,10 ihnen diesen Spaß zu verderben, nicht wie Du zu thun begonnen hast, ihnen die Mittel an die Hand zu geben. Du hast gefordert was über das Maß des Billigen hinausgeht. Denn 1. Niemand kann es ernstlich nehmen, von Bonn nach Prag zu gehen. Man kann diesen Ruf benutzen, eine Gehaltsverbesserung zu erhalten, indem man erklärt, so in Bonn nicht leben zu können. Aber mit einer so hohen Forderung der © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

466

Dilthey an Hermann Usener

Regierung das Messer an die Brust zu setzen, scheint mir nicht berechtigt. Es ist dabei ganz einerlei, wieviel ‚Gulden‘ man Dir in Prag bietet. Vergleiche mit m[einem] Verfahren. Berlin ist kein angenehmer Ort. Ich bin hier unersetzlich. Ich habe die größten Collegien, die hi[er] jemand hat, die üb[e]rh[aupt] ein Philosoph in Preußen hat. Die Fakult[ät] hat erklärt, die Reg[ierung] müsse mich halten. Der Curator ist begeistert für mich. Unter solch[en] Umst[änden] habe ich nicht einmal eine Forderung präcisirt, und mich mit 2000 r einverst[anden] erkl[ärt]. Ich hätte vielleicht ein paar hundert Thaler mehr erhalten können. Ich habe aber nach der ersten Aufregung (in welcher Du leider formulirt hast) keine Forderung stellen wollen, welche den Anschein einer Unbilligkeit hervorriefe, indem ich mehr empfinge als ein einfaches Äquivalent. Nicht ein pecuniäres: denn dieses habe ich, da Beruf[un]g auch höhere Gehaltsforderung in Würzb[urg] freiließ, nicht erhalten, sondern ein Äquivalent in Bezug auf die Lage überhaupt. Wenn nun ein hochberühmter Forscher wie Pflüger11 2000 Thaler hat, wahrsch[einlich] andre ganz hervorrag[ende] Forscher auch nicht mehr: so mußt Du Deine Ford[erun]g auf 2000 Thaler stellen u., niemand würde dann haben versuchen können Dir diese Forderung zu weigern. So wirst Du, wenn Du nicht einen Ausweg findest, wegen einiger armsel[iger] hundert Thaler in die Verbannung gehen, wer weiß auf wie lange! [Briefschluss fehlt.] Original: Hs.; Brief-Fragment; ULB Bonn, Usener-NL , S 2102,3, unpaginiert. – Dem Original ist ein Blatt beigelegt, auf dem von der Hand G. Mischs notiert ist: „Späterer Brief bei Berufung Useners nach Wien“. 1 Ein vorausgegangener Brief Useners ist nicht überliefert. 2 Sprunghaft. 3 Professor publicus. – Otto Benndorf (1838–1907): klass. Archäologe; 1869 o. Prof. in Zürich, 1872 in Prag, 1877 in Wien. 4 Bereits benannt. 5 H. Usener erwog, von Bonn nach Prag zu wechseln, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte, und nicht, wie G. Misch meinte, nach Wien. Vgl. hierzu die Aussage Useners in einem Brief an H. Diels vom 29. Oktober 1894: „Im ernst, was meinst Du, wäre es in 3 jahren, wenn ich sie erlebe, nicht zeit de ponte praecipitari? Dann habe ich 40 dienstjahre – in Oesterreich braucht der univ. prof. nur 30 um anspruch auf pension und vollem gehalt zu erheben.“ (Ehlers, Bd. I, S. 488 f.) 6 Der Rechtswissenschaftler Rudolf von Ihering (1818–1892). 7 Der österr. Rechtshistoriker Heinrich Brunner (1840–1915) war 1870–1872 o. Prof. in Prag. 8 Heuchlerisches Gebaren (Hypokrisie: Heuchelei, Verstellung). 9 Der klass. Philologe und Germanist Moritz Haupt (1808–1874). 10 Im Original: „seinen“. 11 Eduard Friedrich Wilhelm Pflüger (1829–1910): Physiologe; 1859 o. Prof. in Bonn. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

467

[894] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

Hochverehrter Herr Geheimrath,

Varese,1 d[en] 6.Nov[ember] [18]94. Hôtel Exelsior (Diktat von meinem Mann.)

schon längere Zeit hätte ich Ihnen meinen Dank ausgesprochen u. Bericht von meinem Ergehen gegeben, hätte ich nicht die Hoffnung gehegt früher als zu dem Endtermin meines Urlaubs zurükkehren zu können. Ein wenn auch leichterer Rückfall an einem sehr windigen Tage hat diese Hoffnung ver­eitelt. Also vorläufig schriftlich meinen herz­lichsten Dank. Von Zürich gingen wir über Luino nach dem noch milderen Stresa am lago maggiore, wo viel Wald u. Wiesen u. staublose Wege den Augen sehr günstig sind. Da das Hôtel dort ge­schlossen wurde, sind wir nun hierher nach Varese übergesiedelt, wo wir freilich mit einem Engländer ganz allein sind. Aber wir sind hier vollständig, was der Italiener alla campagna 2 nennt, u. noch umgiebt uns sommerliche Wärme, sodaß ich den ganzen Tag meine Augen der heilenden Luft aussetzen kann. Vor uns liegt die ganze Monte Rosa-Gruppe3 u. das Wetter ist gleichmäßig schön. So werden wir vermutlich hier bis zur Rückreise bleiben, welche wir dann in kleinen Routen machen wollen, damit ich den Ertrag des Urlaubs für meine Augen möglichst ungeschmälert in den Norden zurückbringe. Mit meiner Arbeit geht es Dank der Hülfe meiner Frau so vorwärts, daß ich zufrieden sein kann, u. das Ziel, das ich mir gesteckt habe noch erreichen zu können hoffe. Nach meiner Rückkehr wird dann auch durch die Aufnahme von Stumpf in die Akademie die Bildung der Kant-Komission u. der Beginn der Arbeiten derselben mög­lich sein. In der Hoffnung, Ihnen bald persönlich danken zu können bin ich mit unsern herzlichsten Grüßen an Sie u Ihre verehrte Frau Gemahlin

der Ihrige Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; Diktat D.s von der Hand Katharina D.s; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, B Nr. 29, Bd. 2, Bl. 133–133 R. 1 Stadt im Nordwesten der Lombardei in Oberitalien. 2 Wie auf dem Lande. 3 Gebirgsmassiv in den Walliser Alpen, auf der Grenze zwischen Italien und der Schweiz. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

468

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

[895] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Lieber Freund,

Berlin den 14. 12. [18]94.

Seitdem Sie fort sind lastet ein trüber Himmel auf uns, ich besorge meine Geschäfte, aber die Correktur1 liegt unüberwindlich vor mir. Zweierlei ist klar: erstens der Begriff der Hypothese etc. muß besser aus­einandergesetzt werden. Zweitens S. 61 ff. ist die Darstellung des Strukturzusammenhangs selbst nur hypothetisch. Es muß zuerst entsprechend dem späteren Begriff eines subjektiv und immanent zweckmäßigen Zusammenhangs aus der inneren Erfahrung das Erforderliche einge­schaltet werden, das folgende dann unter dem einer objektiven Zweckmäßigkeit in seinem hypothetischen Charakter folgen. Von Ihren Bemerkungen auf den Bogen erwarte ich diesmal die Anregung zu einer Thätigkeit, die von innen heraus versagt. So bitte ich Sie recht herzlich mir sobald als thunlich und so ausführlich als möglich aber lieber aus­führlicher als bälder, wenn beides einander ausschließt, die Correktur mit Ihren Bemerkungen senden zu wollen. Jeden Morgen erwarte ich mit Spannung den Brief­ boten, der dann manches Andere bringt, das Erwartete bisher nicht. So viel heute in großer Eile! Nur noch daß die Helmholtz[’] Todtenfeier heute so war wie Alles in Berlin. Die dehors2 und Außenwerke, Ausstaffirung, Musik, Kaiserpaar, Hofgesellschaft brillant. Der Kern, die Rede von Bezold3 ein Conglomerat ohne Ahnung von dem Zusammen­hang dieses Lebenswerkes in sich und mit der Zeit. Nächstens mehr, lieber Freund, sobald ich Ihre kostbaren Blätter in Händen halte. … [Briefschluss fehlt.] Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 114. 1 Die Korrektur von D.s. Ideen. 2 Äußerer Schein, gesellschaftlicher Anstand. 3 Wilhelm von Bezold (1837–1907): Physiker und Meteorologe; 1866 a. o., 1868 o. Prof. in München, 1885 in Berlin. – Hermann von Helmholtz. Gedächtnisrede, gehalten in der Singakademie zu Berlin am 14.12.1894. Leipzig 1895.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

469

[896] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Klein-Oels den 15. Dezember [18]94.

Die Lesung Ihrer schönen Arbeit hat sich doch länger verzögert als ich annahm und erhoffte. Und doch war die Zeit, die ich darauf verwen­den konnte, eine sachlich ungenügende. Gern hätte ich meine wenigen Randbemerkungen erst nach Kenntnißnahme des Ganzen gemacht anstatt während der Lektüre. Dann hätte ich wohl Manches nicht oder anders gesagt. Die Anmerkungen1 können leichtlich mit Gummi fortge­wischt werden. Einige Druckfehler bitte ich zu beachten. Ein Umstand ist es besonders, der den Wunsch einer anderen Art der Annotirung begründet: der in seiner Geschlossenheit und Energie von der früheren Betrachtungsweise sich abhebende Charakter des 5ten Kapitels, welches mir das Wesentlichste erscheint. Die Kautelen an einzelnen Stellen der früheren Darstellung: das sich wiederholende ‚zur Zeit‘, die Nebeneinanderstellung von erklärender und beschreibender Psychologie als Complementär­ erscheinungen etc. wird aufgegeben und voller Ernst gemacht mit der Opposition. Zwei Merkmale scheinen mir gegenüber der erklärenden Psychologie – deren Bezeichnung als konstruktive ich doch auch jetzt noch, auch wegen der historischen Parallelen der Benennung, empfehlen möchte als sachlich klärend – polemisch besonders hervorgehoben und durchgeführt zu sein. 1. Die Insuffizienz dieser Psychologie gegen­über der Fülle der eigenen und geschichtlichen Lebendigkeit. 2. Das Problematische und Unsichere ihrer Hypothesen. Jene ist aus der eige­nen Lebensfülle heraus zumal im 5ten Capitel breit, mächtig und wirksam dargestellt. Auch finden sich die Grundzüge der Erkenntniß jener Insuffizienz angegeben, die Antwort auf die Frage des Warum angedeu­ tet, der Ort wo Recht zu nehmen und zu finden ist, bezeichnet. Die Selbstbesinnung als primäres Erkenntnißmittel, die Analysis als primäres Erkenntnißverfahren werden fest hingestellt. Von hier aus werden Sätze formulirt, die der Eigenbefund verifizirt. Zu einer kritischen Auflösung, einer Erklärung und damit inneren Widerlegung der konstruktiven Psychologie und ihrer Annahmen wird nicht fortgeschritten. Es verbleibt dabei sie als im Widerspruch mit dem Erlebniß und ihre Annahmen als problematisch aufzuweisen. In Folge dessen ist die Behandlung und Berücksichtigung, welche die Sphäre des Intellekts erfährt, eine weniger eingehende und umfangreiche als die schönen Beschreibungen der gestal­ tenden, der in weiterem Sinne bildenden Psyche. ­Zumal wo von der See­lengeschichte geredet wird, dokumentirt sich Ihre besondere, feine Gabe Inneres zu sehen. Von der echt deutschen Werthung von © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

470

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

Kindheit und Jugend erzählte ich Bertha und freute mich, als sie, die ihren Schil­ler in treuem und starkem Gedächtnisse bewahrt, mich auf eine Parallel­ stelle in einer Rede des Marquis Posa hinwies.2 Die Kürze jener Behand­lung3 nun, das Absehen von kritischer Auflösung = psychologischer Provenienznachweisung im Einzelnen und in eingreifender Ausführung steht meines Erachtens im Zusammenhange mit dem Begriffe und der Stellung, welche Sie der Erkenntnißtheorie zuweisen. Seite 5 sagen Sie, unmöglich könne der Erkenntnißtheorie eine Psychologie vorausgeschickt wer­den. Auf Seite 9 und 10 wird dies näher dahin einschränkend erläutert, daß die Erkenntnißtheorie in der­ selben Weise aus der beschreibenden und analysirenden Psychologie einen solchen Zusammenhang von Sät­zen entnehmen könne, wie sie ihn bedarf etc., in welcher sie allgemeingiltige und sichere Sätze auch aus anderen Wissenschaften entnehme. Weiter: ‚eine Erkenntnißtheorie welche sich allgemeingiltiger und fest­er Sätze, die aus Anschauungen in den Einzelwissenschaften schon abgeleitet und bewährt sind, bedient.‘ Mir scheint Erkenntnißtheorie den psychischen Selbstbefund und nichts Weiteres, zumal keinerlei ‚Sätze‘ aus den Einzelwissenschaften zur Voraussetzung haben zu sol­len. Das Bedürfniß nach einer Erkenntnißtheorie erwachte, als die Trag­weite der intellektuellen Mittel zur Frage gestellt war. Die Skepsis als sol­che führte noch nicht zu einer selbständigen Disziplin: Erkenntnißtheorie, sondern bereitete sie nur vor. Gewiß liegt allem Philosophiren eine bestimmte Erkenntnißtheorie, weil eine bestimmte Erkenntnißverhaltung, zu Grunde, kann aus ihr herausgehoben werden, aber sie ist darum nicht explicite vorhanden. Die deutsche romantische Philosophie, Schelling, Schleiermacher, beginnen frischweg mit dem Erkennen, aus dem großen historischen Zusammenhange somit heraustretend. Man kann den historischen Zeitpunkt des Hervortretens dieser Disziplin angeben. Die Voraussetzung war eine bestimmte Bewußtseinsverfassung, eine bestimmte Stellung der Wirklichkeit gegenüber. Unter dem Vorzeichen des lebendigen historischen mechanistischen Verhaltens bildete sich die Erkenntnißtheorie an der Frage nach der Wirklichkeit.4 (Identifikation von Wahrheit und Wirklichkeit.) Von dem Wirklichkeitsfaktor, dem Willen aus wurde die Theorie entwickelt. Alle Wahrheitsprädikate wur­den darauf zurückgeführt. Das Machen, Wirken war der Garant des Seins als Gemachtseins. So erschien alle psychische Gegebenheit als Material. Die Handlichkeit verlangte das Einzelne, dessen absolute Form das Atom ist, das Eindeutige, hindernißlos synthetisirbare. Das reine Mate­rial mußte qualitätlos somit zusammenhangslos sein. Die einzig erforder­liche Eigenschaft war die der Zusammenfügbarkeit, Assoziabilität. Der ganze Gedanke der Assoziation ist unabtrennbar von dem mechanisti­schen Boden und, wo er festgehalten wird auf anderem Standpunkte, ein widerspruchsvoller überkommener Rest. Wurde nun die synthe­ © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

471

tische Kraft in das Material verlegt, der theoretische Schritt, welcher dem Aufge­ben der Transzendenz des Denkens entsprach, ein Schritt, den z. B. Wundt wieder zurückthut, ohne damit etwas Neues oder Zukunftsreiches zu thun, so blieb das todte, in sich zufällige, nicht weiter erklärbare soge­nannte Assoziationsgesetz, ein übertragener Ausdruck, der nichts erklärt, ebenso wenig wie die modernen der Chemie entnommenen Tro­pen. Jene souveräne Willensstellung aber formte die ganze Inhaltlichkeit des Bewußtseins um und die phantasievolle Erweiterung der Psychologie zur s. g. Biologie hat darin nichts geändert. Sie ist nur eine äußere Horizonterweiterung. Von jener Erkenntnißtendenz sind aber auch alle Grundhypothesen getragen, deren Schwäche – und darin weiche ich wohl von Ihnen in etwas ab – nicht in dem Charakter des Problematischen liegt. Der Effekt, ihre konstruktive Kraft verleiht ihnen eine Art von Realität. Sie sind Willenskonsequenzen, man kann sagen Derivate der konstrukti­ven Tendenz. Wo es sich nun um Willensdaten, um Wirklichkeit im enge­ ren Sinne, populär gesprochen: um die äußere Natur und Welt handelt, da ist die Konstruktion  – der Provenienz wegen  – dem ‚Objekte‘ adaequat. Wo das Somatische (Organische) in Frage steht, welches in seiner Funk­tion – nicht in seiner Struktur – nie ohne Psychisches gegeben ist, wird durch jene Tendenz der Befund nicht nur reduzirt sondern alterirt. Dies im Einzelnen nachzuweisen und aus der Provenienznachweisung zu erklären, ist Sache der Erkenntnißtheorie. Eine konstruktive Psychologie soll es also nicht geben, da Wahrheitsermittelung in Frage steht, nicht nur nicht zur Zeit, nicht als Complementärerscheinung, sondern ent­sprechend den Ausführungen des 5ten Capitels gar nicht. Und das haben Sie ja im Gegensatze zu jenen einzelnen restringirenden Stellen, die ich um der Einheit und Bedeutung des Ganzen Willen entfernt sehen möchte, ebenso klar wie schön, mit dem Affekte der Wahrheit ausge­sprochen und auseinandergesetzt. Die bewußtseinswidrigen Consequenzen jener Applikation haben Sie aufgezeigt, an die Selbsterfahrung als letzte Instanz appellirend. Und eine höhere Instanz ist nicht erfindlich. (Alle psycho-physischen Versuche, die Thätigkeit jener psychologischen Versuchsstationen, die ich für wissenschaftlich recht nebensächlich, für ein Opfer, das man dem Zeitgeist und Zeitgeschmack bringt, halte, kön­nen nicht weiter zurückführen. Sie mögen ungestört ihr Werk treiben einer quantitativen Bestimmung der Vorgänge. Erklären können sie sie nicht.) Aber  – und damit komme ich auf den Ausgangspunkt dieser Auseinandersetzung zurück  – die Erklärung der Unanwendbarkeit – die Thatsache ist hingestellt und deutlich gemacht – giebt nur eine Erkenntnißtheorie. Sie hat Rechenschaft abzu­ legen über die Adaequatheit der wissenschaftlichen Methoden, sie hat die Methodenlehre zu begründen, anstatt daß jetzt die Methoden den einzelnen Gebieten – ich muß sagen auf gut Glück – entnommen werden. Ihre Voraus© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

472

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

setzung ist, wie Sie richtig sagen, psychologisch, sie hat auszugehen von der Selbst­besinnung, von dem durch keine Einzeltendenz verkürzten psychischen Befunde. Ihre Mittel sind: Selbstbeobachtung, Analysis und intellektuelles – gegenüber dem handlichen – Experiment. Allgemeingiltigkeit, Sicherheit etc. werden von ihr erst bestimmt; so können sie nicht von Außen her ihr zugeführt werden. Sie betrachtet den Vorgang des Verräumlichens, des Wahr­ nehmens, Vorstellens und wird zu Ansichten füh­ren, welche ein gutes Theil der gegenwärtigen einschlägigen Theoreme als alten Sauerteig des Mecha­ nismus erkennen lassen werden. Sie erkennt den psychischen Ursprung von Substanz, wie diese Kategorie ein Ferment jeden intellektuellen Aktes ist, und von Causalität. Sie wird die Grenzen, die innerpsychischen Grenzen der Erkenntniß nachweisen, den Vorgang des Erkennens über sich selbst ins Klare setzen. So wird sie, wie sie nach ihrem Ausgangspunkte nicht anders sein kann, gleichsam Psychologie in Bewegung sein, die intellektuellen psychischen Vorgänge beobachtend, mitschreitend auf ihre Natur und Tragweite prüfen. Sie wird viel mehr und viel früher Unerkennbarkeit finden und an anderem Orte als Hamilton. Sie wird den Intellekt aus seinen Voraussetzungen und seiner Verhaltung als nicht ausreichend nachweisen zur Erklärung der gewiß somatisch bedingten aber nicht somatisch gearteten Geschichtlichkeit, als nicht ausreichend zum Ergreifen der Persönlichkeit, die in ihrer Lebendigkeit auch nicht durch Charakterbestimmungen zur deckenden Beschreibung zu bringen ist.  – Die große Zeit der Renaissance-Philoso­phie begann mit Erkenntnißtheorie. Die neue Zeit muß auch damit beginnen. Und trotz unserer Differenz bezüglich der Stellung der Erkenntnißtheorie sehe ich in Ihrer neuen Arbeit wie in den früheren grundlegende Beiträge zu einer neuen Erkenntniß­ theorie. Die heutige Post brachte Ihren Brief. Die Druckbogen5 sende ich heute zurück. Den anderen Wunsch genauer und eingehender Annota­tionen verbietet mir leider die Zeit zu erfüllen. Es würde dies auch ein ganzes opus abgeben.6 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 115. 1 Vgl. GS XXII, S. 253–336 und S. 371–480: Der Korrekturabzug der Ideen über eine beschreibende Psychologie mit den Anmerkungen des Grafen Yorck von Wartenburg. 2 F. Schiller: Don Carlos, 4. Akt, 21. Auftritt: „… Sagen Sie ihm, daß er für die Träume seiner Jugend soll Achtung haben, wenn er Mann sein wird.“ 3 Die Hg. von BDY merkt auf S. 177 an: „Anmerkung D.s: ‚der Intelligenz‘“. 4 Die Hg. von BDY notiert auf S. 178: „Anmerkung D.s: ‚= ob das Construirte, was in sich in Mathematischen Sätzen Wahrheit enthält, darin auch äußere Wirklichkeit (Descartes, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

473

Dilthey an Hermann Usener

S­ pinoza) = ob das Construktive Erfolg, und Wirkung der Construktion die Gesellschaft.‘ (In Diltheys Anmerkung kann für ‚Wirkung der Construktion die Gesellschaft‘, auch ge­ lesen werden: ‚Wirkung die Construktion der Gesellschaft‘.)“ 5 Der Ideen. 6 Die Hg. von BDY merkt auf S. 268 zu diesem Brief mit Angabe von Seitenzahlen und Zeilen an: „Von Diltheys Hand angestrichen und z. T. mit einem NB versehen sind folgende Stellen: ‚konstruktive … wegen der historischen Parallelen‘; ‚Erklärung und damit inneren Widerlegung der konstruktiven Psychologie und ihrer An­nahmen‘; ‚Behandlung und Berücksichtigung, welche die Sphäre des Intellekts erfährt, eine weniger eingehende und umfangreiche‘; ‚Die Kürze jener Behandlung nun, das Absehen von kritischer Auf­lösung = psychologischer Provenienznachweisung im Einzelnen und in eingreifender Ausführung steht meines Erachtens im Zusammenhange mit dem Begriffe und der Stellung, welche Sie der Erkenntnißtheorie zuweisen‘; ‚Frage nach der Wirklichkeit‘; ‚Machen, Wirken war der Garant des Seins als Gemachtseins.‘; ‚Wurde nun die synthetische Kraft in das Material verlegt, der theoretische Schritt, welcher dem Aufgeben der Transzendenz des Denkens entsprach‘; ‚Von jener Erkenntnißtendenz sind aber auch alle Grund­hypothesen getragen, deren Schwäche … nicht in dem Charakter des Problema­tischen liegt. Der Effekt, ihre konstruktive Kraft verleiht ihnen eine Art von Rea­lität. Sie sind Willenskonsequenzen, man kann sagen Derivate der konstruktiven Tendenz. Wo es sich nun um Willensdaten, um Wirklichkeit im engeren Sinne, populär gesprochen: um die äußere Natur und Welt handelt, da ist die Konstruktion der Provenienz wegen dem ‚Objekte‘ adaequat‘; ‚die Erklärung der Unanwendbarkeit – die Thatsache ist hingestellt und deutlich gemacht – giebt nur eine Erkenntnißtheorie‘; ‚intellektuelles – gegenüber dem handlichen – Experiment‘; ‚gleichsam Psychologie in Bewegung‘; ‚aus seinen Voraussetzungen und seiner Verhaltung als nicht ausreichend nachweisen zur Erklärung der gewiß somatisch bedingten aber nicht somatisch gearteten Geschichtlichkeit, … Persönlichkeit, die in ihrer Lebendigkeit auch nicht durch Charakterbestimmungen zur deckenden Beschreibung zu bringen ist.‘“

[897] Dilthey an Hermann Usener Mein liebster Hermann,

[Ende Dezember 1894]

dem allgemeinen Familienglückwunsch will ich ein Wörtchen an Dich zum neuen Jahr zum Geleit geben. Möge das kommende Jahr Dir Gesundheit ­A rbeitsfrische u. Lebenshei­terkeit erhalten u. Euch Allen das Leben fröh­ lich verfließen. An Deinem Walther hatten wir große Freude. Seine kindliche familienhafte behagliche Art muß jedem wohlthun. Sobald ich mit der jetzt drängenden Arbeit, die nach so langer Abwesenheit sich häufte, fertig bin: werde ich mich auch mehr mit ihm beschäftigen können. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

474

Hermann Usener an Dilthey

Auf Deine Arbeit freue ich mich unermeßlich. Ich hoffe für die eigene Arbeit viel von ihr zu lernen. Diese rückt langsam vor, stockt manchmal, meine vielfache Kränklichkeit macht sich bei ihrer Forderung doch sehr geltend. Nun herzliche Grüße an Lili u. die Kinder zum neuen Jahr von uns allen. In alter Treue u. Liebe Wilhelm. Dein schönes Bild mit Deinen Büchern bringt mir Dich immer vor die Seele. Gar manchmal blicke ich zu ihm herüber. Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL , S 2102, 3, Nr. 34.

[898] Hermann Usener an Dilthey Mein lieber Wilhelm,

Bonn, den 30. dez[ember] [18]94.

gestatte mir den luxus, Dir auch ohne, dass Du es begehrst, einen brief zu senden. Denn ich begreife nur zu sehr, wie Du nach verlängerter abwesenheit mitten ins semester hereingeschneit, zu allem anderen eher zeit findest als zu correspondenzen. Aber es ist mir bedürfnis, ebenso sehr Dir und Käthe für Eure liebenswürdige fürsorge für Walther zu danken, wie meine frühere bitte zu erneuern, dass Du ihn durch gespräche, wie Du sie zu führen weisst, hinsichtlich seines verständnisses Deiner vorlesung kontrollieren und zu tieferer auffassung der dinge hinführen mögest. Er hat neigung zu philo­sophischer betrachtungsweise, aber diese neigung bisher in höchst unbefriedigender weise zu befriedigen gesucht; direktes einrenken war in dem fall, wie meistens machtlos. Was ich treibe, habe ich Dir ja im oktober geschrieben,1 seitdem bin ich zwar fleissig gewesen, aber nicht so, dass man den erfolg mit der elle messen könnte. Nur langsam schreitet der druck fort, seitdem ich auf den wett­lauf mit dem setzer verzichtet habe.2 Wichtiger ist mir zu hören, wie es Dir geht und was Du treibst. Es wäre hübsch von Dir, wenn Du im neuen jahre die zeit und lust finden solltest, mir dazu zu verhelfen. Aber ich will nicht bloss wün­sche © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Gustav von Schmoller

475

für mich ans neue jahr richten, sondern vor allem Dir und Käthe, sowie Euren kindern das beste und schönste vom jahr 1895 erbitten. Lebt wohl und gesund und vergesst nicht ganz Euren H. Usener. Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 22. 1 Nicht überliefert. 2 H. Usener: Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung. Bonn 1896.

[899] Dilthey an Gustav von Schmoller   Lieber Freund,

[Anfang 1895]

Daß M[ommsen] vorzugehen beabsichtigt steht fest, ob er den allg[emei­ nen] Antrag auf Besetzung der freien Stelle Donnerstag bringen wird weiß ich nicht; in dieser kritischen Lage wäre Ihre Anwesenheit Donnerstag auf jeden Fall wichtig. Einen Antrag auf Gr[imm]1 gegen den zu erwartenden [Widerstand] würden einbringen: W[ein]h[old], L[andolt],2 Brun[ner], m[eine] Wenigkeit außer Ihnen. Tobler3 leider auf Gegenseite. Diese Gr[imm]sche Parthei bleibt in der Minorität, das ist sicher. Möglich wäre nur daß durch eine Koalition mit denen, die keinen von beiden wollen, erreicht werde, daß Gr[imm] nicht tödlich verletzt würde und sein Weggang nach M[ün]ch[en] nicht eintrete, indem beide Anträge fielen. D[ie] Ak[ademie] selbst muß ein starkes Interesse haben, diesen zweiten der Treitschke-affaire folgenden Skandal zu verhindern, der ihr […] unermeßlich schaden würde. Gegen beide würde, nach e[inem] Gespräch zu schließen, Bez[old].4 stimmen, wahrsch[einlich] auch Joh[annes] S[chmidt], diese Parthei zu verstärken, wäre das Ziel. Ihr beabsichtigtes Gespräch mit S[chmidt] wäre in dieser Richtung wichtig. Wegbleiben reicht ja im Nothfall zu diesem Zwecke aus, nämlich bei der späteren entscheidenden Sitzung. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

476

Dilthey an Gustav von Schmoller

Donnerstag käme ev[entuell] zunächst der Antrag auf Wiederbesetzung der freien Stelle. 14 Tage danach kämen dann die Personalanträge. Da das Resultat jedenfalls sehr zweifelhaft wird [,] die ganze Sache sonach selbst bei einer Wahl den Betreffenden keine Freude machen könnte, entschließt sich vielleicht M[ommsen], der weiß daß W[ein]h[old], Sie, ich dagegen sind u. wol auch mehr weiß, zunächst davon abzusehen. Für ein Gespräch fehlt die Handhabe, da wir nur höchst vertraulich wissen, was er beabsichtigt. Könnte es herbeigeführt u. M[ommsen] bestimmt werden, zu warten, so wäre dies wahrlich das Wünschenswerthe. Mit Arbeit überhäuft. Weiß nicht ob ich Sie finden würde, sonst käme ich doch. Mich finden Sie heute den ganzen Tag u. Abend, wenn Ihr Befinden auszugehen Ihnen angenehm macht.

M[it] b[e]stem Gruß v[on] Haus zu Haus der Ihrige W. Dilthey.

Original: Hs.; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL G. von Schmoller, Nr. 185, Bl. 11–12. 1 In der Berliner AdW sollte die freie Stelle für neuere deutsche Literatur besetzt werden. Zur Wahl standen H. Grimm und E. Schmidt. D. setzte sich für die Wahl H. Grimms ein. Doch am 18. Februar 1895 wurde die Wahl E. Schmidts zum o. Mitglied der philos.histor. Classe der AdW bestätigt; vgl. SB der königl. preuß. AdW. Berlin 1895, S. 260 sowie Ehlers, Bd. II, S. 75 und 80 f. 2 Hans Heinrich Landolt (1831–1910): schweiz. Chemiker; 1858 a. o. Prof. in Bonn, 1870 o. Prof. in Aachen, 1881 an der königl. landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin, 1891 an der Universität Berlin. 3 Adolf Tobler (1835–1910): schweiz. Romanist; seit 1867 o. Prof. in Berlin. 4 Der Physiker und Meteorologe Wilhelm von Bezold (1837–1907), seit 1885 o. Prof. der Meteorologie in Berlin.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

477

Dilthey an Ludwig Stein

[900] Dilthey an Ludwig Stein [16. 1. 1895]1 Nur eilig, lieber Herr Kollege, dass Stumpf für eine englische Zeitschrift einen Artikel über Helmholtz und die Psychologie geschrieben hat, dessen deutsche Grundschrift er dem Archiv zu überlassen bereit ist;2 das kommt uns wie gerufen, wollen Sie nur freundlich eine Zeile darüber an ihn schreiben.

Eiligst mit bestem Gruss der Ihrige Wilhelm Dilthey

Original: nicht überliefert; Hs.; Postkarte; Diktat D.s von der Hand Katharina D.s; Fotokopien der Originale: Dilthey-Forschungsstelle im Institut für Philosophie I der Ruhr-Universität Bochum. 1 Datierung nach Poststempel. 2 C. Stumpf: Hermann von Helmholtz and the New Psychology, in: The Psychological Review II/1 (1895), S. 1–12; unter dem Titel Hermann von Helmholtz und die neuere Psychologie, in: AGPh 8 (1895), S. 303–314.

[901] Dilthey an Eduard Zeller   Verehrter Freund!

[Ende Januar 1895]

Heute komme ich mit einer auf die Kantausgabe bezüglichen Bitte, welche Sie hoffentlich in einem leidlichen Befinden und bei ruhig fortschreitender Heilung trifft. Die Sitzung der erweiterten Commission ist durch verschiedene Umstände, insbesondere zuletzt durch eine Lungenentzündung Reickes, von welcher er sich noch nicht erholt hat, hinangeschoben worden. Da ist nun Zeit, in bezug auf einige Grundfragen, welche dieser Commission vorzulegen sind, bei einigen Männern, deren Urteil am schwersten ins Gewicht fällt, Umfrage zu halten. Und so wende ich mich nun allererst an Sie. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

478

Dilthey an Eduard Zeller

Die nächste Frage ist die nach der Anordnung der Werke, welche natürlich getrennt von handschriftlichen Aufzeichnungen und Briefen eine Abteilung für sich bilden. Ich sende Ihnen nun eine Übersicht1 möglicher Anordnungen zur gütigen Prüfung, zunächst stehen einander die rein chronologische und die sachliche oder systematische Anordnung gegenüber. Wäre die letztere allgemeingiltig herstellbar und könnten die kleineren Arbeiten derselben in sicherer Weise eingeordnet werden, so wäre sie zweifellos übersichtlicher, bei Benutzung fände man das Erforderliche in bestimmten Bänden zusammen, die eigentlich von einander untrennbaren drei Kriterien stünden wirklich, wie sich’s gehört neben­einander. Leider lassen sich aber trotz immer wiederholter Versuche der Anordnung diese Bedingungen nicht erfüllen. Ich brauche Ihnen die Fragezeichen nicht ausdrücklich hinzustellen, welche sowohl in bezug auf die systematische Gliederung als in bezug auf die Einreihung zu machen sein würden. Das Missliche einer Abteilung „Gelegenheitsschriften“ S. 5 oben fällt ferner in die Augen. So finde ich mich durch solche Schwierigkeiten doch immer wieder zur chronologischen Anordnung zurückgeführt. Hinzu füge [ich], lieber verehrter Freund meine herzlichsten Glückwünsche daß Sie nunmehr einen Enkel in den Armen halten dürfen u. hoffentlich noch um sich spielen und wachsen sehen werden.2 Daß die Heilung langsam verläuft ist eine Geduldsprobe, aber bei Ihrer vorzüglichen Natur bin ich von dem guten Resultat fest überzeugt. Die Lektüre des Vorliegenden u. Überlegungen unterhält Sie vielleicht eine Stunde: der Sache selbst leisteten Sie einen großen Dienst, gelänge Ihnen eine überzeugende Anordnung

In treuster Gesinnung Ihr Wilhelm Dilthey

Ich bemerke noch: Unter den sachlichen Anordnungen kann ebensogut als die unter B u. C gegebenen diejenige gewählt werden, welche Kuno Fischer in seinem „Kant“3 zu Grunde gelegt hat. Es würde aber ebensowohl möglich sein, indem man den methodischen Gesichtspunkt bevorzugt, zu gliedern: Die drei Kriterien mit Zubehör. Darauf gebaut die Metaphysik der Natur und der Sitten. Die hauptsächlichsten darauf gegründeten Anwendungen, der entwicklungsgeschichtliche Zusammenhang, in welchem Kant durch Hypothesen bis zur Philosophie der Geschichte fortschritt. Ich brauche nicht zu sagen, wie dieser dritte Teil seines Systems in den einzelnen Ausführungen durch Umstände, wechselnde Gesichtspunkte, herannahendes Alter nicht zum völligen Abschluss kam. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

479

Dilthey an Hermann Ebbinghaus

Vergleicht man solche möglichen Einteilungen nach dem Gesichtspunkt der sachlichen Gliederung, so erscheint es gerade bei Kant unthunlich, allgemeine Anerkennung für Eine derselben zu erwarten. Will man nun solchen Abteilungen das Zugehörige unterordnen, so ent­ stehen neue Unsicherheiten. Verlässt man nun gar das System einer chronologischen Einordnung unter die Abteilungen, welche ich das gemischte nenne, und will sachlich gliedern, dann ist für den Benutzer der Ausgabe wirklich nichts mehr zu finden. So bin ich für mich schliesslich nach allen Versuchen zur chronologischen Ordnung zurückgekehrt, doch dünkt mich, dass deren Schwierigkeiten erheblich vermindert würden in bezug auf Auffindung einzelner Abhandlungen, die ich unter III A gegeben, angeordnet würde. Doch verzeihen Sie, ich wollte eigentlich garnicht meine Eindrücke Ihnen schreiben, es ist Ihre Ansicht, um welche es mir zu thun ist. Original: Hs.; teilweise von der Hand D.s, überwiegend Diktat D.s von fremder Hand; UB Tübingen, Zeller-NL , MD 747–145. 1 Nicht überliefert. 2 Vgl. hierzu Ehlers, Bd. II, S. 86 f. 3 K. Fischer: Immanuel Kant und seine Lehre. 2 Bde. Mannheim 1860 (= Geschichte der neuern Philosophie. Bd. 3 und 4).

[902] Dilthey an Hermann Ebbinghaus Verehrter Freund,

Berlin, 7 März 1895.

Ich hätte Ihnen beifolgende Abhandlung,1 die Sie an viele frühere Gespräche erinnern wird, schon längere Zeit übersandt, hätte mich nicht eine hartnäckige Influenzaerkrankung gehindert, die auch jetzt noch nicht über­ wunden ist. Ich sende Ihnen die Abhandlung mit dem lebhaften Wunsche, einiges darin möge Ihren Beifall finden, über alles aber möchten Sie mir Bedenken und Zustimmung offen mitteilen, damit ich für die letzte Ausarbeitung des 2ten Bandes daraus lernen möchte. Denn besonders deshalb habe ich diese Abhandlung für sich herausgegeben, um den freundschaftlichen Rat einiger Sachkenner benutzen zu können. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

480

Dilthey an Paul Natorp

Ich sende daher auch die Abhandlung nicht dem Redakteur; eben um sie in Ruhe und mit Unterstützung des Rates der Fachkundigen noch verbessern zu können, habe ich sie an dem stillsten möglichen Orte drucken lassen. Ich vernehme mit Vergnügen von Paulsen, daß Sie sich zunächst in Breslau wohlfühlen. Ich deute noch an, was Sie leicht bemerken werden, daß die Intention der Abhandlung gerade darin liegt, aus der Psychologie einen Übergang zum geschichtlichen Menschen und geschichtlichen Kategorien zu finden. Meine besten Empfehlungen an Ihre Frau Gemahlin.2 Bei meiner Frau ist leider zur Influenza eine Lungenentzündung hinzugetreten und sie bessert sich nur langsam.

Mit bestem Gruß d[er] Ihrige Wilhelm Dilthey

Original: Hs; Diktat D.s von fremder Hand; Gruß und Unterschrift von D.s Hand; Archiv des Instituts für Geschichte der Psychologie, Universität Passau, Ebbing­haus-NL , Kollegenbriefe, 64/1. 1 D.s Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. 2 Adele Ebbinghaus, geb. Birkenfeld (1857–1949), seit 1884 mit H.  Ebbinghaus ver­ heiratet.

[903] Dilthey an Paul Natorp1 Lieber Herr College,

Berlin, 9 Maerz 1895.

Ich habe die Ihnen zugesandte Abhandlung aus den Materialien des 2ten Bandes2 besonders deshalb zunächst einzeln erscheinen lassen, weil ich ge­ rade über die psychologischen Grundfragen befreun­deten Fachgenossen gern meine Ansicht vorlegen wollte, um vor der definitiven Ausarbeitung brief­lich ihre Einwendungen und ihre eventu­elle Beistimmung zu vernehmen. Zu diesen gehören Sie in erster Linie. Ich würde es als einen ent­schiedenen Freundschaftsdienst von Ihrer Seite an­sehen, wollten Sie die Zeit darauf verwenden, Ein­wendungen und Zustimmungen mir so eingehend, als es eben Ihre Muße gestattet, mitzuteilen. Der Ver­such, die Geschichtlichkeit der Menschennatur © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

481

Paul Natorp an Dilthey

psychologisch abzuleiten und den Eingang in die geschichtlichen Kategorien zu finden, ist gewiß auch nach sehr langem Nachdenken noch höchst ergänzungsbedürftig. Ihre eigenen systematischen Arbeiten zeigen mir eine solche Verwandtschaft des Standpunktes, daß mir daraus die Hoffnung entspringt, Sie möch­ ten mir in vielem beistimmen. Ich danke Ihnen sehr für die Übersendung Ihrer „Religion innerhalb der Grenzen der Humanität“.3 Ich befinde mich durchweg mit Ihnen in dem Grundgedanken in Über­einstimmung, nach welchem alle höheren Entfaltun­gen der Religion in dem moralischen Ideal ihre Grundlage und ihr treibendes Motiv haben. Übrigens finde ich die Abhandlung sehr schön geschrieben. Wie steht es denn mit dem Absatz des systema­tischen Teils des Archivs?4 Hoffentlich kann ich Ihnen auch bald einen Beitrag senden.

In treuer Gesinnung der Ihrige Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; Diktat D.s von fremder Hand mit eigenhändiger Unterschrift D.s; UB Marburg, Hs. 831:688; Erstdruck: Lessing, S. 200. 1 Paul Natorp (1854–1924): Philosoph und Pädagoge; 1876 Promotion in Straßburg, 1881 Habilitation, 1885 a. o., 1892 o. Prof. in Marburg. 2 D.s geplanter Zweiter Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften. 3 P. Natorp: Religion innerhalb der Grenzen der Humanität. Ein Kapitel zur Grundlegung der Sozialpädagogik. Tübingen 1894. 4 Gemeint ist die von Natorp hg. Neue Folge der Philosophischen Monatshefte, die unter dem Titel Archiv für systematische Philosophie ab 1895 die 2. Abtlg. des Ar­chivs für Philo­ sophie bildete. Die 1. Abtlg. war das 1888 gegründete Archiv für Ge­schichte der Philosophie.

[904] Paul Natorp an Dilthey Verehrter Herr Geheimrath!

Marburg 9. März 1895

Nehmen Sie meinen besten Dank für Ihre freundlichen Zusendungen,1 die beide mich ja besonders angehen. Mit der Zeit Pestalozzis u seinem Einfluß auf das preuß[ische] Schulwesen habe auch ich mich wiederholt befaßt.2 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

482

Paul Natorp an Dilthey

Zur Zeit bietet mir besonderen Anlaß dazu die jüngst erschienene Biographie L. Natorps (von O. Natorp, Essen bei Bädeker),3 dessen ge­wichtigen Antheil am Entwurf Süvern Sie S. 238 erwähnen.4 Ich habe nun den Monatsh[eften] d[er] Comenius-Ges[ellschaft] einen Bericht über das Buch zugesagt. Es wäre mir sehr werthvoll, wenn ich die Darstellung O. Natorps, wie nach andern Seiten, so auch nach dieser vielleicht wichtigsten ergänzen könnte. Würde vielleicht die von Ihnen erwähnte „Instruktion“5 u. andere Akten über die Wirksamkeit Natorps unter Humboldt (der ihn berufen) mir zugänglich sein, würden Sie, erforderlichen Falls, Ihre gütige Vermittlung dazu leihen? N[atorp] ist ohne Frage einer der vorzüglichsten – zugleich freisten und verständnisvollsten – Pestalozzianer jener Zeit, seine Schrift „Bell u. Lancaster“6 z. B. in dieser Hinsicht von großem Interesse. Sodann die Psychologie. Ich hatte Ihre Abh[andlung] schon gelesen u. war frappirt darüber, wie nahe wir uns hier in unsern Anschauungen doch stehen. Nicht nur in der Negation u. Ablehnung der „erklärenden“ Psychol[ogie], sondern in der Position. Sie sagen: Beschreibung u. Analyse; ich: Analyse und Rekonstruktion.7 Den Ausdruck Beschr[eibung] lehnte ich ab – weil es nicht dasselbe ist was in der Naturwissenschaft so heißt. Aber auch Sie betonen den Unterschied, schon in Hinsicht der Beobachtung; die psychol[ogische] Beob[achtung] ist Reflexbeobach­tung. Die „Aufmerksamkeit“ selbst analysirt schon,8 hebt also die ursprüngliche Verbindung auf. Diese muß aber wieder hergestellt werden: das nannte ich die Rekonstruktion. Ich glaubte erst unsere Differenz so fassen zu können, daß bei Ihnen die Analyse oder Beschr[eibung] nachfolge, bei mir (der Rekonstr[uktion]) voraufgehe, aber nicht einmal das trifft zu: Sie meinen Beschr[eibung] durch Analyse. Das ist aber fast genau was ich wollte. Dennoch würde ich noch an eine tiefere Differenz glauben, wenn nicht S. 59 Sätze ständen, die fast buchstäblich das ausdrücken, was ich wollte.10 Hier gehen Sie, ganz wie ich es aufgestellt, von den Kulturgestaltungen als gegebenen „Objektivationen“ aus, die durch psychol[ogische] Analyse auf die „Elemente und Verbindungen“ im unmittelbaren Bewußt­seinsleben zurückzuleiten sind. Und so möchte ich auch glauben, daß Ihre Kritik S. 10 ff.11 uns (Cohen12 u. mich) nicht trifft. Bei Kant selbst ist die Sonderung der Elemente nicht alles, die innige Verbindung ist zum wenigsten auch angelegt u. beab­sichtigt. Was Sie gegen die Sonderung von Ansch[auung] u. Denken sagen, steht doch ungefähr auch in der „transsc[endentalen] Ded[uktion] d[er] r[einen] Verst[andes]­ beg[riffe]“,13 ich wenigstens habe es daraus zuerst (u. nicht aus heutigen psychol[ogischen] Büchern) gelernt. Cohen geht namentlich in der 2. Aufl[age] der „Th[eorie] d[er] Erf[ahrung]“14 schon viel wei­ter nach Seiten der Wieder© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Paul Natorp an Dilthey

483

aufhebung der vorläufigen, methodisch nothwendigen Sonderungen u. Auf­ suchung der denkbar innigsten Verbindungen; u. nach seinen neusten Arbeiten, von denen er mir sagte, verschwindet die Sonderung fast gänzlich. Und wenn Sie gegenüber der Isolirung der Erkenntniß auf den „ganzen unverstümmelten Befund“ des seelischen Lebens dringen, so würden wir ebenfalls sagen, die Isolirung sei allerdings methodisch, der Analyse wegen, unentbehrlich, aber die Wiederher­stellung des „ganzen Befunds“ sei auch uns das Ziel. Wir würden allerdings Psychol[ogie] auf Erkenntnißtheorie gründen, nicht umgekehrt; indem wir unter Erk[enntnis]th[eorie] verstehen: Reduk­ tion der großen Kulturgestaltungen (Wissenschaft – Sittlichkeit – Kunst) auf ihre konstituirenden Faktoren. Diese müssen sein: die Grundformen der Bewußtseinseinheit (Methoden! des Bewußtseins) – psychol[ogisch] darzu­stellen als Weisen der Verbindung, und unter sich wieder in die Verbindungen zu stellen, aus denen nur die abstraktive Methodik (diese aber nothwendig) sie löste.15 Es hat doch Werth, Wissenschaft u. Sittlichkeit nicht mit dem Maße der Kunst zu messen, Wissensch[aft] u. Kunst nicht mit dem der Sittlichkeit, Sittl[ichkeit] u. Kunst nicht mit dem der (eigentlichen, theoretischen) Wissenschaft. Nichts mehr besagt die von uns behauptete Sonderung, nicht aber daß darum der Mensch allemal in drei Menschen zu zerlegen sei. So sondern doch auch Sie Intellekt Gefühl u. Wille, u. wie Sie den Willen analytisch aus einer Willens-Welt erkennen wollen, so doch wohl Int[ellekt] u Gef[ühl] aus entsprechenden „Welten“. Eben das ist aber was wir wollen, u. wir wollen ebenfalls mit Ihnen, daß es bei der bloßen Sonderung nicht bleibe.16 – Viele Einzelheiten, in denen wir zusammenstimmen, übergehe ich; ich mag aber nicht schließen – ohne Ihnen, zugleich mit dem Dank für den Genuß den mir Ihre Abh[andlung] bereitet, eine Bitte auszusprechen, nämlich für das „Archiv“.17 Es müßte Ihnen ein Leichtes sein, aus dem Reichthum Ihrer psychol[ogischen] Studien, auf den die Abh[andlung] erst hier u. da ein verstohlenes Licht fallen läßt, irgendein begrenzbares Stück herauszunehmen und dem Archiv sozus[agen] leihweise (wie man ein Bild für eine Ausstellung leiht) zur Ver­ fügung zu stellen, denn selbstverständlich dürfte es darum doch später im größeren Ganzen wiedererscheinen. Ich würde Sie nicht darum angehen, wenn wir nicht noch immer unter dem Druck einer Stoffnoth ständen, die uns (Erdmann18 u. mich) bisweilen zweifeln läßt, ob die Z[ei]tsch[rift] sich überhaupt wird fortführen lassen. Die unverantwortlichen Geschäftsunregelmäßig­ keiten des vorigen Verlegers haben der Zeitschrift empfindlicher geschadet als selbst ich vermuthen konnte, sie hat sich in ihrem neuen Gewande noch nicht eingebürgert, u. ich muß leider auch sagen, daß sich Herr Reimer19 der Sache nicht in dem Maße annimmt, wie es nach Erdmanns u meiner Ansicht un­ erläßlich ist. Ist es Ihnen möglich ihn etwas zu spornen, so wäre das gewiß gut. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

484

Paul Natorp an Dilthey

Am meisten aber muß uns an tüchtigen Beiträgen gelegen sein u. da wären wir Ihnen ganz besonders dankbar. Cohen ist verreist; er kommt übrigens auch nach Berlin.

Mit ergebenstem Gruß Ihr P. Natorp

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl. 91–93 R; Erstdruck: Lessing, S. 201–204. 1 Neben den Ideen hatte D. offenbar auch seine Abhandlung über Süvern (in: ADB 37. Leipzig 1894, S. 206–245; WA in: GS IV, S. 452–506) an Natorp gesandt. 2 Vgl. u. a. P. Natorp: Pestalozzis Ideen über Arbeiterbildung und sociale Frage. Eine Rede. Heilbronn 1894; WA in: Ders.: Gesammelte Abhandlungen zur Socialpädagogik. Stuttgart 1907, S. 69–97. 3 O. Natorp: B. Ch. L. Natorp. Lebens- und Zeitbild. Essen 1894. – Bernhard ­Christian Ludwig Natorp (1772–1846): ev. Theologe und Pädagoge; 1816 preuß. Oberkonsistorialrat in Münster; Urgroßvater P. Natorps. – Fritz Baedecker (1844–1925): Inhaber des Essener Baedecker-Verlages seit 1869. 4 Dilthey: Süvern, a. a. O., hier S. 238; WA in: GS IV, S. 495. 5 P. Natorp: Ludwig Natorp. Ein Beitrag zur Geschichte der Einführung Pestalozzischer Grundsätze in die Volksschule Preußens, in: Monatshefte der Comenius-Gesellschaft für Kultur und Geistesleben 4 (1895), S. 260–297. 6 B. Ch. L. Natorp: Andreas Bell und Joseph Lancaster. Bemerkungen über die von denselben eingeführte Schuleinrichtung, Schulzucht und Lehrart. Essen und Duisburg 1817. 7 Vgl. P. Natorp: Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode. Freiburg /  Breisgau 1888, § 13 (S. 88 ff.). 8 Im Erstdruck statt „schon“: „sehen“. 9 Vgl. GS V, S. 190. 10 Im Original: darüber eine Anmerkung D.s: „Schon Einleitung in die Geisteswissenschaften 36. 7. 41.“ (vgl. GS. I, S. 29 f., S. 53). 11 Vgl. GS V, S. 148 ff. 12 Hermann Cohen (1842–1918): Philosoph; neben P. Natorp Hauptvertreter des Marburger Neukantianismus; 1876 o. Prof. in Marburg als Nachfolger seines verstorbenen Lehrers F. A. Lange. 13 Kant: Kritik der reinen Vernunft. Die transzendentale Analytik. 2. Hauptstück; vgl. die Anmerkung D.s in seinem Handexemplar der Ideen (GS V, S. 149): „Zwar durchbricht er diese strenge Sonderung; gerade er hat von der Wirksamkeit des Verstandes innerhalb der Sinnlichkeit die erste deutliche Nachweisung gegeben.“ 14 H. Cohen: Kants Theorie der Erfahrung. Berlin 1871, 2. neubearb. Aufl. Berlin 1885. 15 Im Original: darüber eine unleserliche Notiz von der Hand D.s. 16 Im Original: darüber unleserliche Notizen von der Hand D.s. 17 Eine Abhandlung D.s ist im Archiv für systematische Philosophie nicht erschienen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Rudolf Eucken an Dilthey

485

18 Benno Erdmann. 19 Dietrich Reimer (1818–1899) war bis 1891 Inhaber des Reimer-Verlags Berlin, in dem die beiden Abteilungen des Archivs für Philosophie erschienen. 1894 übernahm Ernst Heinrich Reimer (1833–1897) die Verlagsleitung.

[905] Rudolf Eucken an Dilthey Hochverehrter Herr College!

Jena 10⁄ III. [18]95.

Haben Sie herzlichen Dank für die beiden wertvollen Zusendungen und für Ihren freundli­chen Brief.1 Ein solches Zeichen wohlwollender Gesinnung und Schätzung ist mir, der ich den anderen philosophischen Collegen gegenüber recht isoliert stehe und mir oft recht einsam vorkom­me, in hohem Grade willkommen, und es wird mir eine Freude sein, Ihrem Vertrauen zu entsprechen und Ihnen meine Gedanken über Ihre Untersuchun­gen mitzutheilen. Die Ferien werden mich trotz aller Arbeit an meinem Buche2 schon dazu kommen lassen. Noch lieber wäre es mir, wenn sie mir die Zeit zu einem kleinen Essay gestatteten; aber ob das möglich, kann ich jetzt noch nicht übersehen. Einen flüchtigen Einblick that ich schon in Ihre Arbeit und freute mich, so wich­tige Fragen mit solchem Gleichmaß von Muth und Besonnenheit angegriffen zu sehen. Es kann dadurch wieder Leben in die Philosophie kommen, die sonst viel zu sehr in historische Detailarbeit einer­seits, in naturwissenschaftliche Experimentalpsychologie andererseits auf- und untergeht. Unsere Wissenschaft bedarf dringend mächtiger Anregungen in großem Stil, und ich freue mich hier von Herzen Ihres energischen Vorangehens. Mein Buch ging langsamer weiter als ich dachte und hoffte, obschon ich ununterbrochen an der Arbeit war. Aber wo ich fertig zu sein glaubte, gab es noch immer viel zu klären und zu vertiefen, und da die Sache nicht Schaden leiden sollte, so ließ ich mich treiben. Jetzt ist ⅓ gedruckt, hoffentlich und zuversichtlich wird das Buch im Herbst erscheinen. Für das freundl[iche] Interesse, das Sie ihm entgegenbringen, danke ich verbindlich; aber ich fürchte, daß Ihnen das Buch zu metaphysisch, zu subjektiv, zu impulsiv ausfallen wird. Aber andererseits weiß ich ja, daß Sie jede Individualität, die sich ehrlich und kräftig darlegt, zu schätzen wissen, und in diesem Sinne hoffe ich Ihr Vertrau­en zu rechtfertigen. Mit größtem Bedauern hören wir, daß Ihre ver­ehrte Frau Gemahlin ernstlich krank war. Hoffent­lich hilft die mildere Witterung recht, die bal­dige völ© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

486

Jacob Freudenthal an Dilthey

lige Genesung herbeizuführen. Wir senden beste Wünsche für eine solche. Bei uns gab es keine schwereren, aber ein Heer von kleinen, namentlich Kinderkrankheiten (Masern, Ziegenpeter, Spitzpocken etc., alles in drei Auflagen). Es war ermüdend und oft auch störend, ich habe mich in ein Dach­stübchen mit herrlicher Aussicht geflüchtet, um ruhig arbeiten zu können. Mit besten Empfehlungen von Haus zu Haus treulich Ihr R. Eucken. [p.s. am oberen Rand des 4. Blattes des Originals, im Kopfstand zum üb­rigen Text:] Von Wien hörte ich nichts, nur Lorenz3 hat mir vor einiger Zeit davon erzählt. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl. 97–98 R; Erstdruck: Lessing, S. 204–205. 1 Neben den Ideen vermutlich auch der ADB-Artikel über Süvern. – Nicht überliefert. 2 R. Eucken: Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt. Neue Grundlegung einer Weltanschauung. Leipzig 1896. 3 Ottokar Lorenz (1832–1904): österr.-deutscher Historiker und Genealoge; 1861 o. Prof. in Wien, 1885 in Jena.

[906] Jacob Freudenthal an Dilthey Breslau, 10. III. [18]95 Vielen Dank, hochverehrter Herr Geheimrath, für die Zusendung Ihrer neuesten schönen u. wichtigen Schrift u. schönsten Gruß Ihres aufrichtig ergebenen Freudenthal Original: Hs.; Postkarte; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170; Bl.  107; Erstdruck: Lessing, S. 205.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

487

Paul Natorp an Dilthey

[907] Paul Natorp an Dilthey   Verehrtester Herr Geheimrath! Mein vorgestriger Brief war, wie Sie er­ raten haben werden, vor Empfang des Ihrigen geschrieben. Er entspricht dennoch schon in etwa Ihrem Wunsche: aber freilich nicht ausreichend. Ich hoffe noch Zeit zu finden zu eingehenderen Bemerkungen, da ich für die Psycho­ logie-Vorlesungen im bevorstehenden Semester diese Grundfragen ohnehin von neuem zu durchdenken mir vorgenommen habe. Inzwischen nehmen Sie für die große Freundlichkeit Ihres Schreibens meinen herzlichen Dank. Ihr sehr ergebener P. Natorp. Marburg 11. 3. [18]95. Original: Hs.; Postkarte; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 169, Bl.  238; Erstdruck: Lessing, S. 206.

[908] Jacob Freudenthal an Dilthey Verehrtester Herr Geheimrath.

B[reslau] 12⁄3 [18]95

Es hat mir sehr leid gethan zu hören, daß auch bei Ihnen die Influenza bösartig aufgetre­ten ist. Hoffentlich geht es bald wieder ganz nach Wunsch! – Schlimmer noch ist es mir gegan­gen. Ich bin im October vorigen Jahres in Hildesheim von einer Neuralgie ergriffen worden, lag dort 5 Wochen schwer krank darnieder und, endlich nach Breslau zurückgekehrt, mußte ich den ganzen Winter das Zimmer hüten, konnte nur meine Uebungen zu Hause, nicht m[eine] Vorle­ sungen halten, u., was das schlimmste war, konnte auch nicht arbeiten. M[eine] Hoffnung, im Winter den 1. Band m[einer] Geschichte vollenden zu können,1 ist so wieder vereitelt worden. Jetzt soll ich in Wiesbaden Heilung suchen[.] – Ihre Abhandlung kam so in Mitten der Vorbe­reitungen zur Reise. Aber ich konnte dem Reize sie zu lesen nicht widerstehen, bin freilich nur bis S. 52 gekommen. Wie gerne bespräche ich mit Ihnen, was jedem Philosophen am Herzen liegen muß. Aber diese Grundfragen, in brieflichen Erörterungen un© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

488

Jacob Freudenthal an Dilthey

ter der Unruhe u. den Sorgen dieser Tage flüchtig zu streifen, ist nicht möglich. Auch werde ich jedenfalls das Ganze lesen müssen, ehe ich ein Urtheil über den ersten Theil mir bilden darf. Darum lassen Sie mich nur Einzelnes in Kürze berühren. Finde ich in W[iesbaden], wie die Aerzte mich hoffen lassen, volle Heilung, dann werde ich’s mir nicht ent­gehen lassen, genauer auf Ihre Untersu­chungen einzugehen. Was mich sofort in hohem Maße gepackt u. erfreut hat, war die strenge Hervorhebung der Schwächen unsrer Associationspsychologie u. ihres rein hypothetischen Charakters, die Nothwendigkeit einer psych[ologischen] Grundlegung aller Geisteswissenschaften, die Schilderung des unerfreulichen Zustands der gegenwärtigen Psycho­logie, die Geschichte der erkl[ärenden] Psychologie, u. der Hinweis auf bessere Zeiten durch Aenderung der psycho­l[ogischen] Forschungsweisen. – Indessen scheint mir, daß wir einer erklärenden Psych[ologie] niemals werden ent­behren können, was Sie ja auch andeuten. – Unser Causalitätsbedürfnis ist so groß, daß wir bei Beschreibung u. Zergliederung nicht stehen bleiben können. U. sollten wir dies Bedürfnis auch nur durch unfertige Hypothesen be­friedigen können! – Es geht ja auch dem Naturwissen nicht anders. Die Gravitation – als Gesetz gefaßt – ist so sicher, wie nur irgend eine der sichersten auf Induktion zurückgehenden Theorien. U. doch liefert jedes Jahr fast neue Hypothesen, sie, als Kraft der Materie gefaßt, zu erklären. Wie viel dringender aber ist das Bedürfnis, das ethische u. religiöse Erwägungen [zu] steigern, den psychol[ogischen] Erscheinungen durch Uebersteigung der Erfahrung auf den Grund zu kommen? – Doch ich bin nicht sicher, hier ein Bedenken ausgesprochen zu haben, das Sie selbst auch berührt hatten. Im einzelnen ist mir aufgefallen, daß Sie auf S. 1 u. 252 Taine neben originelle Forscher wie Herbart3 u. Spencer4 stellen, während der einzige Anspruch auf Originalität ihm doch durch Engländer wie Maudsley5 u Deutsche wie Zeller genommen wird. – Auf S. 26 fehlt nach Newton wohl Foucault7 u. dürften die astrono­mischen Zeitangaben wohl durch ein ‚etwa‘ vor Mißverständniß gesichert werden. S. 58 ist die Unterscheidung zwischen Geistes- u. Naturwissenschaft gegen idealistische Ein­wendungen nicht gesichert. S. 79 sollte es doch wohl nicht als Aufgabe der Psychol[ogie] hinge­stellt werden, eine Grundthatsache – das Selbst­bewußtsein – abzuleiten. Keinesfalls darf doch Selbstbewußtsein u. Gewissen auf gleiche Linie gestellt werden. – S. 1110 müßte doch wohl hervor­gehoben werden, daß Kant zwar ein zum Verzweifeln streng gesondertes Fachwerk von Vermögen aufgestellt; selbst aber an den verschie­ densten Punkten es durchbricht und von der Wirk­samkeit des Verstandes innerhalb der Sinnlichkeit die erste deutliche Nachweisung gegeben hat.11 – Im übrigen haben wir doch jetzt bessere als Kan­tische Erkenntnißtheorie. Warum also aus der letzteren erweisen, was allgemein giltig sein soll? – © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Jacob Freudenthal an Dilthey

489

Zu S. 14 möchte ich bemerken, daß wenn Hypothesen von der Psych[ologie] der Zukunft ausge­schlossen werden sollen, auch von einem ‚typischen Menschen‘ nicht gesprochen werden darf. Denn ein Typus wird nicht erlebt, sondern erschlossen. Die Annahme eines typ[ischen] Menschen ist immer eine Hypothese. – Doch ich muß schließen, da noch allerlei zu thun ist u. ich morgen reisen will, – über Dresden, weil das die kür­zeste Strecke ist. Auf der Rückreise gegen Ende April komme ich wahrscheinlich über Berlin. Dann Sie zu sehen u. zu sprechen wird mir eine große Freude sein. Zuvor aber bitte ich um Entschuldigung für meine eiligen von der Oberfläche geschöpften Bemerkungen u. wenn Sie noch Zeit für mich haben, um Erlaubniß über meine Lage noch einiges Ihnen mittheilen zu dürfen. Die letzten Jahre u. die Krankheit dieses Winters haben mir viel Sorge gebracht. Ich habe vor 7 Jahren, um das Glück einer freien Stellung zu erlangen, mit meiner Thätigkeit am F[ränkel]schen Seminar eine Mehreinnahme von 1100 Mark jährlich aufgegeben. Seitdem sind die Anforderungen des Lebens durch das Heranwachsen meiner 5 Kinder – von denen mein ältester Sohn jetzt Referendar ist – durch erhöhte Steuern u. Steigerung der Preise aller Lebens­ bedürfnisse so gestiegen, daß ich seit Jahren unter hartem Drucke lebe. Mein Gehalt, das dem eines Amtsrichters in Breslau gleichkommt, ist immer dasselbe geblieben; meine Lehrtätigkeit aber wird gehemmt, weil ich nur ein einziges Mal in die wissenschaftl[iche] Prüfungscommission geschickt worden bin, meine jüngeren Fachgenossen aber nie übergangen worden sind. Ich gelte daher den Studierenden als Prof[essor] 2ter Classe, den zu hören Viele, die auf das Examen schielen, für überflüssig halten. Confessionelle Gründe können für diese Hintansetzung nicht maßgebend sein, denn der Katholik B. prüft Protestanten u. der Protestant E.12 die Katholiken. Mit der Be­stimmung der Universitäts­statuten, daß von den philos[ophischen] Professuren eine ein Katholik, die andre ein Protestant inne haben muß, hat die Ordnung der Prüf[un]gs­ comm[ission] – in der oft auch Extraordinarii sitzen – doch gar nichts zu thun. Ich habe diese für mich peinlichen u. schwierigen Dinge gestern Herrn Geh[eim]rath Althoff in Kürze mitgetheilt u. ihn gebeten, mir in irgend einer Weise zu helfen. Darf ich Sie bitten, gelegentlich mein Gesuch durch ein freundliches Wort zu unterstützen, das wohl größeres Gewicht hat, als mein Brief. – Doch gilt meine Bitte nur für den Fall, daß Ihnen, was ich wünsche, auch gerechtfertigt zu sein scheint u. daß hierüber zu sprechen Ihnen nicht gar zu lästig ist. Mit herzlicher Empfehlung u. großem Danke im voraus Ihr treu ergebener Freudenthal © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

490

Johannes Rehmke an Dilthey

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl. 105–106 R und Fasz. 169, Bl. 241–242; Erstdruck: Lessing, S. 206–209. 1 J. Freudenthal: Die Lebensgeschichte Spinozas in Quellenschriften, Urkunden und nichtamtlichen Nachrichten. Leipzig 1899. 2 Vgl. GS V, S. 159 und S. 163. 3 Der Philosoph, Psychologe und Pädagoge Johann Friedrich Herbart (1776–1841). 4 Der engl. Philosoph Herbert Spencer (1820–1903). 5 Henry Maudsley (1835–1918): engl. Psychiater; Prof. für gerichtliche Medizin in London. 6 Vgl. GS V, S. 140. 7 Jean Bernard Léon Foucault (1819–1868): franz. Physiker. 8 Vgl. GS V, S. 143. 9 Vgl. GS V, S. 145. 10 Vgl. GS V, S. 149. 11 Die von Freudenthal geäußerten Bedenken und Ergänzungen sind von D. – z. T. wörtlich – in sein Handexemplar eingetragen worden (vgl. die Hinweise in: GS V, S. 420 f.). 12 Die Namen sind nicht eindeutig zu ermitteln.

[909] Johannes Rehmke1 an Dilthey   Hochverehrter Herr College!

Greifswald 12⁄3 [18]95.

Mit großer Neugierde habe ich mich an das Lesen Ihrer Abhandlung „Ideen über eine beschrei­bende und zergliedernde Psychologie“ gemacht. Sie können denken, mit welcher Freude ich Ihre Ausführungen gelesen habe, denn was kann mir wohl erwünschter2 sein als in Ihnen den Vorkämpfer zu finden für einen Gedanken, in dessen Dienst auch ich mich gestellt habe. Von dem­selben Gedanken, welchen Sie S.  473 ausspre­chen: „Definitionen, feste Namen­bestimmung und Classifikation bilden das erste Geschäft, welches die beschreibende Psychologie auf diesem Gebiete zu vollbringen hat“, bin auch ich bei der psycho­logischen Arbeit überhaupt ausgegangen und es ist mir aus der Seele gesprochen, daß der Gang einer fruchtbringenden Psychologie nicht4 ein constructiver, sondern ein zergliedernder sein, sowie daß den Gegenstand derselben der entwickel­te Mensch u. das fertige vollständige Seelen­leben bilden muß. Ich bin so glücklich, daß auch Sie so energisch die erfüllte Einheit des Seelen­lebens als den Ausgangspunkt hervorheben und ent­sprechend die Unmöglichkeit betonen, aus den durch Zergliederung gewonnenen „Fakto© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Johannes Rehmke an Dilthey

491

ren“ sich das lebendige Wesen der Seele als aus ihrer Verbindung hervorgegangen zu denken. Mag es auf dem Gebiete des Dingwirklichen durchaus richtig sein, daß das einzelne Ding aus der Verbindung sei­ner „Faktoren“ hervorgegangen sei, für das Seelen­wesen, dessen totale Verschiedenheit von der ganzen körperlichen Welt Sie ja ebenfalls mit Nachdruck hervorheben, gilt dies nicht. Ich lebe der Hoffnung, daß Ihr Wort in dieser Sache (S. 745 oben) der „modernen“ Psychologie einen tiefen Eindruck machen und ihre Anhänger zur Besinnung bringen werde. Es muß sich ja doch bei den nicht fanatisirten „Modernen“ die Ansicht schließlich Geltung verschaffen, daß wir auf dem Wege der subjektlosen Psychologie uns nur immer weiter in Hypothesen hineinverlie­ren und den Zusammenhang mit den Geisteswissenschaften, welche von der Psychologie Nahrung for­dern, immer mehr verlieren. Mit dem führenden Gedanken Ihrer Abhandlung weiß ich mich so völlig einig, daß ich auch nicht „formelle starke Differenzen“, wie Sie vermuthen, auffinden kann; ich bin vielmehr der Ansicht, daß wir uns wohl schließlich nicht nur in allen Hauptstücken treffen, sondern auch in der Art der Bearbeitung ganz verstehen werden. Die Differenz liegt wohl nur in der Darstellung (und nur wenn Sie dies bei der „formellen“ Differenz meinen, muß ich Ihnen zustimmen): ich setze, wenn Sie wollen, das, was die beschreibende Psycho­ logie darbietet, voraus bei dem entwickelten Bewußtsein, welches die Zergliederung seiner selbst dann eben in der Dar­stellung einer „Psychologie“ bietet. Mit Ihnen rechne ich auch die Darstellungen vom Seelenleben in der Geschichte und besonders auch in der Dich­tung und der Biographie zu hervorragenden Mitteln für die Entwicklung des Bewußtseins zum Zwecke einer Psychologie, oder ich meine (und ich darf annehmen, daß Sie mir hier beistimmen), daß das auf alle Weise in diesem Sinne entwickelte Be­wußtsein es ist, welches nur durch Selbstzerglie­derung auf Grund der Selbstbeobachtung die festen sicheren Begriffe nicht nur für sein, sondern für das Seelenleben überhaupt gewinnt und aufstellen kann. Geht eine Beschreibung ohne auf Zerglie­ derung und sichere Begriffe des Seelengegebenen sich zu stützen, vielmehr dieser voran in der Darstellung, so kann dies m. E. nicht von großem Nutzen sein. Doch wird es Ihnen lieber sein, anstatt von meiner Zustimmung zu lesen, Bedenken, welche ich gegen einige Punkte zu erheben habe, zu vernehmen; sie betreffen das „Gefühls-“ und das „Triebleben“. Es thut mir leid, daß ich zwei große Kapitel po­lemischer Natur, welche sich gegen die sogenannten „­Gefühle“ der Hoffnung, Verzweiflung, Angst u.s.w. und gegen die „Triebe“ richteten, vor dem Drucke meiner Psychologie6 aus dem Manuscript ausgeschie­den habe, weil mir das Buch ohnedies schon sehr umfangreich wurde. Ich halte nun, was das „Gefühlsleben“ angeht, in der That dafür daß „die Zurückführung aller qualitativen Unterschiede in unserem Gefühlsleben © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

492

Johannes Rehmke an Dilthey

auf die einfachen Zustände von Lust und Unlust und deren Verbindungen mit Empfindungen und Vorstellungen glaubhaft durchge­führt werden könne“,7 und ich meine, daß dieses seelische Zusammengesetzte, „Gefühl“ genannt, z. B. das „Gefühl“ der Angst, nur dann dieser Zurück­führung spottet, wenn man die mit der Lust oder Unlust „verbundenen Empfindungen und Vorstel­ lungen“ auf diejenigen beschränkt, vor denen man „Angst“ hat; nimmt man aber, wie es nach dem Ergebniß meiner Zergliederung billig ist, alle gegen­ ständliche Bestimmtheit (da von der Gesammtheit das Gefühl des Augenblicks bedingt ist) herein, also bei dem „Angstgefühl“ auch die Druck- und Muskelempfindungen (Beklemmung) mit herein, so meine ich, ist in der That kein Rest mehr, der nicht „zurückgeführt“ wäre, vorhanden. Für eine klare Auffassung des Seelenlebens ist es m. E. vor Allem nöthig, solches Gefühlsleben, dessen unendlich mannigfaltige Besonderheit ja besonderen Anlaß zu genauer Zergliederung bietet, mit allen Kräften auf seine mannigfaltigen leiblichen und gegenständlich-bewußten Bedingungen zurückzuführen, und diese Möglichkeit erachte ich in keinem Falle für ausgeschlossen. In dem ausgeschiedenen Kapitel habe ich dieses Zusammen­gefaßte (aus Lust oder Unlust und gegenständlicher Bewußtseinsbestimmtheit) die „Stimmung“ genannt, und ich bedaure jetzt, daß ich diese Erörterung nicht mit veröffentlicht habe. Eine andere Dif­ferenz, welche hiermit zusammenhängt, besteht zwischen uns in Betreff des Gefühlszustandes des Seelenaugenblicks; die Zergliederung meines Be­wußtseins hat mir stets seine zuständliche Bestimmtheit als schlechthin einfache gezeigt, und ich kann daher nicht mit Ihnen über­einstimmen, wenn sie sagen, „wie das Wahr­nehmungsbild Empfindungen als Einheiten an sich enthält, so enthält der concrete Gefühlszustand elementare Gefühle ich sich“ (S. 50);8 sollten Sie hier nicht auf den Weg der „erklärenden“ Psycho­logie gerathen sein und zu Hypothesen gegriffen haben? Der andere Punkt, gegen den ich meine Beden­ken habe, ist das „Trieb­ leben“. In meiner Psycho­logie habe ich nur kurz das Ergebniß des ausgeschiedenen § auf S. 573 mitgetheilt; mir scheint, daß der Begriff des Triebes in der Psy­chologie vor Allem erst einer gründlichen Klar­stellung bedarf, um all das Mystische, welches er in der gewöhnlichen Auffassung mit dem „Instink­te“ theilt, aus ihm zu entfernen, und es soll mir zu großer Freude gereichen, wenn Sie gerade diesem Punkte Ihre bewährte Zergliederungskunst angedeihen lassen. Näher an dieser Stelle darauf ein­zugehen will ich vor Allem deßhalb unterlassen, weil ich lebhaft hoffe, in nächster Zeit Sie in Berlin aufsuchen und dies mit Ihnen besprechen zu können. Ich muß nämlich in 14 Tagen eine Schwägerin in Harburg dem Gatten freien, und da benutze ich die Gelegenheit, mit meiner Frau einige Tage auf der Durchreise die Residenz Berlin zu besuchen. Wir werden am 20ten dort an© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Rudolf Eucken an Dilthey Rudolf Eucken an Dilthey

493

kommen, und den 21 und 22ten in Berlin bleiben; von diesen beiden Tagen werde ich mir dann die Gelegenheit nehmen, bei Ihnen vorzusprechen, um in weiterem Gedanken­austausch über unsere „Differenzen“ zu verhandeln; hoffentlich sind Sie in Berlin zu jener Zeit, es wird mir eine große Freude sein, Sie wiederzu­sehen. Mit aufrichtiger Hochachtung bin ich der Ihrige J Rehmke. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl. 103–104 R; Erstdruck: Lessing, S. 209–212. 1 Johannes Rehmke (1848–1930): Philosoph; 1884 Habilitation in Berlin, 1885 a. o., 1887 o. Prof. in Greifswald. 2 Im Erstdruck: „wünschenswerter“. 3 Vgl. GS V, S. 118. 4 Im Original: „nicht“ wird nachfolgend wiederholt. 5 Vgl. GS V, S. 211. 6 J. Rehmke: Lehrbuch der allgemeinen Psychologie. Hamburg und Leipzig 1894. 7 Vgl. GS V, S. 186. 8 Vgl. GS V, S. 188.

[910] Rudolf Eucken an Dilthey Verehrter Herr College!

Jena 14⁄ III. [1895]

Leider weiß ich über Typus und typisch gar keinen näheren Bescheid. Die Verwendung bei Aristoteles (ὡς τύπῳ λαβεῖν1 etc., auch im Plural τοὺς τύπους μόνον εἰπόντες 2) und bei den Stoikern ist ja für die modernen Probleme ohne Bedeutung; dann finde ich erst in ganz neuer Zeit Erörterungen über den Terminus. In den Sammlungen der Wolffischen Schule, auch bei Walch3 ist keine Rede davon. Einen kleinen höchst oberflächlichen Artikel über „Typ oder Typus“ enthält Krug’s Handwörterbuch[;]4 demnach sieht es aus, als ob die Theologen zunächst von einer Typologie sodann typischen Theologie gesprochen hätten (in Bezug auf das Verhältniß von altem und neuem Testament). © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

494

Julius Kaftan an Dilthey Julius Kaftan an Dilthey

Ich suchte nach im Lambert,5 ob sich dort nicht irgendwelche Anknüpfung biete, fand aber leider nichts. So komme ich mit ganz leeren Händen, will aber das Problem im Auge behalten und wenn ich irgendetwas finde, es Ihnen mittheilen. Mit bestem Gruß Ihr sehr ergebener R. E. Original: Hs.; Postkarte; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 73, Bl. 213. 1 Top. 101 a, 22. 2 Pol. 1341 b, 34. 3 Johann Georg Walch (1693–1775): ev. Theologe.  – Philosophisches Lexicon. Leipzig 1726. 4 Wilhelm Traugott Krug (1770–1842): Philosoph. – Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte nach dem heutigen Standpunkt der Wissenschaft. 5 Bde. Leipzig 1827–1834. 5 Johann Heinrich Lambert (1728–1777): schweiz.-elsäss. Mathematiker, Philosoph und Physiker. – Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein. 2 Bde. Leipzig 1764.

[911] Julius Kaftan an Dilthey

Sehr geehrter Herr Kollege!

Berlin W[est] Marßenstr[aße] 33 14. März 1895

Für die Zusendung Ihrer akademischen Abhandlung spreche ich Ihnen1 meinen ergebensten Dank aus. Ich habe sie sorgfältig u mit großem Interesse ge­ lesen. So vielem darin ich lebhaft zustimme, so bleibt mir das Bedenken, ob sich die von Ihnen ins Auge gefaßte Psychologie zu der Evidenz wird bringen lassen, daß sie eine allgemein anerkannte Grundlage der Geisteswissenschaften abgiebt u für diese eine ähnliche Bedeutung gewinnt wie die Mathematik für die Naturwissenschaften. Natürlich soll damit ihr Werth,2 ihre Bedeutung, ihre vielfache Überlegenheit über die erklärende Psychologie nicht bestritten werden. Aber wird sie nicht die Grundzüge der Erkenntnißtheorie, der Moral u Religion, der Kunstphilosophie u Gesellschaftslehre entfalten, wird sie nicht – nun die Philosophie über den Menschen sein, etwas, worin alle wissenschaftliche Betrachtung der menschlichen Dinge eher ausmündet, als daß sie damit anhebt? Die Frage ist wohl die, wie weit die rein psycho­logische © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Wilhelm Schuppe an Dilthey Wilhelm Schuppe an Dilthey

495

Er­wägung entscheidend in alle jene Gebiete hineinreicht. Und da bin ich ein wenig skeptisch. Wenn ich die Unterschiede von gut u bös, von wahr u falsch verstehen will, scheint es mir nicht die Psychologie zu sein, die mich das, worauf es ankommt, erkennen lehrt. Wenn aber nicht, kann ich auch die Erkenntnißtheorie u Moral usw nicht auf die Psychologie aufbauen. Indessen, ich bin Laie wenn auch Liebhaber in diesen Dingen. Es kommt schließlich nicht auf allgemeine Erwägungen, sondern auf den Versuch an. Meine Bemerkungen wollen nichts weiter als bezeugen, daß Ihre Erörterungen bei mir ihren ersten Zweck, das Nachdenken anzuregen u Fragen hervorzu­ rufen, erreicht haben. Ich darf wohl sagen, daß ich zu den aufmerksamsten3 Lesern Ihrer Darlegungen gehört habe. Umsomehr danke ich Ihnen nochmals für die Anregung u den Genuß, die ich aus der Lektüre geschöpft.

Ihr ganz ergebener D Julius Kaftan

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 169, Bl.  239–240; Erstdruck: Lessing, S. 212–213. 1 Im Erstdruck fehlt: „Ihnen“. 2 Im Erstdruck: „Recht“. 3 Im Erstdruck: „aufmerksamen“.

[912] Wilhelm Schuppe an Dilthey Hochverehrter Herr Kollege.

Greifswald d[en] 14. März 1895.

Haben Sie besten Dank für die freundliche Übersendung Ihres Auf­satzes, den ich sogleich mit dem größten Interesse durchstudiert habe. Vieles findet meine lebhafte Zustimmung. S. 95 f.1 erinnerte mich an meine Vorlesungen; manches war mir neu. Vor allem der Gegensatz zwischen erklärender und beschreibender Psychologie. Ich hatte an ihn noch nie gedacht und forschte natür­lich zuerst, welche Psychologie ich denn bisher getrieben hätte. Ich habe immer gemeint und es auch mehrfach ausgesprochen, daß wir vom Erlebten auszugehen haben. Was die Psychologie sucht, das sog. See­lenleben ist in jedem Augenblicke ein Ganzes u. die bloße Vorstellung ohne Gefühl u. Trieb resp. Begehren, so wie das bloße Gefühl und das bloße Wollen sind Abstrak­ © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

496

Wilhelm Schuppe an Dilthey Wilhelm Schuppe an Dilthey

tionen. Die erste Aufgabe der Psychologie ist die Zerlegung in die einfacheren Bestandteile, bis, – so weit es gelingen will – zu den ein­fachsten, den psychischen Elementarfunktionen. Ihren Zusammenhang, in welchem sie eben das oben genannte Ganze ausmachen u. durch welchen auch die aufeinanderfolgenden Gesammtzustände zusammengehören, erleben wir unmittelbar in uns. Aber dieses unmittelbar in uns Erlebte (das ist dieser Zu­sammenhang) ist auf Gesetze zu bringen. Dabei ist von keinem Konstruiren die Rede. Daß dieses psychische Element mit jenem notwendig verbunden ist, wissen wir ursprünglich nur aus dem unmit­telbaren Erlebnis. Aber der erlebte Zusammenhang selbst ist wiederum zu zergliedern. Nicht alles, was in uns vorgeht, ist uns unmittelbar verständ­lich, nur ein Teil davon, u. vieles, was in andern vorgeht, erst recht nicht. Die auf jenem Wege aufzufindenden Gesetze werden diese letztgenannten Tatsachen erklären müssen. Von psychischer Chemie kann da absolut keine Rede sein. Meine Lehre von Kausalität u. Gesetz schützt mich vor diesem Verdacht. (Grundriss der Erk[enntnisstheorie] u Log[ik]2 S. 58–77. Über das bloße Be­schreiben ebenda S. 76. Sie meinen es, wie ich sehe, so, wie es an dieser Stelle gefaßt ist.) Wenn, wie es bei Ihnen S. 453 heißt, die er­k lärende Psychologie Raum, Zeit u. Kausalität konstruiren will, so stimme ich Ihrer Ablehnung vollständig bei. Aber ob nicht die zu entdeckende Gesetzlichkeit Erklärung der Tatsachen, ob nicht die Entdeckung derselben erklärende Psychologie heißen kann, wäre eine andere Frage. Mir scheint: Sie denken bei diesem Erklären an bestimmte Arten der Begreiflichkeit des Zusammenhanges (Grundriss S.  61 f.), vielleicht ein Bewirken, Hervorbringen, oder, wovon oben, an Vorgänge, welche mit den chemischen verglichen werden u. daher ihre Begreiflichkeit gewinnen sollen. Das alles weise ich mit Ihnen ab. Bei mir besteht die Begreiflichkeit der psychischen Ge­setze darin, daß sie methodisch durch Analyse aus den erlebten Zusammenhängen gewonnen sind. Daß wir solcher uns unmittelbar bewußt sind, habe ich einst (1878) mit Zagen ausgesprochen, weil ich die gröbste Zurückweisung befürchtete. (Erk[enntnisstheorische] Log[ik]4 S. 303–305. 239–248. 251 f. „Metho­den der Rechtsphilosophie“ in der Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft V. Band S. 222–2255 u. a. a. O.). Ich wollte, wir könn­ten uns einmal persönlich aussprechen. Können Sie nicht im Frühling auf einer Fahrt nach Rügen nach Greifswald kommen? Ich würde mich sehr freuen. Mit vorzüglicher Hochachtung Ihr ergebenster W. Schuppe © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

497

Original: Hs.; UB Greifswald, SpS, XXX; eine Abschrift des Briefes von fremder Hand mit Gruß und Unterschrift von der Hand W. Schuppes ist hinterlegt in: ­ BBAW, Dilthey-NL , Fasz. 169, Bl. 245–246 R; Erstdruck: Lessing, S. 213–214. A 1 Vgl. GS V, S. 232 f. 2 W. Schuppe: Grundriss der Erkenntnisstheorie und Logik. Berlin 1894. 3 Vgl. GS V, S. 183. 4 W. Schuppe: Erkenntnisstheoretische Logik. Bonn 1878. 5 W. Schuppe: Die Methoden der Rechtsphilosophie, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 5 (1885), S. 209–274.

[913] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Lieber Freund.

Berlin Abends am 16. III. [18]95

Die letzten Tage war ich durch die Sitzungen verhindert bei Ihnen vorzukommen. Morgen reise ich nur für eine Woche nach Oels. So muß ich schriftlich Adieu sagen mit den besten Wünschen für fortschreitende Genesung. In Treuen der Ihre Yorck Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 75, Bl. 51.

[914] Hermann Diels an Dilthey Lieber Freund,

Berlin, den 23. März 1895. W. Magdeburgerstr. 20. III

Soviel ich sehe, kommt der Gebrauch Platons dem von Ihnen präcisirten am nächsten. Z. B. Rep. III 396 E οἷόν γε ἀνάγκη τὸν τύπον εἶναι τοῦ τοιούτου ῥήτορος, wo durch das Vorhergehende ἐκμάττειν τε καὶ ἐνιστάναι εἰς τοὺς τῶν © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

498

Hermann Diels an Dilthey Hermann Diels an Dilthey

κακιόνων τύπους die Sphäre der Metapher vorbereitet ist. Aber dann 397 C τῷ ἑτέρῳ τούτων τύπῳ τῆς λέξεως, was B εἴδη δύο τῆς λέξεως hiers[elbst]. So II 379 A οἰκισταῖς δὲ τοὺς μὲν τύπους προσήκει εἰδέναι, ἐν οἷς δεῖ μυθολογεῖν τοὺς ποιητάς … οὐ μὴν αὐτοῖς γε ποιητέον μύθους. Aristoteles verwendet terminologisch nur die auch bei Plato übliche Wendung ὡς ἐν τύπῳ, μὴ δι᾽ ἀκριβείας1 u. ähnl[iche]. Die Stoa hat ausser dem psychologischen Terminus (τύπωσις ψυχής) nur die allgemeine Bedeutung = χαρακτήρ hier u. da angewandt. Aber wie Bonhöffers2 Reden und Schenkls3 Reden zu Epiktet zeigen ist das Wort recht selten. Häufig ist das Wort im platon[ischen] Sinne bei Paulus ad Thess[aloniker] 1,7 ὥστε γενέσθαι ὑμᾶς τύπον πᾶσιν τοῖς πιστεύουσιν. Die Metapher erst verstanden nach [2.] Thess[aloniker] 3,9 ἵνα ἑαυτοὺς τύπον δῶμεν ὑμῖν εἰς τὸ μιμεῖσθαι (ganz platonisch). So sehr häufig auch ep[istula] Petr[us] I 5, 3 τύποι γινόμενοι τοῦ ποιμνίου. Irre ich nicht, so hat die philonische Schule dergleichen bei den Juden eingebürgert vgl. [De] Vit[a] Mo[ysis] 1 το δε αποτέλεσμα πρὸς τὸν τύπον ίδημιουργεῖ ἐν απομαιτομένου τάς σφραγίδας τον τεχνίτου τᾶς προςφόροις εχάστω υλιχαΐς ούσίαις.4 de aetern[itate] 9 (p. 16, 8 Q.) άπομαςάμενος γαρ τις τον τύπον του λόγου5 ähnlich 25, 22 Cum de opificio 5, p. 5, 14 Cohn εῖθ᾽ ὥσπερ ἐν κηρῷ τῇ ἑαυτοῦ ψυχῇ τοὺς ἑκάστων δεξάμενος τύπους ἀγαλματοφορεῖ νοητὴν πόλιν6 (in die stoische Bedeutung übergreifend). u. s[o] oft, aber immer soviel ich sehe ist der bildliche Ausdruck nie bei Plato noch durchgefühlt. Eine rein terminologische Verwendung präcis in dem von Ihnen angegebenen Sinne kenne ich aus dem Altertum nicht. Und das adj[ektiv] τυπικός Plut[arch] Mor[alia] p. 442 C wird nicht so verwandt, vielmehr ist τυπικόν bei den Byzantinern ein Regelbuch, worin die normale Ordnung der Messe oder der Gesetze dargestellt ist. Die Entwickelung des Terminus muss also in der neueren Zeit erfolgt sein.

Mit freundlichem Grusse Ihr ganz ergebener H. Diels

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 73, Bl. 249–250 R. 1 Rep. III, 414 a. 2 Adolf Friedrich Bonhöffer (1859–1919): klass. Philologe und ev. Theologe; 1890 Promotion in Tübingen (bei Ch. Sigwart), 1897 Pfarrer, 1900 Bibliothekar an der königl. Landesbibliothek Stuttgart. – Epictet und die Stoa: Untersuchungen zur stoischen Philosophie. Stuttgart 1890; Ders.: Die Ethik des Stoikers Epictet. Anhang: Exkurse über ewige wichtige Punkte der stoischen Ethik. Stuttgart 1894. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Julius Viktor Carus Dilthey an Julius Viktor Carus

499

3 Heinrich Schenkl (1859–1919): österr. klass. Philologe; 1892 a. o., 1896 o. Prof. in Graz, 1917 in Wien. – Epicteti Dissertationes ab Arriano digestae. Leipzig 1894. 4 Philo Judaeus: De vita Moysis, in: Opera omnia. Bd. 4. Hg. von C. E. Richter. Leipzig 1828, S. 202, L III, § 4. 5 Quod Omnis Probus Liber Sit. De Vita Contemplativa. De Aeternitate Mundi. Hg. von L. Cohn und S. Reiter. Berlin 1862, S. 88,13 (= 502 M.; 49). 6 Vgl. Philonis Alexandrini. Opera quae supersunt. Hg. von L. Cohn, P. Wendland und S. Reiter. 7 Bde. Berlin 1896–1930, hier Bd. 1, S. 6–60, IV, 18.

[915] Dilthey an Julius Viktor Carus1

Hochverehrter Herr College,

Berlin, 25. III. [18]95. W[est] Burggrafen-Str[aße] 4.

Darf ich mir die Freiheit nehmen, Sie um eine Auskunft zu bitten über einen Punkt, über welchen Sie ja allein kompetent sind. Der Typus oder das Modell des Tieres und das der Pflanze werden bekanntlich von Goethe so auf­gefaßt, daß für das ganze Tierreich ein gemein­sames Modell zu Grunde liege, dessen Modifikatio­nen die einzelnen Gattungen und Arten der Tiere sind: ganz wie er es auch von den Pflanzen annimmt. Dieselbe Auffassungsweise findet sich, nur unbestimmter, in Herders Ideen zur Ge­ schichte der Menschheit. Diese Ansicht der Sache wird gewöhnlich als Goethe ursprünglich eigen betrachtet. Ich habe nun immer Zweifel daran gehabt, daß dies sich so verhalte. In der That finde ich nun auch eine verwandte Anschauung in Robinet, Vue philosophique de la gradation naturelle des formes de l’êttre (1768),2 besonders in den ersten Kapiteln. Ebenso heißt es bei Vicq d’Azyr, oeuvres IV, 32:3 Die Natur scheint einem allgemeinen Typus oder Modell in der Struktur der verschiedenen Tiere zu folgen etc. Einzelne ähnliche Äußerungen finden sich auch bei Bonnet.4 Hiernach scheint es, daß dieser Gedanke eines allgemeinen Typus oder Modells des ganzen Tierreichs, dessen Modifikationen die einzelnen Arten sind, ein verbreiterter gewesen sei. Bald tritt er, wie bei Robinet, mit einer Art von Descendenzlehre verbunden auf, bald ohne eine solche. Da möchte ich nun von Ihrer großen Kenntnis dieses geschichtlichen Gebietes mir darüber Aufklärung erbitten, ob Sie nicht noch andere Schriftsteller kennen, welche diesen Gedanken in irgend einer Form teilen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

500

Wilhelm Windelband an Dilthey Wilhelm Windelband an Dilthey

Ich möchte Ihre kostbare Zeit mög­lichst wenig beanspruchen, aber etwaige Stellen aus Ihren Excerpten, einfach angegeben, würden mir sehr wertvoll sein. College Schulze,5 mit dem ich die Sache besprach, trug mir auf, Ihnen seine besten Empfehlungen zu senden. In größter Verehrung bin ich der Ihrige Wilhelm Dilthey Original: Hs.; Diktat D.s von der Hand A. Heubaums mit eigenhändiger Unterschrift D.s; StB PK Berlin, HA , Sammlung Darmstädter 2a 1870 (8): Dilthey, Bl. 5–6 R. 1 Julius Viktor Carus (1823–1903): Zoologe und Mediziner; 1853 o. Prof. für ver­ gleichende Anatomie und Direktor des Zoologischen Instituts in Leipzig. 2 Jean Baptiste Robinet (1735–1820): franz. Naturphilosoph. – Considérations philo­ sophiques de la gradation naturelle des formes de l’etre. Paris 1768. 3 Félix Vicq d’Azyr (1748–1794): franz. Arzt und vergleichender Anatom. – Œuvres de Vicq-D’Azyr. Hg. von J. L. Moreau. 6 Bde. Paris 1805. 4 Charles Bonnet (1720–1793): schweiz. Naturwissenschaftler und Philosoph. 5 Franz Eilhard Schulze (1840–1921): Zoologe und Anatom; 1865 a. o., 1871 o. Prof. in Rostock, 1873 in Graz, 1884 in Berlin; Direktor des Zoologischen Instituts in Berlin.

[916] Wilhelm Windelband an Dilthey Sehr verehrter Herr College,

Strassburg d[en] 25⁄3 [18]95.

Ihre freundlichen Zusendungen und Ihr überaus liebenswürdiger Brief1 trafen mich nach der Rückkehr von einer Amtsreise nach Halle; inzwi­schen habe ich, soweit mir die immer noch recht lästigen Rectoratsgeschäfte Zeit und Sammlung ließen, mich mit Ihren psychologischen Grundle­gungen vertraut gemacht. Ich brauche nicht aus­führlicher darüber zu sein, wie nahe sie mir gehen, wie tief sie meine eigenen Ueberlegungen berühren, Zustimmung und Widerspruch in mannig­facher Richtung hervorrufen. Günstige Gelegenheit schmeichelt mir die Hoffnung eben dies mündlich mit Ihnen zu ver­handeln. Ich reise morgen von hier ab, um in Etappen nach Friedrichsruh zu gehen, wo ich am l April die schöne Mission habe Strass­ © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

501

Hugo Münsterberg an Dilthey Hugo Münsterberg an Dilthey

burg zu vertreten.2 Von da will ich den Rückweg über Berlin nehmen, wo ich die erste Aprilwoche zubringen und versuchen will, Sie persönlich zu sprechen. Es würde mich ganz außerordentlich freuen, wenn ich Sie dort gegenwärtig fände. Für eine Notiz darüber wäre ich sehr dankbar; sie träfe mich von 29 März – 1 April in Hamburg, Hôtel St Petersburg, vom 3. April abends an in Berlin, Central Hôtel. In der Hoffnung, Sie bei diesem Anlaß zu sehen, bin ich mit hochachtungsvollem Gruße Ihr ergebenster Windelband Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl.  50–50 R; Erstdruck: Lessing, S. 215. 1 Neben den Ideen vermutlich auch die Süvern-Abhandlung. – Nicht überliefert. 2 Am 1. April 1895 feierte Bismarck seinen 80. Geburtstag.

[917] Hugo Münsterberg an Dilthey

Hochgeehrter Herr Geheimrat!

Cambridge Mass. 26 März 1895.

Ergebensten Dank für das außerordentlich liebenswürdige Schreiben,1 das ich von Ihnen vor wenigen Tagen erhielt und das mir freund­lichst zusagt, um was ich bat. Trotzdem habe ich mich nun aber entschlossen, von jener Zu­sage in Bezug auf Habilitationserleichterung keinen Gebrauch zu machen, und, der Warnung fol­gend die Sie beigefügt, auf die Berliner Pläne vollkommen zu verzichten. Ich thue es mit schwe­rem Herzen, da ich so vielerlei Anregungen von dem geistigen Leben Berlins erhoffte und andrer­seits innerlich überzeugt war, daß ich persön­lich mich in die Docentenstelle ganz gut hineingefunden hätte. Der Gedanke an eine baldige Beförderung in Berlin selbst lag mir ganz fern; die Herren, welche dort schon längere Zeit docieren, würden selbstverständlich den Vorrang vor dem Neukommer haben, und mein aka­demischer Ehrgeiz hoffte lediglich, über kurz oder lang irgendwo im Vaterland zu einer ordent­lichen Professur berufen zu werden. Bis dahin wollte ich mich in Berlin mit dem Bewußtsein begnügen, die Havardprofessur freiwillig aufge­geben zu © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

502

Ludwig Stein an Dilthey Ludwig Stein an Dilthey

haben. Nun aber ist es mir nach all den Briefen selber klar geworden, daß ich im besten Begriff stand, mir eine schiefe Situation zu construieren und peinliche Verhältnisse gegen meinen Willen heraufzubeschwören. Ich sehe vor allem, daß es in dieser Frage nicht nur darauf ankommt, wie ich selber fühle, sondern darauf, wie die andern erwarten, daß ich fühlen müßte. Und da die Warnung vor der Umhabilitation nach Berlin so einstimmig von Männern kommt, welche mir gleichzeitig die große Freundlichkeit ihrer Gesinnung bekunden, so würde es mir leichtfertig und unverantwortlich erscheinen, wenn ich der Warnung nicht gehorchen wollte. Freilich, den Wunsch, im Vaterland zu wirken, kann ich zunächst nicht niederdrücken, und so verlasse ich nun Amerika auf jeden Fall; ich werde aber nunmehr einfach in meine Freiburger Stelle zu­rückkehren und dort abwarten, ob mich, trotz Wundt’s unerbittlicher Gegnerschaft, nicht schließ­lich doch einmal ein freundlicher Zaubermantel zu einem willkommneren Platz, vielleicht gar in der Preußischen Heimat hinübertragen wird. An bestem Bemühn und ernster Arbeit mei­nerseits soll es nicht fehlen. Ich kann kaum sa­gen, wie sehr mich bei solcher Arbeit die Anre­gungen fördern, die von Ihrer letzten großen Akademiearbeit für mich ausgingen.  – Vor allem aber lassen Sie mich heute Ihnen nochmals für die Freundlichkeit Ihres Briefes danken, und ent­schuldigen Sie die Unbequemlichkeiten, die mein vorschneller Plan Ihnen bereitete. Ich werde im Juni um die Erlaubnis bitten, Ihnen diesen Dank noch einmal mündlich aussprechen zu dürfen. In dankbarer Verehrung Ihr sehr ergebener Hugo Münsterberg. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 169, Bl. 247–248 R. 1 Nicht überliefert.

[918] Ludwig Stein an Dilthey Hochverehrter Herr Geheimrath!

Bern 26. März 1895

Nicht weniger als eine Woche habe ich mich dem Genusse Ihrer Abhandlung hingegeben. Seit meiner Heimkehr aus Paris bildet Ihre „beschreibende und zergliedernde Psychologie“ den einzigen Gegenstand meiner geistigen © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Ludwig Stein an Dilthey Ludwig Stein an Dilthey

503

Nahrung. Und wenn ich mich heute schon dazu entschließe, Ihnen meine Eindrücke zu skizzieren, so geschieht es nur aus dem egoistischen Grunde, daß ich mich erleichtern will, daß ich die schwere Gedankenbürde, die Sie mir durch Ihre neuen Ideen auferlegt haben, für einige Tage der Ferienzeit wieder ab­thun möchte. Indem ich mich mit Ihnen über Einzelnes ausspre­che, hoffe ich mich von dem anstrengenden Ideenkreis, in den mich Ihre Abhandlung gebannt hat, für einige Tage zu befreien. Die neuen Ideen gehen mir nämlich seit 8 Tagen bis in die Träume nach und verfolgen mich – schattengleich – auf Schritt und Tritt. Neu freilich war mir so Manches auch als Ihre Ansicht, aber nicht durchaus neu. Sie werden darüber ebenso erstaunen, wie ich mich über dieses Zusammentreffen gefreut habe: seit Wochen hat Rodenberg eine Abhandlung für die „Deutsche Rundschau“ in den Händen, deren Ideengänge in vielen Punkten mit den Ihrigen zusammentreffen. Die Abhandlung betitelt sich: „Das Prinzip der Ent­wicklung in der Geistesgeschichte“.1 Sie sucht  – mit der Ihrigen tendenzverwandt  – Postulate, wie Sie sie S.  632 für’s Individuum fordern, an einem ganzen Kulturabschnitte  – der Renaissance  – zu verwirklichen; die immanente Teleologie wie Sie sie S. 69 u. 783 fordern, rückt sie in den Mittelpunkt, indem sie die Continuität, die Sie S. 134 u. ö. fordern, als ausschlaggebenden Factor der Geschichte erweist, und endlich die Entwicklung, die Sie S.  385 u. öfter betonen, als das Grundprinzip der Geschichte aufzu­ decken sucht. Daß Sie allen meinen Ausführungen beipflich­ten, wage ich nicht zu hoffen; aber die Abhandlung wird sich so lesen, als ob sie an den Schluß der Ihrigen (S. 99)6 anknüpfte, während sie in Wirklichkeit seit zwei Jahren fertig liegt und vor einigen Wochen an Rodenberg geschickt worden ist, der sie für die „Rundschau“ erworben hat. Ein ähnliches Zusammentreffen hatten wir im vorigen Jahre in einer geschichtlichen Auffassung bezüglich Telesius’ Stellung zum Stoi­zismus.7 Das beweist mir, daß ich mich in meinen Forschungen auf dem richtigen Wege befinde. Je öfter meine Gedankengänge sich mit den Ihrigen begegnen werden, desto arbeitsfreudiger und selbstsicherer werde ich mich fühlen. Ihren Spu­ren nachzuwandeln, kann nur geistigen Gewinn bringen. Ich gehe auf Einzelnes über. Zu den tiefst gedachten Abschnitten Ihrer Abhandlung, die ich als ein Programm betrachte, dessen Ver­wirklichung und Detailausführung die Aufgabe der nächsten Zukunft – nicht bloß Ihrer selbst, son­dern auch die Ihrer Schüler und Anhänger sein dürfte, rechne ich Ihre Ausführungen über das Wesen der Hypothese, S. 14 ff.8 Hier ist nun wirk­lich ein Schritt über Mill und Sigwart hinaus gethan. Auch scheint mir der Nachweis von dem durch und durch hypothetischen Character der erklärenden Psycho© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

504

Ludwig Stein an Dilthey Ludwig Stein an Dilthey

logie ein zwingender zu sein, wobei ich mit besonderem Vergnügen bemerkt habe, wie vor­nehm Sie Wundt behandeln, und die Unhaltbarkeit, oder besser Unzulänglichkeit der erklärenden Psychologie an Wundt’s eigenem Hinauswachsen über diese glücklich exemplifizirt haben.9 Weniger befreunden kann ich mich mit Ihrem durch­gängigen Kampf gegen die Hypothese des Parallelis­mus. Sehen auch Sie sich doch (S. 86)10 zur Annahme einer letzten Einheit gedrängt, wenn Sie auch die Natur dieser Einheit für gänzlich unbekannt er­k lären. Sobald aber nun solche Einheit  – meinet­ halben nur als transcendentale Einheit der Apperception, um mit Kant zu reden – von unserem construirenden Bewußtsein fort und fort gefordert wird – die ganze Geschichte der Philosophie ist ja voll von diesem Ringen, das wir gleichfalls mit Kant „metaphysisches Bedürfniß“ nennen wollen –, so ist der Parallelismus m. E. der einzige Ausweg, einem krassen Materialismus zu entgehen. Für Sie ist freilich auch der Parallelismus nur verhüllter, verschleierter Materialismus, für mich nicht. Ich sehe in dieser Hypothese gerade die Möglich­keit, dem Materialismus zu entrinnen. Bedeuten Attribute Andersartigkeit, ein Sein sui generis, so ist das Attribut des Denkens in sei­ner Selbständigkeit gegenüber den körperlichen Vorgängen gerettet. Ob beide Attribute in einer letzten – einer, wie Sie mit Recht betonen, un­erkennbaren – Einheit zusammenfallen, kann ja der Psychologie gleichgültig sein. Hat sie nur die absolute Eigenartigkeit der geistigen Natur gegen­über der körperlichen gesichert, dann kann sie dem Spiel der metaphysischen Phantasie, die noch eine letzte Einheit träumt, behaglich, weil unbetheiligt zuschauen. Doch fürchte ich, daß wir uns über diesen Punkt nicht verständigen werden. Vorbeugend will ich indeß nicht unterlassen, hier hinzuzufügen, daß auch ich den physiologischen Parallelprozeß für verwickelte, abstracte Denkacte nicht für erwiesen halte. Vortrefflich ist der Nachweis, daß die beschreibende Psychologie sich freier von Hypothesen fühlt, als die erklärende. Man kann weitergehen und getrost sagen: freier, als jede andere Wissenschaft. Denn mit der unmittelbaren Sicherheit des eigenen Erlebnisses und der Selbstbeobachtung eben dieses Erlebnisses hält das Fundament keiner anderen Wissenschaft – auch der Mathe­matik nicht  – einen Vergleich aus. Denn bei jeder anderen Wissenschaft schieben sich bei der Erklärung ihrer Fundamente erkenntnißkritische Erwägungen ein, hier nicht. Das Selbsterlebniß ist einzig und allein der fatalen Zwickmühle: Ding an sich und Erscheinung nicht unterworfen. Die Illusionen der Psychophysik haben Sie S. 2711 mit vollem Recht als solche enthüllt. In meiner Abhandlung kommt das harte Wort vor: sie münde vielfach in einen Fanatismus des Experiments und eine Scholastik der Zahl ein.12 Ich bin, wolverstanden, kein Gegner der erklärenden Psychologie. Ich räume vielmehr der Psychophysik das Recht ein, sich als psychologische © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Ludwig Stein an Dilthey Ludwig Stein an Dilthey

505

Elementarlehre zu betrachten. Aber über die Elemente hinaus gelangt sie nicht, und selbst diese zu analysiren, und einwandfrei festzustellen fällt ihr infolge ihres, von Ihnen nachgewiesenen hypothetischen Characters ungemein schwer. Sehr sympathisch ist mir Ihre Auffassung der Geschichte als Fundgrube der beschreibenden Psychologie, S. 42.13 Sie treffen da mit dem Hauptgedanken der jüngsten Windelbandschen Rectoratsrede zusammen.14 Gewiß ist diese Quelle sehr reich, wie Sie S. 4315 betonen, aber vielleicht auch zu reich, so übersprudelnd reich, daß wir noch gar nicht die technischen Hilfsmittel be­sitzen, sie zu fassen und in ein von uns erbohrtes Strombett zu leiten. Das ist mein einziges Bedenken gegen den von Ihnen formulirten Begriff der beschreibenden Psychologie. Sind die von Ihnen aufgezählten Materialien desselben – besonders glücklich S. 8416 zusammengefaßt – nicht im Einzelnen zu complicirt, im Zusammenhange zu deutungsreich und zu sehr subjektiver Interpretation unterworfen, als daß sich heute schon ein fester Kanon aufstellen ließe? Lassen sich nicht jene Bedenken, die Sie in Ihrem Hauptwerke gegen die Soziologie ins Feld geführt haben,17 auch gegen die von Ihnen geforderte beschreibende Psycholo­gie ausmünzen? Und umgekehrt: Wenn es uns gelänge, Ihr Programm zu verwirklichen, eine auf so breiter Grundlage errichtete beschrei­ bende Psychologie als Wissenschaft zu creiren: würde dann diese nicht zugleich eine Basis für die Soziologie abgeben? Ja, ich gehe noch weiter; die Erfüllung Ihres Programms wäre nicht bloß eine Grundlage der Soziologie, sondern schon die Soziologie selbst! Vernünftige Sozio­logen erhoffen von ihrer Wissenschaft gar nichts mehr, als jenes Ausmaß von Erkenntniß, das die von Ihnen geforderte Wissenschaft in Aussicht stellt. Noch mögen einige untergeordnete Punkte ge­streift werden. S. 3418 wird der Ausdruck „Gemüth“ ganz in Kantischem Sinn gebraucht, worauf viel­ leicht ebenso hätte verwiesen werden können, wie S. 4719 auf Darwins Arbeiten über die mimischen Aus­druckbewegungen.20 Prächtig und tief ist die ganz neue Motivirung des Optimismus, S. 79.21 Noch bemerke ich, daß in jener restringirten Fassung, in welcher Sie S. 8022 vom Collectivum Menschheit sprechen und – unter gewissen Cautelen – eine Entwicklung zulassen, eine Soziologie behaglich dazwischenschlüpfen und ein leidlich gemüthliches Leben führen kann. Ob Sie in Ihren Ausführungen über das Wesen der Biographie (S.  87)23 eine Verwandtschaft mit den Gedankengängen der Ihnen gestern übersandten Abhandlung „zur Methodenlehre der Biographik“24 herausfinden werden, bin ich sehr gespannt zu vernehmen. Das Schlußkapitel über die „Individualität“ halte ich für das glücklichst inspirirte, das seit geraumer Zeit Ihrer Feder entflossen ist. Es ist ein Kabinett­ stück  – für litterarische Feinschmecker. Nur aus der Wahlverwandtschaft © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

506

Ludwig Stein an Dilthey Ludwig Stein an Dilthey

heraus, und weil man selbst großes Individuum ist, vermag man das unvergleichliche Wesen des Individuums so von innen heraus zu erfassen. Hier erhebt sich auch die Darstellung zu einer poetischen Höhe, wie sie in den vorangegangenen Kapiteln nur noch die herrlichen Schlußworte, S. 87,25 erreicht haben. Alles in Allem eine Leistung, die anregend und befruchtend, für Manche selbst richtungsgebend wirken wird. Verübeln Sie mir meine Bedenken und die offene Aussprache über einzelnen Probleme nicht; Sie haben mich durch Ihre freundliche Zuschrift26 dazu ermächtigt. Um Sie mit meinem Briefe nicht zu ermüden, habe ich nur einen winzigen Theil meiner bei der Lectüre entstandenen Notizen hier verwerthet. Wie geht es Ihnen und Frau Geh[eim]Rath gesundheitlich? Ich wäre glücklich zu vernehmen, daß Alles wieder in gutem Geleise ist. Was sagen Sie zu Glogau?27 Der Arme ist zu früh geschieden; er hatte offenbar noch Vieles zu sagen, was mit ihm in’s Grab gesunken ist. Have pia anima.28 Verehrungsvoll der Ihrige Ludwig Stein Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl. 25–30 R; Erstdruck: Lessing, S. 216–220. 1 L. Stein: Das Prinzip der Ent­wicklung in der Geistesgeschichte, in: DRS 83 (1895), S. 397–419. 2 Vgl. GS V, S. 201. 3 Vgl. GS V, S. 207, 215 f. 4 Vgl. GS V, S. 151. 5 Vgl. GS V, S. 176. 6 Vgl. GS V, S. 237. 7 Vgl. D.: Die Autonomie des Denkens, der konstruktive Rationalismus und der pantheistische Monismus nach ihrem Zusammenhang im 17. Jahrhundert (1893), in: AGPh 7 (1894), S. 28–91, hier S. 82 ff.; WA in: GS II, S. 246–296, hier S. 289 ff. 8 Vgl. GS V, S. 152 ff. 9 Vgl. GS V, S. 166 f. 10 Vgl. GS V, S. 224. 11 Vgl. GS V, S. 165. 12 L. Stein: Das Prinzip der Entwicklung in der Geistesgeschichte, a. a. O., S. 399. 13 Vgl. GS V, S. 180. 14 W. Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft. Straßburg 1894. 15 Vgl. GS V, S. 180 f. 16 Vgl. GS V, S. 221 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Carl Eduard von Martens an Dilthey

507

17 Vgl. GS I, S. 86 ff. 18 Vgl. GS V, S. 172. 19 Vgl. GS V, 185. 20 Ch. Darwin: The Expressions of the Emotions in Man and Animals. London 1872; dt.: Der Ausdruck der Gemüthsbewegung bei dem Menschen und den Thieren. Uebers. von J. V. Carus. Stuttgart 1872. 21 Vgl. GS V, S. 216 f. 22 Vgl. GS V, S. 218. 23 Vgl. GS V, S. 24 f. 24 L. Stein: Zur Methodenlehre der Biographik, in: Biographische Blätter 10 (1895), S. 22–29. 25 Vgl. GS V, S. 225. 26 Nicht überliefert. 27 Der Steinthal-Schüler Gustav Glogau (1844–1894): Philosoph; 1883 o. Prof. in Halle, 1884 in Kiel. Goglau verunglückte am 22. März 1894 während einer Studienreise in Griechenland tödlich. 28 Sei gegrüßt, fromme Seele!

[919] Carl Eduard von Martens1 an Dilthey   Hochverehrter Herr!

Berlin d[en] 27. März 1895

Über Ihre Frage, ob schon bei früheren Naturforschern und bei welchen die Idee eines gemeinsamen Typus oder Modells für alle Thiere und ebenso eines andern für alle Pflanzen zu finden sei, läßt sich, wie meist bei solchen Dingen, Mancherlei sagen, da eben solche Anschauungen nicht mit Einem Schlage auftreten, sondern Ihre Vorläufer und Vorbereiter haben, auch zu unterscheiden ist, ob die Idee mit bestimmten Worten ausgesprochen wird oder nur als vom Verfasser stillschweigend vorausgesetzt angenommen werden kann. So liegt dieselbe gewissermaßen schon der Annahme Plato’s zu Grunde, daß die einzelnen Thierklassen bis zu den Würmern, Fischen und Muscheln herab und den Menschen durch zunehmende Erniedrigung und Abwendung vom Idealen entstanden seien (Timaeus cap. 44) [–] ein merkwürdiger Gegensatz zur jetzigen Descendenzlehre; gerade weil hier der schon ganz speziell ausgebildete menschliche Organismus als Ausgangspunkt genommen wird, muß er sich denjenigen der Thiere bei aller Verschlechterung und Erniedrigung doch noch dieselben Grundzüge bewahrend gedacht haben. Aristoteles dagegen, der in seinen zoologischen Schriften doch wesentlich von der Beobachtung ausgeht, und sein Schüler Theophrast 2 für die Pflanzen, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

508

Carl Eduard von Martens an Dilthey

beginnen ihre Schriften gleich mit der Besprechung der zwischen den ein­ zelnen Thieren (Pflanzen) bestehenden Unterschiede und man muß schon suchen um Stellen zu finden, welche Gemeinsames für alle Thiere (oder Pflanzen) erwähnen, findet aber auch solche, z. B. Arist[oteles] hist[oria] an[imalium] I, 2 § 19[:] „Allen Thieren gemeinsam sind die Theile, mit welchen und in welche sie die Nahrung aufnehmen“, und ebenda 3 § 21, „allen Thieren gemeinsam ist ein Sinn allein, das Gefühl; der (Körper)theil, in welchem es entsteht, ist bei den einen derselbe, bei andren ein analoger. Auch hat jedes Thier Flüssigkeit; wenn es derselben natürlich oder gewalthsam beraubt wird, stirbt es. Bei den einen ist es das Blut in den Adern, bei den andren das diesem Analoge.“ Es sind das aber doch mehr Übereinstimmungen in den Lebensthätigkeiten, als im architektonischen Körperbau. Der Gedanke analoger Theile durch verschiedene Thierklassen hindurch, d. h. auf den ersten Anblick verschiedener, aber doch typisch gleichwerthiger Gebilde, annähernd dem was wir jetzt homolog nennen, tritt deutlich hervor in I[,] 1 § 4: „Einige Thiere haben nicht der Gestalt auch dieselben Theile, auch nicht nur nach Mehr oder Weniger, sondern nach der Analogie, so verhält sich der Knochen zur Gräte, die Kralle zum Huf, die Hand zur Scheere, die Schuppe zur Feder; denn was am Vogel die Feder, ist am Fisch die Schuppe.“ Hieraus und aus andern Stellen ergiebt sich deutlich, daß Aristoteles eine Übereinstimmung im Körperbau, also einen gemeinsamen Typus oder Modell zwischen all den Thieren erkannt hat, welche er als blutgebende (ἔναιμα) u. wir jetzt als Wirbelthiere bezeichnen, den für den Laien noch so verschieden aussehenden Säugethieren, Vögeln, Reptilien und Fischen. Aber wo er dann zur Betrachtung der übrigen Thierklassen übergeht, im Anfang des vierten Buchs der hist[oria] an[imalium], da ist nur von absoluten Unterschieden die Rede, nicht von einem Mehr oder Weniger, Modifikation eines Gemeinsamen. Wie wenig ihm eine für alle Thiere charakteristische Form in Gedanken vorschwebte, zeigt sich auch darin, daß er da, wo er die zwischen Thierreich und Pflanzenreich zweifelhaften Wesen bespricht, de partib[us] animalium IV, 5, nur auf die Lebensthätigkeiten, nicht auf die Körperform zur Unterscheidung zwischen Thier und Pflanze Werth legt, ganz ebenso auch wie Linné3 für die Thiere nur die Definition corpora organisata, viva, sentientia sponteque se moventia, für die Pflanzen corp[ora] org[anisata] et viva, non sententia giebt, keine gemeinsame Form für alle Thiere oder alle Pflanzen anzugeben weiß. Auch sagt Arist[oteles] an derselben Stelle bestimmt, daß die Natur einen zusammenhängenden Übergang (μεταβαίνει συνεχῶς) von den unbeseelten lebenden Wesen (doch wohl Pflanzen) zu den Thieren mache, ganz im Sinn der gegenwärtigen Auffassung, was zur Idee eines für jedes Reich besondren Modells wenig paßt. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Carl Eduard von Martens an Dilthey

509

Von Theophrast ist zu erwähnen, daß er gleich im Anfang seines Werkes über die Pflanzen4 I, 1 § 2 als charakteristisch für dieselben im Gegensatz zu den Thieren hervorhebt, daß einzelne Theile zeitweise hervorsprossen und wieder abfallen, so Blätter, Blüthen und Früchte; ferner sagt er I, 1 § 4: [„]Die ersten und größten und den meisten (Pflanzen) gemeinsamen Theile sind die Wurzel, der Stamm (Stengel), Ast und Zweig.“ Das ist also ein bestimmter formeller Aufbau, den er für die Pflanzen gegenüber den Thieren als charakteristisch hinstellt, aber allerdings sagt er, „die meisten“ und mit Recht. Im Mittelalter war in erster Linie die kirchliche Auffassung, daß Pflanzen und Thiere nur des Menschen wegen da seien und einzelne von Gott geschaffen wurden, der Mensch aber etwas ganz Anderes sei, nicht günstig für die vergleichende Betrachtung der einzelnen Formen, und später wollte man nichts Anderes lehren, als was schon im Aristoteles stehe, wie Albertus ­Magnus5 selbst sagt. Beim Wiedererwachen der Naturwissenschaften im Reformationszeitalter nahm zunächst die große Menge der neu bekannt werdenden Arten und Gattungen, die Beobachtung im Detail die Zoologen und Botaniker in Anspruch und man bemühte sich dieselben in dem von Aristoteles und Theophrast gegebenen Rahmen unterzubringen, ohne an den allgemeinen Anschauungen zu ändern. Erst die Fortschritte in der menschlichen Anatomie und in den exakten Naturwissenschaften (Astronomie, Physik) wirkten auch auf die Zoologie und Botanik dahin, daß auch in ihnen die Autorität der Alten im Ganzen und Allgemeinen der Kritik durch die neuen Beobachtungen unterworfen wurde. Hauptsächlich die Arbeiten des Engländers Harvey exercitationes de generatione animalium 1651,6 des Italieners Redi experimenta circa generationem insectorum 16687 und des Gotländers Swammerdam hist[oria] insectorum generalis, gotländisch 1669[,] lateinisch 1685,8 wiesen die fundamentale Übereinstimmung in der Fortpflanzung und Entwicklung zwischen den verschiedenen Thierklassen nach, indem Harvey den Unterschied zwischen Lebendiggebären und Eierlegen auf das richtige Maß als Modifikation desselben Entwicklungsvorganges zurückführte (omne vivum ex ovo), Redi das Ent­stehen der Insekten aus faulenden Stoffen widerlegte und Swammerdam die Verwandlung der Insekten unter sich und mit der der Fische parallelisirte und damit als einen im Thierreich weitverbreiteten typischen Entwicklungsvorgang hinstellte. Damit war allerdings noch kein gemeinschaftliches Modell für den Körperbau aller Thiere gegeben, aber doch dem Gedanken Raum geschafft, daß wie in der Entstehung und Entwicklung, so auch im Körperbau selbst eine tiefere Übereinstimmung zwischen den äußerlich verschiedensten Thieren bestehen könne. Harvey und Swammerdam dehnten übri© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

510

Carl Eduard von Martens an Dilthey

gens ihre Theorie der wesentlichen Übereinstimmung auch auf die Pflanzen aus, im Einzelnen nicht immer ganz richtig, aber doch auf ein richtiges Ziel hindeutend. Auch wurde um diese Zeit schon wiederholt auf den Nutzen des Zer­ gliederns verschiedener Thiere zur besseren Kenntniß des menschlichen Lebens und zur Förderung der Heilkunde hingewiesen, was eben eine fundamentale Gleichheit zwischen beiden voraussetzt, so z. B. ganz prinzipiell von A. Severino in Neapel, zootomia Democritea id est anatomia generalis t­otius animalium opificii 1645,9 worin ausdrücklich gesagt ist, daß die Thiere nach dem Vorbilde des Menschen geschaffen seien; thatsächlich dürfte er allerdings dabei hauptsächlich die Wirbelthiere gemeint haben und also damit im Grunde nichts Neues gesagt haben. Was Bonnet in der Vorrede zu seinem traité d’insectologie 174510 bringt, ist eigentlich etwas Anderes, er stellt eine allmälige Stufenreihe hin von den vier Elementen zu den Mineralien, von diesen zu den Pflanzen und von da durch die Reihe der Thiere hindurch bis zum Menschen; der Asbest und die Koralle bilden die Mittelglieder zwischen Mineralien und Pflanzen, die Sinnpflanze (Mimosa sensitiva)  und die jetzt in unsern Aquarien so häufigen See[-]Anemonen (Actinien) diejenigen zwischen Pflanzen u. Thieren, Vogel Strauß und Fledermaus die Mittelglieder zwischen Vögeln und Säugethieren; man darf daraus nicht schließen, daß er allen Thieren einen gemeinsamen Typus zuschriebe, weil er sie durch Mittelglieder verbindet, denn sonst müßte man ebenso schließen, daß er für Thiere, Pflanzen, Mineralien und Elemente bis zum Feuer herab einen gemeinsamen Typus annehme, weil er auch hier überall Mittelglieder findet. Der Erste, so viel ich jetzt finden kann, der einen einheitlichen Plan, sich durch das ganze Thierreich in allmäligen Abstufungen hinziehend, gewissermaßen als Lehrsatz aufstellt und zu begründen sucht, ist Buffon in den ersten Bänden seiner großen Naturgeschichte, 1749;11 er hat sich hauptsächlich nur mit den höheren Thieren beschäftigt und bei diesen ist ja ein einheitlicher Typus unverkennbar; von diesem Standpunkte aus verwarf er die Linneische12 Systematik, welche überall nur die Unterschiede schrof[f] hervorhob, aber im Eifer der Polemik ging er auch wieder zu weit; was er von anatomischen Beweisen vorbringt, bezieht sich nur auf den Kreis der Wirbelthiere. Buffon’s Werk hat bekanntlich einen großen Einfluß, namentlich in Frankreich, gehabt und so sind Robinet und Vicq d’Azyr ohne Zweifel auch durch seine Anregung zu ihren Ansichten gekommen. Der eifrigste, konsequenteste und dabei kenntnißreichste Verfechter eines gemeinsamen Bauplans für sämmtliche Thierklassen aber war Etienne Geoffroy St. Hilaire,13 geb. 1772[,] gest. 1844, welcher 1794 den jungen Cuvier14 in Paris © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Carl Eduard von Martens an Dilthey

511

einführte, 1796–1802 mit der Napoleonischen Expedition in Ägypten war und früher in der Pariser Akademie eben gegen Cuvier, welcher vier unter sich grundverschiedene Baupläne im Thierreich annahm, die Einheitlichkeit mit mehr oder weniger guten Gründen verfolgte, so z. B. die Thatsache, daß bei den Insekten der Nervenstrang, der dem Rückenmark entspricht, auf der Bauchseite, dagegen das Herz oben liegt, so deutete, daß bei den Insekten der Rücken unten, Brust und Bauch oben sei, sie gewissermaßen auf dem Rücken liegend sich bewegen. Diese Streitigkeiten, hauptsächlich in den zwei ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts geführt (Cuvier starb 1832), haben damals großes Aufsehen gemacht und auch in Deutschland Widerhall gefunden, sind namentlich auch auf Entstehung und Ausbildung der naturphilosophischen Schule von Einfluß gewesen. Göthe hat durch seine Metamorphose der Pflanzen 1790,15 worin er die typische Übereinstimmung zwischen den grünen Blättern und den Blüthen­ theilen fest stellte, ein sehr wesentliches Verdienst um das Verständniß der höhern Pflanzen; in Betreff der Thiere stellte er sich dementsprechend und nach seiner ganzen Geistesrichtung auf die Seite von Buffon und Geoffrey gegen Linne und Cuvier, hat auch in der speziellen Frage des Zwischenkiefers einen vermeintlich wesentlichen Unterschied zwischen dem Schädel des Menschen und dem der Affen durch eigene Beobachtung auf das richtige Maaß zurückgeführt, aber ist weder in dieser speziellen Frage, noch in der allgemeinen Anschauung der Erste und Bahnbrechende, sondern nur Theilnehmer und Mitstreiter gewesen. Wenn es noch erlaubt ist, mit einigen Worten anzudeuten, wie sich diese Anschauung eines gemeinsamen Bauplanes oder Modells für alle Thiere und ebenso die eines andern für alle Pflanzen zu unsern gegenwärtigen Kenntnissen verhält, so muß man sagen, daß sie nur in beschränktem Maaße sich aufrecht erhalten läßt. Im ganzen Umfange konnte sie von Nachkommern nur vertheidigt werden zu einer Zeit, als man die höhern und viele mehr in der Mitte stehenden Thiere auch in ihrer innern Organisation so genau kannte, um die Übereinstimmung im Innern gegen die Unterschiede in der äußern Form in die Wa[a]gschale werfen zu können, aber die niedersten Thiere (und Pflanzen) noch so wenig und so unvollkommen kannte, um die Ausnahmen und Gegensätze, welche sie zeigten, auf unzureichende Beobachtung, nicht genügende Sehkraft zu schieben und von der Zeit Aufklärung zu hoffen. Das können wir jetzt nicht mehr, wir kennen die Organisation der niedersten Thiere und niedersten Pflanzen jetzt wenigstens soweit sicher, daß wir einsehen, die Anordnung ihrer Körpertheile weiche wesentlich von derjenigen bei den höheren ab. Wohl nehmen wir jetzt für alle, selbst Thiere und Pflanzen zusammen, Einen gemeinsamen Ursprung an, der sich in der Eizelle immer © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

512

Carl Eduard von Martens an Dilthey

wiederholt, aber dieser liegt eben tief unten, in einer halbflüssigen formlosen oder kugligen Protoplasmamasse, noch ohne bestimmt geschiedene Körper­ theile und sobald es zu solchen kommt, weichen die einzelnen Thierabtheilungen auch darin von einander ab. Wohl aber ist es wahr, daß für die große Mehrzahl der uns bekannten Thierarten, für alle diejenigen, welche man von Alters her und auch jetzt noch der Nicht-Fachmann näher kennt und unter diesem Namen versteht, ein gemeinschaftlicher Bauplan angenommen werden kann, es sind das die bilateralen Thiere, im Zusammenhang mit der freien Ortsbewegung Kopf und Hintertheil, Rücken und Bauch differenzirt zeigend, auf Muskeln beruhende Bewegungsorgane an der Außenseite des Körpers besitzend, die sehr oft in Paaren angeordnet sind, im Innern Nervenstrang und Darmkanal, meist einander parallel den Leib der Länge nach durchziehend, ferner Absonderungs- und Geschlechtsorgane (oft nach hinten ausgehend). Unter diesen Bauplan lassen sich die mittleren und höheren Thiere bringen, nämlich die Mehrzahl der Würmer, die Gliederthiere (Krabbe, Spinne, Insekte), die Weichthiere (Muscheln, Schnecken, Cephalopoden16) und die Wirbelthiere. Ebenso können wir alle mittleren und höheren Pflanzen, von den Moosen an durch die Form bis zu den Phanerogamen17 herauf unter einen gemeinsamen Bauplan oder Modell bringen, eben das was schon Theophrast angedeutet. Und in der That sind es diese zwei großen Einheiten gewesen, die bilateralen, fressenden und frei nach vorwärts sich bewegenden Thiere und die im Boden wurzelnden, nach oben fortwachsenden, Blatt um Blatt entwickelnden, meist verzweigten Pflanzen, wegen welcher die Menschen seit ältester Zeit die organischen Wesen in zwei große Reihen, Thiere und Pflanzen, geschieden haben. Daneben gibt es aber noch eine Anzahl anderer niedriger Formen, die ganz anders gebaut sind, nicht in dieses Modell passen, einerseits die Echinodermen,18 Korallen und Quallen, Schwämme, Infusorien19 und Rhizopoden20 (manche darunter selbst ohne Mund), andrerseits die Flechten, Algen, Pilze, Bacillen. Diese waren in früheren Jahrhunderten theils ganz unbekannt, t­ heils wurden sie nur wenig beobachtet, sie werden aber jetzt ja nach der Art und dem Grad ihrer Lebenserscheinungen in die einmal allgemein angenommenen zwei Reiche eingereiht, die einen bei den Thieren, die andern bei den Pflanzen, und sie sind es, welche die Annahme einer fundamental gemeinsamen Anordnung der Körpertheile für alle Thiere oder für alle Pflanzen uns unmöglich machen. Häckel21 hat einen Theil derselben, aber auch nur einen Theil unter dem Namen Protisten22 als drittes Reich außer- und unterhalb des Thierreichs und des Pflanzenreichs gestellt. Betreffs der Bonnet’schen Stufenleiter möge noch bemerkt werden, daß ein solches Aufsteigen in Einer zusammenhängenden Reihe uns jetzt gekünstelt und phantastisch erscheint, wir vielmehr die allmälige Entwicklung und Dif© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Carl Eduard von Martens an Dilthey

513

ferenzirung der einzelnen Thier- (und Pflanzen-)abtheilungen uns unter dem Bilde eines Baumes oder Strauches vorstellen, mit vielen auseinanderstrebenden, frei endigenden, nicht wieder sich vereinigenden Ästen, die Gesammtheit der organischen Wesen als zahlreiche aus Einem Samen entstandene auseinanderweichende Schößlinge, von denen zwei zu mächtigen Bäumen herangewachsen sind, die bilateralen Thiere und die höhern Pflanzen im obigen Sinne, die übrigen aber zurückgeblieben, sozusagen ein wildes Gestrüpp am Fuße dieser beiden bilden. Verehrter Herr, verzeihen Sie daß aus meiner Antwort auf eine einfache Frage ein solcher Excurs geworden ist; es reiht sich eben in derartigen Dingen das eine fast unbeweislich an das andere. Noch möchte ich Sie auf das Buch von Victor Carus Geschichte der Zoo­ logie München 1872,23 8 verweisen, wo Sie unter Anderm S. 381. 382 über ­Severino, 522ff über Buffon, 589ff über Göthe, 594 über Geoffroy Näheres finden. Hochachtungsvoll ergebenst Prof. Ed. v. Martens. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 73, Bl. 209–212 R. 1 Carl Eduard von Martens (1831–1904): Zoologe; 1860 Expeditionen nach Asien als leitender Zoologe, Kurator der Weichtier-Sammlung sowie der Sammlung für marine wirbel­lose Tiere am Zoologischen Museum Berlin. 2 Theophrastos von Eresos (371 v. Chr.  – 287 v. Chr.): griech. Philosoph und Natur­ forscher. 3 Carl von Linné (1707–1778): schwed. Naturforscher; Schöpfer der binären Nomenklatur. 4 Naturgeschichte der Gewächse. Hg. von J. G. Schneider. 5 Bde. Leipzig 1818–1821; dt. Übers. von K. Sprengel. 2 Bde. Altona 1822. 5 Albertus Magnus (1193–1280): Gelehrter und Bischof; Wegbereiter des christl. Aristo­ telismus des hohen Mittelalters. 6 William Harvey (1578–1657): engl. Arzt und Anatom. – Excercitationes de generatione animalium. London 1651. 7 Francesco Redi (1626–1697): ital. Arzt und Dichter. – Opusculorum pars prior, sive experimentua circa generationem insectorum. Amsterdam 1686. 8 Jan Swammerdam (1637–1680): niederl. Anatom und Naturforscher. – Historia insectorum generalis. Utrecht 1669, Lugdunum Batavorum (= Brittenburg) 1685. 9 Marco Aurelio Severino (1580–1656): ital. Anatom und Chirurg. – Zootomia Demo­ critea, idest anatome generalis totius animantium opificii. Norimbergae (= Nürnberg) 1646. 10 Ch. Bonnet: Traité d’insectologie. Paris 1745. 11 Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon (1707–1788): franz. Naturforscher. – ­Histoire naturelle générale et particulière. 44 Bde. Paris 1749–1804. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

514

Dilthey an Julius Viktor Carus

12 C. von Linné: Systema naturae, sive regna tria naturae systematice propositia per classses, ordines, gernera, & species. Lugdunum Batavorum (= Brittenburg) 1735. 13 Etienne Geoffroy Saint-Hilaire (1772–1844): franz. Zoologe. 14 Georges Cuvier (1769–1832): franz. Naturforscher. 15 J. W. von Goethe: Versuch die Metamorphose von Pflanzen zu erklären. Gotha 1790. 16 Kopffüßler. 17 Blütenpflanzen. 18 Stachelhäuter. 19 Aufgusstierchen (Einzeller). 20 Wurzelfüßler (Einzeller). 21 Ernst Haeckel (1834–1919): Zoologe und Philosoph, Anhänger der Lehre Darwins; 1862 a. o., 1865 o. Prof. für Zoologie in Jena. 22 Einzellige Lebewesen. 23 J. V. Carus: Geschichte der Zoologie bis auf Joh. Müller und Charl. Darwin. München 1872.

[920] Dilthey an Julius Viktor Carus Hochverehrter Herr Kollege,

Berlin, 29. III. [18]95.

Darf ich meinem letzten Brief1 noch hinzufügen, daß die Lehre von einem ersten Modell der tie­rischen Organisation und der Umwandlung der Arten durch Abstammung sich auch bei Diderot, de l’interprétation de la nature2 und in anderen Schriften desselben findet.  – Buffon, hist[oire] nat[urelle] I (1749) S. l0 erwähnt phantastische Lehren von einem Modell, das Mineralen, Pflanzen und Tieren gemein­sam sei, die ihm vorausgegangen sind. Ich möchte fast glauben, daß sie in den encyklopädischen Wer­ken des 17.  Jahrhunderts enthalten sein muß. Jeden­falls war auch damals viel von ihr die Rede. Mit nochmaliger Bitte, die Störung zu verzeihen, verehrungsvoll der Ihrige Wilhelm Dilthey Original: Hs.; Diktat D.s von der Hand A. Heubaums mit eigenhändiger Unterschrift D.s; StB PK Berlin, HA , Sammlung Darmstädter 2a 1870 (8): Dilthey, Bl. 7–7 R. 1 Siehe Brief [915]. 2 D. Diderot: Pensées sur l’interprétation de la nature. London 1754. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

515

Alois Riehl an Dilthey

[921] Alois Riehl an Dilthey Verehrter Freund,

Wien d[en] 2. April 1895.

empfangen Sie meinen besten Dank für die Zusendung Ihrer neuesten Akademie-Abhandlung und ganz besonders auch Ihr Schreiben vom 9. März1 worin Sie unseres letzten Zusammenseins in Gastein so freundlich gedachten. Ich habe Ihre Abhandlung noch vor meiner Reise hieher gelesen – und dies mit der Befriedigung, die eine in allem wesentlichen völlig zustimmende Auffassung gewährt. Sie taten sehr recht, diese Materialien zu Ihrem 2.  Bande selbständig erscheinen zu lassen; die Frage die Sie darin behandeln berührt das unmittelbare Interesse unserer Wissenschaft. Ihre Auseinandersetzung zwischen beschreiben­der und erklärender Psychologie, das zurückhalten­de Urteil über die Bedeutung der experimentellen Methode in der Psychologie – das Zurückgreifen auf den allem Bewußtsein wesentlichen Zusammen­hang eines einheitlichen Lebens – alle diese Gegenstände Ihrer Schrift sind von größter Tragweite und finden in ihr eine überzeugende Darstellung. Sie wissen welchen Widerhall ein Satz wie der Ihre bei mir findet: „es ist das Leben das vor aller Erkenntnis da ist“.2 Und in der zusammenfas­senden Erklärung auf S. 733 über die dem psychischen Lebensprocesse wesentliche Einheit – womit der entscheidende Grundcharakter des seelischen Seins getroffen ist – berühren sich Psychologie und Erkenntnisslehre. Ihrem Wunsche außer Zustimmungen auch Einwendungen mitzuteilen vermag ich dem zweiten Teile nach nicht zu er­füllen. Der einzige Punkt unserer Differenz ist Ihnen aus unserer Unterredung in Gastein nicht unbekannt, doch tritt er in Ihrer Schrift nicht als wesentlicher hervor. Gerade die Abhand­lung von Stumpf 4 hat mich in meiner Auffassung des Verhältnisses zwischen Psychologie und Erkennt­ nisslehre auf das Entschiedenste bestärkt. — Es würde hier zu weit führen, die Gründe davon darzulegen – auch beziehen sich dieselben nur zum Teile mit auf Ihre Erörterung der Frage (S. 11–13).5 – Nur eine Anmerkung will ich hersetzen, die sich auf den Schluß Ihrer Abhandlung bezieht. Ich vermisse S.  996 die Erwähnung des wirtschaftlichen Faktors, der zur wiederholten Entwicklung des Indi­vidualismus führte. Soll ich schließlich hervor­heben, was mir als der Hauptgewinn, den wir Ihrer Untersuchung verdanken, erscheint, so ist dies das Beispiel von der Überlegenheit der be­schreibenden Methode im Gebiete der Psychologie vor jeder anderen, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

516

Alois Riehl an Dilthey

das Ihre Schrift gegeben hat. Von Einheit zu Einheit entwickelt sich der Proceß des seelischen Lebens; diese Eigenart dessel­ben ist nur zu constatiren,7 zu erfahren, nicht zu erklären. Alle Erklärung setzt sie voraus. Sie würden Prof[essor] Müller8 d[ieses] J[ahr] Rector der Wiener Univ[er­ sität] einen Gefallen erweisen, wenn Sie ihn mit der Zusendung eines SeparatAbdruckes Ihrer Abhandlung über die ich zu ihm gesprochen habe, erfreuen wollten. Ich habe sehr bedauert, von Ihrem Influ­enza-Anfalle zu hören; hoffentlich ist inzwischen Ihre Genesung vollendet. Mit meinem Befinden, nach dem Sie sich freundlich erkundigen habe ich allen Grund zufrieden zu sein; nachdem eine gewisse Abspannung, die durch verschiedene unangenehme Erlebnisse im vorigen Jahre veranlaßt war, wieder verschwunden ist. Jenes zeitweilige Nachlassen meiner Arbeits­freudigkeit trägt auch Schuld daran, daß ich von dem Fortschritt meiner Arbeiten und nament­lich der dringendsten und zunächst vorliegenden weniger günstig berichten kann, als es sonst wohl hätte gesche­hen können. Ich habe in dem äußeren Erfolge geistiger Arbeiten niemals mehr gesehen, als eine Art Scala oder Wertmesser, welcher objektiv anzeigen soll, falls das Instrument richtig ist, daß man subjektiv auf dem rechten Wege ist. Mir hat, wie Ihnen bekannt ist, dieses Instru­ment versagt[.] – Der größere Wirkungskreis, den ich mir als eifriger9 Lehrer wünschte und worauf ich auch ein Anrecht erworben zu haben glaubte, ist mir nicht eröffnet worden. Und es hat mich in der Tat überrascht, wie es kommen konnte, daß ich einem jüngeren, als Schriftsteller wenig hervorgetretenen Docenten nachstehen mußte.10 Es ist nicht meine Meinung allein, sondern die vieler und angesehener Fachgenossen, ja nach Ihrem treffenden Urteil über die Bedeutung der psycho­ physischen11 Versuche ist es gewiß auch Ihre eigene Meinung, daß durch das fortgesetzte Ausliefern einer philosoph[ischen] Lehrkanzel nach der anderen an die Psychophysiker die Sache unserer Wissenschaft schwer ge­schädigt wird. Es ist unsere Pflicht diesem Zustande und seiner Ausbreitung entgegenzuwirken. Und das beabsichtige ich auch nach Kräften zu tun. Als richtig erschiene mir die Errichtung eige­ner psychophys[ischer] Lehrkanzeln – als unrecht gegen die Vertreter der Philosophie die bishe­rige Gepflogenheit, die es dahin brachte, daß manche Inhaber erster philosophischer Lehrkanzeln die Philo­sophie, wie ich zufällig aus Erfahrung weiß, vor Hörern ohne Urteil herabwürdigen. – Empfehlen Sie mich Ihrer Frau Gemahlin, deren Grüße meine Frau12 und ich herzlich erwidern. In treuer Gesinnung der Ihre A. Riehl. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

517

Christoph Sigwart an Dilthey

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170; Bl. 89–90 R; Erstdruck: Lessing, S. 220–222. 1 Nicht überliefert. 2 Vgl. GS V, S. 196. 3 Vgl. GS V, S. 211. 4 C. Stumpf: Psychologie und Erkenntnistheorie, in: Abhandlungen der philos.- philol. Classe der königl. bayer. AdW München. Bd. 19 (1891), S. 465–516. 5 Vgl. GS V, S. 148–151. 6 Vgl. GS V, S. 237. 7 Im Erstdruck: statt „constatiren“: „verstehen“. 8 Friedrich Müller (1834–1898) österr. Sprachwissenschaftler; 1866 o. Prof. des ­Sanskrit in Wien. 9 Im Erstdruck fehlt „eifriger“. 10 Riehls Anspielung ist nicht mehr aufzuklären. 11 Im Erstdruck: „psychologischen“. 12 Sophie Riehl, geb. Reyer: zweite Ehefrau A. Riehls seit 1881.

[922] Christoph Sigwart an Dilthey Lieber u verehrter Freund

Tübingen, 12 April 1895

Seien Sie mir nicht böse, daß Sie so lange keine Antwort erhalten haben. Ihre Abhandlung hatte ich, wie sie mir mit den Schriften der Academie zukam, zu lesen angefangen, mit voll­kommener Zustimmung und lebhafter Freude über die Bestimmtheit, mit der Sie den physiologischen Erklärungsversuchen gegenüber die auch nach meiner Ueberzeugung allein fruchtbare Methode der Psychologie vertreten, dann aber war ich in den letzten 2 Wochen des Semesters durch Referate in Universitätsangelegenheiten so in Anspruch ge­ nommen, daß ich das weitere Studium auf die Ferien verschob – Ihr Heft wanderte mit nach Montreux, von wo ich Ihnen zu schreiben gedachte. Aber die Ferienfaulheit ist so unwiderstehlich über mich ge­kommen, u die Tage vergingen mit Gehen u Seefahren so vollkommen unphilosophisch, trotz gelegent­ licher philosophischer Gespräche mit Caprivi,1 der mein Hausgenosse war, daß ich den nöthigen Ernst nicht fand, um Ihre Abhandlung zu studiren. Und jetzt, wo ich mich endlich hin­setzen wollte werde ich durch den plötz­ lichen Tod meines langjährigen Collegen u Freundes Lothar Meyer,2 des Chemikers überrascht, der heute Nacht an einem Schlaganfall starb, u des© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

518

Rudolf Eucken an Dilthey

sen Familie ich in den nächsten Tagen wohl werde beistehen müssen, da von den sonstigen befreun­deten Collegen fast Niemand hier ist. Also bitte ich Sie, sich noch kurze Zeit zu gedulden, – ich möchte Ihnen ausführlich u eingehend schreiben, da mir seit lange nichts durch die Fülle der Gesichtspunkte u die Weite des Ueberblicks so eingeleuchtet hat, u ich meine Ueberzeugungen, zu denen mir die Einleitung in die Geisteswissenschaften wesentlich mitverholfen hat, ausführlich begründet u nach allen Seiten durchgeführt wieder finde. Morgen hoffe ich endlich bei einem Besuch in Stuttgart Zeller3 zu be­ grüßen – ich bin den ganzen Winter nicht dazu gekommen, da ich während des Semesters jede Gefahr einer Störung vermeiden muß, die bei dem unerbittlichen Winterwetter doch nahe genug lag. Mit der Bitte, Ihrer verehrten Frau meine besten Empfehlungen zu sagen u in der Hoff­nung, mich bald länger mit Ihnen zu unterhalten, in alter ­Freundschaft Ihr C. Sigwart Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl. 95–96; Erstdruck: Lessing, S. 222–223. 1 Graf Georg Leo Caprivi, der ehemalige preuß. Ministerpräsident und Reichskanzler. 2 Lothar von Meyer (1830–1895): Arzt und Chemiker; 1869 o. Prof. der Chemie in Karlsruhe, 1876 in Tübingen. – L. von Meyer starb am 11. April 1895. 3 E. Zeller lebte seit seiner Emeritierung 1894 in Stuttgart.

[923] Rudolf Eucken an Dilthey Hochgeehrtester Herr College!

Jena 15⁄ IV [18]95.

Die Festtage haben mich endlich zum näheren Studium Ihrer Abhandlungen kommen lassen, und nun drängt es mich, Ihnen sofort meine Eindrücke mitzutheilen. Daß der Haupteindruck der einer mächtigen und fruchtbaren Leistung ist, brauche ich kaum ausdrücklich zu sagen. Durch alles geht ein großer Zug und eine gewaltige Anregung, es ist alles aus der Fülle einer reichen Anschau­ung entwickelt und entworfen, es flutet überall ursprüng­liches Leben. Auch im Einzelnen wüßte ich kaum etwas, dem ich widersprechen möch­te © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Rudolf Eucken an Dilthey

519

und könnte; vieles brachte mir eine willkom­mene Kräftigung aufstrebender Gedanken, anderes eröffnete neue Bahnen. Meine einzige Abweichung ist rein prinzipieller Art. Sie wissen, daß ich bei aller Abneigung gegen die alte Schulmetaphy­sik die Idee einer Transcendentalphilosophie im Fichte’schen Sinne festhalte (ohne mich deswegen zur Fichte’schen Construktion zu bekennen.). Von hier aus kann ich die innere Erfahrung, das Erlebniß, nicht als einen unbedingt sicheren Aus­gangspunkt anerkennen und muß auch bezweifeln, ob sich von hier aus eine systematische Gliederung des Stoffes er­reichen läßt. Die Metaphysik ver­theidige ich dabei nicht im Sinne eines zur Erfahrung erst Hinzugedachten, einer nach­träglichen Deutung, sondern als des Aus­druckes der geistigen Selbstthätigkeit, welche die Er­fahrung im wissenschaftlichen Sinne erst möglich macht. Meine erste Stellung nehme ich dennoch in der Selbstthätigkeit, die mir wesent­lich verschieden scheint von einem inneren Erleben. Diese Grundüberzeugung werde ich schon in meinem nächsten Buche1 genauer entwickeln und dabei auch ihren Unterschied von der Fichte’schen hervortreten lassen. Aber in Kürze können wir unsere Differenz wohl so bezeichnen, daß Sie Schleiermacher (bei voller Ausprägung einer eigenthümlichen Art), ich Fichte näher stehe. Aber diese prinzipielle Differenz läßt mich mehr Ihre Untersuchungen an eine andere Stelle des Systems stellen als ihren Inhalt bezweifeln. Ich wiederhole, daß dieser Inhalt mir in hohem Grade sympathisch ist. Ganz besonders begrüße ich die Energie, mit der Sie die Eigenthümlichkeit der Geisteswissenschaften nicht nur im Princip verfechten, sondern auch in eingehender Erörterung entwickeln. Das eben ist es, woran es uns bei allem Gerede über den Unterschied der beiden Gebiete Geist und Natur bis dahin fehlte. Und von hier aus eröffnen sich sehr weite und große Aussichten. Je mehr es Ihnen gelingt, die verbindenden Mittelbegriffe auszuarbeiten, um so mehr werden auch die einzelnen Geisteswissenschaften in die Bewegung hineingezo­gen und in eine fruchtbare Beziehung zur Philoso­ phie gesetzt werden; sie werden dann, ähnlich wie bis dahin schon die Naturwissenschaften, mit ver­einten Kräften und nach gemeinsamen Zielen wirken, statt sich, wie bis jetzt meistens, zu zersplit­tern oder zu befehden. So wünsche ich dem wei­teren Fortgang Ihrer wichtigen Arbeiten das beste Gedeihen und werde meinerseits nicht ver­fehlen, auch jüngere Kräfte nachdrücklich darauf aufmerksam zu machen. Dann muß ich aber auch der großen Fülle des Einzelnen gedenken, was mir in Ihren Untersuchungen hochwillkommen war. So begrüße ich z. B. lebhaft die warme Anerkennung von Waitz,2 den auch ich sehr schätze; so waren mir ebenso genußreich wie belehrend Ihre Erörterungen über das Individuum.3 Schwerlich ist je so treffend und so packend über dies Problem geschrieben; meine nächsten Bücher werden einen reichen Gewinn davon haben. Doch ich © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

520

Dilthey an Hermann Usener

gerathe in’s Weite, wenn ich diese einzelnen Punkte verfolgen wollte, und darf also wohl mit lebhaftem Dank für das dar­gebotene Ganze schließen. Daß ich Ihnen über „typisch“ gar nicht mehr als die paar Worte auf der Postkarte mittheilen konnte,4 war mir recht leid, aber es ist einmal unser Wissen auf diesem Gebiet noch recht im Argen. Immer dringender wird das Bedürfniß nach einem großen Wörterbuch, einem Thesaurus der philos[ophischen] Terminologie.5 Sollte hier nicht die Berliner Akademie vorangehen und sollten Sie nicht die Führung dabei übernehmen? Zum Schluß beste Grüße und Empfehlungen von Haus zu Haus. Treulich Ihr R. Eucken. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl.  223–225; Erstdruck: Lessing, S. 223–225. 1 R. Eucken: Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt. Neue Grundlegung einer Weltanschauung. Leipzig 1896. 2 Der Philosoph, Psychologe und Anthropologe Theodor Waitz (1821–1864). – Vgl. GS V, S. 154 f. 3 Vgl. GS V, S. 226 ff. 4 Siehe Brief [910]. 5 Vgl. R. Eucken: Aufforderung zur Begründung eines Lexikons der philosophischen Terminologie, in: Philosophische Monatshefte 8 (1873), S. 81 f. sowie Ders.: Geschichte der philosophischen Terminologie. Leipzig 1879, Vorwort.

[924] Dilthey an Hermann Usener Liebster Hermann,

[Mitte April 1895]

endlich komme ich hier in der schlesischen Einsiedelei1 dazu Dir ausführlich zu schreiben. Längst hatte ich es vor. Aber die Influenza, die Lungen­ entzündung Käthens, dann ein am 25 April stattf[indender] Vortrag der Akademie,2 Alles durch Professorenbesuche unterbrochen, dann ein Krach, da ich über die historische Arbeit (Abhängigkeit Goethes u. Herders in ihrer Naturansicht von der französischen Naturforschung) nachdem ich mich auf eigene © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Hermann Usener

521

Faust durch die Quellen geschlagen, plötzlich bei Oscar Schmidt3 schon vieles Richtige fand, als ich der kleinen Arbeiten endlich hatte habhaft werden können. Im Augenblick ist mir die Arbeit verleidet, und so habe ich mich hierhergeflüchtet, eine systematische Arbeit in Fortsetzung der übersandten beschr[eibenden] zergl[iedernden] Psych[ologie] zu schreiben.4 Käthen geht es besser, doch so nicht daß sie die schärferen Winde hier vertragen könnte. Wohin sie sich, wenn das Wetter besser, mit Klärchen dann wendet, ist noch nicht ausgemacht. Dein Walther hat uns sehr große Freude gemacht, und nachdem ich ihn lange beobachtet, glaube ich Dir nun auch über seine Studien meine Ansicht schreiben zu können. Er ist eine Natur bei der Alles durch das Gefühl gehen muß was er sich aneignen soll. Solche Naturen sind auch in der Jugend zu einer regelmäßig nach Stunden Pensen absolvirenden Arbeitsweise nicht gestimmt. Sie bemerken daß sie das doch im Eigensten nicht fördert. Musik, Studium künstlerischer u. literarischer Produkte, im Anschluß daran bald philo­ sophisches freies Sinnen, bald Erweiterung so erworbener Kenntnisse zu einem geschichtlichen Studium: das wird immer der Weg sein durch welchen er zur Wissenschaft auf ihm natürlichem Wege kommt. Und ich habe den Eindruck daß er hier eine wirkliche Begabung besitzt die ihm nur erst bewußt werden und die sich nur erst Wege schaffen muß damit er etwas Tüchtiges und ihm Eigenes leiste. Unter diesen Umständen war er hier in Berlin nicht in seiner natürlichen Lage. Schon äußerlich war er durch Einladungen zu viel abgezogen. Denn seine liebenswürdige häusliche u. gesellige Natur ließ ihn den gegebenen Anläßen sich auch zu seiner und Anderer Freude hingeben. Dann aber wird eine grammatisch pünktlich betriebene Philologie einer solchen Natur sehr schwer werden, weil sie dem Gefühl und der Phantasie in ihren Elementen zu wenig bietet. Da ich nun glaube, daß er mit seiner Denk- und Gefühlsweise auch wenn er diese Elemente überwindet zu den Griechen schwerlich je ein inneres Verhältniß gewinnt und in der alten Geschichte sogar sich kaum je zu Hause fühlen wird: so scheint mir daß das was ihm gemäß ist eher den Ausgangspunkt bilden würde. Germanistik und Literatur, mit philosophischer Betrachtung und Erweiterung zur mittelalterlichen u. modernen Geschichte. Würde seine nachgiebige Natur in einer anderen Richtung festgehalten, so fürchte ich daß er unter den Qualen des Handwerks seines Lebens nicht froh werden oder nichts Genaues und Untadelhaftes leisten würde. Ich habe ganz wie Du wünschtest und ich es richtig fand ihn immer wieder auf die Erwerbung der philologischen Technik hingewiesen. Ihn nach seinen Studien dort gefragt. Nach seinen Besuchen bei Diels. Aber weder der hingebende gute Wille von Diels noch meine Hinweisungen konnten ihm die gewünschte Richtung ge© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

522

Dilthey an Marie Eugenie delle Grazie

ben. Ich schließe auch hieraus daß sie nicht in seiner Natur liegt. Leider war ich selbst den Winter mit den Augen so genirt u. m[it] d[en] Arbeiten so eingeengt daß meine Übungen zu halten mir nicht möglich war. Doch würde ihn das auch jetzt nur gestört haben, wo es ihm doch galt sich in die Philologie einzuleben. Irre ich in seiner Natur nicht, mein lieber Hermann, so werde ich über Jahr und Tag, wenn Du ihn mir und andren hierhergiebst, nachdem er sein Feld gefunden, ihm recht nützlich sein können. Seine häusliche reine und kindliche Natur ist uns sehr lieb u. werth geworden u. auch Käthe hat lebhaften An­theil an ihm genommen. Nächstens mehr über wissensch[aftliche] Dinge, heute wollte ich nur mir dies vom Herzen schreiben.

Lily u. den Kindern t[au]s[en]d Grüße Dein treuer Wilhelm

Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL , S 2103, Nr. 31; ein maschinenschriftliches Transkript ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o, Nr. 23. 1 D. hielt sich in Klein-Oels auf. 2 D. sprach am 25. April 1895 vor der Akademie über: Beiträge zum Studium der Individualität; unvollst. abgedr. in: SB der königl. preuß. AdW. Berlin 1896, S. 295–335; WA (der vollst. Abhandlung) in: GS V, S. 241–316. 3 Eduard Oscar Schmidt (1823–1886): Zoologe, 1848 a. o. Prof. in Jena, 1855 o. Prof. in Krakau, 1857 in Graz, 1872 in Straßburg. – War Goethe ein Darwinianer? Graz 1870. 4 D. arbeitete an seinem Buchprojekt Vergleichende Psychologie, ein Beitrag zum Studium von Geschichte, Literatur und Geisteswissenschaften, das ansatzweise mit seinem Vortrag, nicht aber im Ganzen realisiert wurde (vgl. GS V, S. 422 ff.).

[925] Dilthey an Marie Eugenie delle Grazie1 Berlin, 11. Mai [1895]2 Nehmen Sie, wenn auch verspätet, ja sehr verspätet! meinen sehr ergebenen Dank für die „Italischen Vignetten“.3 Es ist mir eine besondere Ehre, wenn Poeten von meinen Arbeiten Notiz nehmen. Ihre Dichtungen habe ich mit um so größerem Genuß gelesen als sie mich an alte, römische Tage so warm gemahnten. In aufrichtiger Verehrung der Ihrige W. Dilthey © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

523

Dilthey an August Sauer

Original: Hs; Diktat D.s von fremder Hand mit eigenhändiger Unterschrift D.s; Postkarte; StLB Wien, Wienbibliothek im Rathaus, I. N. 89. 680. 1 Marie Eugenie delle Grazie (1864–1931): österr. Dichterin. 2 Datierung nach Poststempel. 3 M. E. delle Grazie: Italische Vignetten. Leipzig 1892.

[926] Dilthey an August Sauer1 Hochverehrter Herr College!

Berlin, 11. Mai [1895]

Mir ist die Zeitschrift „Euphorion“ für Litteratur-Geschichte zugesandt worden, und ich darf das wohl Ihrer Güte zuschreiben. Wollen Sie dafür meinen ergebensten Dank nehmen. Möchte die Zeitschrift weiter so gutes Ge­ deihen haben als ihre Anfänge versprechen. Ich benutze die Gelegen­heit, Ihnen den Ausdruck meiner lebendigen Teil­nahme an Ihren litterarhistorischen Arbeiten zu übersenden. der Ihrige Wilhelm Dilthey Original: Hs.; Postkarte; Diktat D.s von fremder Hand; StLB Wien, Wienbibliothek im Rathaus, I. N. 165. 115. 1 August Sauer (1855–1926): österr. Literaturwissenschaftler und Germanist; 1892 o. Prof. für Deutsche Sprache und Literatur in Wien. – Er begründete 1894 die literatur­ geschichtliche Zeitschrift Euphorion und war 1895 deren Herausgeber.

[927] Dilthey an Theodor Mommsen Hochverehrter Herr Professor,

[Mitte Mai 1895]

Es trifft sich gut daß Adickes1 Sonnabend den 18ten hier sein wird und Sie würden mich sehr erfreuen, wenn es Ihre Zeit gestattete Abends bei mir mit ihm essen zu wollen. Erhalte ich keinen weiteren Bescheid, so darf ich an­ © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

524

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

nehmen daß der Abend Sonnabend d[er] 18te Mai Ihnen genehm ist und Sie denselben H[errn] Adickes und mir schenken wollen. Verehrungsvoll

der Ihrige



Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; StB PK Berlin, HA , NL Th. Mommsen, K. 23, Bl. 22–22 R. 1 Erich Adickes (1866–1928): Philosoph; 1887 Promotion, 1895 Habilitation in Kiel, 1898 o. Prof. ebd., 1902 in Münster, 1904 in Tübingen; Mitherausgeber der KantAkademie­ausgabe.

[928] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Lieber Freund,

[19. Mai 1895]1

Täglich gedenke ich der schönen Tage bei Ihnen, täglich freue ich mich auf die kommenden Pfingsttage, aber zum Schreiben komme ich nicht: nicht als fände ich das Stündchen nicht dazu, oder die Stimmung nicht, vielmehr kann ich von so wenig Fertigem schreiben daß ich selber gern nicht zurückblicke: und zwar trotz des größten Fleißes. Zu der Abhandlung2 lese ich, sehe im Museum, sinne: aber äußerlich erkennbar ist wenig von ihren Fortschritten. Manchmal verzweifle ich an der Möglichkeit, erhebliche sichre Ergebnisse aufs Trockne zu bringen. Nun haben mich aber auch die Vorlesungen sehr occupirt. Zu den Indern habe ich unter Anderem Oldenbergs Buddha3 gelesen: mit inn­rem Verdruß über die allgemeine Begeisterung. … Zu den älteren Grie­chen las ich den zweiten Band von Meyer4 in den entsprechenden Parthien mit großer Förderung durch sein ächtes geschichtliches Denken. Zumal die orphische Bewegung ist historisch gesehen. Dagegen ent­täuschten mich die entsprechenden Parthien Rohdes Bd II5 sehr: er ist offenbar ein ganz unphilosophischer Kopf. So hat er sich aus etwas Spi­noza etc. den ganz falschen Gegensatz eines auf die Außenwelt gerichte­ten Denkens, für welches es dann keine Fortdauer der Psyche geben darf, und eines auf diese Psyche gerichteten gebildet, und ist nun in © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

525

Einem Erstaunen, daß Heraklit, Parmenides etc. sich so nicht wollen einschachteln lassen. Zudem ist die eigentliche philologische Arbeit hier durchaus nicht imponirend. Dann fordert Kant6 seinen Tribut. Vorgestern und gestern kam ich nun endlich mit Adickes zu einem gewissen Abschluß. Gestern aßen mit ihm bei mir Mommsen, der hinreißend liebenswürdig und vergnügt bei gutem Rauen­ thaler war, sodaß ich Sie zehnmal dazu wünschte, und Stumpf, und ich glaube jetzt über ihn und mit ihm im Ganzen im Reinen zu sein. Nun ist auch mit Vaihinger7 zu verhandeln, und dann zu wählen. Ferner mit Heinze8 über die Vorlesungen. Mit der Regierung. Also noch ein Stück Arbeit. Dazu ist mir bei der Arbeit über Geschichte der vergleichenden Wis­ senschaften das Stück Goethe so nahe getreten, dann bei der Arbeit über das 16. 17. Jahrhundert Shakespeare, daß ich wieder versuche ein Stück zum Abschluß der: ‚Dichter als Seher der Menschheit‘ in der ersten Hälfte zu machen, damit ein oder zwei Bändchen zu Weihnachten erscheinen könnten.9 Eine zersplitterte Existenz die aber durch die Umstände eben so bedingt ist. … Ich sitze hier ganz still, werde täglich mit Einladungen beehrt, kann aber das einsame Nachdenken nicht ganz aufgeben. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 116. 1 In BDY: „[Frühjahr 1895.]“ 2 D. arbeitete seine am 25. April 1895 in der Akademie vorgetragene Abhandlung weiter aus. 3 Hermann Oldenberg (1854–1920): Indologe; 1889–1908 o. Prof. in Kiel. – Buddha. Sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde. Berlin 1881. 4 E. Meyer: Geschichte des Alterthums. 5 Bde. Stuttgart bzw. Stuttgart und Berlin 1884–1902. 5 E. Rohde: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. 2 Bde. Freiburg / Breisgau 1890–1894. 6 Gemeint ist die Vorbereitung der Akademie-Ausgabe von Kants Werken. 7 Hans Vaihinger (1852–1933): Philosoph, Kantforscher; 1877 Habilitation, 1883 a. o. Prof. in Straßburg und Halle, 1894 o. Prof. in Halle. – Vaihinger, der einen großen Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft verfasst hatte, gründete 1897 die Kant-Studien und 1904 die Kant-Gesellschaft. 8 Max Heinze (1835–1909): Philosoph; 1875 o. Prof. für Geschichte in Leipzig; Mitherausgeber der Kant-Studien. Ab 1895 war Heinze Mitarbeiter an der Kant-Edition und 1896–1909 Mitglied der Kant-Kommission der Berliner AdW.  – Vorlesungen Kants über Metaphysik aus drei Semestern. Leipzig 1894. 9 Dieses Projekt hat D. nicht verwirklicht (vgl. GS XXV). © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

526

Dilthey an Theodor Mommsen

[929] Dilthey an Theodor Mommsen   Hochverehrter Herr Secretar!

Berlin, 21. Mai [1895]

Ich sprach gestern sogleich mit unserem Bibliothekar Dr. Meissner,1 und derselbe konnte mir die hocherfreuliche Nachricht mitteilen, daß für 600 M[ark] der Verkauf der Brief-Sammlung durch ein bindendes Schreiben des Verkäufers abgeschlossen ist. Ich würde nun meinen, es sei besser, an die VorstandsMitglieder gar keine Mitteilung noch gelangen zu lassen, bis das Geld bezahlt ist. Ich leiste gern einstweilen den Vorschuß und Ihrer Macht fällt dann freilich die Aufgabe zu wirklich zu zahlen. In treuer Ergebenheit und Verehrung der lhrige Wilhelm Dilthey Für die freundliche Übersendung des Freytag-Artikels in der Nation2 besten Dank! Original: Hs.; Diktat D.s von unbekannter Hand mit Unterschrift D.s; StB PK Berlin, HA , NL Th. Mommsen, K. 23, Bl. 15–15 R. 1 Heinrich Meisner (1849–1929): Literarhistoriker und Bibliothekar; 1874 Biblio­thekar an der königl. Bibliothek in Berlin, 1894 Oberbibliothekar ebd., 1905 Prof., 1908 Direktor der königl. Staatsbibliothek Berlin; Vorsitzender der Literatur-Archiv-Gesellschaft in Berlin. 2 Th. Mommsen selbst schrieb keinen Beitrag über Gustav Freytag in der Nation.  – Nach dem Tod Freytags am 30.  April 1895 erschienen in dieser Zeitung aber folgende ­Beiträge: Gustav Freytag an den Dichter der „Weber“ über die Umsturzvorlage, in: Die Nation. Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Literatur, 12. Jg., Nr. 31 (1895), S. 440; G. Steinhausen: Gustav Freytag als Kulturhistoriker, in: ebd., 12. Jg., Nr. 32 (1895), S.  455–457; C. Aldenhoven: Erinnerungen an Gustav Freytag, in: ebd., 12.  Jg., Nr.  33 (1895), S. 469–470.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

527

Dilthey an Theodor Mommsen

[930] Dilthey an Theodor Mommsen Hochverehrter Herr Secretar!

Berlin, 28. Mai [1895]

Natürlich sehr einverstanden das etwaige Deficit mit zu tragen. Mit Heinze habe ich schriftlich verhandelt, eine persönliche Zusammen­kunft hat sich zerschlagen, wird aber gleich nach den Pfingstferien stattfinden. Bei Althof saß ich am Himmelfahrtstag und hörte, daß von der russischen Regierung die Antwort noch aussteht, nachdem die Anfrage ergangen. Auch die Cirkulare nach Ost- und West-Preussen sind verschickt. Man wird nun an das Verfahren mit Bibliotheken und Autographen-Sammlern denken können.1 Näheres Donnerstag in der Sitzung. Der Aufsatz über Freytag recht hübsch. Mit meinen verehrungsvollsten Grüßen der Ihrige Wilhelm Dilthey Original: Hs.; Diktat D.s von fremder Hand mit Unterschrift D.s; StB PK Berlin, HA , NL Th. Mommsen, K. 23, Bl. 16–16 R. 1 Vgl. den Bericht der „Kommission der K. Preuss. Akademie der Wissenschaften für Herausgabe der Werke Kants“: Die neue Kantausgabe, in: Kant-Studien 1 (1896), S. 148– 154. Darin sind auch die Zirkulare an Bibliotheken und Archive sowie an AutographenSammler mit dem Datum Februar 1896 enthalten.

[931] Dilthey an Heinrich von Sybel Mittwoch 29 Mai [18]95 Da ich Sie heute, verehrteste Excellenz, nicht antraf, will ich schriftlich vermelden daß der Antrag auf Treitschke Morgen Donnerstag zur Verlesung und dann nach 14 Tagen zur Abstimmung in der Classe gelangt.1 Gestattet es Ihre Gesundheit, Morgen zu kommen, so würde natürlich dies von großem Gewicht sein. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

528

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

Sollte es für Sie nicht gerathen sein zu kommen, so würde es mir eine große Ehre sein, Ihre schönen Worte über Treitschke2 vorzulesen.

In treuster Verehrung d[er] Ihrige W. Dilthey.

Original: Hs.; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL H.  von Sybel B 110, Bl. 129–129 R. 1 Der konservative H. von Treitschke wurde am 18. Juli 1895 trotz großer Widerstände als ordentliches Mitglied in die philos.- histor. Klasse der Berliner AdW gewählt. 2 Nicht nachweisbar.

[932] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [1. Juni 1895]1 Lieber Freund, hoffentlich hat Ihre Frau Gemahlin rechtzeitig am ersten Feiertag meine Zeilen erhalten,2 sodaß das Unbehagen einer unbe­stimmten Erwartung eines Gastes oder vielmehr gleich von vieren nicht länger als in der Sache lag andauerte. Ich habe einmal wieder eine recht tüchtige Sorge um den Jungen gehabt. Der unglückliche Fall, der die Lunge drückte, hatte ein zeitweiliges Auftreten von Kurzathmigkeit, Luftmangel und starken Schmerzen in der Lunge zur Folge. … Es liegt in der Liebe zu Kindern eine eigene Süße. Eine Zärtlichkeit des Starken der den noch Schwachen schützt. Ein Gefühl das für Shake­speares männliches Zeitalter überhaupt in aller Liebe herschend war. Wie lebhaft empfinde ich es wieder an dem Bett des guten Jungen. Erst wenn er wieder munter ist werde ich ganz ermessen was ich durch die Vereitelung dieser Reise verliere: wie sehnte ich mich nach Klein Oels – freute mich für die Kinder, was Alles hatte ich über meine Arbeiten und von ihnen Ihnen vorzulegen und zu besprechen. Ich hätte Ihnen auch so gern vorgelesen was ich jetzt über Shakespe­are schreibe.3 Ich suche der vergleichenden Methode so viel als möglich abzu­ gewinnen. Auch auf diesem Gebiete zeigt sich, daß die geschichtli­che Bedingtheit auch der größten Erscheinung, welche sich eben so in der Kraft ­Shakespeares zu sehen, was niemand vorher sah, als in den Gränzen dieses © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

529

Sehens und Hinstellens zeigt, nur durch vergleichende Methode zum Bewußtsein gebracht werden kann. Was und wie ein gro­ßer Dichter die räthselhafte Individuation auf diesem Erdball, die Bezie­hungen von Umständen, menschlichen Verhältnissen zu Charakter und Schicksal erblickt und bis in den Vers hinein darstellt: das kann nur durch Verbindung wahrer Psychologie mit vergleichender Literaturge­schichte und mit vergleichendem Studium der Kulturen gesehen wer­den. Ein unermeßliches Thema! Ich habe jetzt vor zu Weihnachten folgende Aufsätze l) Shakespeare und seine Zeitgenossen, 2) Lessing, 3) Shakespeare und Goethe, 4)  Goe­ the, 5) Schiller und 6) Novalis in 2 Bändchen unter dem Titel Dichter als Seher der Menschheit, jedes Bändchen nur als neue Folge bezeichnet, thunlichst billig, ohne besondere Ausstattung, sodaß es jeder in die Tasche stecken kann, drucken zu lassen  – nächste Weihnachten zwei weitere Bändchen. Sehr viel fehlt an den zwei ersten Bändchen nicht mehr. Ich möchte nur so viel als möglich von dem Innersten einer wahren Philosophie, in einer ganz freien und männlich offenen Darstellung, darin aussprechen. Besonders suche ich es in Shakespeare und Schiller zu legen; das Gefühl zu geben wiefern sie Führer sind, ohne daß wir es wissen oder mit unsrem Wissen. Unter Seher verstehe ich den Dichter sofern er auf eine uns unfaßbare, nicht am Gängelband der Logik fort­gehende Weise den Menschen, die Individuation, den Zusammenhang, den wir Leben nennen, und der aus Umständen, Relationen der Men­schen, individueller Tiefe, Schicksal gewebt ist, darstellt. Ich nehme ein Beispiel. Shakespeare verbindet überall mit dem tra­gischen Schicksal eine in der eigenen Natur liegende Verursachung, die man in einem weitren von Moral gar nicht berührten Sinn als Schuld bezeichnen mag. In diesem Sinn ist auch Desdemona schuld an dem was ihr begegnet. Daß in dem emotionellen tiefmenschlichen, von universel­ler Sympathie mit Allem was schön, süß und tief anklingt getragenen Inhalt des Lebens ein unverlierbarer Kern desselben da ist, so kurz es auch sei, so tragisch es auch ende, in uns etwas, das von der Länge von Glück und Leben unabhängig: das ist ein Grundgefühl in ihm, Hero­ismus der Renaissance. Seine wirklich moralisch Schuldigen aber sterben nicht nur, sondern er läßt in die Qualen ihres Ge­ wissens hineinsehen, und hierin, nicht im Tod als solchem, ist ihm die (Strafe aller Schuld). Sie verstehn mich auch auf die Andeutung: das Lebensgefühl der Renaissan­ce und die eigenthümliche moralische Religiosität des englischen Prote­stantismus: wie er diese beide Weltpotenzen verbindet: diese Bewegung trägt ihn und von ihr aus entsteht ihm das Neue das er zu sagen hat. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 117. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

530

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

1 In BDY: „[Pfingsten 1895.]“. – Pfingsten fiel im Jahre 1895 auf den 2. und 3. Juni. 2 Nicht überliefert. 3 Teil des von D. geplanten Buches Dichter als Seher der Menschheit, das nicht erschienen ist. Vgl. D.: Die große Phantasiedichtung und andere Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte. Hg. von H. Nohl. Göttingen 1954, S. 53–108 sowie GS XXV, S. 7–58.

[933] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Lieber Freund.

Klein-Oels den 4. Juni [18]95.

Gestern kam Ihr aufklärender Brief. Hoffentlich schreitet die Gene­sung bei Max rasch vor und Sie sind aller Sorge bald ganz überhoben. Grüßen Sie den armen Jungen, dem wie seiner kleinen Schwester1 ich Luft, Freiheit und die unmittelbare Nähe der Frühlingsnatur recht gegönnt und gewünscht hätte. So ist denn unser schöner Plan zu Wasser geworden. Zu dieser Zeit, in Mitten dieses Meeres von Licht und Grün wäre ein Zusammenleben besonders genußreich gewesen. Was Sie mir über Shakspeare schreiben und andeuten ist sehr schön und innerlich. Ihre Aufsatzreihe: Dichter als Seher der Menschheit verspricht ein Gegenstück zu Carlyles Helden2 zu werden. Halten Sie nur an Plan und Termin der Edition fest. Nach der Verschiedenheit der historischen Bewußtseinsstellung ist auch das Seherthum ein verschiedenes. Entspre­ chend seiner Zeit läßt Shakspeare sehen nicht so das Ungesehene als das Unsichtbare. Wie der Geist seiner Zeit geht er hinter alle Grenzen von Form und Gestalt zurück. Die Formen des Seins und des internen Seins: der Intellektualität werden aufgelöst und flüssig. In einem in die Unend­lichkeit projizirten Punkte treffen sich die Linien von Sinn und Wahn­sinn, Weisheit und Narrheit, Kraft und Schwäche, natürlichem Vorgang und Zauber, Wirklichkeit und Gespensterreich. – Von hier aus muß das Gespenst und der Zauber bei Shakspeare verstanden werden. – Über dem Ganzen als Stimmung des Dichters: tiefe der Stoa entwachsene Resignation. Concordia oppositorum: das Leben, nicht Seinsgestalten, das ist sein Problem. So handelt es sich bei ihm nicht um Charaktere son­dern um Motive. Er ist der erste, der das Motiv zum Angelpunkte der Dichtung macht. Motiv ist aber niemals eine einfache, diskrete Größe. Ein Motiv ist aber an sich nie sichtbar, es will immer, auch wenn es aus dem Grunde herausgehoben ist, verstanden, gedeutet sein. Daher das Halbdunkel über Shakspeares großen Dichtungen und Figuren. Damit zusammenhängend seine tiefsinnige Sprache. Man kann sagen, Shakspe­are ist aus jeder © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

531

Zeile die er geschrieben erkennbar. Was er zu sagen hat, läßt sich nicht aussprechen, nur andeuten. Daher der Bilderreichthum, daher die überraschenden Vergleiche und Vertauschungen. Ein Vikariiren3 der Sinne ist Charakter jeder Sprache. Wo es in ungeahntem Umfan­ge, durch neue Bezüge, durch gesteigerte Freiheit der Vertauschung und Verbindung geschieht, da ist eine neu- und nachschaffende Kraft vor­handen. Darum wurde ein Sprachgenie wie ­Homer als sprachlicher Pro­totyp von dem ganzen Griechenthum behandelt. An der Steigerung und Sichtlichmachung lernten sie das Eigene kennen, wie alles Sehen einer Entfernung bedarf. – Das uns gemeinsame Interesse Geschichtlichkeit zu verstehen leitete mich die letzten Tage auf einem sehr verschiedenen Gebiete. Wären Sie gekommen, Sie hätten mich in Mitten der Dogmen­geschichte gefunden. Da ist mir denn Eines als sehr merkwürdig aufge­fallen: Sie kennen den großen grammatisch-philologischen Gegensatz von Alexandria und Antiochia. Philosophie hatte sich in die Rhetorik und von da in die Grammatik veräußerlicht. Die Auffassung der Gram­matik ist durchaus von den philo­sophischen Gedankenergebnissen bestimmt. So ergab sich eine Sprachwissenschaft welche abhängig war von dem stoischen Gedanken mechanischer Causalität – Antiochia –, eine andere, welche die Substanzialität zur Norm nahm – Alexandria. Ganz derselbe Unterschied zeigt sich, an jene beiden Zentren anknüp­fend, auch der national-politischen Differenz entsprechend, wie sie sich zur Zeit der Diadochen aussprach, bei der Dogmenbildung. Antiochia, seine große stets im Gegensatze zu Alexandria sich aussprechende Schu­le macht den Willen zum Organon des Verständnisses, dagegen Alexan­dria die Seinszuständlichkeit. Es liegt von welthistorischer Bedeutung geradezu ein landschaftlicher Gegensatz vor für ungefähr tausend Jahre. – Ich hätte noch viel zu erzählen und hatte mich gefreut dies viva voce4 zu thun. Im Briefe ist dies nicht möglich. So nochmals die allerbesten Wün­sche! Ende dieses Monats komme ich wohl für ein paar Tage nach Ber­lin. Da sehen wir uns und müssen dann auch die Aus­stellung,5 insbeson­dere die Franzosen zusammen sehen. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 118. 1 Leni D. 2 Th. Carlyle: On Heroes, and Hero-Worship and the Heroic in History. London 1840. 3 An jemandes Stelle treten. 4 Mündlich. 5 Die „Grosse Berliner Kunstausstellung“, erstmalig unter offizieller Beteiligung französischer Künstler.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

532

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

[934] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff [Berlin, 15. VI. 1895]1 Es hat sich nun so arrangirt daß Mommsen heute halb zwei Uhr auch zum Früh­stück mit Heinze bei mir sein wird. Paßt Ihnen nicht auch, was sehr schön wäre zu kommen, so werden Heinze u. ich, wennn Sie bis gegen 5 Uhr nicht zu mir gekommen sind, bei Josti Conditorei2 5 Uhr [er]scheinen. Original: Hs.; Postkarte; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, C Nr. 19, Bd. 1, Bl. 48–48 R. 1 Datierung nach Poststempel. 2 Das berühmte Café Josty am Berliner Schloss, Bellevuestr. 21/22.

[935] Dilthey an Hans Vaihinger Werter Herr College!

Berlin, 18. Juni [1895]

Ich denke am Sonnabend Sie und Herrn Erdmann1 in Halle wegen der Kant-Sache aufzusuchen, falls dieser Tag Ihnen beiden genehm ist. Hierüber frage ich nun bei Ihnen an, gleichzeitig habe ich die­selbe Frage an Herrn Erdmann gerichtet. Ich wollte dann mit dem Schnellzug von hier gegen 10 Uhr in Halle anlangen, zunächst Herrn Erdmann auf­suchen und dann zu Ihnen kommen. Sie hören ja wohl von Herrn Collegen Erdmann, ob dies Programm so ausführbar ist und melden es freundlich, was Sie Selber betrifft. Auf meiner Tagesordnung ist sonst nur noch ein freundschaftlicher Besuch bei Haym.

In treuer Gesinnung der Ihrige Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; Diktat D.s von fremder Hand mit eigenhändiger Unterschrift D.s; StUB Bremen, HA , Autograph XXI, 6: h, Nr. 1. 1 B. Erdmann war seit 1890 o. Prof. der Philosophie an der Universität Halle. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

533

Dilthey an Theodor Mommsen

[936] Dilthey an Theodor Mommsen   Hochverehrter Herr Secretar!1

Berlin, 19 Juni [1895]

Für die freundliche Mitteilung Ihrer beiden Aufsätze sage ich meinen besten Dank und freue mich, daß Sie in Bezug auf die Pariser Skribenten Ihr langes Schweigen gebrochen haben, und so, wie Sie es gethan.2 In Halle habe ich vorgeschlagen, Sonnabend hinzureisen. Die erforderlichen Aufrufe habe ich entworfen, und vielleicht kann vor der Sitzung eine kurze Commissions-Verhandlung stattfinden, darauf dann in der Sitzung selber Mitteilung über den Stand der Kant-Sache gemacht werden. Erscheint dies unthunlich, so könnte ja auch in der kurzen Mittei­lung auf eine, nach der Sitzung stattfindende Commissions-Beratung hingewiesen werden.

In treuester Verehrung der Ihrige Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; Diktat D.s von fremder Hand; StB PK Berlin, HA , NL Th. Mommsen, K. 23, Bl. 17–17 R. 1 Th. Mommsen war bis 30. September 1895 Sekretar der königl. preuß. AdW zu ­Berlin. 2 Der Vorgang ist nicht mehr aufzuklären.

[937] Dilthey an Theodor Mommsen   Hochverehrter Herr Secretar!

Berlin, 21. Juni [1895]

Ich sende das Protokoll zum Unterzeichnen und den Aufruf.1 In dem Protokoll schlage ich doch vor die gestern eingefügte Stelle am Anfang in Klammern fortfallen zu lassen und bitte in der Abstimmung sich darüber zu entscheiden. Für das Cirkular bedarf ich noch einiger Notizen, damit die Anweisung möglichste Vollständigkeit erlange. Es wird also später zugleich mit dem an die Auto­graphen-Sammler cirkulieren. Verehrungsvoll W. Dilthey © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

534

Dilthey an Theodor Mommsen

Original: Hs.; Diktat D.s von fremder Hand; StB PK Berlin, HA , NL Th. Mommsen, K. 23, Bl. 18–18 R. 1 Nicht beigelegt.

[938] Dilthey an Theodor Mommsen Berlin, 24. Juni [1895]

Hochverehrter Herr Secretar!

Mit den Abänderungen, die Sie vorschlagen bin ich einverstanden und werde den Aufruf so in der Kommissionssitzung vorlegen. Nach zweitägigen Besprechungen mit Vaihinger und Erdmann bin ich mit beiden über ihre Teilnahme einig gewor­den. Vaihinger wird sich die letzte Entscheidung bis Mittwoch noch vorbehalten, ist aber im Ganzen nun damit einverstanden die Handschriften-Arbeit zu machen. Auch Erdmann findet ihn dazu tüchtiger als Adickes. Als Pauschalsumme, wobei er seine Mitarbeiter selbst zu bezahlen hätte, haben wir uns auf M[ark] 4000 geeinigt. Erdmann hat sich, was sehr wichtig, bereit erklärt uns seine Vorarbeiten ganz zu überlassen. Ich schlage sonach eine Kommissions-Sitzung nächsten Donnerstag nach der Plenar-Sitzung vor und bitte um ein Wort, ob das genehm.

In treuer Verehrung der Ihrige

W. D.

Original: Hs.; Postkarte; Diktat D.s von fremder Hand; StB PK Berlin, HA , NL Th. Mommsen, K. 23, Bl. 7–7 R.

[939] Dilthey an Heinrich von Sybel Berlin, 26. Juni [1895]

  Hochverehrter Freund! Verzeihen Sie die Verzögerung des Berichtes über die Sitzung am vorigen Donnerstag. Denn an diesem war erst die entsprechende Klassen-Sitzung. Ich war inzwischen in Halle wegen der Kant-Ausgabe. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Heinrich von Sybel

535

Zwei Mitglieder haben sich der Stimme enthalten. Mommsen war einer derselben. Zwei schwarze Kugeln sind gefallen. So darf also das Ergebnis als ein verhältnismässig günstiges angesehen werden. Donnerstag kommt Ihr Antrag an das Plenum. Wattenbach1 als ältester Histo­riker wird ihn verlesen. Die Abstimmung ist dann aber erst am 18. Juli. Ich habe die Hoffnung, dass Sie dann zurück sein werden, denn nach einer Mitteilung Mommsens an mich, habe Virchow2 sich dahin ausgesprochen, werde T[reitschke] gewählt, dann trete er aus der Akademie aus.3 Als Mittel, in der anderen Klasse schwarze Kugeln zu werfen, wird dies gewiss seine Schuldigkeit thun. Doch denke ich, dass die Zeit, welche bis dahin verfliesst und Besprechungen mit einzelnen Personen den Gegensatz mildern werden. Der Grund, um den es sich handelt, ist die Äusserung T[reitschke]’s gegen ­Virchows Unterscheidung schlechter von den guten Revolutionären. Es kann also Virchow nur schaden, wenn er aus persönlicher Gegnerschaft gegen eine Wahl, bei der es sich nur um wissenschaftliche Bedeutung handelt, wirkt. Kehren Sie nicht bis dahin zurück, so haben Sie vielleicht in der anderen Klasse eine Beziehung, durch die Sie Anmahnung zu einer objektiven Behandlung der Sache schriftlich vermitteln können. Sehr gut wird gewiss schon in dieser Beziehung Ihr Bericht wirken. Möchte Ihr Urlaub die Folgen der Influenza ganz bei Ihnen tilgen, und Sie erfrischt und hergestellt zu uns zurückkehren!

In treuester Verehrung der Ihrige Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; Diktat D.s von fremder Hand mit eigenhändiger Unterschrift D.s; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL H. von Sybel B 110, Bl. 130–131. 1 Wilhelm von Wattenbach (1819–1897): Historiker und Paläograph; 1862 o. Prof. in Heidelberg, 1873 in Berlin. 2 Rudolf Virchow (1821–1902): Arzt, Politiker und Archäologe; 1849 o. Prof. in Würzburg, 1856 in Berlin; Direktor des Anatomisch-Pathologischen Instituts in Berlin; Mitbegründer der Fortschrittspartei. 3 Trotz aller Widerstände fiel die Wahl auf H. von Treitschke.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

536

Dilthey an Hans Vaihinger

[940] Dilthey an Hans Vaihinger Berlin, 28. Juni [1895]1 Gestern, lieber Herr College, in der Kommis­sion angenommen. Die weiteren Schritte nur noch formell; nächster Tage spreche ich mit Althoff wegen des Urlaubs. – Könnten Sie nicht wegen des Cirkulars ein Verzeichniss der Compendien Kant’s und Handexemplare, welche sich erhalten haben, mir senden? Und zwar recht bald? Ich muß durchaus der Sicherheit wegen ein solches mit dem, was ich weiss, vergleichen, und Reicke antwortet nicht, ist also wohl immer noch von der Influenza her, unfähig dazu. Nächstens Antwort auf Ihren freundlichen Brief 2 im Einzelnen. Ich kann Ihnen nicht aussprechen, wie ich mich darüber gefreut habe, dass Sie die Sache übernehmen, für Sie, für uns und für Heinze.

In treuer Gesinnung der Ihrige Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; Postkarte; Diktat D.s von fremder Hand; StUB Bremen, HA , Auto­graph XXI, 6: h, Nr. 3; Erstdruck in: Stark, S. 77. 1 Datierung nach Poststempel. 2 Nicht überliefert.

[941] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Lieber Freund,

[Ende Juni 1895]1

Längst hätte ich Ihnen für Ihren zu vielem Nachdenken auffodernden Brief geantwortet: aber kein Sommer sah ein solch Gedränge von Arbeit und einen so gänzlich arbeitsmüden Mann. Sie haben recht, ich muß zugreifen die Aufsätze herauszubringen. Da mich nun Hertz,2 der für dergleichen der beste Verleger ist, darum früher gebeten hatte, sie verlegen zu dürfen, ging ich neulich zu ihm hin. Er war in allen Bedingungen so wie ich es jetzt nicht für möglich gehalten hätte: doch ging mir © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

537

ein Punkt tief zu Herzen: soll es ein Weihnachtsbuch wer­den, wie ich mir gewünscht, so muß es Mitte October fertig gedruckt sein. Die Kantausgabe hat sich aber seit vierzehn Tagen sehr anhaltend meiner bemächtigt. Eben komme ich von Halle zurück wo ich zwei Tage mit ­Erdmann und Vaihinger darüber verhandelt. Heinze macht und lei­tet also die Edition der Vorlesungen, Kants Logik, Anthropologie, phy­sische Geographie werden eine ganz andre Figur machen als bisher. Vai­hinger ist zuletzt doch als der sicherste befunden und macht die Auf­zeichnungen. Erdmann giebt ihm alle seine Vorarbeiten. Er wird wol die Vernunftkritik herausgeben. Reicke3 die Briefe. So wird in wenigen Wochen Alles geordnet sein: der Regisseur kann sich hinter die Bühne zurückziehen und das Stück beginnt. Es ist ein frischer Wind in den Segeln und man fühlt schon daß nach Be­ endigung des Kant die schlechte Leibnizausgabe von Gerhardt4 durch eine würdige ersetzt werden muß. Mit der psychologischen Abhandlung geht es langsam langsam! Mit dem Shakespeare wenig schneller! Sie müssen kommen, jeden Tag erwarte ich Sie, freue mich darauf unbändig, bald zu zweien bald mit Wildenbruch wollen wir von den Dichtern handeln. Unter höchsten gleichsam pädagogischen Gesichts­punkten, welche[n] die literarhistorischen als untergeordnete sich unter­werfen müssen. Täglich warte ich jetzt auf Sie. … Richten Sie sich ja so ein daß wir recht viel zusammen an möglichen und unmöglichen Orten diniren, Schauspiele der ‚Seher‘ sehen und bereden können. Ich möchte am liebsten jetzt ganz hierin leben. Den Aufsatz will ich nur so weit führen als er mit der Poesie parallel geht und ein Stück weiter: aber die Fortsetzung später. Die Poesie darf nicht gestört werden, könnte ich sie nur in Klein Oels schreiben, anstatt auf meinem Balcon. Erfreuen Sie sich Ihres Glückes in Haus, Hof und Familie und Park, aber kommen Sie bald etwas von Ihrer Stimmung mitzutheilen: ich habe sie nöthig. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 119. 1 In BDY: „[Juni 1895.]“. 2 Wilhelm Ludwig Hertz (1822–1901): Berliner Verlagsbuchhändler. 3 Rudolf Reicke gab innerhalb der Kant-Ausgabe den Briefwechsel heraus. 4 Carl Immanuel Gerhardt (1816–1899): Mathematiker und Mathematikhistoriker; 1837 Promotion in Berlin, Gymnasiallehrer und Schulrektor, u. a. am Französischen Gymnasium in Berlin. – Hg. von: Leibniz’ Mathematische Schriften. 7 Bde. Berlin bzw. Halle 1849–1863 sowie: Leibniz’ Philosophische Schriften. 7 Bde. Berlin 1875–1890.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

538

Dilthey an Hans Vaihinger

[942] Dilthey an Hans Vaihinger Lieber Herr College!

W[est] Burggrafenstr[aße] 4. [Anfang Juli 1895]

Inliegend übersende ich Ihnen ein Verzeichnis möglicher Anordnungen der Werke Kants1 und richte gleichzeitig an Sie die Bitte, einmal eine freie Stunde dieser für die Kantausgabe so wichtigen Frage widmen zu wollen. Vielleicht haben Sie dann die Güte mir nach Lektüre des Circulars Ihre Ansicht freundlichst mitteilen zu wollen. Zu dem Schema erlaube ich mir noch mitzuteilen: Giebt man die Möglichkeit der Durchführung einer systematischen Anordnung bis in die einzelnen Abhandlungen auf, so bleibt das gemischte System B und C. d. h. sachliche Anordnung und in den einzelnen Klassen chronologische Folge. Unter den sachlichen Anordnungen habe ich von derjenigen ganz absehen müssen, welche mir als die eigentlich Kantsche erscheint, nämlich: 1) Drei Kritiken mit Zubehör 2) Metaphysik der Natur und der Sitten 3) Alles darauf Gebaute. Schon deswegen müsste ich verzichten, weil in diesem dritten Teil Kant nicht nach einem Plan arbeitete. Er gab Anwendungen, wie die Religion innerhalb der Grenzen, „zum ewigen Frieden“, Pädagogik, und man kann sehen, dass vor ihm ein descriptiver und entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhang stand, der von der Naturgeschichte des Himmels bis zur Philosophie der Geschichte reicht und einen hypothetischen Charakter hat. Doch in einer Edition lässt sich dieser dritte Teil nicht herstellen. Aber auch die beiden Anordnungen2 unter B und C bleiben problematisch, noch problematischer ist die Unterordnung. Da nun aber auch die chronologische Ordnung bei Hartenstein3 die Kritiken auseinanderreisst, die Abhandlungen schwer auffindbar macht, so möchte ich ihrer einfachen Durchführung vorziehen, wie unter III. A geschehen, durch die drei äusserlichen Rubriken das Zusammenzusuchende mehr zu verbinden und die Auffindung zu erleichtern. Doch wäre wohl möglich, dass ein geeigneterer Plan sich Ihrem Nachdenken ergäbe. Jedenfalls wäre ich sehr dankbar für Ihr sachkundigstes Urteil über diese für die Ausgabe so überaus wichtige Frage. Mit meinen besten Grüssen der Ihrige Dilthey © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Hans Vaihinger

539

Original: Hs.; Diktat D.s von der Hand Paul Menzers4 mit eigenhändiger Unterschrift D.s; StUB Bremen, HA , Autograph XXI, 6: h, Nr. 7. 1 Nicht überliefert. 2 Im Original: „Anordnungen“ wurde von D.s Hand ergänzt. 3 Gustav Hartenstein (1808–1890): Philosoph; 1834 a. o., 1836 o. Prof. in Leipzig. – Hg. von: Kant’s Sämmtlichen Werken in chronologische Reihenfolge. 8 Bde. Leipzig ­1867–1869. 4 Paul Menzer (1873–1960): Philosoph und Pädagoge; Studium in Berlin und Straßburg, 1897 Promotion, 1900 Habilitation, 1906 a. o. Prof. in Marburg, 1908 o. Prof. in Halle. – Menzer arbeitete bereits ab Juli 1895 als Sekretär für D. im Rahmen der Kant-Ausgabe, bevor er 1897 deren offizieller Sekretär in der königl. preuß. AdW zu Berlin wurde.

[943] Dilthey an Hans Vaihinger Lieber Herr College!

Berlin, 17. und 22. Juli [1895]

Auch heute kann ich nur schreiben, damit Sie ein Lebenszeichen von mir erhalten. Es ist so schwer, die Bücher zu bestimmen, nach denen in den Bibliotheken gesucht werden soll, daß ich da­mit noch nicht zu Ende bin. – Für Ihre Zusendung besten Dank;1 sie ist sehr nützlich, aber immer noch kann ich nicht reinlich feststellen, welche Compendien und Hand-Ausgaben Kant’s im öffentlichen und Privat-Besitz da sind. Eine noch größere Schwierigkeit bildet die Be­stimmung der AutographenSammlungen, in denen Handschriftliches ist. – Von Rußland noch nichts. Unter diesen Umständen muß ich sehr zweifeln, ob es zweckmäßig sein würde, wenn Sie gerade den nächsten Winter hier zubrächten. Wir wissen ja gar nicht, wann wir alles zusammenbringen. Die Arbeit ist noch sehr groß. Die Ferien treten dazwischen. Vom 3. August bis Ende September verrei­se ich. Und wenn Alles zusammen ist, müssen Sie sich doch auch erst selbst aus dem Studium erste Ansichten gebildet haben, ehe ich Ihnen nützlich sein kann. Mit Geh[eime]Rat Althoff habe ich gesprochen, wiederholt. Er wird gern durch jede Art von Ur­laub, die Ihnen erwünscht ist, das Unternehmen unterstützen. In welcher Art bei Benutzung der Manuscripte Ihre Bequemlichkeit und die Bestehung des Reglements verbunden werden können, läßt sich erst wenn die russischen Bedingungen da sind, feststel­len. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

540

Dilthey an Theodor Mommsen

Berlin, d[en] 22. Juli [18]95. Ich habe nun nochmals mit Mommsen gespro­chen. Die Zeit zur Ver­ öffentlichung des Auf­rufs etc. ist jetzt zu schlecht; wir wol­len es auf Anfang Oktober verschieben. So ist wohl erst Ende des Jahres darauf zu rechnen, dass alles Material zusammen sein wird. Ich sende Ihnen nun hier den Entwurf der Übereinkunft. Einen Termin des Abschlusses muss man nach den Usancen der Akademie hineinsetzen. Ich setze voraus, dass Ihnen End[e] 1900 recht ist. Wünschen Sie ein Jahr später, so würde das wohl auch zu erreichen sein, da aber alle Ver­träge für dieselbe Zeit die Druckfertigkeit be­stimmen müssen, so haben Sie, wie ich glaube, selbst ein Interesse, den Termin nicht zu lange hinaus zu schieben. Nehmen Sie an einem anderen Punkte Anstoss, so bitte ich da­von Meldung zu thun, was ja wohl umgehend ge­schehen kann, da nächsten Donnerstag die letzte Akademiesitzung vor den Ferien ist und dann also die Contracte zu dieser Sitzung zum Abschluss gelangen müssten. Sind Sie einverstan­den, so bitte ich zu unter­schreiben, worauf ich Ihnen alsdann am Donnerstag den Contract mit unserer Unterschrift sende. Tausend herzliche Grüße. Entschuldigen Sie die große Eile heute. Treulichst Ihr

W. Dilthey

Original: Hs.; Diktat D.s von der Hand zwei unbekannter Schreiber, Gruß und Unterschrift von der Hand D.s.; StUB Bremen, HA , Autograph XXI, 6: h, Nr. 2; Erstdruck mit Auslassung des Briefanfangs in: Stark, S. 77–78. 1 Nicht überliefert.

[944] Dilthey an Theodor Mommsen [Juli 1895]   Hochverehrter Herr College, Mit meinem ergebenst[en] Dank für die Worte, in denen Sie den Kantplan einführen u. dem lebhaften Wunsch, die Sache möge Erfolg haben, sende ich das Concept zurück. In aufrichtiger Verehrung der Ihrige Wilhelm Dilthey © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

541

Dilthey an Theodor Mommsen

Original: Hs.; StB PK Berlin, HA , NL Th. Mommsen, K. 23, Bl. 24–24 R.

[945] Dilthey an Theodor Mommsen Verehrtester Herr Sekretar!

Berlin, 31. 7. [1895]

Wegen der Vaihinger-Sache halte ich für wünschenswert, beifolgendes Schreiben1 schon jetzt Herrn Erdmann zugehen zu lassen, während ich wohl früher dachte, es in Verbindung mit der Ernennung Erdmanns zum korrespondierenden Mitglied zu setzen, wenn eine solche von der Akademie beliebt würde. So bitte ich, wenn möglich, es noch unterzeichnen zu wollen, damit es bei den Mitgliedern der Kommission cirkulieren könne. In treuer Verehrung der Ihrige Wilhelm Dilthey Original: Hs.; Diktat D.s von fremder Hand; StB PK Berlin, HA , NL Th. Mommsen, K. 3, Nr. 19. 1 Nicht überliefert.

[946] Max Heinze an Dilthey L[ei]pz[ig] d[en] 2. Aug[ust] [18]95 Verehrtester Freund u. College! Vaihinger habe ich, seitdem Sie mit ihm conferirt hatten, nicht gesprochen, er hatte mir auch nichts geschrieben; und so mußte ich mich erst jetzt bei ihm erkundigen. Soeben erhalte ich einen Brief von ihm, worin er schreibt, er müsse einmal erst mit seinem Verleger conferieren, um sich von dem bestehenden Vertrag entbinden zu lassen, u. sodann, es seien ihm Bedenken gekommen, ob sich der Plan, wie Sie ihn betreffs der Reflexionen vorgelegt hätten, durchführbar sei. Des Näheren äußert er sich darüber nicht, meint nur, er müsse sich erst von der Durchführbarkeit überhaupt sicher sein, ehe er den Vertrag © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

542

Ernst von Wildenbruch an Dilthey

mit der Akademie unterschreiben könne. – Das dauert allerdings möglicher Weise längere Zeit. – In nächster Woche werde ich ihn wahrscheinlich einmal sprechen, da werde ich ihm nach Möglichkeit zureden u. seine Bedenken zu zerstreuen suchen. Ich werde Ihnen über das Resultat seiner Zeit schreiben. Einstweilen wünsche ich Ihnen guten Schluß des Semesters u. rechte Erholung in den Ferien. Ich bleibe voraussichtlich mit einer kurzen Unterbrechung bis 4. Sept[ember] hier.

Treulichst ergeben der Ihrige M. Heinze

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl. 79–80 R.

[947] Ernst von Wildenbruch an Dilthey   Verehrtester Freund

Tarasp, 11. 9. 1895

Ihr Brief1 hat einen durchschlagenden Erfolg bei uns erzielt. Nach Durch­ lesung desselben wurde der Verfasser hervorgerufen, erschien aber leider, zu großer Entfernung wegen, nicht. – Leider – denn es ist schade daß Sie nicht hier mit uns zusammen sind, an diesem Orte, der großartig und lieblich zugleich ist, und den wir nun am nächsten Sonnabend verlassen, um über den Maloja 2 nach Italien zu ziehen, Perugia und Assisi3 zu besuchen, und am 10. October wieder in der Hohenzollernfeste zu sein. Freitag den 23. August Abends, kamen wir von Davos aus hier an. Durch die Aufmerksamkeit der Direction waren uns die nämlichen Räume besorgt worden, die wir vor zwei Jahren bewohnt hatten, so daß wir uns sogleich wie zu Hause fühlten. Im Laufe dieser drei Wochen hat der heilige Luccius durchtriebene und geläuterte Menschen aus uns gemacht und sich, zwei so widersprechende Eigenschaften in uns vereinigend, als Wunderthäter erwiesen.4 Bei unserer Ankunft fanden wir eine ganze Kolonie von Professoren, hauptsächlich der berliner Universität, vor. Im Kurhause wohnte Herr von Kaufmann5 mit Gattin, durch die wir mit dem alten Kussmaul6 aus Heidelberg, bekannt wurden; das Gros der Professoren aber wohnte in Vulpera. Dort hauste der Loden umflatterte Koler7 mit Frau, Professor Kuy [?];8 Professor Dümmler,9 Johannes Schmidt10 mit Gattin, und aus Halle war der Literarhistoriker Burdach11 erschienen. Mit diesem machten © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Ernst von Wildenbruch an Dilthey

543

wir Bekanntschaft, und in Gesprächen beim Nachmittags-Kaffee fragte ich mich seufzend „ist kein Dilthey da?“ Er ist einer jener fleißigen braven Philologen, die uns fühlen lassen, daß die betrachtende u. kommentierende Beschäftigung mit Literatur, genannt Literatur-Historik, wenn sie nicht aus angeborener Intuition hervorgeht, eine der überflüssigsten Thätigkeiten menschlichen Geistes ist. Ja es ist schade, daß wir nicht zusammen haben sein können; hoffentlich aber entschädigt uns der kommende Winter, der für mich freilich, indem er mich wieder in das verteufelte Theater-Getriebe reißt, eine Campagne werden wird. Wir denken daran, die einst so hübsch gewesenen Lese-Abende wieder aufzunehmen. Ihre Nachrichten lassen uns hoffen, daß Ihre verehrte Frau Gemahlin mit neu befestigter Gesundheit daran theilnehmen wird. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie sehr uns Ihre Mittheilung über deren Besserbefinden erfreut hat. Meine Frau grüßt Sie beide nebst allen Kindern und, falls sie noch da sind, vom Raths,12 herzlichst. Tarasp veroedet, alle Bekannten sind fort; wir leben einfach als säßen wir auf dem Gletscher des Bischanna [?].

In Freundschaft ergebenst Ihr Ernst von Wildenbruch.

Original: Hs.; Briefabschrift von fremder Hand; GSA Weimar, Wildenbruch-NL , Nr. 94/300, 5. 1 Nicht überliefert. 2 Der Malojapass im schweiz. Kanton Graubünden. 3 Städte im mittelitalienischen Umbrien. 4 Eine der Mineralquellen in Tarasp (Graubünden) trägt den Namen Lucius-Quelle, benannt nach dem Heiligen Lucius. 5 Gemeint sein könnte Constantin Kaufmann (1853–?): schweiz. Mediziner; 1880 Habilitation, anschließend Dozent für Chirurgie in Zürich, oder aber Eduard Kaufmann (1860–1931): schweiz.-deutscher Mediziner; PD für pathologische Anatomie in Breslau, 1897 a. o., 1898 o. Prof. der allgemeinen Pathologie und pathologische Anatomie in Basel. 6 Adolf Kußmaul (1822–1902): Mediziner; 1857 a. o. Prof. in Heidelberg, 1859 in Erlangen, 1863 o. Prof. in Freiburg, 1876 in Straßburg. 7 Evtl.: Joseph Kohler (1849–1919): Rechtswissenschaftler und -historiker; 1878 Prof. in Würzburg, 1888 in Berlin. 8 Evtl.: Andreas Ludwig Kym (1822–1900): Philosoph; Prof. in Zürich. 9 Ernst Ludwig Dümmler (1830–1902): Historiker; 1858 a. o., 1866 o. Prof. in Halle. 10 Johannes Schmidt (1843–1901): Sprachwissenschaftler; 1868 o. Prof. für Deutsch und Slawistik in Bonn, 1873 in Graz, 1876 in Berlin. 11 Konrad Burdach (1859–1936): Literaturwissenschaftler; 1887 a. o., 1894 o. Prof. in Halle. 12 Adolph vom Rath (1832–1907): Bankier; Mitbegründer und Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bank in Berlin. – Anna vom Rath, geb. Jung (1839–1918): Ehefrau vom Raths seit 1869. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

544

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

[948] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Bad Kreuth [nach 11. September 1895]1 Mein lieber Freund, ich erhalte die Nachricht vom unerwartet raschen Tode Ihres von mir treu verehrten Bruders2 und bin davon tief erschüttert. An sich ist der Verlust eines solchen Mannes für seine Fami­lie und für die Welt un­ ersetzlich. Aber zugleich was für ein schönes brüderliches Verhältniß ist für Sie dadurch für diese Welt zerrissen. Wie für den Christen so auch für den Philo­ sophen bleibt der Trost, daß sie in einer dieser armen Animalität transscendenten Welt leben, in der Alles wahrhaft Lebendige in Zusammenhang bleibt. Sehr tief empfinde ich auch dabei, was Sie in dieser letzten Zeit bei Ihrer tiefen Fähigkeit mit zu leiden, gelitten haben müssen. Möge das nur ohne zu große Betheiligung Ihrer Gesundheit geschehen sein. Ich habe eine sehr große Sehnsucht Sie wiederzusehen und was ich kann zu thun[,] Sie dem, was in Ihnen nachwirkt und innerlich nacharbei­tet, zwar nicht zu entreißen, doch aber es überzuführen in gemeinsame Gedanken. Wir werden, sobald das jetzige schlechte Wetter es gestattet, an die Brennerstraße gehen, wol zunächst nach Brixen in den Elephanten. Ich werde dann den 17ten Oct[ober] etwa von da nach Berlin reisen. … Die vielen überraschenden, höchst plötzlichen Todesfälle der letzten Monate und eigenes sehr schlechtes Befinden, haben den schon für den vorigen Winter gehegten Gedanken zur Reife gebracht, die Fortführung meiner Arbeiten nun nicht mehr zu verzögern und darum für den näch­sten Winter einen Urlaub zu nehmen. Ich habe hier einen großen Schil­ler für die Aufsätze geschrieben.3 Immer mehr tritt für diesen eine eigene Beziehung von Studium der Lagen des Bewußtseins, seherischer Stel­lung der Dichter in ihnen und vergleichender Literaturgeschichte in den Vordergrund. So wächst die Hoffnung, durch sie der Literaturgeschich­te einen Impuls in die Tiefe des menschlichen Bewußtseins zu geben. Und ich darf hoffen, etwa zu Weihnachten den Druck der zwei Bände beginnen zu lassen. Vorlegen muß ich Ihnen aber erst was davon fertig ist. Die erste Hälfte der Abhandlung über vergleichende Psychologie ist in der ersten Correktur jetzt Gegenstand meiner Umarbeitung. Ich sende Ihnen dann die Bogen der zweiten Correktur. Denn ich kann nicht sagen wie nützlich mir Ihre Randbemerkungen zum letzten Aufsatz waren. Es werden etwa vier Bogen, und auch so bleibt das erste Stück incomplett. Eine sehr große Befriedigung und Freude war mir die Berufung des G ­ rafen Kalckreuth nach Karlsruhe,4 und zwar zusammen mit einem Genossen seiner Richtung, so daß er nun dort freies Feld erhält. Wollen Sie ihm das aussprechen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

545

Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 120. 1 In BDY: „[Sept. 1895.]“. 2 Hans Graf Yorck von Wartenburg (1838–1895) war am 11. September 1895 gestorben. 3 D.: Schiller, postum erschienen in: Von deutscher Dichtung und Musik. Aus den Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. Hg. von G. Misch und H. Nohl. Leipzig 1932, S. 325–427; WA in: GS XXV, S. 170–198. 4 Yorcks Schwiegersohn, der Maler Leopold von Kalckreuth, ging 1895 an die Staatliche Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe, die er aber bereits 1899 wieder verließ.

[949] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Bad Kreuth 17. Sept[ember] [1895]   Hochverehrter Herr Geheimerath, Zu beifolgendem Gesuch,1 das ich Ihrem Wohlwollen für meine Arbeit empfehle werde ich mir Morgen erlauben, noch einige persönliche Worte über unser Ergehen zu fügen u. etwas über die Kantsache.

In treuster Verehrung der Ihrige Wilhelm Dilthey2

Original: Hs.; GStA PK Berlin, VI. HA ., FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, B Nr. 29, Bd. 2, Bl. 182. 1 Nicht überliefert. – Vgl. hierzu die Antwort Althoffs vom 28. September 1895 (Brief [951]). 2 Nachfolgender Brief von der Hand D.s an F. Th. Althoff, ebenfalls mit dem Datum „17 Sept[ember] [1895] Bad Kreuth in Oberbaiern“, ist offensichtlich nicht an den Adressaten abgeschickt worden. Er ist hinterlegt im Dilthey-NL der ABBAW, Fasz. 170, Bl. 248– 249: „Hochverehrter Herr Geheime Rath, Ich darf wol dem beifolgenden Gesuch, das ich Ihrem Wohlwollen für meine Arbeiten empfehle, noch einige persönliche Worte beifügen. Vor Allem wünsche ich, meine Zeilen mögen Ihre verehrte Frau Gemahlin und Sie in erwünschtem Wohlsein finden. Von unserem persönlichen Ergehen wird Clärchen, welche gestern mit den Kindern zurückgekehrt ist, Ihrer Frau Gemahlin berichten. Wir rechnen darauf daß meine Frau wenn ich zwischen 15 u 20 October zurückkehre mich begleiten, jedenfalls doch mir bald nachfolgen kann. Wir halten uns hier noch bis zum 21ten auf, eine © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

546

Dilthey an Hans Vaihinger

spätere Zeile würde uns Brixen im Elephanten finden. Eine große Sorge ist mir Vaihinger’s Verhalten in der Kantsache. Nachdem er mir schriftlich erklärt, die Abtheilung übernehmen zu wollen, will er jetzt Zustimmung seines Verlegers noch nöthig finden etc. Böte sich Ihnen Gelegenheit, so wäre es gut, ihm ein Wort zu sagen. Ich werde mir erlauben Morgen besonders darüber zu schreiben. In treuer Verehrung, für Ihre Frau Gemahlin beste Wünsche zufügend, bin ich der Ihrige Wilhelm Dilthey“.

[950] Dilthey an Hans Vaihinger Lieber Herr College,

Bad Kreuth, d[en] 25. 9. [18]95.

Ihre Zeilen1 haben mich hier auf Umwegen vor einigen Tagen erreicht. Mir nach meinen Wünschen für die Kantausgabe war natürlich an denselben das Wichtigste daß ich ersehen durfte, wie die Entmuthigung in Be­zug auf Ihre Zusage zur Edition der losen Blät­ter u. Reflexionen offenbar nun wieder von Ihnen gewichen ist. Sie hätten ja auch unmöglich uns in einer durch diesen Rücktritt so erschwerten Lage zurücklassen kön­nen. Und auch der Plan dieser Studien würde ja durch dieses Verhältniß die Bedeutung nicht haben gewinnen können als wenn Sie der Leiter der Hauptabtheilung sind. So begrüße ich denn froh Ihren gefestigten Entschluß, den ja kein Buchhändler alteriren kann, und unter dieser Voraussetzung werden ja gewiß auch wie die ande­ren bei der Kantausgabe Betheiligten so auch ich an den Studien2 uns gern betheiligen. Freilich werden Sie sich nicht verhehlen daß Ihre Arbeitslast durch diese Studien erheblich vermehrt wird. Aber fühlen Sie sich nun gegenwärtig im Stande, beide Aufgaben zu bewältigen u. vertrauen Sie, daß Sie das nicht später doch zu viel finden, so kann ja der Plan dieser Studien im Interesse Kants ganz nützlich werden. Es bleibt freilich meine Überzeugung, daß jetzt, wo aus ganzem Holz geschnitzt werden soll unser ganz überwiegendes Interesse hierauf gerichtet bleiben muß. Der Passus über inedita Kants regt ja allerdings insofern Bedenken als es im Interesse der Kantausgabe liegen muß, daß doch immerhin nicht sehr umfang­reiche neue von etwaigen Briefen u. Abhand­lungen auch wirklich zuerst zu bringen. Aber hierüber würde ja doch erst zu diskutiren sein, wenn die Verhältnisse der Kantausgabe u. der Studien im Übrigen geordnet sind. Über das Billet von Kant an Schulz3 freue ich mich sehr. Möge Ihre Reise Ihnen gut thun. Lugano ist uns immer zu städtisch u. zu schwül gewesen. Gehen Sie doch hinauf auf den Monte generoso,4 wo ein gu© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Friedrich Theodor Althoff an Dilthey

547

tes Hôtel (Hôtel Generoso, Station bella vista) mit guter Gesellschaft ist, u. die Luft eine einzige Mischung von südlichem Klima mit Hochgebirge. Und möge der Stuttgarter Verleger nicht zu sehr über die zwei Unternehmungen erschrecken. Sollte er es aber thun, so kann Sie das ja nicht alteriren. Eine Antwort an mich senden Sie an mich am besten unter meiner Berliner Adresse. W[est] Burggrafenstr[aße] 4II. Mit besten Wünschen für Ihr Wohl u. besten Grüßen an Heintze5

in treuer Gesinnung der Ihrige Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; teilweise von D.s Hand, teilweise Diktat D.s von der Hand Katharina D.s; StUB Bremen, HA , Autograph XXI, 6: h, Nr. 4. 1 Nicht überliefert. 2 Gemeint sind die von Vaihinger 1896 begründeten und herausgegebenen Kant-Studien. 3 Johann Friedrich Schultz, auch Johann Schulz bzw. Schultze (1739–1805): ev. Theologe, Mathematiker und Philosoph; Freund Kants. 4 Schweiz.-ital. Grenzberg am Südrand der Alpen. 5 Gemeint ist Max Heinze.

[951] Friedrich Theodor Althoff an Dilthey Das Gesuch um Entbindung von der Vorle­sungsverpflichtung für nächstes Semester – in diesem Sinne ist Ihr Gesuch aufgefaßt, da Sie ja in Berlin bleiben wollen; sollte diese Auffassung irrig sein, so läßt sich das noch nachträglich anders machen; aber Urlaub kann nur mit Allerhöchster Genehmigung ertheilt werden – ist bewilligt.

Herzliche Grüße u. Wünsche Ihr Althoff

B[erlin] 28. 9. [18]95. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl. 243 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

548

Dilthey an Friedrich Paulsen

[952] Dilthey an Friedrich Paulsen Lieber Herr College,

Bad Kreuth [Anfang Oktober 1895]

Die Unruhen der letzten Zeit, da meine Frau hier einen Rückfall hatte von Lungenkatharr an d[er] Lungenspitze, Consultation von auswärts nöthig wurde etc., haben mich abgehalten, an Sie zu schreiben, Ihnen Mittheilung zu machen von dem Plan e[ines] Urlaubs für d[en] Winter und die Bitte daran zu knüpfen, mich gütig in Fakultät u. Prüfungscommission vertreten zu wollen. Hinzu kam daß ich zu Letzterem, die Bitte um Vertr[etung] in d[er] Prüf[ungs]­ c[ommission] keine Art von Autorisation besaß, also nur in meinem Gesuch an das Minist[erium] aussprechen konnte: da Sie mir ja doch jedenfalls Ostern in der Prüfungscommission folgen würden, erschiene mir schon darum wie überhaupt die Vertretung durch Sie als die nach der Sache von selbst gegebene. Eben erhalte ich nun aus dem Ministerium die Nachricht,1 Sie seien wenig geneigt, diese Vertretung in der Prüfungscommission zu übernehmen. So möchte nun, da ich ein Recht dazu habe, ich doch an Sie die herzliche Bitte richten, ob Sie nicht zu dieser Vertretung sich entschließen könnten. Gern bin ich ja zu jedem solchen Gegendienst erbötig. Ich habe auch H[errn] Collegen Stumpf zugleich brieflich benachrichtigt 2 u. ihn gebeten, doch mit Ihnen die Sache zu besprechen, bevor Sie Ihre letzte Entschließung fassen, da es doch eine uns Drei gemeinsam betreffende An­ gelegenheit ist. So hoffe ich derselbe werde Sie in kürzester Zeit zu sprechen suchen, und es würde mich sehr freuen[,] könnten Sie sich doch zur Vertretung entschließen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar dafür. Verzeihen Sie mir das Flüchtige dieser Zeilen. Wir brechen eben nach München zu einer neuen Consultation auf. Von da gehen wir nach Brixen in Tirol (in den Elephanten), so findet mich eine freundliche Zeile von Ihnen [:] Brixen Tirol im Elephanten. In der Hoffnung, es möge Ihnen gut ergehen u. mit meinen besten Grüßen

der Ihrige Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; UAHU Berlin, NL Friedrich Paulsen, Briefwechsel, Dilthey, unpaginiert. 1 Nicht überliefert. 2 Nicht überliefert.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

549

Dilthey an Gustav von Schmoller

[953] Dilthey an Gustav von Schmoller     Lieber Freund,

[Anfang Oktober 1895]

Zwar reise ich in diesen Tagen nach Berlin zurück, doch mögen diese Zeilen vorausgehen da ich nicht weiß ob ich Sie aufzusuchen gleich Zeit finde. Den Plan mich für einen Winter beurlauben zu lassen, der wie Sie wissen seit Jahren von mir gefaßt war, habe ich nun plötzlich ausgeführt, da alle Umstände demselben in diesem Winter günstig waren und man nicht wissen kann ob das je so wiederkehrt. Ich habe während der Ferien ohne Unter­ brechung fortgearbeitet, und einige besonders schwierige Punkte, welche die vollkommenste Ruhe forderten, absolvirt. Möge es nun ohne Störung so weitergehen! Meine Frau kann nach der letzten Untersuchung von dem Kliniker Bauer1 in München, sobald im November das nasse Übergangswetter vorüber ist, zurückkehren nach Berlin (es ist nichts Verdächtiges von ihm mehr gehört worden) falls nicht ein besonderer Zwischenfall eintritt, was der Himmel verhüte. Da Bauer nach dem Urtheil von Brentano’s, deren Beirath er ist, u. a. Urtheils­fähigen durchaus Ziemssen2 vorzuziehen und ausgezeichnet, so sind wir nun nach so langen Sorgen endlich beruhigt. Durch den Rückfall den sie in Kreuth erlitten[,] hatte der dortige Arzt (aus Tegernsee)3 uns keine Hoffnung zu ihrer Rückkehr gemacht. Clärchen löst mich ab u. sie gehen nach Meran. Sehr begierig bin ich zu vernehmen, wie es mit der Sybelschen Stelle steht4 die Zeitungen schweigen sich jetzt aus. D[ie] Corresp[ondenz] mit ­Vaihinger scheint nun doch zu gutem Ende zu führen; er will Ende October seine Entscheidung senden, da er in Stuttg[art] mit seinem Verleger nächster Tage nochmals verhandelt. Sehen Sie zufällig Mommsen, so sagen Sie es ihm wohl. Meine Frau sendet Ihnen u. Ihrer verehrten Frau sowie ich die herzlichsten Grüße.

In treuer Gesinnung der Ihrige Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; GStA PK Berlin, VI. HA , FA und NL , NL G. von Schmoller, Bl. 111–112 R. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

550

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

1 Karl Josef Bauer (1845–1912): Mediziner (Internist); 1876 a. o. Prof. und Oberarzt im Städtischen Krankenhaus München. 2 Hugo von Ziemssen, geb. 1829: Mediziner (Internist); 1874 Direktor des Krankenhauses links der Isar in München. 3 Der Ort Tegernsee am Tegernsee in Oberbayern. 4 Heinrich von Sybel war am 1. August 1895 gestorben.

[954] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

Lieber Freund,

Brixen, Tirol (im Elephanten) den 13. Oct[ober] [18]95.

Ich habe eine rechte Sehnsucht, von Ihnen ein Wörtchen zu verneh­men, wie es nach der langen schweren Zeit Ihnen und Ihrer verehrten Gräfin geht. Ihr Schweigen, wenn es nicht bedeutet daß Sie abwesend sind, spricht dafür daß Sie sich wenig wohl fühlen. Auch ich habe über meine Gesundheit viel zu klagen. … Die Erkrankung von Max im Sommer, all diese Zwischenfälle, dazu sehr angestrengtes Arbeiten in Kreuth, haben es für mich zu keiner Erholung kommen1 lassen, und ich habe sehr viel mit dem Herzen zu thun. Das so entsprin­gende Gefühl daß ich nicht weiß wie lange ich noch mit einigem Erfolg werde arbeiten können, die vielen Todesfälle um mich her, der Gedanke an all die Arbeitsbruchstücke um mich her, ungedruckte und gedruckte, haben mich denn bestimmt den langgehegten Plan endlich auszuführen und für den Winter Urlaub zu nehmen. Ich kehre in ein paar Tagen nach Berlin zurück, und will sehn was ich meinem Körper noch zumuthen kann. Zunächst habe ich in Kreuth an der vergleichenden Psychologie gearbeitet, die nun ein neuer Grundstein der Fortsetzung des Buches wird. Zunächst habe ich das früher, theilweise bei Ihnen, Geschriebene auf mehr als das Doppelte gebracht und ganz umgearbeitet. Das erste Stückchen davon werden Sie in diesen Tagen erhalten haben, es ist fast ganz neu und aus der Lektüre des letzten Bandes von Wundt2 entsprang mir das Bedürfniß, gegenüber den von ihm, Windelband u. a. immer wiederholten Erklärungen von den unlösbaren Widersprüchen im Begriff der inneren Erfahrung und der Unmöglichkeit den Begriff des Geistigen zu ihm in Beziehung zu setzen und so den Begriff von Geistes­wissenschaften auf ihn zu gründen, diese Grundlage zu rechtfertigen.3 Während Wundt in seinem Bande thatsächlich in dem, was über das Übliche hinausgeht, dem ersten Bande der Geisteswissenschaften sich in seiner Manier, umarbeitend gleichsam, anschließt, hat er die Geschmack© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

551

losigkeit gehabt, nicht mich nicht zu nennen, das konnte er, aber dies dann an Einer Stelle S. 84 … zu thun, wie dies seine Gewöhnung – natür­lich weil ich Stumpfs Berufung erwirkte! Ich habe daher im Übersand­ten und im Folgenden an den Hauptstellen den ersten Band und dane­ben seine Umarbeitung ohne jede Bemerkung citirt. Er soll sehen, daß ich sehr wohl Bescheid weiß um sein Verfahren. Es würde mir nun sehr erfreulich sein, wenn Sie das Gesandte sich ansehn und durch Ihre Randbemerkungen mir die schwachen Punkte merkbar machen wollten. Haben Sie etwa seine Logik II 2 Aufl. 24 zur Hand, so werden Sie im Übersandten und im Folgenden die Auseinandersetzung mit ihm näher bemerken, die zugleich nun auch gründlicher Windelband betrifft.5 Die Hauptsache ist natürlich ob Sie mit meiner Darlegung nach ihrem posi­ tiven Inhalte selber einverstanden sind. Da die Abhandlung zu groß würde (es werden nun so schon drei bis vier Bogen sein) habe ich den letzten dreiviertel Bogen für die Fortsetzung zurückgelegt. Über dieser habe ich nun mit großer Anstrengung gebrütet, ohne daß ich einstwei­len mehr als einzelne Skizzen hätte aufschreiben können, in denen ich freilich hoffe einen Fortschritt gethan zu haben. Ich will diese Abhand­lungen sobald sie zum Schluß gekommen zusammen als: Vergleichende Psychologie, ein Beitrag zum Studium von Geschichte, Literatur und Geisteswissenschaften, abdrucken lassen, damit sie für sich, auch außer­halb des größeren Werkes, als Schrift von etwa einem Dutzend Bogen wirken mögen. Dann habe ich für die Verbindung meiner literarhistorischen Aufsät­ze zu einem Ganzen über Schiller als den Begründer des historischen Drama das Erforderliche geschrieben. Eben jetzt bin ich noch bei Corn­eille, Racine und Molière.6 Sie sehen es nähert sich das einem Ganzen, welches die vergleichende Literaturgeschichte von der bloßen Geschich­te der Stoffe fortführen soll zu dem tiefsten Punkte, den Bewußtseins­stellungen und der dadurch bedingten poetischen Form bis in Dialog etc. hinein. Eine sehr große Arbeit: wobei ich aber bei der Einheit mei­ner Gedanken darüber von früh auf, Altes und Neues verbinden und gerade hierdurch dem Buch einen eignen Reiz der Mannich­ faltigkeit und des Reichthums vielleicht geben kann. Sie werden sich doch erstaunen, wie anders das Alles aussieht wenn man es auf die menschlichen Tiefen von Sinn des Lebens, Charakterauffassung, die zugleich geschichtliche Tiefen sind zurückführt. Gegen Weihnachten beginne ich den Druck davon. Die Hauptarbeit soll aber der Fortsetzung der Einleitung nun gewid­met werden. Wie ich aus einer solchen Papiermasse, die mich erdrückend umgiebt, werde auftauchen können, muß ich sehen und – hoffen. Später als jetzt würde der Versuch wol gar nicht mehr möglich sein. Ich kann es nur indem ich nach meiner Rückkunft mit dem historischen Theil Seite l anfange und so hintereinander fortfahre, unbeküm­mert was ich © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

552

Dilthey an seine Tochter Clara

von zu Untersuchendem zurücklassen muß. Denn bei der Universalität des Objektes kann ja nur in der Energie, die Hauptpunkte herauszugreifen und ordentlich zu behandeln, der Werth liegen. Wundt hat einen öden Formalismus durch Excerpte aus den bekanntesten ein­zelnen Schriften und geistreiche Bemerkungen dazu durchgeführt. Ich gehe den entgegengesetzten Weg: was ich eigen durchgearbeitet sage ich. Und nun lassen Sie sich, lieber Freund, diese Mittheilungen von mir Anlaß werden, mit einem kurzen Wort auch von Ihrem Ergehen zu mel­den. Schreiben Sie gleich, so trifft es mich noch Brixen in Tirol, im Elephanten, wo ich bis c. zum 20sten bleibe: danach in Berlin. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 121. 1 In BDY: „kommeu“. 2 W. Wundt: Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntniss und der Methoden wissenschaftlicher Forschung. 2 Bde. Stuttgart 1880/1883, 2. umgearb. Aufl. 3 Bände. Stuttgart 1893–1895. 3 Zu D.s Auseinandersetzungen mit den Positionen Wundts und Windelbands vgl. GS V, S. 242–258. 4 W. Wundt: Logik, a. a. O., 2. umgearb. Aufl. Stuttgart 1894. Bd. 2: Methodenlehre. 5 Vgl. GS V, S. 251. – W. Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft (Straßburger Rektoratsrede 1894), WA in: Ders.: Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte. 2 Bde. 9. Aufl. Tübingen 1924, S. 136–160. 6 Vgl. GS V, S. 286 f.

[955] Dilthey an seine Tochter Clara [Oktober 1895] Meine liebste Clara, das ist ja eine Verkettung von Umständen wie sie nicht fataler sein könnte. Dein u. Maxens Brief irgendwie verloren;1 wir haben hinter ihm her nach Ulrich2 geschrieben, falls er in Ulrich, bringt ihn ein Bote: aber es ist so gut als gänzlich ausgeschlossen; wir müssen auf ihn verzichten. Der Brief Heubaums3 setzt Deinen voraus u. enthält nur daß Max sich wegen Kisting4 nicht mehr wol fühlen könne u. macht Vorschläge. Das Lessinggymnas[ium] ist unmöglich; Max kann nicht im Winter auf dem Bahnhof den Zug erwarten etc. Ob Max zurückversetzt wird, ob sein Bleiben wirklich nicht mehr möglich: nichts in dem Brief. Das ist meine Lage. Du kannst denken wie mir dabei zu Muthe. Ich muß also warten auf weitere Nachricht von Dir die gewiß unterwegs. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an seine Tochter Clara

553

Hier die Luft abscheulich, das Thal ganz geschlossen, nur nach Westen offen und die Luft von Bozen südwärts[?] hereinstrebend. Mama kann nicht reisen. So sitzen wir hier.5 Ich kann Dir unter diesen Umständen nur Alles überlassen u. vertraue auf Deine Klugheit. Spare ja etwa wünschenswerthe Telegramme nicht. Freilich kann ich nicht sagen wohin. Das Wichtigste ist daß Du sofort einen ganz gründlichen Brief nach München postlagernd sendest damit ich dort wenigstens über Alles orientirt bin, wenn ich nicht noch hier auf das Telegramm hin ausreichend Antwort erhalte. Die Postverbindung hierher furchtbar schlecht sodaß ich das nicht wissen kann, ob es noch gelingt. Von Maxens Eindrücken darfst Du Dich nicht bestimmen lassen. Er leidet an einem Ehrgeiz u. Selbstgefühl welche nicht auf das richtige Ziel gelenkt sind u. auch nicht die richtigen Mittel anwenden. Er hätte bei richtigem Verhalten sicher Kistings Abneigung überwinden können, und ich sage voraus daß es an einem andren Gymnasium nicht anders sein wird. Denn ­Coster[?] u. Müller6 wollen ihm wohl, u. sind natürlich vielmehr als er denkt über ­K isting orientirt. Die Hauptsache bleibt daß er nicht ein halbes Jahr verliert. Kann dies nur durch einen Wechsel vermieden werden, so muß dieser natürlich vollzogen werden. Wie müde bin ich der Schwierigkeiten des Lebens, die immer wieder neu trotz aller meiner Anstrengungen sich erheben. Ich habe nie etwas für mich gewollt, sondern immer nur für die meinen u. für den Pflichten- und ZweckKreis in dem ich lebe u. wirke.7 Wirken war immer mein höchstes Glück, aber ich fühle mich jetzo müde. An Heubaum schreibe ich heute noch. Befrage ihn ja was Dir wünschbar ist, er ist ebenso redlich als einsichtig. Aber man muß erwägen daß er weder Maxens körperliche Bedürfnisse noch sein Wesen kennt. Er hat daher zuviel Zutrauen auf einen Wechsel des Gymnasiums. Ich erwarte wenig davon. Auch Müller schrieb mir von dem fahrigen und unsicheren in all seinen Arbeiten,8 u. er weiß doch nicht wie Max von der Vorbereitung abhängig ist. Wie lange wir hier bleiben müssen weiß ich nicht. Ist von Dir ein wichtiger Brief unterwegs, den wir abwarten sollen, so würde richtig sein Du telegraphierst daß wir ihn erwarten. Sonst München ausführl[icher] Brief. In Liebe u. Treue Dein Papa. Sofort auch hierher noch ausführl[ichen] Brief. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

554

Christoph Sigwart an Dilthey

Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 k, Nr. 4. 1 Nicht überliefert. 2 St. Ulrich im Grödnertal in Südtirol. 3 Nicht überliefert. 4 Vermutlich ein Lehrer oder Schulrektor. 5 D.s Tochter Clara war mit ihren jüngeren Geschwistern bereits Mitte September 1895 von Bad Kreuth nach Berlin zurückgereist. D. und seine Frau reisten weiter nach Tirol (vgl. Brief [949], Anm. 2). 6 Vermutlich zwei Lehrer. 7 Im Original: „Wirken“. 8 Nicht überliefert.

[956] Christoph Sigwart an Dilthey Verehrter Freund

Tübingen, 14 Oct[ober] 1895

Ich habe mein Versprechen Ihnen noch ausführlicher über die beschreibende u analy­sierende Psychologie zu schreiben, nicht ver­gessen, aber Sie wissen schon, daß Sie mit mei­ner zunehmenden Faulheit Geduld haben müssen. Hätte man während der Ferien ein paar Tage im Regenwetter gehabt, so hätten Sie vielleicht schon ein Lebenszeichen erhalten, so aber bin ich fast 6 Wochen lang, erst in Freudenstadt im Schwarzwald, dann in BeatenbergInterlaken1 zu rein gar nichts als zu Luft u. Farbengenuß von früh bis spät gekommen, u wie ich zu­rückkam lagen Doctordissertationen da, u die angenehme Aufgabe, dem Ministerium begreiflich zu machen, daß wir die Forderung der technischen Hochschulen, einen Doctor der Chemie zu creieren, aufs Entschiedenste bekämpfen müssen – ich denke es wird von allen Universitäten, die preußischen voran, dieselbe Antwort auf das Ansinnen der Techniker kommen. Damit habe ich den Rest der Ferienzeit vollends zugebracht. Nun fällt mir eben, wie ich fürs Semester meine Manuscripte wieder zurecht lege, ein angefange­ner Aufsatz über dasselbe Thema in die Hand, den ich vor Jahren einmal zunächst ohne bestimmte Absicht der Veröffentlichung niedergeschrieben, u es ist das kürzeste, um Ihnen meine volle Zustimmung auszudrücken, wenn ich Ihnen diese Blätter zur gelegentlichen Durchsicht schicke[.] – Sie werden wenigstens angedeutet mancherlei fin­den, was Sie bestimmter und greifbarer ausge­führt u zu einem wirklichen Programm gestal­ tet haben.2 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

555

Dilthey an Friedrich Paulsen

Mit den besten Wünschen, daß es Ihnen u den Ihrigen gut geht, u der Bitte mich Ihrer verehrten Frau bestens zu empfehlen

Ihr treu ergebener C. Sigwart

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl. 94–94 R; Erstdruck: Lessing, S. 225–226. 1 Beatenberg: Gemeinde im Kreis Interlaken-Oberhasli im schweiz. Kanton Bern. 2 Ch. Sigwart: Die Unterschiede der Individualitäten, in: Ders.: Kleine Schriften. 2.  Reihe: Zur Erkenntnißlehre und Psychologie. Freiburg / Breisgau 1881, 2.  Aufl. 1889, S. 212–259.

[957] Dilthey an Friedrich Paulsen [Mitte Oktober 1895] Ich muß gleich heute Abend, verehrtester Herr College, Ihnen meinen besten Dank u. Bedauern aussprechen: den Dank daß Sie mich freundlichst haben vertreten wollen: das Bedauern daß Sie gänzlich überflüssiger Weise bemüht worden sind.1 Daß diese Confusion durch mich nicht verschuldet wurde, werden Sie wol errathen haben, das Nähere Morgen mündlich. Trotzdem ist sie mir, als dem zwar ganz unschuldig den äußeren Anlaß Gebenden in höchstem Grade peinlich gewesen. Über die Wintervorlesungen haben wir nicht gesprochen, da ja wol alles beim Alten bleibt. Sonach würde ich allg[emeine] Gesch[ichte] d[er] Philo­ s[ophie] 5 mal 11–12 Uhr (Sonnab[en]d ausgenommen täglich) lesen.2 Mit bestem Gruß d[er] Ihrige W. Dilthey Montag Abends Original: Hs.; SHLB Kiel, Ca-Dilthey, Zg.-Nr.: 03/1994.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

556

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

1 Da D. für das WS 1895/96 „zur Herstellung einer wissenschaftlichen Arbeit“ (des 2. Bandes der Einleitung in die Geisteswissenschaften) beurlaubt war, hatte er F. Paulsen um die Übernahme seiner Amtspflichten gebeten. 2 Seit 1894 hielt D. diese Vorlesung turnusmäßig im WS. Für das WS 1895/96 hatte er sie angekündigt mit dem Titel Allgemeine Geschichte der Philosophie in ihrem Zusammenhang mit der Kultur (5std.); daneben bot er Übungen auf dem Gebiet der Geschichte der neueren Philosophie an (1std.). – Wegen seiner Beurlaubung übernahm C. Stumpf D.s Vorlesung (vgl. Ehlers, Bd. II, S. 100).

[958] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Kleinöls den 21. 10. [18]95.

Was ich habe erleben müssen, heischte Stille und auch den theilnahms­ vollen Gruß des Freundes konnte ich nur mit stillem Danke beantworten. In Ihrem letzten Briefe werfen Sie die Frage auf, ob ich verreist sei. Die Meinigen wünschten es und eine kleine Tour nach Eng­land war eine Zeitlang ins Auge gefaßt. Aber ich habe den Plan fallen gelassen. Im Moment bin ich zu müde zum Reisen und wirthschaftliche Rücksichten unterstützten die Abneigung. Bis zum Januar bleiben wir still hier. Dann ein mehrmonatlicher Aufenthalt in Berlin, wo ich schon jetzt eine passende Wohnung suchen lasse. Denn das Hôtelleben kann ich nicht mehr ertragen. Wenn Sie nun den Urlaub in Berlin zubringen, so könnte uns ein schönes ungestörtes Zusammensein beschieden sein, wonach ich recht verlange. Möge nur das Befinden Ihrer Frau ein ganz zufriedenstellendes sein, die Hausfrau im eigenen Hause walten können und alle Sorge Ihnen fern stehen. – Ihre schöne Abhandlung1 habe ich recht genossen und daß Sie sie mir sendeten, als Freundesdienst und Freundschaftsgabe empfunden. Sie transponirte mich in die eigene intellektuelle Lebenssphäre, von der die Tagesaufgaben mich ja fern hal­ten. Lassen Sie mich vorweg auf das beigefügte Verzeichniß der Druckfehler2 verweisen, die auch in dem Stadium der Revision noch stehen geblieben sind. Dann aber zur Sache: der ganze Abschnitt 4:3 Die Kunst als Darstellung etc. ist einfach meisterhaft. So kann sich nur ausspre­chen, wer in der Innerlichkeit der Poesie wohnt. Solche ‚Kritik‘ existirt überhaupt vorher nicht. Es ist dies mehr als was Goethe, Tieck, die Schlegel je gesagt haben über Dichter und Dichtungen. Hier ist ohne Weiteres und thatsächlich der Beweis erbracht für die Selbständigkeit der Geisteswissenschaften. Der Begriff des Typus ist der Schlüssel, der die feinsten und © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

557

schwierigsten Schlösser öffnet. Er ist mir jetzt erst klar geworden in seinem lebendigen Bezuge und in seiner wirksamen Trag­weite. In ersterer Beziehung als wurzelnd in dem Vollkommenheitsgefühle oder wie Sie lieber sagen in dem Zweckmäßigkeitsgefühle. Er konstituirt ein Lebensmaß, eine geschichtliche Kategorie, von gleicher Bedeutung für die Erkenntniß der Historizität, wie irgend eine der logi­schen Kategorien für das Ontische. In diesem neuen Prinzipe und seiner glänzenden Anwendung ist mehr enthalten: eine schärfere Absage der naturwissenschaftlichen Prätensionen, als 1–3 der Abhandlung in Anspruch nehmen – die mir, worauf ich zurückkomme, zu wenig die generische Differenz zwischen Ontischem und Historischem betonen. Shakspeare und Schiller sind die Glanzpunkte. Die lebendige Analyse ist eine so vollkommene, daß die andeutende Kürze an anderen Stellen, die Eile des Verfassers die Abhandlung zu schließen, als ein Verlust empfun­den wird. Hier bleiben Fragen offen. Gestatten Sie mir einige auszuspre­chen: Der Bildungsroman hat meines Erachtens seinen Ursprung bei Rousseau – Emile – nicht bei Goethe. Der Roman als poetische Form entsteht vorher in England. Man sehe die klassischen Romane des vori­gen Jahrhunderts in England. Gerade das Romanproblem, wie Sie es scharf herausheben, die Bewegungsfreiheit unter gesellschaftlichen Bedingungen und Einflüssen entsteht zuerst, wo ‚Gesellschaft‘ sich bil­det, in England. Ein Anderes: wenn Sie alle historischen Stücke vor dem Wallenstein als Verbindung historischer Bilder bezeichnen, werden Sie da dem Don Carlos gerecht? Ich halte ihn für ebenso ‚geschichtlich‘ wie jenen. Den Absturz von geschichtlichen Bedingungen zu den pathologi­schen Abhängigkeiten finde ich nicht betont. In diesen aber im Gegen­satze zu der inneren Geschichtlichkeit Schillers treibt sich die moderne französisch-deutsche Dichtung umher. Als Dramatiker ist Kleist der Repräsentant. Doch genug solcher Einzelheiten. Lieber Freund, Sie neh­men ja durch solche Abhandlung Ner 4 dem guten Erich Schmidt4 die Existenzberechtigung als Mitglied der Akademie! Nun einiges Wenige über Ner 1–3. Entschuldigen Sie das Fragmentarische und Ungeordnete der Bemerkungen. Ich will aber nicht länger zögern ein Lebenszeichen zu geben und dies nicht ohne von Ihrer Abhandlung zu sprechen, die mich erfüllt. So habe ich nicht die Zeit zu arbeitsmäßiger Darstellung. Die Objektivität ist ein konstitutives Element des Bewußtseins, nicht das einzelne Objekt. Das naturwissenschaftliche Verfahren geht dem Postulat der Handlichkeit entsprechend von dem einzelnen Objekte aus, welchem gegenüber das Subjekt frei erscheint – schon Lockes Ausgangs­punkt. Ebenso ist die ‚Humanität‘ in dem Verstande eines Analogons zur Objektivität ein konstitutives Element des menschlichen Einzelbewußtseins – nicht der einzelne homo. Der Rapport zu diesem ist wenn er stattfindet, wenn der einzelne homo nicht nur Erscheinung bleibt, ein von jenem Verhältnisse her bestimmter, ein pri© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

558

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

märer. Nichts von Über­tragung hat hier statt, vielmehr unmittelbare lebendige Zugehörigkeit. Daher ‚bilden nicht äußere Wahrnehmungen die immer gegenwärtige Grundlage auch für die inneren‘ (p. 4).5 So findet ein besonderer Akt ‚der Verlegung eigener innerer Erfahrung in andere menschliche Körper nicht statt‘ (p. 11).6 Ein Solipsismus wie er da in Ansatz gestellt wird, ist eine Abstraktion, die an sich ein interessantes wohl zu erklärendes psychisches Phänomen ist. Daher ziehe ich dem Ausdrucke Gleichartigkeit den Ausdruck Zugehörigkeit vor. Weiter: So sind geistige Thatsachen nicht ‚an sinnlichen Objekten gegeben‘ oder vielmehr es ist dies ein ganz irrelevanter Bezug und ‚treten die geistigen zu den physischen Zustän­den nicht hinzu‘, ‚treten an den Körpern nicht auf‘ (p. 12).7 Oder viel­mehr diese rein okularen Bestimmungen sind irrelevant. Luther, Augu­stin, Paulus wirken auf mich gegenwärtig und körperlos. Die Wirkung ist eine unmittelbare und selbständige, welche mit der unwirksamen Reflexion daß ich ihren Körper würde sehen können, wenn sie noch leb­ten, nichts zu thun hat. Und daher sind ‚systematisch die Naturwissen­ schaften nicht Grundlage der Geisteswissenschaft‘ p. 13.8 Die geschicht­liche Wirkung von Person zu Person, wie sie auch zwischen Zeitgenos­sen, persönlich Bekannten stattfindet, ist nicht nur nicht ontisch sondern auch somatisch nicht bedingt. Wie diese Thatsache möglich, hat eine Kritik der Erkenntniß nachzuweisen. Eine kritische Erkenntnißtheorie hat den Vorgang des Erkennens, alles Erkennens, auch des naturwissen­schaftlichen zu untersuchen, Grenzen und Tragweite festzustellen und durch Feststellung der Competenz die vor dem Erkennen gelegene Lebendigkeit in ihr Recht zu setzen. Der naturwissenschaftliche Anspruch und Übergriff ist nur durch Nachweis der Relativität ihrer Postulate, der sekundären Natur ihrer Verhaltung dogmatisch zu wider­legen. Thatsächlich thut es Ner 4 Ihrer Abhandlung, wie jener durch das Schreiten die behauptete Unmöglichkeit der Bewegung widerlegte. – Ein anderes nun wie die historische Wirkung ist die Vollständigkeit der historischen Erkenntniß. Auch für diese ist das erste die Erfahrung der Wirkung von Leben auf Leben. Es kann jemand alle historische Bedingt­heit, das ganze milieu Cromwells9 kennen, und doch von Cromwell nichts wissen. Aber um ihn ganz zu erkennen bedarf es auch der Kenntniß sei­ner somatischen und seiner temporellen Bedingtheit. Diese Gebiete sind erkenntnißmäßige, die Erkenntnißseiten des durch lebendige Bewegung zu Erfassenden. Daß Leben allein das Organon für das Leben sei, haben Sie selbst ausgesprochen, aber an anderen Stellen auch andere Vermitte­lungen gelten lassen. Insbesondere das Verfahren der Vergleichung wird als Methode der Geisteswissenschaften in Anspruch genommen. Hier trenne ich mich von Ihnen. Sagen Sie doch selbst an einer Stelle, daß das Mittel der Vergleichung nur die somatische Seite der Sprache erfasse. Auch finde ich nicht, daß Vergleichung das historische Erkenntniß der Ner 4 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

559

erschlossen oder bewirkt hätte. Vergleichung ist immer aesthetisch, haftet immer an der Gestalt. Windelband weist der Geschichte Gestalten zu. Ihr Begriff des Typus ist ein durchaus innerlicher. Da handelt es sich um Charaktere, nicht um Gestalten. Jenem ist Geschich­te: eine Reihe von Bildern, von Einzelgestalten, aesthetische Forderung. Dem Naturwissenschaftler bleibt eben neben der Wissenschaft als eine Art von menschlichem Beruhigungsmittel nur der aesthetische Genuß. Ihr Begriff von Geschichte ist doch der eines Kräftekonnexes, von Kraf­teinheiten, auf welche die Kategorie: Gestalt nur übertragener Maßen anwendbar sein sollte. Sie exemplifiziren mehrfach auf die vergleichen­de Sprachforschung. Für die Wissenschaft der Sprache ist damit nichts erreicht als die Kenntniß des sprachlichen Soma. Diese Betrachtungs­weise hat die logischrhetorische abgelöst. Die psychologische Herkunft und der psychische Werth der Sprachtheile, der psychische Vorgang von Satz und Urtheil, die Erkenntniß von Subjekt und Prädikat – seit dem Kratylos10 ist dafür nichts geschehen. Und dieser Einblick in das Leben der Sprache ist der Vergleichung unzugänglich. Nun noch ein Anderes: Neben äußere und innere Erfahrung  – Ter­mini, über die ich nicht handeln will, um diesen Brief nicht allzu unförm­lich anschwellen zu lassen – stellen Sie (p. 13)11 als Ergänzung der letzte­ren die transszendentale Methode. Ich bekenne hier nicht folgen zu kön­nen. Die transszendentale Methode wirkte doch eine Somatisirung des Ontischen, eine Subjektivirung des Objektiven. Sie hob, wenn man so will, den Bereich des Objektiven auf, aber sie erweiterte doch nicht das Reich des Geistigen. Subjektiv ist nicht Geistig, wie Somatologie nicht Pneumatologie ist. Da als Bezugspunkt des apperzeptiven Vermögens das Ontische verblieb, wurde das Apperzeptions-Vermögen nicht berei­chert, es verbleibt der mechanische Faktor, eine dem Wesen nach natür­liche Potenz. Mit dem Character der Subjektivität ist doch das Gebiet des Geistes nicht berührt. Ich kann in jenem Dogma nur ein Theorem sehen, welches nicht wie ‚äußere‘ und ‚innere‘ Erfahrung eine Erkenntnißquelle sondern nur ein historisch bedingtes Erkenntnißresultat ist. – Doch nun zum Schlusse die Bitte um Nachsicht mit diesem wenn auch langen doch eiligen Briefe. Ich stecke noch in dem zweiten Bande von Wundts Logik. Ich bedauere, nicht mehr mathematische Kenntnisse zu haben. Wundt erinnert in der Art geistreicher Benutzung von Lesefrüchten außerhalb seines eigenen Forschungsgebietes sehr an Ihering. Die von Ihnen erwähnte Stelle im dritten Bande habe ich nach­geschlagen. Eine böse Absicht ist mir nicht erkennbar gewesen, wohl aber die naturwissenschaftliche Art oder Unart der Einzelbenutzung. Bei solchem Standpunkte und solcher Arbeitsschnelligkeit ist die Versen­kung in einen fremden großen Zusammenhang ausgeschlossen. Bitte, mich bei Versendung der Abhandlung nicht zu vergessen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

560

Richard Falckenberg an Dilthey

Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 122. 1 Yorck liest D.s ursprüngliche Abhandlung von 1895, die D. als „Fortsetzung der Ideen über beschreibende Psychologie“ am 25. April 1895 in der Berliner AdW vorgetragen hatte. D. hat sie dann unter Bezugnahme auf die scharfe Kritik H. Ebbinghaus’ an seinen Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (vgl. Brief [960]) in gekürzter Fassung unter dem Titel Beiträge zum Studium der Individualität veröffentlicht in: SB der königl. preuß. AdW. Berlin 1896, S. 295–335; WA (ergänzt um die 1896 nicht veröffentlichte ­Partien) in: GS V, S. 241–316. 2 Nicht überliefert. 3 Vgl. GS V, S. 273–303: „IV. Die Kunst als erste Darstellung der menschlich-geschicht­ lichen Welt in ihrer Individuation“. 4 Der Literaturwissenschaftler E. Schmidt war seit 1895 o. Mitglied der königl. preuß. AdW zu Berlin. 5 GS V, S. 244. 6 GS V, S. 249 f. 7 GS V, S. 251 f. 8 GS V, S. 252. 9 Oliver Cromwell (1599–1658): Lordprotektor von England, Irland und Schottland. 10 Ein Dialog Platons. 11 GS V, S. 252.

[959] Richard Falckenberg 1 an Dilthey Hochverehrter Herr Geheimrath!

Erlangen, 22. October 1895.

Mit größtem Missmuth habe ich gelesen, was gestern die „Zeitschrift für Psychologie“ über Ihre „Ideen“ gebracht hat.2 Ich hätte nie geglaubt, dass Ihre Intentionen so missverstanden werden, noch mehr: so schlechthin unverstanden bleiben könnten. Das Entscheidende: dass sich mit der Voranstellung des (freilich nie ganz übersehenen, aber auch nie voll gewürdigten) Grundphänomens des psychischen Zusammenhangs der ganze Aspekt verändert, wird von dem Kritiker gar nicht berührt! Leider war mir das Glück versagt, Sie bei meinem Besuche anzutreffen und Ihnen – unter dem unmittelbaren begeisternden Einflusse der eben beendigten Lectüre der Abhandlung – mündlich über meine Ein­drücke zu berichten. Ich hätte gern dem Verfasser, dem ich schon so manches Gütige verdanke, ins Auge geschaut. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Richard Falckenberg an Dilthey

561

Wenn ich diese allzu spät kommende Äußerung kurz und ungenau zusammenfassen darf: alles Positive in Ihren Darlegungen hat mich ge­packt und mir die Überzeugung eingeflößt, dass auf dem hier neu gewiesenen Wege Vieles sich wird erreichen lassen, was sich dem alten Betriebe immer entzogen haben würde. Nicht ganz so unbe­dingt vermochte ich dem negativen Teile zuzustim­ men. Denn das Meiste von dem, was dem Bearbeiter einer Geisteswissenschaft zu wissen noth thut von dem individuellen Seelenleben, hätte doch vielleicht auch der unvollkommenen Psychologie alten Stiles sich abgewinnen lassen. Dagegen sind die verfälschenden Einflüsse voraus ersonnener Theorien auf die psychologische Auffassung selbst beredt und schlagend dargeboten worden. Ob aber die neue Methode so sehr, wie Sie es hoffen, der Erklärungs­ versuche des Gegebnen werde entrathen oder sie zurückschieben können, war mir von vornherein zweifelhaft. Denn immer hatte Lotzes Meinung, dass man mit der bloßen Erfah­rung nicht weit komme (Met[aphysik] S. 472),3 mir rich­ tig ­geschienen. Gleichwohl erblicke ich in einer starken Verbreiterung der beschreibenden Grund­lage, die in Ihrem Sinne auszuführen wäre, einen unerläss­ lichen und vielversprechen­den Hebel für heilsame und durchaus notwendige Fortschritte. Verzeihen Sie diese höchst unzulänglichen Interjectionen, die ich zwischen die Linien eines so wohlerwogenen Baues einzuwerfen wagte. Das misstönende Echo, das so ganz ungleich dem Rufe, der es wirkte, aus dem vor lauter Bäumen sich selber nicht sehenden Walde heraus­schallte und das eines Scholastikers würdig ist, der das neue Organon mit dem „Nachweis“ wider­legt, dass schon Aristoteles die Induction gekannt habe, – erwirkte mir das Bedürfnis, Ihnen flüchtig aber herzlich ein Wort des aufrichtigsten Dankes zu sagen für die große Förderung, die mir die Lectüre Ihrer Abhandlung gewährt hat.

In wärmster Verehrung Ihr empörter und ergebenster R. Falckenberg

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl. 87–88; Erstdruck: Lessing, S. 226–227. 1 Richard Falckenberg (1851–1920): Philosophiehistoriker; 1887 a. o. Prof. in Jena, 1889 o. Prof. in Erlangen. 2 H. Ebbinghaus: Über erklärende und beschreibende Psychologie, in: ZPPS 9 (1896), S. 161–205; WA in: Materialien zur Philosophie Wilhelm Diltheys. Hg. von F. Rodi und H.-U. Lessing. Frankfurt / Main 1984, S. 45–87. 3 R. H. Lotze: System der Philosophie. Zweiter Teil: Drei Bücher der Metaphysik. Leipzig 1879. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

562

Hermann Ebbinghaus an Dilthey

[960] Hermann Ebbinghaus an Dilthey

Verehrter Herr Geheimrat.

Breslau, Kaiser Wilhelmstr[aße] 84 den 27 Oktober 1895.

Ich muß sehr um Entschuldigung bitten, daß ich auf die freundliche Zusendung Ihrer Arbeit über beschreibende Psychologie nicht eher geant­wortet habe. Aber der Grund ist wesentlich, daß Sie mir durch den Inhalt der Arbeit das Antwor­ten recht schwer gemacht haben. Auf soviel Unbilligkeit gegenüber der gegenwärtigen Psycholo­gie u. sowenig Klarheit darüber, daß das, was Sie den Leuten empfehlen, eben das ist, was die Leute längst treiben, war ich eigent­lich nicht vorbereitet. Auch nicht auf eine so ungenügende Würdigung der experimen­tellen Bestrebungen, wie sie unter der dünnen Decke eines etwas gezwungenen Wohlwollens doch überall durchscheint. Sie äußerten mir gegenüber einmal, daß Sie sich freuten, durch den Eintritt Stumpfs in die Berliner Fakultät Ihre Vorlesung über Psychologie glücklich loszuwerden. Ich sah darin das Zugeständnis, daß Sie sich in dieser kräftig wachsenden Disciplin, seit sie nicht mehr allein vom arm-chair aus betrieben werden kann, wie die Amerikaner sagen, nicht mehr recht zu Hause fühlten. Um so größer daher mein Erstaunen, daß Sie die Ihnen fremd werdende nicht in Ruhe sich selbst über­lassen, sondern noch in so umfassender Weise zu meistern suchen. Eine Auseinandersetzung mit Ihrer Arbeit, wie Sie sie wünschten, konnte sich nicht auf Einzelheiten beschränken, da ich eben das Ganze von Grund aus für verfehlt u. irreleitend halte. Es ist eine kleine Abhandlung daraus geworden.1 Ihnen nun diese bloß zu persönlicher Kenntnisnahme zuzusenden, schien mir nicht an­zugehen. Sie haben Ihre Gedanken zwar an einem sehr „stillen“ Orte veröffentlicht, insofern in den Akademie-Berichten ja 2 nicht gestritten wird, aber doch auch an einem sehr hervorragen­den, an dem die Menschen, namentlich seit den Hertz’schen Publikationen,3 Großes u. Neues suchen. Ich habe daher geglaubt, meinen Dissensus gleichfalls öffentlich aussprechen zu sollen, u. erlaube mir, Ihnen ein Exemplar der erst gestern erhaltenen Sonderabzüge meiner Arbeit beiliegend zu überreichen. Auf jeder Seite ist als ungeschriebenes Motto hinzuzuden­ken: res hic, non homines inter se certant,4 u. ich gebe mich der Hoffnung hin, daß meine Kritik, wie überhaupt, so auch ganz besonders von Ihnen in diesem Sinne verstanden werden möge. Mit besten Grüßen Ihr ergebener Ebbinghaus. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

563

Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl. 46–47 R; zudem ist der von Ebbinghaus geschriebene Brief hinterlegt in: Archiv des Instituts für Geschichte der Psychologie, Universität Passau, Ebbinghaus-NL , Kollegenbriefe, Nr. 64/2; Erstdruck: Lessing, S. 228–229. – G. Misch zitiert einige Stellen aus diesem Brief in: GS V, S. 423. 1 H. Ebbinghaus: Über erklärende und beschreibende Psychologie, in: ZPPS 9 (1896), S. 161–205. 2 In der Brieffassung, die im Ebbinghaus-NL hinterlegt ist, fehlt „ja“. 3 Vgl. H. Hertz: Ueber einen Einfluß des ultravioletten Lichtes auf die elektrische Entladung, in: SB der königl. preuß. AdW zu Berlin vom 9. 6. 1887; Ders.: Ueber Induk­ tionserscheinungen, hervorgerufen durch die elektrischen Vorgänge der Isolatoren, in: SB vom 10. 11. 1887; Ders.: Ueber die Ausbreitungsgeschwindigkeit der elektrodynamischen Wirkungen, in: SB vom 2. 2. 1888; Ders.: Ueber Strahlen elektrischer Kraft, in: SB vom 13. 12. 1888. 4 Die Sache hier, nicht die Menschen unter sich streiten.

[961] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Klein-Oels den 3. Novemb[er] [18]95.

Endlich finde ich ein Stündchen freier Zeit zur Beantwortung Ihrer beiden letzten Briefe.1 Den mir überschickten Aufsatz von Ebbinghaus habe ich zu nächtlicher Zeit gelesen und er hat mir eine schlechte Nacht bereitet. Auch wenn man zurückgeht bis zu dem Streite Jacobi-Schelling2 findet man nicht ein derartig gehässiges  – unqualifizirbares  – Vorge­hen. … Mein erster Eindruck war: gar nicht antworten, sondern gelegent­lich einer Arbeit kühl und objektiv die Einwendungen besprechen und richtig stellen. Dann aber erschien es mir doch erwünscht daß Sie in dem Archiv eine besondere Antwort geben, allerdings gleichfalls in eisig scharfem objektiven Tone. Eine kalte ein für alle Male gegebene Zurückweisung der schulmeisterlichen Überhebung und dann zur Sache. Was nun die Sache betrifft, so würde sie ganz einfach sein, wenn nicht in dem ersten Theile Ihrer Abhandlung an einzelnen von E[bbinghaus] vereinzelt herausgehobenen Stellen Sie dem Assoziationsprinzipe Conzessionen gemacht hätten, die ich schon bei meinen schriftlichen Äußerungen über das Druck­bogenexemplar erwähnt habe. Es sind die Stellen, welche eine Vereinbarkeit, eine gegenseitige Ergänzungsfähigkeit der descriptiven (lieber ana© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

564

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

lytischen) und der erklärenden (lieber konstruktiven) Methode einräumen. Mein Wunsch war damals, daß eine schärfere Grenzlinie gezogen würde zwischen jenen beiden Methoden, welche, wenn auch beide analytisch, wenn gleich mit verschiedenen Mitteln, doch dadurch sich unterscheiden, daß die eine die Tendenz der Construktion hat. Ihre allgemeine Tendenz, von der wie von dem histori­schen Zusammenhange E[bbinghaus] keine Ahnung hat, ist die des Machens. Dem gegenüber sprechen Sie es aus, daß das Bewußtsein nicht hinter sich selbst zurückgreifen könne. Die mechanistische Tendenz postu­lirt die Annahme von Einzelvorstellungen, Einzelempfindungen. Wenn E[bbinghaus] meint, daß Herbart3 von Ihnen getroffen werde, nicht aber die Assozia­tionspsychologen, so irrt er durchaus. Der unterscheidende metaphysische Intellektualismus Herbarts ist hierfür ganz irrelevant. Das Gemeinsame und Wesentliche ist die Vereinzelung der psychischen Vorgänge. Dieser Differenzpunkt ist E[bbinghaus] nicht klar geworden. Wenn er in seiner fre­chen Weise p. 192 [S. 74]4 sagt: Dilthey hält die Erklärungsmittel und den Er­k lärungsgegenstand nicht scharf genug auseinander, und wenn er nun als Erklärungsgegenstand, nicht Mittel, den lebendigen Zusammenhang bezeichnet, so hat er den Sinn Ihrer Ausführung gar nicht erfaßt. Gera­de der Zusammenhang ist das Erklärungsmittel. Und dies der funda­mentale Gegensatz gegen E[bbinghaus]’ Ansicht, der den Zusammenhang induktiv erst finden will. Wie Induktion zu der Annahme eines Zusammenhangs führen könne, ist nicht einzusehen. Aus ihr könnte sich immer nur ein Mit- und Nacheinander ergeben, wie auch Assoziation nichts anderes ausspricht. p. 192 [S. 75] sagt E[bbinghaus] der Strukturzusammenhang wird nicht erlebt, er ist nicht lebendigste Erfahrung.5 Woher wird er dann erschlossen? Woher frage ich wird dann seine Kenntniß gewonnen? Abhängigkeiten werden primär erfahren, sonst könnten sie nicht erreicht werden, von einer Methode aus, die alogisch nur ein Nebeneinander kennt. Alle der Phy­sik, insbesondere der Chemie entnommenen Tropen: Anziehung, Ver­schmelzung der Einzelempfindungen setzen das Zusammenhangserfahrniß voraus. Assoziationen sind an sich begriffliche Übertragung der strukturellen Zugehörigkeit. Der Assoziations­ gedanke entnimmt seine ganze Kraft der mechanistischen Tendenz. An sich hätte er nie eine Werthung erfahren. Sie sind Postulate des Experiments im engeren Sinne. Ich hätte gewünscht Sie hätten die Bedeutung der konstruktiven (erklä­renden) Psychologie beschränkt auf das Gebiet der experimentellen Psychologie. Diese hat eine eigene Domaine, im Wesentlichen die Ermit­telung der somatischen Abhängigkeiten und zeitlichen Verhältnisse der einzelnen psychischen Funktionen. Will sie mehr, so überschreitet sie die Grenzen der Wissenschaftlichkeit. Geht sie fort zu einer Bestimmung der Wesenhaftigkeit, so wird sie, wie die Assoziationspsychologie in ihrem Ansatze von © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

565

sich rufen­den und abstoßenden Einzelempfindungen metapsychisch, meta­ physisch, der Gravitationsgedanke ist das Dogma, das Ideal Einheit der Bewegung. Da liegt nun ein logisches Mißverständniß des s. g. Gesetzes von der Erhaltung der Kraft zu Grunde. Wärme, Licht, Elektrizität sind nicht bloße Bewegung, sondern der Begriff der Bewegung ist das Mittel sie in Gleichung zu setzen. Art ist nicht bloß genus. Grenze der Qualifikation, der Quantifizirbarkeit ist Selbstbesinnungsresultat. Hierbei bemerke ich als Gegenstand künftigen Gesprächs: das Verhältniß zwischen allgemeinem Gesetz und besonde­ren Gesetzen ist gar nicht das von Gattung und Art. Doch davon, wie gesagt, ein andermal. Ebbinghaus verwahrt sich dagegen, daß die modernen Psychologen die Einheit oder vielmehr die Einheiten des Bewußtseins mißkennten. Um die Einheit aber handelt es sich nicht, Einheit ist auch das Atom, sondern um den Zusammenhang dieser Einheit. So polemisirt er an fal­scher Stelle. Also: auf die wissenschaftliche Hauptsache, auf die Hauptposition würde ich die Antwort, die alle Ungezogenheiten zunächst mit kurzem Worte abweist, konzentriren. Ich folge nun nach der Seitenzahl der E[bbinghaus]schen Besprechung indem ich diejenigen meiner Anmerkungen, die das häufige Wort: frech zum Inhalte haben, fortlasse sowie oben im Allgemeinen schon Erwähntes. p. 163 [S. 47]. Selbigkeit ‚vermuthlich das Selbstbewußtsein gemeint‘. Nein sondern ein Charakter desselben. p. 172 [S. 55]. ‚Die beschreibende Psychologie will wohl dasselbe wie die erklärende‘. Nein. Denn sie will nicht konstruiren. p. 172 [S. 55]. ‚Eine solche konkrete Behandlung hätte zur Hauptsache gemacht werden müssen‘. Mißverständniß der ganzen Tendenz, die darin besteht den methodi­schen Ausgangspunkt zu finden und klar zu stellen. p. 173 [S. 56]. ‚Statt ein einzelnes schwieriges Problem etc.‘ Wie vorstehen­ des wissenschaftlich falsch gesehen von jemandem, der nur Einzelunter­ suchungen kennt, weil er nur Einzelannahmen macht. p. 173 [S. 56]. ‚Das eigentlich Psychologische bietet nirgends etwas Neues von eigenem Belang‘.6 Abgesehen von der Ungezogenheit ein Zeichen, daß E[bbinghaus] nur Einzelheiten kennt. p. 173 [S. 57]. am Ende: Mißverstand des Begriffs des Strukturzusammen­ hangs. p. 177 [S. 60]. ‚Solche Dinge wie räumliches Ausgedehntsein etc.‘ Wer sind die Psychologen die sie nicht als Composita ansehen? Wer sind die Psycho­ logen die nicht Bedingungen als Faktoren fassen? p. 178 [S. 61]. Hat Taine die Einheit des Ich nicht als bloße Bündelvereini­ gung gefaßt? Das ist doch einfach aus de l’intelligence zu beweisen.7 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

566

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

p. 178 [S. 61]. letzter Satz zeigt daß E[bbinghaus] gar nicht begriffen hat, was Sie wol­len. p. 181 [S. 64]. Unkenntniß des historischen Traktus, der Alles auf Empfin­ dung radizirt. Dies Merkmal rechtfertigt die Äußerung über die begrenz­te Zahl von Elementen. p. 181 [S. 64]. Nativismus bezeichnet den Ursprung und bestimmt nichts über die Zerlegbarkeit. Irreduktible ist ein anderes, man müßte denn den Nativismus in das Stadium des fetus verlegen. p. 186 [S. 68]. ‚Die Wissenschaftlichkeit der Naturforscher ganz unabhän­ gig von der Hypothese der mechanischen Erklärbarkeit‘. Nach der Ten­denz der Naturwissenschaft, die als mathematisch nur sich wissenschaft­lich nennt und will, eine falsche, beweislose Behauptung. p. 186 [S. 68]. Schlußsatz der Nummer III. Der Mann verwechselt sich mit der modernen Psychologie. p. 190 [S. 72]. ‚Das zunächst an der Eidechse Gefundene überträgt sich unter Anderem auch auf meine eigene Seele‘. Gründlich falsch und ins Gegen­ theil des Gewollten verkehrt. Vielmehr das Verhalten der Eidech­se, in so fern Causalzusammenhang in Frage, meiner „eigenen Seele“ entnommen. p. 190 [S. 72]. ‚Die Entwickelung des Seelenlebens kann nur aus anderswo Erlebtem errathen werden.‘ Falsch und bloße Behauptung. Gerade das Gegentheil haben Sie dargelegt. p. 190 [S. 72]. ‚Ich frage nur mit größter Verwunderung‘ etc. Er fragt weil er gar nicht begriffen hat, daß im Gegensatze zu den Assoziationisten Sie von dem Ganzen des Erlebnisses als Organon des Verstehens ausgehen. p. 191 [S. 73]. Nicht aus sonstigen Erfahrungen bei Königen pp. sondern primär aus meiner Motivmöglichkeit verstehe ich Könige und dann Napoleon. p. 191 [S. 73]. ‚D[ilthey] konstruirt aus Theilinhalten einen Zusammenhang, wel­cher als solcher in dieser Wirklichkeit nicht vorkommt‘. Wenn er in dieser Wirklichkeit nicht vorkäme, wäre die Construktion falsch. E[bbinghaus] meint, welcher in dieser Wirklichkeit nicht sichtbar vorliegt. Der Zusammenhang wird aber nicht von D[ilthey] konstruirt, sondern empfindend das Nichtsichtliche ergänzt aus dem eigenen transponirten Zusammenhang und nicht von Theilstücken aus, sondern aus dem eigenen Zusammenhang an der Hand der ‚Theilstücke‘ von welchen jedes die Marke des lebendigen Zusammenhangs gleichsam als psychische Orts- und Werthsbestimmung an sich trägt. Damit auch das p.  193 [S. 75] über das Errathen des Zusammenhangs falsch und mechanistisch Gesagte und erledigt. p. 194 [S. 76]. ‚Privilegium des richtig Errathens‘. Nur der Erfolg, der psychische Tiefblick der sich selbst Beweis giebt, verbürgt historisch-psychisches Verstehen. Denn Logik und Experiment tragen nicht weiter wie das Somatische. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

567

p. 195 [S.77]. ‚Sie übt seit lange das Verfahren das D[ilthey] empfiehlt.‘ Folge des radikalen Mißverständnisses der Absicht D[ilthey]s, aus welchem Miß­ verständnisse sich auch die weiteren Bemerkungen, insbesondere ‚D[ilthey]s Polemik durchaus gegenstandlos‘ erklären. p. 199 [S. 80]. Erkenntniß ist eben nicht = Construktion. p. 2018 [S. 81] ‚Physiologie blüht und gedeiht“ weil sie eben einem anderen Geschlechte (logisch) angehört als Psychologie. So erscheint dem Verf[asser] natürlich seine Psychologie als in bester Ordnung, p. 202 [S. 83]. p. 203 [S. 84]. Hier muß ich denn doch die Frechheit der Bemerkung, wonach Ihre Arbeit Fernerstehenden schädlich sei, betonen. p. 204 [S. 85]. Daß9 der Mensch der Geschichte pp. ein anderer sei als der der Psychologie – von wem wird dies behauptet? Bodenlose Trivialität. Doch genug des Unerfreulichen. Zum Schlusse wünsche ich Heiterkeit und olympische Ruhe. In Eile und Treue der Ihre Yorck. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 123. 1 Nicht überliefert. 2 Gemeint ist der sog. „Pantheismusstreit“ um die Wende des 18./19. Jahrhunderts, der durch Jacobis Buch Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn (1785) ausgelöst wurde. Auf das Buch F. H.  Jacobis Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (1811), das gegen Schelling gerichtet war, reagierte dieser 1812 mit seiner Schrift F. W. J. Schellings Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen etc. des Herrn Friedrich Heinrich Jacobi und der ihm in derselben gemachten Beschuldigung eines absichtlich täuschenden, Lüge redenden Atheismus. 3 Der Philosoph, Psychologe und Pädagoge Johann Friedrich Herbart (1776–1841). 4 Hier und nachfolgend sind die Seitenzahlen des WA des Ebbinghaus-Aufsatzes (vgl. Brief [959], Anm. 2) ergänzt. 5 Gegen diesen Einwand Ebbinghaus’ und dessen gesamte Kritik der Ideen verteidigt sich D. in einer Anmerkung zu seinen in den SB der königl. preuß. AdW zu Berlin im Jahre 1896 abgedruckten und am 12. März 1896 erschienenen Beiträgen zum Studium der Individualität, S. 295–335, hier S. 297 ff., Anm. 1; WA in: GS V, S. 238 ff. 6 H. Ebbinghaus schreibt: „einigem Belang“. 7 H. Taine: De l’intelligence. 2 Bde. Paris 1870. 8 In BDY: „p.120“. 9 In BDY: „Das“.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

568

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

[962] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg   Lieber Freund,

[4. November 1895]1

Ich lege mir meine Antwort nun zurecht. … Sie haben Hume, die Mills2 viel genauer als ich gelesen. Könnten Sie mir nicht zum Nachweis des construktiven, auf Machen gegründeten Gedankens der Associationspsychologie und zur Widerlegung von Ebb[inghaus] 179–186 [S. 62–69] Einiges aus dem Schatz Ihrer Anmerkungen senden? Wie man ohne die Annahme das Produkt in die Faktoren auflösen also diese darin vorhanden finden zu können (nach causa aequat effectum) die Probe irgend einer Hypothese der Associationspsychologen soll machen kön­nen ist mir un­erfindlich. Dringende Geschäfte der Kantausgabe belasten mich ebenfalls gera­de jetzt. Eiligst und treulichst Ihr W. Dilthey Dienstags Wie schön wäre es, und wie gut thäte es mir, und vielleicht auch Ihnen, kämen Sie auf ein paar Tage. … [Briefschluss fehlt.] Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 124. 1 In BDY: „[Zwischen 3. und 10. Nov. 1895.]“. – Der 4. November 1895 war ein Dienstag. 2 John Stuart und James Mill.

[963] Alfred Heubaum an Dilthey Hochgeehrter Herr Prof[essor]!

7.11. [18]95.

Hier schicke ich Ihnen, was sich, wie mir scheinen will, aus Hartley1 verwenden läßt zwar nirgends klipp u. klar der Ausspruch, daß sich aus einer begrenzt[en] Zahl von Elem[enten] die seel[ischen] Erscheinungen ableiten lie© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Alfred Heubaum an Dilthey

569

ßen, aber doch im einzelnen fraglos zu erkennen u. zweifelsohne von Hartl[ey] so beabsichtigt. Seine Analyse bedeutet nichts weiter als eine Auflösung in die ihm apriori feststehenden Elemente, sein Verfahren ist also trotz gegenteiliger Äußerungen deduktiv. Er bedient sich auch mit Vorliebe selbst dieses Ausdrucks. Daß seine Methode der Naturwiss[enschaft] entnommen, zeigt seine Be­ merk[un]g über Newton, der besonders im Anfang des Werkes über die Vibrationen (freilich eine physiol[ogische] Sache) fortwährend wiederkehrt. Deutlicher spricht sich der Übersetzer Jourain2 aus über das Bestreben, aus einem Prinzip die Erscheinungen des Seelenlebens zu erklären. Hat man dies im Auge, so ist das Geschrei unklar, daß Herbart als Repräsentant der er­ klärenden Psychol[ogie] fungiere, von wem er sich auch in der Methode u. im Prinzip von allen unterscheide, von Hartley in der Sache sicher nicht. Das „deduktiv“ hat E[bbinghaus] nicht verstehen wollen, er nimmt es im Sinne einer aus metaphys[ischen] Axiomen sich entwickelnden Ableit[un]g. Als wären nicht jede aus Fragen wo anders her entnommenen Prinzipien u. Methoden, die nicht dem einzelnen Wesen des zu analysierenden Gegenstandes entsprungen sind (diesen in Ihrer Arbeit liegenden Grundgedanken hat er gar nicht erfaßt), auch deduktiv zu nennen. Ich erwarte kurzen Bescheid im Laufe des morgigen Tages, ob ich in diesem Sinne den Priestley,3 um den ich jetzt gehe, betrachten soll.4 Mit vorzügl[icher] Hochacht[un]g ergebenst Heubaum Markusstr[aße] 51. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 154, Bl. 32–33 R. 1 David Hartley (1705–1757): engl. Philosoph und Psychologe; Begründer der Assoziationspsychologie. Hauptwerk: Observations on Man, His Frame, His Duty and His Explications. 2 Bde. London 1749; dt. Übers.: D. Hartley’s Betrachtungen über den Menschen, seine Natur, seine Pflichten, seine Erwartungen. Mit Anmerkungen und Zusätzen. Hg. von H. A. Pistorius. 2 Bde. Rostock 1772–1773. 2 D. Hartley: Coniectura quaedam de motu, sensus et idearum generatione. London 1746; franz. Übers.: Explication physique des sens, des idées et des mouvements, tant volon­taires qu’involontaires, traduite d’Angloais de M. Hartley, M. A. par l’Abbé Jourain, professeur de mathematiques à Reims, correspondant de l’Académie des sciences. 2 Bde. Reims 1755. 3 Joseph Priestley (1732–1804): engl.-amerik. Theologe, Philosoph und Physiker. 4 Beigelegt sind dem Original Exzerpte aus Werken Hartleys von der Hand Heubaums (Bl. 30–31 R und Bl. 34–34 R). © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

570

Alois Riehl an Dilthey

[964] Alois Riehl an Dilthey Verehrter Freund!

Freiburg i. B. d[en] 7. Nov[ember] 1895.

Ohne Ihr Schreiben1 hätte ich den Artikel, den Ebbinghaus gegen Ihre Abhandlung gerichtet hat, nicht so bald gelesen. Denn auch vor der Erfahrung konnte man wissen, daß ein Vertreter der von Ihnen in ihre Schranken ge­ wiesenen „erklärenden“ Psychologie zum Gegenangriff schreiten werde, um sich zu verteidigen. Nachdem ich den Artikel gelesen, verstehe ich, daß sein Ton Ihr gerechtes Mißfallen erregen muß. Der Sache nach aber finde ich darin eine unfrei­willige Anerkennung der Stärke Ihrer Position. Ebbinghaus, weil er nichts gegen Ihre Forderungen einwenden kann, sucht den Anschein zu erwecken, als seien dieselben den Vertretern seiner Richtung bekannt und von ihnen auch befolgt. Einem Hauptpunkt, den Sie durch die Betonung der Eigenart des Psy­ chischen geltend machen, ist Ebbinghaus zweimal (177 [S. 60]: … Gewalt­ tätigkeiten in den seelischen Einheiten … 202 [S. 83]: mangelhafte Behandlung der psych[ischen] Einheitsbildungen)2 mit halben Zugeständnissen aus dem Wege gegangen. Zu erinnern war dagegen Nichts; daher die Versicherung: gegenwärtig sei hierin alles in bester Ordnung. – Eine Widerlegung Ihrer Ansichten ist schon deshalb in dem Artikel nicht enthalten, weil der Verfasser gerade Ihren wesentlichen Einwendungen nicht Rede steht. Sie haben gezeigt, daß die „Erklärungen“ der experimentellen Psychologie gar nicht psychologisch sind, sondern physiologisch (S. 28),3 und Sie haben erwähnt, daß wo von den Experimenten ein psychologischer Gewinn erzielt wird, dieser nicht der „Erklärung“, sondern gerade der „Beschreibung“ zu Gute kommt. In beiden Punkten habe ich längst die nämliche Anschauung gewonnen, ja ich halte die ganze sogenannte physiologische Psychologie im Grunde für eine psychologische Physiologie für das indirecte Studium physiologischer Prozesse nach den psychologischen Symptomen. Dahin gehören wenigstens die Arbeiten von Kries und Exner.4 Ob Sie nicht dem Artikel zu viel Ehre erweisen, wenn Sie erwidern, vermag ich nicht zu sagen, aber auch meine Bedenken nicht zu unterdrücken. Daß sich Avenarius, dem ich von Ihrem Wunsche sogleich Mitteilung ­machen will, freuen wird, Ihnen die Vierteljahresschrift,5 die ja gerade für die descriptive Psychologie eintritt, zur Verfügung zu stellen, weiß ich im voraus. Wäre ich nicht in dringenden Arbeiten begriffen, möchte ich wohl selbst die uns Alle berührende Frage der Stellung der modernen Psychologie in I­hrem © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Wilhelm Wundt an Dilthey

571

Sinne behandeln. Der Artikel von E[bbinghaus] scheint mir allerdings nur geschrieben zu sein, weil der Autor nichts anderes zu schreiben wußte. Damit hat er sich sicher nur selbst geschadet! Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus bleibe ich Ihr A. Riehl. Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl. 84–85 R; Erstdruck: Lessing, S. 229–230. 1 Nicht überliefert. 2 S. 177 [S. 60]: „In einem lebhaften Gefühl für diese Gewaltthätigkeiten an den see­ lischen Einheiten und in der Reaktion gegen sie wurzelt die Polemik Diltheys; sie ist somit in ihrem allgemeinen Charakter eine durchaus berechtigte Regung.“ – S. 202 [S. 83]: „Wie oben gleich zu Eingang der Kritik anerkannt wurde, bildet die eigentliche Grundlage der Diltheyschen Ideen ein berechtigter Gedanke, die lebhafte Reaktion gegen die mangelhafte Behandlung der psychischen Einheitsbildungen seitens der älteren Psychologie.“ 3 Vgl. GS V, S. 166. 4 Johannes von Kries (1853–1928): Psychologe, Physiologe und Logiker; 1880 a. o., 1883 o. Prof. in Freiburg; Mitbegründer der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. – Siegmund Exner (1846–1926): österr. Physiologe; 1875 a. o., 1891 o. Prof. in Wien. 5 Richard Avenarius (1843–1896) gab die Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie seit 1877 im Zusammenwirken mit M. Heinze und W. Wundt heraus.

[965] Wilhelm Wundt an Dilthey Hochgeehrter Herr College!

Leipzig, 8. Nov[ember] [18]95.

Besten Dank für Ihre freundliche Zusendung. Ich habe natürlich den Aufsatz von Ebbinghaus sogleich unter Mitberücksichtigung des Umstandes gelesen, daß sein Standpunkt dem des „psycho-physischen Materialismus“ näher stehe als dem meinigen, und daß davon auch seine Polemik gegen Sie ihre besondere Färbung erhalten hat. In der That bestätigt das durchaus die Vergleichung der Stellen, auf die Sie mich aufmerk­sam machen. In Betreff Ihrer Ausführungen auf S. 28 f.1 Ihrer Abhandlung möchte ich mir nur eines zu bemerken gestatten. Es ist richtig, daß ich erst im Laufe der © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

572

Wilhelm Wundt an Dilthey

letzten Jahre versucht habe, die specifischen Merkmale der „psychischen Causalität“ – so weit ich sie zu erkennen glaube – aus dem Material der psychologischen Betrachtungen herauszuarbeiten. Also wenn Ihre Bemerkungen die Vermuthung erwecken können, daß ich früher im wesentlichen selbst auf jenem von mir jetzt bekämpften Standpunkte gestanden hätte, so würde das nicht richtig sein. Gerade die schöpferische Synthese bei der Bildung der Gesichtsvorstellungen (S. 29 Ihrer Abh[andlung])2 habe ich schon in der 1. Aufl[age] der „Physiol[ogischen] Psychol[ogie]“3 hervorgehoben, ebenso auf den Begriff der Apperzeption und der apperzeptiven Verbindungen gegenüber den Associationen Werth gelegt. Auch über den „psycho-physischen Parallelismus“ habe ich mich in dem Aufsatz „Gehirn und Seele“ der eine Reihe von Jahren vor der Veröffentlichung in den Essays in der Deutschen Rundschau erschien,4 genau im selben Sinne wie heute ausgesprochen. Doch ist das ja unerheblich. Im übrigen freue ich mich aufrichtig aus Ihren Auseinander­setzungen zu entnehmen, daß Sie den Unfug, der jetzt so vielfach mit dem „psycho-physischen Parellelismus“ als einzigem Erklärungsprinzip der Psychologie getrieben wird, ebenfalls miß­ billigen.  – Zufällig wird gerade in nächster Zeit ein hier einschlagender Aufsatz von mir in den Philos[ophischen] Studien er­scheinen,5 den ich nicht verfehlen werde Ihnen, sobald ich ihn erhalte, zuzusenden. In aufrichtiger Hochachtung Ihr W. Wundt Original: Hs.; ABBAW, Dilthey-NL , Fasz. 170, Bl. 81–82 R; Erstdruck: Lessing, S. 231–232. 1 Vgl. GS V, S. 166 f. 2 Vgl. GS V, S. 167. 3 W. Wundt: Grundzüge der physiologischen Psychologie. Leipzig 1874. 4 W. Wundt: Gehirn und Seele, in: DRS 7 (1880), S. 47–72; WA in: Ders.: Essays. Leipzig 1885, S. 88–126. 5 W. Wundt: Über die Definition der Psychologie, in: Philos. Studien 12 (1896), S. 1–66.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

573

[966] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Kleinöls den 10.11. [18]95.

Im Augenblicke bin ich hier mannigfach durch Geschäfte in Anspruch genommen, habe daher Mill und meine Anmerkungen noch nicht nach­sehen können. Ob sich übrigens wörtliche Zugeständnisse, daß assoziative Vereinzelungen postulirt seien von der Construktionstendenz, daß diese den Rechtsgrund abgebe für die Annahme von Einzelvorstellungen, Einzelempfin­ dungen, die Behufs der Möglichkeit der Verbindung die Neigung sich zu verbinden erhalten müssen, vorfinden, ist mir zweifelhaft. Das philosophische Motiv bleibt ja meistens der Unterstrom. Nur aus ihm aber erwächst Erkenntniß. Wer das Motiv nicht sehen will und kann, ist eben blind zu belassen. Aus meiner Geschäftslage folgt auch, daß ich nicht angeben kann, wann ich auf ein paar Tage zu Ihnen komme, was ich in Folge Ihrer heu­tigen Zeilen zu thun beabsichtige. … Die Berliner Wohnungsfrage ist übrigens nach der positiven Seite erledigt. Wir haben ein hübsches Quartier in Ihrer Nähe, Nürnbergerstraße, vom 1. Januar bis 1. April genommen. Bücher sende ich zur Zeit per Fracht voraus und freue mich auf eine der Landwirthschaft ferne Existenz und gemeinsame Gedankenarbeit. Somit hoffentlich auf baldiges wenn auch kurzes Wiedersehen! Wie­der schließe ich mit dem Wunsche der Heiterkeit, die sich einstellen muß, wenn Sie die Einheitlichkeit Ihrer ganzen Lebensarbeit sich vor Augen halten einem einzelnen, geistig minderwerthigen Angriffe gegenüber. Angriffe mußten kommen, ein neues Prinzip fordert sie heraus. Und ich denke es wird sich gerade aus dem Streite heller, bestimmter und radikaler herausheben. Stets in Treuen der Ihre Yorck1 Wieder eine neue Zeitschrift: für immanente Philosophie!2 Hineinge­sehen. Nichts. Mit halben Gedanken darauf los geschrieben. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 125. 1 Die Grußformel wurde aus den Korrekturbögen (Juni–August 1923) von BDY ergänzt. 2 Zeitschrift für immanente Philosophie 1 (1895) – 4 (1899/1900). Hg. unter Mitwirkung von W. Schuppe und R. von Schubert-Soldern von M. Kauffmann. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

574

Dilthey an Hans Vaihinger

[967] Dilthey an Hans Vaihinger Lieber Herr College!

Berlin, den 15ten XI. 1895. W[est] Burggrafenstr[aße] 4. II.

Sie können denken, wie sehr schmerzlich mir Ihr Brief 1 gewesen ist. Ich habe denselben der Commission mitgeteilt und sie teilt mein aufrichtiges Bedauern über Ihre Erklärung. Nach Ihrer bestimmten Zusage im Sommer hatten wir uns ganz darauf eingerichtet, durch Ihre Thätigkeit die Sache auf ’s Beste arrangiert zu wissen. Die Papiere sind aus Dorpat gekommen, nun stehen wir vor neuen Entschliessungen. Auch dürfen wir uns nicht verhehlen, dass durch diesen Verlauf die weiteren Verhandlungen erschwert sind. Ob bei den beschränkten Mitteln der Akademie die Verhandlungen mit Herrn Dr. Adickes zu ei­nem erwünschten Ergebnis führen werden, ist nach der früheren Besprechung mit demselben mir recht fraglich, denn eine völlige Loslösung desselben von der Schule liegt nicht in den Grenzen des Möglichen. So würde sich fragen, ob überhaupt eine Einrichtung gefunden werden kann, welche ihm und der Sache entspricht. Ich halte immer noch an der Hoffnung fest, dass, wenn andere Wege, die wir versuchen nicht zum Ziele führen, Sie uns nicht im Stiche lassen, denn auch Ihrem Verleger muss doch mehr daran liegen, dass Ihrem Kant­ commentar2 die neuen Er­gebnisse zu gute kommen, als dass derselbe bald fortgesetzt wird. So viel heute, wo meine Zeit knapp ist.

Mit freundlichen Grüssen der Ihrige Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; Diktat D.s von der Hand P. Menzers mit eigenhändiger Unterschrift D.s; StUB Bremen, HA , Autograph XXI, 6: h, Nr. 5. 1 Nicht überliefert. 2 H. Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zum hundertjäh­ rigen Jubiläum derselben herausgegeben. Bd. 1. Stuttgart 1881; Bd. 2. Stuttgart, Berlin und Leipzig 1892.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

575

Dilthey an Wilhelm Wundt

[968] Dilthey an Wilhelm Wundt [Mitte November 1895]

An Wundt.1

Mancher Zweifel, z. B. über den stetigen Zusammenhang des ganzen Seelenlebens, wie ihn Ihre Aktualitätslehre voraussetzt, über die von Ihnen ange­ gebenen Merkmale der verwerflichen psychologischen Hypothesen, erlaube ich mir vielleicht einmal Ihnen brieflich vorzulegen, wofern der von Ihnen angekündigte Grundriß2 sie mir nicht hebt. In Anmerkung habe ich die Erwiderung auf die systematisch psycholo­ gischen Einwände von Ebbinghaus gegeben,3 dagegen die gegen meine histo­ rische Darstellung fordert mehr Raum, und die erforderlichen Bücher waren mir hier nicht zur Hand. So werde ich sie für sich geben. Dem von Ihnen geäußerten Bedenken, daß ich die Übereinstimmung Ihres Standpunktes von Ihren ersten Schriften ab verkannt habe, werde ich natürlich, sobald ich in Muße unter meinen Büchern das kann, genau nachgehen und das Erforderliche berichtigen. Auch begegnet mir von Unbefangenen der Vorwurf, daß ich meine Sonderstellung zu stark betont hätte. Es muß also hier ein Mangel meiner Darstellung vorliegen. Ich war ganz von der besonderen Aufgabe der Abhandlung4 hingenommen, die Form einer vom Strukturzusammenhang ausgehenden analytischen Psychologie, welche sich bis auf einen gewissen Grad der Allgemeingültigkeit nähern könne, zu entwickeln. Die sachlichen Hauptgedanken über Totalität des Willens, das Teleologische in der Struktur, die Erzeugung neuer Werte durch diese, das Lebendige und Schöpferische in der Reproduktion hatte ich ja seit dem ersten Bande der Einleitung öfters berührt[;] nur um die Methode in der sie verbunden werden können, war es mir zu thun. Auch um eine allgemeine Diskussion der Standpunkte in der Psychologie handelte es sich mir an dieser Stelle gar nicht. Von meinem methodischen Gesichtspunkte aus hatte ich es nur mit dem Gegensatz der construktiven und der analytischen Psychologie zu thun. Nun hatte ich schon durch die Wahl der S. 25 von mir ausdrücklich vorgezogenen Bezeichnung constructiv statt erklärend viel Mißverständnisse vermieden. Es ist mir weiter zwar deutlich, daß ich unter der construktiven Psychologie die Associationspsychologie, die Schule H ­ erbarts, die Materialisten und die ihnen verwandten Theoretiker der psychischen Begleiterscheinungen in meinem dritten Kapitel verstehe und bekämpfe. Daß ihr gemeinsamer geschichtlicher Character, methodisch angesehen, construc­tives Verfahren auf Grund von analytischen Befunden © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

576

Dilthey an Wilhelm Wundt

und Hypothesen ist, glaube ich beweisen zu können. Nachdem ich dann aber S.  286 gefragt, wie diese Psychologie durch Ihre Arbeiten, dann James und Sigwart unmöglich geworden, wäre ich verständiger gewesen, wenn ich nun zwischen dem 3.  u. 4.  Kapitel (p.  30)7 nachzuweisen versucht hätte, welche Beziehungen zwischen Ihren Arbeiten sowie dem Buch von James8 und meiner analytischen Behandlung der Psychologie wie ich sie skizziere, bestanden. Die Scheu, an fremde Arbeiten die eignen Intentionen hineinzuinterpretieren hielt mich ab, und auch jetzt weiß ich noch nicht, wie weit und an welchen Punkten Sie eine Verwandtschaft meiner methodischen Ansicht mit dem Ductus Ihrer Arbeiten anzuerkennen vermöchten. Aber viel übler wäre freilich, wenn Sie fänden, ich hätte die vorhandene Verwandtschaft nicht anerkannt, denn ich betrachte es als ein besonderes Glück meines Lebens, daß ich die psycho­ logischen Arbeiten von Ihnen und James erleben durfte. Das ist also neben dem von Ihnen hervorgehobenen der andere Punkt, an dem mir eine Ergänzung erforderlich erscheint. Natürlich habe ich weiter im dritten Kapitel unter dieser constructiven Psychologie nur eine abgelaufene Periode der Psychologie verstanden und bekämpft: die Associationspsychologie, die Herbartianer, die Materialisten und Theoretiker der psychischen Begleiterscheinungen: Richtungen die im Kern vergangen sind, aber die noch immer [meiner] Meinung durch eingewurzelte An­gewohnheiten in uns allen, in mir so gut als in jedem Andern nachwirken. Sie haben einen Apparat von Begriffen geschaffen, von denen jeder von uns immer wieder einen irgendwie versteckt wiederfindet und beseitigt. Wir alle müssen uns immer neue Vorurtheile solcher Art ausreißen. Das ist, was ich als Herrschaft dieser Psychologie auch nach ihrer principiellen Überwindung bezeichne. Und ich bin nicht der Pharisäer der allein rein zu sein glaubt. Doch diese Constructionspsychologie … [Briefschluss fehlt.] Original: Hs.; Briefentwurf; Diktat D.s von fremder Hand; ABBAW, Dilthey-

NL , Fasz. 169, Bl. 181–182 R.

1 Im Original: von D.s Hand nachträglich über den Brieftext gesetzt. 2 W. Wundt: Grundriss der Psychologie. Leipzig 1896. 3 D.: Beiträge zum Studium der Individualität, a. a. O., hier S. 297 ff., Anm. 1; WA in: GS V, S. 238 ff. 4 D.s Ideen. 5 Vgl. GS V, S. 140. 6 Vgl. GS V, S. 160 f. 7 Vgl. GS V, S. 168. 8 W. James: The Principles of Psychology. 2 Bde. New York und London 1890. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Hermann Usener an Dilthey

577

[969] Hermann Usener an Dilthey   Mein lieber Wilhelm,

Bonn, den 22. nov[ember] [18]95

endlich nach bewältigung verschiedener störender zwischenarbeiten habe ich das letzte punctum unter mein werk1 setzen können, an dem ich nun schon seit juni 1894 ge­schrieben und gedruckt – auch „gedruckst“ habe. Es ist mir bedürfnis, schon heute, noch bevor ich festliche[s] exemplar ins paket schliesse, Dir zu schreiben. Ich habe das buch Dir und Karl gewidmet, als dem philosophen und dem philologen, bei denen ich am meisten hoffen darf, freundliche aufnahme für meine gedankengänge und sachliche beurtheilung zu finden. Das buch ist freilich, fürchte ich, recht schwer geworden und wird darunter zu lei­den haben. Aber man kann nichts anders als durch ausgedehnte einzeluntersuchung den stoff schaffen, aus dem sich allgemei­ne schlüsse abziehen lassen. Für den philosophen können die­se einzelfragen ein interesse nicht haben, da sie in abliegendem stoff sich bewegen und nur selten zu allgemeinerem sich erheben (wie kap[itel] 12). Die beiden später zunächst zu bearbei­tenden abschnitte (von den elementaren vorgängen der vorstel­lung) werden grössere anziehungskraft für Dich haben, wenn es mir gelingen sollte, sie so zu gestalten, wie ich möchte, dass nämlich der erkenntnislehre das nötige kapitel damit vorgeschuht2 wird. Aber auch in dem vorliegenden buche wirst Du vielleicht einiges für Dich finden, wenn Du an die kap[itel] 6. 15–20 Dich hältst. Was mir im ganzen vorschwebt, und hier nur begonnen ist, das werde ich Dir wohl am besten so verdeutli­chen, wenn ich sage, dass ich statt des verfrühten wurfs der Nuova Scienza G[iam]B[attista] Vico’s3 eine wirkliche, aus der geschichtlichen empirie abgeleitete wissenschaft mit den erkenntnissen und hilfsmitteln unserer zeit schaffen möchte. Eben kommt endlich der buchbinderjunge und gestattet mir, die fertigen exemplare zu versenden. Ich habe der gabe nichts weiter zur reise mitzu­geben, als den herzlichen wunsch unser aller, dass Dich die sendung gesund und frisch und wohlgemuth antreffen möge. Lass uns doch auch recht bald einmal näheres über Käthes befinden hören, die, wie uns herr reg[ierungs]r[ath] Naumann,4 unser stellvertretender kurator mitteilt, noch immer ihrer gesundheit halber im süden weilt.5 Möge sie bald in der lage sein, wieder zu Dir zu stossen und Dir volle behaglichkeit zum schaffen geben. Mit herzlichsten grüssen auch von Lili und den kindern Dein H. Usener. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

578

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

Das exemplar für Diels hast Du die güte sogleich zu expedieren. Ich habe Dich nicht mit weiteren aufträgen behelligen wollen und sie auf F. Köpp6 geladen. Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 23. 1 H. Useners Götternamen. 2 Vorschuhen: sichern, befestigen (ursprünglich: den vorderen Teil  eines Schuhes erneuern). 3 G. B. Vico: Principi di una scienza nuova d’intorno alla communa natura delle ­nazioni. Neapel 1725; dt. Übers. von W. E. Weber. Leipzig 1822. 4 Otto Naumann (1852–1925): 1888 Vortragender Rat und 1907 Ministerialdirektor der Hochschulabteilung im preuß. Kultusministerium. 5 Katharina D. hielt sich von Anfang November bis Mitte Dezember 1895 in Meran auf. 6 Der Archäologe Friedrich Koepp (1860–1944), seit 1892 PD in Berlin; Neffe D.s.

[970] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff 27 Nov[ember] [18]95 Theile, hochverehrter Herr G[e]h[eime]rath ergebenst mit daß Dr. Adickes u. ich, laut eben erhaltener Nachricht von ihm,1 uns also nächsten Sonntag 12 Uhr im Cultusministerium einfinden werden wenn keine Contreorder an Dr. Adickes kommt. verehrungsvoll ergebenst d[er] Ihre W. Dilthey Original: Hs.; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, B Nr. 29, Bd. 2, Bl. 135–135 R. 1 Nicht überliefert.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

579

Dilthey an Hermann Usener

[971] Dilthey an Hermann Usener [1. Dezember 1895]1 Mein lieber lieber Hermann, eben erhalte ich Deine Sendung. Habe den innigsten Dank dafür daß Du uns beiden Brüdern diese Arbeit hast widmen wollen die Dich seit so vielen Jahren begleitet hat u. in die Du ein Stück Deines Eigensten gelegt hast. Auf wenig Dinge in meinem Leben bin ich so stolz und werde es immer sein als auf diese Widmung. Ich bewundere den Gang Deines Lebens, in wel­chem Du Alles, was Du in der Begeisterung der Jugend geplant, mit fester und männlicher Hand zum Ende führst. Möchte Dir ein langes Leben beschieden sein, in dem Du nach Vollendung dieses Werkes2 auch noch die Religionsgeschichte der Zeit ­Christi angreifen kannst. Und nun nochmals meinen Dank, Du Lieber Alter. Bald kann ich Dir dann auch von dem Inhalt schreiben, da ich jetzt nur eben in die Vorrede einen Blick gethan. Könnte ich Dir von mir auch so Gutes melden. Käthe hat von der Influenza einen Lungenspitzenkatharrh zurückbehalten; der gränzt immer dicht an Tuber­kulose. Er war einmal im September Dank Kreuth ganz weg, aber schon als ich sie 18 Oct[ober] in Brixen verließ war die Sache nicht ganz in Ordnung, nun schreibt Clärchen wieder sehr voll Sorgen. Nun ist mir der Junge hier von m[einer] Rückkehr ab wenige Tage ausgenommen erst an e[inem] Fall, dann an einer schweren Bronchitis mit e[iner] neuen Ohrenaffektion sehr krank gewesen – nur wenige Tage seither war er außer Bett – liegt noch. Er hat offenbar ebenfalls eine sehr schwache Lunge. So ist alles über mir voll Wolken und um mich – ich weiß nicht was werden wird – [.] Käthe weiß natürlich nichts von des lieben Kindes Krank­heiten. Und das eben da ich Urlaub genommen hatte, um meinen Arbeiten einen Ruck zu geben. Ich bin von der Krankheit des Jungen selbst so krank, so müde! Oft kommt es über mich, ich würde wie mein guter Vater nicht mehr lange zu leben haben u. es sei Zeit was ich noch liegen hätte abzu­schließen. Das war auch bei dem Urlaub mein Gedanke, u. nun sehe ich doch wenig Mög­lichkeit, ihn so zu verwerthen, wie ich gedacht: denn zum Gestalten bedarf es einer freien Seele. Nächstens mehr, Euch allen, Lily besonders tausend innige Grüße von Eurem Wilhelm © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

580

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL , S 2102, 3, Nr. 13; ein unvollständiges maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g, Nr. 25. 1 Im Original: Datumseintrag von H. Usener: „d[en] 2 dec[ember] [18]95“. 2 H. Useners Götternamen.

[972] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Verehrter Geheimerath,

[Anfang Dezember 1895]

Am Mittwoch um sechs Uhr will Graf York bei mir essen u. ich hoffe daß Treitschke[,] Wildenbruch[,] Diels mitessen werden. Es wäre schön, wenn Sie mit dem bescheidnen Junggesellendiner vorlieb nehmen wollten. Max theilt mir mit daß er Sie auch grüßen lasse. der Ihrige W. Dilthey Original: Hs.; GStA PK Berlin, I. HA Rep. 76 V a Sekt. 2 Tit. IV, Nr. 47, Bd. 18, Bl. 179.

[973] Dilthey an Hans Vaihinger   Verehrter Herr College, Nur eilig, da der Termin freilich sehr kurz bemessen ist, eine Zeile über den Absatz ‚Ein[e] wichtige etc.‘1 Wie ich Ihnen schon schrieb2 darf der Comission schlechter­dings nicht in Bezug auf die Behandlung der Inedita soweit sie im Zusammenhang mit der Edition zum Vorschein kommen vorgegriffen werden. Und nur solche werden ja doch in nennenswerther Zahl sich darbieten. Auch liegt ja im Zusammenhang des Passus e[ine] Beziehung dieser Art. Soll daher der Absatz überhaupt bleiben, so halte ich für geboten, ihm eine neutrale Fassung in Bezug auf die Inedita zu geben. Folgende Fassung schlage ich vor: © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

581

Dilthey an Hans Vaihinger

‚Eine wichtige etc  – unterstützen. Insbeson­dere stellen wir nur Untersuchungen zur Verfügung, welche für diese Ausgabe angestellt worden sind, aber nach deren Plan in sie selber nicht hineingehören.‘ Ich glaube daß diese Fassung gleicher Weise dem Interesse der Zeitschrift3 entspricht und dem angegebenen Bedenken ausweicht. Soviel im Moment zwischen der Arbeit eiligst. Mit bestem Gruß

d[er] Ihre

Wilhelm Dilthey

4 Dec[ember] [18]95. Original: Hs.; StUB Bremen, HA , Autograph XXI, 6: h, Nr. 6. 1 Die Vorlage, auf die sich hier D.s Brief bezieht, ist nicht überliefert. – Evtl. nimmt D. hier Bezug auf die Gestaltung der Zirkulare, die in dem Beitrag der Kant-Kommission (D., H. Diels, C. Stumpf, J. Vahlen, K. G. J. Weinhold) abgedruckt ist. Er erschien unter dem Titel Die neue Kantausgabe 1886 im 1. Heft der Kant-Studien. 2 Nicht überliefert. 3 Die Kant-Studien.

[974] Dilthey an Hans Vaihinger   Lieber Herr College,

[Mitte Dezember 1895]

Ihr eben angelangter Brief1 könnte leicht zu einer Verstimmung zwischen Ihnen u. mir füh­ren. Eine im schönsten gegenseitigen Vertrauen begonnene Verhandlung soll nicht dies Ende neh­men. Das möchte ich verhüten. Liegen doch die Dinge sehr einfach. Ich muss zunächst das, was Sie über meine Intention bei der Ausgabe sagen, richtig stel­len. Gerade das habe ich auf das Entschiedenste herausgehoben und es ist ja auch selbstverständ­lich, dass erst aus dem Studium des Materials dem Bearbeiter die Principien der Edition ent­springen können. Immer wieder habe ich betont, dass es sich für Sie darum handle, ganz vorur­teilslos an die Arbeit heranzugehen und die zweckmässige Art der Edition aus dem Befund sich klar zu machen. Dass bei diesem Verfahren, ange­wandt auf die ganze Masse, von welcher Vieles noch ganz unediert ist, sich neue Einsichten er­geben werden, ist © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

582

Dilthey an Hans Vaihinger

eine Erwartung, welche eigent­lich nur als selbstverständlich bezeichnet wer­ den kann; auch diese kann Sie unmög­lich gestört haben. Dass diese Einsichten alsdann die Art der Herausgabe bestimmen werden, ist ebenfalls total selbstverständlich und, wie gesagt, von mir in unserem ganzen Gespräch stets herausgehoben. Daher muss ich es mit der äussersten Entschiedenheit abweisen, dass in diesen Grundsätzen, mit welchen Sie seiner Zeit voll­ständig einverstanden waren, irgend ein, auch noch so schwacher und entfernter Grund dafür gelegen sein könnte, von der Herausgabe zurückzutreten. Ich kann schlechterdings nicht zugeben, dass ich in das wunderliche Licht komme, die Grundsätze, welche erst aus dem Studium der Papiere sich er­geben können, a priori konstruieren zu wollen. Der Herausgeber macht ja auch die Edition ganz selbständig auf seine Verantwortung. Keine Commission der Welt kann an dem Ergebnis seiner Forschung etwas ändern, da sie nicht zum zwei­ten Mal die Arbeit machen kann. So ist mir denn auch nicht recht deutlich, was Sie über Ihr Verhältnis zu Herrn Kollegen Erdmann sagen. Die Commission ist demselben zum tiefsten Dank verpflichtet für die Überlassung seiner Abschrift der Reflexionen zur Metaphysik. Diejenigen in ihr wie Stumpf und ich, welche seine Arbeit kennen, sind von dem Wert derselben ganz durchdrungen, und nachdem ich Einblick in das Original gewonnen, ist mir in noch erhöhtem Grade deutlich geworden, welche Leistung von Auge und Divination darin liegt. Ebenso würde Herr Kollege Erdmann Ihrer Leistung gegenüber, wenn diese bei einem so erweiterten Material zu Abweichungen gelangte, zweifellos nur das Interesse des Wahrheitsfreundes haben, zu prüfen, ob die Sache gefördert sei. Ich kann also Ihre Bedenken mir durchaus nicht deutlich machen. Glauben Sie mir, dass ich vollauf diejenigen Bedenken verstehe, welche in dem Umfang der Arbeit zusammen mit dem so wichtigen Kant­commentar, dessen Vollendung jeder im Interesse Kants wünschen muss, entspringt. Ich kann Ihnen die Schwierigkeit der Erwägung hierüber und dann auch den Wechsel des Entschlusses vollkommen nachfühlen. Ich komme nun auf den Schluss Ihres Briefes über die Kantstudien. Dass ich an denselben keine rechte Freude hatte, als das Programm derselben und dann einige Zeit darnach die Mitteilungen von Ihrem Zurücktreten in meine Hände kam, werden Sie gewiss begreiflich finden. Musste ich doch in den­ selben einen Feind Ihrer Beteiligung bei der Ausgabe erblicken. Als nun der Verleger eben damals unmittelbar nach Ihrem Rücktritt mich besuchte, mag etwas von meiner, wie Sie begreifen, sehr grossen Erregung darüber, dass diese so höchst erwünschte Beteiligung hinfäl­lig geworden war, in die Erör­terung des Verhältnisses der Kantausgabe zu den Studien eingeflossen sein, obwohl ich es ver­meiden wollte. Sachlich konnte ich natürlich nur sagen, dass natür© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

583

lich das Verhältniss nicht so eng sein könne als wenn Sie bei der Ausgabe be­ theiligt wären u. in bezug auf die Veröffentlichung von Kantianis in den Studien sich noch nichts sagen lasse: die Grundsätze hierüber wird ja doch erst die erweiterte Commission feststellen können, wenn sie erst zusammentritt, was ja nun leider für Weihnachten unsicher geworden ist. Dagegen hob ich selbstverständlich ausdrücklich hervor, dass mit dieser offenen Frage der Publikation von kantischen Novis in den Studien die Teil­nahme der an dem Unternehmen Beteiligten an den Studien nichts zu thun habe. Nachdem ich nunmehr die Dinge ruhiger ansehe, finde ich mich darein, dass an die Stelle Ihrer Herausgabe der Reflexionen nun diese Studien getreten sind, und erkenne gern an, dass sie sehr nützlich werden können. In welcher Art Sie mit der Ausgabe zu­ sammengehen können, darüber wird erst, wenn die erweiterte Commission zusammengekommen ist, Rücksprache genommen werden können. Eine einfache Mitteilung von Novis, welche dem Kant­unternehmen zugeflossen sind, haben Sie ja natür­lich auch nicht im Auge.

In aufrichtiger Hochachtung der Ihrige Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; Briefanfang von der Hand D.s, überwiegend Diktat D.s von der Hand P. Menzers mit Korrekturen und Ergänzungen von der Hand D.s sowie eigen­händiger Unterschrift D.s; StUB Bremen, HA , Autograph XXI, 6: h, Nr. 16; Erstdruck in: Stark, S. 78–79. 1 Nicht überliefert.

[975] Dilthey an Friedrich Theodor Althoff Hochverehrter Herr Geheime Rath,

Dienstag 17 Dec[ember] [18]95

Ihre Frau Gemahlin wird Ihnen von meinem Ergehen erzählen; Gold­scheider fordert unbedingt schleunige Abreise u. längere Enthaltung von jeder Arbeit. Die Aufregungen über Max mit der Arbeit zusammen waren für mich zu viel. In der so wenig erfreulichen Verhandlung mit Dr. Adickes wird morgen eine Commissionssitzung noch vor meiner Abreise stattfinden. Ich möchte © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

584

Dilthey an Friedrich Theodor Althoff

noch einmal ausdrücklich für die Sache u. mich Dank aussprechen, daß Sie trotz der Unerquicklichkeit von Verhandlung mit A[dickes] die Sache so hoffentlich zum Abschluß gebracht haben. Das beifolgende Aktenstück1 empfängt beiderseits dann ja erst Geltung, wenn: 1. die Akademie 8000 Mark bewilligt hat, aus welchen dann die Kosten für Vertretung mit gedeckt werden. Denn so ist doch mein Vorschlag von 8000 Mark zu verstehen, daß diese Summen (1 oder 2mal 1800 M[ark] Vertretungskosten und die Vertretungskosten für Verringerung der Stunden) darin auch enthalten sind. 2. der Urlaub erreicht ist. 3. die Papiere ihm zugänglich gemacht sind in einer Form die deren wirk­ liche Ausnützung ermöglicht. Ich denke daß er jedenfalls die Königsberger ­Papiere in irgend e[iner] Form zu häuslicher Benutzung unter den nöthigen Garantien wird erhalten können. Die weitere Besorgung dieser Angelegenheiten Seitens der Akademie hat Kollege Diels freundschaftlich solange ich abwesend bin übernommen. Ist dies erreicht, dann sind wir über die Hauptschwierigkeit der Kantsache hinweg. Handelte es sich nicht einfach für mich nach Goldsch[eiders] Ausspruch um meine ganze Gesundheit, so wäre ich außer Stande, mich zu dieser Reise zu entschließen. Nun bleibt mir nur zu hoffen, daß das Ziel ihrer Wiederherstellung auch erreicht werde. Nehmen Sie wenigstens schriftlich meinen Dank für alle Theilnahme, das Wohlwollen u. die thätige Güte, die Sie mir erwiesen haben. In treuer Verehrung der Ihrige Wilhelm Dilthey. 17 Dec[ember][18]95. Zu dem Entwurf ist hervorzuheben daß das zweite Mal unten ‚nach Vollendung der Arbeit‘ wie an der oberen Stelle auch Correktur miteinschließt. Ein Abschluß formeller Art scheint doch erst angezeigt wenn alle weiteren in meinem Brief angegebenen Bedingungen Seitens der Akademiebewil­ ligung, des Urlaubs und der Zugänglichkeit der Manuscripte so erfüllt sind, daß Herr Adickes damit einverstanden ist. Dilthey

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

585

Original: Hs.; GStA PK Berlin, VI. HA , FA u. NL , NL Friedrich Theodor Althoff, Nr.  261, Bl.  52–54; beigelegt ist eine Abschrift des Briefes von fremder Hand, Bl. 55–56. 1 Nicht überliefert. – Es handelt sich um einen Entwurf zu dem Vertrag zwischen der königl. preuß. Akademie der Wissenschaften zu Berlin und E. Adickes die Kant-Ausgabe betreffend, der im Februar 1896 geschlossen wurde.

[976] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg 24. Dez[ember]18951 Mein lieber Freund, es ist Weihnachtsabend, und ich setze mich zu einem Brief an Sie, der mir sehr schwer wird. Sie werden sich gewun­dert haben, dass ich Ihnen für Ihre liebreiche und wohlthätige Anwesen­heit noch nicht dankte. Ich befand mich schlecht und schlechter. So ging es langsam und träge weiter: Die Arbeit wurde mir schwer und schwerer. Ich sass daran, den Shakespeare2 zu Ende zu bringen. Aber ich fühlte mich unlustig auch dieser mir so lieben Arbeit gegenüber. [Briefschluss fehlt.] Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript des Brief-Fragments ist hinterlegt in: ABBAW, Ritter-NL , Nr. 28, Bl. 3; Erstdruck in: Gründer, S. 357 f. 1 Die Datierung wurde von P. Ritter übernommen. – Darunter von der Hand P. Ritters: „Nicht in die Ausg[abe] aufgen[ommen]“. 2 D.s Shakespeare und seine Zeitgenossen, ursprünglich bestimmt für ein Buch Dichter als Seher der Menschheit, das nicht realisiert wurde; aus dem Nachlaß veröffentlicht in: Die große Phantasiedichtung und andere Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte, a. a. O., S. 53–108; vgl. GS XXV, S. 7–58.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

586

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

[977] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey   Lieber Freund.

Klein Oels den 30. 12. [18]95.

Ihre beiden Briefe1 trafen mich wiedereinmal in dem Zustande einer Augenentzündung, die das ganze Fest über anhielt und noch nicht ganz beseitigt ist, so daß ich auf wenige Worte mich beschränken muß. Ihr erster Brief erschreckte mich sehr, ich bedauerte, nicht bei Ihnen sein zu können. Was Sie mittheilten war so allgemein gehalten, daß für ein Ur­theil kein Anhalt geboten war, die Sorge um so freieres Spiel hatte. Nun kam bald darauf die gute Nachricht und entlastete. Halten Sie sich nur die nächsten Monate recht arbeitslos. Man darf das Leben nicht nach der Arbeit, sondern muß die Arbeit nach dem Leben bemessen, wo sie denn auch gewinnt als volle Lebensäußerung. Goethe, Leibniz sind darin meine Ideale. Ich nehme bestimmt an, daß Sie ganz frisch und gekräftigt zurückkehren. Das ist die Hauptsache. Hart und empfindlich genug verbleibt, daß unser Zusammensein, auf das ich mich so gefreut hatte, hinweggefallen ist. Es wäre mir bei meinen hiesigen Beschäftigungen solche geistige Festzeit zu gönnen gewesen.  – Eine genaue Durchsicht Ihrer angesagten Druckbogen2 kann ich bei dem Zustande meiner Augen nicht versprechen. Die Affektion war diesmal eine recht hartnäckige. Ich hatte gerade begonnen die Ihnen und Ihrem Bruder gewidme­te Arbeit Useners zu lesen. Gern spräche ich mit Ihnen darüber, schreiben geht jetzt noch nicht. Gelegentlich der neuen Mythologie von ­Golther3 bemerke ich, wie die philosophische Bodenlosigkeit sich in den ein­ zelnen Disziplinen manifestirt, die Methode beeinflußend. Es fehlt an der Grundlage einer in Wahrheit empirischen Psychologie. Rohdes und die sonstigen Gespenster treten an die Stelle geistiger Realitäten, so daß es so weit gekommen ist den Gottesglauben auf das Alpdrücken zurückzuführen. Letzte Sensationsweisheit. Dahin kommt es, wenn Philoso­phie aufhört der Rektor zu sein. – Von Grimms letzten Sachen den Raffael4 theilweise gelesen, bis ein Halt geboten wurde. Mir geradezu uner­träglich. Wahre Lebendigkeit hat doch nur eine Forschung – und nur eine solche ist eine wissenschaftliche – die die Dinge zum Reden bringt. Der unwahre Schein der Lebendigkeit, der durch ein Sichhervorkehren, durch ein Feuerwerk mehr oder minder geistreicher Einfälle bewirkt wird, ist wie alles radikal Pietätlose nicht auszuhalten. Doch dies Zeug ist im Grunde nicht werth der Beschäftigung damit. Wie viel mir nahe und am Herzen Liegendes hoffte ich in benachbartem täglichen Verkeh­re mit Ihnen zu besprechen. Nun – wenn Sie nur ganz frisch und gesund wiederkehren. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

587

Seien Sie herzlich gegrüßt und beglückwünscht zu dem neuen, einem hoffentlich recht hellen und von Sorgen freien Jahre! … Am 6. Januar siedeln wir nach Berlin über, Nürnbergerstraße 69. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 126. 1 Vgl. den vorigen Brief; der zweite erwähnte Brief ist nicht überliefert. 2 D.s Beiträge zum Studium der Individualität waren im Druck. 3 Wolfgang Golther (1863–1945): Germanist und Literarhistoriker; 1895 o. Prof. in ­Rostock, 1907 Direktor der UB Rostock. – Handbuch der germanischen Mythologie. Leipzig 1895. 4 H. Grimm: Das Leben Raphael’s, 3. neubearb. Aufl. Berlin 1896.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Siglen- und Abkürzungsverzeichnis

ABBAW

Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Berlin abgedr. abgedruckt Abschn. Abschnitt Abtlg. Abteilung ADB Allgemeine Deutsche Biographie. Hg. durch die histo­rische Commission bei der königlichen Akademie der Wissenschaften München. Leipzig 1875 ff. AdW Akademie der Wissenschaften amerik. amerikanisch a. o. / o. außerordentlich / ordentlich AGPh Archiv für Geschichte der Philosophie. Hg. von Ludwig Stein. Berlin 1888 ff. ASpPh Archiv für spiritualistische Philosophie und ihre Geschichte. Hg. von Władimir Szyłkarski. Bd.  1. Amsterdam / Leipzig 1939, S.  385–412: Jugendfreundschaft Teichmüllers und Diltheys. Briefe und Tagebücher Aufl. Auflage Autogr. Autograph AUW Archiv der Universität Wien BA Bundesarchiv Berlin bayer. bayerisch BW I Wilhelm Dilthey: Briefwechsel. Bd. I (1852–1882). Hg. von Gudrun Kühne-Bertram und Hans-Ulrich Lessing. Göttingen 2011 BDY Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877–1897. Hg. von Sigrid von der Schulenburg. Halle / Saale 1923 Bl. Blatt BSB München Bayerische Staatsbibliothek München c. / ca. circa cod. ms. codex manuscriptum D. Dilthey Dep. Depositum DLA Marbach Deutsches Literaturarchiv Marbach / Neckar DRS Deutsche Rundschau. Hg. von Julius Rodenberg. Berlin 1874 ff. dt. deutsch durchges. durchgesehen(e) © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

590

Siglen- und Abkürzungsverzeichnis

Ehlers

Hermann Diels, Hermann Usener, Eduard Zeller: Briefwechsel. 2 Bde. Hg. von Dietrich Ehlers. Berlin 1992 elsäss. elsässisch engl. englisch erw. erweitert ev. evangelisch evtl. eventuell FA Familienarchiv Fasz. Faszikel FB Gotha Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt / Gotha, Forschungsbibliothek Erfurt FDHSt Freies Deutsches Hochstift Frankfurt fol. Folio franz. französisch gen. genannt Gerhardt / Mehring /  Berliner Geist. Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilo‑ Rindert sophie bis 1946. Mit einem Ausblick auf die Gegenwart der Humboldt-Universität. Hg. von Volker Gerhardt, Reinhard Mehring und Jana Rindert. Berlin 1999 griech. griechisch Gründer Karlfried Gründer: Zur Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg. Aspekte und neue Quellen. Göttingen 1970 GS Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. 26 Bde. Leipzig und Berlin, Stuttgart und Göttingen 1914–2006 GSA Weimar Goethe- und Schillerarchiv Weimar GStA PK Geheimes Staatsarchiv. Preußischer Kulturbesitz, BerlinDahlem HA Handschriftenabteilung Hg. / hg. Herausgeber(in) / herausgegeben histor. historisch HLB Wiesbaden Hessische Landesbibliothek Wiesbaden, Historische Sammlungen Hs. Handschrift HStA Marburg Hessisches Staatsarchiv Marburg HZ Historische Zeitschrift. Hg. von Heinrich von Sybel. München 1859 ff. ital. italienisch Jg. Jahrgang K Kasten Kap. Kapitel kath. katholisch kaiserl. kaiserlich klass. klassisch königl. königlich © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Siglen- und Abkürzungsverzeichnis

591

lat. lateinisch Lessing Briefe an Dilthey anläßlich der Veröffentlichung seiner „Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie“. Hg. von Hans-Ulrich Lessing, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 3 (1985), S. 193–232 Litzmann Ernst von Wildenbruch. 2 Bde. Hg. von Berthold Litzmann. Bd. 1: 1845–1885. Berlin 1913; Bd. 2: 1885–1909. Berlin 1916 math. mathematisch ND Nachdruck niederl. niederländisch NL Nachlass / Nachlässe norweg. norwegisch ÖNB Wien Österreichische Nationalbibliothek Wien, Sammlung von Handschriften und alten Drucken ÖStA Wien Österreichisches Staatsarchiv Wien, Abteilung Haus-, Hofund Staatsarchiv österr. österreichisch PD Privatdozent philol. philologisch physik. physikalisch PJ Preußische Jahrbücher. Hg. von Rudolf Haym u. a. Berlin 1858 ff. preuß. preußisch Prof. Professor R. Rückseite r Reichstaler Rebenich / Franke Theodor Mommsen und Friedrich Althoff: Briefwechsel 1882–1903. Hg. und eingel. von Stefan Rebenich und Gisa Franke. München 2012 Rep. Repositorium rev. revidiert rM Reichsmark röm. römisch S. Seite sächs. sächsisch SB Sitzungsberichte schott. schottisch schwed. schwedisch schweiz. schweizerisch SHLB Kiel Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel, Hand­schrif­ tenabteilung Sp. Spalte SpS Spezialsammung(en) © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

592

Siglen- und Abkürzungsverzeichnis

SS Sommersemester StA Basel Staatsarchiv Basel-Stadt Stark Werner Stark: Nachforschungen zu Briefen und Handschriften Immanuel Kants. Berlin 1993. StB PK Berlin Staatsbibliothek zu Berlin. Preußischer Kulturbesitz StLB Wien Stadt- und Landesbibliothek Wien StUB Göttingen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Abteilung Spezialsammlungen und Bestandserhaltung TH Technische Hochschule ThULB Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Abteilung Handschriften und Sondersammlungen UA Heidelberg Universitätsarchiv Heidelberg UAHU Berlin Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin UA Wien Universitätsarchiv Wien UA Würzburg Universitätsarchiv Würzburg UB Basel Öffentliche Bibliothek der Universität Basel, Handschriftenabteilung Übers. / übers. Übersetzung / übersetzt UB Heidelberg Universitätsbibliothek Heidelberg, Handschriftenabteilung UB Tübingen, HIS Universitätsbibliothek Tübingen, Handschriften- und Inkunabelnsammlung ULB Bonn Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Handschriften­ abteilung ULB Sachsen-Anhalt Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle, Abteilung Sondersammlungen VA Verlagsarchiv verb. verbessert verm. vermehrt WA Wiederabdruck WD Guy van Kerckhoven, Hans-Ulrich Lessing und Axel Ossen­ kop: Wilhelm Dilthey. Leben und Werk in Bildern. Freiburg /  München 2008 WM Westermann’s illustrirte deutsche Monats-Hefte. Ein Fami­ lienbuch für das gesammte Leben der Gegenwart. Hg. von George Westermann. Braunschweig 1856 ff. WS Wintersemester WUA Westermann Unternehmensarchiv Braunschweig ZB Zentralbibliothek Zf V Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Hg. von Moritz Lazarus und Heymann Stein­thal. 20 Bde. Berlin 1860–1890 ZPPS Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. Hg. von Hermann Ebbinghaus und Arthur König. Hamburg und Leipzig 1890 ff. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Register der Briefpartner Die normalen Ziffern verweisen auf die Nummern der Briefe von Dilthey, die kursiven auf Briefe an Dilthey.

Althoff, Friedrich Theodor (1839–1908): preuß. Kulturpolitiker  600, 605, 625, 639, 640, 653, 659, 674, 685, 686, 734, 735, 851, 854, 855, 856, 861, 862, 864, 865, 866, 871, 894, 934, 949, 951, 970, 972, 975

Ebbinghaus, Hermann (1850–1909): Psychologe 902, 960 Escher, Hermann (1857–1938): Bibliothekar 719, 726 Eucken, Rudolf (1846–1926): Philosoph  881, 905, 910, 923

Biese, Alfred (1856–1930): Literar­ historiker  753 Brentano, Valesca (1851–1918): Ehefrau von Lujo Brentano  649

Falckenberg, Richard (1851–1920): Philosophiehistoriker  959 Fresenius, August (1850–1924): Philologe 698, 699 Freudenthal, Jacob (1839–1907): Philosoph  906, 908

Carus, Julius Viktor (1823–1903): Zoologe und Mediziner  915, 920 Christ, Wilhelm von (1831–1906): klass. Philologe 87 Delbrück, Ludwig (1860–1913): Bankier  848 Dessoir, Max (1867–1947): Philosoph und Psychologe  822, 849, 858 Diels, Hermann (1848–1922): klass. Philologe und Philosophiehisto­ riker 845, 914 Dilthey, Clara (1877–1967): älteste Tochter D.s  863, 879, 882, 884, 955 Dilthey, Katharina (1854–1932): Ehefrau D.s  710 Dorner, Isaak August (1809–1884): ev. Theologe  589 Dove, Alfred (1844–1916): Historiker  596 Duncker & Humblot: Verlag  602, 610

Gerhard, Karl (1847–1921): Biblio­ thekar  720 Goldscheider, Alfred (1858–1935): Mediziner  779, 783 Goßler, Gustav von (1838–1902): preuß. Kultusminister  733 Grazie, Marie Eugenie delle (1864–1931): österr. Dichterin  925 Greif, Martin (1839–1911): Schriftsteller und Dichter  644 Grimm, Gisela (1827–1889): Schriftstellerin; Gattin Herman Grimms  694 Grimm, Herman (1828–1901): Kunstund Literarhistoriker  700, 707, 712, 713, 727, 736, 740, 786 Heinze, Max (1835–1909): Philosoph  946 Helmholtz, Hermann von (1821–1894): Physiker und Physiologe  665, 668

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

594

Register der Briefpartner

Heubaum, Alfred (1863–1910): Philosoph und Pädagoge  832, 963 Kaftan, Julius (1848–1926): ev. Theologe  911 Kießling, Adolf (1837–1893): klass. Philologe 652 Klix, Gustav Adolph (1822–1894): Philologe und Theologe  607 Königliches Konsistorium der Provinz Pommern  803 Lange, Otto: Buchbinder  690 Laßwitz, Kurd (1848–1910): Philosoph und Schriftsteller  598, 599, 718, 772, 807, 883, 885 Leixner, Otto von (1847–1907): österr.deutscher Schriftsteller und Literaturkritiker 622 Liliencron, Rochus Ferdinand Freiherr von (1820–1912): Germanist  760, 767, 770 Lipps, Theodor (1851–1914): Philosoph und Psychologe  787 Loening, Richard (1848–1913): Jurist  763 Martens, Carl Eduard von (1831–1904): Zoologe  919 Meyer, Conrad Ferdinand (1825–1898): schweiz. Dichter  890 Mommsen, Theodor (1817–1903): Historiker  669, 773, 889, 891, 927, 929, 930, 936, 937, 938, 944, 945 Münsterberg, Hugo (1863–1916): Psychologe und Philosoph  917 Natorp, Paul (1854–1924): Philosoph und Pädagoge  903, 904, 907 Oldenberg, Karl (1864–1936): National­ ökonom  765 Paulsen, Friedrich (1846–1908): Philosoph und Pädagoge  606, 952, 957 Prantl, Carl (1820–1888): Philosoph  673

Pröhle, Christoph Ferdinand Heinrich (1822–1895): Lehrer und Schrift­ steller  725 Rein, Wilhelm (1847–1929): Pädagoge  877 Rehmke, Johannes (1848–1930): Philosoph  790, 909 Reicke, Rudolf (1825–1905): Historiker und Bibliothekar  724, 732, 737, 744, 750, 757, 758, 759, 761, 769 Reimer: Verlag  604 Reimer, Ernst (1833–1897): Buch­ händler und Verleger  768, 797 Ribbeck, Otto (1827–1898): klass. Philo­ loge  701 Rieger, Konrad (1855–1936): Psychiater  784 Riehl, Alois (1844–1924): österr. Philosoph  921, 964 Rößler, Konstantin (1820–1896): Philosoph und Publizist  824 Sauer, August (1855–1926): österr. Literaturwissenschaftler 926 Scherer, Wilhelm (1841–1886): Ger­ manist  597, 631 Schirrmacher, Friedrich (1824–1904): Historiker und Bibliothekar  729, 739, 741, 745, 748, 749 Schleker, Ludwig (1849–1907): Bibliothekar  742, 746, 747 Schmekel, August (1857–1934): klass. Philologe und Philosophie­ historiker 850 Schmidt, Arnold: Bibliothekar  721, 730 Schmidt, Erich (1853–1913): Germanist 886 Schmoller, Gustav von (1838–1917): Nationalökonom  634, 684, 847, 892, 899, 953 Schöne, Richard (1840–1922): klass. Philologe, Archäologe und Kultur­ politiker  587, 588, 591

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Register der Briefpartner

Schröder, Edward (1858–1842): Germanist  687, 688, 689 Schuppe, Wilhelm (1836–1913): Philosoph  641, 696, 912 Sigwart, Christoph (1830–1904): Philo­ soph  609, 614, 661, 817, 874, 922, 956 Stein, Ludwig (1859–1930): Philosoph und Soziologe  857, 859, 869, 870, 900, 918 Studenten  629 Stumpf, Carl (1848–1936): Psychologe und Philosoph  788, 799, 820, 860, 866 Sommer, Robert (1864–1937): Psychiater  780, 810 Suphan, Bernhard Ludwig (1845–1911): Germanist  771 Sybel, Heinrich von (1817–1895): Histo­ riker und Politiker  662, 666, 931, 939 Teichmüller, Gustav (1832–1888): Philosoph  584, 613 Treitschke, Heinrich von (1834–1896): Historiker  615, 709 Unbekannt 775, 777, 887 Usener, Hermann (1834–1905): klass. Philologe; Schwager D.s  612, 617, 619, 620, 633, 637, 645, 646, 663, 664, 667, 675, 695, 697, 704, 706, 711, 715, 716, 722, 723, 738, 743, 755, 802, 805, 814, 816, 818, 828, 837, 840, 841, 842, 843, 868, 893, 897, 898, 924, 969, 971 Vaihinger, Hans (1852–1933): Philosoph  935, 940, 942, 943, 950, 967, 973, 974 Vischer, Friedrich Theodor (1807–1887): Philosoph  670, 671, 672, 677, 681, 682

595

Vischer, Robert (1847–1933): Kunst­ historiker 827 Walter, Julius (1841–1922): Philosoph 756 Walzel, Oskar (1864–1944): österr. Literaturwissenschaftler 793 Wildenbruch, Ernst von (1845–1909): Dichter; Schwager Yorcks  838, 839, 947 Windelband, Wilhelm (1848–1915): Philosoph  916 Wundt, Wilhelm (1832–1920): Physiologe, Psychologe und Philosoph  965, 968 Yorck von Wartenburg, Graf Paul von (1835–1897): Jurist, Gutsbesitzer und Philosoph 580, 585, 586, 592, 593, 594, 595, 601, 603, 608, 611, 616, 618, 621, 623, 624, 626, 627, 628, 630, 632, 635, 636, 638, 642, 643, 647, 648, 650, 651, 654, 655, 656, 657, 658, 660, 676, 678, 679, 680, 683, 691, 692, 693, 702, 703, 705, 708, 714, 717, 728, 731, 751, 752, 754, 762, 764, 766, 774, 776, 778, 781, 782, 785, 789, 791, 792, 794, 795, 796, 798, 800, 801, 804, 806, 808, 809, 811, 812, 813, 815, 819, 821, 823, 825, 826, 829, 830, 831, 833, 834, 835, 836, 844, 846, 852, 853, 867, 872, 873, 876, 878, 880, 888, 895, 896, 913, 928, 932, 933, 941, 948, 954, 958, 961, 962, 966, 976, 977 Zeller, Eduard (1814–1908): Philosophiehistoriker und ev. Theologe  581, 582, 583, 590, 901

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Personenregister

Abaelard, P.  20 f. Adickes, E.  523 ff., 534, 574, 578, 583 ff. Ahrens, H.  59 Albertus Magnus  509, 513 Alcuin  327 f. Aldenhoven, C.  526 Alls, von  133 Althoff, F. Th.  VII, 33, 57, 59 f., 72, 78, 84 f., 96–99, 115, 136 f., 183, 186, 210, 212, 227, 231, 234, 351, 365, 395, 409, 413, 416 f., 419 f., 423, 428, 438, 489, 527, 536, 539, 545 Anaxagoras 61 Anaximander 61 Angeli, H. von  143 f. Anna Amalia  444 Anselm von Canterbury  20 f. Antisthenes  68, 156 f., 217 f., 399 Aristoteles  8, 21, 35, 61, 67, 82, 100, 156 f., 217, 249, 259, 267, 311, 346, 393, 399, 493, 498, 507 ff., 561 Arnauld, A.  86 f. Arnim, A. von  458 f. Arnim, B. von  161, 163, 199 Arnold, C. F.  204, 207 Arnoldt, E.  204, 207, 242 f. Auerbach, S.  75 Augustinus  14, 87, 92, 94, 217, 287, 295, 369 f., 399, 558 Augustus  318, 345 Avenarius, R.  438, 440, 570 f. Baader, F. X. von  199 f. Bacon, F.  14, 47, 156, 245, 335 Baedeker, F.  482, 484 Bäumker, C.  10 Baeyer, J. J.  26 Bain, A.  245 f. Barkhausen, F. W.  378 f.

Bastiat, F.  194, 196 Baudelaire, Ch.  171 Bauer, K. J.  549 f. Baur, F. Ch.  94 f., 130–133, 137, 219, 386 Bebel, A.  270, 275, 300 f. Beck, J. S.  212 ff., 225 f., 228 f., 235, 237 f., 240, 242, 253 Begas, R.  143 f. Beloch, K. J.  436 f. Bender, W.  127 f. Benecke, G.  425 Benndorf, O.  464, 466 Bennigsen, R. von  82 f. Bentham, J.  194, 196 Berg, A.  74 f. Berkeley, G.  51 f. Bernays, J.  48 f., 99 f., 465 Bernhard von Clairvaux  385, 387 Bernhardy  199 f. Beseler, K. G. Ch.  18 Bezold, W. von  468, 475 f. Biese, A.  247 Bismarck, O. von  68, 74 f., 82 f., 101, 106, 143 f., 159 f., 211, 250, 269 ff., 274, 294, 301, 352, 357 ff., 373 f., 377, 501 Böcklin, A.  329 f. Bodin, J.  435, 437 Boeckh, Ph. A.  105 f., 214 f., 217, 273, 275 Böhm von Bawerk, E.  173 f. Boetticher, K. H. von  321 f., 365 Bonhöffer, A. F.  498 Bonitz, H.  126 f., 134 Bonnet, Ch.  499 f., 510, 512 f. Boole, G.  40 f., 402 Bosse, R.  364 f., 428 f. Braniß, Ch. J.  309, 311 Bratuschek, E.  275

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

598

Personenregister

Brentano, C.  182, 458 f. Brentano, F.  9, 35, 64, 88, 187 Brentano, I.  187 Brentano, J. M.  187 Brentano, L.  9, 27 f., 53, 56, 103, 231 f., 289, 300 f., 322 f., 411 f., 463 f., 549 Brentano, S.  27 f. Brentano, V.  9, 27 f., 53, 56, 103 Brinkmann, K. G. von  246 f. Brown, Th.  368, 370 Brunner, H.  188 f., 353, 464, 466, 475 Bruno, Giordano  171, 372, 430, 437 f., 442, 445 Bruns, I.  58 ff. Buck, F. J.  205, 207 Buckle, Th.  434 Bücheler, F.  60 f. Buffon, G.-L. Leclerc, Comte de  510 f., 513 f. Burchard, F. E. E. von  293 f. Burckhardt, J.  245 f., 341, 433 Burdach, K.  154 f., 542 f. Calvin, J.  177 f., 369 f., 378 f. Cantor, G.  183, 217 Caprivi, G. L. von  294, 353 f., 358, 517 f. Carlyle, Th.  86 f., 110, 159 f., 288, 293, 373, 447, 530 f. Carus, J. V.  500, 507, 513 f. Cassiodor  394, 396 Cavalcaselle, G. B.  110 Christ, W. von  442 Chrysipp  156 f. Cicero  109, 218, 372, 436 Class, G.  11 f. Clausius, R. J. E.  349 f. Clemens VII.  318 f. Clive, R.  447 Cohen, H.  482, 484 Coit, St.  75 Comenius, A.  482 Comte, A.  364 Conze, A.  164

Corneille, P.  268, 274, 336, 340, 446, 551 Cousin, V.  138 f. Cramer, J. B. A.  298 f. Creuzer, G. F.  181 f. Cromwell, O.  558, 560 Crowe, J. A.  110 Curtius, E.  19, 352 Cuvier, G.  510 f., 514 Czolbe, H.  199 f. Dahn, F.  453 Dante Alighieri  92, 177, 374 Darwin, Ch.  194, 505, 507, 514 Defregger, F. von  143 f. Delbrück, E. von  101 Delbrück, J. F. F.  406 Delbrück, L.  406 f. Delbrück, M. F. R. von  101 Demokrit  38, 218, 399 Descartes, R.  87 f., 138, 172, 190, 349, 369, 435, 443, 447, 472 Dessoir, M.  226, 236, 407, 415 Deussen, P.  283 Dickens, Ch.  361, 458 Diderot, D.  514 Diels, H.  49, 58, 60 ff., 84 f., 121 f., 126 f., 132 f., 136, 163, 166, 174 f., 182 f., 202, 217, 219, 320, 326, 331 f., 352, 395 f., 397–401, 423, 427, 461, 463, 466, 521, 578, 580 f., 584 Dietrich, K.  108 Dilthey, Clara  48 f., 53 f., 77 f., 80, 85, 125, 128, 174, 184 f., 194, 231, 320, 363, 407, 422 f., 448, 451, 521, 545, 549, 554, 579 Dilthey, Karl  7, 20, 48, 58, 60, 85, 123, 128, 135 f., 164, 179, 227, 234, 344, 398, 577 Dilthey, Katharina  1, 15, 17, 21, 48 f., 53, 55, 58, 62, 77 f., 84 ff., 103 f., 109, 115, 122, 132, 151, 170, 183, 185 ff., 191, 193 f., 201, 224, 231, 243, 251 f., 321, 324, 374, 422, 424 f., 430, 433,

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Personenregister

436, 451, 461, 463, 467, 477, 520 ff., 547 ff., 553, 556, 577 ff. Dilthey, Leni  185 ff., 191, 194, 231, 425, 451, 530 f. Dilthey, Maria Laura  48 f., 53 f., 56, 78, 123, 127, 156 f., 169 f. Dilthey, Maximilian  77 f., 80 f., 84, 86, 104, 119 f., 122, 125, 128, 174, 184 ff., 193 f., 231, 321, 324 f., 331, 343, 347, 350, 363, 425, 433, 450 f., 453, 528, 530, 550, 552 f., 579, 583 Dilthey, Maximilian August Franz  80 f. Diodor  156 f. Diogenes 61 Dorner, A. J.  14 Dorner, I. A.  14 Dove, Alfred  26, 81, 85, 93, 145 f., 310 f. Dove, Anna  26 Du Bois-Reymond, E. H.  113 f., 395 Dühring, E.  178 f., 342 Dümmler, E. L.  327 f., 542 f. Dürer, A.  376 Duisburg, F. K. G. von  235 f. Duisburg, K. L. von  235 f. Duncker, C. F. W.  27 f., 226 Duncker, F.  163 Duncker, L.  161, 163 Duncker, M. W.  54 Duns Scotus  245 Dziatzko, K.  96 ff., 99 f. Ebbinghaus, A.  480 Ebbinghaus, H.  63 f., 94, 305, 307 f., 336, 355, 412, 417, 420, 422 f., 441, 480, 560–571, 575 Eberhard, J. A.  205, 207, 253–256 Echtermeyer, E. Th.  199 f. Eckardt, L.  415 Ehlers, D.  49, 61, 85, 166, 185, 193, 327, 396, 425, 466, 476, 479 Ennodius  394, 396 Epiktet 498 Epikur  48 f., 99, 104, 121, 124, 218, 234

599

Erasmus von Rotterdam  368, 370 Erdmann, B.  3 ff., 15 f., 23 ff., 59, 63 f., 121 f., 130, 132 f., 166, 174, 206, 208, 213, 401 f., 404 f., 412, 423, 439, 483, 485, 532, 534, 537, 541, 582 Erdmannsdörffer, B.  27 f., 76, 84 f., 148, 448 Escher, H.  197 Eucken, I.  449 Eucken, R.  134, 449, 486, 520 Eugippius  394, 396 Euklid 156 Exner, S.  570 f. Eynern, E. von  353 f. Falckenberg, R.  561 Falk, A.  87 Fechner, G. Th.  40 f., 88, 90, 176, 178, 324, 340 Feuerbach, L.  199 f. Fichte, J. G.  110, 199 f., 214 f., 279, 307, 309, 519 Fischer, K.  59, 107 f., 122, 127, 130, 148 f., 478 f. Förster, R.  140 f. Fontane, Th.  264 Foucault, J. B. L.  488, 490 Franck, S.  368, 370 Francke, F. J. Ch.  240 Francke, G. S.  215 f. Franke, G.  136, 227, 396 Franz v. Assisi  341 f., 385 Fresenius, A.  167 Freudenthal, J.  4, 24, 26, 121 f., 127, 134, 136, 175, 213, 490 Freytag, G.  157 f., 249 f., 526 f. Friedrich II.  230, 232, 269, 274, 363, 443, 447 Friedrich III.  63 f., 83, 148 f., 155, 175, 181 f., 249 f. Friedrich Wilhelm IV.  117, 353 f., 358, 448 Fues, L. F. Ch.  127 f., 139, 146, 163, 166

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

600

Personenregister

Galenus von Pergamon  436 f. Galilei, G.  102, 172, 181, 196, 287, 434 f. Gamurrini, J. F.  166 Gans, E.  199 f. Gebhardt, O. von  330, 332 Geffcken, F. H.  249 f. Gegenbaur, K.  251 f. Geibel, C. St. F.  26, 28 Geibel, F. W. C.  26, 28 Geiger, L.  443 f. Gensichen, J. F.  205, 207 Gerhard, K.  198 Gerhardt, C. I.  537 Gerhardt, K. A. Ch. J.  182, 187 f. Gerhardt, V.  73, 90, 420, 423 Gerhardt, W.  181 f. Gerster, F. C.  360 Gibbon, E.  99 f. Gierke, O.  36, 52, 67 ff., 81, 93, 95, 190 f. Gildemeister, J.  124 f., 127 f., 130, 132 f. Giotto 374 Gladstone, W. E.  373 f. Glaser, A.  396 f. Gleim, J. W. L.  199 f., 208 Glogau, G.  506 f. Göhre, P.  329 f. Goethe, J. W. von  18, 117, 139, 145 f., 153, 167, 177, 182, 259, 266, 268, 279, 310, 313 f., 345, 362, 367 f., 370, 374, 394, 436, 442–446, 450, 499, 511, 513 f., 520, 525, 529, 556 f., 586 Goldscheider, A.  290, 297, 583 f. Goldstein 184 Golther, W.  586 f. Goltz, F. L.  40 f. Gomperz, Th.  134, 457, 459 Gorgias 217 Goßler, G. von  9 f., 74 f., 203 f., 208 f., 222, 289, 310 f., 317, 321, 325, 361 Gottsched, J. Ch.  248, 250 Graeber, F.  328 Graef  111 f. Graef, F.  75 f. Grazie, M. E. delle  523

Gregor von Tours  63 f. Greif, M.  95 f. Greiff, J. J. E.  2 ff. Grimm, D.  91 Grimm, G.  27 f., 103, 163, 199 f., 224 f. Grimm, H.  18, 27 f., 56, 80, 91, 103 ff., 161 ff., 169, 199, 211, 283 ff., 287, 302, 313 f., 342, 438, 475 f., 586 f. Grimm, J.  102, 152, 458 f. Grimm, R.  91, 230 f. Grimm, W.  91, 161, 163, 209, 458 f. Groethuysen, B.  33 Groth, K.  264 Grotius, H.  435, 437 Gründer, K.  IX, 57, 78, 87, 171, 181, 409 f., 585 Güßfeldt, P.  271 f., 275 Gusserow, A. L. S.  78 f. Habel  353 f., 358 Haeckel, E.  512, 514 Haeseler, G. von  321 f. Hagemann, J. G.  9 f. Hagemeister, R. E. von  181 f. Haller, A. von  370 Hamilton, W.  369 f., 472 Hansson, O.  360, 414 f. Harden, M.  379 Harms, F.  14, 323 Harnack, A.  127 f., 201–204, 211, 219 f., 287, 289, 295, 326 f., 332 f., 340, 378, 386, 459 Harrach, Graf F.  186 Harrach, Gräfin H.  185 f. Hartel, W. A. Ritter von  394 f., 431 Hartenstein, G.  220, 538 f. Hartley, D.  568 f. Hartmann, E. von  14 Harvey, W.  509, 513 Haupt, M.  465 f. Hauptmann, G.  448 Hausrat, G.  425 Haym, R.  93, 122, 144, 405, 455, 532 Hecker, E.  118 f.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Personenregister

Hegel, G. W. F.  7, 14, 33, 93 f., 110, 139, 145, 181, 229, 272, 348, 386, 434 Heinze, M.  139, 219 f., 525, 527, 532, 536 f., 547, 571 Helmholtz, A. von  150 Helmholtz, H. von  40 f., 56, 63 f., 88, 90, 100 f., 104 f., 126 f., 129 f., 132 ff., 136, 139, 307, 309, 329, 353, 359, 367 f., 374, 395, 418, 423, 434, 461 ff., 468, 477 Heraklit  22, 177, 217 f., 525 Herbart, J. F.  199 f., 221, 488, 490, 564, 567, 569, 575 Herbart, M. J.  199 f., 221 Herbert von Cherbury  430, 435, 443 Herder, J. G.  27, 116, 499, 520 Hering, E.  40 f. Her­mann, J. G.  105 f. Hermann, K. F.  147 f., 217 f. Herrfurth, E. L.  365 Herrmann, J. G. W.  410 Hertling, G. von  411 f. Hertz, H.  562 f. Hertz, W. L.  536 f. Herzog, K. J. B.  10 f. Heubaum, A.  376, 500, 514, 552 f., 569 Heuschkel, M.  201 f., 204, 224 Heyse, P.  264 Hieronymus  342 f., 354 Hilgenfeld, A.  203 f. Hinschius, P.  187 f. Hippokrates 217 Hippolyt 217 Hobbes, Th.  172, 287, 341, 435 Hobrecht, A.  82 f. Hoffmann, F.  199 f. Hohenzollern-Sigmaringen, J. F. Fürst von 244 Holtzendorff, F. von  265 Holtzmann, H. J.  219 f. Homer  147, 284, 287, 331 f., 531 Hopf, K.  228, 230 Hörz, H.  126, 129 Hübler, B.  187 f.

601

Humblot, P.  27 f. Humboldt, A. von  116 Humboldt, W. von  56 f., 63, 199, 272, 482 Hume, D.  138, 249, 568 Huygens, Ch.  435, 437 Ibsen, H.  268 Ihering, R. von  194, 196, 372, 464, 466, 559 Iken, C.  214 f. Jacobi, F. H.  138 f., 199 f., 563, 567 James, W.  305, 576 Janitschek, H.  374 Jevons, W. St.  40 f. Joachim von Fiore  341 f. Joch 238 Jodl, F.  187 f. John, R.  172, 174 Johnson, E.  199 f. Jonas, L.  28, 406 Jouffroy, Th.  138 f. Jourain 569 Julianus  165 f. Julius II.  318 f. Justi, C.  194, 196 Kästner, A. G.  229 f., 253 ff. Kaftan, J.  189 ff., 193 Kalckreuth, Gräfin A. von  244 Kalckreuth, Gräfin B. von  109 ff., 114, 170 f., 212, 243, 248, 288, 328, 363, 410, 470 Kalckreuth, Graf E. St. von  183 Kalckreuth, Graf L. von  110, 114, 183, 245 f., 248, 285, 329, 410, 544 f. Kalckreuth, Graf W. von  170 f., 212 Kant, I.  VIf., 14, 29, 50, 66, 69 ff., 75, 94, 107 f., 130, 138, 173, 200, ­204–208, 212–215, 220 f., 225 f., 228–232, 235, 239–242, 249, ­252–258, 257 f., 272, 277 ff., 369, 402, 433, 437, 443, 445, 450, 456, 459, 461, 463, 467, 477 ff., 482,

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

602

Personenregister

484, 488, 504 f., 524 f., 527, 532 ff., ­536–540, 545 ff., 568, 574, 581–584 Kapp, F.  265 Karl der Große  328, 448 Karsten, S.  217, 219 Kaufmann, C.  542 f. Kaufmann, E.  542 f. Kehrbach, K.  199 f., 206, 221 Kekulé von Stradonitz, R.  227, 231 Kempski, J. von  306 Kepler, J.  288 Kiesewetter, J. G. C. Ch.  277 f. Kießling, A.  106, 108 Kingsley, Ch.  409 Kirchhoff, A.  234 Kisting  552 f. Klebs, G. A.  350 Klebs, Ludwig E. W.  347, 350 Klebs, Luise Ch. Th.  347, 350, 439 f. Kleist, E. Ch. von  199 f. Kleist, H. von  557 Klette, A.  99 f. Klitzing, G. K. K. P. von  410 Klitzing, H. von  282, 410 Klitzing, V. von  216, 219, 282, 410 Klix, G. A.  42 Klopstock, F. G.  27, 209 Klügel, G. S.  229 f. Knaus, L.  143 f. Koch, R.  317 Köbner, W.  7 Kögel, J. Th. R.  86 f. Köhnke, K. Ch.  IX, 73 König, E.  280 f. Koepp, F.  164, 191, 578 Koepp, K.  164 Köstlin, H. A.  124 f. Kohler, J.  181 f., 542 f. Kolloge, J.  75 f. Kopp, G.  345, 361 Koppe, J. Ch.  241 Kraus, Ch. J.  257 f. Krause, C. E. A.  107 f., 206, 208, 445 Krause, K. Ch. F.  199 f.

Kries, J. von  570 f. Krishaber, M.  291 f., 338 f. Krohn  210 f. Kronecker, L.  126, 134 Krug, W. Th.  493 f. Kugler, B.  85 Kühne, L.  IX Kummer, E. E.  56 f. Kußmaul, A.  542 f. Kym, A. L.  542 f. Laas, E.  121 f., 178 f. Laband, P.  52 Lachmann, K. K. F. W.  102, 331, 333 Lade, A.  49 Lade, M.  48 f., 78 f., 123, 125, 343 f. Lagarde, P. A. de  342 Lambert, J. H.  494 Landolt, H. H.  475 f. Landsberg, E.  388 f. Lange, F. A.  178 f., 248, 484 Lange, G.  155 Lange, O.  155 Laplace, P. S. Marquis de  70 Lasker, E.  68 ff. Lassalle, F.  217, 219, 269, 274 Laßwitz, K.  28 f., 36, 106 f., 197, 280, 287, 293, 335, 454 Lehmann, M.  187 Leibniz, G. W.  14, 86, 171, 181, 287, 430, 435, 442 f., 537, 586 Leixner, O. von  64 f. Lemanski, J.  IX Lemme, L. 93 Lenz, J. M. R.  207 f. Leo X.  318 f. Leo, F. 135 f. Leonardo da Vinci  156 f. Lepsius, K. R.  93 Lessing, G. E.  27, 116, 242, 266, 276, 313, 369, 529 Lessing, H.-U.  481, 484, 486 f., 490, 493, 495, 497, 501, 506, 516, 518, 520, 555, 561, 563, 571 f.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Personenregister

Liebig, J. von  155 Liebknecht, W.  300 f. Liebmann, O.  15 f. Liliencron, R. F. Freiherr von  257 Linné, C. von  508, 510 f., 513 f. Lipps, Th.  53 f., 303, 413, 427 f., 440, 442 Litzmann, B.  259, 274, 387 Livius 337 Locke, J.  66, 181, 271, 557 Loenig, R.  261 Loeschke, G.  227 Lorenz, C. A.  305, 355 f. Lorenz, O.  486 Lotze, R. H.  14, 31, 41, 54, 59, 62, 64, 66, 88 ff., 110, 176, 178, 245, 248, 561 Luccanus, H. von  311, 313 Lucretius 234 Ludwig der Fromme  448 Ludwig XIV.  86 Ludwig, C.  26 Ludwig, O.  259 Luther  157, 273, 287, 295, 319, 326, 340, 368 f., 374, 377, 380, 385, 558 Lwoff-Parlaghy, E. V.  329 f. Macaulay, Th. B.  447 Machiavelli, N.  318, 341 Makart, H.  143 f. Malebranche, N.  87 f. Manteuffel, E. K. R. Freiherr von  11 Manteuffel, O. von  358 f. Marcion 219 Marsilius 245 Martens, C. E. von  513 Maudsley, H.  488, 490 Maximilian II. von Bayern  194, 196 Mehring, H.  73, 90, 420, 423 Meier, A.  351, 397 f. Meisner, H.  526 Mejer, O.  240 Melanchthon, Ph.  378 f., 397 Mellin, G. S. A.  71 f. Mendelssohn-Bartholdy, F.  259 Menger, C.  190 f.

603

Menzer, P.  539, 574, 583 Meyer, C. F.  460 Meyer, E.  436 f., 524 f. Meyer, J. B.  128, 136, 439 Meyer, L. von  517 f. Meyer, R. M.  154 f., 159 Meyer, W.  135 f. Meynert, Th.  40 f. Miaskowski, A. von  23, 26, 223 f. Michelangelo 319 Michetti, F. P.  329 f. Mill, James  194, 196, 568 Mill, John Stuart  72 f., 194, 196, 246, 368 f., 503, 568, 573 Milton, J.  447 Minor, J.  454 f. Miquel, J. F. von  293 f., 300 f., 344 f. Misch, G.  143, 186, 313, 416, 466, 563 Molière 551 Moltke, H. K. B. Graf von  102 f., 329 Mommsen, M. A.  461 f. Mommsen, Th.  19, 56 f., 60, 69 f., 81 ff., 127, 165 f., 179, 226 f., 234, 281, 327, 332, 351 f., 394 ff., 398, 460, 462, 465, 475 f., 525 f., 532 f., 535, 540, 549 Moritz, K. Ph.  236 Müllenhoff, K. V.  63 f. Müller, F.  516 f. Müller, G. E.  40 f., 89 f., 412 f., 419– 423, 426, 439, 441, 457 Müller, L. A. von  290, 292 Münsterberg, H.  350 f., 355 f. Mullach, F. W. A.  61 f., 217, 219 Munk, H.  287, 289 Napoleon  102, 566 Natorp, B. Ch. L.  482, 484 Natorp, O.  482, 484 Natorp, P.  481 Naumann, O.  577 f. Neander, A. J. W.  326 f. Nehring, W.  222 f., 443 Newton, I.  181 f., 488, 569

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

604

Personenregister

Nicolai, F.  215 f., 338 f. Nicole, P.  86, 88 Niemeyer, A. H.  199 f. Nietzsche, F.  155, 283, 327 Nohl, H.  117, 264, 530 Normann, K. von  83 Novalis  313, 529 Ogereau, F.  218 Oldenberg, H.  226 f., 524 f. Oldenberg, K.  265 Olfers, M. von  75, 162 f. Origenes 217 Parmenides  109, 176, 525 Pascal, B.  86 ff., 446 Paul, H.  153, 155 Paulsen, F.  3 f., 12, 15 f., 18, 25, 43, 189 ff., 193 f., 272, 275, 310 ff., 411 f., 421 ff., 429, 480, 556 Paulus  295, 498, 558 Paulus, H. E. G.  314 f. Pelagius  369 f. Pestalozzi, J. H.  481 Petrus 498 Pflüger, E. F. W.  466 Pflugk-Harthung, J. A. G. von  253 f., 257 Philipp IV.  245 f. Philo Judaeus  48, 219, 399, 499 Piccolomini, E.  166 Pirckheimer, W.  375 f. Platon  7, 61, 67, 76, 80, 82, 100, 104 f., 147 f., 157, 177, 217, 231, 248 f., 274, 399, 497 f., 507, 560 Plutarch  38 f., 498 Polybios  399 f. Prantl, C. von  20 f., 135, 187, 249 f. Priestley, J.  569 Prinz, R.  277 f. Pröhle, Ch. F. H.  199 f., 209 Proklos  94 f., 251 Propertius, S. A.  246 f. Püttmann, C.  56 f., 231, 425 Püttmann, W.  56 f.

Pythagoras  22, 114, 457 Racine, J. B.  86, 88, 446, 551 Radolin, H. Fürst von  83 Raffael  56, 77 f., 104 Ranke, L. von  54, 63 f., 67 f., 115 f., 144 ff., 177 f., 194, 196, 310 f., 316, 368, 372, 433 Rath, Adolph vom  101, 543 Rath, Anna vom  101, 543 Rebenich, St.  136, 227, 396 Redi, F.  509, 513 Rehberg, A. W.  256 Rehmke, J.  309, 493 Reichlin-Meldegg, K. A. Freiherr von  314 f. Reicke, J.  206, 208 Reicke, R.  70 ff., 205, 207 f., 226, 228, 240, 243, 279, 432, 477, 536 f. Reid, Th.  138 Reiff, J. F.  45 Reimer, D.  483, 485 Reimer, Ernst H.  276, 320, 485 Reimer, Georg Andreas  28, 462 Reimer, Georg Ernst  28 Rein, W.  444 Reinert, J. B.  214 ff. Reinhold, C. L.  256, 279 Reinhold, H.  75 f. Rembrandt  55, 336 Reusch, Ch. F.  205, 207 f. Ribbeck, E.  25 f., 207 f. Ribbeck, O.  25 f., 170, 431, 436 Ribot, Th.  291, 293, 338 f. Richepin, J.  274 Richter, E.  358, 360 Rieger, K.  290, 292, 299, 338 f. Riehl, A.  178 f., 189 f., 244, 517 Riehl, S.  516 f. Rindert, J.  73, 90, 420, 423 Ritschl, A.  287, 289, 295 f., 332 f., 359, 378, 385 f., 410 Ritschl, F. W.  60 f. Ritter, M.  430 f.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Personenregister

Ritter, P.  VIII, 585 Robert, C.  231 f. Robinet, J. B.  499 f., 510 Robolsky, H.  68 Rodenberg, J.  340 f., 377, 503 Rodi, F.  IX Roediger, M.  51 f. Rohde, E.  326 f., 524 f., 586 Roepell, R.  23, 26 Rose, V.  99 f. Rosenkranz, K.  205, 207, 220, 228 f., 256 Rößler, K.  69 f., 144 ff., 181 f., 362 Rousseau, J. J.  171, 557 Royer-Collard, P. P.  139 Rühlmann, R.  75 f. Rümelin, Ch. H. W. G. von  45 Rümelin, M. F. G. von  45 Sachse, F.  261 Saint-Beuve, Ch.-A.  86 f. Saint-Hilaire, E. G.  510 f., 513 f. Salutati, C.  431 f. Sauer, A.  523 Sauerma von der Jeltsch, J. G. Freiherr von  189 f. Schadow, G.  143 f. Schaper, F.  139 f. Scheller, F.  83 Schelling, F. W. J.  14, 139, 177, 199 f., 470, 563, 567 Schenkl, H.  498 f. Scherer, H.  179 f. Scherer, M.  26 f., 62, 64, 154, 161 f., 180 Scherer, W.  18, 26 f., 62 ff., 76, 102, 117, 136, 150–159, 161 ff., 178 ff., 209, 224, 231, 248, 282, 401 Schiller, F. von  193, 258 f., 264, 266 ff., 379, 444, 448, 460, 470, 472, 529, 544 f., 551, 557 Schirrmacher, F. W.  213, 225, 235 f., 241, 253, 255 Schlegel, A. W.  454 f., 556 Schlegel, F.  314, 556

605

Schleiermacher, F. D. E.  7, 14, 27, 86, 101, 148 f., 189, 214, 217, 231 ff., 247, 257, 261, 266, 272, 275 f., 287, 295, 309, 328, 346, 369, 406, 436, 444, 470, 519 Schleker, L.  228 f., 232, 236, 240 Schlitz, E. Graf von, gen. von Görtz 285 Schmekel, A.  408, 436 f., 455 f. Schmidkunz, H.  360 Schmidt, A.  200 Schmidt, E. O.  521 f. Schmidt, Elisabeth  161 ff. Schmidt, Erich  152 f., 264, 476, 557, 560 Schmidt, Johannes  3 f., 475, 542 f. Schmidt, Julian  62, 64, 80 f., 93, 162 f., 167 ff., 175, 209, 460 Schmoller, G. von  37 f., 45, 53, 76, 79, 149, 171, 173, 179, 188, 190 f., 265, 287, 289, 300, 353, 423, 461, 463 f. Schmoller, L. von  79, 149 Schneider, R.  199 f. Schoeps, H. J.  75 Scholtz, G.  IX Scholz 1 Scholz, W.  143 f. Schönberg, G. F. von  37 f. Schöne, R.  10 f., 19, 96 Schopenhauer, A.  3, 14, 110, 214 f., 283 Schottmüller, K.  361 f. Schrader, E.  399 f. Schrader, K. W. F. G.  306 f. Schröder, E.  151 Schubert, F. W. 205 ff., 256 Schubert, H.  3 f., 5 f., 155, 220, 256 Schütz, Ch. G.  220 f. Schulenburg, S. von  VII f., 143 Schultz, H. H.  102 Schultz, Johann Ernst  277 f. Schultz, Johann Friedrich  546 f. Schultz, Johannes  220 f., 226, 253–256 Schulze, F. E.  500 Schulze, G. E.  214 f.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

606

Personenregister

Schulze-Gaevernitz, G. von  288 f., 293 f., 300 f. Schulze-Gaevernitz, H. von  288 f., 293 Schumann, F.  456 f. Schuppe, W.  92, 165, 497 Schuster, P. R.  217 f. Schwarz  149, 227 Scipio Africanus  337 f. Semple, J. W.  212, 214 Seneca  218, 337 f., 372, 399 Severino, M. A.  510, 513 Shaftesbury, A. A. C., Graf von  171, 443 Shakespeare, W.  68, 266 f., 271, 285, 336, 371, 430, 525, 528 ff., 537, 557, 585 Siebeck, H.  16 ff., 23 f. Siemens, A. von  129 Siemens, E. von  129 Siemens, W. von  126, 129 Sigwart, Christoph  10 f., 24, 26, 45, 47, 59, 67, 69, 72, 119, 121 f., 127, 130, 178, 194, 196, 245, 350, 440, 498, 503, 555, 576 Sigwart, Charlotte  439 f. Sigwart, G.  347 Silvia aus Aquitanien  166 Simmel, G.  73 Sintenis, F. L. F.  205 f., 208 Sixtus V.  318 f., 341 Smith, A.  259 Soden, H. von  451 Sohm, R.  376 f. Sokrates  105, 132, 218 Solger, K. W. F.  199 f. Sommer, R.  292, 339 Soulier, H.  219 Sournier 447 Sozzini, F.  372 Sozzini, L.  372 Spencer, H.  189 f., 194, 261, 300, 329, 337, 488, 490 Spinoza, B. de  87, 171, 262, 348, 430, 435–438, 442 f., 445, 473, 524 Springer, A.  60 ff., 374 Stahl, F. J.  357, 359

Ständer, J.  198 Stark, W.  207, 240, 536, 540, 583 Stauffer-Bern, K.  376 f. Steck, R.  202, 204 Steenblock, V.  IX Stein zum Altenstein, K. Freiherr vom  272, 275 Stein, Ch. A. E. Freifrau von  442, 444 Stein, H. von  87 Stein, L.  174, 320, 416, 432, 506 f. Steinhausen, G.  526 Steinthal, H.  246 f., 507 Stintzig, R. von  388 f. Stobbe, J. E. O.  169 f. Stoecker, A.  38 f. Stöckl 453 Storm, Th.  247 Straton 398 ff. Strauß, D. F.  199 f., 262, 264, 295 Stumpf, C.  53 f., 64, 88 ff., 305, 323, 355 f., 359 f., 376, 405, 408 f., 411 ff., 420 f., 423–429, 431, 436, 438–442, 454, 457, 461, 463, 467, 477, 515, 517, 525, 548, 551, 556, 562, 581 f. Stumpf, H.  411 f., 418 f. Suckow, S. G.  235 f. Süvern, J. W.  273, 275, 437, 442, 445 Suphan, B. L.  144 ff., 279, 444 Swammerdam, J.  509, 513 Sybel, H. von  54, 124, 126 f., 129, 136, 226, 259 f., 270, 275, 549 f. Taine, H.  291 f., 433, 447, 488, 565, 567 Teichmüller, G.  7, 217 f. Telesio, B.  372, 503 Tetens, J. N.  323 Thales  217, 458 Theano 114 Theophrast  507, 509, 512 f. Thomas von Aquin  177 Thrasymachos  104 f. Tieck, L.  145 f., 199, 556 Tobler, A.  475 f. Tolstoy, L.  268

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

Personenregister

Tomczak, M.  IX Treitschke, E. von  104 f. Treitschke, H. von  18, 20 f., 35, 54, 62, 68, 104 f., 183, 332, 353, 358, 475, 527 f., 535, 580 Trendelenburg, F. A.  8, 14, 93 Ueberweg, F.  139 Uhlig, G.  329 f. Ulrich, J. A. H.  257 f. Usener, Hans  366, 387, 424 Usener, Hermann  VIII, 27 f., 35, 49, 59, 61 f., 66, 68, 79 f., 85, 97, 100, 104 f., 125, 128, 130, 132 ff., 137, 164, 166, 175, 179, 192 f., 202, 327, 332, 346, 352, 389, 394, 398, 424, 466, 475, 578, 580, 586 Usener, Karl Albert Hermann  78 f., 85, 366, 387 Usener, L.  48 f., 55, 61, 99, 123, 191 f., 234, 251, 332, 352, 366 Usener, M.  125, 192, 346, 387, 425 Usener, W.  125, 473 f., 521 Uz, J. P.  199 f. Vahlen, J.  395, 397 f., 459 f., 581 Vaihinger, H.  525, 534, 537, 541, 546, 549, 574 Varro  99, 218 Velasquez  194, 196 Vergil 420 Verlaine, P.  171 Vico, G. B.  577 f. Vicq d’Azyr, F.  499 f., 510 Victoria Adelaide Marie Luise  83, 175, 468 Victoria von Großbritannien u. Irland  175 Virchow, R.  535 Vischer, F. Th.  122, 127, 131, 133 f., 136, 147 Vischer, R.  131, 133 f., 139 f., 157 f., 187 f., 340 f. Vogt, C.  334 Volkelt, J.  454

607

Voltaire 443 Voss, L.  303 Wagner, A.  37 f. Wagner, R.  87 Waitz, G.  63 f. Waitz, Th.  63 f., 519 f. Walch, J. G.  493 f. Wald, S. G.  206, 208 Walter, J.  23 f., 26, 277 f. Walzel, O.  315 Wattenbach, W. von  535 Weber, C. M. von  183 Weber, E. H.  40 f., 88 ff. Weber, Th. H.  10 ff., 15 f., 23 f., 26 Weierstraß, K. Th. W.  56 f., 183 Weiland, L.  58 f. Weiland, M.  49, 59 Weinhold, K. G. J.  210 ff., 223, 264, 461 f., 475, 581 Weiß, B.  203 f. Weizsäcker, C. H. von  124 f., 203 f., 388 f., 397 Welcker, F. G.  217, 219 Werner, F. L. Z.  199 f. Werner, R. M.  303 Westermann, F.  396 Weyrauch, E. von  325 Wiese, L. A.  306 f., 325 Wilamowitz-Moellendorff, U. von  8, 128, 179, 202 Wildenbruch, E. von  182 f., 196, 258 f., 264, 266 f., 274, 288 f., 378 f., 384, 387, 391, 393, 409, 448, 537, 580 Wildenbruch, M. K. von  183, 266 Wilhelm I.  9 f., 87, 91, 117, 155, 160 Wilhelm II.  264, 269 ff., 274 f., 300, 310–313, 329, 353 f., 359, 364, 374, 433, 468 Wilhelm von Ockham  245 Willroider, J.  102 f. Willroider, L.  102 f. Wilmanns, A.  96–100, 184, 330, 332 Winckelmann, J. J.  116, 171, 217

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697

608

Personenregister

Windelband, W.  3 f., 12, 15 f., 18, 24 f., 121, 181 f., 340 f., 505 f., 550 ff., 559 Windthorst, L. J. F. G.  300 f., 356, 358 f. Wittel, L.  IX Witzleben, M. von  48 f. Wizenmann, Th.  199 f. Wölfflin, E.  427 Wöllner, J. Ch. Von  265 Wolf, F. A.  105 f., 217, 272 f. Wolff, Ch.  216 Woltersdorf, Th. K. G.  277 f. Wundt, W.  23 f., 26, 39 ff., 64, 107, 178, 305, 323, 351, 354 ff., 399 f., 405, 417, 420, 471, 502, 504, 550, 552, 559, 571 f., 576 Xenophanes  60, 121 Yorck von Wartenburg, Gräfin A.  s. Kalckreuth, Gräfin A. von Yorck von Wartenburg, Gräfin B.  s. Kalckreuth, Gräfin B. von Yorck von Wartenburg, Gräfin H. von  243 f. Yorck von Wartenburg, Gräfin L.  55, 57, 77, 111, 216, 282, 315, 445, 451, 528 Yorck von Wartenburg, Gräfin V.  s. Klitzing, V. von Yorck von Wartenburg, Graf Hans  77 f., 110, 177, 244, 250, 310 f., 313 f., 545

Yorck von Wartenburg, Graf Heinrich  21 f., 62 f., 110 f., 141, 248, 264, 300, 306, 310, 316, 325, 337, 342, 360 Yorck von Wartenburg, Graf M.  102 Yorck von Wartenburg, Graf P.  VII, 1, 15 f., 35 f., 38, 41, 73 ff., 102, 106, 112, 114, 151, 182 f., 219, 274 f., 282, 285, 306, 311, 316, 322, 334, 400, 416, 451, 472, 545, 560, 580 York, Herzog von  256 Zedlitz und Leipe, K. A. Freiherr von  272, 275 Zedlitz und Trützschler, R. Graf von  353 f., 358 f., 361, 363 ff. Zeller, A.  127 f., 150, 231 Zeller, Eduard  VI, 2, 4, 7 f., 18 f., 35, 53, 59, 63 f., 87, 95, 118, 120–125, 127, 129–133, 136 f., 139, 146, 148 f., 152, 159, 166, 173 ff., 178, 181, 187 f., 190, 193, 231, 251, 259 f., 271 f., 274 f., 283, 307, 309, 312, 314, 332 f., 344, 411 f., 422 f., 427, 429, 437 ff., 442, 445 f., 451, 456, 463 f., 518 Zeller, Emilie  2, 4, 152 Zeller, J.  148 f. Ziegler, Th.  68, 121 f. Ziegler, W. K. L.  238 f. Ziemssen, H. von  184 f., 549 f. Ziller, T.  199 f., 221 Zinn, E.  12 f., 17 Zwingli, H.  259, 368 ff., 378 f., 380

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525303696 — ISBN E-Book: 9783647303697