Briefwechsel: Band I: 1852-1882 9783666303685, 9783647303680, 9783525303689

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Briefwechsel: Band I: 1852-1882
 9783666303685, 9783647303680, 9783525303689

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Wilhelm Dilthey

Briefwechsel Band I 1852–1882 Herausgegeben von Gudrun Kühne-Bertram und Hans-Ulrich Lessing

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 5109160-9783525303689 — ISBN E-Book: 978-3-647-30368-0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-30368-9 ISBN 978-3-647-30368-0 (E-Book)

© 2011 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Gesamtherstellung: H Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Vorwort der Herausgeber

Schon bald nach dem Tod Wilhelm Diltheys (1911) begannen im Jahre 1914 seine Schüler mit einer Veröffentlichung der Ausgabe seiner Gesammelten Schriften, die 2006 mit dem sechsundzwanzigsten Band abgeschlossen worden ist. Im Anschluss daran wird nun der Briefwechsel Diltheys herausgegeben. Der Plan hierzu besteht bereits seit 1967. Er geht auf die Initiative Karlfried Gründers zurück, den Reihenherausgeber der Bände XV bis XXVI der Gesammelten Schriften (Band XIX bis XXVI zusammen mit Frithjof Rodi). Tatkräftig unterstützt wurde Gründer in den 1960er bis 1980er Jahren von Linne Wittel, von der auch die ersten vorbereitenden Arbeiten zu dieser Briefedition stammen. Um den Umfang der Briefausgabe zu begrenzen, wurde eine Auswahl aller von und an Dilthey überlieferten Briefe getroffen. Die auf drei Bände geplante Edition, deren erster Band hier vorgelegt wird, versteht sich zudem als eine Leseausgabe, die das Ziel hat, uns im Medium der Briefe die Person Diltheys zu vergegenwärtigen und zu veranschaulichen sowie das Verständnis seiner Werke zu fördern und zu erweitern. So wurden hier, wie auch schon bei der Herausgabe der Gesammelten Schriften, keine historisch-kritischen Maßstäbe angelegt. Eindeutig von den Briefschreibern durchgestrichene Wörter und Satzteile blieben deshalb unberücksichtigt; über die Zeile oder an den Rand geschriebene Wörter und Sätze wurden meist kommentarlos in den Brieftext an entsprechender Stelle integriert. Der erste Band umfasst Briefe aus dem Zeitraum 1852–1882. Er reicht vom Beginn der Studienjahre Diltheys in Heidelberg und Berlin, über die Zeit seiner Promotion und Habilitation und seiner frühen Lehrtätigkeit in Berlin, seine Berufungen nach Basel, Kiel und Breslau bis zu seinem Ruf auf einen philosophischen Lehrstuhl an die Berliner Universität als Nachfolger Rudolf Hermann Lotzes. Einen ersten Schwerpunkt bilden Diltheys zahlreiche Briefe an seine Eltern und Geschwister, insbesondere an seinen Vater, der – ungeduldig und drängend – von seinem Sohn regelmäßig im Abstand weniger Wochen Berichte über dessen Studien- bzw. Karrierefortschritte und den Stand seiner Arbeiten verlangte. Ein weiterer Schwerpunkt des Bandes sind die Briefwechsel, die Dilthey mit seinen engeren Bekannten und Freunden führte. Hierzu zählen seine Freunde aus der Kindheit, vor allem der Komponist und Dirigent Bernhard Scholz sowie dessen Cousin Adolf Glaser, Schriftsteller und Chefredak-

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Vorwort der Herausgeber

teur von Westermann’s deutschen illustrirten Monatsheften. Ferner sind zu nennen die langjährigen Korrespondenzen mit dem Altphilologen Hermann Usener, dem späteren Schwager Diltheys, dem Germanisten Wilhelm Scherer, dem Kunsthistoriker und Schriftsteller Herman Grimm, den Historikern Bernhard Erdmannsdörffer und Heinrich von Treitschke sowie mit Rudolf Haym, dem Begründer der Preußischen Jahrbücher. Hervorzuheben sind des Weiteren die Briefe, die Dilthey an seine Braut und spätere Ehefrau Katharina Püttmann schrieb, sowie diejenigen aus dem beginnenden Briefwechsel zwischen Dilthey und seinem philosophischen Freund, dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg. Erwähnenswert ist auch die intensive Korrespondenz zwischen Dilthey und seinen Verlegern, insbesondere Georg Ernst Reimer und dessen Sohn Ernst sowie George Westermann. Darüber hinaus enthält dieser Band eine Anzahl von Briefen, die Dilthey an Kollegen schrieb oder die er von ihnen empfing. Sie dokumentieren z.B. den Austausch über Arbeitsprojekte, anstehende oder bereits erschienene Publikationen, Rezensionen derselben sowie Dilthey oder seine Kollegen betreffende Berufungsfragen. Ein nicht unwesentlicher Teil der in diesem Band edierten Briefe betrifft Diltheys Edition von Briefen Schleiermachers und Materialien hierzu sowie seine Schleiermacher-Biographie. Die Briefe sind aufschlussreich für Diltheys persönliche und wissenschaftliche Entwicklung, indem sie Einblicke gewähren in seine, nur zum Teil realisierten, Arbeitspläne und seine Arbeitsweise. Sie geben Einblicke in seine philosophischen Gedanken und Konzeptionen und tragen damit zum Verständnis der Genese seiner Schriften bei. Auch werfen sie ein Licht auf die politischen Verhältnisse, Ereignisse und Diskussionen der sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts in Preußen und Deutschland. Darüber hinaus spiegeln sich in den Briefen philosophische und wissenschaftliche Diskussionen, das akademische und gesellschaftliche Leben dieser Jahre sowie universitätsinterne Zustände und Zusammenhänge wider. Zudem zeigen sie uns Dilthey in seinen Beziehungen zu seinen Eltern, Geschwistern und weiteren Familienmitgliedern. Die Briefe an seine Verlobte Katharina Püttmann offenbaren nicht nur bisher völlig unbekannte Gefühlsseiten von Diltheys Persönlichkeit, sondern sie sind auch erhellend für seine Anschauungen von Glück, Liebe, Ehe und dem Verhältnis der Geschlechter zueinander, insbesondere der Rolle der Frau. In die Auswahledition wurden generell alle diejenigen Briefe und Briefwechsel aufgenommen, die bereits in verschiedenen – zumeist in älteren und oft nur noch schwer greifbaren – Briefeditionen oder sonstigen Monographien publiziert wurden. Darüber hinaus fanden in den Band nur solche Briefe Eingang, die biographisch, systematisch-philosophisch oder werk-

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Vorwort der Herausgeber

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geschichtlich, philosophie-, wissenschafts- oder universitätsgeschichtlich sowie zeit-, geistes-, sozial- oder mentalitätsgeschichtlich von Interesse sind. Die vorliegende Briefausgabe will somit auch eine Materialsammlung sein, die Anregungen für philosophiegeschichtliche und wissenschaftsgeschichtliche Forschungen liefert. Der größte Teil der Briefe wird erstmals in diesem Band aus den Nachlässen Diltheys in Berlin und Göttingen sowie aus denen seiner Briefpartner oder aus den Nachlässen Dritter ediert. So konnten in sehr vielen Fällen Briefe, die früher bereits publiziert worden sind, durch einen Vergleich mit den entsprechenden Brieforiginalen korrigiert und von den Erstherausgebern weggelassene Briefabschnitte ergänzt werden. Waren die Originale nicht mehr auffindbar, so wurden, wenn vorhanden, hand- oder maschinenschriftliche Transkripte oder Teiltranskripte von Briefen, die in einigen Fällen in Archiven hinterlegt sind, für die vorliegende Edition herangezogen. Da die Briefe bemerkenswerte Beispiele einer längst vergangenen Briefkultur darstellen, die bis in die Orthographie und Zeichensetzung hinein den Stil der Schreibenden und ihrer Zeit veranschaulichen, werden die Briefe – gemäß dem eben Gesagten – möglichst authentisch wiedergegeben. Modernisierungen, Korrekturen und Vereinheitlichungen der Rechtschreibung sowie Eingriffe bei der, nach heutigem Standard, zum Teil sehr eigenwillig und nachlässig gehandhabten Zeichensetzung wurden nicht vorgenommen. Ungewöhnliche Schreibweisen, wie „Grosmutter“, Diltheys uneinheitliche Schreibweise einzelner Wörter (z. B. „almälich“ und „allmälig“) sowie die unterschiedliche Wiedergabe von Eigennamen (z.B. „Mariane“ und „Marianne“; „Göthe“ und „Goethe“) wurden belassen, ebenso wie beispielsweise die bisweilen vorkommende Kleinschreibung nach einem Punkt oder fehlende Punkte nach Ordinalzahlen. Sehr auffällig falsch geschriebene Namen (z.B. „Schiler“ statt „Schiller“) wurden von den Herausgebern in [ ] korrigiert, abgekürzte Jahreszahlen und Monatsangaben sowie eindeutige Wörter und Eigennamen wurden in [ ] komplettiert. Zudem haben wir in einigen Fällen fehlende Wörter aus Gründen der besseren Lesbarkeit und eines leichteren Verständnisses in [ ] ergänzt. Wörter und Satzteile, die in den Brieforiginalen oder in Briefabschriften zur Hervorhebung unterstrichen sind und die in bereits ehemals veröffentlichten Briefen gesperrt oder fett gedruckt wurden bzw. in Kapitälchen gesetzt sind, haben wir kursiviert. Auslassungen in den Briefen, die von den Erstherausgebern vorgenommen wurden, und Entzifferungslücken in den archivierten Briefabschriften, die nicht mehr durch die Heranziehung der entsprechenden Originale zu schließen waren, sind durch .|.|. gekennzeichnet. [.|.|.] machen unlesbare und nicht entzifferbare Wörter kenntlich, [?] markieren unsichere Transkriptionen.

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Vorwort der Herausgeber

Die Briefe werden in chronologischer Folge präsentiert. Ein großer Teil der von Dilthey geschriebenen Briefe ist undatiert oder unvollständig datiert. Deshalb waren häufig Neudatierungen nötig. Auch wurden Datierungen, die von den Erstherausgebern von Briefen Diltheys oder bisweilen von den Empfängern seiner Briefe, in einigen Fällen auch von Archivaren vermutlich nachträglich hinzugesetzt worden sind, wenn sie nicht plausibel erschienen, geändert. Dies betrifft vor allem Diltheys Brautbriefe, seine Korrespondenz mit den Verlegern Reimer sowie die Briefe, welche in dem Band Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852–1870 gesammelt sind, den Diltheys älteste Tochter Clara Misch 1933 herausgab. Obwohl sich die vorgenommen Neu- und Umdatierungen an Daten orientieren, die an der Biographie Diltheys oder anderer Personen, an universitätsgeschichtlich bekannten Tatsachen oder an politischen Ereignissen festgemacht sind, bleibt die Chronologie der Briefe an einigen Stellen problematisch oder fragwürdig. Da zum einen oft größere zeitliche Abstände zwischen den überlieferten Briefen liegen und zum anderen einige biographische Daten nicht mehr oder zumindest nicht eindeutig aufzuklären sind, wie z.B. die Geburtstage und Geburtsmonate einiger Verwandter Diltheys, sind manche möglicherweise noch bestehenden Unstimmigkeiten und Inkonsistenzen innerhalb eines Briefes oder zwischen mehreren nacheinander folgenden Briefen kaum mehr aufzulösen. Dilthey selbst kannte aus leidvoller eigener Erfahrung bei seiner Edition der Schleiermacher-Briefe „die wunderliche Arbeit, Briefe ohne Datum zu ordnen“ und „oft in einem Dutzend Büchern nach einer lumpigen Notiz“ suchen zu müssen. Obwohl er wusste, „wie wichtig das Datum ist und wieviel Mühe alle jungen Leute den Herausgebern von Briefwechseln ersparen könnten, wenn sie bedächten, daß sie leicht einmal über Nacht berühmt werden können“ (Brief Diltheys an Luise Scholz von Mitte Februar 1860; in diesem Band Brief 68, S. 122f.), setzte er diese Einsicht leider nicht beim Schreiben seiner eigenen Briefe um. Die Kommentare der Herausgeber in den Endnoten zu den einzelnen Briefen beschränken sich auf erläuternde Anmerkungen zu Personen, Ereignissen, Sachverhalten und erwähnten Schriften, die nicht mehr als allgemein bekannt vorausgesetzt werden können. Dasselbe gilt für die Erklärungen sowohl heute ungebräuchlicher als auch alt- und fremdsprachiger Wörter und Redewendungen. Im Text genannte Schriften oder angeführte Zitate wurden bibliographisch nachgewiesen, wobei die Kommentare der vorliegenden Briefeditionen zum Teil herangezogen wurden. Einige familiäre oder lokale Anspielungen sowie Namen aus Diltheys Biebricher Umfeld oder seiner Familie ließen sich trotz intensiver Recherchen nicht mehr nachweisen.

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Vorwort der Herausgeber

Unser Dank gilt zunächst der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die durch ihre finanzielle Förderung eine konzentrierte und kontinuierliche Arbeit an der Briefedition ermöglichte. Ferner richtet sich unser Dank an alle, die an der Vorbereitung und Fertigstellung des Bandes in unterschiedlicher Weise beteiligt waren: Prof. Dr. Karlfried Gründer, Line Wittel, Prof. Dr. Klaus Christian Köhnke, Prof. Dr. Frithjof Rodi, Prof. Dr. Gunter Scholtz, Prof. Dr. Volker Steenblock, Britta Dormaier, David Friedrich, Lothar Kühne und Dr. Valentin Pluder. Darüber hinaus danken wir den Leitern und Mitarbeitern aller beteiligten Handschriftenabteilungen in Bibliotheken und Archiven für ihre Kooperation und die Genehmigung zum Abdruck der Briefe, insbesondere dem Literaturarchiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Bochum, im September 2010

Gudrun Kühne-Bertram Hans-Ulrich Lessing

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Inhalt Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Briefwechsel 1852–1882 [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8] [9] [10] [11] [12] [13] [14] [15] [16] [17] [18] [19] [20] [21] [22] [23] [24] [25] [26] [27] [28] [29] [30] [31] [32] [33] [34]

Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Gustav Teichmüller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Gustav Teichmüller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Tante Marie Heuschkel . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Cousine Karoline Rückert . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Cousine Bertha Rückert . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Cousine Bertha Rückert . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gustav Teichmüller an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Gustav Teichmüller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Gustav Teichmüller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gustav Teichmüller an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Gustav Teichmüller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gustav Teichmüller an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Unbekannt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Moritz Lazarus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Schwester Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Cousine Karoline Rückert . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilhelm Gaß an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Cousine Karoline Koepp . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Schwester Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Schwester Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Schwester Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Schwester Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Schwester Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Schwester Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Schwester Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Schwester Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Bernhard Scholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilhelm Gaß an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Schwester Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Bernhard Scholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Schwester Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Luise Scholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Schwester Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Luise Scholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rudolf Anastasius Köpke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Schwester Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dilthey an seine Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Luise und Bernhard Scholz . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Schwester Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Luise und Bernhard Scholz . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Luise Scholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moritz Lazarus an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Luise Scholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Großmutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Bernhard Scholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Luise Scholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Luise Scholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Rudolf Haym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rudolf Haym an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian A. Brandis an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Rudolf Haym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Dilthey an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Friedrich Eggers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Eggers an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Luise Scholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Luise Scholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Eltern und Geschwister . . . . . . . . . . . . . Ernst Bertheau an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Rudolf Haym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Theodor Richter an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dilthey an Rudolf Haym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Rudolf Haym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Schwester Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eduard Tempeltey an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Rudolf Haym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Rudolf Haym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Luise Scholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Ludwig Häusser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Baumgarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Rudolf Haym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adolf Wilbrandt an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Dilthey an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rudolf Haym an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Rudolf Haym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . August R. Ch. de Wette an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Baumgarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Adolf Wilbrandt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rundschreiben Rudolf Hayms an Georg Ernst Reimer, Wilhelm Wehrenpfennig, Wilhelm Dilthey – nebst Diltheys Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Dilthey an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Dilthey an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Bernhard Scholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Eltern und Geschwister . . . . . . . . . . . . . Bernhard Scholz an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Adolf Wilbrandt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Adolf Wilbrandt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Adolf Wilbrandt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Rudolf Haym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richard Gosche an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 5109160-9783525303689 — ISBN E-Book: 978-3-647-30368-0

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Dilthey an Rudolf Haym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Rudolf Haym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Adolf Wilbrandt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Adolf Wilbrandt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Rudolf Haym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maximilian Dilthey an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lina Duncker an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Bernhard und Luise Scholz . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Gisela Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Tante Marie Heuschkel . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Moritz Lazarus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Schwester Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 5109160-9783525303689 — ISBN E-Book: 978-3-647-30368-0

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Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Rudolf Haym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Heinrich von Treitschke . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Heinrich von Treitschke . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Schwester Lily . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Schwester Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Walther Chalybaeus an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Tante Marie Heuschkel . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Vischer-Bilfinger . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilhelm Vischer-Bilfinger an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Franz August Potthast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adolf Kießling an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Konstantin Rößler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Konstantin Rößler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 5109160-9783525303689 — ISBN E-Book: 978-3-647-30368-0

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Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch . . . . . . . . Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch . . . . . . . . Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Vischer-Bilfinger . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Konstantin Rößler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch . . . . . . . . Wilhelm Scherer an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Adolf Trendelenburg an Dilthey . . . . . . . . . . . Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adolf Glaser an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Rudolf Haym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Konstantin Rößler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Heinrich von Treitschke . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Curt Wachsmuth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Heinrich von Mühler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinrich von Mühler an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Ueberweg an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an die hohe Curatel Basel . . . . . . . . . . . . . . . . . .

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 5109160-9783525303689 — ISBN E-Book: 978-3-647-30368-0

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[272] Das Erziehungskollegium des Kantons Basel-Stadt an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [273] Dilthey an seine Schwester Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [274] Dilthey an Gustav Droysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [275] Dilthey an Alfred Edwin Boretius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [276] Dilthey an Gustav Teichmüller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [277] Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [278] Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [279] Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [280] Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [281] Dilthey an Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [282] Dilthey an Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [283] Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer . . . . . . . . . . . . . . [284] Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [285] Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [286] Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [287] Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [288] Georg Eichler an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [289] Dilthey an Justus von Olshausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [290] Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [291] Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [292] Otto Ribbeck an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [293] Dilthey an seine Schwester Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [294] Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [295] Dilthey an Wilhelm Vischer-Bilfinger . . . . . . . . . . . . . . . [296] Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer . . . . . . . . . . . . . . [297] Dilthey an Justus von Olshausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [298] Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [299] Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer . . . . . . . . . . . . . . [300] Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [301] Dilthey an Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [302] Dilthey an Carl Justi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [303] Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [304] Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [305] Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [306] Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [307] Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [308] Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [309] Christoph Sigwart an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [310] Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 5109160-9783525303689 — ISBN E-Book: 978-3-647-30368-0

460 461 463 463 464 465 467 468 469 470 471 472 473 474 475 476 476 478 479 480 481 482 482 483 484 486 487 488 491 492 494 494 496 497 500 501 503 503 507

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Dilthey an Carl Justi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adolf Bastian an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Justus von Olshausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Gisela Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Richard Adalbert Lipsius . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Theodor Storm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alexander von Oettingen an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ferdinand Friedrich Zyro an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Samuel Funk an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johann Gustav Droysen an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinrich von Treitschke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Heinrich von Treitschke . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinrich von Treitschke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 5109160-9783525303689 — ISBN E-Book: 978-3-647-30368-0

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Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Schwester Lily . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herman Grimm an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Heinrich von Treitschke . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinrich von Treitschke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Carl Justi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Carl Justi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinrich von Treitschke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Carl Justi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Carl Justi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Richard Adalbert Lipsius . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Carl Justi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Carl Justi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Carl Justi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theodor Toeche an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Frick an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Carl Justi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Lily und Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Eduard Zeller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Lily und Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 5109160-9783525303689 — ISBN E-Book: 978-3-647-30368-0

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Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Ribbeck an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinrich von Treitschke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Adalbert Falk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Justus von Olshausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinrich von Treitschke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinrich von Treitschke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herman Grimm an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Lily und Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Rudolf Haym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Carl Justi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Carl Justi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carl Justi an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adolf Fick an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Rudolf Haym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Clara Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Herman Grimm an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Katharina Püttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an George Westermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Adolf Glaser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Dilthey an Dilthey und Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernhard Erdmannsdörffer an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . Karl Dilthey an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Dilthey an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an George Westermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Usener an Dilthey und seine Frau . . . . . . . . . Adolf Glaser an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 5109160-9783525303689 — ISBN E-Book: 978-3-647-30368-0

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Dilthey an George Westermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seinen Bruder Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Dilthey an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an seine Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . George Westermann an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Ribbeck an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adolf Glaser an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Otto Benndorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adolf Glaser an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Adolf Glaser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . George Westermann an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adolf Glaser an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adolf Glaser an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Adolf Glaser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adolf Glaser an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Adolf Glaser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Konstantin Rößler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adolf Glaser an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adolf Glaser an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Moritz Lazarus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Gustav von Schmoller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herman Grimm an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . .

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Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ehrenfried von Willich an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . George Westermann an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . Dilthey an Carl Justi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Hermann Usener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Gustav Karpeles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Gustav Karpeles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Kurd Laßwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurd Laßwitz an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Ribbeck an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Brentano an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . Dilthey an Heinrich von Treitschke . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Ernst Maria Lieber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . Ehrenfried von Willich an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Curt Wachsmuth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Carl von Cotta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Heinrich von Treitschke . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Carl von Cotta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Carl von Cotta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . Kurd Laßwitz an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Kurd Laßwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilhelm Scherer an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . Carl Geibel jun. an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Besser an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Heinrich von Treitschke . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Herman Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Sigwart an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Georg Ernst Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alfred Stern an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Duncker & Humblot an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Gustav von Schmoller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . Dilthey an Heinrich von Treitschke . . . . . . . . . . . . . . . . . Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey . . . . . . . . . Heinrich von Treitschke an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Richard Schöne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Richard Schöne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richard Schöne an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Gustav von Schmoller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Johann Julius Edmund Greiff . . . . . . . . . . . . Dilthey an Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Eduard Zeller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Eduard Zeller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Gustav von Goßler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Johann Eduard Erdmann . . . . . . . . . . . . . . . . Dilthey an Richard Schöne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gustav von Goßler an Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siglen- und Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903 Register der Briefpartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 907 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 911

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[1] Dilthey an seinen Vater1 Lieber Vater!

(Heidelberg, Sommer 1852)

Tausend Dank für Deinen letzten Brief.2 Ich habe mich herzlich über ihn gefreut, als ein neues Zeichen Deiner Liebe und eine Gewähr daß mit ihrer Hülfe manches Dunkle sich mir erhellen wird. Aber es hat mich schmerzlich berührt, daß ich Dir Ursache und unnötige Ursache einer neuen Sorge geworden bin. Ich werde künftig nie mehr in trüben Stimmungen schreiben. Aber der erste Brief 3 versetzt uns unwillkürlich in eine solche. Daß die Philosophie und zumal eine solche wie die Neuhegelsche an manche Zweifel anknüpfte, die auch früher schon sich regten, war das irgendwie anders zu erwarten? War es nicht sogar zu wünschen? Eine Sache von der ich nicht untersucht und erkannt habe, was für und was gegen sie spricht, habe ich nie und nimmermehr wissenschaftlich behandelt. Wie die Philosophie überhaupt beginnt mit dem Zweifel, so muß jeder einzelne, sofern er philosophisch denken will, mit ihm beginnen. Indeß fast alle meine früheren Zweifel sind schon, seit ich hier bin, vollständig beseitigt, es bleiben mir nun nur noch Probleme. Unter diesen scheint mir freilich das über den Willen weitaus das schwierigste und wichtigste. Denn ich möchte gar gern von hier aus mir die Lehre von der Sünde und der Erlößung darstellen und klar machen. Indessen beunruhigen mich diese Dinge nicht im geringsten. Im Gegentheil sie sind mir eine angenehme Anregung der Kräfte. Hege also darüber nicht die geringste Besorgniß. Und was den anderen Punkt in meinem Briefe der Dich beunruhigte anbelangt, so kennst Du mich zu gut, um nicht das was ich darin sagen wollte, wenn ich mich auch unrichtig ausgedrückt habe, richtig und wahr zu finden. Da ich wenig Umgang gehabt habe, so habe ich nicht gelernt mich in die Anschauungsweise fremder Menschen im Gespräch zu versetzen. Und darum meinte ich, ich müsse Bekanntschaften machen. .|.|. Vorgestern ist endlich der längstbestellte Chalybäus4 angekommen, ein herrliches Buch wenn auch ein sehr theures. Es wird mir, da es fast polemisch gegen die Neuhegelsche Schule mit ihrem Glauben daß in Hegel alle Philosophie abgeschlossen sei, auftritt, sehr gute Dienste zur Vergleichung mit Fischer5 leisten. Fischer hat gestern eine Vorlesung über den idealen Naturalismus des 18.

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Dilthey an seinen Vater

Jahrhunderts wie er sich besonders in „Werthers Leiden“ spiegelt, gehalten, die allgemeinen Enthusiasmus erregt hat. Heut ist ungefähr seit Pfingsten der erste Tag an dem es noch nicht geregnet hat. Parthien waren noch gar keine zu wagen .|.|. Tausend Grüße an Alle insgesamt Dein treuer Sohn Wilhelm Dilthey Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 1. 1 Maximilian August Franz D. (1804–1867): Pfarrer in Mosbach und Biebrich (Wiesbaden); seit 1846 Kirchenrat und Dekan, ab 1867 Oberhofprediger. 2 Nicht überliefert. 3 Nicht überliefert. 4 Heinrich Moritz Chalybäus (1796–1862): Philosoph; 1839–1852 Prof. in Kiel. – Historische Entwickelung der speculativen Philosophie von Kant bis Hegel. Zu näherer Verständigung des wissenschaftlichen Publicums mit der neuesten Schule dargestellt. Dresden 1837, 4. rev. und verm. Aufl. Dresden und Leipzig 1848. 5 Kuno Fischer (1824–1907): Philosophiehistoriker; 1850 Habilitation in Heidelberg, 1856 Honorarprof. in Jena, 1872 o. Prof. in Heidelberg. – Geschichte der neuern Philosophie. Bd. I: Das classische Zeitalter der dogmatischen Philosophie. Mannheim 1852.

[2] Dilthey an seinen Vater Lieber Vater!

[Heidelberg],1 10. Sep[tember] 1852

Gestern ist die Gustavadolph-Versammlung2 beendet worden. Es waren schöne inhaltreiche Tage die mir stets im Gedächtnisse bleiben werden. Du kannst Dir denken wie innig ich Dich hergewünscht habe, besonders zu der Rede Schenkels3 vom Mittwoch morgen. Sie war nach dem Urtheile aller der Mittelpunkt des ganzen Festes. Ihr ungeheurer Beifall mochte wohl auch zum Theile daher kommen daß sie dem Worte gab und zwar schöne kräftige volksthümliche Worte, was alle fühlten. Er predigte über 1. Joh. 5, 8 „Denn alles ward aus Gott“ usw. Er zeigte daß zuerst unser evangelischer Glaube aus Gott sei, weil aus seinem Geiste, dem der Wahrheit der Demuth und der Liebe, und aus seinem Worte, dem der Buße der Gnade und des neuen Lebens, dann daß er die Welt überwunden: im allgemeinen die Welt – er habe sie schon zweimal überwunden und thue es nun zum drittenmale – und die Weltlichkeit im Besonderen in Staat Kirche Menschenleben und Menschenherzen. So wie diesesmal habe ich ihn noch nie sprechen hören. Die Bürger beschlossen noch den Nachmittag ihm einen Fackelzug zu bringen. .|.|. Den

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Dilthey an seinen Vater

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folgenden Morgen predigte Kirchenrat Schultz: er sprach zu schwankend, zu wenig energisch und ging nicht auf das, was alle bewegte, direkt ein. Er sprach über die Hoffnungen des Protestantismus nach dem Text „Fürchte dich nicht, du kleine Herde, denn es ist“ usw. Er erging sich in mancherlei schönen poetischen Träumen, die man versucht war, ans Ende der Welt zu versetzen, und vergaß darüber die Gegenwart und die nächste Zukunft. Indeß die zwei ersten Reden sind schon gedruckt. .|.|. Tausend Grüße an Dich und die gute Mutter von Deinem treuen Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 2. 1

In JD irrtümlich: „Biebrich“. Gustav-Adolf-Stiftung, ev. Verein, gegründet im Anschluss an die zweite Säkularfeier des Todes Gustav Adolfs (6. 11. 1832) zur Unterstützung notleidender ev. Gemeinden in Deutschland. 3 Daniel Schenkel (1813–1885): protest. Theologe; 1849 Prof. in Basel, seit 1851 in Heidelberg, zudem Direktor des Prediger-Seminars und Universitätsprediger in Heidelberg. 2

[3] Dilthey an seinen Vater Mittwochmorgends (Heidelberg Sommer 1853) Lieber Vater! Du wirst jetzt einen recht langen und ordentlichen Brief von mir verlangen, da Du soviel Muße hast ihn morgends auf der großen steinernen Treppe vor dem Mühlrad,1 wenn er mit der Zeitung kommt, bei der Pfeife zu lesen. Die Mutter2 wird dann herbeikommen von der Gartenbank wo sie bei den Fräuleins Sander3 sitzt und wird über Deine Schulter hineingucken – o könnte ich lieber eine Morgenstunde dort bei Euch beiden sitzen und Euch alles erzählen, was mir, wenn ich es schreibe, kaum der Mühe werth dünkt und was eine Stunde des Zusammenseins so angenehm versüßt. .|.|. – Du kannst Dir denken daß ich mit allen näheren Schülern Fischers in ziemliche Aufregung gekommen bin über dessen Entfernung von der Universität.4 Die Ruhe, mit der Fischer selbst den Streich erträgt, hätte ich ihm nicht zugetraut. Die Sache wird aber auch offenbar seinen Gegnern weit mehr schaden als ihm selbst. Für seine Entwicklung ist der Vorfall fast ein Glück. Fischer ist noch zu jung und zu unvollendet, um schon in guter Ruhe für

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Dilthey an seinen Vater

die Familie zu leben, und der Kreis von Verehrern die ihn nicht verstehen, in dem er hier gelebt hat, fängt an ihm sehr zu schaden. Dieses Volk ist mir so verhaßt daß es mir oft Fischer selbst verleidet. Es sind ältere Leute von zwanzig bis dreißig Jahren, feine Menschen, die die Philosophie mit Redensarten abmachen. Fischer wollte mich in diesem Kreise heimisch machen, er stellte mich dem ersten vor, einem Maler, als er mich aber einem zweiten vorstellte, als ich ihn einmal besuchte, einem Menschen der gesagt hatte, er lese nur noch Fischers Hefte und Bücher, drehte ich mich herum nach der Vorstellung und sagte ich müsse baden gehn. Auf diese Art bin ich ganz außer Zusammenhang mit dieser Sorte Menschen. Fischer ist freundlich genug, das ganz zu ignorieren. In den Ferien wird er eine Broschüre über die ganze Sache schreiben und Schenkel wird darin die ihm gebührende Rolle spielen:5 er hat die ganze Geschichte angezettelt, überhaupt sich auf eine Art benommen daß der letzte Rest der Achtung gegen ihn verschwunden ist. – .|.|. Was die Frage, welche Universität nun für mich zu wählen sei anlangt, so habe ich in meinem vorigen Briefe6 bereits auseinandergesetzt, wie selbst in theologischer Beziehung Berlin für mich am besten sein wird. Ich muß Dir aber offen sagen daß zwei andere Rücksichten für mich dasselbe Gewicht haben, die für das Leben und für die Kunst. Es ist für die Anschauungen jedes Menschen unendlich viel werth, einmal in einer großen Stadt gelebt zu haben und später wird mir das doch niemals zu Theil werden. Das Leben in größerem Stile und eine umfassende Thätigkeit kann man nur in einer größeren Stadt begreifen lernen. Und wenn ich Dir sage, daß mir mehr als den meisten Andern etwas Berliner Abgeschliffenheit und Beweglichkeit noth thut, so wirst Du dagegen gewiß nichts einwenden. Was dann die Kunst anlangt, so weißt Du daß es nur wenig Studenten im dritten Semester in ganz Deutschland geben wird, die so wenig gesehen haben wie ich. Es ist aber zu einer Ausbildung, wie Du sie sicher ebenso wohl mit mir vorhast als ich selber, ganz unerläßlich nothwendig, auch in der Anschauung der Kunstwerke sich gebildet zu haben. Was das Theater anlangt, so ist es mir, da ich die Litteratur niemals aus dem Auge verlieren werde, nothwendig, auch einmal die besten Dramen aufgeführt zu sehen, und das kann man gut nur in Wien und Berlin haben unter allen Universitätsstädten. Was die herrliche Berliner Musik betrifft, so wende ich mich damit an die Mutter, die weiß daß es nur wenig Genüsse in der Welt giebt, die dem Anhören einer Beethovenschen Symphonie zu vergleichen sind. Luther und Schleiermacher, unsere beiden größten Theologen, haben es eingesehen, wie die Musik die nächste Schwester der Religion ist und wie das Anhören der Musik, wenn diese die wahre ist, ein religiöser Akt ist. – Daß die Universität für alle Nebenfächer in Berlin am meisten bietet, wirst Du aus dem Catalog genugsam sehen. Also bis dahin wollen wir diese Erörte-

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rung verschieben. Aber ein dringenderes Geschäft ist, die Frage zu beantworten, was aus meinem Klavier werden soll. .|.|. Auf baldiges Wiedersehen Dein treuer Sohn Wilh. Dilthey Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 3. 1

In JD: „Mühlbad“. Maria Laura D., geb. Heuschkel (1810–1887): Tochter des Hofkapellmeisters Johann Peter Heuschkel (1773–1853) und seiner Ehefrau Margarethe, geb. Bartenstein (1783–1844). 3 Vermutlich Nachbarinnen der Eltern D.s. 4 K. Fischer wurde die Venia legendi wegen des Vorwurfs antichristlicher Inhalte seiner Schriften und Vorlesungen entzogen. 5 K. Fischer: Das Interdict meiner Vorlesungen und die Anklage des Herrn Schenkel in der Darmstädter Kirchen-Zeitung. Mannheim 1854. 6 Nicht überliefert. 2

[4] Dilthey an seinen Vater Lieber Vater!

den 22. November (Berlin 1853)

Herzlichen Dank für Euer aller Glückwünsche! .|.|. Daß Hergenhahn1 mit 700 Gulden hier lebt glaube ich wohl, kann auch weiter darüber noch kaum etwas sagen ob ich mehr oder weniger brauchen werde. Nur mußt Du bedenken 1.) ich zahle hier jährlich fast 100 fl2 Collegiengelder 2.) Juristen gebrauchen bekanntlich keine Bücher 3.) Was er, der seine ganze Carriere in Berlin macht und bereits drei Jahre hier ist, in einem großen Zeitraum vertheilt zu hören und zu sehen hat, habe ich nach weitester Rechnung in 1 Jahre zu sehen, dann trete ich ab in ein Dörflein auf dem Westerwald oder sonst wo. .|.|. Vor 14 Tagen war ich bei Jonas3 in Gesellschaft. Ich kann aber nicht sagen daß mich das Ding sonderlich erbaut hat. .|.|. Böckh4 besuchte ich vergebens zweimal, er war beidemale nicht zu Hause, ich gab darauf den Brief ab und belegte den andern Tag bei ihm. Er erinnerte sich darauf natürlich des Briefes, fragte auch wie es Dir ginge und sagte, er hoffe mich nächstens einmal zu sehen. Böckh ist auf dem Katheder äußerst liebenswürdig, ein feiner Mann von attischer Färbung und Beweglichkeit vereint mit einer sehr angenehmen bequemen Ruhe und Nachlässigkeit. Seine Witze gehen fast in’s possenreißerische, doch sieht man daß es ihm mehr darum zu thun ist, sich selbst dabei zu amüsiren als die Zuhörer. – Die Theologen scheint er nicht sehr zu lieben. Er raisonnirte neulich sehr komisch über den Mißbrauch der Neueren, auch

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religiöse Reden zu halten; davon hätte die alte Beredsamkeit nichts gewußt. – Nitzsch5 gefällt mir fortwährend sehr gut, nur daß sein Vortrag aller Methoden entbehrt und gar zu tief im alten Testament steckt. Überhaupt scheinen mir alle Theologen hier mehr oder weniger von Hengstenberg6 angesteckt zu sein. – Twesten7 ist ein prächtiger Mann, wenn man es fertig bringt, etwas Ordnung und dialektischen Gang in seine Auseinandersetzungen zu bringen. Seine Exegese (Korintherbriefe) ist nicht scharf durchdringend und alles aus Gründen entscheidend, aber voll feinen Taktes für das Christliche, gemüthvoll und ohne Anspruch, das Zweifelhafte sicher zu stellen. Das beste daran aber ist daß sie für die Predigt eine Masse Gesichtspunkte und Winke enthält. – Strauß8 (Archäologie) ist der langweiligste, voll einfältiger Salbung und leeren Wortgepränges ohne alle Präcision und wissenschaftliche Schärfe. – Sydow9 habe ich besucht, aber noch nicht zu Hause getroffen. – Von ihm das nächstemal. Im Theater sind wir in der letzten Zeit sehr wenig gewesen. Außer der Armida10 und einem durchgefallenen Lustspiel im Königsstädter Theater haben wir nur Othello gesehen. – Die beste Rolle Dessoir’s.11 Er ist unstreitig der größte Othello Deutschlands, überhaupt durch und durch Genie und künstlerisch ausgebildet. – Im Schauspielhause wird jetzt fast nichts mehr gespielt als eine Bearbeitung der Jane Eyre,12 die wir seinerzeit gelesen haben, von der Birchpfeiffer.13 Ich freue mich daß man hier auch diesen Roman für einen der besten englischen hält, was Ihr mir zu jener Zeit als wir ihn lasen nicht zugestehen wolltet. – .|.|. Ich denke daß Ihr die lange Zwischenpause, die Ihr mit Eurem Briefe verschuldet habt, wieder einholen helfet und mir auch ein Mehreres von Euch selbst schreibt. Ihr schreibt immer nur, ich solle dies und das Euch schreiben, bedenkt aber nicht daß ich auch was wissen will. Nicht einmal von der kleinen Lili14 habt Ihr mir was geschrieben. Auch von Karl15 nichts, wie es ihm in der Schule geht; er soll mir einmal schreiben, meine Briefe sind ja auch für ihn und Marichen16 immer mit. .|.|. Ich werde mich einmal an die liebe Großmutter17 wenden. Die versteht es ganz allein, Familienbriefe zu schreiben. – In Hoffnung also baldiger Antwort Dein Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 4. 1

Theodor Hergenhahn (1833–1898): Jurist; stammt wie D. aus Wiesbaden. Florin = Münze, die bis 1873 in Deutschland in Umlauf war. 3 Ludwig Jonas (1797–1859): Schwiegersohn des protest. Theologen und Philosophen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) und dessen Nachlassverwalter; Diakon der Nicolai-Kirche in Berlin; Hg. von Werken und Briefen Schleiermachers. 4 Philipp August Boeckh (1785–1867): klass. Philologe; 1807 a. o. Prof., 1809 o. Prof. in Heidelberg, 1811 in Berlin. 2

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Dilthey an seinen Vater

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5 Karl Immanuel Nitzsch (1787–1868): protest. Theologe; 1847 Prof., Universitätsprediger und Mitglied des Oberkirchenrats in Berlin, seit 1855 Propst an der Nicolai-Kirche in Berlin. 6 Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1868): protest. Theologe; 1826 a. o., 1828 o. Prof. für Altes Testament in Berlin. 7 August Detlev Christian Twesten (1789–1876): protest. Theologe; seit 1835 Prof. in Berlin als Nachfolger Schleiermachers. 8 Friedrich Adolph Strauß (1817–1888): protest. Theologe; Garnisonprediger in Berlin, 1859 a. o. Prof. in Berlin und Mitbegründer des am 21. Januar 1853 im Berliner Dom ins Leben gerufenen ev. „Jerusalemvereins“, der die ev. Kirchengemeinden im Nahen Osten unterstützen sollte. 9 Karl Leopold Adolf Sydow (1800–1882): protest. Theologe, Schüler Schleiermachers; 1836 Hofprediger in Potsdam, 1846 Prediger an der Neuen Kirche in Berlin. 10 Beliebter Opernstoff des 18. und 19. Jhs.; vertont z. B. von A. Salieri (1771), C.W. Gluck (1777), J. Haydn (1783), G. Rossini (1817) u. a. 11 Ludwig Dessoir, eigentlich Leopold Dessauer (1810–1874): Schauspieler. 12 Charlotte Brontë: Jane Eyre. An Autobiography. London 1847; ins Deutsche übersetzt 1848. 13 Charlotte Birch-Pfeiffer (1800–1868): Schauspielerin und dramatische Schriftstellerin, seit 1844 am Königlichen Theater zu Berlin; sie bearbeitete den Roman Jane Eyre fürs Theater: Die Waise von Lowood (1855). 14 Caroline Wilhelmine Friederike Marie D., gen. Lily (1846–1920): Schwester D.s. 15 Karl Peter Friedrich D. (1839–1907): Bruder D.s. 16 Carolina Maria Johanette Franziska Sophia D., gen. Marie (1836–1891): Schwester D.s. 17 Caroline Eleonore Wilhelmine D., geb. Winckel (1777–1864).

[5] Dilthey an seine Mutter Meine liebe gute Mutter!

(Berlin, Anfang Dezember 1853)

Heut morgen um ein Uhr bekam ich die Trauernachricht.1 Sobald ich die Hand der Großmutter sah, durchfuhr michs wie eine Ahnung, ich drehe das Blatt um und stoße auf die Worte des Vaters über sein Begräbnis. Jetzt den Abend ist es mir ein Trost, mit Dir und der lieben Tante Marie2 von Ihm zu reden. – Es hat mich heute viel beschäftigt, mir seine Art zu leben und Ihn selbst, soweit ich mich in meine Kindheit zurückerinnern kann, zu vergegenwärtigen, und ich fand viel Trost darin daß mir das alles, sein mildes Gesicht, seine Stimme, all sein Wesen so frisch und so unvergeßlich in der Seele stehet. Und wie stimmten mit dem Allen die letzten Tage seines Lebens, die sanftschöne Weise seines Hinüberschlummerns. Schon seit Jahren lebte sein Geist in sich zurückgezogen und zusehens mehr löste er sich von den Banden der Außenwelt. Nur der unsterbliche Inhalt seines Lebens, seine Liebe zu denen von denen auch der Tod nicht trennt, die Musik, darin sich denen die es vernehmen mögen Gott selber hörbar offenbaret, waren ihm ge-

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Dilthey an seine Mutter

blieben. Möge Gott uns allen so ein Leben, so eine Vorbereitung zum Tod und ein solches Hinübergehn schenken. Könnte ich doch bei Euch sein! Es thut mir gar leid, daß ich diese Weihnachten gerade zum ersten Male Euch fern sein soll. .|.|. Ich selbst halte mich seit meinem Geburtstage3 still, bin für mich und habe viele Gedanken, frohe und trübe. – Ich spüre wie die Einkehr in mich selbst mich viel lehrt. – Laßt mich recht bald, ich bitte, von Euch hören. .|.|. Dein treuer Sohn Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 5. 1

D.s Grossvater, Johann Peter Heuschkel, war am 5. Dezember 1853 gestorben. Marie Heuschkel (1808–1889): eine unverheiratete Tochter von D.s Großvater Johann Peter Heuschkel, die seit dessen Tode im Biebricher Pfarrhaus lebte. 3 D. hatte am 19. November Geburtstag. 2

[6] Dilthey an seine Eltern (Ende 1853) .|.|. Für die Ferien erfreu ich mich recht an der Musik. Da ist alles Licht und Liebe, und fern vom Geplärr der Partheien, die alle gleich widrig sind, klingt da die Stimme der Natur, die in diesen großen Gesetzen des Tons ewig sich selber gleich und verständlich tönet. – Roger1 ist eben hier und ich habe noch nie einen so vollendeten Sänger gehört, obgleich seine Stimme auf die Neige geht. Dann höre ich wieder meine Sinfonien und mir ist’s als wäre meine Seele da allein in ihrer Heimat. .|.|. Nun lebet wohl. Mein Wunschzettel ist schon dem neuen Jahr übergeben. Und ganz oben gleich nach dem Wunsch für Euer aller Bestes steht der für ein fröhlich und baldig Wiedersehn. Nun Adieu, an Alle allesamt meine herzlichsten und besten Glückwünsche von Eurem Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 6. 1

Gustave Hippolyte Roger (1815–1879): franz. Opernsänger (Tenor).

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Dilthey an Gustav Teichmüller

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[7] Dilthey an Gustav Teichmüller1 Mittwoch früh [Winter 1853/54] Da ich weiß, mein Lieber, daß Sie die Anschläge nicht zu lesen pflegen, so mache ich Sie auf das heutige Symphonieconcert von Liebig2 aufmerksam. Der Anschlag ist unter den Linden. Es wird die schönste Symphonie von Mozart und von Beethoven die A dur, die wir zusammengehört haben, gespielt, dazu die Ouverture zum Sommernachtstraum.3 Das Concert ist bei Hennig4 um 4 Uhr. Wenn die Elisabeth Werner5 Sie auch von der Maria Stuart abschreckt, so werden Sie sich da gut unterhalten. Adieu Ihr Dilthey Original: Hs.; UB Basel, Teichmüller-NL, Nr. 708; Erstdruck: ASpPh, S. 391. 1

Gustav Teichmüller (1832–1888): Philosoph; Kommilitone und Jugendfreund D.s; 1860 Habilitation in Göttingen, 1868 a. o. Prof. in Basel, 1872 o. Prof. in Dorpat. 2 Liebigsche Kapelle: Von Carl Liebig 1843 gegründete Kapelle, die in verschiedenen Lokalen in Berlin populäre Symphoniekonzerte gegen geringes Eintrittsgeld veranstaltete. 3 Felix Mendelssohn Bartholdy: Ein Sommernachtstraum. 4 Sommergarten der Gebrüder Hennig in Berlin, in dem Konzerte und Theatervorstellungen im Freien stattfanden. 5 Elisabeth Werner: vermutlich eine Schauspielerin.

[8] Dilthey an Gustav Teichmüller Sonnabend [Winter 1853/54] Mein Lieber! Erwarten Sie mich morgen früh nicht. Eine sehr hartnäckige Erkältung hält mich schon seit zwei Tagen im Hause. Ich drücke das Gesicht wider die Scheiben und liefe gern auf und davon in das herrliche Wetter hinein. Bedauern Sie Ihren Wilh. Dilthey. Original: Hs.; UB Basel, Teichmüller-NL, Nr. 709; Erstdruck: ASpPh, S. 391f.

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Dilthey an seine Tante Marie Heuschkel

[9] Dilthey an seine Tante Marie Heuschkel Liebe Tante!

(Berlin, Mitte Januar 1854)

Von Tag zu Tag habe ich meinen Dank für Dein Geschenk aufgeschoben, weil ich gerne damit die Rechenschaft über das Frühere verbinden wollte, aber über meine Verwendung desselben in diesem Semester noch keine rechte Übersicht habe. – Du bist ja nun die Einzige, an die ich diese Rechenschaft richten kann, und ich thue es mit der wehmüthigen Erinnerung an den, dessen Liebe mit meinem Dank zu erwidern mir nicht mehr vergönnt ist. – Es ist ein Vorrecht der besten Menschen daß die Beweise ihrer Liebe, die sie um sich ausstreuen sie selber überleben und täglich die Ihren an die fromme Bewahrung ihres Gedächtnisses mahnen. Ich höre keine Musik, ohne an Ihn zu denken, sie erinnert mich an seine Liebe zu mir, an das was ich ihm verdanke, an die schönste Beschäftigung der er sein stilles Leben widmete. – Und dann kehren meine Gedanken niemals aus der Heimat zurück, ohne daß sie auch bei Euch gewesen wären. Ich weiß es, welche Erholung, welche erfrischende Aufheiterung auch Euch – vor allem Dir liebe Tante und meiner guten Mutter – diese Symphonien bereiten würden, die mir die seligsten Augenblicke meines Aufenthaltes hier gewähren. – Denke Dir, an einem Abende drei Ouvertüren und zwei Symphonien, oft eine von Mozart und eine von Beethoven. Die von Beethoven besonders sind für mich das Höchste was es von Musik geben kann. – Ich höre sie nun hier nur erst von dem allergewöhnlichsten Orchester, der Liebig’schen Privattruppe, um sie erst recht genau kennen zu lernen, dann denke ich sie nachher im nächsten Sommer von dem großen Opernorchester zu hören, von dem sie bekanntlich am besten in der ganzen Welt gespielt werden – aber auch am theuersten. – Dazwischen, denke ich weiter, nehme ich mir wohl am besten auf einen Monat hier noch ein Clavier – ich müßte mich dann dazu noch in einer Musikalienhandlung abonnieren – und spiele die besten vierhändig ordentlich durch, dazu auch das Vorzüglichste der gehörten Opern. .|.|. Wahrhaftig, wenn ich mich jetzt auf den höchsten Westerwald denke, so brauche ich mir nur ein Clavier dazu zu denken und Noten genug, alle musikalischen Eindrücke wiederzukäuen – und ich bin ganz ruhig: wenn ich mir meine Bauern und die Kanzel und meine Philosophen dazu denke, ganz glücklich. .|.|. Nun Adieu

Dein Wilhelm

Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 7.

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Dilthey an seinen Vater

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[10] Dilthey an seinen Vater Donnerstag Abend (Berlin, Februar 1854) Lieber Vater! Daß Ihr Euch um mein Befinden geängstigt habt, thut mir sehr leid. Ich sitze so in der Arbeit daß ich’s von Tag zu Tag aufschob. Die Collegia werden noch dauern bis zum 15. nächsten Monats. .|.|. Ich freue mich unendlich Euch wiederzusehen. Daß ich wieder hierher zurückgehe, ist ja Dein Plan gewesen von Anfang, und die Verhältnisse, in denen ich hier bin, sind so angenehm und günstig wie sie nur immer sein können. Nur an Rothe1 denke ich zuweilen mit Sehnsucht bei der Twestenschen Ethik. Ich bin nun sehr begierig wer im nächsten Sommer Dogmatik lesen wird, hoffentlich Nitzsch. Denn Twesten ist doch ein wenig oberflächlich und gar zu populär, obgleich mich ein preußischer Theologe versichert hat, es seien jetzt noch eine ganze Menge, die ihn doch noch nicht verstehen. Er behandelt die philosophischen Begriffe ganz formal und ist erst vor 3 Wochen an die christliche Ethik gekommen. Ich freue mich darauf, in den Ferien die Rothesche2 zu studiren. – Wenn nur die Zeit bis dahin noch ein paar Wochen länger wäre. Ich habe mich mit den paulinischen Briefen und den Verhältnissen der ersten Gemeinden, wie sie sich besonders aus den Korintherbriefen erkennen lassen, in der letzten Zeit beschäftigt fast seit Weihnachten, aber die Zeit, die mir von den Collegien übrig bleibt, ist so unendlich kurz, zumal da ich in der letzten Zeit fast regelmäßig bei Trendelenburgs Geschichte der alten Philosophie3 täglich eine Stunde hospitirt habe. Dazu kommt daß ich ein Clavier für diesen Monat genommen habe, was mir unendliche Freude macht – da bin ich denn den ganzen Morgen im Colleg und auf der Bibliothek, dann wird schnell gegessen, wieder zurück auf die Bibliothek bis zum Mittagscolleg, das dann bis 6 Uhr dauert. Dann bin ich Abends meist müde zum Umblasen, deßwegen gehe ich dann auch nicht gerne in Gesellschaft, weil ich sonst auch das Clavier ganz verliere, entweder gehe ich dann in das Theater oder in ein Concert oder – was weit das Häufigste ist – ich spiele Clavier und studire, studire und spiele. – Zum vierhändig Spielen habe ich einen Studenten engagirt der sehr gut spielt, unendlich besser als ich. – Nur Sonntag’s geht es anders zu. Den Morgen lese ich mit einem Stud. philos. Teichmüller Augustin, wir gehen dann zusammen zur Kirche, essen und gehen dann in das Cafe Spargniapani4 gewöhnlich, um dort die Zeitungen der Woche zu durchstöbern, denn es sind dort etwa 50 verschiedene; dort lese ich dann auch von dem nassauischen Kirchenstreite5 und freue mich sehr

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Dilthey an seinen Vater

über die Energie der Regierung. – Neulich war ich einen Abend bei Nitzsch, es ist eine eigenthümliche Art von Gesellschaft. Seine Frau und Töchter sitzen dabei, aber ohne ein Wort zu sprechen – rings um ihn Seminaristen, deren Geschwätz nur die Folie ist für seine holdseligen Reden. Er spricht wunderschön, ist sehr liebenswürdig, findet in jeder Phrase der Seminaristen etwas Gescheutes oder gar Tiefes – aber es ist eben eine Schaustellung und kein Gespräch. Wenn ich erst etwas Ordentliches gelernt habe, denke ich auf eine andere Art mit ihm bekannt zu werden. Meine Furcht vor seinem eminenten Wissen nimmt erst jetzt allmählich etwas ab. Als Prediger wird er mir immer lieber. Seine Predigten haben durchaus nichts Dogmatisierendes und Scharfes wie alle andern berlinischen, die ich noch gehört habe, – Alles kommt aus dem Allerinnersten. Dabei sind aber seine Predigten so schwierig, dialektisch in den Ausdrücken, oft selbst barock – denn er macht sich deren eine Menge oft selbst erst auf der Kanzel –, daß Frau Trendelenburg,6 eine sehr gebildete Frau, gesteht, ihn oft nicht zu verstehn. Sehr interessant ist dabei sein Gesicht und seine Mienen, in denen sich in jedem Augenblicke die Arbeit seines Geistes malt. Indeß von dem allen mehr, wenn ich unter Euch sitze: es sind ja nur noch lumpige 4 Wochen und ich weiß wahrhaftig nicht ob es vom zunehmenden Alter kommt; aber die Zeit vergeht mir so rasend schnell daß ich mir gar nicht davor zu helfen weiß. .|.|. Dein treuer Sohn Wilhelm Dilthey Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 8. 1 Richard Rothe (1799–1867): protest. Theologe; von 1837 bis 1849 und wieder seit 1854 Prof. in Heidelberg. 2 R. Rothe: Theologische Ethik. 3 Bde. Wittenberg 1845–1848. 3 Friedrich Adolf Trendelenburg (1802–1872): Philosoph; 1833 a. o., seit 1837 o. Prof. in Berlin; Lehrer D.s. 4 Eigentlich: Spargnapani; Inhaber einer „Leseconditorei“ in Berlin, Unter den Linden. 5 Von 1853 bis 1861 währende Auseinandersetzung zwischen Bistum und Herzog um die Besetzung von Pfarrstellen. 6 Ferdinande Trendelenburg, geb. Becker (1811–1893): seit 1844 Ehefrau F.A. Trendelenburgs.

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Dilthey an seinen Vater

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[11] Dilthey an seinen Vater Lieber Vater!

(Berlin, gegen Anfang März 1854)

Dein Brief 1 hat mich in eine eigene Stimmung versetzt. Ich hatte schon länger bei mir gekämpft, ob es nicht heilsamer sei für mich, die Ferien hier durchzuarbeiten. Meine Sehnsucht nach Euch aber hatte immer widersprochen und mich beredet daß die Erheiterung meiner Gegenwart unter den trüben Verhältnissen und Erlebnissen, wenn ich irgend Kraft dazu fühlte, mit Recht zu fordern sei. .|.|. .|.|. Du weißt ich habe in Heidelberg nicht allzuviel gethan. Ich war nicht faul, habe aber auch nichts rechtes gelernt und ich fühle das jetzt immer mehr, je mehr ich voran komme, daß wenig Gründliches dabei war. – Nicht als ob ich eines Examens halber müßte besorgt sein, aber ich bin mit mir selbst wenig zufrieden. – Ich fange nun an, möglichst gründlich zu Werke zu gehn, und ich kann gestehen daß ich die letzten Monate angestrengt gearbeitet und auch ein Erkleckliches profitirt habe. Ich habe mich in meiner freien Zeit ganz in die paulinischen Briefe und die Geschichte des Urchristentums, soweit sie aus ihnen zu schöpfen ist, geworfen, aber bei meinen vielen Collegiis kannst Du Dir denken daß ich dabei zu keinem rechten ruhigen Studium anhaltend gekommen bin – es zersplittert sich alles zu sehr. Nun weiß ich nicht, ob ich zu Hause zum Arbeiten recht kommen werde. Die Zeit ist so kurz. Überlege Dir das lieber Vater Du weißt wie viel ich allenfalls bei Euch zum Arbeiten kommen könnte, so gut als ich; vergleiche das damit, daß ich hier täglich 12 bis 14 Stunden zur Arbeit habe mindestens, und schreibe mir, ich bitte sehr, umgehend Antwort. .|.|. Dein treuer Sohn Wilh. Dilthey Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 9. 1

Nicht überliefert.

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Dilthey an seinen Vater

[12] Dilthey an seinen Vater den 17. März (1854, Berlin) Auf Deinen Brief, lieber Vater,1 hatte ich sogleich antworten wollen, aber eine Erklältung, die mich zwang, ein paar Tage und gerade die ersten schönen Frühlingstage einzusitzen, machte mich so unwirsch. .|.|. Ich sehne mich sehr nach dem Ende der Vorlesungen, ich bin das Collegienlaufen entsetzlich müde, und so oft ich es auch betrachte, finde ich immer daß unverhältnismäßig wenig dabei herauskommt. So interessant auch Böckh war, die philologischen Quisquilien die für mich auch nicht den geringsten Werth haben außer etwa der Betrachtung der Methode – bleiben die Hauptsache auch bei ihm. Am wenigsten habe ich von Twestens Ethik gehabt; ich bin eben daran, die Schleiermacherische2 zu studiren, und freue mich auf die von Nitzsch. Dessen Collegia sind offenbar das Einzige was nicht besser durch Studiren abgethan würde, er ist ganz original, unkritisch, unmethodisch, mystisch bis zur Unklarheit, aber ich suche auch bei ihm nichts als seine genialen Blicke in das Religiöse und Ethische und dann – es ist der erste theologische Charakter der mir auf der Universität begegnet ist, und ihn nur zu sehen ist für mich schon ein wahres Ergötzen – ein ganz durchgeistigtes Gesicht, wenn er spricht ganz in Bewegung, obgleich seine Stimme durchaus ruhig ist und seine Haltung; mit ganz leisen Schritten steigt er auf das Katheder, er spricht stehend, was hier sonst fast keiner thut, und ziemlich frei, dabei wandert immer seine Schnupftabaksdose vom Sack in die Hand und zurück, aber Tabak vergißt er gewöhnlich wirklich in die Nase zu stecken, und in der Zerstreutheit des Sprechens wirft er ihn auf die Erde um wieder neuen zu nehmen .|.|. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 10. 1 2

Nicht überliefert. F.D.E. Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. Berlin 1803.

[13] Dilthey an seinen Vater Lieber Vater!

Sonntag (Berlin, Frühjahr 1854)

.|.|. Es drängt mich, auf Deinen inhaltreichen Brief 1 Dir zu antworten. Er hat mich um so herzlicher gefreut, je sehnsüchtiger er erwartet worden war.

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Dilthey an seinen Vater

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Was Du darüber schreibst daß ich sicher auf 3 Jahre zu rechnen scheine für meine Studien, hat mich etwas verwundert. Denn vor meiner Abreise hierher war bei Veranlassung der Cholerageschichte2 davon die Rede und Du sagtest mir damals, ich solle 3 Jahre draußen bleiben. Es thun das ja auch, glaube ich, die meisten Theologen, selbst die Nassauischen, und kaum läßt es sich in kürzerer Zeit bewältigen, was dazu gehört, um auf das Praktische sich richten zu können. Ich insbesondere habe noch mit den allerersten Anfängen der Wissenschaft zu thun und wenigstens zu einer gründlichen Kenntniß des Historischen möchte ich doch auf [der] Universität kommen. Es scheint mir das das einzige Mittel, sich später für dergleichen Dinge das tiefe Interesse zu bewahren und die Möglichkeit wissenschaftlichen Weiterarbeitens sich offen zu erhalten. Von hier aus möchte ich Dir auch die Frage, ob ich an eine Universitätscarriere denke, beantworten. Für jetzt kaum, denn wohin ich sehe, ist eine schnelle Carriere nicht zu erwarten und eine langsame würde mich zur Verzweiflung bringen. Indeß darüber reden wir wenn Du kommst. Denn was hierüber noch zu besprechen ist, läßt sich schlechterdings nicht so schriftlich abmachen. – Aber es kommt auch hier garnicht darauf an, sondern gerade wenn ich in Staatsdienst trete, ist es mir besonders wichtig, dies so vorbereitet zu thun, daß ich in der Wissenschaft bleiben kann und auch da immer für alle Fälle gerüstet bin. – Denn wer kann unter diesen Zeitverhältnissen sagen, daß er seine feste Stellung habe? es giebt jetzt keine andere, wenn man sich nicht von jedem Schuft will stoßen lassen und umwerfen oder sich an die Gebrechlichkeit anlehnen, als die auf der Muskelkraft der eigenen Beine beruht. Ich habe den Weg der historisch-kritischen Untersuchung betreten und es ist mir ernst damit, sodaß es mich unglücklich machen würde, wenn ich, da ich noch kaum das ferne Ziel ahne, aufgehalten würde für alle Zeit. Denn diese Dinge lassen sich nie nachstudiren, weil man nie das Interesse für diese Minutien3 hat, als so lange man noch einer von den die Wahrheit Suchenden ist. Und woher sollten später die Hilfsmittel kommen? Hat man aber erst eine Übersicht und ein regelmäßiges vollständiges Wissen von diesen Dingen, dann ist es leicht und eine große Freude, alles einzeln erscheinende Neue zu prüfen und zu würdigen. Dies die eine Seite. Nun, was das Systematische angeht, so weißt Du daß ich von Twesten gar nichts halte, daß seine Oberflächlichkeit mir unausstehlich ist, daß ich dagegen an Nitzsch mit größter Verehrung hänge, denn er ist einer von den Suchenden und die Arbeit und der Ernst schaut aus ihm in jeder Miene und in jedem Ton. Diese aber sind die Propheten der kommenden Wissenschaft und unter ihnen gehört Nitzsch nicht zur Abteilung der Kleinen. – Nun muß es mir natürlich von großem Werthe sein, den Cursus von

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Dilthey an seinen Vater

biblischer Theologie – Symbolik, Ethik – Dogmatik bei ihm ganz durchzumachen, sodaß ich damit das Ganze seiner theologischen Anschauung umfasse. Auf die Kanzel kann ich mich noch nicht denken, das würde bei meiner jetzigen Unklarheit mir ganz unwürdig vorkommen, und bin ich nicht erst 20 Jahr alt? So liegt mir gar nicht sonderlich viel daran, etwas früher oder später in Amt und Würden zu kommen. Aber wenn Du da bist, wird sich Alles, was sich auf die Zukunft bezieht, leicht und gewiß zu Deiner Zufriedenheit besprechen lassen .|.|. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 11. 1

Nicht überliefert. 1854 gab es in Deutschland einen erneuten Ausbruch der Cholera, die sich seit 1830 von Indien aus in alle Länder Europas ausgeweitet hatte. 3 Kleinigkeiten, Nichtigkeiten. 2

[14] Dilthey an seine Cousine Karoline Rückert Liebes Linchen!1

Berlin, Ende März 1854

Eine weit längere Zeit als ich gewünscht und geglaubt hatte, ist zwischen Deinem lieben Brief sammt Deiner freundlichen Gabe und meiner Antwort2 verflossen. Frohe und traurige Familienereignisse ließen einer ruhigen Unterhaltung nicht Platz und auch jetzt denke ich mir Euch so mit dem kaum geschehenen Todesfall im Geiste beschäftigt, dass ich kaum auf Interesse für meine gleichgültigen Erzählungen hoffen darf. – – Tante Sophie3 wird nun wohl bei Euch sein für diese nächsten Tage. Ihr Schmerz tritt mir am öftesten vor die Seele, wenn ich an diesen traurigen Todesfall denke.4 Und so traget Ihr neues Leid wieder mit wie Euer Eignes. –– Meine Gesellschaft hier hat sich unter anderm jetzt durch einen Poeten vermehrt was mir viel Spaß gemacht hat – einen Sohn nemlich des Materialienhändlers Glaser5 von Wiesbaden, der bei Scholz6 Kaufmannschaft erlernt hatte und jetzt dieses aufgegeben hat und hier Litteratur studirt. Ich konnte ihm durch Bekanntschaften und für seine Studien ziemlich nützlich sein; Dafür find ich bei ihm, wenn ich einmal abends Zeit habe, einfachen behaglichen Aufenthalt, Gesellschaft und unübertrefflichen Glaserischen Thé, wobei denn, sooft ich komme, was vorgelesen wird. – Dann haben wir seit längerer

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Dilthey an seine Cousine Karoline Rückert

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Zeit ein Shakespearekränzchen und haben nun alle Stücke die die griechische und römische Zeit behandeln durchgelesen und durchgesprochen. Es giebt doch kein neueres Werk, das uns eine vergangene Zeit so lebhaft und wahr vergegenwärtigte als z.B. „Cäsar“ und „Coriolan“ die römische. Und das wunderbarste dabei ist, daß Sh[akespeare] bei so geringer Kenntniß der römischen Sprache und Schriften fast allein durch dichterische Intuition einer solchen Auffassung fähig war. – – Die Musik ist mir noch immer die liebste Kunst. Das Theater ist schon mehr in Hintergrund getreten. Ich habe das Meiste einmal gesehen und nun hab ich weiter kein Verlangen, es zum zweitenmale zu haben. Auch die Oper macht mir so keine Freude als die reine Instrumentalmusik. Da ist die Musik aller der Fesseln los, die ihr die Worte, auch die poetischsten, anlegen und man fühlt sich nicht zwischen der Welt der Innerlichkeit in die die Musik versetzt und der Lust am Sehen hin- und hergezogen. Ich weiss nicht wie ich Dir die Welt schildern soll die da dem Gemüth aufgeht. Sowie die Malerei und die Plastik die Gestalten der Außenwelt verschönt und idealisirt uns entgegenbringt, so die höchste Musik die Instrumentalmusik, die innerliche Welt des Gemüths, das Kommen und Gehen, das Wogen und Schwanken der Empfindungen darin. Denn auch in diesem herrscht ein Gesetz und eine Regelmässigkeit, wie wir sie in den Gestaltungen der Außenwelt sehen. Und alle wahren Empfindungen, die Dich einmal bewegt haben, findest Du verklärt wieder unter diesen Bildern des inneren Lebens. – Vergebens suche ich Dir dies so anschaulich zu machen, daß ein Hauch des Mitempfindens Dich anwehte. .|.|. Wie ich mich freue, Euch wieder zu sehn. Denn nun zumal, da ich mir den neuen Bruder7 besehn muß, kann ich’s nicht über’s Herz bringen, die Ferien hier zu bleiben. .|.|. Grüße herzlich Deine Mutter und die Großmutter und Tante Sophie, sollte sie da sein. .|.|. Dein treuer Vetter Wilhelm Dilthey Original: nicht überliefert; Teilabdruck: JD, Nr. 12. – Eine maschinenschriftliche Abschrift des Briefes (mit Auslassungen) ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o. 1 Karoline Rückert, gen. Linchen (1831–1900): Cousine D.s.; Tochter von Caroline D. und Friedrich Rückert, Kaufmann in Herborn. 2 Nicht überliefert. 3 Sophie Louise Christine Wirths, geb. D., geb. 1803: Tante D.s.

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Dilthey an seine Cousine Karoline Rückert

4 Vermutlich war ihr Ehemann, Louis Wirths, Herzoglich-nassauischer Oberstleutnant und Kommandant der Feste Marcksburg am Rhein (geb. 1787), gerade gestorben. 5 Adolf Glaser (1829–1915): Journalist und Schriftsteller; Studienkollege und Freund D.s; 1853–1856 Studium der Philosophie und Geschichte in Berlin, 1856–1878 und 1884–1907 Redaktionsleiter von Westermanns illustrirten deutschen Monatsheften (Braunschweig). 6 Verlag Joseph Scholz: hervorgegangen aus einer 1793 in Wiesbaden gegründeten Papierwarenhandlung; seit 1829 in Mainz ansässig unter Leitung von Christian Scholz, dem Onkel Adolf Glasers, zudem Vater von D.s Jugendfreund, dem Dirigenten und Komponisten Bernhard Scholz. 7 Der Verlobte von D.s Schwester Marie, der Wiesbadener Architekt Adolf Lade (1826– 1869).

[15] Dilthey an seine Cousine Bertha Rückert [Berlin, vor Ostern 1854] Liebe Bertha!

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Wenn Du mit der Freude, wie ich, jedes Zettelchen aus der Ferne empfängst, so hab ich nicht nötig dies Briefchen mit dem Wunsche zu begleiten, daß es Dir eine heitere Stunde machen möge. Laß Dich denn, solltest Du dazu gestimmt sein, aus Deinem stillen Zimmer durch die bewegten Straßen Berlins führen; Dein Cicerone2 wird nicht geschwätziger sein als seine Vorgänger alle in diesem Amte –. Das wunderschöne Wetter hat alles was Beine hat und sie sonst zu verwenden nicht benöthigt ist unter die Linden getrieben. Das ist eine etwa dreimal so breite Straße als die vor dem Mosbacher Pfarrhaus3 und in der Mitte von einer Allee von Linden, die eben ihr erstes Grün treiben durchzogen. Unter den großen Bilderläden sind schon Baldachine angebracht damit der Lieutenant und sonstige Pflastertreter sich da ruhig im Schatten aufhalten mögen. An den Straßenecken stehen Körbe mit Orangen und Apfelsinen, die von Hamburg hierher in großer Masse gebracht werden. Fortgetrieben von dem Menschenstrome kommen wir vorüber an dem berühmten Caféhause wo die Lieutenants zu sehen sind mitten auf der Straße sitzend hinter einer Stakete die Beine herausgestreckt in der einen Hand ein Glas Eis in der anderen die Lorgnette. Nun eröffnet sich die Aussicht auf den großen Opernplatz. In der Mitte paradirt der große Friedrich zu Pferde von Rauch,4 rechts Blücher5 auf einem herabgeworfenen Kanonenlaufe stehend, bloßen Hauptes, den Säbel schwingend, links Friedrich Wilhelm6 und Scharnhorst,7 den Kopf gesenkt in tiefer nachdenklicher Stellung, mit feinem schwermüthig sinnendem Gesichte. – Dahinter die Gebäude, auf der linken die herrliche Universität, die Wache und das Zeughaus, rechts die Bibliothek,

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die der alte Fritz, da die anderen Pläne ihm nicht gefielen nach seiner Commode bauen liess, dann das Opernhaus, das von innen übrigens schöner ist als von außen. Dass alle diese Gebeude mit Seulen geschmückt sind, giebt dem Ganzen Einheit und unter dem blauen Himmel dieser Tage eine fast griechische Färbung. Nun aber erweitert sich noch die Aussicht, denn über den vorn offenen Platz hinaussehend, sieht man jenseits der Spree, durch die Schloßbrücke mit ihren Statuen verbunden, auf einen noch breiteren Platz und perspektivisch nach links zurücktretend, das alte Museum dort auf einer Unterlage mit Treppen erhöht, mit einem Seulengange nach vorn, der von Cornelius8 mit Fresken ausgemalt ist. Rechts tritt gleicherweise das herrliche Schloß zurück und den Abschluß des ganzen Platzes bildet der Dom. Dorthin strömte die ganze vergangene Woche eine unermeßliche Menschenmenge gegen Abend zu den sogenannten liturgischen Andachten. Treten wir mit ihnen ein. Denn wie Leute sagen, die die berühmten römischen sahen, sollen sie selbst diese übertreffen. Einzelne Lichter erleuchten matt den weiten Raum und die ab und zuströmende Menge, die sitzend und stehend den Dom bis vor seine Thüren erfüllt. Die Andacht beginnt mit einem der Psalmen, die in so ergreifen[der] Anschaulichkeit das Bedürfniß der Erlösung darstellen. Wie der Domchor singt ist selbst zu ahnen unmöglich geschweige zu schildern. Nun beginnt der Domprediger aus den Evangelien Christi Gefangennehmung Schmach Verurtheilung Kreutzestod zu lesen und jeder dieser schmerzlichen Scenen folgt der Chor als ein Echo mit seinem wunderbar ergreifenden Klagegesang nach den Weisen der ältesten Kirchenmusik. – So gehet das Ganze als ein lebendiges Drama an dem Hörenden vorüber und der Eindruck jeder Schmerzensscene giebt ihm der Gesang reiner und tiefer zurück. Und dazwischen gehen einfache Verse nach alten Melodien durch von der ganzen Gemeinde gesungen. – (Eine andere liturgische Andacht schikke ich Dir hierbei mit, die besonders schön und klar den Verlauf der Auferstehung veranschaulicht)9 Du wirst sehen, näher an den Katholicismus kann der Protestantismus nicht treten und doch berührt er ihn in keinem Punkte. – Aber alles einfach Große in ihm nimmt er herüber, seine kleinlichen Hilfsmittel verschmähend. Und die Gewalt der schmucklosen anschaulichen Geschichte nur uns genähert und vertieft durch die Musik ist soviel sie einfacher ist soviel auch größer als alle Predigt. Da wir, solche Gespräche führend, heraustreten aus dem Dom, empfinden wir wohl keine Lust mehr, unsre Rundschau in den Straßen fortzusetzen. Du entläßt also Deinen Cicerone. Wenn Dir aber dieser erste Gang mit ihm zu andern Lust macht, so ist er gar gern dazu bereit Dich ein andermal weiter zu führen, wann Du es immer wünschst, denn, die eine schöne Stadt bewohnen, haben es von jeher geliebt, ihre Schönheit zu preisen vor den Fremden und ihnen was sie davon enthält

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zu zeigen. – Und so lasse mich denn, liebe Bertha, die Maske des Cicerone ablegen, die mich ohnedies garnicht sonderlich kleidet. Wie gerne hätte ich, der lästigen Schwerfälligkeit brieflichen Verkehrs enthoben, mit meinen Erzählungen Dir die eine oder die andere Stunde Deines trüben Krankenlebens verkürzt. Jetzt wieder, da Hopfgarten10 abreist empfinde ich eine lebhafte Sehnsucht nach Euch allen und nach dem rheinischen Frühling. Aber einem Jeden gab das Schicksal seine Aufgabe und stille in ihr auszuharren ist der einzige Ruhm, der dem Menschen übrig gelassen ist. Da gilt es dann sich mit Hoffnung und späterer Zukunft zu trösten und so möge Gott geben, daß ich Dich nach diesem Sommer wohler und gestärkt begrüßen kann. Meine herzlichsten Grüße an Großmutter, Deine Mutter und Linchen. Adieu Dein treuer Vetter Wilhelm Dilthey. Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o. 1

Bertha Rückert: Cousine D.s.; Schwester Karolines. Fremdenführer. 3 Elternhaus D.s. 4 Christian Daniel Rauch (1777–1857): Bildhauer. 5 Gerhard Leberecht von Blücher, Fürst von Wahlstatt (1742–1819): Feldmarschall der preuß. Armee in den Befreiungskriegen gegen Napoleon I. 6 Friedrich Wilhelm III. (1770–1840): ab 1797 König von Preußen. 7 Gerhard Johann David von Scharnhorst (1750–1813): preuß. General, Reorganisator der preuß. Armee. 8 Peter Ritter von Cornelius (1783–1867): Historienmaler. 9 Nicht überliefert. 10 Alexander Emil Hopfgarten (1821–1856): Hofbildhauer des Herzogs Adolf I. von Nassau (1817–1905). 2

[16] Dilthey an seine Cousine Bertha Rückert Sonntag Mittag. 18541 Liebe Bertha! Da ich endlich eine Stunde habe, die nicht ihre besondere Arbeit mit sich bringt, und ich so mich selber fragen darf, wozu es mich treibt, so sollst Du mindestens meinen Eifer sehen, etwas von meinen Schulden gegen Dich zu

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tilgen. Denn, was ich Dir versprach, etwas Berliner Leben Dir zu schildern, davon hast Du wohl in meinem vorigen Briefe wenig zu sehn bekommen, mehr nur Berlins Kehrseite, wie es sein Leben bereut. So magst Du denn heute, wenn Du zu irgend einer Stunde dazu gestimmt bist, von Deinem treuen Cicerone Dir Berlin, wie es spielt und singt zeigen lassen. – Damit wir nun systematisch zu Werke gehn – eine Tugend Deines Führers, die Du noch seiner früheren philosophischen Laufbahn verdankst – so lass uns wieder zu den Linden gehn, die Du schon kennst. – Da sind alle die grünen Kastanien und Linden mit Zetteln aller Farben und Größen von oben bis unten beklebt und je größer desto leerer pflegt das Plaisir zu sein. Vor allem aber fallen Dir Zettel auf von einer Größe daß sich unsre liebe Lili bequem hineinwickeln könnte – die Zettel der Krollschen Etablissements.2 Das ist der eigentliche Typus von Berliner Lustbarkeit; laß uns also, wenn es Dir recht ist, die Sache näher betrachten; denn auch der Weg ist der schönste, den Berlin hat und kurz genug. – Kaum sind wir ans Ende der Linden gelangt, so erscheint Dir das schönste Thor Berlins; mächtige Säulen auf denen ein einfacher Aufsatz ruht, der die Victoria auf einem Siegeswagen mit vier Rossen bespannt, nach der Stadt heimkehrend, trägt. Dein Cicerone beeilt sich Dir zu sagen, daß es von Rauch3 ist und die siegesreiche Rückkehr der Preußen nach der Einnahme von Paris darstellt. Auf diese Säulenreihe lehnen sich auf den beiden Seiten vorspringende, niedrige Vierecke die den Säulenstyl fortsetzend an kleine griechische Tempel erinnern. Die einfache Großheit des Styls bewundernd durchschreiten wir den Platz vor dem Thore, den die Paläste der Arnim4 und mehrerer Gesandten schmücken und treten durch das Thor in den Thiergarten. – Es ist das ein ungeheurer Park, auf der Westseite der Stadt gelegen, ganz in der englischen Weise die Natur nachahmend – ein Wald von Linden, Buchen, Kastanien und sehr schönen Eichen dazwischen Gesträuche von Haselnuß und aufgewachsene Bäume, nur selten durch die Gartenkunst eingeführte Gewächse aufnehmend. Blumen findest Du nirgends, und auch der Rasen ist, wie im Walde, sich selber überlassen. Diese halbe Wildniß durchkreutzen mannichfache Wege, von denen auch nur wenige größere eine besondere Cultur verrathen – diese alle kreutzen sich zwischen den Chausseen und was die Spree von Wasser entbehren konnte bildet vielfache Seen. Die einzigen Zeichen fortgesetzter besonderer Pflege sind die Sitze, die Du an schattigen Orten und in der Nähe des Wasser findest. – Wir nun kommen, einer Allee von Kastanien und Linden folgend, in Kurtzem vor das gesuchte Gebäude.5 – Es ist in italienischem Style gebaut, te[r]rassenförmig aufsteigend groß und bis ins Unregelmäßige mannichfaltig. In-

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nen eine ganze Anzahl von Sälen, vor allem aber der Königssaal, das Geschmackvollste, was Du sehen kannst, der schönste Saal offenbar von ganz Berlin und wie ganz Berlin behauptet von der ganzen Welt. – Da sind nun zwei Theater, eines in dem Königssaal und im Freien das andre, das für die Sommerzeit jährlich aus ein paar Balken sich erhebt. Und in diesen beiden wird nacheinander gespielt, dazwischen sind Concerte im Garten. Das sind aber nicht etwa aufeinanderfolgende Vorstellungen sondern alles eine große. So kommt es dass oft dieselben von 4 bis 10 unaufhörlich sehen und hören. Das halten freilich nur eingeborene Berliner aus, deren Nerven an derlei Spektakel von Jugend auf gewöhnt sind – doch lassen wir diesen Plunder; denn fasst schäme ich mich Dich von dergleichen Dingen zu unterhalten. Doch bitte ich Dich auch dieses gut aufzunehmen denn von Berlin kann ich Dir eben nicht anders eine Vorstellung geben als so. – [Briefschluss fehlt] Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftlichesTranskript des Brief-Fragments ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o. 1

Nachträgliche Datierung im Typoskript. Kroll’s Garten: Einrichtung im Berliner Volksgarten, in der auf fünf Theatern Aufführungen und Konzerte gegeben wurden. 3 Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor wurde nicht von Rauch, sondern von seinem Lehrer, dem berühmten klassizistischen Bildhauer und Grafiker Johann Gottfried Schadow (1764–1850) im Jahre 1794 geschaffen. 1806 von Truppen Napoleons nach Paris verschleppt, wurde sie 1814 von Blüchers Soldaten nach Berlin zurückgebracht. 4 Pariser Platz, Nr. 4: Palais des Grafen Arnim-Boitzenburg, in dem 1781 der Dichter Achim von Arnim geboren wurde. 5 Die Krolloper. 2

[17] Dilthey an seinen Vater Lieber Vater! Gestern, Montag Mittag um 1 Uhr kam ich hier an. Die Reise war prächtig und selbst das theilweise schlechte Wetter schadete nicht viel. Donnerstag war ich auf der Wartburg, die jetzt wieder restaurirt wird. Das Kapellchen, in dem Luther einst predigte, ist schon wieder zum Alten hergestellt. Ich sah das Lutherzimmer usw. und saß dann oben in der herrlichsten Waldgegend bei schönem Sonnenschein. Die Aussicht ist beschränkt und die waldbewachse-

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Dilthey an seinen Vater

nen Felsen vereinsamen so das Gemüth, daß man wohl fühlt, wie gerade dieser Ort zu solchem Werke wie dem Luthers stimmte. Den Abend fuhr ich noch bis Weimar. Das sah ich mir den andern Morgen ordentlich an. Zuerst das Schillerhaus – ein klein freundlich Häuschen, Linden vor der Thür. Drin ist vielerlei, darunter viel dummes Zeug z. B. Schiller’s Weste u. dergl. Ein Album liegt auf, von allen gegenwärtigen Größen Deutschlands im Jahr 1848 mit sehr patriotischen Dingen beschrieben. Dann war ich in der Bibliothek, wo ich den alten Rath Kräuter,1 Göthe’s ehmaligen „Kammerdiener“ fand, der derselben vorsteht. Er war sehr freundlich und ließ mich überall herumführen. Dort ist Schiller von Danneker2 und eine Büste des jungen Göthe, die sehr ähnlich sein soll, ein ganz herrlicher griechisch idealer Kopf. Dort ist noch eine Menge herrlicher Sachen zusammengehäuft. Dann war ich auf dem Kirchhof, sah die Herderstatue und die Kirche in der er predigte, wo von Lucas Kranach3 ein Meisterbild hängt, eine Kreutzigung, zu den Füßen des Kreutzes steht Luther (der zu dem Bilde gesessen hat) und der Maler. Dann war ich im Park, dort ist eine abscheuliche Marmorstatue, Göthe halbnackt daliegend nach dem verrückten Einfall der Bettina.4 .|.|. Nun bin ich begierig auf Nachrichten von Euch. Schönste beste Grüße an Alle Dein Wilhelm Dilthey Dienstag, den 23. April [1854], morgends 7 Uhr – Matthäistr. 6. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 13. 1 Friedrich Theodor David Kräuter (1790–1856): seit 1805 Mitarbeiter der herzoglichen Bibliothek; 1811 Goethes Privatsekretär; seit 1837 Bibliothekar der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. 2 Johann Heinrich von Dannecker (1758–1841): Bildhauer. 3 Lukas Cranach, der Ältere (1472–1553): Maler, Zeichner, Holzschnittentwerfer und Kupferstecher. 4 Elisabeth von Arnim, genannt Bettina (1785–1859): Schriftstellerin, Ehefrau Achim von Arnims.

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Gustav Teichmüller an Dilthey

[18] Gustav Teichmüller an Dilthey

Liebster Dilthey!

[nach dem 25.9. 1854] Eilig.

In der Hoffnung, Sie auf dem Kirchentage1 wiederzusehen, schob ich ein kleines Dankbillet hinaus. Jetzt aber komme ich nach Frankfurt und muss mir von dem Pfarrer Assmann erzählen lassen, dass Sie allein da seien; weiter wusste er Nichts: dann nochmals hörte ich durch Bigelow2 von Ihnen, aber kein Hotelverzeichnis und kein Polizeigericht wusste Ihr Unterkommen. Ich lorgnettierte3 überall nach Ihnen herum, auf der Gallerie unter den Mitgliedern – vergebens. Auch von Ihnen gefunden zu werden, konnt ich nicht hoffen, da ein unglücklicher Zufall wollte, dass mein Name (ebensowie der meiner Reisegefährten) im Landsberger4 nicht mit abgedruckt wurde. Da ergab ich mich endlich in mein Schicksal, reiste nach Homburg zurück und versuchte, meine Gedanken für mich allein herumzuschütteln, ob sie sich etwa zu einem Urteil vereinigen wollten. Wie gern hätte ich Sie gehabt! Wie viel leichter und klarer hätten wir uns über die Bestrebungen und Persönlichkeiten verständigt! Und wenn gar Ihr Herr Vater dagewesen wäre mit seinem ruhig-klarem Auge, seinem sicheren Takt im Urteil und seinem wohlwollend-heiteren Gemüte: so hätten wir die schönsten Tage verleben können. Bekanntschaften wollt’ ich nicht machen, wenigstens nicht suchen: Teils weil ich immer von determinierenden Personen eine gewaltsame Ablenkung meiner Entwicklung fürchte, teils weil ich diesen clair-obscurs (besser umgekehrt, diesen obscuren Zelebritäten) gegenüber, die sich so schmeichelhaft gegenseitig zu kitzeln und öffentlich einzubalsamieren wissen – mich nicht recht zu stellen verstehe, ohne mich zu verstellen in jeder Bedeutung des Wortes. Genug vom Kirchentag! – Mit wahrer Freude erinnere ich mich an die zwei freundlichen Tage in Ihrer Mitte;5 alle die gütig-liebevollen Gesichter tauchen wieder auf und ich weiß nicht, wie ich anders, als durch diese Freude bei der Erinnerung Ihnen danken könnte. Besuchen Sie mich in Braunschweig – zwar kein Rhein ist dort – aber doch die „Ocker“,6 zwar kein Taunus, aber doch der „Blocksberg“,7 zwar keine Dilthey’sche Familie, aber doch eine Teichmüller’sche auch mit freundlichen Gesichtern. Und „Gell“ sagt Lili, es sollt Ihnen doch „Gell“ gefallen. Bringen Sie mich bei Ihrem Herrn Vater und besonders auch der Frau Mutter in nachsichtige Erinnerung. Grüsse an Karl, Lili und unbekannter Weise an die Fräulein Schwester im Exil. Treu Ihr Gustav Teichmüller.

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P.S. Ich erhole mich eben von einem Schnupffieber, das meine Abreise verzögert hat. – (Von Ihrem dialektischen Brief 8 hat weder Homburg, noch Braunschweig etwas gesehen. Time is the life, wenn Sie nicht eilen, wird’s zu spät.) – Den 3. oder 4. Ok[tober] bin ich wieder in Braunschweig; vielleicht holen Sie mich nach Berlin ab; Sie könnten ja über Kassel und Göttingen gehen. Original: nicht überliefert; Erstdruck: ASpPh, S. 393f. 1

Der reformierte Kirchentag fand in Frankfurt vom 24.–25. 9. 1854 statt. John Bigelow (1817–1911): amerik. Publizist, Rechtsanwalt und Politiker; Hg. und Mitbesitzer der New York Evening Post. 3 Durch eine Lognette (Stielbrille) betrachten; scharf mustern. 4 Vermutlich sind Gasthof und Hotel Landsberg gemeint. 5 Am 4. September hatte G. Teichmüller, zusammen mit seinem Vater, die Familie Wilhelm D.s in Wiesbaden kennengelernt und wurde sogleich nach Biebrich eingeladen. Teichmüller blieb zumindest bis zum Abend des 5. September im Elternhaus D.s (vgl. ASpPh, S. 392 f.). 6 Oker: Nebenfluss der Aller. 7 Volkstümlicher Name für den Brocken. 8 Nicht überliefert. 2

[19] Dilthey an Gustav Teichmüller Mittwoch früh. [11. 10. 1854] Liebster Teichmüller! Ihr Brief hat mir Gelegenheit gegeben, Ihre außerordentliche Langmuth zu bewundern, welche Tugend Einige nicht ohne Grund für die höchste in Gott selber achten. Oder sollten Sie wirklich gar kein Verlangen gehabt haben nach Briefen von mir, zumal nach dialektischen? Alle Woche einen Brief und zwar einen grundlegenden! Hören Sie meine Vertheidigung und mit Geduld, denn sie bedient sich, wie alle, die nur eine Milderung des Urtheils bezwekken, sehr vieler Gründe. Zuerst war ich in Frankfurth und in Höchst wo mein Vetter sehr krank war, der mich kaum wieder wollte weggehn lassen. Dann nach Hause zurückgekommen, fand ich meinen Vater nicht recht wohl. Er1 bedurfte des Spazierengehns und der Zerstreuung. Ich war also so viel als möglich bei ihm und half bei seinen Arbeiten wo ich konnte. Mein Bruder, der die ganzen Ferien sehr viel an Kopfweh und bis zur Misanthropie gehen-

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der Verstimmung leidet konnte mich nicht arbeiten sehn ohne zu klagen daß ich mich mit ihm weniger gern als mit meinen Büchern abgebe. Und so weiter. So ward aus den Briefen nichts, da ich eben nur Zeit fand, die Dialektik und phisi2 Ethik durchzulesen. Dies die Folgen einer so traurigen Collision der Pflichten, die ich trotz zweimaligen Hörens der Ethik mir nicht ohne gros Unbehagen aufzulösen vermochte. – Wie ich Sie in Frankfurth gesucht habe! Da ich abends immer nach Höchst zurückging konnte ich nur hoffen Sie beim Mittagstisch zu treffen. Ich aß also, da ich hörte von Ihrem ehrwürdigen Amerikaner,3 Sie wären im Landsberg zu Tische, dort um Ein Uhr. Vergebens! Ich behauptete beim Portier, zu wissen daß Sie dort wohnten. Er sah alle Listen durch. Vergebens! Sie seien nicht da. Ich hätte Ihrer so sehr bedurft! Mein Vater war nicht da und ich konnte mich mit sonst Niemand verständigen. Auch Nitzsch fand ich nicht. Saß also von 9 bis 4 und hörte Einen nach dem Andern, wie sie ihr frommes Herz ausschütteten, mit Allem was eben grade drinnen war verwunderte mich auch manchmal wenn sie gleich nach Gebet und Gesang scharrten und schrien, doch nicht allzusehr, denn ich fand es begreiflich, daß der Teufel dieser absonderlich frommen Versammlung auch absonderlich nachstellte. Kurtz meine Gefühle waren sehr gemischt. – Von Ihrer freundlichen Einladung kann ich leider nicht Gebrauch machen. Nächsten Sonntag ist der Geburtstag meiner Mutter und Montag muß ich noch in Höchst bleiben, da mein Vetter es so sehr wünscht. So würde es für Sie und für mich zu spät. Aber herzlichen Dank lieber Teichmüller, für Ihre und Ihrer verehrten Eltern Freundlichkeit und ich werde diese Einladung als eine allgemeine betrachten, und sobald es die Umstände zulassen, eilen Ihre Familie kennen zu lernen. Empfehlen Sie mich Ihrem Herrn Vater und auch Ihrer übrigen Familie unbekannter Weise. Das ganze Mosbacher Pfarrhaus grüßt Sie aufs Herzlichste. Auf baldiges Wiedersehn! Ihr Wilh. Dilthey Original: Hs.; UB Basel, Teichmüller-NL, Nr. 711; Erstdruck: ASpPh, S. 394f. 1 2 3

Im Original: „er“. Im 19. Jh. gebräuchliche Form für „physio“; phisi Ethik: Naturethik, Naturrecht. Gemeint ist wahrscheinlich John Bigelow.

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Dilthey an Gustav Teichmüller

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[20] Dilthey an Gustav Teichmüller Sonntag den 19ten Nov[ember] [18]54 früh. Meine besten und innigsten Glückwünsche, liebster Teichmüller, für das kommende Jahr. Möge Gott uns geben in Erkenntniß und Liebe zu wachsen! Und für mich gestatten Sie mir den Herzenswunsch, daß wie an diesem Tage durch ein schönes Geschick unsere Freude und unsere Gedanken gemeinsam sind, so alle Tage unseres Lebens unser Denken und Lieben, Freud und Leid uns beide gleich nahe angehn. Lassen Sie das Beiliegende ein Erinnerungszeichen an dies sonntägliche Doppelfest1 sein. Gönnen Sie dem Bilde des Mannes eine gute Stelle, der mir in meinem erwählten Berufe ein hellleuchtendes Vorbild ist. Bei den Selbstbekenntnissen desselben aber habe ich oftmals Ihrer gedacht und wenn Sie das zweite Stück derselben durchlesen wird die kräftige, Alles langsam und ganz aneignende Eigenthümlichkeit Ihnen oftmals ein Spiegel Ihrer eignen Natur sein.2 Und auch die Aussichten dieses frommen und männlich starken Geistes in’s Leben sind wohl werth daß man sie sich an solchen Tagen vergegenwärtige. – Sobald ich meinen erwarteten Brief in Empfang genommen habe, spätestens bis gegen elf Uhr werde ich bei Ihnen sein. – Adieu Ihr Dilthey Original: Hs.; UB Basel, Teichmüller-NL, Nr. 710; Erstdruck: ASpPh, S. 398. 1 Teichmüller hatte, wie D., am 19. November Geburtstag, und dieser Tag fiel 1854 auf einen Sonntag. 2 Teichmüller notierte hierzu in seinem Tagebuch: „Dilthey schickt mir Schleiermachers Monologen und dessen Bildnis, dabei ein sehr liebes kleines Billet, worin er Ähnlichkeiten zwischen Schl. und mir andeutet.“ (ASpPh, S. 398 f.)

[21] Gustav Teichmüller an Dilthey [Ende 1854] Als ich von Br[aunschweig]1 zurückkam, fand ich Dich sehr verändert wieder. Deine Art und Weise zu reden und zu denken befremdete mich. Das Befremdete löste sich durch eine Erklärung – und obgleich diese zwar keinen

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verständlichen Grund offenbarte, so sprach sie doch das deutliche: „Ich will“, welches man gebraucht, um die Richtung der Natur zu bezeichnen. Dieser ausgesprochene Gegensatz unserer Gemüthsrichtung konnte sich heben entweder durch eine sogenannte Versöhnung, oder durch eine geminderte Intimität oder durch Trennung. Eine Ausgleichung erfolgte nicht und schien auch nicht möglich, da die neuen Elemente in Dir meiner Natur völlig antipodisch sind. Nie kann ich mich befreunden mit einer Richtung, die ich um Ärgernis zu vermeiden, nicht noch einmal beschreiben will. So machten mich Deine Darstellung und Worte stumm vor Verwunderung. Geminderte Initimität dagegen folgte, und von Deiner Seite ein Benehmen, das entweder den ausgesprochenen Gegensatz unberührt vertuschen will oder sich in diesem geringeren Grad der Familiarität eben den dir wünschenswerthen Ausdruck gibt. Ich muß gestehen, daß dieses Benehmen mir die Fremdheit unserer jetzigen Gemüthsrichtung nur noch deutlicher enthüllt hat; denn ich kann ein Vertuschen nicht ertragen, weil ich meiner Natur nach wahr bin u. deshalb nur mit der Wahrheit leben kann: und ich kann eine Verringerung der Freundschaft nicht ertragen, weil ich meiner Natur nach edel bin. Bei entferneteren Verhältnissen richtet sich der Zollgrad der Freundschaft nach dem jedesmaligen Benehmen – aber von einer so engen Vereinigung kenne ich keine schmerzlose Auflockerung, sondern Anfangs – Schmerz, nach Erkenntnis der Nothwendigkeit aber – Trennung. Und Trennung ist so schlimm nicht, als dieses stete Gefühl heterogenen entfremdeten Wesens da, wo wir Gleichhheit vermuthen als dies bittere Gefühl sich verkannt u. mißverstanden zu sehen. Mein Werk an Dir hat schon Frucht und ist mir u. Anderen bewußt: darum kann es vorbei sein. Ähnlich Dein Werk an mir. – Ich kann Dein Benehmen nicht verstehen, (denn es liegt etwas darin, das meiner Natur gänzlich fremd u. darum unbegreiflich ist) u. mehr noch, es verletzt Alles, was wahr u. edel in mir ist. Ich bitte Dich darum, nähere Berührung mit mir aus Güte zu vermeiden; denn wenn das Verwandte in Dir hervortritt, hab ich den Schmerz, u. wenn das Fremde – den Zorn. Zur Ataraxie hab ich es noch nicht gebracht. Vielleicht begegnen wir uns mal wieder. Du bist jünger. Du bist meine zweite Erfahrung in der männlichen Liebe. Leb wohl. Das X in der Natur ist: 1. ein von der Geschichte u. dem Gemüthe getrennter Verstand. 2. Mangel des „Grossen“, das Unmögliches will. 3. Mangel der Naturtiefe u. Naturliebe, an deren Stelle Entschluß u. Vorsatz treten will. 4. Neigung zum Spaß u. Witz, das Gespräch beherrschend.

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5. Mangel an Wahrheitsliebe. Sophistik. 6. Mangel an Trieb u. Sinn. Original: Hs; Briefentwurf; UB Basel, Teichmüller-NL, Nr. 712; Erstdruck: ASpPh., S. 399f. 1

Heimatstadt Teichmüllers.

[22] Dilthey an Gustav Teichmüller [Ende 1854] Als ich Deine Hand auf dem Brief 1 vor mir sah, dachte ich daß es gut sei, auf solche Art unser gegenseitiges Verhältniß aufzuklären und dankte Dir von Herzen dafür. Der Inhalt strafte die Aufwallung meines Herzens für Dich Lügen. – Du sprichst von neuen Elementen in meiner Natur. Dies scheint Dir so in die Feder geflossen zu sein um damit die Auseinandersetzung abzukürtzen. Denn dieselben Personen die unsere Meinungsverschiedenheit betraf, waren lange schon Gegenstand unseres Streites gewesen. Derselbe Gegensatz in uns, Deine Schroffheit die mich aus der Fassung bringt und nothwendig zu gleicher Schroffheit treibt, wo ich Deine Liebe nicht hindurchspüre, hat uns dann vor Deinem Weggehn in die Ferien entzweit. Ohne den zufälligen Aufschub Deiner Reise wäre damals schon dasselbe geschehn, was jetzt. Denn die Zeit vergrößert alle Trennung, da sie allen darüber gehegten Schmerz zu den Trennungsgründen wirft. Du kamst zurück und steigertest Deine Schroffheit im Falle mit L[azaru]s2 auf’s Äußerste. – Ohne Grund, denn trotz derselben Differenzen näherst Du Dich W[ehrenpfennig]3 wieder freundschaftlich, obgleich dir Deine Klugheit gewiß sagt daß Du bei ihm hierin keine Veränderung bewirken wirst. Dies der wahre Grund unserer Trennung. – Aber Du klagst auch mein Benehmen nach derselben an. Ich wundere mich, daß Du so schnell mich zu verstehn verlernen konntest. Ich habe Dir oft genug gesagt und gezeigt, daß meine Liebe an der inneren Richtung der Person hängt und daß mein Urtheil darüber niemals zurückgeht, also auch meine Liebe nicht. Drückte ich also diese Liebe, die ich selbst noch, indem ich dieses schreibe gegen Dich empfinde, so sehr Du auch gegen mich gefehlt hast – drückte mein Blick, Händedruck und Benehmen sie Dir aus, während ich wohl wusste, wie Worte in diesem Augenblicke unser Mißverhältniß nicht

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Dilthey an Gustav Teichmüller

zu heilen vermochten, so hatte ich gehofft daß Du dieses wehmüthige Gefühl verstehn und schonen würdest. – Du hast es nicht gethan, Du hast im Gegentheil mir daraus den Vorwurf der Unwahrhaftigkeit und des Vertuschens gemacht. Ich hoffe, daß Dir nur augenblickliche Aufwallung dies eingab, und von der Wahrheitsliebe und der Besonnenheit in Dir, die ich geliebt habe, erwarte ich, daß Du diese Überschreitung des Maßes zurücknehmen wirst. Soll unser Mißverhältniß zu unheilbarer Trennung führen, so laß uns wenigstens auf eine solche Art scheiden daß begegnen wir uns einst, wo es sei, besonnener und gereifter wieder, wir uns in Liebe begegnen mögen. Wilhelm Dilthey. Original: UB Basel, Teichmüller-NL, Nr. 713; Erstdruck: ASpPH, S.403 f. 1

Nicht überliefert. Moritz Lazarus (1824–1903): Philosoph; 1856 Mitglied der literarischen Gruppe „Rüthli“, 1859 zusammen mit seinem Freund und Schwager Heymann Steinthal (1823–1899) – Philologe und Philosoph, 1863 a. o. Prof. in Berlin –, Begründer der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft; 1859/60 Honorarprof. in Bern, ab 1867 Prof. an der preuß. Kriegsakademie in Berlin. 3 Wilhelm Wehrenpfennig (1829–1900): protest. Theologe, Publizist und Politiker; 1853 Promotion in Halle, anschließend Lehrer am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin, 1858–1862 Direktor des literarischen Büros im preuß. Staatsministerium, 1863–1883 Redakteur und Mitherausgeber der PJ, 1877 Vortragender Rat im Handelsministerium, 1979 Oberregierungsrat im Kultusministerium, Studienfreund D.s. 2

[23] Gustav Teichmüller an Dilthey [Ende 1854] Soll ich noch mal schreiben oder nicht? Fast schwank ich – Doch wenn auch in den Wind, will ich doch kundthun meine offenbaren Gedanken. Vorerst finde ich es wunderbar, daß Du beim Schluß Deines Briefes von mir ein Einverständniß u. Zugeständniß forderst, da doch offenbar ist, daß wir uns nicht verstehen, sondern mißverstehen u. entgegenstehen. Wären wir einverstanden, wozu sollen wir uns trennen? Und wo soll je der Verstand vereinen, wenn der Eine liebt, was der Andere haßt? Wo Ein-Trachten ist da bestehen die Verhältnisse, wo Zwietrachten, da zerreißt das Band. – Du bist sehr dunkel. Denn während „Du wohl wußtest, dass Worte unser Mißverhältniß nicht zu heilen vermochten“ forderst Du in Worten von mir wörtliche Eintracht. Erst

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sollen wir uns einander Recht geben, loben und in Worten herzen, u. dann desto angenehmer trennen? – Freilich wir verstehen uns nicht: es ist offenbar. Den Grund den ich bloß andeutete, Du sprichst ihn aus. Ja es ist wahr, seit der Zeit, da Du an meinem Geburtstag auf längeres Zusammenleben hofftest u. seit der Zeit, da ich dich bat, mich zu verlassen, wenn der Herr W[ehrenpfennig] herüberkäme: seit dieser Zeit hat’s angefangen. – Es ist wahr, ich verachte u. hasse eine Lebensweise, wo man im Spaß u. Witze schwimmt, wo die Frau erst durch einen Fremden (durch mich) erfährt, daß ihr eigener Mann seine Hoffnung auf ein ewiges Leben gerichtet hat, wo Selbstzufriedenheit u. Genuß an die Stelle der wirkenden Liebe tritt, ja wo man über den bon mots den Sinn für das Große u. den Glauben an das Vollkommene u. die Hoffnung auf das Ewige verloren hat. – Ich utriere1 dies, es ist wahr; aber durch das Extrem erkennt man deutlicher, wo der faule Strich geht, dessen Geruch mich zum Abscheu reizt. – Ja es ist wahr, als ich Dich wiedersah, lieber Mensch, u. Du Dir unbewußt, den Konversationston des Herrn W[ehrenpfennig] kopirtest u. als Du sagtest Du wolltest in jenem Hause schönsprechen u. Konventions-Bewegungen lernen: da freilich starrte ich. So habe ich meine Liebe geträumt? Und bin doch wach. Zu wem rede ich? Es ist ein Fremder. Wen liebe ich? Den ich nie gesehn. – Freilich Du suchst, was ich hasse. Ich hasse gelernte Manieren, ich hasse die schönen Witze, ich hasse die gebackenen Entschlüsse, die nachher zum Imbiß der Selbstzufriedenheit dienen (Frau L[azarus])2 u. ich hasse ein indifferentes Wesen, welches alle Differenzen, wo die Tiefe der Brust liegt, übergeht u. nur das Gleiche, wo das Gleichgültige u. Flache liegt, hervorkehrt. Ich hasse Theologen, die nicht voll Gottesliebe sind, die wie Weltmenschen schwätzen und coquettiren, u. denen kein Athemzug mit der echten christlichen Kraft gemeinsam ist, sondern die vermeinen alle sittlichen Menschen seien Theologen u. es bedürfe in dieser tugendhaften u. aufgeklärten Welt keine besonders Begeisterte mehr u. die Liebe müsse man nicht mehr dem Herrn der Seelen weihen, sondern viel passender den unendlich viel liebenswürdigeren Frauen. Ich hasse – doch es ist genug. Offenkundig sind Dir meine Gedanken jetzt u. ich glaube, sie waren es schon. Ich schreibe dies auch nur als letztes Zeugnis meiner Gesinnung u. als ein Bekenntniß dessen, was ich liebe. – Dies also ist der Grund unserer Trennung, daß ich ja nicht durch Entschluß, sondern aus innerer Nöthigung, alles dies Hassenswerte mit jener Personengruppe (mehr oder weniger) verbinden muß u. deshalb von Tag zu Tag mehr gegen sie erkaltet bin: während Du ganz das Gegentheil behauptest – wunderbares Einverständniß! – u. Dich zu ihnen warm hingezogen u. von meiner Liebe schroff abgestoßen fühlst. Darum schriest Du Dein Ich will; ja nicht aus Entschluß, sondern weil Deine Natur umgewendet war.

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Nun von Benehmen! 3 Wege, sagt ich, kenne ich: Versöhnung, Trennung oder geminderte Intimität, u. diesen dritten Weg kenne ich nicht. Du bist ihn gegangen u. ich soll anerkennen, was ich nicht kenne? Du hast ein Bischen Schmerz gefühlt u. Wehmut. Wahrlich, noch sind wir auch keine Eisbären. Willst Du auch[?] ein Zeugniß von mir? Ich habe lange auf meiner Kammer geweint – u. in meiner Seele fehlte ein Glied. – – Aber nun weiter! Entweder heißt es wir waren uneins, aber siehe, wir sind Freunde; oder es heißt wir waren Freunde, aber dieser königliche Grund trennt uns, siehe von dieser Stund[e] sind wir nicht mehr zusammen. Das halte ich für wahr u. edel. Aber der dritte Weg ist meiner Seele verborgen. Mit ein Bischen Wehmut allmählig eine Freundschaft auflockern lassen! Aug in Auge klar sagt man sich Lebewohl. – Und ich will Dir vertrauen: an Bedürfen ist leis von der Natur das Freundsein geknüpft. Wer nicht mehr bedarf, sondern fahren lassen kann: Lebewohl, dessen Freundschaft will ich nicht mehr u. wenn ich 1000 Mal Wehmut empfinde. Übrigens habe ich nie gegen Dich gefehlt; denn das Wort ist bei mir ewig meiner Natur nach der einzige Mittler; denn es führt die klare Kraft der Wahrheit u. den süßen Laut der Liebe in sich. Wer aber das Ich will donnert u. sich unversöhnt zurückzieht u. den Glauben an die Kraft des Wortes u. die Liebe des Anderen verliert: Lebewohl – den verstehe ich nicht. Darum war es keine Aufwallung; denn die Welle hat lange genug gespült. – Also Lebwohl mein Freund, ich liebe dich; aber ich kann aus diesen Gründen nicht mehr mit Dir zusammen leben. Original: Hs; Briefentwurf; UB Basel, Teichmüller-NL, Nr. 712; Erstdruck: ASpPh., S. 400–403. 1

Outrieren: übertreiben. Sarah Lazarus, geb. Lebenheim (1819–1894): seit 1850 Ehefrau des Philosophen Moritz Lazarus. 2

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[24] Dilthey an seinen Vater Samstag früh (Anfang Juni 1855) Meinen innigsten herzlichsten Glückwunsch, liebster Vater, zu Deinem Geburtstag.1 Viel Neues weiß ich Dir nicht zu wünschen, aber daß alles Werdende gut werde und Du das reife selbstständige Leben Deiner Kinder froh mit der Mutter sehen mögest. Bei Euch wird’s nun wohl recht drunter und drüber gehn, da die Brautleut so eilen mit der Hochzeit.2 Die Mutter und Tante werden den Kopf voll von Leinen und Möbel haben und Du wirst auch nicht so unbeunruhigt dabei wegkommen. Könntest Du ein Stück von meiner glücklichen Ruhe hier haben. Ich gratulire mir jeden Morgen selbst, hier herausgezogen zu sein. Mein Schreibtisch steht grade vor den Thüren, die auf den Altan3 gehen, und eine halbe Wendung des Kopfes zeigt mir die grünen und blühenden Bäume des Thiergartens, hinter denen hier und da ein Landhaus versteckt liegt. Alles ist hier so still und frei wie auf dem Lande. Und wie bald kann ich, was ich nur für Gesellschaft wünsche, haben. – Mit Wehrenpfennig4 befinde ich mich ganz ausgezeichnet. Jeder ist dem andern als Umgebung sehr angenehm, wir sprechen zusammen nur wenn wir essen, uns anziehen, im Bette liegen usw. oder bei Lazarus zusammen sind. Zu diesen komme ich ungemerkt, da W[ehrenpfennig] so naher Hausfreund ist, auch in ein näheres Verhältniß. Wir haben schon ein paar sehr hübsche Landparthien zusammen gemacht. – Zu Teichmüller bin ich selbst einer sehr traurigen Veranlassung wegen gegangen – sein Vater ist gestorben. Er war sehr herzlich und unser altes Verhältniß war sogleich wieder hergestellt. Doch in Wahrheit sind wir beide so beschäftigt, daß wir uns sehr wenig sehen. Daß Scholz5 von Mainz hierher gekommen ist und Musik hier studiren wird, wirst Du gehört haben. Für meine musikalischen Neigungen ist mir das sehr lieb. Vorgestern haben wir bis 2 Uhr zusammen musizirt und geschwatzt. – Wir haben mit Riedel,6 einem ausgezeichneten theologisirenden Juristen und andern ein Kränzchen arrangirt. Ich halte mich aber in allem so viel als möglich zurück, denn ich bin nicht mehr im Stande ein so mannichfaltiges Leben mit meinen Arbeiten zu verbinden, die mir jetzt die ganze Seele einnehmen. Es kann kein herrlicheres und reicheres Studium geben als die Kirchengeschichte, mit der ich jetzt ganz beschäftigt bin. Nur daß mir das Hebräische soviel Zeit verdirbt, ärgert mich. Ich möchte am liebsten den ganzen Tag bloß das Eine treiben. Ich lese Quellenauszüge und freue mich schon jetzt auf die Zeit wo ich werde Quellen lesen können. Kurz, wenn Dich’s auf Deinen Geburtstag zu hören freut: ich

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bin ganz und ohne Zusatz glücklich und sehe aller Zukunft froh und unbekümmert entgegen. Nur ein kleiner Seufzer macht sich zuzeiten vernehmlich, wenn ich denke, daß dies der letzte Sommer vollkommener Freiheit sein soll. – Das Leben und der Sinn erweitern sich immer mehr und man möchte jede Stunde verzehnfachen können alles zu umfassen. Von Euch aber hoffe ich umgehend vieles zu erfahren. Also schreibt ja recht bald. Die schönsten Grüße an Alle, Karl, Adolph,7 Marichen, Tante, Lili, Alle. Dein Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck: JD, Nr. 14. 1

D.s Vater hatte am 4. Juni Geburtstag. Am 12. Juli 1855 heirateten D.s Schwester Marie und Adolf Lade. 3 Balkonartiger erdgestützter Anbau. 4 W. Wehrenpfennig war zwischen Ostern und Herbst 1855 Schulamtskandidat am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin. 5 Bernhard Scholz (1835–1916): Musiker und Komponist; Jugendfreund D.s; Kapellmeister am Hoftheater in Hannover (1859) und Leiter des Orchestervereins in Breslau (1870–1883); er setzte zwischen Juni 1855 und Mai 1856 seine musikalischen Studien in Berlin fort. 6 Vermutlich ein Sohn von Adolf Friedrich Johann Riedel (1809–1872): Archivar, Politiker und Historiker; seit 1842 a. o. Prof. für Staatswissenschaften in Berlin. 7 Adolf Lade, D.s späterer Schwager. 2

[25] Dilthey an Unbekannt Berlin, den 17ten August [1855] Lieber Freund Drehen Sie nur die Seite um, besehen Sie die Namensunterschrift, sehen Sie daß ich wirklich noch lebe. Und doch nicht geschrieben! Sein Sie nicht böse. Als ich Ihre freundliche Einladung erhielt, war es schon nicht mehr zu ändern daß ich nach Hause ging. Aber Sie glauben nicht, wie es mich damals freute. Nun aber kamen hinter einander zwei traurige Todesfälle in meiner Familie, die wenn auch nicht die nächsten Familienmitglieder, doch sehr nahe Freundschaft berührten. So verging die erste gute Zeit des Antwortens. Seitdem lebe ich nun also hier und bin recht fleißig gewesen. Diesen Sommer habe ich ein herrlich Leben in kirchengeschichtlichen Studien besonders des Mittelalters geführt. Ich wohne 10 Minuten von Berlin in der Matthäikirchstraße (blos aus 6 Häusern besteht sie) habe den Thiergarten vor den

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Augen, wenn ich so an meinem Schreibtisch sitze, vor dem Zimmer eine Altan, groß genug mit ein paar Freunden da zu plauern. So hatte ich denn wenigstens ein Stück Grün für meinen schönen Rhein. Ich dachte manchmal dran wie wenig man in dem schönen Heidelberg d[ie] Natur zu schätzen wusste. – Und da wir nun doch einmal bei Heidelberg sind, will ich Ihnen auch erzählen, daß Fischer hier war.1 Ich bekam ihn leider nicht zu sehen. Denn sein Auftrag, daß er mich bitte zu ihm zu kommen in sein Hotel, ward mir ausgerichtet, als ich ihn schon nicht mehr dort fand. Aber ich habe vielerlei über ihn gehört. Trendelenburg sagte, er habe bei ihm erklärt, es sei ihm leid, daß er so früh habe angefangen zu dociren. Er würde jetzt vieles anders gemacht haben auch mehr Rücksicht auf die Gegner des Systems (resp[ektive] Trendelenburg) genommen haben. Er hat sehr viele Besuche beim Minister des Innern usw. gemacht und es ist klar daß er gehofft hatte hier eine Stellung zu finden. Dove2 habe ihm auch versichert, dem Lesen stände nichts entgegen. Er habe nun darum gesucht daß ihm der Usus der Habilitation erlassen werde – Warum weiß der Himmel. Auch der Überzug meinte er sei zu beschwerlich. Kurtz es scheint daß er meint hier sei vor der Hand keine Aussicht für ihn. Ein Bekannter von mir, der mit ihm bei Böckh zusammentraf, erzählt, daß er diesen für ein neues litterarisches Unternehmen zu gewinnen gesucht habe. Da nemlich die theologischen Jahrbücher der tübinger Schule eingehen, will Baur3 mit Heusser4 – eine merkwürdige Verbindung – und anderen Liberalen eine gelehrte Zeitung zusammen herausgeben5 und auch Fischer ist dabei. So schließen sich die Liberalen aller Richtungen zusammen gegen die Übermacht Front zu machen und es kommen seltsame Combinationen heraus (apropos jenes Blatt ist noch strenges Staatsgeheimniß und in den Windeln). – Haben Sie Gervinus[’] 19tes Jahrhundert6 gelesen, was sagen Sie dazu? Ich hatte leider nicht die Zeit es zu lesen, d[ie] Recensionen scheinen anzunehmen daß es weniger hält als die „Einleitung“ versprach.7 Auch Heusser[s] neuer Band der Geschichte8 ist mir noch nicht zu Gesichte gekommen. Ich werde aber jetzt zu Hause mich mit Geschichte länger beschäftigen, da ich hier ein Gymnasialexamen zu machen gedenke um vorläufig zu einer sichern Anstellung zu gelangen. Doch ist da noch vielerlei zu erwarten. – Vorher noch will ich mein nassauisches theologisches Examen machen,9 wenn man mir gestattet, nicht in’s Seminar gehn zu müssen sondern jetzt gleich das erste und zweite Examen zusammen zu machen. Sie sehen wie langweilig sich jetzt mein ganzer Sinn um Examina bewegt. Ich hoff aber in ½ bis ¾ Jahren das alles überstanden zu haben und dann habe ich eine schöne Zeit vor mir, schöner noch als die vergangene denn die Lebensanschauungen vermehren sich mit jedem Tag und seit ich die Geschichte so recht

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kenne ist es mir als ob ein zweites Auge meinem Geiste eingesetzt wäre. Könnt ich nur auf ein paar Tage bei Ihnen sein! ich wollte mich so recht mit Ihnen aussprechen. Wer weiß ob mich nicht dazu wenn ich hierher zurückkomme, solche Lust ergreift daß ich mitten im Winter mal bei Ihnen angefahren komme, wenn ich erst weiß ob ich Ihnen recht komme. Nun wenden Sie also, wenn Sie noch die alte Freundschaft und Beredsamkeit haben, beides an bei Ihrer jungen Frau, daß sie mir meine ungezogene Schweigsamkeit Ihrer freundlichen Einladung gegenüber verzeihen möge, damit ich an Ihr Haus mit gutem Gewissen möge denken können. – Ich werde noch bis zu Ende dieses Monats hier sein, werde also hieher kaum Antwort erwarten dürfen. Von da ab bin ich zu Hause und meine Adresse Wilh[elm] Dilthey Stud[ent] d[er] Theol[ogie] Biebrich am Rhein. Ich freue mich sehr darauf etwas von Ihnen zu hören. Und nun empfehle ich mich Ihrer Frau und Ihnen zu freundlichem Andenken, so wie es für Sie bewahrt Ihr Wilh. Dilthey Verzeihn Sie Flüchtigkeit und Klekse, aber meine Zeit ist zu beschränkt! Original: Hs; GStA PK, VI. HA, FA u. NL, Wehrenpfennig-NL, A III, Nr. 1, Bl.59–60 R. 1

K. Fischer habilitierte sich 1855 in Berlin und folgte anschließend einem Ruf nach Halle. Richard Dove (1833–1907): Jurist; Studium in Berlin und Heidelberg; 1859 PD in Berlin, 1862 a. o., 1863 o. Prof. für Staats- und Kirchenrecht in Tübingen, 1865 in Kiel, 1868 in Göttingen; 1871 Reichstagsmitglied und 1875 Mitglied des preuß. Herrenhauses. 3 Ferdinand Christian Baur (1792–1860): protest. Theologe; 1817 Prof. am ev.-theol. Seminar in Blaubeuren, 1826 o. Prof. in Tübingen; Begründer der „Tübinger Schule“. 4 Ludwig Häusser (1818–1867): Historiker und liberaler Politiker; Vorkämpfer der preuß. Hegemonie in Süddeutschland; 1840 Prof. in Heidelberg, 1847 Redaktion der Deutschen Zeitung. 5 Das Zeitungsprojekt kam nicht zustande. 6 Georg Gottfried Gervinus (1805–1871): Historiker; 1836 Prof. der Geschichte und Literatur in Göttingen, 1844 Honorarprof. in Heidelberg. – Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts seit den Wiener Verträgen. 8 Bde. Leipzig 1855–1866. 7 G. G. Gervinus: Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Leipzig 1853. 8 L. Häusser: Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Gründung des deutschen Bundes. 4 Bde. Berlin 1854–1857. 9 D. legte sein theologisches Examen Mitte Oktober 1855 in Wiesbaden ab und hielt dort anschließend seine erste und einzige Predigt (vgl. Erstdruck mit Faksimile der ersten Manuskriptseite in: WD, Nr. 35). 2

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Dilthey an Moritz Lazarus

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[26] Dilthey an Moritz Lazarus Sonntag den 21 October [1855]1 Verehrtester Herr Doktor Spät komm ich, doch ich komme. Und Ihre Freundlichkeit wird mein langes Verweilen entschuldigt haben. Denn Sie können sich’s denken, wie mir’s hier ging. Zuerst kam’s nicht zum Arbeiten, dann kam die Zeit des Examens sehr drohend nach, der Besuch meines Onkels, der in Walmerod2 Amtmann ist und den ich ein ganz Jahr nicht mehr gesehn hatte fuhr auch noch dazwischen – und so ist mir die Zeit verflossen, nicht ohne daß ich oftmals Ihrer und Ihrer verehrten Frau von Herzen gedacht hätte, aber doch ist kein Zeichen davon, wie es hätte sein sollen, zu Ihnen gelangt. – Den Meinigen hier geht es recht gut, seit 8 Tagen bin ich im Examen, wir sind nur zu zweien, mein Leidensgefährte ist ein recht tüchtiger Theolog von der tübinger Schule, hat freilich ein Jahr länger als ich studirt. Wir haben um voranzukommen uns morgends und Nachmittags eine Clausurfrage geben lassen. Vorher hab ich auch hier eine Katechisation gemacht, die mir viel besser, als meine Predigt gelungen ist. Die ist auch noch nicht gehalten, gefällt mir auch gar nicht mehr. Die Clausurarbeiten waren bis jetzt nicht übel, nur daß die Fragen zu unbestimmt gestellt sind. Die philosophischen: Einfluß des Aristoteles auf die mittelalterliche Theologie, eine sehr schöne Frage, die mir viel Vergnügen gemacht hat. Meine trendelenburgischen Reminiscenzen und die Darstellung des Anselm und Aquin bei Braniß,3 die ich von Wehrenpfennig’s Bücherbrett genascht hatte, kamen mir sehr dabei zu Statten. Dann: Darstellung der Lehre von der Persönlichkeit Gottes bei den Philosophen seit Kant, eine sehr weite Frage, in der ich mich mit vier Bogen kurtz fassen mußte. Ich stellte zuerst den kritischen Standpunkt Kant’s und Fichte’s dar, dann die Auffassung Gottes als Substanz bei Schelling in den ersten Perioden, bei Fichte in der zweiten und bei Schleiermacher, dann diese Versuche Gott als Subjekt zu erfassen, ihn dem Wissen entziehend – Jakobi,4 ihn unter den Bedingungen des endlichen Subjekts nemlich unter dem Gegensatz des Ich und Nichtich begreifend – Schellings spätre Periode, endlich versuchend ihn außerhalb dieser Bedingungen absolut zu erfassen – Hegel. Herbart5 bei dem ich mit kurtzer Darstellung schloß, kannte ich nicht genug als daß ich gewagt hätte ihn einzurangiren, ich hatte aber große Lust ihn zu Jakobi zu thun nach dem was er in seiner Einleitung zur Philosophie6 sagt. Desto mehr kam er bei der dritten philosophischen Frage dran: über das Erinnerungsvermögen und dessen Thätigkeit. Ich gab erst, was ich von der Entwicklung dieser Lehre bei den Reali-

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sten wusste, dann Fichte’s Begriff der unbewussten Vorstellungen, dann was ich von Herbart wusste, und ging dann nach einem vorsichtigen Angriff auf die wolfisch kantische Lehre von den Vermögen und deren Thätigkeit auf eine selbstzusammengebackene Theorie, bei der ich die erste Erklärung die ich von Ihnen bekam, bei Teichmüller im Zimmer, über die Vorstellungsreihen sehr wohl verwandte, über, zuerst die Association der Gedanken erklärend und dann, wie aus ihr das sich Erinnern folge. Eine vierte philosophische Frage ist, glaub ich, noch in petto. Die wichtigsten theologischen waren: Gegenstand und Verlauf des arianischen Streits,7 Entstehung und Einfluß der Concordienformel,8 über die Homologumena, Antilegomena und Notha des Neuen Testaments9 (in welcher Frage der Fragesteller die zwei letzten griech[ischen] Worte nicht richtig zu schreiben wußte, daher ich sie ihm damit er auch bei mir etwas lerne umgeschrieben habe), über Einheit und Unterschied der Sakramente und des Wortes Gottes (eine schlecht gestellte Frage), das Wesen der Liebe und ihre hauptsächlichsten Wirkungen (bei der man nicht wußte, sollte sie der philosophischen oder der christlichen Sittenlehre angehören) und 2 praktische: wie die Beweise der Unsterblichkeit in der Bibel und Philosophie – welche darzustellen sind – vom praktischen Theologen zu beurtheilen und zu behandeln seien (eine wirklich geistreiche Frage, die mir sehr viel Vergnügen machte) und: was die Predigt zu einer christlichen mache. – Die Hauptfragen kommen nun noch und das Hebräische droht schon morgen. Wie ich mich da durchschlagen werde, weiß ich wirklich noch nicht. Sobald nun das schriftliche Examen zu Ende ist sollen Sie auch über die übrigen Fragen Nachricht haben. Sie sind damit auch zugleich für Wehrenpfennig geschickt, der freilich in seiner jetzigen goldnen Muße wohl etwas von sich hätte hören lassen können. – Sonntag den 28ten October Nun hab ich doch die wichtigsten anderen Fragen noch abgewartet. Geh[eimer Kirchen]r[rath] Wilhelmi10 der Lenker unsrer Kirche, hatte meinem Vater, mir usw. erzählt, Eine Frage käme „in der Art, wie eine philosophische“ die eigentlich über den gewöhnlichen Candidatenverstand hinausginge, aber sie solle als ein Probierstein für unsre Köpfe dienen, wir waren auf’s Höchste gespannt; nun ist sie endlich dran gekommen, die berühmte Frage, „worauf die christliche Religionsphilosophie bei der Lehre von der Freiheit des Willens Augenmerk zu richten habe, die christlichen Voraussetzungen angehend.“ Da war nun allerdings die gemüthliche Voraussetzung einer christlichen Religionsphilosophie wirklich über unsren Candidatenverstand hinausgehend. Ich nahm nun Freiheit im weitesten Sinn und erklärte für die Voraussetzung dieser Frage die andere nach dem metaphysischen Verhältniß

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zwischen dem Menschen, der Welt und Gott, entwickelte dies nahe Verhältniß des Religionsbegriff’s zu diesem Verhältniß, stellte die Voraussetzungen des christlichen Bewußtseins danach auf und nahm nun nach diesen die Möglichkeiten durch, die Frage zu lösen: zuerst die Individualisten, die Differenz derselben mit der christlichen Vorstellung des Verhältnisses von Gott und Welt darstellend, dann die Versuche vom Monismus aus den Punkt der Freiheit zu finden; zuerst kritisirte ich Schleiermacher’s und Hegel’s Versuch ihn im Selbstbewußtsein, das sein oder das allgemeine Wesen erfasse, zu finden, dann den sie durch die formale Willensentscheidung in jedem Moment zu erklären, der erste schien das Schuldbewußtsein und Böse nicht erklären zu können, der zweite nicht die Charakterbestimmtheit, die eben in dem Bestimmtsein späterer Entscheidungen durch frühere beruht. Dann kam’s an die intelligible Willensentscheidung bei Kant und Schelling, ich ging durch wie sie den Forderungen des christlichen Bewußtsein’s am meisten entspreche, verwahrte mich aber sehr gegen das Postuliren von Begriffen, die eben aus dem Zusammenhange des Systems mit Nothwendigkeit hervorgingen und in den letzten metaphysischen Gründen lägen nicht aber vom christlichen Bewußtsein könnten hervorgezaubert werden. Ich habe eine sehr starke Abneigung gegen diese Weise des Postulirens und kam hier dazu in den ärgerlichen Fall etwas vom Standpunkt des christlichen Bewußtsein’s aus als die vollkommenste Denkart erklären zu müssen, was bis jetzt mir philosophisch betrachtet höchst zweifelhaft ist. – Sehr unangenehm war eine inquisitorische populare dogmatische Frage „über das ewige Leben, dessen objektiven Grund und die Weise seiner Aneignung nach dem Evangelium“[.] Ich habe mich in allen Theilen derselben grober Heresien schuldig gemacht, was, da der Betreffende nur aus dogmatischen Gründen urtheilt und äußerster Lutheraner ist, allerdings schade ist; ebenso bei demselben „Nachweis der Unsterblichkeit im alten Testament und im neuen“; wobei das Vorhandensein derselben als einer festen Überzeugung vorausgesetzt wurde, wogegen ich von vorn herein die Meinung aussprach daß die beste Periode des Judenthums aus Religion, nemlich aus der Vorstellung der Erhabenheit Gottes sie geleugnet habe; so bis David, wie es dann wiederum aus Religion, nemlich aus hingebendem resignirendem Vertraun zu Gott und Ehrfurcht vor seiner unbedingten Macht die Frage danach niedergeschlagen habe, viele Psalmstellen und Hiob dienten dies zu beweisen und auch Kohelet11 kam dabei an die Reihe. Dieser war nemlich der Einzige der die Consequenzen der naturalistischen Voraussetzungen von der Natur der Menschen in religiöser Skepsis aussprach, doch auch er sie der Vorstellung der Gerechtigkeit Gottes letztlich unterwerfend. Den Scheol12 erklärte ich für eine vielen Naturvölkern eigne poetische Vorstellung, die nothwendig ist sobald die Seele als denkende und fühlende nicht

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vom Körper durch Abstraktion getrennt gedacht wird und dies doch mit der Anschauung des Todes verbunden wird, dadurch entsteht jene hochpoetische Vorstellung einer halben Gebundenheit der menschlichen Kräfte, wie sie der Ausdruck „die Schlaffen“ darstellt. Dabei stellte ich dann auch dar, wie erst spät neben der Unsterblichkeit des Volkes die des Einzelnen als ein Bedürfniß sei gefühlt worden. Nur Daniel hat entschieden die Unsterblichkeit. Hebräisch war Hiob zu übersetzen sammt Einleitung. Die Einleitung und den Inhalt kannte ich sehr genau, die Übersetzung und Erklärung stoppelte ich, da das Lexicon gestattet war höchst mühsam zusammen. Soviel von meinem Examen und entschuldigen Sie, wenn’s zu viel ist, da mir’s Freude macht Ihnen davon zu erzählen und ich hoffe, Sie werden, mir ihr Urtheil über die Art, wie ich die Sachen angepackt habe mittheilen. – Gestern Abend hatte der Vater die Trauerrede bei der Beerdigung des kleinen Sohnes unsres Herzog’s,13 heut früh hat er in der Schloßkirche vor der herzoglichen Familie gepredigt, heute Mittag hat er einen neuen Kirchhof hier einzuweihen – also wie Sie sehn genug zu thun und zu sprechen und Angreifendes, er ist aber ziemlich wohlauf und grüßt Sie sammt meiner Mutter auf das Herzlichste. Meine Schwester in Wiesbaden,14 bei der ich, wenn die Morgendfragen nicht zu lange dauern esse, war ein paar Tag unwohl ist nun aber wieder wohlauf und gestern zum erstenmale wieder draußen gewesen. – Glaser’s Moses15 wird in 14 Tagen aufgeführt. Ich hoffe dabei zu sein. Denn ich werde nun wohl nicht vor 4 Wochen nach Berlin zurückkommen freu mich aber von Herzen drauf, Sie, Ihre verehrte Frau und Wehrenpfennig wiederzusehn, wie das ganze Berlin, das mir doch an’s Herz gewachsen ist. Sehn Sie Scholz so danken Sie ihm, ich bitte, für seinen lieben Brief. Sollten Sie in einer müßigen Stunde zu einer Antwort aufgelegt sein, so würden Sie mir ein Vergnügen machen – größer als Sie denken. Die Meinigen grüßen Sie und Frau Doktor auf’s Herzlichste und Beste und wenn Sie sich durch den langen Brief nach Ihrer gewohnten Güte durchgearbeitet haben, so verabschiedet sich mit Dank Ihr ergebener Wilh. Dilthey Original: Hs.; UB der HU Berlin, Lazarus-NL, Nr. I, 78; Erstdruck: LStB II/2, Brief 518. 1

Der Brief trägt keine Jahreszahl. Die Hg. datiert auf das Jahr 1856. Da aber der 21. und 28. Oktober im Jahre 1856 auf einen Dienstag fielen, im Jahre 1855 dagegen, wie D. schreibt, auf einen Sonntag, stammt der Brief wahrscheinlich aus dem Jahr 1855.

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Dilthey an Moritz Lazarus 2

Wallmerod: Gemeinde im Westerwaldkreis. Christlieb Julius Braniß (1792–1873): Philosoph; 1826 a. o., 1833 o. Prof. in Breslau. – Uebersicht des Entwicklungsganges der Philosophie in der alten und mittleren Zeit. Breslau 1842. 4 Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819): Philosoph und Schriftsteller. 5 Johann Friedrich Herbart (1776–1841): Philosoph, Psychologe und Pädagoge. 6 J.F. Herbart: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie. Königsberg 1813, 5. Aufl. 1850. 7 Arianischer Streit: Der erste große Lehrstreit innerhalb der christlichen Kirche über das Wesen Jesu. 8 Konkordienformel oder Bergisches Buch: letzte symbolische Schrift der lutherischen Kirche. 9 Homologumena: allgemein anerkannte, für echt geltende Schriften der Bibel; Antilegomena: bestrittene, für unecht erklärte Schriften der Bibel; Notha: allgemein als unecht anerkannte Schriften des Neuen Testaments. 10 Ferdinand Christian Wilhelmi (1822–1897). 11 Das Buch Kohelet: Schrift des Alten Testaments aus dem 3. Jh. v. Chr. 12 Hebräisch: „Abgrund“. Bezeichnung des Unterirdischen, in das der Mensch im Tod eingeht; Straf- und Läuterungsstätte der Sünder. 13 Adolf I. von Nassau (1817–1905). 14 Marie Lade. 15 A. Glaser: Moses in Aegypten. Tragödie in 5 Aufzügen. Hamburg 1855. 3

[27] Dilthey an seine Eltern (Berlin, zu Neujahr 1856) .|.|. An Wehrenpfennigs Gymnasium1 wird wieder eine Stelle frei. – Heute will ich noch zu Trendelenburg gehen, er ist Director der Commission und wird mir hoffentlich nützlich sein. Es handelt sich eben darum, ob mein nassauisches Candidatenzeugniß hier Gültigkeit hat. Sobald ich hierüber bestimmte Erklärung habe, schreib ich sogleich. Ich bin hier immer noch allein. Heute Abend fangen wir – Nitzsch,2 Hoffmann,3 Weingarten4 und ich – ein Platon-Kränzchen an. – Vorgestern abend war ich mit Wehrenpfennig, Herrn und Frau Dr. Lazarus bei Kobin,5 verausgabte einen ganzen Thaler um eine wahrhaftige Somnambüle zu sehn – Betrug. Laz[arus]’ Buch6 ist unvergessen, ich lese eben dran. Ich treibe jetzt allerhand für mein Examen, Pädagogik, deutsche Grammatik! Nitzsch wird’s mit machen. .|.|. Euer Wilhelm Dilthey Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 15.

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Dilthey an seine Eltern

1 Das Joachimsthalsche Gymnasium in Berlin; hier lehrte Wehrenpfennig nach seiner Promotion in Halle von 1853 bis 1857. 2 Friedrich August Berthold Nitzsch (1832–1898): protest. Theologe, Sohn von K.I. Nitzsch, Studienkollege D.s und später (1868) o. Prof. für protest. Theologie in Gießen und 1872 in Kiel. 3 Wilhelm Hoffmann, geb. 1835: klass. Philologe, Lehrer in Berlin, Sohn von Ludwig Friedrich Wilhelm Hoffmann (1806–1873): protest. Theologe; seit 1852 Hof- und Domprediger in Berlin, seit 1853 Mitglied des ev. Oberkirchenrats und von 1853 bis 1873 Generalsuperintendent der preuß. Landeskirche. 4 Hermann Weingarten (1834–1892): protest. Kirchenhistoriker; 1858–1864 Adjunkt am Joachimsthalschen Gymnasium und bis 1873 Oberlehrer an der Andreasschule, 1868 a. o. Prof. in Berlin, 1873 o. Prof. in Marburg, 1876 in Breslau. 5 Vermutlich ein Berliner Lokal. 6 M. Lazarus: Das Leben der Seele in Monographieen über seine Erscheinungen und Gesetze. Erster Band. Berlin 1856; der zweite Band erschien 1857.

[28] Dilthey an seine Schwester Marie Sonntag Nachmittag (Januar [18]56)1 Liebstes Mariechen Wenn Du eine Idee davon hast wie viel Briefe ich seit Weihnachten nothwendig hab schreiben müssen, so wirst Du, dass ich auf Deine Nachsicht gerechnet habe nicht übel nehmen. Ich wollte nur ein ruhig Plauderstündchen abwarten um Euch nicht allzuhastig schreiben zu müssen. Denn Du glaubst nicht, wie wenig ich jetzt Ruhe habe, da ich jetzt ziemlich sichre Aussichten habe, zu Ostern zum Examen zu kommen.2 Der Hauptgegenstand ist Hebräisch, meine schwache Parthei, sodass ich hiervon allein täglich etwa 5 Stunden nicht loskomme. Dann Latein und Griechisch, was ich seit dem Gymnasium nicht mehr angesehn habe. Dazu sind grosse schriftliche Arbeiten für das Examen vor der Thür, die mich auch sehr viel Zeit kosten werden. Nimm hinzu dass ich Musik, Befreundete und Bekannte nicht vernachlässigen will, so kannst Du Dir meinen Lebenslauf ziemlich denken. Dabei bin ich aber doch recht froh, da ich Hoffnung habe recht bald einen schönen Wirkungskreis zu finden Geld zu verdienen und einen festen Standpunkt für meine Absichten zu gewinnen. .|.|. Ein Sohn von Probst Nitzsch, bei dem ich jetzt auch in den Familienkreis gekommen bin, wird das Examen mitmachen, was Hengstenberg’s, des Hauptexaminator’s eines starken Lutheraner’s wegen, sehr erwünscht ist. –

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Dilthey an seine Schwester Marie

Dies alles liebstes Mariechen schreib ich Dir, damit Du, da Du wohl das Ein und Andere schon gehört hast, doch die ganze Sache Dir mögest klar vorstellen können. .|.|. Original: nicht überliefert; im Dilthey-NL der StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o, befindet sich ein maschinenschriftliches Transkript des Brief-Fragments, das handschriftliche Ergänzungen und Korrekturen von Georg Misch, D.s Schwiegersohn, sowie dessen Ehefrau Clara enthält. Vermutlich wurde der Brief in Vorbereitung von JD transkribiert, den Clara, D.s älteste Tochter, 1933 herausgegeben hat. 1

Im Transkript: nachträgliche Datierung von der Hand G. Mischs. D. hatte das theologische Examen Mitte Oktober 1855 in Wiesbaden abgelegt; das philologische Examen stand noch aus. 2

[29] Dilthey an seine Mutter Liebste beste Mutter!

(Berlin März 1856)

.|.|. Es ist heut hier der erste rechte Frühlingstag, ich war im Thiergarten spatzieren und habe viel an den Rhein und an Euch alle denken müssen. Ich weiß nicht woher’s kommt, daß mich diese ersten Frühlingstage immer so wehmütig machen und doch so still heiter, als ob mir wunder was geschehen wäre. Wie ich mich drauf freue, das erste Grün und Frühlingsankunft bei den lieben Leuten in Schwerin zu feiern und wenn auch nur kurze Zeit am Meer, denn das ist nur 3 Meilen von Schwerin. Das feuert mich auch recht an, jetzt noch etwas Tüchtiges zu arbeiten bis dahin, damit ich, ohne mir irgend Vorwürfe machen zu müssen, mich kann dem hingeben. Ich bin auch an meiner Musik wieder ordentlich und Scholz ist ein sehr guter Lehrer. Bis Ostern hoff ich’s dahin zu bringen, daß ich ein halb Dutzend Beethovensche Sonaten recht ordentlich spielen kann und ein paar Sachen aus dem wohltemperirten Clavier von Bach. Wenn Du doch eine Gelegenheit findest, mir, was Ihr noch von Beethoven habt, und die Mozartischen Sonaten zu schikken; seit ja dahinter her. Ich hätt auch so gern von Jean Paul und Herder Einiges hier wenn’s anginge. .|.|. Heut Abend wird der Plato (Weingarten, 2 Söhne des Generalsup[erintendenten] Hoffmann, Nitzsch u.a.) eine Bowle bei Hoffmann’s trinken, was hoffentlich gnädig abgehen wird. Den ganzen

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Dilthey an seine Mutter

Morgen war ich bei Lazarus und hab mit ihm Jesaja gelesen. Er und Frau Doktor lassen Euch schönstens und bestens grüßen. .|.|. Daß Du Dich nicht mit überzähligen Sorgen plagst, sondern jede heitre Stunde mitnimmst wie sie der Himmel schenkt, der nicht will daß wir im Sonnenschein uns mit Wintergedanken plagen. Leb wohl, grüß alle in Wiesbaden und Biebrich, die Lili könnt mir einmal wieder etwas von ihren lieben kleinen Fingern sehn lassen. Dein Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck: JD, Nr. 16.

[30] Dilthey an seine Cousine Karoline Rückert 1 Lieb Linchen

Sonntag morgens 7 Uhr (Berlin, Frühjahr 1856)

Meinen mehr als vetterlichen, freundschaftlichen herzlichsten Glückwunsch. Deßgleichen dem neuen Vetter, ob er gleich an mir hätte vetterlicher handeln dürfen, unsere neue Vetternschaft voraussehend, und das glückliche Ereigniß auf 14 Tage früher setzen. Doch auch dies sei ihm verziehen, wenn Ihr nur in meine Schullehrerferien2 den nächsten Akt des Familienfestspiels setzen wollt. Denn an einem von all diesen aufeinanderfolgenden frohen Ereignissen, Verlobungen und Verheirathungen, muß ich theilnehmen, sonst seh ich mich genöthigt, hier eins extra für mich zu veranstalten, was doch in vielem Betracht unbesonnen wäre. .|.|. Da Dir nun, liebstes Linchen, in diesen Tagen mancherlei Gedanken durch die Seele gehen werden von Deiner Zukunft und davon, wie die neuen Verhältnisse Dein Wesen ausbilden und erhöhen werden, so möcht ich Dir ein Buch in die Hände spielen, das Dein Herz in solcher Lage innig ansprechen muß. Lächle nicht, daß es ein Roman ist; es ist der erste ächt deutsche Roman: Soll und Haben von Freytag.3 Du begegnest darin einem deutschen Mädchen, das ein vollkommenes Bild alles dessen ist, dem nachzustreben in Deiner Natur liegt: stille Beschränkung auf das Haus, aber der höchste Sinn für Ordnung und Gestaltung des Häuslichen; innige Hingebung an den engen Kreis der Liebe, aber die Fähigkeit freundlicher Theilnahme an allem was ihn berührt; ächt sinniges deutsches Gemüthsleben mit gesundem klarem Verstand verbunden; Empfänglichkeit für alle neuen Eindrücke und alle hereintretenden Schicksale und doch herrliches, stets sich selber gleiches Maß in Fühlen und Handeln und über dem allem die Harmonie und durchsichtige

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Dilthey an seine Cousine Karoline Rückert

Klarheit, die am sprechendsten die Tiefe und Reinheit des weiblichen Gemüths offenbart. Laß Dir diese Gestalt ein Ideal sein und ein Maaß für Dein Handeln, damit sich Dein Wesen selbstständig und in selbstloser, die engsten Kreise Deines Lebens überschreitender Liebe ausbilde. – Und verüble, bestes Linchen, die Rede dem Vetter nicht. Zum Scherz wollte ich gern für den ernsten Tag ein ernstes Wort fügen, damit er sich mit manchen anderen ernsten Gedanken und Wort aus erfahrenem Munde in der Erinnerung an diese entscheidenden Tage Deines Lebens einige. Möge Deine Mutter und Großmutter in dieser Freude recht wirksamen Trost finden für noch nicht vergeßnes Leid. Meine Gedanken sind bei Euch recht oft, doppelt herzlich und dankbar bei der Erinnerung an die liebevolle Theilnahme, die Ihr in den vergangenen Monaten an meinen Angelegenheiten gezeigt habt. Die herzlichsten Grüße an die Köppische Familie, in deren Verwandtschaft zu treten ich stolz bin. Und nun noch einmal: Glückauf! liebes Linchen Dir und dem Doktor und vergiß doch nicht vor dem Bräutigam und den vielen neuen Verwandten Brief und Bericht von Deinem Euch alle herzlich grüssenden stets treuen ergebenen Vetter Wilhelm Dilthey. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 17. – Ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o. 1 K. Rückert hatte sich mit dem Wiesbadener Arzt Ferdinand Georg Philipp Koepp (1825–1863) verlobt. 2 D. legte das philologische Examen im Spätherbst 1856 in Berlin ab und war dann zunächst vom 15. 11. 1856 bis Ostern 1857 als Hilfslehrer am königl. franz. Gymnasium Berlin tätig. 3 G. Freytag: Soll und Haben. Roman in 6 Büchern. 3 Bde. Leipzig 1855.

[31] Dilthey an seinen Vater Liebster Vater

Dienstag früh (Berlin, Mai 1856)

Ich wollte Scholz einen Brief an Euch mitgeben; nun ist er heute abgereist, geht aber erst nach Halle und dann nach Cassel, sodaß ich ihm nichts mitgegeben habe. Ich bin jetzt hier tüchtig in der Arbeit. Ich höre Colleg bei

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Dilthey an seinen Vater

Hengstenberg: Genesis und bei Ranke:1 neuere Geschichte und dessen historisches Seminar. Es ist mir sehr viel werth, Ranke gehört und recht von Grund auf seine Weise kennen gelernt zu haben und noch kennen zu lernen. Denn er ist jetzt gewiß der bedeutendste Historiker und ich werde mich doch wohl, wie ich ja schon seit vorgen Sommer im Plan hatte, die nächsten Jahre mit Kirchengeschichte beschäftigen. Das ist vor der Hand ein neutrales Feld und eines, in dem noch unendlich viel zu thun ist, um den Leistungen auf dem Gebiet der Profangeschichte beizukommen. Ich bin vielleicht zu abstrakt, zu wenig im guten Sinne Gedächtnißmensch dazu; doch hoffe ich daß sich durch Fleiß auch dies überwinden läßt; die Auffassung von Charakteren und Systemen, vom Zusammenhang und den Analogien in der Geschichte liegt mir um so näher. Nun bin ich freilich mit ganz Anderem vor der Hand beschäftigt. Einmal mit den Griechen, was mir täglich große Freude macht. Ich lese Homer und Sophokles. Wie genieße ich in diesen schönen Frühlingstagen, da ich beim offenen Fenster am Pult sitze, die großen heiteren Gestalten des Homer und denselben blauen Himmel der alles, auch wenn er Schlachten und Tod schildert, bei ihm umfängt. Dann das Hebräisch, das ich freilich nicht so fröhlich in die Hand nehme als den Homer. Es macht mir immer noch Schwierigkeit. Jetzt fange ich auch zunächst meine philosophische Arbeit an: wie Aristoteles in seiner Ethik den Begriff der Eudämonie bestimme, soll dargestellt und beurtheilt werden. Ich hoffe daß die Arbeit Trendelenburg zu Dank wird und will mir Müh geben, da er außerordentlich freundlich und gut gegen mich ist und, wie ich gehört habe, was von mir zu halten freundlich genug ist. Freilich seiner Verehrung des Aristoteles kann ich nicht genug thun und wenn ich auf diesen losschlage, treff ich ihn zugleich ein wenig mit. Doch wird er, wenn’s nur kräftig genug geschieht, auch daran seine Freude haben. Die Hengstenbergsche Arbeit „über die Gottheit Christi“2 geht mir auch im Kopfe hin und her, doch will ich sie aufsparen, bis ich mit dieser fertig bin, sie ist mir ein wenig peinlich und ich habe den Punkt noch nicht gefunden, sie anzufassen. Daneben lese ich mit Lazarus mein Hebräisch weiter; das Platon-Kränzchen geht fort; mit Weingarten von dem ich Dir damals zu Hause erzählte, daß es mir leid sei ihn nicht früher kennen gelernt zu haben, les ich 2 Abende wöchentlich Clemens Alexandrinus.3 Mit Wehrenpfennig treib ich noch nichts Festes, muß es aber anfangen; denn wir beide sind so beschäftigt und wohnen so weit voneinander, daß wir uns sonst gar nicht zu sehen kriegen. Er schreibt jetzt an einer Abhandlung über die Ähnlichkeit der ethischen Systeme nach ihrem Inhalt bei ihrer formellen Verschiedenheit – zunächst für’s Herbstprogramm des Joachimsthalschen Gymnasiums. Lazarus ist beim Spinoza und schreibt daneben das Litteraturblatt beim Kuglerischen Kunstblatt.4

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Dilthey an seinen Vater

Er zersplittert sich ein wenig, fürchte ich; es wird aber auch gut bezahlt. Für die Recension dankt er, er findet sie recht verständig und gut; ich hab sie noch nicht zu Gesicht bekommen.5 Ich bin Sonntag Nachmittags gewöhnlich da, zum Spatziergang und Café. Abends geh ich wohl den Sonntag gewöhnlich weg zu Jonas oder Trendelenburg. Mit Nitzschs dauert der freundliche Verkehr fort und es liegt in meiner Hand, wie weit ich ihn treiben will, da mir noch vorgestern der Sohn sagte, ich möge nur ungenirt kommen, wenn ich Zeit habe. .|.|. Mein Umgang beschränkt sich jetzt immer mehr auf Theologen. Scholz ist nun weg; ich verdanke ihm für meine musikalische Bildung viel, und es thut mir leid, seinen verständigen Ernst und Scherz zu entbehren. Glasers letztes Stück strozt von Versöhnung Liebe Gottes usw., aber er ist so zersplittert. .|.|. Ich habe durch den Umgang mit so vielen Nichttheologen die Anschauung der verschiedengeartetsten Charaktere, Einblick in mannichfaltige Lebensverhältnisse und Anschauungsweisen gewonnen, wie das sonst selten Theologen möglich ist. Jetzt wird mein Umgang auf das Nothwendigste beschränkt sein. Ich kann jetzt einen ganzen Tag sitzen und Spatzieren gehn mit meinen Gedanken beschäftigt, ohne ein Wort zu reden, als was zum Essen nöthig ist. Ich geh in diesen herrlichen Tagen viel Spatzieren und sehe besser aus als seit lange. Ich hab jetzt Lazarus versprochen recht oft mit ihm zu gehn. – Das Geld brauch ich sehr nöthig. Nächsten Sonntag wird wohl Scholz zu Euch kommen und Euch von Berlin erzählen. .|.|. Nun leb wohl liebster Vater, Du und die Mutter und das ganze geliebte Haus; grüßt was draußen ist eben so herzlich von mir, laßt bald von Euch hören und behaltet lieb Euren Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 18. 1

Leopold von Ranke (1795–1886): Historiker; seit 1825 Prof. in Berlin. E.W. Hengstenberg: Christologie des Alten Testaments und Commentar über die messianischen Weissagungen. 3 Bde. Berlin 1829–1835, 2. Aufl. 1854–1856. 3 Clemens von Alexandria (ca. 150–215): Philosoph und Kirchenvater. 4 F. Eggers (Hg.): Deutsches Kunstblatt. Zeitschrift für bildende Kunst, Baukunst und Kunsthandwerk. Stuttgart 1850 ff. unter Mitwirkung von u. a. Franz Theodor Kugler (1808–1858): Kunsthistoriker, Historiker und Schritsteller. 5 Nicht nachgewiesen. 2

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Dilthey an seine Mutter

[32] Dilthey an seine Mutter Liebste beste Mutter

(Berlin, Pfingstsonnabend 1856)

lang hatt ich auf Eure Briefe1 gewartet. .|.|. Ich sah daß Ihr alle wohl seid und meiner in Liebe gedenkt und hatte herzliche Freude daran. Wie ich mich darauf freue, wenn ich nach überstandenen Mühsalen ein paar stille fröhliche Wochen bei Euch sein werde. Aber daß es ja in Biebrich geschieht; was Du mir davon schreibst, es sei in Wiesbaden eine Versetzung des Vaters dahin in Rede gewesen, hat mir gar nicht gefallen. Das wäre für Vaters Gesundheit und Heiterkeit ein schlimmer Wechsel. Indeß bin ich auch ganz sicher überzeugt, daß er in keinem Fall drauf eingeht. .|.|. Wie mir’s nun geht? ich lebe so still von Tag zu Tag weiter und bin fast den ganzen Tag allein und bei meiner Arbeit. So wird’s nun auch wohl die Pfingstferien durch gehen; Wehrenpfennig wollt mich mitnehmen in den Harz zu seiner Mutter auf ein paar Tage. Ich hab aber nun mein Reisevergnügen schon überstanden, so sehr mich auch die blühenden Bäume und Sträucher draußen locken. – Gestern war ich zu Trendelenburg eingeladen, morgen werd ich wohl zu Nitzsch’s gehen. Die Feiertage kommt ein armer Fremdling in diesen Landen nirgends an; die werd ich wohl, soviel meine sehr beschränkte Zeit erlaubt, in Biebrich zubringen. O wie herrlich es jetzt bei Euch sein muß, nach den lieblichen Proben, die der Frühling dem Berliner Sand und Staub abzwingt! Daß Du mir ja diese herrlichen Tage genießest, wie der Frühling genossen sein will, so recht innerlich heiter und dem Tag hingegeben und den vergehenden Blüthen die er bringt. Du mußt Dich nach Deiner musikalischen Natur hüten, jedes Mißverhältniß nicht zu stark zu fühlen. In uns selbst, in anderen, in den Verhältnissen, überall sind Schranken, die unsere Zustände und unsere Wirksamkeit auf andere vom idealen und harmonischen Leben absperren. Daher es ein nothwendiger Egoismus ist, unser Sein nicht ganz in unsere Verhältnisse aufgehen zu lassen und wäre es auch das vollkommenste Verhältniß – die Liebe zu denen, die uns am Nächsten stehn durch Gottes Fügung. Vielmehr ist es nothwendig, daß wir ohne Wehmuth in uns zurückgezogen, heiteren Sinnes das harmonische Leben, das nirgends in den Verhältnissen ist, in uns selber fühlen und in dem großen Gange der menschlichen Dinge und in der ewigen und reinen Natur. Unser Auge wird dann viel freier und klarer, das Schöne und Gute auch in unseren Verhältnissen zu erkennen, unbeirrt von mancherlei kleinem und vorüberziehendem Ungemach.

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Dilthey an seine Mutter

Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 19; WA in: Das Elternhaus. Briefe großer Deutscher. Gesammelt und eingeleitet von H. Roch. Berlin/Wien 1944, S.314–316. 1

Nicht überliefert.

[33] Dilthey an seinen Vater (Berlin, Sommer 1856) Soeben hab ich, liebster Vater, Brief 1 und Geld bekommen. Mein Termin2 ist immer noch nicht bestimmt. Es haben sich so viele gemeldet, daß es sehr langsam geht. In der Schule geht mir’s prächtig; ich habe mit den Jungen viel Vergnügen. Im Anfang waren sie ein wenig unruhig; da der vorge Gymnasiallehrer nicht im Stande gewesen war gehörig Ordnung zu halten, waren sie sehr verwöhnt. Jetzt muckst sich aber keiner mehr und nichts ist amüsanter als ihre offenen Mäuler wenn ich ihnen erzähle und ihre komische Art, wieder zu erzählen. Laz[arus] und Frau sind in diesen Tagen zurückgekommen und grüßen. Sonst giebt’s eben Neues nichts. Die Ristori3 spielt hier, ich hab aber keine Zeit hinzugehn. Da ich’s mit meinen Stunden sehr genau nehme und daneben im Laufenden mit meinen Examensachen bleiben muß, damit ich nicht allzuviel wieder verschwitze, so nimmt Vorbereitung zu den Stunden, etwas Examenarbeiten und etwas Kirchengeschichte mich so den ganzen Tag in Beschlag. Wie freut mich daß es Mariechen und dem kleinen Mädchen4 gut geht. Grüß alles auf’s Schönste und nehmet diesen Wisch als einen Brief an, nach dem Examen bekommt Ihr dann große Zahlungen. Adieu

Dein Wilhelm Dilthey

Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 20. 1 2 3 4

Nicht überliefert. Termin des philologischen Examens. Adelaide Ristori (1822–1906): ital. Schauspielerin. Marie Lade, gen. „Stimbes“.

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Dilthey an seinen Bruder Karl

[34] Dilthey an seinen Bruder Karl Lieber Karl.

[Sommer 1856]1

Schönen Dank für Deinen lieben Brief.2 Daß Du den unvermeidlichen Witz über das Porto so kühn vom Stapel laufen ließest, macht Deiner Courage Ehre. Das Wahre von der Sache aber ist, daß ich die Post geschlossen fand und dachte, mein Brief 3 würde mindestens als Anlaß zu einem Deiner Briefe die 16 Kreutzer werth sein, sofern Du die Schatten aller derer nicht scheutest die vor Dir diesen Witz abgerissen. Daß die Ferien angehn, daß es Dir in der Schule so gut geht – Deine Noten – das alles hat mich sehr interessiert und gefreut, besonders auch was Du über Deine Pläne schreibst; nur das, lieber Karl, erlaube mir etwas sonderbar zu finden, was Du über die Mathematik schreibst. Einmal sagst Du, deine Antipathie gegen diese mehre sich und dann, Du hättest übrigens auch nie etwas Sonderliches darin gethan. – Und was folgerst Du aus diesen Tatsachen? daß Du also dieser Antipathie nachgeben müssest und, was mit diesen Wissenschaften zusammenhänge, als für Dich unerreichlich aufgeben? Unerreichbar freilich auf dem Wege daß man seiner Antipathie freien Lauf läßt. – Aber im Ernst: hast Du Dich denn noch nicht darauf besonnen, woher solche Antipathien kommen? Ich will Dir hier ein öffentliches Geheimniß verrathen. Antipathie hat der Mensch nur gegen alles Wissen das ihm fremd ist, und die Antipathie wird nur dadurch gehoben daß man sich vertraut macht mit ihrem Gegenstande. – Die Erfahrung mag Dir davon täglich den Beweis geben. Aber da kannst Du freilich meist die Sache so umdrehen und wirst es auch in diesem Falle bei Dir vermuthlich thun, so nämlich: aus der Antipathie folgt erst das Nichtwissen. – Betrachte aber die Sache genauer, ehe Du so urtheilst. Offenbar kannst Du gegen die Größen keine Antipathie haben, die der Gegenstand der Mathematik sind. Im Gegenteil: als die Grundlagen unserer gesammten Weltbetrachtung, als die ewig-Eine Form in allem Wechsel des materiellen Daseins müssen sie Dir schon an sich Interesse bieten. – Also die Antipathie muß entspringen aus Deinem Verhältniß zu diesem Gegenstande: das ist aber offenbar das Handeln des Verstandes mit den Größen, allgemein betrachtet. Nun hast Du doch sicher Freude daran, wenn Dir diese Thätigkeit des Verstandes gelingt, wie alle andern denkenden Menschen. Nur wo sie mißlingt, ohne Resultat ist, da entsteht das Mißfallen an der Thätigkeit und, wenn die Eitelkeit es durchsetzen kann daß dem Gegenstande die Schuld beigemessen wird, am Gegenstande selbst. Wer aber es ernst mit sich meint, der fragt nach der Ursache des Mißlingens. Und ich dächte, danach

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Dilthey an seinen Bruder Karl

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hättest Du nicht lange zu suchen, denn Du gestehst selbst, darin wenig gethan zu haben. Nun weißt Du so gut als ich daß in der Mathematik über etwas ohne es gelernt zu haben weggehn, so viel ist als über nicht aufgeschlagene Brücken marschieren wollen. – Nun lasse ich mir nicht einwenden, Du habest zu dem Gegenstande kein Geschick. Ein Mensch, der überhaupt Geschick hat, hat es zu Allem, worin er sich lange genug denkend bewegt hat. – Mag sein daß er, um des Einen sich zu bemächtigen, mehr Zeit braucht als um des Andren, aber wenn er es ergriffen hat – und das bleibt ernstem Fleiß nie aus –, so ist er darin um so fester und zuversichtlicher und seine Freude ist verdoppelt – Dir aber, der Du selbst gestehst wenig gethan zu haben, gestehe ich gar keinen derartigen Einwurf zu. Erst probieren! .|.|. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 21 1 Der Brief ist undatiert; da D.s Bruder derzeit noch zur Schule ging – Karl D. wurde 1843 geboren – wurde der Brief vermutlich ca. 1856 geschrieben. 2 Nicht überliefert. 3 Nicht überliefert.

[35] Dilthey an seine Mutter [nach dem 26. Augsut 1856]1 Liebste Mutter Gleich heut nachdem ich Deinen lieben Brief bekommen habe, will ich nach des Tages Arbeit Dir ein wenig schreiben. An den Vater nach Wildbad hab ich erst vor ein paar Tagen geschrieben.2 – Ihr seid jetzt allein; daß Ihr Euch nur das schönste Wetter recht zu Nutze macht u. die viele Zeit die Ihr habt. Wahrhaftig wenn man den Rhein u. den Schloßgarten so vor sich hat, weiß man’s nicht wie viel man dran haben könnte. Das muß Dich ja auch recht heiter machen, liebste Mutter, da Du so viel Sinn für die Natur hast. Was Dich aber auch im Stillen mag sorglich machen, bedenke daß das alles besser geschieht als wir’s verstehen mögen u. daß wir’s einst verstehn werden warum es so kommen mußte. Und laß Dich nicht so vielerlei Kleines kümmern, denn durch alle Irrung und alles Leid hindurch lebt und wächst das Gute u. Ewige, das ja Gott sei Dank, in uns allen ist u. immer kräftiger sein wird. Alles andre ist nicht unsre Sache. Ich hoffe aber zu Gott, daß Du uns alle in nicht zu langer Zeit zusammen u. herzlich vergnügt um Dich sehn wirst. –

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Dilthey an seine Mutter

Um mich herum hier ist’s wieder lebhafter geworden. Lazarus mit seiner Frau sind von Dresden zurück. Den Sonntag, vorgestern war ich da mit Ro[quette]3 zusammen, der ein sehr gemüthlicher Mensch voller Anekdoten ist. Sie haben viel von Dresden zu erzählen, von Auerbach, Gutzkow, Wolfsohn, Hettner4 usw., meinen aber doch daß sich die Leute in der Nähe anders ausnähmen u. daß sie nicht in dem Kreis leben möchten. Sie grüßen Euch herzlich. Heut Mittag wurd ich von Dr. Chrysander5 abgeholt, Haupt,6 den größten jetzt lebenden Orgelspieler zu hören, der vor ein paar Musikern Joachim[,] Dähn, Klinger7 Bachische Fugen spielte. Ich sah dort auch die berühmte Bettina Arnim die Freundin Göthe’s wenn Du von der vielleicht einmal etwas gelesen hast, alt, gewiß 80 Jahre alt8 aber noch voll Schwärmerei für die Musik; ganz versunken, in sich zusammengebogen saß sie die drei Stunden da in der Kirche während der grandiosen Musik zwischen zwei alten unausstehlichen Töchtern, die die Naivität u. Lebhaftigkeit ihrer Mutter noch einmal nachspielten. Glaser reist in diesen Tagen nach Braunschweig. Er bekommt 800 Thaler u. jede Zeile die er schreibt extra gut bezahlt. Ob sich das Blatt halten wird u. ob er sich als Redakteur halten wird ist freilich zweifelhaft genug.9 Jonas ist wieder zurück. Vorvorgen Sonntag musicirte ich dort. Ich geh selten hin, da das Treiben der Leute, wie’s in der protestantischen Kirchenzeitung sich jetzt breit macht mir auf’s höchste mißfällt. Jonas ist persönlich ein höchst respektabler Mann; aber er ist zu verbittert gegen die herrschende Parthei um einzusehn, daß die Weise der Opposition die jetzt seine Genossen treiben u. der Grundsatz alle Lumpen wenn sie nur opponiren mitaufzunehmen in die Reihe der zu Verteidigenden der Sache u. ihrer eignen Wirksamkeit höchst schädlich sein muß. – Frau Doktor Laz[arus] lässt grüssen. Ich komm eben von da, wo Heyse10 war. Sie hat mir was Mitgebrachtes gegeben, eine wunderhübsche gestickte Brieftasche mit netten Versen von ihr: Durchs Rechnen bringt man viel heraus. gesetzt – Du zählst die Gulden aus, so nummerire. wenn dein Freund sein Hab’ u Gut verlor, dann – addire, schwatzt die Verläumdung dir was vor – subtrahire. Dein eigenes Gut – multiplicire hast Du was übrig – dividire, doch in der Freundschaft rechne mit Bedacht, u nimm vor Brüchen dich in Acht. –11

Besonders das Multipliciren werd ich wohl bald lernen müssen u. selbst im Nummeriren hab ich noch nicht ausgelernt. Leb nun herzlich wohl, liebste beste Mutter, grüß die Tante u. die Ge-

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Dilthey an seine Mutter

schwister, die Wiesbadner auch tüchtig, samt den Biebrichern, antwort mir recht bald in den vielen Musestunden die Du jetzt hast u. nimm das Durcheinanderschreiben für das was es ist: Nothwendigkeit. Gehöre ich erst mir selbst u. einer bestimmten Beschäftigung so sollst Du brieflich u. mündlich was Rechtes an mir haben. Jetzt kann ich nur zerstreute Stunden finden. Dein treuer Sohn Wilhelm. Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes mit handschriflichen Notizen von G. Misch ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o. 1 G. Misch datiert den Brief auf „Berlin, Sommer 1858“. Da A. Glaser bereits im Jahre 1856 seine Tätigkeit in Braunschweig aufnahm und da die Zeilen von Sarah Lazarus auf den 26. August datiert sind, wurde der Brief Ende August 1856 geschrieben. 2 Beide Briefe sind nicht überliefert. 3 Otto Roquette (1824–1896): Schriftsteller; 1853 Lehrer in Berlin, 1854–1857 in Dresden, 1862 Prof. für Literaturgeschichte an der Berliner Kriegsakademie, ab 1869 in Darmstadt. 4 Berthold Auerbach (1812–1882): Schriftsteller; Karl Ferdinand Gutzkow (1811–1878): Schriftsteller; Wilhelm Wolfsohn (1820–1865): Schriftsteller; Hermann Theodor Hettner (1821– 1882): Literarhistoriker und Kunstschriftsteller. 5 Friedrich Chrysander (1826–1901): Musikhistoriker. 6 Carl August Haupt (1810–1891): Organist und Orgellehrer. 7 Joseph Joachim (1831–1907): Musiker (Violinist), Dirigent und Komponist, 1852 bis 1866 königl. Konzertmeister in Hannover, 1869 Prof. und Direktor der Hochschule für Musik in Berlin. – Siegfried Wilhelm Dehn (1799–1858): Musiktheoretiker und Kontrapunktlehrer; Berliner Lehrer von B. Scholz. – Klinger: nicht nachgewiesen 8 B. von Arnim war derzeit 74 Jahre alt. 9 A. Glaser übernahm 1856 die Redaktion der gerade neu gegründeten Zeitschrift Westermanns Monatshefte in Braunschweig. 10 Paul Johann Ludwig von Heyse (1830–1914): Schriftsteller; 1910 Nobelpreis für Literatur. 11 Erstdruck mit Faksimile in: WD, Nr. 40.

[36] Wilhelm Gaß 1 an Dilthey

Wilhelm Gaß an Dilthey

Sie werden mir zürnen, hochgeehrter Freund, daß ich zum zweiten Mal wortbrüchig geworden bin. Diesmal aber entschuldigt mich hoffentlich das Jubiläum, welches uns Allen seit Wochen weder Zeit noch Gedanken für andere Dinge übrig gelaßen hat.2 Länger aber will ich auch nicht zögern, damit nicht der Anfang der Collegien mich abermals abziehe. Sie erhalten hierbei die bewußten Briefe zwar noch nicht genau, aber doch einigermaßen geordnet. Die genaue Reihenfolge werden Sie ohne Schwierig-

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keit bestimmen können. Es sind alle diejenigen, die sich später gefunden, und die daher in meinem Briefwechsel3 nicht abgedruckt sind. Ich stelle sie Ihnen für Ihren Zweck zur Disposition. Nur für den Fall, daß Ihr Unternehmen in andere Hände übergehen, daß es sich sehr in die Länge ziehn und inzwischen eine zweite Auflage meines Büchleins nöthig werden sollte, – was alles nicht zu erwarten steht, – nur für diesen Fall muß ich mir die Vorhand ausbedingen. Daß Sie die Briefe wichtig und werthvoll finden werden theils in persönlicher theils historischer und sachlicher Beziehung, daran zweifle ich nicht. Sie gehören in die Jahre der Bedrängniß und führen meist eine starke und geharnischte Sprache. Schwerlich wird Ihnen Alles zum Abdruck geeignet erscheinen. Doch kann ich über diesen Punkt schriftlich keine Meinung äußern, will auch nicht im Voraus bestimmend auf Sie einwirken, sondern es ist Ihre Sache, die Briefe zu lesen und in Ihr Material aufzunehmen, wodurch sie erst ihr rechtes Licht empfangen werden. Wie Sie über das Einzelne denken, darüber läßt sich weit leichter mündlich verhandeln, wenn ich hoffentlich im nächsten Jahre Gelegenheit habe, Sie in Berlin zu sehen. Uebrigens wünsche ich von Herzen, daß dieser kleine Beitrag das Seinige thun möge, um Ihr schönes Unternehmen4 recht vollständig und inhaltreich zu machen, daß Sie selbst aber sich ihm recht ungestört und im besten Wohlsein mögen widmen können. Ich befinde mich gegenwärtig in sehr gespanntem Zustande, da meinem Hause, wills Gott, ein schönes Ereigniß sehr nahe bevorsteht. Mit vielen Grüßen an Reimers5 Ihr ergebener W Gaß. Greifswald, 26 Oct[ober] [18]56. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 k. 1 Wilhelm Gaß (1813–1889): protest. Theologe und Philosoph; 1846 a. o. Prof. in Breslau, 1847 o. Prof. der Theologie in Greifswald, 1861 in Gießen, 1868 in Heidelberg. 2 Das Jubiläum zum Geburtstag Schleiermachers am 21. November. 3 Friedrich Schleiermacher’s Briefwechsel mit J.Chr. Gaß. Hg. von W. Gaß. Berlin 1852. 4 Gemeint ist die Ausgabe Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. 4 Bde. Hg. von L. Jonas und W. Dilthey. Berlin 1858–1863. 5 Georg Ernst Reimer (1804–1885): Buchhändler und Verleger, Inhaber des Georg Reimer Verlags (Berlin), nebst Familie. – Im Verlag Georg Reimer erschien Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen.

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Dilthey an seinen Bruder Karl

[37] Dilthey an seinen Bruder Karl Liebster Karl

(Berlin, November 1856)

Schönsten Dank für Deinen Brief 1 und das Messer. Ich werd es als Sonntagsmesser halten, denn das andre ist wirklich auch noch wohlauf. Es freut mich sehr zu hören, daß Du aus jenem Aufsatz2 eine so starke Anregung zum Nachdenken erhalten hast. Es giebt auch Sprünge mitten in den regelmäßigen Entwicklungen des Geistes, und ich erinnere mich3 noch deutlich, wie heute, wie ich im jetzigen Speisekämmerchen die alte kantische Logik, die ich in irgend einem Winkel gefunden hatte, verschlang und wie mir da zum erstenmal das Streben zu wissen, um des Wissens selbst willen, aufging, das seitdem nicht in mir geruht hat und so Gott will in mir nicht mehr verlöschen soll. Von solchen Momenten ab datiert erst die Freude am Wissen. Daß Du nun von diesem Streben nachzudenken zur Theologie übergeleitet wirst, begreife ich wohl, denn mir erging es ebenso. Der Drang, über allgemeine Dinge nachzudenken, scheint der Jugend im theologischen Stande am besten und unmittelbarsten Befriedigung zu finden, da dieser ja mit der Lehre von den göttlichen Dingen betraut ist. Aber ein weiterer Blick in die Lebensverhältnisse und Wissenschaften hebt sehr schnell diese Meinung auf. Das Nachdenken ist nur fruchtbar, wenn es auf specieller Durchforschung irgend eines Kreises der Wirklichkeit ruht, sei es des Alterthums oder der Geschichte oder der Natur oder auch der Religion. Überall aber wo diese Studien mit dem tiefen Ernste, der der Wahrheit nachgeht, und mit anhaltendem klargeordneten Fleiße betrieben werden, knüpft sich an das Kleinste dieser Wissenschaften das Höchste an. Überall wird die durch die Dinge hindurchgehende Ordnung, ihr Zweck und ihre Ursachen, sowie das Wesen des menschlichen Geistes erkannt, und so führen alle diese Studien, sei es Philologie oder Geschichte, Naturwissenschaft oder Theologie, zum Nachdenken und soweit es jedem vergönnt ist zur Erkenntniß der Dinge, die uns die Höchsten sind. Du hast also nicht nötig, das Bedürfniß einer allgemeinen Erkenntniß in der Theologie zu stillen. Diese hat keine besondre Wahrheit, nur die allgemeine und ewige der Religion Christi, die jedem Religiösen auch ohne Theologie in der Seele lebt. Die Erforschung aber der Schicksale, die diese ewige Wahrheit erlitten, und ihre Formulirung in Begriffen je nach dem Bedürfniß der Zeiten – denn das ist das Geschäft der Theologie – führt nicht tiefer in die Wahrheit ein, als die andern wissenschaftlichen Aufgaben auch.

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Dilthey an seinen Bruder Karl

Und in einer Zeit, die gern jene wechselnden Begriffe im Dienste einer stabilen Politik stabil machen möchte, giebt es kaum ein undankbareres und mißgünstiger angesehenes Geschäft und kaum auch ein dem schlichten Wahrheitssinne gefährlicheres. Die Wahrheiten, die die Religion lehrt, haben nichts zu thun mit den wissenschaftlichen über die Ordnung der Dinge und das Wesen des Geistes, sondern die Regionen, in denen die Religion wohnt, betritt der wissenschaftliche Geist nur, wenn er seine Aufgabe verkennt. So wie die Grenzüberschreitungen, die sich jetzt die Religion gestattet, ihr nur schädlich sein können. Nur daß immer das Zugeständniß jener Ordnung usw. Bedingungen des religiösen Lebens sind. Also das Bedürfniß des Wissens will und kann die Religion nicht befriedigen. Das Resultat ist also: Dein Bedürfniß nach Wahrheit ist kein Grund, Dich der Theologie zu widmen. Das heißt aber nicht: daß Du Dir das aus dem Sinne schlagen sollst. Ich selbst, wenn ich mir noch einmal einen Beruf wählen sollte, würde keinen anderen wählen, ob ich gleich wohl ganz anders studiren würde als nun geschehn ist. – Aber: wenn das religiöse Leben nicht ganz besonders stark in Dir ist, so würde es thöricht von Dir sein, in diesen Kreis leidenschaftlicher Partheiungen, staatlichen und kirchlichen Druckes und heuchlerischen oder beschränkten Verfinsterungseifers zu treten. Wer Lust hat, sein ganz Leben lang nach Rechts und Links um sich zu schlagen und nichts fürchtet so sehr als die innere Unwahrheit, der mag sich in die Mitte dieses Lärm’s ruhig stellen. Doch dazu bedarf es dann soviel innere Ruhe, so feste Überzeugung, daß niemand voraussagen darf und kann, er werde sie haben. Ich würde also nie für rathsam halten, bloß Theologie zu studiren, sondern lieber Theologie und Philologie oder Theologie und Geschichte. Diese Studien ergänzen sich gegenseitig und es bleibt dann immer unbenommen, sich der Philologie oder Geschichte allein zuzuwenden. Bis Dir also zu wählen Pflicht wird, ist noch eine lange Zeit übrig, in der Du Dich, ob ein innerer Beruf Dich treibt, hinlänglich prüfen kannst. Mein Brief wollte nun auch nichts als den Gegenstand der Prüfung Dir klar zeigen. Bis dahin aber ist mein Rath der, Dich mit Latein und Griechisch so zu beschäftigen (und auch mit Hebräisch), als wolltest Du Philologe werden, dabei aber immer wieder deine Neigung und dein Talent zu den Naturwissenschaften anregen. Zu welch großartiger Weltanschauung ist Humboldt durch die Naturwissenschaften geführt worden, Ritter4 durch die Geographie? Doch nun sei’s genug. Geh nur Spieß5 wacker zu Leibe. Die Creutzersche Ansicht von der Mythologie,6 daß sie Gestaltung von Naturgedanken wäre: hält jeder Vernünftige höchstens für halbwahr, und wäre sie ganz wahr, so bewiese sie eben nur das Gegentheil, daß die Griechen die Natur, um sie sich

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Dilthey an seinen Bruder Karl

genießbar zu machen, erst in Menschengestalten verwandeln mußten. – Schreib baldigst zurück. Dein Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck: JD, Nr. 22. 1

Nicht überliefert. Nicht zu ermitteln. 3 In JD.: „mir“. 4 Karl Ritter (1779–1859): Geograph, Begründer der beschreibenden Erdkunde; seit 1820 Prof. in Berlin. 5 Evtl. ist der Romanschriftsteller Christian Heinrich Spieß (1755–1799) gemeint. 6 Friedrich Creuzer (1771–1858): Altertumswissenschaftler; 1804–1845 Prof. für Philologie und alte Geschichte in Heidelberg. Hauptwerk: Symbolik und Mythologie der alten Völker. 4 Bde. Darmstadt 1810–1812, 3. Aufl. Leipzig und Darmstadt 1836–1843. 2

[38] Dilthey an seine Cousine Karoline Koepp Liebstes Linchen!

(Berlin, Mitte Juni 1857)

Euer Leid hat mich tief erschüttert.1 Es ist ein unsäglicher Schmerz, ein Kind zu verlieren, ehe noch, was Gott in es gelegt, nur langsam begonnen hat sich zu entwickeln. Und wer mag ihn der Mutter nachfühlen? Es ist jeder wahre Verlust unersetzlich und darum nimmt auch die Zeit keinen wahren Schmerz, ob sie ihn gleich lindert und hinter den Sorgen des Lebens verbirgt. Als ich es hörte und die erste Bewegung des Mitgefühls vorüber war, dachte ich an die Tage zurück, in denen ich es zuletzt sah, in Deinen Armen oder in der kleinen Wiege, wenn Du Dich lächelnd über es beugtest. Wie friedlich und glücklich ist es die wenigen Tage gewesen, von Euern Sorgen umgeben, in Deinem mütterlichen Lächeln Liebe fühlend. Ich will nicht sagen, daß es nun so allem kommenden Leid und Kampf des Lebens, das wahrhaftig wenig schmerzlose Tage hat, entnommen sei. Wie wir uns auch seine Zukunft denken mögen, sicher würde Gott ihm den Kampf des Lebens nicht ersparen, denn das Gemüth bedarf ihn, damit es stark werde. Nicht einmal schützend sollst Du es mit mütterlichem Auge begleiten in diesem. Doch auch so ist es nicht allein. Es ist in der Hand Gottes, der Millionen Starke wie Schwache in seiner Hand trägt. Und wenn, was unsres Herzens natürlicher Wunsch, Gottes hohen Gedanken gefällt, so lebt es jetzt unter dem milden Schutze Deiner verklärten Schwester. Ach und wie wenig können wir auch hier die, die wir

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Dilthey an seine Cousine Karoline Koepp

am meisten lieben, für die wir gern alles litten, vor dem rauhen Schicksal und dem bösen Willen der Menschen beschützen. .|.|. Ich selbst geh jetzt den Ferien entgegen. Wo ich sie verbringen werde, weiß ich noch nicht; jedenfalls an einem Orte, wo ich mit meinen Freunden arbeiten kann, denn mein Amt bringt mehr Störungen als ich erwartet hatte und als meine Arbeiten vertragen können. Nun lebe wohl, liebstes Linchen, ich schreibe diese paar Zeilen unter ewiger Störung, da ich heute Ephorat2 habe und schließe lieber, als daß ich morgen fortfahre. Behaltet mich alle lieb und denkt zuweilen an Euren Wilhelm. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 23. – Ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o. 1 2

Das erste Kind von D.s Cousine war gestorben. Aufsicht.

[39] Dilthey an seine Schwester Marie Liebstes Mariechen

(Berlin, Anfang Juli 1857)

Es ist mir sehr leid, daß Ihr meinetwegen in irgendwelche Besorgniß gekommen seid. Ich schrieb nur, daß es für mich dringendes Bedürfnis sei, die Ferien in guter freier Luft zuzubringen. Die Aufeinanderfolge von Examen, acht Tage drauf die Stelle am französischen Gymnasium, jetzt die hier,1 die, bis man eingewohnt ist, viel mehr Arbeit macht als ich gedacht hatte, dazu meine eigenen Arbeiten, die ich um keinen Preis liegen lassen will, haben mich marode gemacht. Ein paar Wochen Ruhe und Leben in der freien Luft, so kann dieselbe Sache wieder von vorn angehn, da ich Gott sei Dank bis jetzt eine eiserne Gesundheit habe. Eben da ich schreibe, ists in meinem Zimmer schon ganz leer. Dein Brief 2 wurde mir gebracht als wir Abschiedsfeierlichkeit hatten. Alumnus kommt auf Alumnus während ich schreibe, um mir Adieu zu sagen. Um 6 Uhr gehen Wehrenpfennig und ich nach Rügen. .|.|.

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Dilthey an seine Schwester Marie

Leb herzlich wohl, liebste Schwester und behalt mich lieb, wie ich Dich von Herzen lieb habe. Dein Wilhelm. Mittwoch 4 Uhr Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 24. 1 Nach seiner staatlichen Schulamtsprüfung in Berlin war D. zunächst als Hilfslehrer am königl. franz. Gymnasium Berlin tätig und anschließend als Lehrer und Adjunkt am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin. 2 Nicht überliefert.

[40] Dilthey an seine Schwester Marie Liebstes Mariechen

(Putbus auf Rügen)

Du bekommst etwas später einen ausführlichen Brief, als ich erwartet hatte. Aber wir haben uns erst jetzt hier so recht eingelebt. Du hast wohl schon von den Eltern gehört oder von Biebrich, daß ich mit Wehrenpfennig auf Rügen, der wunderlieblichen kleinen Insel auf der Ostsee, wohne. Nahe am Meer liegt das kleine Seebad Putbus, rings von Wäldern umgeben, von da führt ein halbstündiger Weg zu einem reizenden Hause, das mitten in Anlagen und Wald liegt, dem sogenannten Badehause, sechs Schritte davon die See – da wohnen wir. Wir hätten es für unsere Bedürfnisse nicht schöner treffen können. Die Natur ist wunderschön, Du darfst Dir da zwar keine mächtigen Wellen denken, keine Ebbe und Fluth, nur selten bei sehr günstigem Winde sieht man die Wogen kommen und gehn und hört etwas von ihrem eigentümlichen Tönen. Aber der Wechsel der Beleuchtung, das tiefe Blau, besonders aber die wundervolle Verklärung im Mondlicht, wenn Meer und Himmel in zauberhaftem Helldunkel ineinander sich verlieren, eine schöne kleine Insel, der Vilm,1 in der Nähe und der rings umgebende Wald – das alles macht die Landschaft immer neu. Dazu sind wir in unsren Arbeiten ganz ungestört. Denn der Ort ist nur dem Namen nach noch ein Badeort; da die Ärzte jetzt überall nach Orten schicken, wo ein starker Wellenschlag ist, haben sich in den letzten Jahren hier so etwa hundert Badegäste zusammengefunden, jetzt aber sind nur etwa die Hälfte davon da, und höchstens morgends von 8–10, wenn sie zum Baden gehen, denn dicht bei uns sind die Ba-

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destellen, sehen wir den einen oder andren. So könne[n] wir die schönen Sitze am Meer, die beim Hause in den Anlagen sind, ganz ungestört benutzen; wenn aber Wind ist, sitzen wir an schönen Stellen im Walde, die vor dem Zug von der See her geschützt sind. So sind wir denn jetzt von halbsieben bis halbzehn oder zehn täglich draußen. Nur zwei drei rauhe Tage hatten wir, an denen das nicht möglich war. – Nun sollst Du auch unsere Lebensordnung hören. Morgends stehn wir um 6 Uhr auf, und sobald wir angezogen sind, gehn wir herunter, im Freien Kafé zu trinken. Nachdem wir das gemeinsam gethan, zieht sich jeder an seinen Tisch zurück und dann wird bis ein Uhr gearbeitet. Nur, wenn wir dazwischen unser Butterbrod essen, plaudern wir etwas und gehn ein Viertelstündchen in den Anlagen umher. Dann essen wir mit großem Appetit und meist sehr gut und feiern bis drei, halbvier Uhr. Da gehn wir entweder nach dem benachbarten Orte, um zu kegeln, oder wir werfen hier mit Kugeln, jetzt werden wir wohl meist ein Stück ins Meer hineinrudern, da diese Bewegung uns am besten behagt. Dann fangen die Arbeitsstunden wieder an, wobei langsam der Kafé getrunken wird. Bis acht Uhr nemlich wird gearbeitet, dann gehn wir zum Baden; ein viertel nach acht bis halb neun sind wir damit schon fertig und essen dann im Freien zu Abend. Dann gehn wir spatzieren, schwatzen und lesen bis halbelf etwa, wo wir zu Bette gehn; nur selten, wenn wir extra dazu aufgelegt sind, arbeiten wir noch ein wenig oben im Zimmer. Sonst arbeiten wir immer im Freien. Das Baden und das Leben im Freien ist mir schon trefflich bekommen. .|.|. Meine starke Natur erholt sich von jeder Anstrengung äußerst leicht, wenn ich nur freie Luft und Leben in wissenschaftlichen Gedanken ohne die ewigen kleinen Aufregungen, die das Schulleben unausbleiblich jedem macht, haben kann. Und ich kann ja in diesen Wochen zum erstenmal eigentlich meinen eigenen Arbeiten ohne Examenszwecke und drgl. nachgehn. Damit auch darin Deine Gedanken mich finden – denn in dem nächsten Jahr noch oder den zwei nächsten wird das meine wissenschaftliche Beschäftigung sein –, will ich Dir mit einem Wort sagen, was ich treibe. Auf der Grenze zwischen der griechischrömischen Welt und der mittelalterlich-christlichen entstanden Systeme, Darstellungen des Zusammenhangs der Welt, die dasselbe versuchen, was auch noch unsre Aufgabe ist, das römisch griechische Leben und Denken zu verbinden und vermitteln mit dem christlichen. Zunächst mit einem dieser philosophischen Systeme, die bis jetzt zwar unzählige Male dargestellt worden sind, aber fast noch gar nicht mit philosophischem Geiste, beschäftige ich mich nun, habe schon sehr vieles dafür gelesen und denke hier schon ein Bruchstück zu schreiben, woraus ich dann wohl auch eine Doktorarbeit mache. Da hast Du nun eine Schilderung meines Lebens, bei der freilich, wie oft meine Gedanken zu Dir und zu den liebsten Eltern von der Arbeit sich weg-

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stehlen, nicht miterzählt ist. Nun wünschte ich daß Du mir auch von Deinem Leben, innerem, wie äußerem so berichtetest; wir sind uns fremder geblieben als es für Geschwister hätte sein sollen, und so lieb wir uns hatten, so kannten wir uns doch gegenseitig nicht genug. So kam es daß ich Manches anders genommen und angefaßt hatte, als ich gesollt hätte. Nun ist mir’s herzlich leid. Indeß wir wollen nun auch uns nie mehr fremd werden. Schreibe Du mir nur öfter; kann ich auch einmal nicht gleich antworten, so nimm das nicht so genau. Ich habe zwölf bis vierzehn Stunden täglich in Berlin zu arbeiten, wenn ich nicht in der Schulmeisterei zu Grunde gehen will; was ich um keinen Preis thun werde, wenn Gott mir Gesundheit erhält. Wenn ich dächte, daß ich einem alten, abgeärgerten, pedantischen Schulmeister je ähnlich würde, so gäbe ich lieber heute die ganze Geschichte auf. Höchstens vier Jahre darf ich drin bleiben; dann muß meine Existenz an einer Universität gesichert sein. Denk also manchmal, wie wenig ich alles, oft auch nur Kleines, kann wie ich will, wenn ich nicht das Beste in mir aufgeben will, von dem ich wohl fühle, daß etwas was das Leben verlohnt draus werden kann. – Das wird auch, hoff ich, was dazu beitragen, daß die Eltern wieder zu rechter Lebensfreude kommen. .|.|. Behalt mich lieb und schreib recht bald Deinem treuen Bruder Wilhelm Sonntag Abends den 13. Juli (1857) Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 25. 1

Insel im Rügenschen Bodden, nahe bei Putbus.

[41] Dilthey an seine Eltern (Berlin Herbstferien 1857) .|.|. Wenn ich also nicht viel mehr Muße zur Arbeit gewinne als ich jetzt habe, bin ich sehr geneigt, entweder auf das Schreiben zu verzichten und zugleich hier an der Universität zu lesen oder viel lieber, zu irgend einer anderen Carriere überzugehn, die mir gestattet an einer Universität zu lesen, sei es die Redaktion einer theologischen Zeitschrift oder eine Stelle an einer Bibliothek oder was sonst sich darbietet. .|.|. Sicher ist nur in all dieser Unsicherheit, daß

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Dilthey an seine Eltern

ich nicht die Sachen werde gehn lassen, ohne mit äußerster Anstrengung den Versuch gemacht zu haben, ob ich’s nicht ändern kann. .|.|. Adieu Ihr Lieben Euer Wilhelm. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 26.

[42] Dilthey an seine Eltern Liebste Eltern!

(Berlin, Frühjahr 1858)

Euer durch Zärtlichkeit geschärftes Auge hat Euch aus meinem vorigen Brief 1 mancherlei schließen lassen. Als erstes, daß ich mich an den Temperaturgrad meines Fegefeuers immer mehr zu gewöhnen scheine, sodaß ich in diesem zur Glückseligkeit vorbereitenden Mittelzustande allenfalls noch ein Jährchen länger bleiben könne, damit, was allenfalls noch zu „jung“ an mir sei (wobei ich mir zu erinnern erlaube daß die Vierundzwanzig passirt sind) gehörig ausgeschmolzen würde. Dann habt Ihr über den Zustand meines Zimmers Nr. 2 unerfreuliche Gesichte gehabt, die vielleicht doch apokryphisch sein möchten; was daran nicht zu leugnen, habe ich mir ad notam genommen. Weit klarer aber als in die dunkle Leere meines Zimmers habt Ihr in die meines Geldbeutels geschaut. Es läßt sich nicht leugnen, daß er an jener zehrenden Krankheit leidet, die chronisch und mit einer furchtbaren Regelmäßigkeit gegen Ende des Quartals einzutreten pflegt. Das einzige Heilmittel ist die Zeit und der erste April. Wollt Ihr indeß Euch mit diesem Uebel befassen, so ist mir, der ich sympathetisch an seiner Krankheit jedesmal mit laboriere, dies sehr erwünscht. Ihr fragt nach dem Grund des Übels? Da läßt sich halt zumal von einem so ungeschickten Menschen, wie ich bin, kaum Anderes sagen, als daß es halt chronisch ist. Dazu muß auch was in der Luft liegen, denn es grassirt beim ganzen Collegium der Adjunkten. Ohne Figur zu reden, geht es meiner Besoldung wie mancher Confirmationshose in höherem Alter: wenn man sie oben zurecht zieht, fehlt unten ein klein wenig, wenn unten, fehlt oben nicht gar viel. Wenn Du von den 98 Th[alern] 20 S[ilber]gr[oschen] einen vollständigen guten Anzug, ein paar Stiefel mit Galoschen, für 8–10 r. Bücher, ein Geschenk für 4 r. zum Geburtstag der Frau Dr. Lazarus, ca. 2 r. für die Kisten absiehst, so kann die Mutter über das restirende Haushaltsgeld einen Überschlag machen, Ihr werdet finden, daß 5 höchstens 6 Thaler noch etwa übrig sein können (71/2 S[ilber]gr[oschen] Mittagstisch, Wäsche monatlich ca. 3 r.). Hätte ich nur die erschriebenen Gelder2 in Händen, so wäre noch zu bestehen, so aber geht es halt nicht. Meine

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jüngeren Collegen helfen sich durch Extrastunden; arbeiten aber auch dann daneben blutwenig. Einiges hätte ich allerdings sparen können, so ein paar Thaler für Concert und Theater, darunter anderthalb für einen guten Platz, die Biardot Garcia3 zu hören, doch aber möchte ich’s nicht gespart haben. Dann kann man sich allerhand Gustav Adolph’s-, Wohltätigkeits- usw. Zwekken nicht entziehen, wird auch gelegentlich für gemeinsame Zwecke wie jetzt eben der Druck einer lateinischen Festode geprellt; sogar Steuer muß ich von meiner Wohnung bezahlen – kurz wenn ich noch lange darüber nachsinne, wundere ich mich selbst wie ich gereicht habe. – Wollt Ihr mir also etwa 20 Thaler schicken, so wird mir das sehr erwünscht sein. Sonst geht mir’s gut und ich bin recht fleißig, wovon Ihr hoffentlich bald wieder einige Abfälle sehen sollt. Es wird hier an einem großen Blatt der Alliance geplant und man hat Wehrenpfennig die Redaktion mit 600 r. fix und Bezahlung dessen was er schreibt angeboten. Er ist um einen einjährigen Urlaub eingekommen, weil er bei möglichen Conflikten mit dem Comité sich den Rücken decken möchte, wird indes wahrscheinlich zusagen. – Ob Berlin oder Halle?4 geht mir sehr im Kopf herum. Mit dem Gedanken, über Herbst hier zu bleiben, kann ich mich garnicht mehr befreunden, denn jeden frohen Tag, den ich habe, danke ich nur dieser Perspektive der Freiheit. Was ist denn ein in unbefriedigender Halbheit verzetteltes Leben werth, daß man diese Aussicht nicht dransetzen dürfte, um, wozu man sich gemacht fühlt, zu erreichen? Was hättet Ihr denn davon, wenn Ihr hörtet, ich hätte mich mit einem gutartigen Mädchen aus gutem Hause verlobt und setze alles in Bewegung, eine Oberlehrerstelle in der Provinz zu bekommen; denn hier als Schulmeister vor den Fünfunddreißig zu heirathen, gehört zu den herkulischen Arbeiten. Dazu gehört, täglich drei Privatstunden etwa zu geben. Und dieser Verlauf wäre doch wahrhaftig der einzig mögliche – schon aus Langeweile –, wenn ich noch lange in meiner Situation bliebe. Ich bin überzeugt daß dieser neue Gesichtspunkt auf Euch seine Wirkung nicht verfehlen wird. So spaßhaft er lautet, so ist’s doch ernst genug gemeint. Aber, Berlin oder Halle? Wenn ich recht berichtet bin, kann ich in Halle mit 400–450 r. gut leben, hier nicht mit 600. Wenn ich nun auch im ersten Jahr nur Unbedeutendes verdiene, so hoffe ich doch, in den folgenden im schlimmsten Falle mit 200 r. Zuschuß auszukommen in Halle. Hier würde das nicht gehen. Das ist ein Hauptgesichtspunkt. Häßlich ist aber der Ort durchaus nicht, zumal wenn ich in Giebichenstein5 wohnen würde. In Bonn sind zu wenig theologische Studenten. Indeß das läßt sich wohl alles noch vielfach überlegen. Nicht das geringste Moment ist auch dabei, wie sich hier oben die Verhältnisse gestalten.

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Sind einzelne Dicta des Prinzen von Preußen,6 wie sie hier herumgetragen werden, wahr, so ändert sich hier im geistlichen und Unterrichtswesen vieles, wenn auch nicht auf einmal. Vielleicht daher, daß sich die Verhältnisse hier an der Universität sehr günstig für mich gestalten. Auch kommt es darauf an, wer als Kirchenhistoriker hierher kommt. Lazarus ist dauernd unwohl; seiner Brust ist nicht zu trauen; Jonas ist sehr gemüthlich und liebenswürdig in mancherlei Sorge für mich. Dabei fühlt man nun doppelt, wie sehr man die Nähe der Eltern entbehrt. Von Karls Examen7 erwarte ich alle Tage Nachricht. Lebt wohl Ihr Liebsten und laßt mich bald hören, wie’s bei Euch steht. – N.B. Noch einmal und zum letzten Mal bitte ich um die Geburtstage; ich bin an Allem was in dieser Beziehung zu Euerm Schrecken ausbleiben kann, schuldlos, wenn Ihr mir nicht den Gefallen thut. Man möchte doch auch nicht gern wie ein Wilder über die Tage weggehn, wie über alles andre. Adieu. Herzliche Grüße an alle droben und drunten Sonnabend nach Tische.

von Eurem Wilhelm

Original: nicht überliefert; Erstdruck: JD, Nr. 27. 1

Nicht überliefert. Honorar für Artikel in: Herzogs’ Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche. Bd. 8. Stuttgart und Hamburg 1857: Lapsi, S. 200–335; Llorente, S. 443–454; Lütkemann, S. 536–538. 3 Pauline Biardot-Garcia: Sängerin. 4 Gemeint ist die Frage, an welcher der beiden Universitäten D. promovieren wollte. 5 Dorf, unmittelbar nördlich von Halle. 6 Wilhelm Friedrich Ludwig von Preußen (1797–1888): 1840–1861 Prinz von Preußen, 1861 König von Preußen und 1871 Deutscher Kaiser, Wilhelm I. 7 Wahrscheinlich ist Karl D.s Abitursprüfung gemeint. 2

[43] Dilthey an seinen Vater [Frühsommer 1858] Liebster Vater! Es ist Sonntagabend und mich hält schon seit 3 Tagen eine lästige Erkältung im Hause. So will ich denn beim Abendthé, nach allerhand Besuch, noch ein halbes Stündchen mit Euch plaudern, wie vor kaum drei Wochen

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in Tagen, an die ich, bei manchem Schmerzlichen, doch gar gern zurückdenke. Ich schicke einen Brief von Lilly,1 da er mir gar viel Freude gemacht hat. Soweit Menschen denken können, hat sie durch lange und ordentliche Überlegung das Rechte getroffen. .|.|. Sicher aber werden ihr einmal so manche aus meinem und Karls Kreis begegnen, die inneres Glück über alles achten, daß ihr wahres Glück dann in ihrem Werth und Wesen liegen wird. Ich habe da meine innersten Träume, die sie betreffen, hingeschrieben, als ob ich mit mir selber redete. Du wirst es gewiß nicht für voreilig und abentheuerlich halten, daß dergleichen mir wohl durch den Sinn geht. Mädchen werden ja von Anfang an für dies Ziel erzogen. Für uns Männer kann in manchen Lagen so viel Befriedigendes für den Trieb geistigen Lebens und thätigen Eingreifens in die Welt liegen, daß das Glück der Ehe nur ein hinzukommendes, obwohl das schönste Glück ist. Ich wenigstens werde sicher unverheirathet glücklicher sein, wenn nicht bis zu einem gewissen Grade mein geistiges Leben von meiner Frau getheilt wird. So wunderbar mich jedes theilweise Verstehen in dieser Art beseligt: so grenzenlos ist meine Furcht vor den Störungen eines anspruchsvollen und doch bald ausgeschöpften Verhältnisses, wie ich sie zu Dutzenden um mich sehe. Ich bewundere dann die Geduld der Leute gegenseitig und zähle mit Schrecken nach, wie oft sie Jahre lang den aufbrausenden Unmuth unterdrückt haben mögen, bis sie die ruhigen Grenzen zogen, durch die sie sich gegenseitig abschließen. – Sollte es aber Gott einmal mit mir gut meinen, so kann es auch, glaube ich, etwas Exemplarisches von gegenseitigem Glück geben. Sonderbar daß ich hierüber schreibe, da ich doch wahrhaftig keine Zeit habe und am wenigsten mir welche nehme, an dergleichen zu denken; die Gemüthlichkeit des Thé’s und des Sonntagabends, die über mich Einsamen kommt, muß es machen, und in der Abgeschlossenheit einer dreitägigen Einsiedelei besuchen einen ja wohl allerhand Gedanken, für die sonst im Drang des Tages kein Platz ist. .|.|. Original: nicht überliefert, Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 29. 1

Nicht überliefert.

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Dilthey an seine Eltern

[44] Dilthey an seine Eltern Liebste Eltern;

(Berlin, Herbst 1858)

Ich bin jetzt völlig und recht ordentlich eingerichtet. Es thut einem aber auch sehr wohl, seine Behaglichkeit zu haben. .|.|. Abends war ich zweimal bei Lazarus, einmal mit den Freunden zusammen, um ein Kränzchen, das alle vierzehn Tage sich versammelt, zusammenzubringen. Wir haben beschlossen, Aristophanes zu lesen. Gar herzlich habe ich mich gefreut, zu sehen wie die lieben Menschen sich meines Wiederhierseins erfreuten. Es ist doch etwas Schönes – dies Gefühl der Zusammengehörigkeit mit guten und tüchtigen Menschen. Denn es ist ein Kreis von Menschen, der sich allerdings sehen lassen kann. Ich freue mich ordentlich darauf, wenn Du einmal herkommst, wieviel Geist und Tüchtigkeit Du in unserm Kreise finden wirst. Lazarus ist verhältnismäßig recht wohl. Von Anfang des nächsten Jahres wird er mit Steinthal1 zusammen eine Zeitschrift herausgeben: Völkerpsychologie und Sprachphilosophie, und er ist sehr angeregt von vielen neuen Ideen, die sich mit meiner eigenthümlichen Art, die historischen Dinge zu betrachten, sehr nahe berühren. Er theilt mit mir die Überzeugung, daß die Bewegungen der Geschichte von Gesetzen beherrscht sind, die erkennbar sind wie die Gesetze der Natur. So ist, so oft wir allein sind, das lebendigste Gespräch sogleich da. .|.|. Eine sonderbare Empfindung ist mir doch, nun so auf einmal den ganzen Tag für mich zu haben, während ich mir die letzten 2 Jahre die Stunden für meine Studien stehlen mußte.2 Bis heute ist mir’s noch, wenn ich aufwache, wie ein Traum. Aber wie ein sehr schöner! Aber wenn ich dann an der Arbeit bin, so finde ich daß der Tag eben doch nur 10, 12 Arbeitsstunden hat und die vergehen schneller als ich wünsche. Freitag 7 Uhr. Gleich heut früh will ich den Brief zu Ende bringen. Ich bin jetzt recht tüchtig in der Arbeit drin. Gestern und vorgestern Abends ist mir’s begegnet, daß ich noch einmal aufgestanden bin, um eine Bemerkung die ich im Bett gemacht hatte aufzuschreiben – das ist dann immer ein Beweis bei mir, daß ich in meinen Sachen lebe. Heut ist hier Wahltag. Schon gestern war’s sehr lebhaft auf den Straßen, der Vorwahlen der Wahlmänner wegen. .|.|. Auch Wehrenpfennig ist als

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Dilthey an seine Eltern

Wahlmann in seinem Viertel vorgeschlagen. Ob ers nun heute wird, darauf bin ich begierig. .|.|. Lebt wohl. Die herzlichsten Grüße an Alle Euer Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 30. 1 H. Steinthal gab 1859–1890 zusammen mit seinem Schwager M. Lazarus die Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft heraus. 2 D. war Ende September 1858 aus dem Schuldienst ausgeschieden.

[45] Dilthey an seinen Bruder Karl Liebster Karl!

(Berlin, Anfang Nov[ember] 1858)

Obgleich ich heute mit heftigem Kopfweh geplagt bin – überhaupt bin ich erkältet und schlecht aufgelegt zurückgekommen1 – so will ich Dir doch in kurtzem schreiben, wie ich alles zu Hause verlassen habe. Denn Du erwartest dies wohl mit Ungeduld. .|.|. Die Leute hier, mit denen ich lebe, sind doch überaus prächtig. Es thut mir wirklich jetzt leid, dich nicht mithergebracht zu haben; du hättest die beste Gesellschaft. Eben jetzt haben wir ein Aristophaneskränzchen constituirt: Hoffmann, Weingarten, Usener,2 Dondorf,3 Nitzsch. Von Lazarus werde ich sehr viel haben. Er ist auf einem meinen Gedanken sehr verwandten Weg mit einer Wissenschaft, die er Völkerpsychologie nennt, und ich streite mich sehr heftig mit ihm darüber herum. Mit dem neuen Jahr will er nebst Steinthal eine Zeitschrift „Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft“ herausgeben. Ich bin sehr begierig was daraus wird. Vielleicht verleide ich ihm noch den vertrakten Begriff „Völkerpsychologie“. Wenigstens soweit habe ich ihn gebracht, daß er an Richtigkeit von Namen und Begrenzung dieser Untersuchungen zweifelt. Indeß für mich selbst suspendire ich jetzt alle Beschäftigung mit der Psychologie, die eine oder andre verlorene halbe Stunde abgerechnet; ich bin schon wieder recht ordentlich hinter den Kirchenvätern. Wenn die Leute nur nicht so formlos wären und vor allem nicht so entsetzlich breit; es ermüdet so sehr, so Vieles, was doch durch die Form gar keinen Genuß gewährt, zu lesen,

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Dilthey an seinen Bruder Karl

bis man auf einen historisch werthvollen Gedanken stößt. Man muß sich dann immer wegen der Langeweile im Einzelnen mit dem unendlichen Interesse des Ganzen trösten. Eben ist wieder eine neue Darstellung der Geschichte der christlichen Philosophie von Ritter4 erschienen. Ich bin sehr begierig, sie zu lesen; vielleicht daß ich sie recensire. .|.|. Also schreib bald, Du liebster von allen meinen Freunden; ich verlange sehr danach von Dir zu hören. Adieu Dein Wilhelm Sonnabend früh. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 31. 1 Rückkehr von der Beerdigung seiner Tante, Caroline Rückert, am 26. 10. 1858 in Biebrich (vgl. JD, S. 307, Anm. 31). 2 Hermann Usener (1834–1905): klass. Philologe; 1858 Lehrer am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin, 1861 a. o. Prof. in Bern, 1863 o. Prof. in Greifswald, 1866 in Bonn; Freund und späterer Schwager D.s. 3 Hellmuth Dondorff (1833–1896): Historiker und Philologe; Lehrer. 4 Heinrich Ritter (1791–1869): Philosophiehistoriker; 1824 a. o. Prof in Berlin, 1833 o. Prof. in Kiel, 1837–1869 in Göttingen. – Die christliche Philosophie nach ihrem Begriff, ihren äußeren Verhältnissen und in ihrer Geschichte bis auf die neuesten Zeiten. 2 Bde. Göttingen 1858–1859.

[46] Dilthey an seine Eltern (Dienstag, d[en] 27. Nov[ember] Berlin 1858) Liebste Eltern! Ihr habt wohl schon längere Tage einen Brief von mir erwartet. .|.|. Bin ich doch auch wieder ein Jahr älter geworden. Es ist doch eine eigne Empfindung, die ich an dem Tage hatte. Die Hälfte des Lebens in ein paar Jahren durchlaufen zu haben und nichts als Anfänge, Anfänge! Für mich selber wäre das schon gut genug; ich bin im Streben glücklich, zweifle auch kaum, daß ich, wenn Gott mir Kraft läßt, von den Zielen meines Lebens soviel erreiche, als man besonnener Weise erwarten kann. Wenn mich nur nicht das heimliche Gefühl manchmal überfiele, wie es Euer jetziges Leben verschönen könnte, wenn Ihr mich recht bald in der Stellung sähet, die ich mir wünsche. Denn für die Kinder schlagen ja nun einmal die Eltern auch das äußere Glück nicht gering an. Das innere ist mir Gott sei Dank in seltenem Maße zu Theil geworden.

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Dilthey an seine Eltern

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Karl hat sich ja nun entschlossen.1 Er hat mir einen prächtigen Brief darüber geschrieben2 und es ist klar, daß sein Entschluß aus der Tiefe seiner Eigenthümlichkeit kommt. Mir erwächst draus ein Gewinn; denn unsre wissenschaftlichen Beschäftigungen werden sich nun nicht selten berühren, was in dem andern Falle kaum geschehen wäre. Die Wahlbewegungen sind nun hier zu Ende. Es war doch sehr interessant, die Aufregungen, die ausschweifenden Hoffnungen, die entgegengesetzten Gerüchte zu verfolgen. Wehrenpfennig war Wahlmann im 1. Bezirk (d. h. in den Ausschuß, der die Abgeordneten wählt, gewählt) und so bekam ich über alle Vorgänge da Nachricht. Er hat auch eine Specialversammlung zusammengebracht, die die Wahl von Jonas ermöglichte. Jonas ist sehr heiter; vorgestern lud er Wehrenpf[ennig] und mich nebst Sydow ein; sein Landesvertreterberuf scheint ihm sehr viel zu schaffen zu machen. .|.|. Es ist die allgemeine Meinung, daß Prinz Karl3 das schlimme Element beim Prinzregenten4 sei. Ihm wird auch der Flottwellsche Erlaß zugeschrieben, den Flottwell5 selber nur sehr gegen seinen Willen verfaßt hat. Man erzählt daß er noch des Abends spät, in jenen Tagen, als ultraliberale Wahlen zu befürchten waren, aus dem Hotel des Prinzen gekommen und seinem Sekretär in fliegender Eile den Erlaß diktirt habe. In einer der Versammlungen des 1. Wahlkreises war der Prinzregent allein mit seinem Sohn selbst gegenwärtig: sie war im Opernsaale, und dort saß er hinter einem Vorhang in der königlichen Loge, um sich persönlich von der Stimmung und Weise der Versammlung zu überzeugen. Die Entlassung des Geh[eimen] Raths Bindewald, der im Ministerium der geistlichen Angelegenheiten eine Hauptrolle gespielt hatte, hat in theologischen Kreisen gute Hoffnungen erregt. Er soll nicht haben gehen wollen, bis Bethmann-Hollweg6 ihm rundweg erklärte, es sei gegen sein Gewissen, mit ihm zusammen zu arbeiten. Mühler7 freilich, ein persönlicher Freund Hollwegs ist auch Kirchentagsmann. Auch Joh[annes] Schulze8 wird aus dem Ministerium ausscheiden. Er sprach bei Hollweg pro forma von seiner Entlassung; der nahm sie aber ohne weiteres zum großen Schrecken des guten Mannes, der sehr freisinnig, aber freilich sehr alt und biegsam ist, wohlwollend an. Man hat nun wohl von Trendelenburg gesagt, daß er an dessen Stelle die Leitung der Universitäten übernehmen würde, aber bis jetzt bestätigt sich das nicht. .|.|. In kirchlichen Dingen wird für die Universitäten sicher doch dies erreicht werden, daß die Wissenschaftlichkeit sehr wesentlich mit in Frage kommt bei Stellenbesetzung, wenn auch nicht vollkommen überwiegend; bei bedeutenden Leistungen wird man wohl geneigt sein, in Bezug auf die religiöse Partheistellung Verhaßtes nachzusehen. Der Prinz für sich würde noch weiter gehen.

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Wie mirs nun geht? ich lebe sehr behaglich; daß Wehrenpfennig mir grade gegenüber wohnt sodaß ich in seine Fenster sehen kann und in seine Stube, giebt eine gewisse Gemüthlichkeit. Nur daß ich wegen seines übermäßigen Strebens nach Präponderanz im Kleinen nicht selten verdrießlich werde. So offen sich auch Frau Dr. Lazarus hierüber bei mir ausspricht, so empört es mich doch zu sehen, daß ihre tiefe Einsicht ihm gegenüber gar nichts hilft. Müller,9 ein sehr gescheiter und sonst kräftiger Mensch ist nun ganz und gar von ihm abhängig. Diese Störung des geselligen Gleichgewichts bringt mich daher manchmal mehr wohl, als billig, auf. Ich denke aber, daß unser Verhältnis nun wohl im klaren ist. Im Großen und im Grunde der Seele respektirt ja jeder den andern in seinem Streben; warum soll es nicht auch im Kleinen geschehen können? .|.|. Ich werde also sehr wenig Geld im Winter gebrauchen, da ich mir auch ab und zu etwas verdiene. In diesen Tagen schicke ich an Glaser einen Artikel „Satan in der christlichen Poesie“,10 der hoffentlich auch den über Schleiermacher11 flott machen wird; auch einige Kleinigkeiten bekommt er. Auch die Aufforderung der „neuen evangelischen Kirchenzeitung“ (das Allianceblatt Wehrenpfennigschen Angedenkens) zur Mitarbeit (16 r. pro Bog[en]) habe ich angenommen, werde freilich nur die eine oder andre Recension schreiben um zugleich meinen Bücherschatz zu vermehren. .|.|. Ich sitze jetzt tüchtig in den Neuplatonikern; der Stoff ist gar zu immens. Freilich, wenn ich auf das, was die Theologen (Baur ausgenommen) geleistet haben, sehe: so wächst mir der Muth gewaltig. Unser Aristophanes-Kränzchen gefällt den Beteiligten zu gut. Es soll jetzt alle 8 Tage abgehalten werden, was mir denn doch zuviel ist. Ich habe mir ausgehalten, daß nach Weihnachten Platon gelesen wird, den ich ohnehin einmal wieder zur Hand nehmen muß. – An Usener finde ich sehr viel Behagen. .|.|. Zur Geselligkeit verspüre ich jetzt gar keine Lust; ich hoffe in 1, 2 Monaten wird das besser. Jetzt ärgert mich die Zeit. Aber Spatziergänge werden jetzt ganz ordentlich abgehalten. Ich verliere ohnehin Sonntags gar viel Zeit, da man bei Lazarus von 2 Uhr ab, wo gegessen wird, bis den Abend um 11 bleibt. Indeß habe ich mit Wehrenpfennig abgeredet, daß wir das ändern wollen. .|.|. Lebt alle wohl und bleibt gesund. Denkt auch zuweilen in Liebe an Euern Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 32. 1 2

Entschluss zum Studium der klass. Philologie (vgl. JD, S. 307, Anm. 32). Nicht überliefert.

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Dilthey an seine Eltern 3

Prinz Friedrich Karl von Preußen (1828–1885). Der spätere preuß. König Wilhelm I., 1840 „Prinz von Preußen“, seit 1858 Prinzregent. 5 Eduard Heinrich von Flottwell (1786–1865): preuß. Politiker; von Oktober 1858 bis Anfang Juni 1859 Innenminister. 6 Moritz August von Bethmann-Hollweg (1795–1877): Rechtswissenschaftler und Politiker; November 1858 bis Frühjahr 1862 preuß. Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten. 7 Heinrich von Mühler (1813–1874): preuß. Politiker; 1846 Vortragender Rat im Kultusministerium, 1849 Mitglied des Oberkirchenrats, März 1862 bis Januar 1872 Minister für geistliche, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten. 8 Johannes Schulze (1786–1869): 1818 Vortragender Rat im Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten, 1849–1859 Direktor der Unterrichtsabteilung. 9 Friedrich Müller: cand. theol., Lehrer, Studienkollege von Wehrenpfennig und D. (vgl. D.s Brief an seine Schwester Marie von Neujahr 1859, in dem er ihr F. Müller vorstellt.). 10 Erst 1860 erschien dieser Aufsatz unter dem Pseudonym „Wilhelm Hoffner“ in: WM 8, Nr. 45 (Juni), S. 321–329; WA in: W. Dilthey: Die große Phantasiedichtung und andere Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte. Hg. von H. Nohl. Göttingen 1954, S. 109–131. 11 Schleiermacher, in: WM 5 (1859), S. 602–614; WA in: F. Schleiermacher: Pädagogische Schriften. 2 Bde. Unter Mitwirkung von Th. Schulze. Hg. von E. Weniger. 2. Bd. Düsseldorf/ München 1957, S. XI–XXXII, sowie in: GS XV, S. 17–36. 4

[47] Dilthey an seine Eltern (Berlin, Weihnachten 1858) Mit ein paar Zeilen wenigstens, liebste Eltern, möchte ich Euch zum Weihnachtsfest begrüßen. Wie mir’s dabei auf meinem Zimmer ein bissel wehmütig zu Muthe ist, denkt Ihr Euch wohl ohne mein Beschreiben. Karl wird, da das Wetter so mild geworden ist, bei Euch angelangt sein. Wißt Ihr noch, was ich die vorigen Weihnachten auf der Eisenbahn ausgestanden habe? Euer Weihnachtsgeschenk ist das passendste von der Welt, und die Tante Marie und Ihr sollt meinen herzlichsten Dank dafür haben. Ich schwanke noch, ob ich mir nur Bücher oder auch einen Schreibtisch kaufen soll. Weingarten1 nemlich hat sich einen machen lassen, breit, mit Schubladen und Fächern und recht anständig aussehend; für 9 Thaler meint er werde derselbe sein. Wenn der nun wirklich so ausnehmend billig ist, werde ich mir auch so einen machen lassen und für das übrige mir Bücher kaufen. Auf den Lessing verzichte ich vorläufig, da mir so viele andre Bücher so viel nöthiger sind. Weihnachten ist hier eine theure Sache. .|.|. Hier ist nun in politischen Dingen alles sehr still geworden. Man ist gespannt auf die Eröffnung der Kammern am 12. nächsten Monats. Daß eine Parthei sich so völlig ohne Halt und Beistand gezeigt hätte, wie jetzt die neu-

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Dilthey an seine Eltern

preußische bei den Wahlen, die noch vor kurzem das Heft in der Hand hatte, ist unerhört. Trotzdem wäre es schade, wenn nicht doch noch durch den Rücktritt des einen oder andern Gewählten Gerlach2 und Wagener3 in die Kammer kämen. Am meisten scheint man noch in den kirchlichen Verhältnissen zu schwanken, da man hierüber im Ministerium selbst zweierlei Meinung ist. Das haben auch jetzt wieder die Erklärungen der ministeriellen Zeitungen über Diesterwegs4 Wahl bewiesen. Die extremen Ansichten dieses Mannes in religiösen und pädagogischen Dingen vertheidigt jetzt in der That kein Vernünftiger mehr: seine Wahl war ein offenbarer Mißgriff: wie mußte man also erstaunt sein, dieselbe als im ministeriellen Sinn geschehen bezeichnet zu finden? Der Privatdocent Allihn5 von Halle war vor ein paar Tagen hier und ich sah ihn bei Lazarus! eine wunderliche Curiosität von einem Mann. Wenn erst einmal die Hegelianer todt sind, wird er nichts mehr zu thun haben. Neuerdings hat er sogar in einer kleinen Schrift für Lehnerdt6 gegen Hengstenberg in letzterem etwas von verkapptem Hegelianismus entdeckt.7 Im Joachimsthal herrscht wieder große Unzufriedenheit unter den Adjunkten, weil der Director sich immer schwächer und unentschiedener zeigt: ich werde von ihnen beglückwünscht und beneidet, daß ich aus dem Treiben heraus bin. .|.|. Das Arbeiten geht recht gut. Der zweite Theil des Mikrokosmos von Lotze8 hat mich freilich sehr abgezogen. Es ist ein prächtiges Buch. An meinen Thé Abends hab ich mich schon so gewöhnt, daß mir das Ausgehn höchst ungemütlich vorkommt. Soviel sehe ich – und das ist mir eine große Beruhigung – daß ich, wenn ich täglich drei Stunden opfre, hier ganz gemüthlich leben könnte. 3 Stunden sind freilich mehr, als das so scheint; es hängt die ganze Zerstreutheit des Stundengebens und Schreibens daran. Aber sehr angenehm ist doch zu wissen, daß man das jeden Augenblick kann. Worüber ich zuerst lesen werde, darüber geht mir mancherlei im Kopf herum. Entweder wohl über Gnosis, Neuplatonismus und alexandrinische Religionsphilosophie oder – was meine Freunde viel besser finden, weil jenes gar so esoterisch ist – über die Geschichte der Mystik und Theosophie. Da muß ich freilich schon jetzt ab und zu Stoff sammeln; denn das Gebiet ist so umfassend und die Quellen so vast,9 es ist da auch so wenig Brauchbares vorgearbeitet, daß es für einen angehenden Privatdocenten fast über die Kräfte geht. Vorläufig kann ich mich auf Stundengeben und Schreiben nicht viel einlassen; es ist gar zu viel, was mir zu lernen noth thut. Mehr als die drei Stunden wöchentlich werde ich daher auch nicht annehmen. Die Leute wohnen mir gegenüber, sodaß das Ganze bequem und ohne Zeitverlust mit Laufen abgeht. .|.|.

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Sehr lieb ist mir, daß ich zu Weihnachten hier einen ordentlichen Prediger habe. Steinmeyer10 nämlich, der früher in Bonn war, ein sehr wenig brauchbarer Professor, aber ein ganz ausgezeichneter Prediger, ist zur großen Freude Vieler wieder hergekommen. Er hat viel Originelles, zuweilen Bizarres in seiner Bibelauslegung; er drängt und dreht jedes Wort; seine Stimme und sein Vortrag sind nur mäßig; aber er ist voll von Gedanken und Schwung, innerlich lebendig, zuweilen wohl überrascht, zuweilen auch von wahrem Feuer; seine Form ist geradezu classisch. Ohne Frage ist er der beste Redner unter den hießigen Predigern, wenn auch Nitzsch der geistvollste und Jonas der kräftigste ist. Die nächsten vierzehn Tage will ich Abends mit Weingarten den Irenäus11 lesen und 2 oder 3 mal Mittags mit Hoffmann Platon, ein oder zwei Gespräche. Es wird mir nemlich in der letzten Zeit doch die Einsamkeit fast zu viel. Nun wünsch ich Euch recht fröhliche Weihnachten. Ihr werdet sie ja hoffentlich alle recht gesund antreten, habt Mariechen, Karl und den kleinen Engel12 bei Euch. .|.|. Lebt wohl. Behaltet lieb Euern Wilhelm Mittwoch abends 6 Uhr. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 33. 1

H. Weingarten lehrte von 1858 bis 1864 am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin. Ernst Ludwig von Gerlach (1795–1877): ultrakonservativer preuß. Politiker; 1849 Mitbegründer der Neuen Preußischen Zeitung, 1849, 1851 und 1852–1858 Mitglied der Ersten Kammer. 3 Hermann Wagener (1815–1889): Jurist und preuß. Politiker; 1848–1854 Mitbegründer und Chefredakteur der Neuen Preußischen Zeitung, 1856 konservativer Abgeordneter für Hinterpommern. 4 Friedrich Adolf Wilhelm Diesterweg (1790–1866): Pädagoge; 1858 von der Stadt Berlin ins preuß. Abgeordnetenhaus gewählt. 5 Friedrich Heinrich Theodor Allihn (1811–1885): Philosoph, Anhänger der Philosophie Herbarts. 6 Johannes Ludwig Carl Daniel Lehnerdt (1803–1866): protest. Theologe und Kirchenpolitiker; 1832 a. o., ab 1834 o. Prof. der praktischen Theologie in Königsberg, 1851 Prof. an der Universität Berlin, seit 1858 Generalsuperintendent und Domprediger in Magdeburg. 7 F.H.Th. Allihn: Zur Beantwortung der Frage: „Wie muß der Pantheismus immer mehr aus der Theologie herausgetrieben werden?“, in: Allgemeine Kirchenzeitung 1856 (vgl. JD, S. 307, Anm. 34). 8 Rudolf Hermann Lotze (1817–1881): Philosoph und Physiologe; 1842 a. o. Prof. für Philosophie in Leipzig, 1844 o. Prof. in Göttingen, 1881 in Berlin. – Mikrokosmus. Ideen zur Na2

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turgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie. 3 Bde. Leipzig 1856–1864. Der 2. Band erschien 1858. 9 Unermesslich. 10 Franz Ludwig Steinmeyer (1812–1900): protest. Theologe, Schleiermacher-Schüler; 1852 o. Prof. in Breslau, 1854 in Bonn, seit 1858 in Berlin. 11 Irenäus (gest. um 200): röm. Kirchenvater. 12 Die kürzlich geborene Tochter von D.s Schwester Marie Lade.

[48] Dilthey an seine Schwester Marie (Berlin Neujahr 1859) Ein fröhlich neues Jahr! liebstes Mariechen. Ich habe ein recht Bedürfniß, grade Dir das zuzurufen. Sieh! aus der Einsamkeit der Berge beim Hermannstein1 hat einmal Göthe an Frau von Stein einen flüchtigen Zettel geschrieben mit den Worten: „Es bleibt doch ewig wahr: sich zu beschränken, einen Gegenstand, wenige Gegenstände, Menschen recht bedürfen, so auch recht lieben, an ihnen hängen, sie auf alle Seiten wenden, mit ihnen vereinigt werden, das macht den Menschen.“2 Härter als den meisten Menschen geschieht, bist Du auf diesen Weg vom Geschick gewiesen,3 aber es ist der Weg, der zum tiefinnersten Glück, zur tiefinnersten Ruhe in sich selber führt. Für liebe Menschen im stillen Kreis des Hauses zu wirken und zu schaffen, sich in seine Welt einspinnen, die einem Gott gegeben hat, die innre Gutheit des Gemüths zu bethätigen: daß einem das möglich ist, darüber mag jeden Morgen und jeden Abend das Herz jubeln; denn neben stiller Einkehr in die Tiefe des eigenen Gemüths ist es die höchste Gabe Gottes. Mich selbst überfällt zuweilen ein eigner Schmerz darüber, daß es mir bisher nicht vergönnt ist, und wohl noch manches Jahr nicht, den Eltern etwas Rechtes und recht dauernd zu sein. Und diesmal kommt noch die Klage dazu über eine gewisse Herbheit meiner Natur, die in Gedanke und Empfindung fest sein will und überscharf wird. Was für ein Mechanismus, was für Vorarbeiten, ehe wir modernen Menschen zum Leben kommen! und gar die, welche bei der Wissenschaft Dienste genommen haben! Das war im Mittelalter anders, wo mit der ersten Hälfte der zwanziger Jahre Gelehrte ihre epochemachenden Gedanken aussprachen, Kaiser die Zügel des Reiches ergriffen. Jetzt gelingt es kaum hier und da einem Menschen vor den Dreißigern eine befriedigende Stellung und Thätigkeit zu erlangen. Die Summe der Studien und des zu überwältigenden Mechanismus ist unmäßig angeschwollen. Freilich haben die, die zum Kern mo-

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derner Kultur durch die bittre Schale hindurch gedrungen sind, reichlichen Ersatz, wie mir scheint. Die unsägliche Freude an dem inneren Bilden und Hegen der Gedanken, die Freude an dem in sich befriedigten Innenleben des Geistes ist doch wesentlich modern und die schönste Frucht des modernen Lebens. Am Neujahrstag .|.|. Aber ich denk ich habe von Weihnachten noch nichts erzählt. Die Frau Doktor hat sich wirklich den Abend in ihrer Liebenswürdigkeit selbst übertroffen. Sie hatte uns allen beschert, mir die neue umgearbeitete Auflage von Mommsen’s römischer Geschichte4 und ein Kästchen mit wunderhübschen in Neusilber gearbeiteten Spielmarken, dazu Äpfel Nüsse und Confekt. Ich hatte ihr ein sehr hübsches Etuis gekauft für Briefschaften mit Tintenfaß. Die Feiertage über waren wir da zu Tisch und sind wirklich immer sehr vergnügt gewesen. Wir haben ein neues religiöses Epos von Paul Heyse: Thekla5 gelesen: eine Märtyrergeschichte, haben aber wieder gesehen, daß Heyse keine religiöse Ader in sich hat. Sonst lesen wir wieder fleißig Shakespeare mit vertheilten Rollen, wovon besonders Müller die Veranlassung ist, der selbst einmal ein ganz gutes historisches Schauspiel gemacht hat. Wir haben freilich darüber zu Gericht gesessen und es zum ewigen Dunkel verdammt, da es besser ist keine Trauerspiele geschrieben zu haben als passable. Er liest vortrefflich vor: so haben wir denn daran eine gute Unterhaltung. Ich weiß übrigens nicht, ob ich Euch schon von Müller geschrieben; er ist ein so origineller Mensch, daß das wohl der Mühe werth ist. Er ist aus einem Dorf im Harz. Von da hat er das Blankenburger Gymnasium6 mit Wehrenpfennig durchgemacht. Da haben sie vielfache Anregung durch Volkmar,7 einen dortigen Gymnasialprofessor erhalten. Ich habe denselben, als ich in Blankenburg war, auch besucht. Ein intelligenter feuriger Mann, ganz von deutschnationalen Ideen erfüllt, dessen Leben durch ein merkwürdiges Schicksal zerrüttet ist. .|.|. Die beiden verließen das Gymnasium, ganz von ihm auf die nationalen Fragen gerichtet. So traf sie das Jahr 1848 in Jena. Wehrenpfennig spielte da eine Rolle als Sprecher der Studentenschaft von Jena in Weimar und bei dem Wartburgfest. Müller faßte zuerst den Plan, mit nach Holstein zu gehen; sie machten sich beide, nachdem sie in Blankenburg sich mit dem Gewehr geübt hatten, dahin auf. Indeß kamen sie, da der unglückselige Friede8 plötzlich zwischeneinfiel, ohne eine Kugel pfeifen gehört zu haben zurück. Nun begann die Zeit ruhigerer Studien, für Müller mancher poetischen Pläne. Sie machten das theologische Examen, gedachten aber beide sich in der Welt weiter umzusehn. Wehrenpfennig hatte damals schon eine Zeitlang in Berlin studiert, hatte da einen Kant studierenden Rabbiner gefunden, der seine stürmische Natur auf ruhige und zusammenhängende Studien leitete, auf Einer

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Stube mit ihm lebte und Kant mit ihm las – Lazarus. Als dann Lazarus die reiche Tochter eines jüdischen Kaufmanns und Rabbiners, der ihn wie seinen Sohn liebte, geheirathet hatte, war Wehr[enpfennig]’s Bleiben in Berlin entschieden, und bald fand sich eine Hauslehrerstelle für ihn. Indeß hatte Müller an einem Hamburger Knabeninstitut ein Unterkommen gefunden. Des Tags gab er eine Anzahl von Stunden, wie es nur einer solchen Harzer Natur möglich war; hatte er dann Abends die Jungen zu Bette gebracht, so war es seine Erholung, sich auf der Elbe einsam hintreiben zu lassen und mit der ganzen Lust eines Bergkinds die Natur und ihre Poesie zu genießen. Seine größte Freude war aber, durch halsbrechende Spiele und Reisetouren die Jungen zu kräftigen. Er ist überhaupt ein vortrefflicher Pädagog, die Jungen hängen überall an ihm, und seine männliche und doch gemüthliche Art, die nur wenn sie auf etwas wie Unwahrheit stößt, in einen wahren Reckenzorn ausbricht, flößt ihnen unbedingtes Vertrauen ein. Von Hamburg kam er dann an die Elberfelder Realschule, die unter Wackernagels9 Leitung steht. Hier wurde er für die, wenn ich so sagen darf christlich germanische Richtung Wackernagels gewonnen; dieser gewann ihn sehr lieb, und nachdem er in seiner Familie einige Zeit gelebt hatte, verlobte er sich mit Wackernagels Tochter. Bald aber zeigten sich die Gegensätze zwischen seiner und Wackernagel’s Art immer schärfer. Der Despotismus des Mannes, der jede Spur von Willen und eigner Ansicht in der Familie niederhielt, versetzte ihn in seinen Reckenzorn; das Verhältniß zu dem Mädchen scheint ohnehin nur durch das zu dem Vater vermittelt gewesen zu sein: es kam zum Bruch. Nun ließ er sich in Elberfeld nicht mehr halten. Wackernagel wollte durchaus daß er bei der Schule bleibe und verweigerte ihm den Weggang. Er ging trotzdem und ließ seine Oberlehrerstelle im Stich. Er hatte nichts. Was er im Institutsleben verdient hatte, war auf einer Reise, die er ehedem bis zum Fuß der Pyrenäen gemacht hatte, zum Theile zu Fuße wandernd, daraufgegangen. Eine Tante im Harz gab ihm so viel, daß er ein Jahr in Berlin den Studien leben konnte. Er hatte, wie gesagt, ein historisches Schauspiel mitgebracht, aber auch mancherlei angefangene Studien zur deutschen Geschichte. Er entschloß sich, seine historischen Studien zunächst weiter zu verfolgen und vertiefte sich in einen mächtigen Stoff – die Geschichte des Constanzer Conciliums.10 Aber der Geldmangel zwang ihn nach einem Jahre wieder eine Stelle anzunehmen. .|.|. Er ist eine wunderliche Erscheinung, groß und überaus kräftig gebaut, in Schritt und Haltung eine Art von Pathos; aber zu seinem nicht geringen Kummer wird seine Taille immer dicker, sein Haar immer dünner. Seine Stimme ist kräftig und voll; aber er überholpert die Worte. Deutsch bis zum Judenhaß, wird er doch immer wieder durch die Liebenswürdigkeit der „Doktorsleute“ stärker an sie gefesselt. Am meisten hängt er an Wehrenpfen-

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nig, dessen überlegende Entschiedenheit für seine gutmüthige Reckennatur gradezu etwas Bezauberndes hat. Soviel für diesmal. .|.|. Lebt wohl und denkt in Liebe an Euren Wilhelm, der Euch und denen drunten allesamt ein fröhlich neues Jahr wünscht. d[en] 2. Jan[uar] Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 34. 1

Burgruine im Kreis Wetzlar, Hessen. Brief Goethes an Charlotte von Stein (1742–1827) vom 22. Juli 1776: „Es bleibt ewig wahr: Sich zu beschränken, Einen Gegenstand, wenige Gegenstände, recht bedürfen, so auch recht lieben, an ihnen hängen, sie auf alle Seiten wenden, mit ihnen vereinigt werden, das macht den Dichter den Künstler – den Menschen.“ (Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. IV. Abtheilung. Goethes Briefe. 3. Bd. Weimar 1888, S. 89). 3 Nach kurzer gescheiterter Ehe (verheiratet seit 1855) kehrte D.s Schwester Marie mit ihrer Tochter ins Elternhaus zurück. 4 Theodor Mommsen (1817–1903): Historiker und Jurist; 1848–1850 Prof. der Rechte in Leipzig, 1858 Prof. des röm. Rechts in Zürich, 1854 in Breslau, 1858 Prof. der alten Geschichte in Berlin; 1902 Nobelpreis für Literatur. – Römische Geschichte, 1. Aufl. 3 Bde. Leipzig 1854–1855; 2. umgearb. Aufl. 2 Bde. Berlin 1856–1857. 5 P. Heyse: Tekla. Ein Gedicht in 9 Gesängen. Stuttgart 1858. 6 Blankenburg im Harz. 7 Gustav Volkmar (1809–1893): protest. Theologe, Gymnasiallehrer; 1858 a. o., 1863 o. Prof. in Zürich. 8 Waffenstillstand im preußisch-dänischen Krieg am 26. August 1848; nach Wiederaufnahme der Kampfhandlungen erneuter Waffenstillstand im Juli 1849; am 2. Juli 1850 Friede von Berlin zwischen Preußen und Dänemark. 9 Philipp Wackernagel (1800–1877): Pädagoge und Literarhistoriker; Bruder des Germanisten und Dichters Wilhelm Wackernagel; Direktor der Gewerbeschule zu Elberfeld. 10 Das Konzil von Konstanz (1414–1418), einberufen vom Gegenpapst Johannes XXIII. 2

[49] Dilthey an seine Schwester Marie Liebste Mahrun!

(Berlin nach Neujahr 1859)

Ob ich gleich von Dir keinen Brief auf meinen Neujahrswunsch bekommen habe – doch ich darf den anderen Leuten nicht vorrechnen, damit mir nicht vorgerechnet werde. Mög Dir Gott in dem neuen Lebensjahr, das Du antrittst, Dein Kind erhalten und die Eltern, und halt’ mir Deinen Kopf hoch und strack: Du hast

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noch zwei Drittel des Lebens vor Dir, bring’ Dich nicht durch Träumen über Vergangenes um den vollen Betrag, den es allewege bietet, bringt man ihm nur kräftigen und gesunden Willen entgegen. .|.|. A propos sag doch dem Vater, er möchte ja den Hutten von Strauß,1 der auf der Landesbibliothek ist, sich kommen lassen: er wird an dem Buch rechte Freude haben. Mit Tempeltey2 und Riedel3 hab ich jetzt auch alle vierzehn Tage eine Zusammenkunft verabredet. Was so ein Poet, wie T[empeltey], Glück hat! Von Österreich und Hannover hat er den Orden für Gelehrtenverdienste bekommen. Der Herzog von Gotha hat ihn neulich zu sich eingeladen. Hier verkehrt er bei Humboldt, beim Prinzen Albrecht4 – ich fürchte nur, es hält nicht. Auch ein andrer meiner Bekannten ist jetzt mit einem Buche mit einem Male – fast kann man sagen ein berühmter Mann geworden, ein Dr. Chrysander, der ein Leben Händel’s geschrieben,5 das alle Welt für „genial“ erklärt. Wie menschlich geht es doch auch in diesen Dingen zu! Wäre es nichts als die Hoffnung, seinem Namen einmal Achtung in der wissenschaftlichen Welt zu verschaffen, was einen triebe: es wäre kaum der Mühe und der Entsagungen werth, diesem Glück nachzujagen. .|.|. Herzliche Grüße an alle, Vater, Mutter, Tante, Lilly und das kleine Eichhörnchen. Lebt wohl und behaltet mich ein bissel lieb. Dein Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 35. 1

David Friedrich Strauß (1808–1874): protest. Theologe, Philosoph und Schriftsteller; Schüler Hegels. – Ulrich von Hutten. Leipzig 1858. 2 Eduard Tempeltey (1832–1919): Theaterdirektor, Schriftsteller und Politiker; studierte in Berlin Philologie und Geschichte. 3 Gemeint ist der Sohn von A.F.J. Riedel. 4 Albrecht von Preußen (1809–1872): jüngstes Kind des Königs Friedrich Wilhelm III. und der Königin Luise. 5 F. Chrysander: G.F. Händel. Band 1. Leipzig 1858.

[50] Dilthey an seine Schwester Marie (Berlin gegen März 1859) Liebe alte gute Mahrun! Du glaubst nicht, wie viel Freude mir Dein Brief gemacht hat.1 Aber ein bißchen verzagt bist Du mir doch immer, wenn Du glaubst, Du würdest nicht alles können, was je in einer ähnlichen Lage eine

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Frau vermocht hat, Wille ist eben Wille, ist frei, und was nicht ein einziger Ruck zu Stande bringt, bringt andauernde Bestrebung sicher fertig. Nicht als ob alles Vergangne völlig abgethan sein solle: so wie Du es nimmst, ist gewiß gegen das Leben in der Vergangenheit nichts zu sagen. Nur das Träumen darüber, hätte man so gehandelt, dann wäre das so gekommen, oder wäre dieser Zwischenfall nicht gewesen, dann wäre es so geworden – das ist es, wovon ich jede Spur in Deinem Inneren verwischt zu sehen wünschte. Was aber das Urtheil der Leute angeht, so kann ich Dir auch darin wiederum nur Recht geben, daß das Urtheil der tüchtigen Menschen der Spiegel ist, in dem unser Inneres sich beschauen, vor dem es sich prüfen soll. Nur das der tüchtigen Menschen, nur nicht, was Hans und Grethe sagt. Und schließlich urtheilen Hans und Grethe doch nicht anders, als wie sie’s von den Tüchtigsten vorgesprochen bekommen. .|.|. Kannst Du mir das kleine Mariechen nicht irgend mit der Post schicken? Das kleine Ding hat mir’s förmlich angethan; ich kann nicht an sie denken, ohne im Augenblick die allerstärkste Sehnsucht danach, sie nur einmal drükken zu können und hätscheln, zu empfinden. Ich will Dir was sagen: ich habe da noch einen Wechsel auf 15 Thaler für einen Artikel Marcion2 da liegen, wenn Ihr nach Friedberg3 geht, nehmt mir den Bündel mit, wenigstens bis Frankfurth und laß mir ihn da photographieren, damit ich ihn in solchen Zeiten wenigstens in effigie4 habe. Aber nimm das nicht für einen augenblicklichen Einfall: es ist mir mit dem Wunsch sehr ernst. .|.|. Ich muß jetzt in den nächsten Tagen die Recension des Schleiermacherschen Buchs machen.5 Ein schlechtes Ding über Schleiermacher6 schick ich Euch auch; mir war wohl in der Erinnerung, daß ich es mitten in den Quengeleien des Joachimsthal’s nur mit Mühe zu Stande gebracht hatte: aber daß es solcher Plunder wäre, wurde mir erst deutlich, als ichs gedruckt vor mir sah. Ich korrigiere daher nächst vielem anderem – denn ich habe mehrere Seiten gestrichen – auch meinen Namen weg. Der, der jetzt da steht, ist aus denen meiner beiden Freunde Usener und Hoffmann eines Spaßes halber komponiert.7 .|.|. Karl werde ich nächstens schreiben. .|.|. Das Briefschreiben ist eine Lumperei; nur das Zusammensein ist etwas. Es ist zwar in meiner Natur noch manche Härte und eine gewisse Leidenschaftlichkeit, die mich in der Ferne zu einem leichter traitablen8 Menschen macht, als in der Nähe. Das muß einigermaßen beherrscht werden. Doch nur beherrscht. Denn ohne ein gewisses leidenschaftliches Wollen dessen, was einem recht oder wünschenswerth scheint, wird man im Leben als Spielball geworfen, anstatt zu werfen. Da fällt mir was ein, was ich dem Vater schreiben wollte, in Erinnerung an die Zeit, wo wir „gemommst“ haben. Ich sitze jetzt in der Bibliothek öfter ne-

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ben Mommsen und es interessiert ihn vielleicht, etwas von diesem unsrem größten Historiker zu hören. Er ist jetzt hier bei der Akademie angestellt, vorläufig mit 2000 Thalern Fixum, wobei er natürlich das Corpus inscriptionum,9 das er herausgiebt, extra bezahlt bekommt. Sehr oft aber ist er unterwegs. Früher hat er einmal drei Jahre in Italien gelebt und ist nachher viele Male dort, in Frankreich, in Ungarn ebenfalls gewesen. Er ist ein mittelgroßer Mann, sehr hager, die Haltung ein wenig schulmeisterlich; aber in dem merklich vorgebeugten Kopfe liegt ein ganz eigener Ausdruck rastloser Energie und scharfer Idealität. Die Linien der Stirn und Nase haben etwas von denen Schillers, der Mund aber ist scharf und römisch zusammengepreßt. Seine wechselnd ein wenig schlaffen und scharf angespannten Gesichtszüge zeugen von vieljähriger ruheloser Arbeit. Langes lockig schwarzes Haar, das immer in großer Unordnung ist, fällt hinten beinahe bis zur Schulter. Merkwürdig ist es, ihn arbeiten zu sehn. Wenn er die Bücher so durchblättert, die die Bibliotheksdiener bringen und holen, merkt man selbst seinen Fingern die Unruhe des Suchens an; selbst seine Füße geraten in eine unmuthige Bewegung wenn er etwas nicht finden kann. Ich schließe, lieb Mariechen .|.|. und behalt lieb Deinen alten Willem Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 36. 1

Nicht überliefert. Marcion, Gnostiker und seine Schule, in: Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche. Bd. 9. Stuttgart und Hamburg 1858, S. 25–39; WA in: GS XV, S. 279–296. 3 Friedberg in der Wetterau, Stadt in Oberhessen. 4 Im Bilde. 5 Nicht nachweisbar. 6 Schleiermacher, in: WM 5 (1859), S. 602–614. 7 D. meint sein häufig verwendetes Pseudonym „Wilhelm Hoffner“. 8 Umgänglich. 9 Th. Mommsen war seit 1858 Prof. für alte Geschichte in Berlin und bis zu seinem Tode Leiter der von ihm begründeten Sammlung Corpus Inscriptionum Latinarum. 2

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[51] Dilthey an seinen Bruder Karl Liebster Karl!

(Berlin, um März 1859)

Eben ist ein Brief der Großmutter angelangt1 – zu Hause scheint es gut zu gehen – der mir meine Schreibfaulheit und Deine Tugenden so zu Gemüte führt, daß ich meinen Philo2 umkippe, um sogleich einen Brief anzufangen, dem ich den besten Fortgang wünsche. Du mußt nur bedenken, daß ich mich in diesem Vierteljahr wirklich mit Briefen sonst sehr angestrengt habe. Ich habe mit Mariechen eine Correspondenz angefangen, habe an Linchen Baur,3 die gar trüb dem jetzt so glücklich Erfolgten entgegensah,4 sehr lange und eingehende Briefe geschrieben5 – kurz das Unglaubliche geleistet. Dich habe ich immer wie einen betrachtet, der mit dem eigenen Leben genug zu thun hat und wenn er von Zeit zu Zeit hört, daß mir’s eben auch in meiner Art gut geht, damit zufrieden ist. Denn mit dem Schreiben über wissenschaftliche Beschäftigung ists eine lumpige Sache, es will mir dergleichen schlecht von der Feder, da es ein gar zu erbärmlicher Ersatz für’s Reden ist. .|.|. Der junge Kießling6 ist jetzt auch hier und in unser Kränzchen und unseren Verkehr eingetreten. Doch will uns an ihm eine gewisse Trivialität und hastiges Wesen schlecht behagen; sonst ist’s ein tüchtiger Mensch. Mit Usener verkehre ich jetzt, außer mit Wehrenpfennig, am meisten; wir machen auch Pläne, vielleicht den Sommer eine litterarische Arbeit zusammen zu unternehmen; vor acht Tagen fragte er mich darum, ob ich Lust dazu hätte, er habe es schon längre Zeit bei sich überlegt: nämlich eine Ausgabe der philosophumena7 mit sachlichen Anmerkungen, da von Duncker8 kaum zu erwarten ist, daß er bald fertig ist, sicher nicht, daß er sich kurz faßt. .|.|. Eben quäle ich mich an Philo judaeus herum; es ist ein schwer Stück Arbeit und es werden wohl 3 Wochen darauf gehn. Ich habe während der Zeit auch einen neuen Aufsatz an Glaser geschickt, der sich hauptsächlich mit Dante und den Volksschauspielen des 15ten Jahrhunderts beschäftigt (Satan in der christlichen Poesie9). Er meint, so Sachen sollte ich schreiben so viel ich wolle und könne; das hat freilich seine Grenze daran, daß er mich nicht in zwei aufeinanderfolgenden Heften mit 3/4 Bogen aufführen kann und eine Unmasse Manuscript hat. Doch hoffe ich, ziemlich viel Geld auf eine leichte Art bei der Zeitschrift zu verdienen, indem ich meiner Erholungslektüre einen bestimmten Plan gebe. So fange ich jetzt an, die deutschen Historiker seit Möser10 zu lesen, und lasse dann in aufeinanderfolgenden Nummern in jeder circa 1/2 Bogen über einen von ihnen erscheinen.11 In diesen Tagen habe ich in meinen Mußestunden die Schleiermacherschen Briefe wieder vor:12 es will

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sich aber nichts von dem, was mir unbestimmt vor der Seele ist, recht fassen lassen. Dazu habe ich die zu Hause beim Vorlesen gemachten Notizen verloren; sie waren auf den Deckel des Buchs geschrieben und sind beim Buchbinder verschwunden. Nun mag ich das Ganze nicht noch einmal lesen und Usener’s Stellensammlung thut mir doch auch nicht die Dienste, die einem eine eigne thut. So muß ich denn geduldig auf Erleuchtung warten. Wenn sich nur nicht meine Beschäftigung mit den 3 ersten Jahrhunderten so unsäglich in die Breite verlöre; der Stoff ist endlos, sodaß ich nicht weiß, wie sich in der Bälde ein Abschluß finden soll. Daß ich in der Betrachtung dieser halb religiösen halb poetischen halb philosophischen Systeme recht in meinem Element mich fühle, ist doch kein voller Trost, da ich zwischen dem Wunsch, nicht eher abzulassen, bis ich das Ganze verstanden, und dem anderen, bald mich an einem einzelnen Punkte völlig monographisch zu fixieren – daß Origines de principiis13 der rechte ist, bestätigt sich mir immer mehr –, unruhig hin und her geworfen werde. So überkommt mich zuweilen eine Ungeduld und eine Hast, die mir sonst doch fremd genug ist. .|.|. Nun Adieu; wenn Du nach Hause kommst, bring einen Sack Grüße mit und behalte lieb Deinen Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 37. 1 2 3

Nicht überliefert. Philo Judaeus (um 25 v. Chr. – 50 n. Chr.): Philosoph. D.s Cousine Karoline Baur, geb. Wirths, verheiratet mit dem Pfarrer Karl Baur in Fried-

berg. 4

Der Geburt ihres Kindes. Nicht überliefert. 6 Adolph Kießling (1837–1893): klass. Philologe; damals Probekandidat am Joachimsthalschen Gymnasium; 1863 bis 1869 o. Prof. in Basel, wo D. 1867/68 mit ihm zusammen wohnte. 7 Eine 1842 wiederentdeckte Schrift des Heiligen Hippolytus von Rom (3. Jh.): Widerlegung aller Häresien (Philosophumena). 8 Maximilian Wolfgang Duncker (1811–1886): Historiker und Politiker; Sohn des Buchhändlers und Verlegers Karl Duncker (1781–1869), 1842–1847 a. o. Prof. in Halle, 1857–1859 in Tübingen, danach Leiter der Zentralpressestelle im Staatsministerium, 1861 Vortragender Rat und politischer Berater des Kronpinzen. – Geschichte des Alterthums. 4 Bde. Berlin 1852–1857. 9 Vgl. D.s Brief an seine Eltern vom 27. November 1858. 10 Justus Möser (1720–1794): Geschichtsschreiber, Publizist und Jurist. 11 Erst postum veröffentlicht; vgl. hierzu die Aufsätze D.s in GS XI sowie den Vorbericht des Hg. 12 Zusammen mit Ludwig Jonas bereitete D. eine vierbändige Ausgabe von Schleiermachers Briefen vor: Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. Die Bände I und II, hg. von L. Jonas, waren 1858 erschienen. Nach Jonas’ Tod 1859 setzte D. die Briefedition allein fort. 13 Origenes (185–254): Theologe und Philosoph. – De principies (Vier Bücher von den Prinzipien). 5

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[52] Dilthey an seine Schwester Marie (Berlin um März 1859) Herzlichen Dank, liebes Mariechen, für Deinen langen inhaltsvollen Schreibebrief.1 Deine Beschreibung von der Friedberger Kindtaufe2 ist mir umso erwünschter, als ich von dort noch immer ganz ohne Nachricht bin. .|.|. Allerdings ist die Heiterkeit der Baurschen Familie unsren Naturen fremd und ich muß sagen, daß mir bei dieser Wald- und Wiesenlustigkeit nie sonderlich wohl gewesen ist: aber daß Du sagst, Du wüßtest nicht, ob Du überhaupt einmal echte Heiterkeit gekannt hättest, darin irrst Du doch gewaltig, wie ich aus sehr deutlichen Erinnerungen bezeugen kann. Es geht uns freilich leicht so, daß wir beim Überblick über das Vergangene nur die Spitzen unsrer Lebensschicksale hervorblicken sehen, und die enthalten freilich niemals eigentlich heitere Momente. Allerdings ist Dir ein heiteres von Tag auf Tag leben nie eigen gewesen und so wird es Dir wie mir gehn, daß Du Dir an der stilleren Heiterkeit, die aus der inneren Übereinstimmung des Gemüths mit sich selbst, mit dem Geschick und den umgebenden Menschen entspringt, mußt genügen lassen. .|.|. Karl hat mir auch in den Tagen geschrieben.3 Er scheint ja sehr ungewiß in Betreff der zu wählenden Universität. Daß er erst auf eine andre gehn will und dann nach Bonn zurück, ist in der That sehr vernünftig. Denn im Bonner Seminar aufzukommen, ist gewiß sehr schwer, wie ich von hiesigen Bekannten höre; es sind ein paar eingefleischte und wohlgesattelte Ritschlianer4 da, die dem jungen Nachwuchs das Leben sehr sauer machen. Ohnehin ist es doch wünschenswerth daß er einmal wenigstens mit der Universität wechselt. Freilich wohin gehn? das ist eine schwere Frage. Mein erster Gedanke war natürlich Berlin. Aber bei näherer Überlegung ist das doch sehr wenig probehaltig. Kaum hat er sich gesammelt; hat angefangen sich in die strenge Buchstabenphilologie hereinzufinden in Bonn: so würde er dem überwältigenden, höchst zerstreuenden Eindruck einer großen Stadt hingegeben, Museen, Theater und Musik würden ihn hinnehmen. Was aber vielleicht noch mehr ihn zerstreuen würde, wäre der Kreis meiner Bekannten, die Richtung auf das Allgemeine, Zusammenfassende, die da herrscht und der er eben erst glücklich entronnen ist: – denn in dieser Zeit wirkt sie in der That auf philologische Studien durchaus schädlich. Wohin aber sonst? Ihr schreibt nur, daß von Breslau und Jena die Rede sei. Über Jena habe ich nur5 von Weingarten, der dort mit den Professoren vielfach verkehrt hat, genaue Nachrichten. Es herrscht da jetzt ein so krasser Materialismus, ein Bierlümmelton, daß alle,

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die in den letzten Jahren da waren, dadurch aufs Höchste abgestoßen sind. Eben ist eine Sammlung Jenaischer Studentenlieder herausgekommen – sie liegt vor mir auf dem Tisch – : die einen wahren Ekel vor dem dortigen Unwesen einflößen kann. Er würde dort weder etwas der Mühe Werthes von den Vorlesungen und dem Seminar haben – da beides dort nach allgemeinem Urtheil sehr lässig betrieben wird – noch für sich selbst zu ordentlichen Arbeiten kommen, da das dort ganz und gar nicht der Brauch ist. Die Universität hat sich gegen früher unendlich verschlechtert. Was er nun sonst im Sinn hat: nach Breslau zu gehn, kam mir zuerst höchst wunderlich vor. Die Stadt soll sehr trist sein, sehr berühmte Professoren sind nicht da. .|.|. Als ich aber Usener einen Theil des Briefes und gerade das hierauf Bezügliche vorlas, fand er den Gedanken sehr vernünftig, auf ein Jahr nach Breslau zu gehn. .|.|. Ha[a]se6 wirke da ganz vortrefflich. Bernays,7 ein ganz ausgezeichneter Philologe, jetzt vielleicht überhaupt einer der Tüchtigten, liest allerdings nicht sehr viel, aber er soll umgänglich sein. Da er mit Lazarus und Steinthal sehr befreundet ist, so könnte Karl eine sehr gute vollwichtige Empfehlung an ihn haben. .|.|. Göttingen könnte auch allenfalls in Betracht kommen; aber wie Usener sagt, ist da jetzt nur die Wahl zwischen wildem Korpsleben und einsamem „Büffeln“. .|.|. Mir gehts nun hier unter Useners Dache prächtig. Wir arbeiten und plaudern abwechselnd zusammen und ich bin der Wohnungsverlegenheit gar nicht mehr gram, da sie uns ein paar so anregende Tage verschafft hat. .|.|. Nun Adieu, es ist spät und ich möchte noch mit Usener ein Stündchen plaudern und lesen. Leb wohl Dein Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 38. 1

Nicht überliefert. D.s Cousine Karoline lebte mit ihrem Ehemann, dem Pfarrer Karl Baur, und ihrem Kind in Friedberg. 3 Nicht überliefert. 4 Anhänger von Friedrich Wilhelm Ritschl (1806–1876): klass. Philologe; 1829 Prof. in Halle, 1833 in Breslau, seit 1839 in Bonn, ab 1865 in Leipzig; gilt als Begründer der Bonner Schule für klass. Philologie. 5 In JD: „mir“. 6 Friedrich Haase (1808–1867): klass. Philologe; 1840 a. o., 1846 o. Prof. in Breslau. 7 Jakob Bernays (1824–1881): klass. Philologe; 1853 Lehrer am jüdisch-theologischen Seminar zu Breslau, Dozent an der Universität, ab 1866 a. o. Prof. und Oberbibliothekar in Bonn. 2

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[53] Dilthey an seine Schwester Marie Montag früh 61/2 Uhr (Berlin, Frühling 1859) Liebstes Mariechen! Ob es gleich noch früh am Morgen ist, eigentlich also wie’s im Joachimsthal heißt „strenge Arbeitsstunde“, dazu mein heutiges Pensum mit Philo sehr groß: so habe ich doch absonderlich Lust, Dir zu schreiben, und so mag denn die allegorische Auslegung der Schöpfungsgeschichte noch eine halbe Stunde warten. Ich fühle mich so recht wohl, seit ich hier eingezogen bin. Das schöne elegante Zimmer, das mich bis jetzt wirklich sehr ordentlich macht, da ich meine Freude daran habe, die schönen Arbeitspläne die ich mitgebracht habe, der Ruck von dem ich fühle, daß ich ihn in diesen Monaten in meiner Entwicklung thue – das alles giebt mir ein rechtes Behagen und eine rechte Arbeitslust. Ich muß freilich auch die vierzehn Tage und drüber, die ich mit Usener zusammen im Gespräch und in spielender Arbeit verlebt habe, wieder einholen. Gelernt freilich hab ich in diesen 14 Tagen nicht wenig. In solchen Zeiten freier Ausdehnung der Gedanken und raschen sorglosen Austauschs liegt ein großer Reiz und eine sichtbare Förderung. .|.|. Mit den Abenden bin ich nicht sonderlich in Verlegenheit, da ich zweimal wöchentlich bei Lazarus bin, zweimal mit Hoffmann und Usener Aristoteles[’] Metaphysik lese; einmal alle vierzehn Tage ist auch noch griechisch Kränzchen, wo wir jetzt Lucian1 lesen. Das wollen wir nun mit nächstem Male beenden, auf Usener’s und meinen Vorschlag, da es des Guten zuviel wird angesichts des kommenden Sommers. Wie ich mich auf den freue! Es ist mir, als hätte ich die Natur nie so lieb gehabt als jetzt. Deßwegen muß ich aber auch ein paar Wochen von Berlin weg, wenn irgend möglich. Zu meinem Vergnügen treibe ich allerlei von Schleiermacher, Fichte und Friedrich Schlegel,2 was durch den Briefwechsel angeregt ist. Usener treibt dasselbe in anderen Absichten und ich hoffe so spielend diese Zeit vollkommen und bis ins Einzelste kennen zu lernen. Bin ich damit zu einem gewissen Abschluß vorläufig gekommen, so will ich mich ebenso spielend in einem Punkt im Mittelalter, in der Geschichte der mittelalterlichen Mystik festsetzen. Doch muß ich erst mit meinem Studium der Neuplatoniker einen Schritt weiter sein, um da mit Sicherheit anzuknüpfen. Mit meinem Aufsatz über Schleiermacher, in der deutschen Zeitschrift,3 gehts immer rückwärts; ich habe noch auf die eine und andre minutiöse No-

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tiz zu warten. Selbst sie zu erobern, habe ich keine Lust, da sich nicht vorausberechnen läßt, wieviel Zeit es erfordert. Und die ist doch im Grunde weggeworfen. Eben blättre ich noch in den Fragmenten zuweilen. Was für prachtvolle Aussprüche Schleiermachers sind darin! Ich möchte Dir gern zuweilen ganze Seiten herausschreiben. Hoffentlich lesen wir noch manches dergleichen zusammen. Hier nur zwei, drei Stellen. „Der Mensch gebe sich selbst, wie ein Kunstwerk, welches im Freien ausgestellt jedem den Zutritt verstattet und doch nur von denen genossen und verstanden wird, die Sinn und Studium mitbringen. Er stehe frei und bewege sich seiner Natur gemäß ohne zu fragen, wer ihn ansieht und wie. Diese ruhige Unbefangenheit verdient eigentlich den Namen der Offenheit allein, denn offen ist, wo hinein jeder gehen kann, ohne daß etwas gewaltthätiges nöthig ist; versteht sich, daß er auch das, was nicht niet- und nagelfest ist, mit Achtung behandle. Mehr gehört nicht zu der Gastfreundschaft, die der Mensch innerhalb seines Gemüths beweisen muß.“ „Hast Du je den Umfang eines Andern mit allen seinen Unebenheiten berühren können, ohne ihm Schmerzen zu machen? Ihr braucht beide weiter keinen Beweis zu führen daß Ihr gebildete Menschen seid.“ „Das Bewußtsein der nothwendigen Gränzen ist das Unentbehrlichste und das Seltenste in der Freundschaft.“ Hast Du nun Perthes’ Leben4 gelesen? Ich empfehle Dir das Buch doch sehr. .|.|. Sehr, sehr empfehle ich Euch Niebuhr’s Leben und Briefe. 3 Bände:5 Karl kann ja auslesen. Es wird den Vater auch aufs Höchste interessieren. Ich stehe nicht an, es für das Schönste in dieser Art zu erklären, was ich kenne. Bei Gelegenheit meiner Beschäftigung mit der Geschichte der Historiker bin ich drauf gekommen. Ein Verfasser ist nicht genannt, wie ich aber von Nitzsch höre, der einer der nächsten Freunde Niebuhr’s war, ist es von der Hensel, der herrlichen Schwägerin Niebuhrs. Daß ich gehört, daß Schleiermachers Briefe von dem Regierungsrat Willich und der Gräfin Schwerin,6 der Tochter Schleiermachers, ist, die Einleitungen aber von der Schwerin, habe ich wohl schon geschrieben. Ich werde wohl nicht anders können, als über die Art der Herausgabe doch einige bittere Pillen, sorgsam in Honig gewickelt, so wie wir sie ehedem alle Frühjahr schlucken mußten, auf mütterlichen Befehl, wenn wir nicht uns zum bittern Salz entschlossen – den Herausgebern zu verabreichen. .|.|. Die Zeitschrift von Lazarus und Steinthal für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft ist im ersten Heft eben erschienen. Ich kann mein Exemplar im Augenblick nicht gut schicken, da ich es vermuthlich für eine kurze Anzeige nöthig haben werde.7 Keine längre Recension, da mir das Loben unter Freunden, der Anfang alles Cliquenwesens, von dem sich Wehrenpfennig und Steinthal nicht freigehalten haben, höchst widerlich ist. Ohnehin habe ich gegen die Auffassung der Frage, um die es sich da handelt, vielfache wis-

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senschaftliche Bedenken. Aber da ich fürchte, daß Philologen und Historiker, besonders die ersten, die ja oft so unsäglich eng von Begriffen sind, zu kurz absprechend sein werden und gegen die ganze, offenbar doch richtige Absicht, feindlich gestimmt: so ist es wohl nöthig, daß sich im Publikum hier und da eine den Sachverhalt auseinandersetzende Stimme hören lasse. .|.|. Nun Adieu liebste Mahrun! Ich bin in einen Brief für’s ganze Haus gerathen. Nächstens sollst Du auch einen ganz speciellen haben. Küß mir das kleine Mariechen hunderttausendmal; wenn ich meinen Papierkorb am Schreibtisch sehe, so wünschte ich stets, sie da hineinsetzen zu können, wie’s der Vater thut und mich an ihrem schlauen geduldigen Gesichtchen zu ergötzen. Gott segne sie. Behaltet mich lieb und laßt mich – Ihr seid ja so viele – bald ordentlich von Euch hören. Ich bin jetzt mit einem Brief voraus. Adieu Ihr Liebsten

Euer Wilhelm

Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 39. 1

Lukian von Samosata (um 120–nach 180): griech. Schriftsteller, Satiriker. Friedrich von Schlegel (1772–1829): Schriftsteller, Philologe und Philosoph. 3 Ein Schleiermacher-Aufsatz D.s in der Deutschen Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben, N.F. konnte nicht nachgewiesen werden. 4 Friedrich Christoph Perthes (1772–1843): Buchhändler. – K.Th. Perthes: Friedrich Perthes Leben. Nach dessen schriftlichen und mündlichen Mittheilungen aufgezeichnet. 3 Bde. Hamburg und Gotha 1848–1855. 5 Barthold Georg Niebuhr (1776–1831): Staatsmann und Geschichtsforscher. – Dorothea Hensler: Lebensnachrichten über Barthold Georg Niebuhr aus Briefen desselben und aus Erinnerungen einiger seiner nächsten Freunde. 3 Bde. Hamburg 1838–1839. 6 Ehrenfried von Willich (1807–1880): Jurist, Stiefsohn Schleiermachers, Sohn von Johann Ehrenfried Theodor von Willich. – Hildegard Marie Gräfin Schwerin-Putzar (1817–1889): Schleiermachers jüngste Tochter. – Gemeint ist wohl die von L. Jonas hg. Ausgabe von Schleiermachers Briefen. 7 Diese Rezension ist nicht nachgewiesen. 2

[54] Dilthey an seine Schwester Marie Mein liebstes Mariechen!

(Frühjahr 1859)

Noch ehe Du nach Hadamar1 gehst, woraus doch wohl bei dem herrlichen Wetter etwas werden wird, sollst Du ordentlich und ausführlich hören, wie mir’s geht und was ich treibe. Auch hier in Berlin muß es einem in diesen einzigen Tagen, in denen die Blätter zwischen der ersten Frische und der

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Vollendung mitten innestehen und in denen hier erst alle Gesträuche blühn, gar gut gehn. Des Morgens steh ich früh auf, geh um 8 in Niedners2 Colleg und von da ein Paar Stunden auf die Bibliothek; dann arbeite ich, die Viertelstunde des Mittagessens abgerechnet, das mir hier noch gar nicht schmecken will, bis um 4 Uhr zu Hause. Dann geh ich auf 1–2 Stunden zur Frau Doktorin hinaus .|.|., arbeite wieder bis etwa um halbneun, wo dann Usener kommt, mich zum Spatziergang abzuholen. Wenn der im Sommer kommt, wirst Du ihn auch sehen. Denn er wird Euch besuchen und Du mußt mir nicht Dich im Hintergrund halten. Denn es muß Dich doch auch interessieren ihn zu sehen, da der Verkehr mit ihm ein nicht unbeträchtliches Stück meines jetzigen Lebens ist. Er hat etwas sehr Reserviertes in seiner Natur, und seine Stimmungen, die zuweilen bis zum Excentrischen gehn, beherrschen ihn tagelang, indem sie ganz ähnlich wie bei unserem Karl, ein ganz eignes wühlendes Leben in ihm führen, das denn oft plötzlich und ganz ohne Grund sich Luft macht. Aber er hat viel mehr ursprünglich kraftvolles, schwungkräftiges Naturell, sodaß ihn die trüben Tage seltener besuchen, weniger hinnehmen. Er meint es mit dem Leben tiefernst und sucht nichts für sich darin: er ist eine geborene wissenschaftliche Natur. Aber er gehört zu denen, deren Idealität keine Worte machen, sich nicht in allgemeinen Betrachtungen aussprechen mag. Der sachlich-philologische Sinn hat die Richtung auf Selbstbetrachtung nicht in ihm aufkommen lassen. Sein wissenschaftliches Pflichtgefühl ist von einer solchen genialen Schärfe, wie es mir noch nicht begegnet ist. Du müßtest eigentlich Hoffmann neben ihm sehn, der Euch allen gewiß einen ganz besonders angenehmen Eindruck machen müßte. Man kann sich keinen liebenswürdigeren, geselligeren, heitreren Menschen denken. Alle Arbeit verschmilzt sich ihm mit Genuß. Wenn er einen Spatziergang absagt, so geschieht es in einem hübschen griechischen Gedichtchen, und wenn er Aristophanes übersetzt, so meint man ein Lustspiel von gestern zu hören. Er hat eine feine und ausgebreitete musikalische Bildung und das behagliche gesellige Talent. Eben ist er ganz davon hingenommen, mit einer sehr liebenswürdigen Tochter Wichern’s,3 die schon längere Zeit das Griechische mit einem merkwürdigen Talente treibt, die griechischen Tragiker zu lesen. Du kannst Dir denken, wie angeregt und heiter unser Trifolium4 ist, wenn wir zusammenkommen: wir reden dann meist bis tief in die Nacht. Daß ich diese Altersgenossen gefunden habe hier, macht meinen freundschaftlichen Verkehr hier erst vollständig. So lieb ich Lazarus und Wehrenpfennig habe, so sind sie doch gar viel fertiger und ruhiger als ich, vermöge des halben Dutzends Jahre, das zwischen uns liegt. Lazarus ist noch immer in Leipzig. Er schreibt seiner Frau täglich. .|.|. Neulich hat sie – vorgestern – einen kleinen Strauß5 mit Wehrenpfennig über die

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Völkerpsychologie gehabt. Darin hat sie denn doch eine kleine Schwäche, da sie keinen Schatten eines Tadels der wissenschaftlichen Arbeiten ihres Mannes hören kann. Sie will – recht weiblich – das Verhältniß zu seiner Person und das zu seinen wissenschaftlichen Arbeiten durchaus nicht auseinanderhalten und weiß sich nicht wenig mit der Entdeckung der Völkerpsychologie. Indeß wo eine Frau so zu ernstem und innigem Nachdenken über alles Menschliche und zu herzlicher Teilnahme daran sich durchgebildet hat, haben selbst diese feinen, die Schranke der Weiblichkeit bezeichnenden Züge einen eigentümlichen Reiz. Es ist doch dies überall das Wesentliche, daß ein Mensch sich in sich selber ruhig zusammennehme, die Resultate seiner eigenen Erfahrungen durch Lektüre und Verkehr zu einer Gesammtansicht ergänze und so in sich selber einen festen Punkt der schwankenden Welt gegenüber und einen Ausgangspunkt wahrer Teilnahme und tieferen Verständnisses für alles was ihn umgiebt gewinne – : ist das einer Frau gelungen, so sind so manche besonderen Züge, die einen an einem andren ernsthaft stören könnten, nur ein lieber Zusatz der Eigenthümlichkeit, der in der Anschauung mit dem Besten verwächst, was ihr sonst eigen ist. Für mich ist es recht wahr, daß ich auch die Schwächen derer, die mir nahestehn, mit lieb habe, wenn nur sonst ein bedeutender Grundzug in ihrer Natur ist. Man kann sie scharf sehn, scharf aussprechen und doch im Verhältniß zum Kern der Natur für zufällig und nichtig achten. So geht es mir auch allmählich mit Wehrenpfennig, ob ich mich gleich dem gegenüber am schwersten in das richtige Verhältniß zu setzen vermochte. Seine Fehler sind so agressiv, daß man sie bekämpfen muß, oder sich unterordnen; – nur durch Mißstimmungen hindurch kann man sich mit denselben auseinandersetzen. .|.|. Karl habe ich eine wunderliche Empfehlung Steinthals an Bernays geschickt: Lazarus war leider nicht da und St[einthal] ist eben ein komischer Kautz, von dem man nie voraus weiß was er machen wird. Sie fängt mit der ausdrücklichen Erklärung an, daß er Karl durchaus gar nicht kenne. Hoffentlich thut sie doch Wirkung. Gestern habe ich Frau Doktor ein Stück aus Göthes Hermann und Dorothea vorgelesen. Ich habe Dir das herrliche Gedicht einmal geschenkt: kommst Du wohl dazu, es öfters zu lesen? Schreib mir doch ein Wort darüber. Meinem Geschmack nach giebt es keine Darstellung des Lebens in der Familie und Natur, welche an Tiefe und Klarheit der Anschauung, an Innigkeit der Empfindung sich damit vergleichen könnte. Den Gang der Mutter durch das Feld zum Sohne sollt Ihr der Mutter ausdrücklich an einem schönen Nachmittag im Hüttchen vorlesen – es ist mein Leibstück. Daß Du jetzt kochst, ist ganz vortrefflich: es soll mir noch einmal so gut schmecken, wenn ich zurück komme. Ich werde nun über Deine sämmtlichen kochkünstleri-

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schen Leistungen Revüe halten. Ist auch das Stimbeschen6 ordentlich den ganzen Tag im Garten? Und hat es ein Gärtchen zum Bebauen? Ihr müßt ihm das Stückchen bei der Hofthür, wo es so sonnig ist, herrichten lassen – da haben wir als Kinder so glückselig gekauert und gesehn wie unsre Blumen wuchsen. Wie glücklich sind wir darin gewesen, daß der Sinn für die Natur von so früh in uns entwickelt worden ist. Überhaupt, wenn wir nicht Menschen werden, die in der Tiefe des Innenlebens ihr Glück finden: so ist’s unsre Schuld. Grüßt mir doch Linchen7 recht herzlich. .|.|. Wenn nun die Großmutter weg ist, so ist sie die einzige, die den edlen, tief theilnehmenden Sinn uns noch vergegenwärtigt, der so viele Jahre das liebe Haus durchwaltet hat, das uns eine unsrer schönsten Jugenderinnerungen bleiben wird. Adieu, Liebe, Gute, Alte: Herzliche Grüße an alle. Behaltet mich so lieb wie ich Euch. Dein Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 41. 1 Kleine Stadt in Hessen; hier lebte D.s Onkel Wilhelm Ludwig Christian Karl D. (1810–1862): herzoglicher Amtmann. 2 Christian Wilhelm Niedner (1797–1865): Kirchenhistoriker; 1829 a. o. Prof., 1838 o. Prof. in Leipzig, seit 1859 o. Prof. der historischen Theologie in Berlin. 3 Johann Hinrich Wichern (1808–1881): Begründer der „inneren Mission“ in Deutschland; 1858 Ernennung zum Oberkonsistorialrat und Vortragenden Rat im preuß. Ministerium des Innern, betraut mit der Abteilung des Gefängniswesens. 4 Dreiblatt, Kleeblatt. 5 Streit. 6 D.s Nichte, die Tochter seiner Schwester Marie. 7 D.s Cousine Karoline Rückert.

[55] Dilthey an Bernhard Scholz Lazarusleute u. Wehrenpfennig grüßen schön.

[Mitte April 1859.]1

2

Mein lieber Scholz! Auf einem langen einsamen Spaziergang den ich heute bis zum großen Stern3 gemacht habe um die Portion Frühlingsvergnügen, die uns Berlinern vergönnt ist, einzunehmen, habe ich unter anderen gewichtvollen Gedanken

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auch den gefasst meine sämmtlichen Briefsünden zu tilgen. Du rechnest es mir hoffentlich an, daß Du der erste bist, zumal doch vielleicht noch zweifelhaft ist, wie es mit dem Übrigen wird. Zunächst erwäge ich nun ob ich nicht zu meiner weiteren Entschuldigung ein etwas zerknittertes Brieffragment – es hat bereits einen Umzug mitgemacht –, von Neujahrswünschen protzend, die hoffentlich auch so gewirkt haben, überschicken soll. Aber da ich Deine Frau sehr herzlich lachen höre über die vielfachen Spuren seines Alters und seines Geschicks, die sich als unverbesserlich herausstellen trotz vielfacher behutsamer Behandlung – so mag es nur in den Papierkorb wandern. Es bliebe noch eine ansehnliche Reihe von Entschuldigungen – aber die sind bei mir seit Jahren stehend geworden, wie die Gebete der anglikanischen Kirche: ohnehin fürchte ich Du würdest sie überschlagen u höchstens nachträglich u. mit sehr kritischer Miene lesen. Nach dieser höchst nöthigen Introduktion weiß ich wirklich nicht, womit zuerst beginnen, so vielfach ist, worüber ich Dir meine Freude auszudrücken hätte. Der Kern von allem ist ein herzlicher Glückwunsch, wohl der späteste, aber gewiß nicht am wenigsten herzlich oder ernst gemeint, daß Du das Glück einer wahren Ehe nun gefunden u. errungen hast:4 nächstjenem Höchsten, seinen wahren Beruf, den Punkt, an welchem alle Kräfte zusammen wirken können auf die Welt, gefunden zu haben – nächst dem gewiß die schönste Gabe des Geschicks. Gar sehr freue ich mich darauf, einmal Euer heiteres Zusammenleben zu sehen; denn lustig u jugendlich wird es gewiß zugehn, dafür kenne ich Dich. Denke ich doch noch so gern daran, wie wir zusammen im Thiergarten liefen, Äpfel essend u. Unsinn schwatzend. Und seit Du weg bist fehlt mir doch ein Stück meines hießigen Lebens – noch so ein süddeutscher Zipfel. Aber wenn wir zusammenkommen, so will ich nachholen was ich kann. Solltest Du nicht mit Deiner Frau im Frühjahr einmal herkommen, hierher nach dem Mittelpunkte aller musikalischen Bildung, der Vergangenheitsklassik sowohl als der Zukunftsromantik? Sehr würden sich auch die Lazarusleute freun. Du glaubst wirklich nicht, wie gern sie von Dir reden u wie gut u herzlich. Frau Doktor trug sich sogar mit dem Gedanken Dir ein paar Zeilen mitzuschreiben u ohne damit die Schuld irgendwie von mir abwälzen zu wollen, ist sie mit dieser Absicht ein wenig Schuld an den letzten Verzögerungen. Vielleicht schreibt sie morgen, wo ich da zu Tisch bin – jeden Sonntag nemlich – noch eine Zeile. Also – damit ich nicht aus dem Concept komme – Deine Oper5 ist in Wiesbaden glücklich u. mit Beifall vom Stapel gelaufen! Diese Mittheilung ist aus den Blättern fürs Gemüth bei Spargniapani geschöpft. Ferner habe ich aber ebendaselbst aus der B[erliner] M[usik] Z[eitung] ersehen, daß Du es nicht verschmähst, ab u zu unter die Schriftsteller zu gehn u. Aufklärung über

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die musikalischen Formen in dem Jahrhundert eines unaussprechlichen musik-formen-zertrümmernden Inhaltes zu verbreiten.6 Es scheint mir ein sehr wesentlicher Fortschritt in der Betrachtung der Kunst darin zu liegen, daß man statt des unbestimmten Geredes über vom Inhalt erregte Empfindungen eine Geschichte der musikalischen Formen zu gewinnen sucht. Ein Bestreben, welches der Betrachtung der geistigen Thätigkeiten in andren Gebieten vollkommen entspricht. Du hast nun wohl – fällt mir darüber ein – Chrysanders Händel gelesen: er ist ja allseitig außerordentlich gerühmt worden; und sogar von der Brendelschen Zeitung:7 mit der Versicherung, daß man es hier mit einem „genialen Historiker“ zu thun habe. Gegen dies letzte lehnt sich nun doch die wenige Anschauung welche ich von C[hrysander] habe entschieden auf, so tüchtig u verständig er auch sicher ist. Schreibe mir doch, was Du von dem Buche denkst. Denke Dir, der Amerikaner, der am Kopf krank ist, ist auch wieder hier. Und zwar als Kritiker einer amerikanischen Musikzeitung. Ich sagte ihm von Deinen Liedern: er bezeigte sogleich den lebhaftesten kritischen Appetit nach einem Gratisexemplar. Hast Du also Lust, Dich dieser Posaune zu bedienen, um Deinen Ruhm über die Meere ertönen zu lassen, so siehst Du ihn in Bereitschaft. Du besorgst vielleicht, ich selbst würde mich, Deiner Versprechungen u. Gelübde gedenk, in Besitz des anlangenden Freiexemplars setzen. Aber ich verspreche Dir, meine Ansprüche sollen sich Deinem Anlauf zur amerikanischen Unsterblichkeit nicht in den Weg stellen. Ürigens scheint der Gute immer noch am Kopfe zu leiden. Indeß warum soll er nicht in einer Stunde, in der er offnen Kopfes ist die Recension glücklich zu Stande bringen? Darf man es doch mit Recensentenköpfen überhaupt nicht zu genau nehmen. Aus Glasers8 Mittheilung, daß Du Deine Frau habest nach Hannover kommen lassen u Dich fester niedergelassen, schließe ich, daß Du wohl Aussicht hast in Hannover als Capellmeister zu bleiben. Das wäre ja prächtig. Was nun die andre Dame angeht, von der er so mysteriös geschrieben, daß sie als künftiges Familienglied mitangelangt sei in Hannover, so könntest Du mir wenigstens den Namen schreiben. Ja Du mußt es. Und willst Du’s trotzdem nicht, wie Du denn bekanntlich sehr hartnäckig bist, so wende ich mich hiermit an Deine Frau, von der ich mich eines Besseren versehe. Hochgeehrteste Frau Capellmeisterin! Verehrteste Frau! Es ist eine unleugbare, empirisch constatirte Thatsache, daß Neugierde am leichtesten bei Damen Entschuldigung findet. Was sage ich Entschuldigung? Wohlwissend daß diese Neigung und Gabe, das Künftige vorauszuschauen und das Weitentfernte sich vorzustellen mit einer ihrer anmuthigsten Gaben,

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der einer beweglichen und erfinderischen Phantasie gar eng zusammenhängt, hegen sie diese Tugend wie billig, als eine ihnen besonders eigene. Und zumal in dem was sich auf das Familienleben bezieht, als den eigentlichen Kreis ihres Denkens u Lebens, lieben sie es, vermuthend oder aus zuverlässigen Quellen schöpfend, auf die ersten Anfänge und das früheste schüchterne Sich-Bilden der Verhältnisse zurückzugehen und sind nicht allzukarg mit der Mittheilung, da die Qual unbestimmter Vermuthungen auf diesem Gebiet ihnen nicht fremd ist. Ich weiß, Sie verstehen mich nicht Miß. Ich bin weit davon entfernt, zu vermuthen, daß Sie das schöne Vertrauen, welches ein bekannter, sehr ehrenwerther Redakteuer einer weitverbreiteten deutschen Zeitschrift auf Ihre Verschwiegenheit gesetzt hat täuschen werden. Nur kann ich nicht vermuthen, daß nicht in den nächsten Brief irgend ein Ausdruck der Freude über Ihren liebenswürdigen Besuch, eine wenn auch noch so flüchtige Erwähnung desselben einfließen sollte. Ich bin stumm, wie die Pyramiden Egyptens. Übrigens kann ich mir schließlich nicht versagen, Sie auf die mannigfachen Sehenswürdigkeiten Spreeathens aufmerksam zu machen, welche sich gerade in diesen Wochen bei dem herrlichen Wetter u. der fortdauernden Saison am besten präsentieren möchten. Und indem ich versichere, daß es mir zum größten Vergnügen gereichen würde als Cicerone zur Revanche Ihre Wißbegierde zu befriedigen ersterbe ich als Ihr gehorsamster u außerordentlich neugieriger Diener W. Dilthey Du siehst, wenn Höflichkeit u. Offenheit bei Deiner Frau nicht ganz wirkungslos sind – den Mangel des Reverenzschnörkels wird sie gütigst mit dem des Raums entschuldigen – so werde ich trotz Deiner Schweigsamkeit erfahren, was ich will. Freitag d[en] 3ten Juni [18]599 Erfahren was ich will! Damit schloß ich vor anderthalb Monaten. Ein Brief meines Vaters,10 der mich nach Dresden und Thüringen rief, kam dazwischen: ich bin drei Wochen verreist gewesen – der Brief lag ruhig im Pulte und harrte seines Schlusses. Nun soll er aber wie er ist fort: Du sollst wenigstens sehn, daß ich doch noch an Dich denke und wo möglich sollst Du mir meine Brieffaulheit nicht übel nehmen. Böses mit Gutem vergelten? Feurige Kohlen? Dergleichen wage ich nicht zu verlangen, so begierig ich bin von Deiner Stellung, Deinen Aussichten, Deinen Arbeiten zu hören, so begierig auch, ein Zeichen von Dir zu empfangen, daß Du in derselben herzlichen Freundschaft meiner gedenkst, wie ich Deiner.

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Mit meinen Arbeitens gehts, in Anbetracht der Hitze, erträglich weiter u ich hoffe alles Beste. Am Lesen liegt mir vorläufig nichts, sondern nur daran daß ich in nicht zu langer Zeit mit einer historischen Arbeit heraustrete, die sich sehen lassen kann. Mein alter Plan, von dem ich ja mit Dir redete, hat sich sehr erweitert zu einer Art Geschichte der damaligen Weltanschauung. Aber nur um so schwieriger ist das Material zu bewältigen. Lazarus ist doch immer u immer wieder sehr leidend. Besonders stellt sich in der letzten Zeit ein Übel am Knie heraus, das sehr leicht sich zu einem Gichtischen herausbilden kann. Er wird etwa 2 Monate ins Bad gehn. Nun lebe wohl, Lieber, Guter, Alter! In einer müßigen halben Stunde schreibst Du wohl einmal eine Zeile. Deine Frau bitte ich freundlichst von mir zu grüßen, wenn Du ihn siehst auch Glaser. Behalte lieb Deinen Wilh. Dilthey Original: Hs.; HLB Wiesbaden, Hs 341 (1); Erstdruck (mit Auslassungen): BDSch, Nr. 1. 1 2

Die Datierung wurde von der Hg. von BDSch vorgenommen. W. Wehrenpfennig war zwischen 1859 und 1862 Direktor des literarischen Büros in Ber-

lin. 3 Der zentrale Platz im Berliner Großen Tiergarten, angelegt unter Kurfürst Friedrich III. um 1698. 4 Heirat von Bernhard Scholz und Luise Seyler am 1. September 1858. 5 Scholz’ Oper Carlo Rosa wurde Ende März 1859 in Wiesbaden aufgeführt. 6 Neue Berliner Musikzeitung (= BMZ) Bd. 13, 5. 1. 1859 und 12. 1. 1859, S. 2 f. und 9 f. 7 Neue Zeitschrift für Musik (redigiert von F. Brendel) Bd. 50, 7. Januar 1859, S. 13–16. 8 A. Glaser war nicht nur ein Landsmann und Studienfreund D.s, sondern auch ein Vetter von B. Scholz. 9 Im Original: „2ten“; wahrscheinlich wurde der Brief aber am 3. Juni 1859 geschrieben, denn der 2. Juni, den D. angibt, fiel auf einen Donnerstag. 10 Nicht überliefert. – Vgl. hierzu Brief 58.

[56] Wilhelm Gaß an Dilthey Verehrter Freund, hoffentlich haben Sie neulich durch Reimer meinen Gruß nebst dem Versprechen einer baldigen Zusendung erhalten. Ich löse endlich meine Zusage, soweit ich sie überhaupt lösen kann; es geschieht weit später als ich gewollt u wohl auch gesollt, aber doch noch in der Hoffnung, daß Sie in den letzten Monaten allzu sehr beschäftigt gewesen, um an Ihr literarisches Unternehmen

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zu denken. Wahrscheinlich sind Sie auch gegenwärtig noch ebenso gedrängt; ich [will] aber doch nicht länger zögern. Sie erhalten hierbei die Briefe meines Vaters1 in dem Zeitraum von 1818–[18]26, in welchen auch die Ihnen von mir mitgetheilten Schleiermacherschen gehören. Die Meisten u Wichtigeren von den Ersteren sind freilich gedruckt, indessen doch nicht alle, u vielleicht finden sich noch ein Paar brauchbare Notizen. Wichtig scheint mir das Blatt „Abschrift“. Sie sprachen im letzten Herbst von einem Streit, in welchem sich die Breslauer Facultät im J[ahre] 1826 mit dem Ministerium befunden habe u worauf bei Schl[eiermacher] angespielt werde. Ein solcher Conflict wird in dem Inhalt der Abschrift vorausgesetzt. Doch ist mir der nähere Zusammenhang ganz unbekannt, u ich konnte deshalb von diesem einzelnen Blatt keinen Gebrauch machen. Möglich daß die Sache noch mit der Breslauer Synode von 1822 zusammenhängt, deren (schlechtes) Protokoll ich Ihnen mittheilen kann. Nähere Aufklärung weiß ich nicht von hier aus zu erlangen, außer etwa brieflich durch den alten Middeldorpf 2 u diesen Versuch will ich machen sobald ich weiß, daß Ihnen daran gelegen ist. Ueber das Jahr 1826 hinaus habe ich nur wenige Briefe, u diese sind sämmtlich gedruckt, so wie es auch von keinem Nutzen sein würde, die früheren beizufügen. Auch nach dem weiland Pastor Hermes3 fragten Sie. Er war erster Prediger an der Elisabethkirche, gest[orben] 1821. Genaueres über ihn findet sich gewiß in dem Schlesischen Schriftstellerlexicon von Nowack,4 auch im neuesten Conversationslexicon, welches die Königl[iche] Bibliothek in Berlin wohl besitzen wird. – Noch waren einige kleine Notizen übrig, über die ich aber keinen Aufschluß zu geben weiß. Sollte noch irgendeine Hülfe von meiner Seite nützlich sein, so bitte ich es mir zu sagen, u ich werde dann gewiß nicht warten lassen, wie ich es diesmal gethan. Einer Rücksendung der Briefe bedarf es nicht, da ich doch wohl einmal nach Berlin komme. Schon in diesen Osterferien hätte ich gern einen kleinen Besuch in Berlin gemacht, wäre ich nicht durch Arbeit u allerhand Geschäfte abgehalten worden. Den letzten Kamm[er]verhandlungen bin ich mit Spannung gefolgt. Ich bewundere die Tapferkeit u. Intelligenz unseres Ministers u bin empört über die Behandlung, die er von Seiten der Gegner erfährt. Hoffentlich wird er dadurch nicht irre gemacht sondern gestärkt. Wenn die Opposition mit seinem Vorgänger so hatte umspringen wollen, was würde wohl daraus geworden sein? Die unmittelbare Theilnahme an diesen Dingen kann ich mir nur interessant u bedeutend denken, u ebendarum wäre ich ganz gern einmal am Orte gewesen. In [der] andern u auswärtigen Richtung der öffentlichen Angelegenheiten stehen dagegen Alle einander gleich, sie haben das Zusehen u Zuwarten.

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Schließlich bitte ich Sie, Reimer, der nun schon im neuen Hause residirt,5 vielmals von mir zu grüßen. Mit besten Wünschen für Ihr Wohlergehen Ihr ergebener W. Gaß Greifswald, 18 Apr[il] 1859. Nachschrift. Die Absendung hat sich noch ein paar Tage verzögert, da sie mit einer andern Sendung verbunden werden sollte. Dafür schicke ich Ihnen jetzt, damit Sie ja nichts vermissen alle Briefe u ich hoffe, Sie werden sie ziemlich in Ordnung finden auch das Blatt „Abschrift“ leicht herausfinden. Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 348, unpaginiert. 1 Joachim Christian Gaß (1788–1831): protest. Theologe; 1795 Militärgeistlicher, 1810 Konsistorialrat in Breslau, 1811 o. Prof. für systematische und praktische Theologie in Breslau; seit 1803 im Briefwechsel mit Schleiermacher. 2 Hinrich Middeldorpf (1788–1861): protest. Theologe; 1811 a. o., 1815 o. Prof. in Breslau. 3 Weiland: ehemalig. – Johann Thimotheus Hermes (1738–1821): protest. Theologe und Dichter, Prediger; 1771 Prof. der Theologie, 1775 Pastor in Breslau, 1808 Superintendent der Kirchen und Schulen im Fürstentum Breslau. 4 K.G. Nowack: Schlesisches Schriftsteller-Lexikon oder bio-bibliographisches Verzeichniß der im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts lebenden schlesischen Schriftsteller. Breslau 1836 ff. 5 G.E. Reimer war 1858 mit seinem Verlag innerhalb Berlins von der Wilhelmstraße in die Anhalterstraße umgezogen.

[57] Dilthey an seinen Bruder Karl Liebster Karl:

(Berlin 11. 5. [1859])1

Schon länger warte ich auf einen Brief von Dir mit Verlangen, um zu erfahren, wie es bei uns und bei Dir steht. Ein Brief der Mutter2 machte den Eindruck einer tief gedrückten Stimmung; auch daß die nervöse Aufgeregtheit des Vaters wiedergekehrt sei, wird darin erwähnt. Schreibe mir doch, wenn auch nur kurz, baldigst über den eigentlichen Zustand zu Hause: Du kannst Dir denken, wie mich diese Ungewißheit beunruhigt. .|.|. Ich wollte Dir auch von ein paar Bekannten Usener’s schreiben, die Du doch besuchen sollst, um im Kreise der tüchtigeren Philologen Eingang zu finden, gleich ehe Du selbst Dich wirklich befriedigende Bekanntschaften ge-

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funden hast: was immer einige Zeit kostet. Daß Du Dich in dieser Situation an die Markomannen3 angeschlossen hast, ist mir aus der einsamen Situation selbst vollkommen begreiflich; doch mag ich nicht verschweigen, es wäre mir weit lieber, Du hättest Dir selber Deinen Kreis geschaffen als daß Du ohne Weiteres einen acceptirst. Und zwar einen der für ganz andre Menschen gemacht ist. Im Korpsleben ist im besten Fall ein selbstzufriedenes, in den studentischen Witzen sich breit ergehendes Dahinleben; Collegien werden besucht, auch ein paar Stunden des Tags, die aber meist etwas beunruhigt sind, gearbeitet. Dies Arbeiten ist entweder ein Durchochsen des Collegs oder ein umher tappendes von dem sonstigen Leben vollständig abgesondertes Thun. Das ist, lieber Karl, ein Leben wie es die Markomannen immerhin führen mögen, gutmüthige und in ihrer Art solide Menschen, die nach einem mäßigen Examen als Accessisten4 usw. unsrer hochwürdigen Regierung Schreiberdienste thun. Du kannst aber mit einem solchen Arbeiten nicht auskommen, weder innerlich noch äußerlich, auch in dem ersten Semester nicht. Was Du willst, weißt Du. Du bist hauptsächlich nach Bonn gegangen um unter Ritschl’s Anleitung recht bald in eigne selbständige Studien eingeführt zu werden. Das heißt: Du mußt ins Seminar gehn, nicht allein drin sein, sondern Dich darin auszeichnen. Mußt also des Lateinischen zum Sprechen und Schreiben in diesem Halbjahr vollkommen mächtig werden und irgend einen Autor von allen Seiten durcharbeiten; dann kommen Fragen und Einzelstudien von selbst. Du mußt demnach einen Verkehr haben von solchen, die Dir theils Anleitung und Anregung geben, an denen Du täglich was Du zu erstreben hast vor Augen siehst, theils von solchen, mit denen Du gleiche Wege gehst, vielleicht mit ihnen zusammen Dich im Lateinsprechen üben kannst, das eine oder andre mit ihnen treiben, obgleich beim Zusammenleben nicht viel herauskommt. Du bist inmitten einer lebendig angeregten Schule, selbst voller Pläne und Hoffnung, Tüchtiges zu leisten; und anstatt Dich, so kräftig Du kannst, diesen gegenseitigen Anregungen, diesem gemeinsamen Studiren und Leben hinzugeben, giebst Du Dich mit einem Korps ab, das jeden Schafskopf mit Freude empfängt, um Abends gemüthlich Bier mit gutmüthigen Gesellen zu trinken und sonst mit ihnen in Bonn hin und her zu steigen. Wie gesagt, daß Du daneben täglich vier fünf Stunden zu arbeiten durchsetztest und ins Colleg gehst, ist mechanisches Thun. Das ist nichts gegen dies herrliche gemeinsame Leben eines wahrhaft zusammengehörigen Kreises. Nur einmal im Leben ist Streben, Arbeiten und Geselligkeit gar nicht geschieden; sondern der Mensch kann ganz in seine Studien und seine Pläne eingehn, weil er sie ganz mit den Freunden theilt, und das verscherzest Du Dir nun für den Anfang wegen der spaßhaften guthmütigen Gesellen, die durchaus Dir nicht in ihrem Streben gleich sind. Anstatt unter ihnen hervor-

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zuragen, solltest Du lieber mit wirklich tüchtigen Menschen wetteifern. Beachte besonders dies eine: Studien bedürfen der Gemeinsamkeit; Leben und Studiren soll auf der Universität nichts Geschiedenes sein; der Kreis Deines Umgangs muß Dir jetzt Anleitung und gemeinsame Arbeit zugleich gewähren. Jeder andere ist unter Deinem Zwecke. – Ich fürchte nicht, daß Du glaubst ich wollte Dir heiteres Leben in der ersten Studentenzeit schwartz malen. Mache Deine Touren in der Umgegend von Bonn, soweit Du kannst, so oft Du Lust hast; ich habe mich seinerzeit mit dem Geld mehr eingeschränkt, als nöthig war; Du hast das wohl weniger nöthig als die übrigen Nassauer die sonst da sind, magst also immerhin viel brauchen. Aber setze Dich nicht in den engen Kreis dieser Menschen, denen Bierwitze, Schlagen und Gemüthlichkeit die Essenz des Studententhums ist, fest. Wenn Du irgend etwas auf einen brüderlichen Rath giebst, so ziehe Dich rasch, ohne Dich viel zu kümmern, was die Markomannen drum sagen, aus dem Kreis zurück. Was sie auch schwatzen, sie respektieren Dich, wenn sie Dich ganz Deinen Studien und in tüchtiger Gesellschaft sehen, doch innerlich sehr. Dies meine Meinung. Ich theile Dir auch die Usener’s der gewiß kein Philister ist, mit, ganz wie er mir’s sagte. .|.|. In Bezug auf die Seminararbeit läßt Dir Usener, der Dich als Collegen grüßt, sagen was ich oben schon angedeutet: Du sollst doch einen Autor von allen Seiten grammatisch, historisch, in Bezug auf Handschriften, Sprach- und Wortgebrauch Dir ganz zu eigen machen; dann würden die Fragen reichlich von selbst kommen; sollst aber nicht zu lange wählen, sondern frisch zugreifen. Mit Usener verkehre ich ziemlich häufig, wenn auch unsre Studien auseinander liegen, und er gefällt mir sehr. Er wird nächstens als letzter Adjunkt bei uns eintreten. Mein Plan, zu Herbst wegzugehn, bleibt fest. Inzwischen bin ich noch nicht entschieden, ob ich zu Ostern lesen soll und zur Vorbereitung dazu, Examen usw., den Winter verwenden; oder angefangene Studien über Origines zu einem mäßigen Buche im Winter und Frühjahr machen. Dann würde ich erst Herbst zu lesen anfangen. Ich wollte darüber erst mit Nitzsch, Twesten und Trendelenburg reden. Ich für mein Theil neige mich sehr zu dem letzteren. Meine Stunden liegen in diesem Halbjahr sehr gut, sodaß ich recht viel zu Stande bringe und innerlich was mich anbetrifft glücklich bin. .|.|. Schreib mir also ja bald. Ordentlich glücklich würde mich die Nachricht von Deiner Absonderung von den Markomannen machen. Leb wohl und behalt lieb Deinen treuen Bruder Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 28.

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1 Der Brief ist in JD auf das Jahr 1858 datiert. Da Karl D. sein Studium wohl erst im WS 1858/59 aufgenommen hatte (vgl. Brief 46), ist vorliegender Brief auf das Jahr 1859 zu datieren. Für eine Datierung auf das Jahr 1858 spricht allerdings, dass D. wohl noch im Schuldienst war. 2 Nicht überliefert. 3 Burschenschaft. 4 Anwärter für den Gerichts- oder Verwaltungsdienst.

[58] Dilthey an seine Schwester Marie1 Lieb Mariechen! Ich fürchte, die Mutter und Tante sind bereits weg und sind nicht ohne Besorgniß meinetwegen weggegangen. Es hat sich herausgestellt, dass ich völlig militärfrei bin2 und so bin ich denn gestern nacht um 1 Uhr hier eingezogen. Um 5 war der Vater da und der Zufall wollte es, dass ich in das Zimmer nebenan kam, sodass ich ihm guten Morgen rufen konnte. Nun wollen wir ein paar Tage hierbleiben, möchten Euch aber nur beruhigt wissen.|.|. . Ich schliesse, da wir gehn. Leb wohl, Alte, Liebe; wann werden wir uns sehn? Tausend Grüsse an alle, auch drunten. Die Grossmutter hat sich doch wohl nicht um meinetwillen geängstigt? Ohnehin sieht ja alles für Deutschland im Augenblick gut aus. – Adieu und behalt lieb Deinen Wilhelm den 1. Mai [18]59 Dresden. Tausend Grüsse an Euch liebe Kinder und Grossmutter und Koepps; wir gehen eben zu einer Fusstour ob der Elbe hinauf in die Sächs[ische] Schweiz. Wegen des Kriegs macht Euch vor der Hand keine Sorge. Der lieben Kleinen3 einen Kuss Euer Vater Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes mit handschriftlichen Ergänzungen von G. Misch und von fremder Hand ist aufbewahrt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o. – Die Notiz G. Mischs „es fällt fort“ weist darauf hin, dass der Brief im Zuge der Vorbereitung der Edition von JD transkribiert, jedoch nicht abgedruckt wurde.

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Dilthey an seine Schwester Marie

1

Dieser Brief geht zeitlich dem vorigen Brief voran. Da Österreich im Krieg gegen Frankreich und Sardinien Hilfe bei den Regierungen des Deutschen Bundes suchte, wurden deutsche Männer gemustert und eingezogen. 3 Tochter von D.s Schwester Marie. 2

[59] Dilthey an seinen Bruder Karl Liebster Karl!

(Berlin 19. V. 1859)

.|.|. Ich soll Dir allerhand schreiben, was ich treibe? Das fällt1 mir immer sehr schwer, da ich alle Selbstbespieglungen nicht liebe; Du mußt also mit dem Nöthigsten vorlieb nehmen. Ich habe 2 Arbeiten vor. Von der einen, der über die älteste christliche Religionsphilosophie, weißt Du. Sie gestaltet sich mir zu einer Art von Geschichte der Emanationssysteme der 3 ersten Jahrhunderte. Der Stoff ist aber so immens, daß ich noch nicht recht übersehn kann, wie es damit wird. Eben beschäftige ich mich mit Philo, der hoffentlich in 14 Tagen absolviert sein wird. Dann geht’s an Valentinus,2 worauf ich mich sehr freue. Daneben will ich – wie Du zu Hause wohl gehört hast – die Preisaufgabe der Schleiermacherschen Stiftung „über die Bedeutung der Schleiermacherschen Hermeneutik, in ihrem Verhältniß zu den früheren Versuchen“3 bearbeiten. Meine Absicht dabei ist, den Umschwung der historisch-philologischen Anschauungsweise und Methode, der mit Schl[eier]m[acher]’s Platon beginnt, darzustellen und in Verbindung mit Schlegel’s und Wolf’s4 Weise zu erklären. Alle Fragen, welche sich auf die Methode der historischen Anschauung beziehn, haben für mich einen großen Reiz, und hier verknüpfen sie sich mit meiner längeren Beschäftigung mit Schleiermacher. So darf ich hoffen, daß mir die Arbeit nicht zu viel kosten wird, denn mein eigentliches Interesse ist ja allerdings bei der andren kirchenhistorischen. Alles kleinere Zeug will ich mir jetzt vom Leibe halten obgleich Glaser schon zweimal um etwas Neues „à la Satan“ geschrieben hat. .|.|. Leb nun wohl, Alter, Lieber und behalt mich so lieb, wie Dich Dein Wilhelm Donnerstag früh Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 40.

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In JD: „hält“. Valentinus: einer der berühmtesten und wirkungsreichsten Gnostiker; stammte aus Ägypten, wirkte in Rom als theologischer Schriftsteller, gestorben um 160. 3 Das Thema der Preisaufgabe der Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin lautete 1859: „Das eigentümliche Verdienst von Schleiermachers Hermeneutik ist durch Vergleichung mit älteren Bearbeitungen dieser Wissenschaft, namentlich von Ernesti und Keil ins Licht zu setzen.“ (Original: Hs; EZA, ZA 5134/09, Sign.: EZA 23/8). – D.s zu Lebzeiten unpubliziert gebliebene Preisarbeit ist abgedruckt in: GS XIV, S. 595–787; Teilabdruck auch in GS II, S. 115–136; vgl. auch JD, S. 87–95. – D. hatte sich – als einziger – um die Bearbeitung des Themas mit Schreiben vom 23. März 1859 beworben. Obwohl er zu dieser Zeit nicht mehr an der Berliner Universität immatrikuliert war und zudem seine Bewerbung erst nach Ablauf der gesetzten Frist eingereicht hatte, wurde er dennoch am 1. April 1859 zur Bearbeitung der Preisaufgabe und damit als Anwärter auf das „Schleiermachersche Stipendium“ zugelassen – unter der Voraussetzung, eine Immatrikulationsbescheinigung nachzureichen. Als Abgabetermin wurde der 21. November 1859 gesetzt. 4 Friedrich August Wolf (1759–1824): klass. Philologe. 2

[60] Dilthey an seinen Vater Liebster Vater!

(Berlin, [2.] Juni 1859)1

Meinen herzlichsten, kindlichsten Glückwunsch zu Deinem Geburtstag, an dem wir, Deine Kinder alle im Geist vereint sind, Dir ein langes und heiteres Alter von Gott zu erbitten. Ich kann mir denken, wie der kleine Stimbes beim weißen Tisch, mit Blumen in der Hand steht und wie bei seinem kleinen Glückwunsch seine treuherzigen lieben Augen leuchten – und Lili’s strahlendes Gesicht und wie sie zwar die Tasche lang in der Hand hat, schließlich aber doch zu spät kommt – und Mariechens Wirtschaften am Kaffetisch. Wenn ich richtig rechne, wird dann mein Brief, wenn Ihr noch eine Stunde beim Kaffeetrinken beisammen seid, auch abgegeben werden und Dir ein Zeichen sein, daß auch mein Herz an diesem Tag bei Euch ist. Zwei Tage thut mir doch meine Abwesenheit und die Trennung doppelt leid, an Deinem und unsrer besten Mutter Geburtstag. Immer stärker, je älter man wird, bekommt man doch das alte Kindergefühl, daß man nichts durch sich ist und hat. Wenn ich jetzt durch die Fülle inneren Lebens ein wahrhaft glücklicher Mensch bin, sodaß ich für das Ganze meines Lebens kein andres Gefühl weiß als Dank gegen Gott und Euch – so fühle ich es tief und kann es bis ins Einzelste betrachten und verfolgen, wie ganz ich es Eurer Erziehung und Eurem Vorbilde, das mich immer wieder auf das Wesentliche des Lebens hinwies, mich zwischen Schwärmerei und phantastischem Unglauben zu der Religion freudigen Rechtthuns und inniger

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Dilthey an seinen Vater

Gemeinschaft mit dem uns alle tragenden Schöpfer der Dinge hindurchführte – wie ich alles Eurem Beispiel allein verdanke. Wenn ich es im Innersten spüre, daß im Gefühl der Unsterblichkeit und der uns ewig umfassenden Nähe Gottes zu leben unser höchstes Gut ist, so tönt unwillkührlich der kräftige Ton Deiner Predigten in mir nach, die das so ganz ohne Firlefanz sagten und ohne Sentimentalität. Vor drei Tagen machte ich Niedner einen Besuch, traf es aber schlecht, da er mehrere Studenten bei sich hatte, sodaß es nicht zu einem wissenschaftlichen Gespräch kam, in dem ich ihm näher hätte rücken können. Denn bei diesen hat er vollauf zu thun, sie für seine künftigen Kollegia – wie man an kleinen Universitäten sich ausdrückt: zu „keilen“. Er ist durch und durch der Professor der kleinen Universität, nicht wie er sein soll, sondern wie er leider zuweilen wird. Wieviel Zuhörer er in Leipzig gehabt, wie die Studenten seinen Wünschen gefolgt, daß er viel mehr Zulauf als irgend sonst einer dort gehabt – davon unterhielt er uns zunächst. Dann, was er hier lesen wolle und wie viel Zuhörer er sich davon verspreche u. dergl. Hierauf eine wunderliche Scene: ich sollte ihm sagen, ob er Einleitung in die Dogmengeschichte oder Repetitorium im nächsten halben Jahr lesen solle: ich müsse das, da ich so lange hier sei, wissen. Und das alles mit jener prächtigen sächsischen Art, die ein Gemisch von breiter Gutherzigkeit und Egoismus, Geschwätzigkeit und Unfähigkeit zu reden, Bescheidenheit und Professoreneitelkeit war. Ich will aber davon nicht urtheilen, denn ein Theil seines Collegiums, das ich täglich höre, ist der Sache nach so vortrefflich und tief, daß es noch ein Heiligthum in seiner Seele geben muß, das von diesem sächsischen Professorenthum unangerührt ist. Was muß der Mann zusammengearbeitet haben! Nahens sechzig Jahre alt, unverheirathet, ohne jede gesellige Neigung, die fünfzehn Jahre in Wittenberg auch ohne einen Freund! Aber man sollte denken, ein Mensch, der so alle Brücken des Lebens hinter sich abgebrochen hat, müsse völlig im Idealen leben, den vollen Eindruck der Idealität machen. Und nun sieht man einen Professorenphilister, den die Sehnsucht nach einem vollen Colleg bis zum Krankhaften erfüllt. Er hat mich doch unsäglich gedauert. Und wenn ich dächte, daß ich einmal so viel wissen solle und so ein armseliges Menschendasein führen, so wollte ich lieber als Conrektor leben und sterben. .|.|. Lazarus ist zurück. .|.|. Wehrenpfennigs Manier, die Menschen, wie er es immer meint, nach ihrer Art zu behandeln, hier zu verschweigen, dort halb zu erzählen wo er die Leute braucht oder ihren Rath, oder wo es ihm sonst wünschenswerth ist, von seinen Absichten und Vorhaben, seine ganze Geheimnißkrämerei und seine Diplomatie haben einen großen Krieg zwischen ihm und der Frau Doktorin heraufbeschworen. Ich habe in ihr Innerstes blikken können und gesehn, wie sehr sie an edlem Sinn ihm überlegen ist. Über-

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Dilthey an seinen Vater

haupt lehrt mich die Offenheit nicht weniger Menschen gegen mich, die natürlich ist, da ich ohne Berechnung und ohne Neugier bin, immer besser die Menschen und das menschliche Leben verstehn. Und ich kann nicht müde werden, mich in das verschiedenartige geistige Leben derer, die mir nahe stehn zu vertiefen, womöglich jede flüchtige Äußerung daraus zu verstehn. Mit meinen Arbeiten geht’s leidlich: freilich stört mich die Hitze doch mehr als ich gedacht hatte. Aber immer wieder beunruhigt mich, wie meine Natur dahin neigt, alles so weit anzulegen, alle Beschäftigungen miteinander zu verknüpfen. Dürfte ich mich darin gehen lassen, so würde ich mit dreißig Jahren gewiß äußerlich nicht ein Haar mehr geleistet haben als jetzt. Es ist vielleicht ein Glück für meine Natur, daß ich gezwungen bin mit den endlosen Fragen abzubrechen und mich in einem bestimmten Stoff fest zu beschränken, sodaß ich meiner Neigung, alle möglichen allgemeinen Fragen darin zu sehn, widerstehe. .|.|. Heute waren wir wieder draußen zu Tisch und werden den Abend spatzieren gehn und den Don Karlos auslesen. Ich dränge jetzt sehr zum Schiller lesen, da er mir durch seine philosophischen Abhandlungen, die ich zu einem Zwecke lesen mußte, wieder ganz aufs Neue lieb geworden ist. Haym’s Humboldt2 spricht auch darüber trefflich. Habt Ihr Euch denn das ausgezeichnete Buch verschafft? Ich kenne keinen Charakter, der so für meine innerste Natur und innerstes Streben Ideal wäre, wie Wilh[elm] von Humboldt. Nur ein wenig von dem, was er für Erforschung des Wesens der Sprache gewesen ist, möchte ich für die Religion werden, wenn mir der Himmel noch dreißig Jahre zu leben vergönnt. .|.|. Herzliche Grüße an alle allesamt und, liebster bester Vater, an Deinem Geburtstag gedenke in freundlicher Liebe Deines Wilhelm Himmelfahrtstag Nachmittag. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 42; Teilabdruck in: Das Elternhaus. Briefe großer Deutscher. Gesammelt und eingeleitet von H. Roch. Berlin/Wien 1944, S. 316 f. 1 Der Himmelfahrtstag fiel 1859 auf den 2. Juni; in JD ist der Brief datiert auf „Anfang Juni“. 2 Rudolf Haym (1821–1901): Philosoph und Literarhistoriker; 1858–1864 erster Hg. der 1858 neu gegründeten Preußischen Jahrbücher. Berliner Monatsschrift für Politik, Geschichte und Literatur, 1860 a. o. Prof. und 1868 o. Prof. in Halle. – Wilhelm von Humboldt. Lebensbild und Charakteristik. Berlin 1856.

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[61] Dilthey an seinen Bruder Karl Liebster Karl Die letzten Lebensspuren, die ich von Dir bekommen habe, waren 2 Antiquariatsverzeichnisse. .|.|. Von mir ist wenig zu sagen, was Du Dir nicht denken wirst. Eben ists hier ein wenig einsam. .|.|. Mit Wehrenpfennig verkehre ich nicht mehr so viel. Unsere harten Köpfe stoßen zu oft widereinander; da wir in politicis verschiedener Ansicht sind, oder wenigstens verschiedener Empfindungen, hats manchen derben Kampf abgesetzt. Doch haben die neueren Ereignisse ihn etwas in seiner Friedenspolitik und seinem Stockpreußenthum schwankend gemacht. So sind wir denn ein gut Stück verträglicher geworden. Und wenns gar Friede giebt,1 so werden wir wohl auch unsern Frieden völlig machen. Die letzte Woche, daß Usener hier war, ist Hanow2 dagewesen. Mir – muß ich sagen – hat er diesmal weniger gefallen. .|.|. Ich fange an, diesen Ritschlianern mit ihrer Methode, Kritik und Latein-Sprechen als A und O – gegenüber sehr mißtrauisch zu werden. Ich habe deren jetzt doch vier, fünf von den Besseren gesehen; aber mit Ausnahme des esoterischen Selbstgefühls über ihre Kritik bekommt man nichts Gescheutes aus ihnen heraus. Usener natürlich ausgenommen, der auch kein Ritschlianer ist, sondern immer mehr eine sehr entschiedene Vorliebe für das Sachlich-Historische bekommt. .|.|. Was nun meine Arbeiten angeht, so weißt Du ja, daß sie sich um zweierlei bewegen: 1. die Preisaufgabe über die Bedeutung der Schleiermacherschen Hermeneutik im Verhältnis zu den früheren; 2. die historische Arbeit über die Emanationssysteme der 3 ersten Jahrhunderte oder wie sie dann gefaßt wird. Mit der ersten habe ich jetzt seit 8 Tagen ordentlich angefangen, nachdem ich vorher das eine und andre nachlas und überlegte, wie es die Gelegenheit gab. Es handelt sich natürlich nicht nur um das Buch von Schleiermacher,3 ja es kann sich nicht einmal an erster Stelle darum handeln, sondern um die Methode in dem Schleiermacherschen Platon und seinen exegetischen kritischen Schriften übers Neue Testament. Diese soll gewürdigt werden in der Entwicklung der Methode der biblischen Philologie. Natürlich, daß man also auf die ganze frühere Entwicklung zurücksehen muß! Und ich benutze diese Notwendigkeit zugleich als eine Gelegenheit, meine kirchenhistorischen Kenntnisse nach dieser Seite aus den Quellen zu vervollständigen. Besonders interessirt mich in dieser Beziehung die Entstehung der allegorischen Interpretation, welche bis zur Stoa zurückreicht und von der Krates von Mallos4

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ein merkwürdiger Vertreter gewesen ist. Das schlägt zugleich in meine andre Arbeit ein. Denn bei dieser ist nun doch mein Herz, obgleich ich sie für den Augenblick bei Seite liegen lasse. Es handelt sich da um die Darstellung einer Gruppe von Systemen, welche durch das Schema der Emanation mit einander verbunden sind. Das grundlegende ist offenbar das philonische. Dann kommt ein Theil der sog. gnostischen, das clementinische, das des Origines und des Plotin. Ob ich nun diese ganze Entwicklung bewältigen werde oder vorläufig nur einige Punkte hervorheben, die besonders Philo und die Gnosis angehn, weiß ich noch nicht. Es kommt darauf an, wieviel Zeit mir die vorhererwähnte Arbeit kosten wird und wie viel Schwierigkeiten ich noch in dieser finden werde. Denn die Verworrenheit der Schriften und die Verschiedenheit der Tradition legen auf jeden Schritt Hindernisse in den Weg. Die größten freilich meine eignen Mängel. Die genaueste Kenntniß der aristotelischen und stoischen Schriften, die dazu gehört, habe ich eben immer noch nicht, so viel Zeit ich auch früher auf Aristoteles verwendet habe. Einige Zeit kosten freilich auch die Politica in diesen seltsamen Zeitläuften. Nicht leicht wird man wieder Gelegenheit haben, ein Stück Geschichte und zwar ein für die Erbärmlichkeit unserer Staatsmänner und Officiere so bezeichnendes vor sich abspielen zu sehn. Hier glaubt man jetzt entschieden in Zeitungen usw. an Frieden. Ich möchte aber glauben, daß Napoleon5 durch ein scheinbar sehr anständiges Anerbieten (Mailand und ein Stück Venedig aufgeben) seine Friedensliebe neu bestätigen will, da sie in Vergessenheit gerathen ist. Möglich, daß Österreich darauf eingeht; wenn –, dann ist gewiß nicht sein letztes Motiv die Katzbalgerei mit Preußen, die es zugleich mit Schließung des Waffenstillstandes so perfid am Bundestag begonnen hat und die es kräftiger fortsetzen möchte. Daß hier der beste und erfreulichste Wille, ein constitutionelles Staatsleben kräftig durchzubilden, vorhanden ist, wird Dir wieder aus Schwerin’s6 Wahl zum Minister des Innern ersichtlich sein, der ausdrücklich vom Prinzen berufen ist, um, sobald der Krieg zu Ende ist, eine Reihe liberaler Reformen mit durchzusetzen. Wehrenpfennig hat ein treffliches Mémoire aufgesetzt über die Umgestaltung der preußischen (ministeriellen) Zeitung, das jetzt Jonas, Schwerins Schwager und alter ego, diesem zu commentiren und illustriren unternommen hat. So ist Hoffnung auf Erfolg. Er denkt dabei auch an eine Stelle an der Zeitung, was er freilich nur den Freunden zugesteht. Mindestens – was er freilich niemandem als sich selbst zugesteht – hofft er dem Minister und ein paar andren Herren oben bekannt zu werden und so eine Stellung bei der Regierung vorzubereiten,7 denn die wäre ihm jetzt glaube ich lieber als eine

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Universitätsstelle. Für von Herbst ab hat er neben mir gemiethet. Sehr mutig ist er auch bemüht, eine Frau zu finden. Denn das Finden ist hier die eigentliche Schwierigkeit, besonders bei der Zurückgezogenheit, in der er bisher gelebt hat: bekommen würde er sie dann schon. .|.|. Meine halb quietistische halb mit meiner historischen Stimmung zusammenhängende Neigung, bedeutende Menschen zu beobachten und ihre inneren Zustände mir zu vergegenwärtigen, hat so immer einige Nahrung. Sehr interessirt mich jetzt auch Niedner. Er hat nur jetzt so viel zu thun, daß man ihn nicht mit Anstand zu oft besuchen kann, da er gleichzeitig mit dem Colleg zwei Jahrbücher herausgiebt,8 die ihm sehr viel zu schaffen machen. .|.|. Indeß leb wohl; vergiß nicht, gebührend die Länge des Briefs zu Hause hervorzuheben und behalte lieb Deinen treuen Wilhelm Berlin d[en] 13. Juli 1859 Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 43. 1 Im Frühjahr 1859 brach ein Krieg zwischen Österreich und Frankreich-Sardinien aus, in den Preußen fürchtete, verwickelt zu werden. Doch am 8. Juli wurde ein Waffenstillstand geschlossen. 2 Nicht ermittelt. 3 Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen herausgegeben von Friedrich Lücke. (Friedrich Schleiermacher’s literarischer Nachlaß. Zur Theologie. 2. Bd.). Berlin 1838. 4 Krates von Mallos (gest. um 145 v. Chr.): griech. Philosoph und Grammatiker. 5 Napoleon III. (1808–1873), seit Dezember 1852 Kaiser von Frankreich. 6 Maximilian Graf von Schwerin-Putzar (1804–1872): Jurist und Politiker; 1859–1862 preuß. Innenminister; Schwiegersohn Schleiermachers. 7 W. Wehrenpfennig wurde erst 1868 Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses mit einem Mandat der Nationalliberalen Partei. 8 Hg. der Zeitschrift für historische Theologie; die Herausgabe einer zweiten Zeitschrift ist nicht nachweisbar.

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Dilthey an seinen Vater

[62] Dilthey an seinen Vater Liebster Vater

[Sommer 1859]

Da der Vetter über Frankfurth zu Euch reist habe ich mit Brief nebst Einlage darauf gewartet. Der letzteren wirst Du es wohl ansehn, wie sauer sie mir geworden ist und wie jedes Wort heraufgepumt werden musste. Drei Wochen unter andren Leuten in andrer Thätigkeit ändern den ganzen Gedankenkreis: aber hinter dem Schreibtisch, auf dem Humboldts Einleitung in die Kawisprache,1 Plotin’s Enneaden2 u. drgl. liegen, läßt sich das nicht machen. Herr Baumeister Willett ist dagewesen und ich habe redlich mit ihm Museum Charlottenburg und Liebigsches Concert durchgemacht. Ich war froh, einen Landsmann zu sehn und zu sprechen: aber es war doch eine unergiebige Anstrengung. Im Museum hatte ich einmal wieder an dem Vergleichen einen rechten Ärger. Das Museum sollte nun partout so gut wie das Münchener sein: diese Blasirtheit, die allerlei gesehen hat und doch nichts verstanden, nicht einmal was zu genießen im Stande ist, ist fürchterlich. Die Concertmusik im Freien sollte durchaus in einen Saal gehören; sollte für ein so großes Publikum nichts sein. Alle großen Häuser aber sollten eigentlich in Sandstein gebaut sein und es war wirklich eine Art von Berliner Schwindel, daß die Erde hier blos Backsteine hervorbringt. Vorgestern ist er nach Hamburg gereist. Dafür habe ich mich gestern Nachmittag auf einer ganz herrlichen Tour mit Wehrenpfennig u Müller in Potsdam erbaut. Wir fuhren im Kahn von Schloß zu Schloß, badeten Babelsberg gegenüber in dem herrlichen Wasser – ich habe seit mancher Woche so keine Erfrischung gehabt, wie durch dieses anmuthige Landschaftsbild. Wäre die Sache nur nicht so entsetzlich theuer! Vor vierzehn Tagen war ich auch mit Nitzsch’s Familie zu einer sehr schönen Landparthie eingeladen. Wir fuhren nach Tegel und ließen uns da am See nieder. Die Mädchen sangen gar schön und wir waren dann in Nitzschs Garten noch bis Abend spät beisammen. Jetzt sind die Mädchen in Hamburg bei Wicherns und die übrige Familie wird auf ein paar Wochen in die Nähe von Greifswald ins Bad gehn. Jonas ist lange in Karlsbad. Der junge Hoffmann ist zu seinen Eltern in den Harz gereist, die sich da förmlich mit Sack und Pack angesiedelt haben. Aller Familienverkehr ist mir also ausgegangen, da Trendelenb[urg] zwar noch hier ist, die ganze weibliche Abtheilung aber in Holstein. Usener sitzt den ganzen Tag hinter seinem Programm; auch ich bin fleißig genug, sodaß ich hoffen kann bis zum 20ten dies[e]s Monats wo die Bibliothek auf 3–4 Wochen geschlossen wird mit meinen Arbeiten Schicht machen zu können.

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Dilthey an seinen Vater

Wenn ihr mich nun im Herbst zu sehen wünscht, so wäre das die günstigste Zeit. Ihr mögt Euch das alle überlegen und recht bald erwarte ich eine Zeile, was Du darüber hältst und beschließest. Ich müßte mich eben doch darauf einrichten mit meinen Arbeiten und je früher ich Nachricht bekomme desto eher kann ich es. Freilich hängt auch das wohl von Euren Reiseentschlüssen ab, die wie es scheint noch nicht fest genommen sind. Ich selbst sehne mich gar sehr nach Euch und besonders danach, einmal wieder mir Dir und der guten Mutter ein paar recht heitere Wochen zu verleben nach des Sommers Last und Arbeit. Wie viel habe ich auch über hießige Verhältnisse und Zustände, über Freunde und Bekannte und über der Welt Lauf mit Euch zu plaudern! Habe ich doch jetzt den ersten größeren Abschnitt hinter mir, in dem ich in ruhiger Freiheit so interessante öffentliche Begebenheiten als der Umschlag der Zustände in Preußen und der italienische Krieg waren verfolgen konnte. Solche Erscheinungen lehren, die Geschichte mit ganz neuen Augen ansehn. In Bezug auf diese Richtung der Gedanken wäre es mir – was mir ohnehin um Wehr[enpfennig]’s willen lieb wäre – besonders erwünscht, wenn derselbe bei einem Zeitungsunternehmen eine Stellung erhielte – überhaupt in irgend eine publicistische Stellung3 einträte: ich wäre im Stande die Verhältnisse noch weit näher zu sehn. Die Nitzsch[’]sche Zeitschrift ist in eine bedenkliche Schwankung gerathen: Der Verleger wünscht daß Hollenberg die Redaktion abgebe4 und hat bei Nitzsch über einen anderweitigen Redakteur angefragt. N[itzsch] hat an Wehr[enpfennig] oder mich gedacht: ich habe aber gleich definitiv erklärt daß ich jetzt mich damit nicht zerstreuen könne. Wehr[enpfennig] hat für den Fall daß er im Winter heirathete – eine Braut ist übrigens noch nicht da, auch nicht einmal ein Wunsch (von dieser Eventualität ja nichts bei Laz[arus]) – wohl Lust dazu: sonst wird ers nicht thun. Laz[arus] sind in Kreutznach gewesen, nach ihrem letzen Brief aber werden sie nach Nauheim gehn, weils ihnen in K[reutznach] sehr mißfallen hat. Dann kommen sie wohl bei Euch vor. Vorkommen wollen sie auf jedenfall; nur über das wann, wussten sie noch nichts Bestimmtes. Vorgen Sonntag wäre ich beinahe mit Beth[mann-] Hollweg auf eine unliebsame Weise bei Nitzschs zusammengetroffen. Ich hatte den Morgen gesagt daß ich kommen wolle; nun ließ sich Beth[mann-] Hollweg auf den Abend ansagen nebst Tochter. Wie denn aber Nitzschs von einer merkwürdigen naiven wissenschaftl[ichen] Liberalität sind, fiels ihnen nicht ein, mir darum abzuschreiben, da’s einmal ihr offener Abend ist. Ich kam also mit grauer Hose und Rock und stand eben mit dem jung[en] Nitzsch unter der Thür des Gesellschaftszimmers, als mir einfiel nach seinem Bruder zu fragen, der noch oben war. Der sagte dann: B[ethmann-] H[ollweg] würde auch dasein

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und war ordentlich verwundert als ich sagte, daß es von ihnen sehr liebenswürdig wäre, mir darum nicht abzuschr[ei]ben, aber von mir unschicklich sein würde, die Vertraulichkeit des Familienverkehrs zu stören. Von Karl habe ich eine ausführliche Antwort auf meinen vorgen Brief bekommen.5 Sehr fatal ist, daß es mit seinem Studentenverkehr da so dünn aussieht: indeß scheint ja der Verkehr mit den Docenten ihn dafür zu entschädigen. Er hat in diesen Tag[en] Lübbert,6 der von hier dahin gegangen sich zu habilitiren, exponiert. Hoffentlich hat er an dem, einem außerordentlich gelehrten u scharfen Menschen, der freilich leider aller geselligen Formen ja aller Formen des Verkehrs unkundig u so bescheiden ist, daß es den Umgang fast unmöglich macht, doch einen neuen Anhaltspunkt. Ob er je Ritschls Seminar wird genießen können ist mehr als zweifelhaft. Der arme Mann ist eben hier, die berühmtesten Arzte zu konsultiren. Es haben sich so furchtbare Schmerzen an den Zehen eingestellt, daß er seit Monaten nicht liegen noch stehen konnte, sondern auf dem Sessel schlief. Die Ärzte hielten dies nun in Bonn für den Anfang eines Rückenmarksleidens, für das auch sonst Symptome da wären. Hier halten sie dies für noch nicht ausgemacht und rathen deßhalb von dem Brennen des Rückengrads zur Belebung des R[ücken] M[arks], ab. Es ist ein beklagenswerther Fall und an ein Lesen wird schwerlich sobald wieder zu denken sein. Jahn7 übernimmt das Seminar, ist aber wie Usener sagt, der dort war, vorläufig noch sehr unbeholfen. Wachsmuth8 ein Freund Usener’s ein höchst begabter Mensch, der dort mit umfassenden Arbeiten über die alex[andrinischen] Philologen9 beschäftigt war, hat sich durch Überarbeitung epileptische Anfälle zugezogen. Schreibt doch dies beides Karl da ich nicht sobald schreiben werde: weiß ich noch nicht wo er sein wird. Er schreibt, daß er sich sehr nach Euch sehne, aber lieber dort u. im Gebirge arbeiten möchte. Er fragt an, wie wir uns treffen könnten, was, auch wenn er dort bliebe, im Falle, daß ich zu Euch komme, auf der Rückreise sich leicht wird bewerkstelligen lassen. Büsgen10 reist auch ab und fragt vor, was etwa mitzunehmen sei: ich ziehe aber vor den Brief dem lieben Vetter, der wirklich ein trefflicher Mensch beiläufig gesagt ist – er kann Euch auch von dem fabelhaften Müllerschen Banquerutt erzählen11 – mitzugeben. Büsgen ist gar zu fahrig und kindisch noch, als daß ich ihm hier viel hätte nutzen können. Verstand hat er sonst recht viel. – Schreibt mir doch ob wohl Marichen wirklich in Hadamar ist: ich schreibe dann an sie u Grosmutter zugleich hin. Für ihren langen u. gar lieben Brief schönen Dank.12 Mit meinen Wirthsleuten bin ich fortdauernd sehr zufrieden. Nur dadurch, daß ich so weit und kühl wohne bin ich im Stande bei dieser Hitze, – von der Ihr bei Euch keinen Begriff habt – ordentlich zu arbeiten.

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Dilthey an seinen Vater

Ich muß schließen, um den Brief dem Vetter noch zu überbringen. Büsgen war eben da, er hatte einen Brief von Karl gekriegt dem’s gut geht. Ich erwarte also baldigst irgend eine Zeile mit Bescheid. Herzliche Grüße an alle. Lebt wohl und behaltet lieb Euren Wilhelm Freitag Mittag 6 Uhr. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 a; Erstdruck mit Faksimile der ersten Seite in: WD, Nr. 33. 1 W. von Humboldt: Ueber die Kawi-Sprache auf der Insel Java, nebst einer Einleitung über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts. 3 Bde. Berlin 1836–1840. 2 Plotin: Enneades. Erstdruck Florenz 1492. 3 Im Original: „publicicistische Stellung“. 4 Die Deutsche Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben war 1850 von K.I. Nitzsch u. a. in Berlin begründet worden; Hg. war zunächst K.F.Ch. Schneider, später W.A. Hollenberg, der es bis in die 1860er Jahre hinein blieb. 5 Nicht überliefert. 6 Friedrich Wilhelm Eduard Lübbert (1830–1889): klass. Philologe und Archäologe; 1859 PD in Berlin, 1871 o. Prof. in Gießen, 1874 in Kiel, 1880 in Berlin. 7 Otto Jahn (1813–1869): Archäologe und Philologe; 1842 a. o., 1845 o. Prof. in Greifswald, 1847 in Leipzig, 1855 in Bonn. 8 Curt Wachsmuth (1837–1905): klass. Philologe und Althistoriker; 1860 für ein halbes Jahr Lehrer am Joachimsthalschen Gymnasium, 1864 o. Prof. in Marburg, 1868 in Göttingen, 1877 in Heidelberg, 1886 in Leipzig. 9 C. Wachsmuth: De Timone Phliasio ceterisque sillographis graecis. Leipzig 1859. 10 Ferdinand Büsgen: Philologe und Gymnasiallehrer. 11 Bankrott. 12 Nicht überliefert.

[63] Dilthey an Hermann Usener [Ende August 1859]1 Es wäre unmöglich, liebster Usener, auf heute, Donnerstag die Sache zu arrangiren. Joachim hat sich nach Mainz angesagt um 12 Uhr – auf rascher Durchreise von Bonn nach Hannover – und da war sehr fraglich obs noch Zeit wäre hierher zu fahren. So geh ich denn nach Mainz zu Tische und mor-

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Dilthey an Hermann Usener

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gen erwarten wir Dich u. Scholzens hier bei uns nach Tische. Also morgen, Freitag! Kannst Du, so halte Dir auch die Möglichkeit einer Rheinfahrt den Samstag offen; Montag reisen Scholzens schon nach Hannover. Besten Gruß von Allen, den allerbesten von Deinem Dilthey Donnerstag Morgens Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g. 1

Ende August siedelte B. Scholz mit seiner Frau nach Hannover über.

[64] Dilthey an Bernhard Scholz [Vor Weihnachten 1859.]1 Nur ein vorläufiges Wort, lieber Scholz, damit Du nicht vergebens auf Antwort wartest. Ganz ausgelassen macht mich die Aussicht, einmal wieder recht gründlich und lustig mit Dir zu plaudern, und das an Deinem häuslichen Herd. Ich werde also der Einladung Deiner lieben Hausfrau, trotz aller Remonstrationen,2 welche mein anderes Ich, der Pedant in mir, der bereits über das nächste halbe Dutzend Monate disponirt haben will, mir hat machen wollen, gern Folge leisten. Aber das Wann? Auf Weihnachten erwarte ich meinen Bruder hier, wenn der Arzt das Reisen für gut für ihn hält; denn er hat sich 3 Wochen mit einem Magenkatharr herumgeplagt und da er in Breslau3 ganz ohne ihm passenden jüngeren Verkehr leben muß, hier aber zwei philologische Freunde, Usener u. Hof[f]mann, gern für ein paar Tage sich mit ihm beschäftigen, so möchte ich ihm gern das Vergnügen machen. Wann er kommt, darüber dachte ich nun gestern oder heute früh sicher Nachricht zu bekommen und verschob daher die Antwort. Jedenfalls aber kommt er, so daß er auf das Weihnachtsfest da ist. Hübsch wär’s nun, könnte ich auf den Neujahrstag bei Dir sein und vielleicht, daß sich das so macht; da könnte ja wohl auch Glaser4 herüberkommen. Denn mit Weihnachten wirds nun eben auf keine Weise gehn. Sobald ich also mit ihm darüber eingerichtet bin schreibe ich. Die Grüße der Frau Capellmeisterin, Direktorin der Singakademie, demnächst Inhaberin sämmtlicher hannov[erschen] Haus[-] u. Verdienstorden er-

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Dilthey an Bernhard Scholz

gebenst in der Lazarei auszurichten, wird erst heut möglich sein. Denn eben erst wird mir hergeschickt, daß sie gestern endlich zurückgekommen sind von seinen Eltern, wo sie drei Wochen lang sehr unwohl, ja wohl krank gewesen ist. Ich schreibe daher nur rasch diese Zeile, sie auf dem Weg zur Post zu bringen, weil ich nicht weiß, ob ich nicht dort zu Tisch sein werde. Daß die Frau pp. etc. übrigens meine Bewunderung der bewussten kleinen Dame5 in Betreff der Aufrichtigkeit im voraus verdächtigt, ist Unrecht, da es die Unbefangenheit meiner Bewunderung nothwendig beeinträchtigen muß. Mit der Oper6 – das ist ausgezeichnet. Bist doch ein Romantiker, wie classisch auch Deine Fugen sein mögen, – wenn Du welche zu machen Lust hast. Und auch die ächte, perlende, jubelnde Heiterkeit, die was so Großes u. Schweres, als alles Schwerste in der Kunst ist – die Armuth der Kunst hieran in allen Gebieten zeigt es – wird Dir gelingen, wie sie denn zur Romantik wesentlich gehört. Darüber möcht ich überhaupt Vieles mit Dir reden; ich bin eben mit der Herausgabe des von Jonas vorbereiteten letzten Theils des Schleiermacherschen Briefwechsels7 etc. beschäftigt, der hauptsächlich mit den Schlegels geführt wird u. ganz im Kreise der Romantik sich bewegt. Und so hab’ ich denn viel von diesen Dingen lesen müssen u gern gelesen. Also hoffentlich bald mündlich und von Angesicht zu Angesicht. Wenn Dir aber eine Zeit weniger paßt als die andre, so musst Du mir das nur rund heraus schreiben. Inzwischen mit herzlichem Gruß an Deine Frau und die kleine Dame Dein Dilthey. Donnerstag Original: Hs.; HLB Wiesbaden, HS 341 (2); Erstdruck (mit Auslassungen): BDSch, Nr. 2. 1

Die Datierung wurde von der Hg. von BDSch vorgenommen. Einsprüche, Einwände. 3 D.s Bruder Karl studierte derzeit in Breslau klass. Philologie. 4 A. Glaser lebte damals in Braunschweig. 5 Gemeint ist die Tochter von L. und B. Scholz, Helene Charlotte, die am 18. September 1859 geboren wurde. 6 Scholz hatte vor, eine Oper zu komponieren, deren Text sein Cousin A. Glaser verfassen sollte (vgl. BDSch, S. 448, Anm. 2). 7 Vorbereitung des III. Bandes von Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, den Dilthey nach Jonas’ Tod (1859) 1861 allein herausgab: Schleiermachers Briefwechsel mit Freunden bis zu seiner Uebersiedelung nach Halle, namentlich der mit Friedrich und August Wilhelm Schlegel. 2

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Dilthey an seine Schwester Marie

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[65] Dilthey an seine Schwester Marie Liebstes Mariechen!

Weihnachtsabend (1859, Berlin)

.|.|. Ich komme eben von Niedner zurück, und da bei Lazarus’ erst um 7 Bescherung ist, so wollte ich die halbe Stunde zum Briefanfangen nutzen: in Hannover schreib ich dann fertig. Zumal da mir zum Arbeiten zu wunderlich zu Muthe ist. Nächst Eurem Nichtsverlautenlassen trägt dazu Niedner am meisten bei. Der seltsame Mann denkt glaube ich den ganzen Abend nicht daran, daß Heiligabend ist. Er besorgt sein Manuskript, jammert über die Besuche, die er zu Neujahr werde machen müssen und morgen und übermorgen, und plagt sich mit theologischen Schrullen. En passant erzählte er, was er für reiche Heirathen hätte thun können, mit 30 000 und drüber. Mir grauste ordentlich vor dieser armseligen und verzerrten Existenz, sodaß ich ihm auf seine theologischen Narretheien ganz heftig antwortete und machte, daß ich fortkam. Sonntag [25. 12. 1859] Heut schreib ich vor Tisch auch noch eine Zeile. Ich war bei Nitzsch in der Kirche, hab mir dann die Weihnachtsbescheerung bei Nitzschs angesehn, einen Dialog Steinthals über die semitische Religion,1 den ich gern vor meiner Abreise lesen wollte, im Manuskript verschlungen und habe nun noch ein paar Minuten zu Tisch. Freilich ists mit Weihnachten diesmal draußen nichts. Gestern abend bekam Frau Dr. grade vor der Bescheerung heftige Beklemmung, sodaß keine rechte Heiterkeit drin war; wir konnten nur ein Viertelstündchen drüben bei ihr sitzen. Ich hatte ihr den Raphaelkopf, einen kleinen Kupferstich, gekauft und sie schenkte mir die prächtige Ausgabe des Sophokles von Herrmann2 und den kleinen Thorwaldsenschen Ganymed3 wie er den Adler tränkt; ein Lieblingsding von mir, aber allerdings ists eigentlich Üppigkeit, denn das kaum handhohe Ding kostet 4–5 Thaler. Usener hat mir ein sehr seltenes Buch über die Scholastik, Tribechovius,4 geschenkt. .|.|. Hannover d[en] 31. December 1859 Seit dem zweiten Feiertag bin ich hier und schon sehr behaglich. Das Wetter war gut; ich kam zu Tische an; Scholz erwartete mich an der Bahn; er wohnt dicht dran. Nun kannst Du Dir vorstellen, daß ich hier gar heitere prächtige Tage verlebe. Morgens wird ein paar Stunden gearbeitet. Scholz geht oft zur Probe; seine Frau hat bis 11 bei dem kleinen Mädchen, das allerliebst ist, zu thun. Dann wird geplaudert, um 1 Uhr spatzierengegangen, um 2 gegessen. Zum Dessert erscheint die kleine „Schnitz“5 und beträgt sich sehr

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Dilthey an seine Schwester Marie

liebenswürdig. Nach dem Kaffee machen wir zumeist Musik, resp. ich höre zu, wie welche gemacht wird. Ich habe prächtige Lieder kennen gelernt und Mariechen will ich einiges davon mitbringen, besonders von Heuchemer6 und Schubert. Abends sind wir im Theater oder sonst was; gestern Abend war der berühmte Geiger und Componist Joachim, der mit Scholz befreundet ist, hier und spielte. Er ist ein gar liebenswürdiger Mensch. Auch der Porträtmaler Kaulbach7 war da. Wie habe ich Mutterchen herbeigewünscht, daß sie Joachim gehört und gesehn hätte! Und auch beim Singen! Soeben nun sitz ich neben Bernhard, der den ersten Akt seiner neuen Oper, welcher jetzt fertig ist und in dem prächtige Sachen sind, instrumentirt. Er ist hübsch eingerichtet; seine Wohnung ist nicht groß, aber sehr niedlich und behaglich. Bernhard ist ganz der alte, nur männlicher, seine Frau von Herzen gut und gescheidt und liebenswürdig; ihre herzliche Freude über ihr Glück kleidet sie gar gut. In summa, mir ist hier gar wohl und ich genieße einen Zipfel Familienleben nach so langem Entbehren mit großem Behagen. So liebenswürdig ich hier festgehalten werde, muß ich doch um meiner Arbeiten willen den Montag zurückreisen. .|.|. Nun nochmals Prost Neujahr! Gott segne uns alle von der Großmutter bis zum Stimbes! Und behaltet mich so lieb als ich Euch! Adieu! Euer Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 44. 1

Wohl nicht publiziert. Sophokles. Neue Ausgabe. Hg. von G. Hermann. 7 Bde. Leipzig 1830–1851. 3 Bertel Thorwaldsen (1770–1844): dänischer Bildhauer. – 1805 schuf er die Statue Ganymed, mit Jupiters Adler zu seinen Füßen. 4 Johann Tribechovius (1678–1712): Prof. der Philosophie in Jena. – De doctoribus scholasticis et corrupta per eos divinarum humanarumque rerum scientia. Liber singularis. Gießen 1665. 5 Tochter von Luise und Bernhard Scholz. 6 Johannes Heuchemer (1826–1858): Klavierlehrer und Komponist. 7 Friedrich Kaulbach (1822–1903): Maler; Neffe Wilhelm Kaulbachs. 2

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Dilthey an Luise Scholz

[66] Dilthey an Luise Scholz [Um 6. Januar 1860.]1 Endlich komme ich dazu, liebe Frau Capellmeisterin, Ihnen für die behagliche und liebenswürdige Gastfreundschaft mit der Sie mich aufgenommen haben, wenigstens schriftlich zu danken, da ich um das Vergnügen gekommen bin das mündlich zu thun. Sie werden finden, daß es ordentlich unschicklich ist wie lange ich das habe anstehen lassen. ‚Siehst Du, Schnitz‘, so werden Sie um die Zeit wo das Kindermädchen den kleinen Gegenstand Ihrer Monologe gebracht, die Köchin das Tischtuch abgenommen und einen kleinen aber durchaus nothwendigen Rüffel in Empfang genommen hat, zu dem kleinen Schelm sagen, der sich ganz in der Stille sein Theil merkt, – ‚siehst Du, Schnitz, brieffaul sind sie alle durch die Bank; darum ist’s, wie ich Dir schon oft gesagt habe, gut, bald zu heirathen, damit man seinen Mann hübsch in der Nähe habe.‘ Der Bär2 aber in der Kanapee-ecke, der eben zu einem letzten Glas Wein eine der letzten Brenden3 in wehmütiger Behaglichkeit aufspeist, nickt dabei verständnißinnig mit dem Kopf und macht dann einige kleine Vorstudien im väterlichen Mittagsschlaf, in welchem ihm Frau und Schnitz, Briefe, Berlin und so Gott will auch meine kleine Wenigkeit in einem angenehmen Wirrwarr durcheinandergehen; die Notenköpfe laufen ihm über seine schönen Briefe nach Mainz, die Schnitz ist sehr lang geworden und theilt eine Menge Körbe aus. Lassen wir ihn also so angenehmen Träumen nachhängen; ich erzähle Ihnen unterdessen von meiner Reise und wie ichs hier gefunden. Wie wunderlich war mir’s wieder zu Muthe, als die Eisenbahn mich so unaufhaltsam schnell wieder hinwegführte, ja schon vorher, den Abend vorher und sonst! Wenn ich so auf Minuten unter der Arbeit mich zu den Freunden träume, empfinde ich auf das lebhafteste, wie gar viel ich von Herz zu Herzen zu ihnen zu reden hätte. Wenn ich dann ohne alle Hemmung der Mittheilung unter ihnen leben darf, will ich das rechte heiter aufschließende Wort nicht finden; und im Unmuth über mich selbst wünsche ich mich zu meinen stummen Freunden zurück, deren stilles Zwiegespräch mich nun doch einmal für den geselligen Verkehr verdorben hat. Und so war mir’s nun auch wieder diesmal als ich so davonfuhr, als ob ich mich abermals zu wenig den Freunden zu erkennen gegeben hätte, als wären wir uns nicht genug gewesen. Wie oft habe ich mir in den Tagen unsres Zusammenseins Ihre offne und heitre Art sich darzustellen gewünscht!

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Dilthey an Luise Scholz

Freitag, d[en 20.] Jan[uar]4 Bei diesem nachdenklichen Gegenstande verfiel ich – es mögen etwa vierzehn Tage her sein – in ein langes u. tiefes Nachsinnen, dessen Ende das gewöhnliche war, daß ich mit dem Schreiben abbrach, einen alten Tröster hervorholend. Nun da ich endlich nach vielerlei Störung – mein Freund Usener war die Zeit über sehr unwohl – endlich wieder zum Schreiben komme, weiß ich wirklich nicht wovon zuerst erzählen? von meiner Reise? oder meiner jetzigen Existenz hier? Also wie ich so in der Eisenbahn saß in viele Gedanken verloren, auch das eine u andre mir aufschrieb, rückte mir mein Nachbar, ein jüdischer Reisender, der auch in Litteratur machte und einen Brief an den berühmten Rodenberg5 in Berlin in der Tasche hatte, vertraulich mit der Frage näher: ich sei wohl ein ‚Schriftsetzer‘? Es war keine Frage, daß ich es mit einem Mitglied jener weitverbreiteten junggermanischen Schule6 oder Schule germanischer Jungen zu thun hatte, welche Zeitungen unsicher machen, Schriftsteller auf Landstraßen u in Häusern anfallen und durch Talg- und Thranreisende ihre Verbindungen bis nach Sibirien und Grönland ausdehnen. Aber der Gute war offenbar noch ein Neuling in diesem Nebengeschäft. So hatte meine zutrauliche Frage, ob es in Hannover denn auch Junggermanen gäbe den überraschendsten Erfolg. Das Schamgefühl siegte über den literarischen Ehrgeitz; er leugnete beharrlich u. zog sich in düsteres Schweigen zurück. So kam ich denn unangefochten bis Braunschweig, fand Glaser bereit mit nach Wolfenbüttel zu gehn, sah die Bibliothek,7 deren grimmiger Kustode durch meinen Brief gar nicht berührt zu werden schien, eher durch Glasers Gegenwart. Da wir noch anderthalb Stunden Zeit übrig hatten, besuchten wir Corvinus.8 Eine rechte Studenteneinrichtung; u auch sein Ton und Behaben ganz danach. So bestimmt er offenbar in sich ist, so gut lässt sich mit ihm reden. Er scheint sich in seiner Haut unsäglich wohl zu fühlen u. theilt jedem Gast etwas von seinem realistischen Behagen mit. Den Eindruck des Bedeutenden macht er nicht. Keineswegs daß ich verlangte, er hätte da mit allerhand Außerordentlichem auspacken sollen. Ich meine seine Erscheinung u den Eindruck der Rede. Nur den des scharfen Beobachters. Hier in Berlin fand ich nun Frau Dr. Lazarus anhaltend sehr unwohl. Es ist ein unbegreiflicher Zustand! Eine unbesiegbare Schwere in den Gliedern macht ihr das Gehen unmöglich; die Anspannung der Nerven steigert sich oft bis zu den heftigsten Beengungen. So geht es nun doch schon anderthalb Monate ohne Wechsel von Belang. Eine heftige Erkältung meines Freundes Usener, vielleicht auch Überanstrengung – er bereitet sich zu ‚einem Jahr in Italien‘ vor – nahm mich auch etwas mit. Und seit beinahe 8 Tagen befinde ich mich in unleidlichen Zuständen der Schlafsucht u Müdigkeit. Wie ich gestern bei einem großen Diner beim Generalsuperintendenten Hoffmann9

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Dilthey an Luise Scholz

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einer anmuthigen Hofdame, Gräfin Kanitz10 gegenüber beinahe auf meinem Stuhle einschlief, sah ich denn doch daß es hoch Zeit war was zu thun und bin heute nicht nach der Bibliothek gegangen sondern medicinire. Das scheint mir denn auch ziemlich gut zu bekommen. Wenigstens hat der Wächter schon elf Uhr gepfiffen, ohne daß mich der Schlaf quälte. Von diesem Leidwesen abgesehn fühle ich mich eben unter meinen Büchern so glücklich, daß ich nur ungern mehr als etwa einmal die Woche meinen behaglichen häuslichen Thé Abends aufgebe. Wenn ich aber einmal drüber wegdenke an einen andren Thétisch, so ists zumeist der kleine in Hannover, an dem Sie so behaglich die Wirthin machen. Sonnabend d[en] 28ten Januar. Heut aber lege ich mich gewiß nicht zu Bette, ehe ich nicht meinen Brief an Sie beendet habe, ob es gleich schon auf 12 geht. Das soll mein Wochenschluß und wenn ich gleich noch ein halb Stündchen so fortschreibe, mein erstes Sonntagsvergnügen sein. Ich habe die wunderliche Weise, mit Briefen als mit einem Vergnügen immer darauf zu warten, wenn ich einmal ein freies Stündchen hätte. Darüber kann aber jemand alt werden und sterben. Entweder ich habe zu thun oder ich kann eben nichts thun; dann kann ich auch nicht schreiben. Kurtz ich könnte eigentlich mathematisch beweisen daß ich überhaupt gar keine Briefe zu schreiben angehalten werden darf. Trotz dieser mathematischen Überzeugung quält mich doch so oft ich an Sie denke, der Gedanke, daß Sie mich gewiß mindestens für recht wunderlich oder nachlässig halten mit meinem Nichtschreiben. Nur das beruhigt mich, daß ich gewiß glaube, Sie verstehen sich doch schon ein wenig auf mich; und da wissen Sie denn doch, wie oft meine Gedanken am Klavier in dem kleinen Arbeitszimmer des Kapellmeisters waren und wie schwer es hält, daß aus meinen Gedanken Worte werden – das haben Sie ja leibhaftig vor sich gesehen – geschweige denn Buchstaben. Wissen Sie denn, daß Ihre Schubertschen Lieder mir alle Lust zum Gesang der hießigen Damen verdorben haben? Ich muß eben auf den Sommer hoffen, wo ich sie hoffentlich alle wieder zu hören bekomme. Es ist wirklich traurig, daß so viel dazu nöthig ist, ein verständiges Lied verständig zu singen. Der kleine musikalische Hausbedarf wird einem ordentlich sauer gemacht zu erwerben. Hier bemerke ich für den Bären, der nachgerade wach sein kann, daß Bruns11 über die Grüße sehr erfreut war12 und sich eifrig nach ihm erkundigte. Auch nach Joachim fragte er. Apropos daß Sie mir ja von dem schreiben. Es ist seltsam, der Gedanke an ihn beschäftigt mich öfter, als der an wie ich glaube weit bedeutendere Menschen. Sie können ihm erzählen, daß Jakob Grimm eine wunderschöne Abhandlung ‚über das Alter‘ in der Akademie

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Dilthey an Luise Scholz

vorgelesen hat,13 die freilich jedenfalls bald im Druck erscheinen wird. Hast Du denn Joach[im]’s ‚hebräische Melodien‘ durchgesehen und was hälst Du davon? Ich habe vor ein paar Tagen in einer Sternschen Probe14 einen Chor aus dem Idomeneo15 [gehört], ganz à la Furien-Orpheochor – deino´n ti16 – ein ganz gewaltiges Werk. Dabei Gadesches Lamentabile17 – Erlkönigs Töchter,18 nach dem Text der dänischen Ballade, mit unzähligen Tonleitern, die Wind vorstellen. Montag kommen hier Heyse’s Sabiner[innen]19 in Sicht, jedenfalls mit nicht viel mehr als Anstandserfolgen. Noch im Winter no 2 von Heyse: Elisabeth Charlotte,20 ein Stück aus dem Zeitalter Louis XIV, also wohl eher was für ihn. Inzwischen ist Frau Dr. Laz[arus] noch immer sehr unwohl, er unwohl, auch ich noch, was die Franzosen maussade21 nennen, wenn ich nicht irre. Ich habe eine unaufhörliche Schlafsucht, wie ein überwinternder Hamster; Abends erhält mich nur der Thé. Wehr[enpfennig] ist eben an den letzten Seiten der Broschüre, welche Ende nächster Woche ausgegeben wird.22 Mommsen interessirt sich sehr dafür. Denken Sie denn noch an Ihr Versprechen mit dem Bild? Sie können doch Bernhard unmöglich zumuthen, so einsam da zu hängen, ja Sie dürfen das eigentlich gar nicht leiden. Und denken Sie: ich freue mich jetzt schon auf einen Brief von Ihnen und von Bernhard ganz in der Bälde, als ob ich ganz gewiß wüsste, daß Sie gar nichts übel nehmen könnten, was Briefschreiben, vielmehr nicht Schreiben angeht. Von Bernhard weiß ichs schon und Männern ist das auch eher gegeben. Sie sollen mich gewiß nicht – doch ich verspreche nichts, sondern benutze besser noch die letzte Zeile zu der Bitte den Schnitz recht herzlich von mir zu küssen, da ich ihr gar kein officielles Adieu gesagt habe. Leben Sie beide recht wohl u denken Sie gern an W. Dilthey. Original: Hs.; HLB Wiesbaden, HS 341 (3); Erstdruck (mit Auslassungen): BDSch, Nr. 3. 1

Die Datierung wurde von der Hg. von BDSch vorgenommen. Bernhard Scholz. 3 Printen. 4 D. schreibt: „Freitag d. 21 Jan.“ – Ein Freitag war jedoch der 20. Januar im Jahre 1860. 5 Julius Rodenberg, eigentlich Julius Levy (1831–1914): Schriftsteller, Feuilletonist; 1874 Gründer der Deutschen Rundschau. 6 Verein jüngerer deutscher Literaten in der Mitte des 19. Jahrhunderts. 7 Die Herzog August Bibliothek zu Wolfenbüttel. 8 Jacob Corvinus: Pseudonym des Schriftstellers Wilhelm Raabe (1831–1910), der in Wolfenbüttel wohnte. 9 L.F.W. Hoffmann,Vater von D.s Freund Hoffmann. 2

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Dilthey an Luise Scholz

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10 Ehefrau des Grafen August von Kanitz (vgl. Anm. 1 des nachfolgenden Briefes D.s an seine Schwester Marie). 11 Theodor Bruns: Cellist. 12 Im Original: „ware“. 13 Jakob Ludwig Karl Grimm (1785–1863): Begründer der deutschen Philologie und Altertumswissenschaft; seit 1840 o. Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. – Rede über das Alter. Gehalten in der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 26. Januar 1860, in: Kleinere Schriften I: Reden und Abhandlungen. Berlin 1864, S. 188–210. 14 Sternscher Gesangverein. 15 Oper von Mozart (Uraufführung: 1781). 16 Die Furienchöre in Christoph Willibald Ritter von Glucks Oper Orfeo ed Euridice, uraufgeführt 1762 in Wien. – Welch Schrecken! 17 Niels Wilhelm Gade (1817–1890): dänischer Komponist und Dirigent. – Lamentabile: musikalische Vortragsbezeichnung: in klagendem Ton. 18 Chorwerk mit Orchester des dänischen Komponisten Niels Wilhelm Gade. 19 P. Heyses Tragödie Die Sabinerinnen. Berlin 1859. 20 Das Schauspiel Elisabeth Charlotte (1864). 21 Mürrisch, verdrießlich. 22 Wehrenpfennigs Broschüre erschien noch 1860 in Berlin anonym unter dem Titel Geschichte der preußischen Politik unter dem Einfluß des italienischen Kriegs. Eine Kritik.

[67] Dilthey an seine Schwester Marie Mein liebstes Mariechen!

(Berlin, zum 22. Januar 1860)

Da mein Brief an die Eltern nicht weiter als der mitgehende Zettel zeigt, bis auf diesen Tag gediehen ist, so thu ich besser, ihn an Dich, Du Liebe, Alte mit einigen Zeilen, die gern Geburtstagsblumen wären, von mir selber am frischen Wintermorgen Dir gebracht, zusammenzuflechten. In wie vielfachen Stimmungen wirst Du diese Tage verleben! Geht’s doch mir und meinen Freunden nicht anders. Diese Merkzeichen des rasch verwehenden Lebens scheinen wir nur als Festtage der Unsren zu feiern, um durch Blumen und Gaben die überströmende Wehmuth über die Täuschungen des menschlichen Daseins zu sänftigen. Wie viel wohl wahr wird von den Ahnungen und Träumen, mit denen wir zuerst die uns entgegenleuchtende Fülle des Lebens begrüßen? Ich denke, wenig mehr als ächte und starke Liebe der für einander thätigen, in einander lebenden Menschen zueinander und dann – das Glück der Arbeit, des inneren Lebens. Wiewohl ich weiß, daß beide Quellen der Freude zuweilen zu versiegen scheinen, daß uns zuweilen ein Gefühl der Dürre überkommt, welches uns beinahe den Athem benimmt, denn in seiner

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Dilthey an seine Schwester Marie

tiefsten Eigenart ist jeder Mensch einsam. Wie selig es ist, wenn wir das sinnende Auge eines Freundes herandringen fühlen an unser innerstes Wesen: nur Berührung ist es, nie Durchdringung. Es ist die Dichtung der größten Philosophen, und vielleicht mehr als Dichtung, daß dieser ganze Glanz der räumlich erscheinenden Dinge die ewige Folge des Nebeneinanderseins unräumlicher, eigenartiger, unendlich vieler Wesen sei. Sie nennen sie Monaden. Indem sie sich ewig umkreisen, auf unendlich vielfache Weise sich berühren und verbinden, entsteht aller Wechsel, mit welchem uns der Augenschein umgiebt. Aber nie vermögen sie sich zu durchdringen. In ewiger Abgeschlossenheit ruht ein jedes für sich, der Spiegel der Welt, alles andere unsichtbar in sich abbildend und empfindend, dennoch für sich, starr sich abschließend in seiner Eigenexistenz. Wie dem auch sei mit den Erscheinungen dieser Welt: unsre Seele ohne Zweifel ist ein solches Wesen. Nach jeder Hingabe, auch der einer ewig vorherbestimmten Harmonie fühlt das Gemüth den Rest der Eigenartigkeit, der für sich bleibt. Wohl verknüpfen sich die Töne zu Harmonien; aber jeder bleibt für sich, sie verschwinden nicht. So wäre es denn wohl das Beste, jede Harmonie, mit der verwandte Stimmen der unsren begegnen, selig zu empfinden; zumal jene ewig vorherbestimmten, welche Gottes Wille gnädig in unser Dasein verflochten hat: daneben aber sich des eignen Klangs ruhig zu erfreuen, im eignen Thun und Sinnen sich zu genügen. Ich weiß nicht, liebstes Mariechen, ob diese Bilder und Gleichnisse Dir von dem Unsagbaren etwas ausdrücken, was ich so gern Deiner Seele tief einprägen möchte. Ich meine den Strom des eignen Empfindens hinüberleiten zu müssen in Dein liebes Gemüth. Und weiß doch, daß Du Dir nichts aneignest, als welchem die Eigenartigkeit desselben zustimmend entgegenkommt. Aber ich vertraue auf die Verwandtschaft unserer Naturen. Hat doch die liebe Frau Capellmeisterin sogar eine Ähnlichkeit im Gesicht herausbringen wollen, abgesehen natürlich davon, wie sie hinzusetze, daß Du sehr hübsch seist, ich aber doch eigentlich eher das Gegentheil. Wenn Du Dir es aber aneignest, so wäre das nächst dem, daß uns Gott die Eltern, die Summe unseres Glücks, gesund erhalte, das Liebste, was ich Dir wünschen möchte, daß Du Dir in Dir eine eigne Welt des Verstehens und Glaubens, des Sinnens und Wollens aufbauest, Dich nicht dem Geschick preisgegeben fühlest, sondern auf Dir selber ruhend; selig über jedes Zeichen der Liebe und Gemeinschaft, aber noch einmal: auf Dir selber ruhend. Wenn Dir Gott den kleinen Stimbes, an den ich nie ohne eine Mischung von Rührung und einem Lächeln denken kann, ordentlich gedeihen läßt, so gehörst auch Du auf Deine Weise zu den Begnadigten, welche einen rechten Inhalt ihres Lebens haben.

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Ich bringe Dir zum Geburtstag ein paar Lieder von Schubert und Heuchemer mit, an denen ich mich in Hannover nicht satt hören konnte. Ich hatte eine rechte Freude an dem tiefen und feinen Verstehen der Frau Scholz. Den Sylvesterabend, als sie uns beim Champagner die allerschönsten, welches gerade die traurigsten sind, sang, standen ihr die Thränen in den Augen, uns freilich auch. Eine recht liebe Frau ist es. Man muß sie freilich verstehen und ihr dann manches laute Denken zu Gute halten. Dafür kann man auch an dem meisten große Freude haben. Sie hat eine klare heitere und selbstständige Art, das Leben zu nehmen. Ein wenig geniesüchtig ist sie. Wir amüsirten uns sehr über ihre Albums berühmter Männer, von denen sie wirklich eine hübsche Anzahl eingefangen hat in Bildern, Notenköpfen und freundlichen Worten. Dann – so sehr ich ihre offne Art unsrer Verstocktheit vorziehe – zu offen, weil die Stimmung des Augenblicks sie hinreißt und sie überall ein freundliches Nehmen der Sachen, wie sie gemeint sind, voraussetzt. Doch darf man Norddeutsche zumal nicht immer auf solche Art behandeln. Denn die setzen gern bei allem Reden bestimmte Absicht voraus. Auch bei Hoffmann wurde es mir einmal wieder recht süddeutsch zu Muthe. Bei Tisch, wo ich zwischen ihm und seiner Frau saß, legte er so herzlich seinen Arm über meine Schulter und sagte mir, wie er sich freue, mich einmal bei sich zu sehen, daß mir recht süddeutsch behaglich dabei zu Sinne wurde. Seine Frau, die Schwester des jetzt nach Marokko von Preußen ausgeschickten Grafen Kanitz,1 ist eine stattliche freundliche Gestalt; doch scheint sie ein wenig von der lauten Freundlichkeit der haute volée, welche ich auch an einer anwesenden Hofdame der Königin2 beobachten konnte, zu haben. .|.|. Gott mit Dir im neuen Lebensjahr, liebstes bestes Schwesterchen, und behalt lieb Deinen alten Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 45. 1 Clara Hoffmann (1819–1862): Tochter des Grafen August von Kanitz (1783–1852), preuß. Generalleutnant und 1848 kurzfristig preuß. Kriegsminister. 2 Augusta Marie Luise Katharina von Sachsen-Weimar-Eisenach (1811–1890): seit 1829 Ehefrau des späteren Kaisers Wilhelm I.

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[68] Dilthey an Luise Scholz [Mitte Februar 1860]1 Es ist 12 Uhr vorüber und so lege ich denn meine Arbeit weg, da ich mir vorgenommen habe, heut Abend noch ein wenig mit den Freunden zu plaudern. Das war recht liebenswürdig von Ihnen, liebe Frau Capellmeisterin – denn der Bär hat daran diesmal sich nur schwach betheiligt –, daß Sie mir so rasch zeigen, wie Sie mein Schweigen und Reden herzlich nehmen und verstehen. Meinen Briefen geht’s wie Platens Tragödien.2 Wenn alle zu Papier kämen, die ich in Gedanken schreibe! Ich schreibe sie auf Spatziergängen, unterwegs, in Gesellschaft, – am seltensten leider am Schreibtisch. Mir geht’s in der Ferne, wie in der Nähe; ich passe besser zum Lesen als zum Schreiben, besser zum Hören als zum Reden. Ich stelle daher die passive Hälfte einer guten Correspondenz trefflich dar. Würden Sie doch Ihre Freude daran haben, wenn Sie sähen, wie ich einen Brief genieße und wie mich die dadurch angeregten Stimmungen den ganzen Tag über begleiten. Deßwegen ist es auch, wenn ich mich nicht so ganz gegeben habe, wie ich gemöcht hätte, eben ein sehr tief liegender Mangel meiner Natur: fühlte ich mich doch so wohl und heimisch bei Ihnen als je in einem Freundeshause u. was Sie von Ihrem Vertrauen recht zu meiner Freude sagen, das war wohl eben die unwillkührliche Erwiederung des herzlichen Vertrauens, das ich zu Bernhard seit so manchem Jahre hege und zu Ihnen gleich vom ersten Tage ab, seit ich Sie in Ihrem Hause schalten sah. Und so lassen Sie uns denn ein rechtes Zutrauen zu einander haben, wie alte Freunde. Und haben Sie auch hübsch die Nachsicht in Bezug auf das Briefschreiben mit mir, die alte Bekannte einander zu Theil werden zu lassen pflegen und von der Sie einen so liebenswürdigen Beweis abgelegt haben. Ich stecke jetzt sehr in der Arbeit, da ich G. Reimer versprochen habe, daß in etwa 14 Tagen mit dem Druck des Briefwechsels angefangen werden soll3 und noch vieles der Zeit nachgeordnet werden muß – da sucht man oft in einem Dutzend Büchern nach einer lumpigen Notiz – dazu müssen noch viel Anmerkungen u. kleine Einleitungen zu den Hauptabschnitten fabricirt werden. Ich freue mich schon drauf, wenn ich die Sachen los bin und wieder zu meinen großen u ernsthaften Arbeiten zurückkehren kann. Das Ganze dieser letzteren hat mir noch nie so voll und klar vor der Seele gestanden, als in diesen Monaten und ich weiß nicht ob ich je später, wenn ich darauf zurücksehen werde, was etwa von diesen Ideen verwirklicht ist, so reine Freude daran werde haben können.

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Übrigens – um hier eine Digression an Bernhard zu machen – in einer glücklichen Stunde ist es mir auch mit meiner Rec[ension] über Erwarten gelungen. Obgleich sie lauter versteckte Polemik ist, war doch Laz[arus] sehr mit ihr zufrieden und sie wird – soweit das ein paar Zeilen können – gewiß wie ich denke seiner Zeitschrift nützen. Dagegen habe ich über meinen ‚Satan‘ einen ziemlichen Schrecken bekommen, als ich den Correkturbogen las.4 Ich empfehle ihn der Milde der Frau Capellmeisterin, welche von Br[aunschweig] aus einen Abdruck bekommen wird. Die Caprice5 darin, sich in die dichterischen Gestalten reflexionslos zu verlieren, ist unausstehlich. W[ehrenpfennig]’s Broschüre wird in diesen Tagen ausgegeben, anonym unter dem schönen Titel – ich hab’ ihn erfunden – ‚Geschichte der preußischen Politik unter dem Einfluß des italienischen Kriegs. Eine Kritik‘. Sonntag [19. 2. 1860] Da lag nun der arme Brief wieder eine gute Weile. Heut aber denk’ ich, es ist denn doch eine übertriebene Resignation, mit den Briefen andrer Leute sich zu plagen, wenn man selber Freunde hat an die man welche schreiben kann – und die wiederschreiben. Und so mag denn die wunderliche Arbeit, Briefe ohne Datum zu ordnen, heute früh ruhn; denn ich habe mehr Briefschulden als ich an Einem Morgen zahlen kann. Ordentlich mit Schrecken denke ich daran bei dieser Arbeit, wie wichtig das Datum ist und wieviel Mühe alle jungen Leute den Herausgebern von Briefwechseln ersparen könnten, wenn sie bedächten, daß sie leicht einmal über Nacht berühmt werden können. Halten Sie also den Bären hübsch ordentlich an dazu. Aber im Ernste führt mich das auf einen Punkt, über den wir öfter geredet, und ich glaube fast, noch öfter eine gewisse Differenz gespürt haben, daß Sie so viel auf das was Sie Berühmtheit nennen halten. Ich unterscheide diese nemlich sehr von dem stolzen Bewußtsein, das großen Menschen auf der Höhe ihres Lebens gewährt ist, daß sie bestimmend auf den Lauf der Welt eingewirkt haben: das ist ja etwas sehr Großes u. das Beneidenswertheste. Diese her[r]schenden Geister allein haben was wir Ruhm nennen dürfen –: Unsterblichkeit des Namens. Allen Übrigen aber ist letztlich nur beschieden namenlos in ihren Wirkungen fortzuleben. Und nach diesen müssen sie bemessen werden: nach der inneren Bedeutung ihres Wesens und der Kräftigkeit der Wirkung, welche dieses in ihrer Sphäre zu üben vermag. Jener Ruhm irrt niemals; diese ‚Berühmtheit‘ macht gar nicht den Anspruch eines gleichen Maßes. Die Raphaele ohne Hände sind illusorisch; aber in dem Lied mit dem eine Mutter ihr Kind in Schlaf singt, kann mehr musikalischer Verstand stecken, als in allen Arien einer ‚berühmten‘ Sängerin und nichts kann mich mehr ärgern, als das ‚Schade, daß die schöne Stimme so verloren geht – oder: dies Talent der De-

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clamation‘ usw., mit dem dann oberflächliche Naturen so rasch bei der Hand sind. Als ob es für die schönste Stimme einen schöneren Platz gebe als an einem einfachen Klavier von ein paar Freunden umgeben u.d.gl. Alles was wir so Berühmtheit nennen, ist nur ein Spiel, das wir mit der Vergänglichkeit unsres Namens treiben. Nur wo eine schöpferische Produktivität in Staatsleben, Wissenschaft oder Kunst hervorbricht u ihrer Sphäre her[r]schend die eigne Richtung aufprägt, beugen wir uns vor der Unsterblichkeit des Namens. Sonst aber, gestehe ich, habe ich vor der Berühmtheit gar keinen Respekt, sondern nur vor der eigenartigen Kraft u. Bedeutung eines Menschen. Den 23ten Febr[uar] Daß ich meinen Brief immer noch liegen lassen, kann ich nur dadurch thatsächlich entschuldigen daß ich dafür ein paar Neuigkeiten auspacke. Um eine die mich selbst angeht voranzuschicken, habe ich dahier für eine Abhandlung den Preis von zweihundert Thalern davon getragen, welcher meiner stets – wie Bär sich noch erinnern wird – sehr verworrenen Kassenlage einige Erleichterung gewähren wird. Sodann Laz[arus] betreffend – er ist Prof. honorarius in Bern geworden. Damit verhält sichs nemlich so. Ich weiß nicht ob ich Dir, lieb[er] Bernhard, erzählt habe von einem Antrag einer ordentlichen Professur, den Laz[arus] vor c. 1 Jahr erhalten u. abgelehnt habe. Dies ‚und abgelehnt‘ verhielt sich nun doch nicht ganz so. Sondern offenbar erklärte er mir, daß er, weil in Leipzig gebunden u. nicht geneigt Berlin ganz aufzugeben, eine so bindende Stellung, wie die eines prof[essor] ord[inarius] nicht annehmen könne. Das heißt ob es sich auch nun so weit so verhält, ist mir immer noch sehr fraglich. Laz[arus] lässt sich nicht darüber aus. Ich vermuthe es war zunächst nur eine Privatanfrage. Hillebrand6 und Ribbek7 dort wünschen ihn sehr dort zu haben: individuelle Verhältnisse scheinen dabei auch noch mit im Spiele zu sein. Da nun Laz[arus] selbst sich erbot, im Sommer dort Vorlesungen zu halten, auf alle Besoldung aber verzichtete: machte man ihn zum prof. honorarius dort. Du kannst Dir denken, lieb[er] Bernhard, daß dies Ganze weder Wehrenpf[ennig] noch mich sehr angenehm berührte. Einmal das Versteckenspielen; dann eines Titels wegen nach Bern zu gehen, wo begreiflicherweise eher alles andre als Sinn für Philosophie zu erwarten ist, endlich das Halbiren der beiden Möglichkeiten, hier zu bleiben, oder nach Bern zu gehn, um so eigentlich keines, weder Privatruhe, noch eine thätige und ordentliche Stellung zu haben – dafür aber: – ‚Ehrenprofessor‘!! Indeß der Entschluß war schon gefasst und daß ich, wie W[ehrenpfennig], meine Ansicht über die Sache ganz derb aussprach, war schon reiner Überfluß, da, ohne daß wirs wussten, alles schon

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entschieden war. So wird denn also Herr Dr. diesen Sommer schon in Bern lesen, den Winter dann wieder hier sein. Mit Frau Dr. gehts leider immer noch sehr schlimm. D.h. gefährlich ist an der Krankheit nichts. Es sind sehr heftige Beklemmungen, nervöse Schwere, die sie zu Zeiten selbst am Gehen hinderte. Aber dies Leiden will nicht wanken u. nicht weichen. Ich fürchte freilich sie setzt demselben nicht die gehörige Energie entgegen, die bei Nervenleiden gerade so sehr wichtig ist. Von einer Verstimmung geräth sie in die andre. Die Berner Sache regte sie natürlich von Neuem auf. Seit gestern hat sie nun plötzlich wieder einen Rückfall bekommen, nachdem sie ziemlich wohlgemuth wieder im Zimmer sich auf u. ab bewegt hatte. In einer guten Stunde hat sie die beifolgenden Zeilen geschrieben.8 Wehr[enpfennig]’s Broschüre – das ist die letzte Neuigkeit – ist heraus. Mommsen lobt sie sehr, u. W[ehrenpfennig] ist dadurch in für ihn sehr angenehme Verbindungen mit diesem, mit Droysen9 usw. gekommen. Heut Abend hält er in dem polit[ischen] Klubb dieser Parthei einen Vortrag. Er lässt Dich schön grüßen. Riedel und Tempeltey hab ich auch gesehn. Temp[eltey] arbeitet eine Dissertation für seinen Doktor aus,10 klagt aber sehr, daß er des leidigen Geldverdienstes willen doch dann wieder ein Stück vom Stapel laufen lassen müsse. Er hat mir diesmal recht gut gefallen: die Autoreneitelkeit scheint sich etwas gelegt zu haben. Dafür besitzt ihn freilich ein neuer Hochmuthsteufel: er glaubt jetzt zum Redner bestimmt zu sein. Und dies möchte der wunderlichste seiner Irrthümer sein. Das Berliner Leben wirft doch die Leute auf alle möglichen Seiten. Riedel ist gar gut u liebenswürdig. Hätte er sich nicht T[empeltey] angeschafft, so wär er nach allen Seiten in seiner Art prächtig. Auch von ihm u T[empeltey] hab ich schöne Grüße für Dich, da ich ihnen erzählte, daß ich Dich besucht. Über den Titan11 schreib ich Ihnen wohl ein ander Mal genauer, überhaupt über J[ean] P[aul], vorausgesetzt, daß Sie noch mehr davon lesen. In dies Potpourri von Brief passt nichts Ordentliches. Auf mich hat er seiner Zeit sehr u. anhaltend gewirkt. Es giebt eine Zeit, in der man über der wimmelnden Welt einzelner Gedanken, Beobachtungen und Empfindungen, die zwischen den Handlungen u. Charakteren auf eigne Faust ihr Wesen treiben, die armselige Maschinerie seiner Handlungen, die stets zwischen dem Dürftigen u Tollfantastischen sich bewegt, die blasse u. manierirte Auffassung der Charaktere ganz übersieht. Dann kann man ihn wieder lesen, wie Sie jetzt; so nemlich daß man auf Zusammenhang ganz resignirt u. nur das quellende mikroscopische Leben der einzelnen Gedanken genießt. Und das thu ich auch zuweilen sehr gern. Wenn Sie aber mehr lesen, müssen Sie vor Allem Katzen-

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bergers Badereise12 lesen. Obgleich auch da fatale Digressionen sind, so ist das doch offenbar das Vollendetste von ihm. Außerdem aber liebe ich das Schulmeisterlein Wuz13 u. den Siebenkäs14 sehr. Schreiben Sie mir doch ein Wort drüber, wenn Sie das gelesen haben. Denken Sie denn auch noch an Ihr Versprechen mit der Photographie? Noch etwas, daß Sie Ihren stolzen mütterlichen Empfindungen die Schnitz betreffend Gewalt angethan haben, ist nicht recht. Lassen Sie mich ja zuweilen von ihrer exorbitanten Entwicklung was hören: ich denke dann dabei gar gern an die kleinen Dialoge, die Sie nach Tisch mit ihr hielten. Und mischen Sie bei einer solchen Gelegenheit auch freundlichst schöne Grüße von mir an das kleine liebe Gold ein. Ob ich gleich ängstlich sein sollte, ob Sie mich nicht jetzt zur Strafe ohne baldige Nachricht stecken lassen: so habe ich doch schon so viel Vertrauen zu Ihrer freundlichen Nachsicht, daß ich darüber gar nicht unruhig bin. Also in Hoffnung baldiger guter Nachrichten von der ganzen kleinen Familie Ihr W. Dilthey Original: Hs.; HLB Wiesbaden, Hs 341 (4); Erstdruck (mit Auslassungen): BDSch, Nr. 4. 1

Datierung der Hg. von BDSch: „[Vor 19. Februar 1860.]“. August Graf von Platen-Hallermund (1796–1835): Dichter. 3 Der 3. Band von Schleiermacher’s Leben. In Briefen erschien im Sommer 1861. 4 D.s offenbar verfasste, aber nicht in WM erschienene Rezension der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft; sein Aufsatz Satan in der christlichen Poesie. Eine literarhistorische Skizze, in: WM 8 (1860), S. 321–329 und 434–439, erschien unter dem Pseudonym „Wilhelm Hoffner“. 5 Caprice: Form von Capriccio: scherzhaftes, launiges Musikstück. 6 Bruno Hillebrand (1812–1878): Nationalökonom und Statistiker, o. Prof. in Bern. 7 Otto Ribbeck (1827–1898): klass. Philologe; 1856 a. o., 1859–1861 o. Prof. in Bern, 1861 in Basel, 1862 in Kiel, 1872 in Heidelberg, 1877 in Leipzig. 8 Nicht überliefert. 9 Johann Gustav Droysen (1808–1884): Historiker; 1835 a. o. Prof. in Berlin, 1840 o. Prof. in Kiel, 1851 in Jena, seit 1859 in Berlin. 10 E. Tempeltey: De Godofredo ab Ensmingen ejusque quae feruntur operibus historicis. Leipzig 1861. – Gewidmet ist die Dissertation Leopold von Ranke (vgl. BDSch, S. 444, Anm. 7). 11 Jean Paul: Titan. 4 Bände. Berlin 1800–1803. 12 Doktor Katzenbergers Badereise; nebst einer Auswahl verbesserter Werkchen. 2 Bde. Heidelberg 1809. 13 Leben des vergnügten Schulmeisterleins Maria Wuz in Auenthal: aus dem Roman Die unsichtbare Loge. 2 Bde. Berlin 1793. 14 Blumen-, Frucht- und Dornenstücke, oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs. 4 Bde. Berlin 1796–1797. 2

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[69] Dilthey an seinen Vater Liebster Vater!

(Berlin, [18.] Februar 1860)1

Ich schreibe nur kurz; denn die Schleiermacherschen Briefe sind dicht vor dem Beginn des Druckes. Man hat mir die ganze Geschichte überlassen und die Gräfin will nur, wie billig, die Korrekturbogen sehen. Leider hat sie aber Papiere zurückbehalten, von denen ich gewiß weiß, daß sie gedruckt werden sollten, die sie aber für unschicklich zum Abdruck hält. Andres ist im Nachlaß nicht zu finden. Kurz es gibt da mancherlei Ärger. Über jenes Erstere habe ich mich sehr stark erklärt; leider ist sie anhaltend sehr unwohl, sodaß ich sie nicht selbst sprechen kann. Ich werde nun allerdings den Briefen einen ganz anderen Charakter geben, als denen die sie hat drucken lassen, und mich gegen jede Prüderie ernstlich zur Wehr setzen; aber völlig werd’ ich’s gewiß nicht durchbeißen. In allem Übrigen, was nicht diese Familienprüderie angeht, habe ich völlig freie Hand. Ich schicke nebenbei die Broschüre von Wehrenpfennig. Ich bin mit der ganzen Auffassung der preußischen und süddeutschen Politik durchaus nicht einverstanden, desto mehr mit der der österreichischen und der Mittelstaaten, sowie mit der energischen und männlichen Art, die Dinge der Politik historisch, nicht nach seltsamen sogenannten Rechtsgrundsätzen anzusehen. Die politischen Zustände sind aus dem wohlberechtigten Egoismus der Staaten entsprungen: ob das 20 Jahr her ist oder 15 oder seit gestern, ist völlig gleichgültig: von den Wiener Stipulationen2 zu reden, ist reine Donquixoterie in der Politik; und Preußen hat sich seit 10 Jahren durch diese Phrasen auf ’s Tollste von Österreich düpieren lassen. Aber es scheint nicht, als ob alles viel besser werden wolle: wenigstens die Überzeugung von der Untauglichkeit der preußischen Diplomatie ist hier sehr allgemein. Ich schicke mein Exemplar, weil ich sie vor und bei dem Druck gelesen habe, wegen der einen oder anderen Stelle; z. B. stammt der pomphafte Titel von mir. Indeß soll die Anonymität vorläufig festgehalten werden; sag daher nicht ohne weiteres, von wem sie ist. Mommsen interessirt sich sehr für die Schrift und hat selbst gleich eine Anzeige gemacht: er ist aber auch mit der zarten Behandlung, die der preußischen Politik zu Theil geworden, nicht einverstanden. Frau Dr. Lazarus gehts leidlich. Ich habe in diesen Tagen eine Anzeige von Lazarus’ Zeitschrift gemacht, die Ihr wohl in den Monatsheften lesen werdet3 und in der ich meine abweichende Art die Dinge anzusehn zwar versteckt, doch aber für ihn und meine Freunde hier sehr sichtlich angedeutet habe. Er

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hat sie aber sehr liebenswürdig aufgenommen, und ein langes Gespräch, das wir darüber hatten, zeigte mir, wie sehr er von dem Selbstgefühl eines Schöpfers einer neuen Wissenschaft jetzt selber zurückgekommen ist, wieviel bescheidener er jetzt über das, was sein Unternehmen wirklich werde leisten können, denkt. In der That ist es traurig, wie er, allerdings zumeist durch äußere Umstände verhindert, seit jetzt beinah einem Jahre nicht einen Schritt weiter gekommen ist in seinen Gedanken. .|.|. Wenn Lazarus bei seinem Genie concentrirten Willen hätte: was könnte er leisten! Sonntag früh [19. 2. 1860] Ich kann gleich in meinem Kapitel fortfahren. Denke Dir, gestern sagt Frau Dr. Laz[arus] ein wenig zögernd und doch innerlich vergnügt, ihr Mann habe mir etwas mitzuteilen. Und was kommt heraus? Abermals die Berner Geschichte. .|.|. Die zeitfressenden zarten Rücksichten werden nun wohl durch ein strengeres Herauskehren unserer eigenen Stellung und Bestrebung sehr beschränkt werden. Denn die Freundschaftsphantasien der liebenswürdigen Idealisten, in denen besonders Frau Dr. sich gern erging, scheinen aufzuhören, wo auch nur die Möglichkeit einer angesehenen äußeren Stellung anfängt. Weiß Gott, wie wir uns alle gefreut hätten, wenn er an irgend einer süddeutschen Universität eine ordentliche Professur angenommen hätte, um sich dort der tüchtigen Arbeit einer solchen mit allem Ernste hinzugeben. Aber dem Titel eines prof. honorarius nachzulaufen, Sommers in Bern Psychologie zu lesen – das sind an dem Lazarus, den ich bisher kannte, ganz unverständliche Gedanken. Ich habe denn auch mit meiner Ironie über den leeren und wohlfeilen Titel durchaus nicht zurückgehalten. Donnerstag [23. 2. 1860] Ich habe den Brief liegen lassen, weil ich von Tag zu Tag Nachricht über die 200 r. in spe erwartete. Eben bekomme ich das Schreiben: „Das Curatorium usw. hat usw. Ihnen für die von Ihnen über das gestellte Thema: ‚das eigenthümliche‘ usw. eingereichte Abhandlung in Anerkennung des in ihr enthaltenen umfassenden Studiums und der Gründlichkeit der Untersuchung den Preis von 200 r zunächst auf ein Jahr zu ertheilen.“4 Hoffentlich bedeutet das „zunächst auf ein Jahr“ einige weitere Hoffnung. Morgen geh ich zu Twesten, werd’ also das hören.5 Zugleich kommt ein Brief von Karl,6 der alte Gedanken mir wieder nahebringt. Es ist eigentlich ein still gehegter Lieblingsgedanke von mir, die zwei heißen Monate außerhalb Berlins zuzubringen und den Plan, eine der größeren Bibliotheken für mittelalterliche Kirchengeschichte dabei genau kennen zu lernen und in der bequemen Art zu benützen, welche die Ausdeh-

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nung der hießigen Bibliothek unmöglich macht. Ich verstehe darunter: mitten unter den Büchern sitzend zu arbeiten. Dies ist in Bonn zu erlangen, hier garnicht, weil keine Einrichtungen danach sind. Sodaß ich meine Arbeiten durch einen längeren Aufenthalt an einem solchen Orte sehr fördern würde. Zugleich würde dies wohl Karl bestimmen, sich für Bonn zu entscheiden, da er sowohl als ich Sehnsucht nach einem längeren Zusammenleben hat. .|.|. Lazarus ist fest entschlossen; er geht diesen Sommer nach Bern. Du kannst denken, daß ich die Sache jetzt etwas anders ansehe als in der ersten Aufwallung. Über das Wesentliche dabei denke ich noch ebenso. Meine Pläne angehend ist alles geblieben wie ich’s schon öfter geschrieben. Ich lese Herbst über die Geschichte des philosophirenden Christentums und bin heftig hinter den Vorbereitungen zum Colleg. Zum Schleiermacher fehlen nur noch meine Papiere. Dann wird zu drukken angefangen. Hoffentlich in 8 Tagen. Sonst nichts von Belang. Lebt wohl. Ich hoffe auf baldige Briefe. Mariechen schönen Dank für ihren lieben Brief.7 In kindlicher Treue Euer Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 46. 1

In JD: „(Berlin, Mitte Februar 1860)“. Vertragliche Abmachungen. 3 Eine Rezension D.s des ersten Heftes der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft ist in WM nicht erschienen. 4 Am 22. Februar 1860 fand die Beschlussfassung des Kuratoriums der Schleiermacher-Stiftung über die Preisverleihung im Hause des Vorsitzenden, Bischof Dr. Neander, in Berlin statt. Das Urteil über D.s Arbeit, das von Neander, Twesten, Bonnell, Nitzsch und Meineke unterzeichnet wurde, hat folgenden Wortlaut: „Obgleich für die objective Lösung der Aufgabe zu wenig geschehen und der Einfluß Fichtes auf Schleiermacher nicht richtig aufgefaßt ist, auch es der Arbeit an exegetischer Anschauung und präciser Darstellung fehlt: so wurde doch die Gründlichkeit der Untersuchung und das umfassende Studium des Verfassers rühmend anerkannt und ihm der Preis von 200 rth. jährlich zunächst auf ein Jahr zuertheilt. Das Curatorium behält sich vor, gemäß §7 des Statuts später hierzu zu bestimmen, ob das Stipendium demselben auf einen längeren Zeitraum verliehen werden soll.“ (Original: Hs.; EZA, ZA 5134/09, Sign.: EZA 23/1). 5 A. D. Twesten war 1859–1869 Mitglied des Kuratoriums der Schleiermacher-Stiftung. 6 Nicht überliefert. 7 Nicht überliefert. 2

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Rudolf Anastasius Köpke an Dilthey

[70] Rudolf Anastasius Köpke1 an Dilthey

Rudolf Anastasius Köpke an Dilthey

Hochgeehrter Herr Doctor, Sie mögen es gütig entschuldigen, wenn ich ohne die Ehre zu haben Ihnen persönlich bekannt zu sein, Ihre geneigte Theilnahme und Hülfe für eine litterarische Angelegenheit in Anspruch zu nehmen mir erlaube, die nicht ganz unwichtig ist. Durch Herrn G. Reimer erfahre ich, daß Sie Schleiermachers litterarischen Briefwechsel abschriftlich in Händen haben, um denselben für den Druck vorzubereiten. Diese Papiere haben für mich ein wesentliches Interesse, da ich Seitens der Universität für die bevorstehende Jubelfeier derselben mit der Zusammenstellung des historischen Materials ihrer Gründungsgeschichte beauftragt bin.2 Für diesen Zweck hatte mir bereits der seelige Jonas die Einsicht und Benutzung derselben von einem bestimmten Tage an, wo er selbst seiner Zeit mehr Herr sein werde, in Aussicht gestellt: als der Tag erschien, waren seine Tage zu Ende gegangen! – Da sich die Veröffentlichung dieser Briefe für meine Zwecke doch zu lange verzögern dürfte, so nehme ich mir die Freiheit ganz ergebenst anzufragen, ob Sie vielleicht geneigt wären, mir aus denselben diejenigen Notizen mitzutheilen, welche sich auf die Begründung der Universität, sowie auf öffentliche Vorlesungen beziehen, die Schleiermacher in Berlin bis zum J[ahre] 1810 reichend, entweder gehört oder selbst gehalten hat. Bei seiner durchgreifenden Theilnahme an der geistigen Bewegung jener Zeit kann ich mir kaum denken, daß sich nicht mancherlei briefliche Hinweisungen darauf finden sollten. Durch eine geneigte Gewährung meiner Bitte würden Sie mich wie alle bei dieser Sache Betheiligten zum wärmsten Danke verpflichten. Ich bemerke nur noch, daß mir bereits manche Mittheilungen ähnlicher Art zugegangen sind, und ich andern noch entgegensehen darf. Mit der vollkommensten Hochachtung habe ich die Ehre zu sein Ihr ganz ergebenster R. Köpke. Professor Linzstr. 25 d[en] 22 Februar 1860. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 k. 1

Rudolf Anastasius Köpke (1813–1870): Historiker und Publizist; seit 1856 a. o. Prof. in Berlin.

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2 Die 50-Jahrfeier der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität stand bevor. Sie war am 18. 8. 1809 gegründet worden und nahm 1810 als „Berliner Universität“ (Alma Mater Berolinensis) den Lehrbetrieb auf; 1949 wurde sie in Humboldt-Universität umbenannt.

[71] Dilthey an seine Eltern Liebste Eltern!

[Berlin, vor dem 4. März 1860]1

Nur eine vorläufige Zeile. .|.|. Bei Bonnell2 war ich gestern, dem geschäftsführenden Mitglied des Vorstandes der Schleiermacher-Stiftung. Es ist – wonach Ihr fragtet – eine nach Schl[eiermacher]’s Tode zur Erinnerung an ihn gestiftete Gesellschaft. .|.|. Nitzsch3 hat noch ein Separatvotum abgegeben, in dem er meine Auffassung des Einflusses von Fichte auf Schl[eiermacher] in Frage stellt. Ich hatte indeß schon neulich in Gesellschaft mit ihm darüber geredet und glaube meiner Sache gewiß zu sein. – Sehr angenehm ist nun, daß Bonnell von der Commission den Auftrag hatte, mir in ihrem Namen zuzusichern, daß ich das Preisstipendium auch auf ein zweites Jahr erhalten würde, wenn ich bis dahin nicht in praktischer Stellung sei. Sodaß ich also für mein erstes Privatdocentenjahr da einen Zuschuß habe. Leider habe ich den Referenten, Twesten, noch nicht gesprochen. .|.|. Da er, wie Nitzsch, auch früher über Hermeneutik gelesen hat, hat er darin eigne Ansichten und von den meinigen jedenfalls sehr abweichende, da er Schleiermacherianer ist, während meine ganze Abhandlung Polemik gegen Schl[eier-] m[acher] ist, und Orthodoxer, während ich mich auch in diesem Punkte sehr derb ausgelassen habe. Du wolltest auch das Thema wissen. „Das eigenthümliche Verdienst der Schl[eier]m[acher]schen Hermeneutik ist durch Vergleichung mit älteren Bearbeitungen dieser Wissenschaft, namentlich von Ernesti und Keil ins Licht zu setzen.“ Es handelt sich also um die Theorie des Verstehens von Schriftwerken (nicht bloß der Bibel): eine Wissenschaft, die früher einen breiten Raum, besonders in Bezug auf die Bibel einnahm: durch Schl[eier]m[acher] dann als allgemeine philosophische Wissenschaft constituirt worden ist. – Vorläufig lasse ich sie, obgleich die Commission dafür zu sein scheint, nicht drucken.4 Die 10 Thaler sollen mir sehr gut thun und sage besten Dank dafür. Ich hatte ohnehin vor, bei dem Banquett, das Sonntag über 8 Tage Bennigsen5 gegeben wird, mich zu betheiligen – das werde ich jetzt mit Glanz können.

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Dilthey an seine Eltern

Besonders möchte ich Mommsen, der an der Spitze der Sache steht, gern reden hören. Übrigens habe ich mich in allerhand leichtsinnige Ausgaben gestürzt. Als da sind 1. feiner neuer Frack, da die Nähte am alten meine Freunde zu belustigen begannen, ditto einen neuen Rock – sehr fein. .|.|. Mein Kopf ist übrigens nach den Schmerzen der ganzen Woche so wüste, daß Ihr, was ich schreibe, nehmen müßt, wie ich’s geben kann. Die Sonne scheint hell ins Zimmer und ich hoffe von einem mächtigen Spatzirgang, den ich mit W[ehrenpfennig] machen will, das Beste. Ihr bekommt dann nächste Woche ordentliche Nachrichten. .|.|. Neues nichts. Die verunglückte Besprechung der äußeren Politik in der preußischen Kammer werdet Ihr gelesen haben. Schleinitz6 hat sich auch bei dieser Gelegenheit wieder so oberflächlich und ohne Willen und Charakter gezeigt wie stets. Hier denkt und redet Alles nichts als die bevorstehenden Verhandlungen der Kammer über die Militärfragen. Der Liberalismus ist in einer schlimmen Lage, da der Prinz [es] vielleicht mit andern Ministern wird versuchen wollen, wenn es mit diesen nicht geht, und die Minister selbst vielleicht Kabinetsfrage daraus machen – dennoch hofft man allgemein, daß die Anträge nicht durchgehen werden. Nächstens Ausführlicheres. Ich hoffe aber zuvor wohl auch noch was zu hören. .|.|. Adieu Euer Wilhelm Original: nicht überliefert, Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 47. 1 Da D. in diesem Brief schreibt: „bei dem Banquett, das Sonntag über 8 Tage Bennigsen gegeben wird“, welches am 11. März stattfand, muss dieser Brief vor Sonntag, dem 4. März 1860 geschrieben worden sein (in JD: „Anfang März“). 2 Charles Guillaume Ed(o)uard Bonnell (1802–1877): Philologe und Gymnasialdirektor. – Bonnell kannte Schleiermacher noch persönlich, und er war 1859/60 Direktor der Schleiermacherschen Stiftung. 3 Nitzsch gehörte, ebenso wie Twesten, dem Kuratorium der Schleiermacherschen Stiftung an. 4 Der Anfang der Preisschrift wurde später von D. veröffentlicht als Teil seines Aufsatzes Das natürliche System der Geisteswissenschaften, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 6 (1892), S. 69–95; Abdruck in: GS II, S. 90–245; vollständiger Abdruck in: GS XIV, S. 595–787. 5 Rudolf von Bennigsen (1824–1902): nationalliberaler Politiker; 1859 Mitbegründer des „Deutschen Nationalvereins“ und bis 1867 dessen Vorsitzender. 6 Alexander Graf von Schleinitz (1807–1885): Politiker; 1858 bis 1861 preuß. Minister des Auswärtigen.

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Dilthey an seinen Vater

[72] Dilthey an seinen Vater Liebster Vater!

(Berlin, Anfang März 1860)

Eben komme ich von der Bibliothek und Sydow und finde Deinen Brief vor. Ich habe wieder bei Sydow mein gehörig Theil Ärger über die Unordnung in den Schleiermacherschen Papieren. Was den Druck der Abhandlung1 angeht, so müßte sie zu diesem noch bedeutend vervollständigt werden, auch wie ich mich gestern bei genauer Lesung überzeugt habe, zum Theil neu geschrieben. Dazu habe ich aber natürlich im Augenblick keine Zeit. Eile hat es ja aber garnicht und ich werde das viel besser abmachen, wenn ich – was in kurzem geschehen wird – einmal Hermeneutik lese. Über einige Hauptpunkte, besonders über Satz und Periode muß mir ohnehin noch das rechte Licht aufgehen. .|.|. Über die Schleiermacherschen Briefwechsel mag ich vor lauter Ärger über die Wirthschaft, die ich damit habe, wegen der großen Unordnung, zögernden Gemüthsart usw. garnichts weiter schreiben. Der Druck ist wieder hinausgeschoben auf mindestens 14 Tage. Dagegen geht’s mit meiner Arbeit über Geschichte der Scholastik recht gut. Du brauchst nicht zu fürchten, daß sich meine Habilitation über Herbst verzögert: ich bin fest entschlossen, daß das unter keiner Bedingung geschehen soll. Gut geht mir’s eigentlich immer noch nicht, aber doch leidlich; das abscheuliche Wetter! Mich macht’s ganz traurig mit dem und jenem zusammen. Widerstände ich nicht mit aller Kraft, so könnte ich stundenlang, in meine melancholischen Gedanken verloren, dasitzen! Wie arm ist doch auch ein verhältnißmäßig so reiches Menschenleben wie das meinige! Gott mag wissen, warum wir mit so vielen Keimen des Besten in diese Welt geworfen werden, um im besten Fall die Entwicklung eines armen Bruchtheils zu retten. Das ist nothwendig; dennoch schmerzt es, wenn die Seele so manchen schönen Traum des Wirkens und Lebens, die ganze Unendlichkeit der Bestrebungen von sich ablöst, um das ihr im Leben beschiedene Theil der Wirksamkeit zu ergreifen. Doch genug davon. Diese Schmerzen werden Niemandem erspart, der Leben in sich hat. In den halbmüßigen Tagen des Unwohlseins aber ist man gar geneigt, solchem Zuge der Gedanken sich hinzugeben, welche, von der Thätigkeit zurückgedrängt, nun mit doppelter Gewalt hervorbrechen. .|.|. Vorigen Samstag hab ich denn wirklich getanzt; erst mäßig; beim Cotillon2 war aber kein Halten mehr; Tempeltey und ich saßen dann noch nach der Geschichte bei der Familie bis nach 4 Uhr beim Café gar gemüthlich. Der alte Herr3 weiß viel Interessantes von der Kammer zu erzählen, deren nationalökonomische Autorität er ja ist.

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Dilthey an seinen Vater

Politisch ist jetzt hier alles in unendlicher Confusion. Die ganze liberale Parthei ist gegen die Militärvorlage. Es ist aber den Mitgliedern der Kammer kein Geheimniß, daß nicht nur das Ministerium Kabinetsfrage daraus machen wird, sondern selbst der Prinzregent4 davon spricht, im Fall der Nichtannahme abzutreten und seinem Sohn die Regierung zu überlassen. Und das ist gewiß sehr ehrlich und ernst gemeint: er hat es Hohenzollern5 und Vincke6 erklärt. So wird also wohl die Militärvorlage im Wesentlichen angenommen werden müssen, damit der Staat nicht in heillose Verwirrung geräth. N.B. ich habe jetzt durch Wehrenpfennig politische Nachrichten aus bester Hand, nemlich dieser bekommt sie officiell aus dem Ministerium des Inneren, da er in allerhand politischen Dingen steckt. Sonntag wird er beim Banquet, das Bennigsen gegeben wird, seine politische Jungfernrede halten (über Kurhessen und Schleswig Holstein!) .|.|. In Liebe und Treue Euer Wilhelm Mittwoch 5 3/4 Uhr. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 48. 1

D.s Preisschrift über Schleiermachers Hermeneutik. Gesellschaftsspiel in Tanzform. 3 Gemeint ist A.F.J. Riedel, von 1859–1861 Abgeordneter im preuß. Abgeordnetenhaus und Vater von D.s Freund, der damals 51 Jahre alt war (vgl. JD, S. 307, Anm. 19a). 4 Der Prinzregent, ab 1861 König Wilhelm I., versuchte gegen den Widerstand des preuß. Abgeordnetenhauses eine Heeresreform durchzusetzen. 5 Fürst Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen (1811–1885): 1858–1862 preuß. Ministerpräsident. 6 Georg Ernst Friedrich Freiherr von Vincke (1811–1875): preuß. Politiker; 1858–1863 Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses und Fraktionsführer der Liberalen; im Juni 1861 neben Mommsen, Siemens u. a. Mitbegründer der oppositionellen linksliberalen Fortschrittspartei, die sich aufgrund eines Konflikts um die preuß. Heeresreform konstituierte. 2

[73] Dilthey an seine Schwester Marie Liebstes Mariechen!

(Berlin, 9. März 1860)

Mir ist heut recht briefschreiberlich zu Muthe, weil allerhand angenehme Empfindungen dieser Tage in mir nachklingen, und da mir das seit einem Vierteljahr fast, wenigstens seit anderthalb Monaten zum ersten Male ge-

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Dilthey an seine Schwester Marie

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schieht, will ich auf meine verstimmten und contre coeur geschriebenen Briefe diesen gemüthlichen folgen lassen; denn bemerkt habt Ihr doch wohl meine Verstimmung und meinen Widerwillen gegen das Schreiben, zumal in den letztenWochen. Wenn ich nun sagen wollte, was davon der Grund war – denn hoffentlich bin ich die Laune für eine ordentliche Zeit jetzt los –, so ist das ein eigenes Gemisch gar verschiedener Dinge. Das Wichtigste davon ist das Gefühl, daß sich meine Natur beschränkt und noch viel mehr beschränken muß. Mit welchem Schmerz diese Resignation auf so viele Kreise des Denkens, der wissenschaftlichen Arbeit, des praktischen Handelns, denen die Seele entgegenstrebt, verbunden ist, habe ich, wie durch eine unsichtbare Gewalt gezwungen, in meinem Inneren in diesen Wochen immer wieder durchmachen müssen. Mancherlei Zufälle, von denen ich schrieb, machten, daß der Verkehr mit meinen Freunden von meinem Besuchseifer abhängig war, und der ist stets sehr unzuverlässig. So sah ich manchen Tag keinen Menschen und von selbst mußten die Bilder der Zukunft meine einsame Stube und den Schreibtisch, auf dem der mächtige Folioband des Anselmus lag, heimsuchen. Nimm mein körperliches Übelbefinden dazu, so kannst Du Dir meine Stimmungen wohl im Ganzen vorstellen. Ich habe viel für mich gedacht, auch geschrieben und den Plan zu einem Buche gemacht, in dem ich einmal das Innerste meiner Anschauungen vom Christentum darstellen möchte.1 Aber das Gedankenmaterial dazu muß allmählich gesammelt werden und vor dem 30ten Jahre darf man an so was nicht denken: denn da beginnt doch erst die concentrierte Verknüpfung der eigenen Gedanken. In diesen Tagen nun bin ich endlich wieder mehr in Verkehr gekommen; mein Plan heiterte mich auch auf und die Anfänge, die ich machte; und kraft des Vorrechtes der Jugend habe ich vorläufig allen Träumereien Valet gesagt. Gestern war ich seit 3 Uhr Nachmittags mit Riedels zusammen, theils spatzierengehend theils im Hause und wir haben gar interessante und tiefeingehende Gespräche gehabt. Heute früh war ich lange bei der Gräfin Schwerin, die mich gestern zu sich bitten ließ, und während G. Reimer und Sydow immer thaten, als müßten sie ihrer Ängstlichkeit jeden Bogen herauspressen und als thäten sie Wunder was in diesen Dingen in meinem und der Sache Interesse, sah ich, daß G. Reimer nur geschwätzt hat, Sydow aber ernstlich den Fortgang hindert. Er hat entschieden gehofft, ich würde ihn um eine Vorrede und etwa Einleitungen bitten: Reimer hat auch so was gelegentlich fallen lassen, was ich natürlich völlig ignorirte: und so hat Sydow denn selbst die Papiere durchgesehn, um sich irgendwie bei der Sache zu betheiligen, ohne irgend was damit anfangen zu können, und das Ganze gehemmt. Die Gräfin war gar liebenswürdig und gemüthlich. Als ich ihr das Ganze meines Plans

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auseinandergelegt hatte, war sie ganz damit einverstanden und versprach mir alle Originale, solche die Sydow für anstößig und für nicht .|.|. erklärt hatte, zu unbeschränktem Gebrauch zu überschicken, und sie scheint volles Vertrauen zu mir gefaßt zu haben. Aus ihren tiefen blauen Augen schimmert etwas von ihres Vaters (Schleiermachers) Geist; in ihrem kränklichen Gesicht – sie ist sehr leidend gewesen und ist es noch – liegt viel in sich gekehrtes Sinnen und Verständniß des Lebens. Bei vieler Lebendigkeit der Bewegung in demselben. Ich begreife nicht, daß sie mir, als ich sie bei Jonas öfter sah, nicht mehr auffiel. .|.|. Also gute Nacht! Freitag Abends 9 Uhr. Sonnabend Nachmittag! Eben komm ich von der Post, Usener und Frau Dr. Lazarus. .|.|. Die Gräfin hat heute den ganzen Rest der Papiere, nämlich alle Originale geschickt, sodaß ich nun so offen als irgend ein Mensch in Schleiermachers Leben sehn kann. Der nächste Bogen soll der Beschreibung des Bennigsen’schen Festessens gewidmet sein: die Listen, ob sie gleich mit Auswahl nur mitgeteilt wurden, hatten schon nach 3 Tagen mehr Personen als in den Saal gehen. Ich werde mit meinen Freunden Lazarus, Riedel, Tempeltey, Degenhold2 zusammensitzen, wir wollen lustig sein. (Montag, 12. März 1860) Guten Morgen! Ich habe ca. 3 Stunden geschlafen; der Kleiderreiniger verführte aber einen so merkwürdigen Lärm, daß nicht mehr an Weiterschlafen zu denken war. Ehe ich auf die Bibliothek gehe, will ich also unter anderem den Brief fertig schreiben. Zunächst von dem Festessen gestern abend. Bennigsen war ohne Frage der Mittelpunkt desselben. Eine ächt sächsische Natur; vordringend scharf, knapp, schlicht, ganz praktisch, ganz männlich. Sollte eine nationale Bewegung einmal die Landtage verbinden, so wird er Gagern’s3 Rolle spielen; der Natur der Sache nach hat er weniger Rhetorik, aber viel mehr staatsmännischen Verstand als Gagern. Er scheint auch Vincke, der einzigen rednerischen Capacität im hießigen Abgeordnetenhaus, entschieden überlegen. Nächst ihm traten nach allgemeinem Urtheil 3 Redner hervor: Mommsen, Virchow4 und Wehrenpfennig. Mommsen mit dem ganzen genialen Übermuth, der gelegentlichen Taktlosigkeit, dem überströmenden hinreißenden Witz eines großen Kritikers: seine Stimme hindert ihn nicht selten: den Ausdruck der Begeisterung gestattet sie ihm garnicht: aber ihre ätzende Schärfe ist wie gemacht zum vernichtenden Witz. Er sprach über das gegenwärtige Ministerium und dessen Blößen unter nicht endenwollendem Beifall. Dann

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Virchow, der berühmte Gründer der physiologischen Pathologie; Ihr habt ja wohl von Köpp5 über ihn gehört. Früher heftiger Demokrat: seine ehemaligen Stimmungen schimmern noch durch: als er sich über die geographische und ethnologische Grundlage Preußens auszusprechen anfing, wie tastend das Terrain umging, nicht ohne poetische Bilder und Blumen: begriff niemand recht was er wollte. Mit einer glücklichen Wendung aber verließ er diese Dinge plötzlich,6 indem er sich der nationalen Frage zuwandte. Die innere Glut der Begeisterung begann jetzt Worte zu finden: oratorische Wendungen von einer Schönheit, wie sie keinem der andern Redner zu Gebote standen, folgten sich: das Phlegma seiner Redeart wich: wenn seine Rede auch nicht die eines Staatsmannes war, wie die von Bennigsen, so traf sie dafür desto tiefer alle nationalen Empfindungen. Das war bei der Wehrenpfennigs noch mehr der Fall. Sein Auftrag war ein Toast auf Kurhessen und Holstein. Seine Rede war ebenfalls mehr die eines begeisterten Ideologen, als eines geübten Politikers. Aber die Gewalt seiner rednerischen Energie, die Wucht der patriotischen Gedanken riß alles hin: Bennigsen kam zu ihm und sagte ihm, er werde eine große parlamentarische Zukunft haben. Für ihn glaube ich ist es jetzt entschieden, welchen Weg er jetzt gehen wird. Das Komité hatte ihm schon vorher den Antrag gemacht, mit Rochau,7 dem bekannten Verfasser der Realpolitik und der neueren Geschichte Frankreichs, zusammen die Redaktion einer politischen Wochenschrift, die in Gotha gedruckt werden soll, zu übernehmen. Wenn die Sache zustande kommt, wird er es annehmen. Mir ist es eine rechte Freude, daß er das Gebiet des Lebens nach vielfachem Tasten gefunden hat, in dem er alle schlagfertige Gewalt seiner Energie gebrauchen und seinem brennenden Ehrgeiz – es ist ja nicht Unrecht solchen zu haben – wahrscheinlich im Laufe der Zeit auf glänzende Weise genugthun kann. Außer diesen sprachen noch eine ganze Anzahl: Schultze-Delitzsch,8 Veit,9 Georg Reimer, Rieser10 – dieser letzte und Schultze-Delitzsch noch gar sehr in der rein rednerischen Manier der Paulskirche, die andern ebenfalls sehr gegen die früheren zurücktretend. Wir nun natürlich saßen sehr behaglich zusammen: Lazarus, Müller, Riedel, Tempeltey – lauter Befreundete und saßen ein gut Stück gegen Morgen zu, zuletzt noch auf der Musiktribüne, da einige der Unsern, besonders Wehrenpfennig und Tempeltey, von einer wahren Redewuth besessen waren und unter einem selbstgewählten Präsidenten sich dieser Leidenschaft mit allem Feuer hingaben, während wir ruhigen Gemüther bei einer Tasse Kaffee unsre Bemerkungen machten. .|.|. Soviel für heute, da ich noch einige Punkte, ehe ich um 1/2 9 zur Bibliothek gehe, in Ordnung bringen muß. .|.|.

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Die herzlichsten Grüße an alle. Ein wahres Grauen hab ich vor der Nothwendigkeit, Ende diesen Monats meine Wohnung zu wechseln. Ich kenne wenig schrecklichere Dinge. Adieu allesamt Euer noch ziemlich schläfriger Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 49 und 50. 1

Dieses Buchprojekt wurde nicht realisiert. Vermutlich auch ein Studienfreund D.s. 3 Heinrich Wilhelm August Freiherr von Gagern (1799–1880): liberaler Politiker, Jurist und Publizist; 1848 erster Präsident der Frankfurter Nationalversammlung und Ministerpräsident von Hessen-Darmstadt, ab 1862 Gesandter Hessen-Darmstadts in Wien. 4 Rudolf Virchow (1821–1902): Mediziner und Politiker; 1849 Prof. der pathologischen Anatomie in Würzburg, 1856 o. Prof. in Berlin, 1862 Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses, Mitbegründer (1861) und Vorsitzender der Fortschrittspartei, 1880–1893 Mitglied des Reichstags. 5 Ferdinand Koepp, der Ehemann von D.s Cousine Karoline, geb. Rückert. 6 In JD: „plötzlich und“. 7 August Ludwig von Rochau (1810–1873): Historiker und Publizist. – Grundsätze der Realpolitik, angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands. 2 Bde. Stuttgart 1853 und Heidelberg 1869; Geschichte Frankreichs vom Sturze Napoleons bis zur Wiederherstellung des Kaiserthums 1814–1852. 2 Bde. Leipzig 1858. 8 Hermann Schulze-Delitzsch (1808–1883): liberaler Politiker; seit 1859 Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses; 1861 Mitbegründer der Deutschen Fortschrittspartei; Begründer der deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften. 9 Moritz Veit (1808–1864): Politiker, Publizist und Verleger; 1833 bis 1858 Buchhändler und Verleger; 1858 bis 1861 Mitglied im preuß. Abgeordnetenhaus. 10 Gabriel Risser (1806–1863): Jurist und Politiker; im März 1848 Mitglied des Vorparlaments und der Nationalversammlung in Frankfurt, seit 1859 Oberregierungsrat. 2

[74] Dilthey an seinen Bruder Karl d[en] 18. März 1860 Meine Glückwünsche, Du liebster Alter, hinken nach; aber Du weißt, wie sie alle Herzlichkeit des Bruders und Freundes in sich vereinen. Möge Dir das folgende Jahr die erste durchgeführte Arbeit bringen. .|.|. Mir gehts gut. Ich brüte über den Originalen der Schleiermacherschen Papiere, die ich endlich bekommen habe, seit einigen Tagen ganz ausschließlich. .|.|.

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Dilthey an seinen Bruder Karl

Der Briefwechsel ist für die Litteraturgeschichte der romantischen Schule sehr wichtig; durch ihn erst läßt sich die ganze Bewegung, die Verhältnisse der Schlegel, Schellings, Hardenbergs, Tie[c]ks, Schl[eier]m[acher]’s übersehen – die Pläne Fr. Schlegels und das innere Verhältniß der verschiedenen Träger der romantischen Richtung zueinander. Einiges Unliebsame läuft auch mit unter, und im zweiten Bande, der von kirchlichen Dingen handelt, giebts arge demokratische Dinge und Persönliches über Friedrich Wilhelm III.1 und seine Minister. Sonst arbeite ich die erste Periode der Scholastik durch und werde daraus auch wahrscheinlich meine Dissertation nehmen. Der Grund ist dieser. Ich wünschte sehr, diese Periode die doch eine Zeit lang Mittelpunkt meiner Arbeiten sein muß, die zugleich so unendlich langweilig und unendlich interessant ist, auf der Pariser Bibliothek, wo noch viele und sehr wichtige ungedruckte Werke der mittelalterlichen Philosophen liegen, durcharbeiten zu können. Nun giebt man mir hier Hoffnung auf Unterstützung, wenn ich erst irgend eine Specialuntersuchung über dies Gebiet veröffentlicht hätte. Ich lasse daher die Geschichte der gnostischen Systeme, ihres Verhältnisses zum Neuplatonismus und Origines liegen und will hierüber zuerst schreiben. .|.|. Leb wohl und laß bald von Dir hören. In alter Liebe und Treue Dein Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 51. 1

Friedrich Wilhelm III. (1770–1840): König von Preußen ab 1797.

[75] Dilthey an seine Eltern (Berlin, Ostern 1860) Wenigstens anfangen will ich heute einen Brief, liebste Eltern! – Diesmal kann ich mich mit einer Neuigkeit revanchiren. Wehrenpfennig ist Bräutigam. Zu unser aller gewaltigem Erstaunen. Er war viel bei Veit, dem Abgeordneten für Berlin im Hause, machte auch wohl eine gelegentliche Anspielung: endlich schoß er an Einem Morgen bei Lazarus’, Müller und mir zugleich die Nachricht ab. Den andern Tag – erste Ostern – war die Braut den ganzen Tag mit uns zusammen bei Laz[arus]’s; wir hatten einmal wieder einen prächtigen Tag dort im Thiergarten, auf dem Balcon und im Hause. Laz[arus] selbst war so liebenswürdig bei Tisch – ein wahrer Sprühregen ge-

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Dilthey an seine Eltern

müthlichen Scherzes –, nachher habe ich auch einmal wieder ein paar Stunden ordentlich mit ihm auf dem Balcon über Wissenschaft geredet, wozu es seit Wochen nicht gekommen war. Seitdem sehe ich die Braut fast täglich und morgen will ich einmal zu Veits gehen, ich sehe aber, ich habe von ihr noch nichts gesagt, kann auch jetzt noch nichts Rechtes sagen. Sie ist also eine Frankfurtherin, Anna Hölzle, Tochter eines dortigen Kaufmanns, mit Veits befreundet. Sie ist 27 Jahre alt, beim ersten Anblick sollte man sie für noch älter halten, später erkennt man die weichen Linien der Züge. Hübsch kann ich sie garnicht finden; zwar ist ihr Wuchs hübsch, der Mund geistreich, aber der etwas verschwimmende, blauäugige graublonde Eindruck des ganzen Gesichts, das nicht gut entwickelte Profil lassen es nur zu einem unbestimmten Eindruck des Ganzen kommen. Ein solches Gesicht braucht Bewegung, um das innere Leben zu verrathen; aber dann kann sie auch recht nett aussehen. Über ihr inneres Wesen läßt sich noch weniger vorläufig reden. Sie ist schüchtern, vollkommen selbstlos, nicht raschen Geistes und durch Witz und schnelle Frage leicht beunruhigt. Aber ihre Gedanken scheinen nach der Tiefe zu gehen: sie lebt augenscheinlich sehr in einsamer geistiger Welt der Betrachtung: besonders auffallend ist die leichte Erregbarkeit ihres Wesens und Gemüthstiefe liegt in allen Zügen ihres Wesens. Sie ist gewiß ihm unbedingt ergeben, von herzlicher Gemüthsoffenheit, der Leitung und der Anregung ihres mehr passiven Wesens sehr bedürfend. Sie liebt W[ehrenpfennig] – wie aus ihren Äußerungen Frau Dr. gegenüber hervorgeht – mit dem unbedingten Enthusiasmus, dessen er wie ich glaube bei einer Frau bedarf. Die Gegenseite dieser leichterregbaren Gemüthstiefe ihres Wesens ist offenbar praktisches Ungeschick. .|.|. Dagegen wird sie gewiß, was das Innere angeht, stets Behagen um sich verbreiten durch die mittlere Temperatur des Geistes, die an den Menschen wie an der Natur die glücklichste ist. Sie scheint fortwährend in einem gemäßigten Klima zu leben. Soviel von dieser neuesten Staatsbegebenheit, welche wie Ihr Euch wohl denken könnt, uns hier beträchtlich in Aufregung versetzt hat. Die Heirathsgedanken des guten Müller haben einen ganz neuen Aufschwung genommen, den der Himmel segnen möge; meine Kleinigkeit dagegen ist noch gestern wegen ihrer Hartherzigkeit allen nicht bereits verlobten oder verheiratheten Damen gegenüber von der Frau Geh[eimen] Rath Riedel in Beichte genommen worden, ich sei gewiß bereits irgendwie vergeben und untergebracht. Ihr braucht also nichts zu besorgen von dem schlimmen Beispiel meines politischen Freundes. Wehrenpf[ennig] lebt nun infolge seiner Verlobung und politischer Aktion hier viel in den politischen Kreisen: Mommsen, Bennigsen, der wieder seit einigen Tagen hier ist usw. Ich dagegen genieße den Frühling sehr idyllisch auf

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Dilthey an seine Eltern

einsamen Spatziergängen, zuweilen mit Riedels, bin viel bei Usener Abends, ihm das Nothwendige zu besorgen, auch draußen öfter als früher wegen der Nähe der Abreise von Lazarus. Wie schwer wird mir doch der Gedanke ihn zu entbehren. So viel Tiefe, Feinheit, herzliche Gemüthlichkeit kann mir kein andrer Verkehr ersetzen. Was ich etwa geistig werde, dazu verdanke ich ihm den größten Theil der Anregung. Seine Frau aber wird mir wohl immer Typus der feinsten geselligen Anmuth in kleinem Kreis sein, der ich je bei einer Frau zu begegnen das Glück hatte. Diese feinste regsamste Beweglichkeit des Geistes vom leichtesten Scherz bis zum tiefsten Aufschließen des Gemüths, diese ursprüngliche Frische des inneren Lebens kann man nicht genug bewundern, wenn man auch die Mängel, welche die Verhältnisse dieser so außerordentlich begabten Natur aufgedrungen haben, sehr deutlich erkennt. .|.|. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 52.

[76] Dilthey an Luise und Bernhard Scholz [Vorsommer 1860.]1 Die Störungen eines Umzugs und allerhand sonst ließen mich nicht früher dazu kommen, Ihnen meinen herzlichen Dank für Ihr Bild auszusprechen. Ich finde es sehr ähnlich; nur daß ich mir Sie am liebsten lachend oder doch irgend mit bewegtem Gesicht vorstelle, und auf dem Bilde sehn Sie eigentlich ordentlich in sich gekehrt aus. Doch auch so sind Sie in meiner neuen Wohnung von Herzen willkommen. Ich muß Ihnen nur gleich sagen, daß ich diesmal eigentlich nur schreibe, um bald Antwort zu bekommen. Denn von hier kann ich nur verdrießlich u Verdrießliches schreiben. Also erstens: meine trefflichen Wirthsleute sind nach Pankow gezogen und so habe ich denn auf gut Glück eine neue Wohnung nehmen müssen. Wie mich das Zigeunerartige eines solchen Umzugs enuyirt glauben Sie nicht. Zweitens: mein lieber Freund Usener hat sich das Knie verstaucht und liegt seit fast 4 Wochen im Joach[imsthalschen] Gymn[asium] – er ist dort Adjunkt – wirklich ohne alle ordentliche Pflege; obgleich ich mit dem Dir[ektor] darüber geredet, hilft alles nichts; der Arzt hats so schlecht gemacht daß er den Sommer nach Teplitz2 muß: nun sitze ich alle Abende da, koche ihm seinen Thé u. besorg die Wirthschaft, arbeite u. plaudre, habe aber natürlich alle Müh ihn heiter zu erhalten. Weiter: Frau Dr. Laz[arus] ist immer noch sehr unwohl und auch dort ist viel Mißmuth. Endlich

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ich selber bin so mißmuthig wegen der Art wie sich der Schleierm[acher]sche Plunder,3 an dem mir doch durchaus nicht soviel liegt, durch die Pedanterie der Bibl[iothek] usw. hin schleppt, wegen unaufhörlicher Erkältungen usw. usw. – kurz ich lebe so zwischen Arbeit, Gesellschaft u Freunden dahin ohne recht Freude u. Fortschritt in dem Allem. Da haben Sie nun ein Bild von der Unbehaglichkeit meines Zustandes und wenn Sie nur ein wenig Allgemeine Menschenliebe haben, bekomme ich gewiß einen langen Trostbrief in ‚rosenfarbner Laune‘. Kennen Sie das Gefühl, das einen überkommt, wenn man eine ordentliche Masse alter Briefe durchliest? Ich kann mich nemlich nie beim Ausziehn enthalten, was nur so durch die Hände geht, wieder einmal näher anzusehn und da geschieht es denn meist, daß ich mich lange hinein verliere. Besonders konnte ich diesmal von dem Tagebuch nicht los kommen, das ich in Heidelberg4 geführt. Wenn ich diese Phantasien durchblättre, so wird mir die wunderliche Gemüthsstimmung wieder ganz lebendig, in der ich damals als kaum 18jähriger, in der Tasche den Hölderlin, an dem ich jetzt noch in Erinnerung jener Zeit mit besondrer Vorliebe hange, die Hügel um die Stadt durchstreifte und oft in einer Art von mystischem Taumel die aus den Tiefen der Erde dringende Gewalt der göttlichen Natur in den hinaufstrebenden Felsen und in den schlanken leichtbewegten Bäumen zu empfinden u. zu umfassen glaubte. Noch kannte ich weder Geschichte noch Menschen und mir schien nichts göttlicher, als der dunkel gährende, unbewusst wirksame Trieb, kraft dessen die Weltseele sich in der erscheinenden Natur wie in den Gestalten eines großen Gedichts – des Gedichts der Gedichte – auszuwirken scheint. Das waren seltsame Stimmungen, aber tiefer habe ich doch die Natur niemals empfunden als damals. Dann kam Berlin u. die Begeisterung für die Kunst gewann über alles die Oberhand. Mit welcher Andacht saß ich damals im Schauspielhause, analysirte Charaktere Sh[akespeare]scher Stücke u. Dessoirs Auffassungen. Aber ich sehe ich plaudre Ihnen da von gleichgültigen Dingen vor aus alten Zeiten – sicher nur um nichts erzählen zu müssen, was ich heute denke u. empfinde. Denn das würde beim besten Willen zu sagen schwer fallen. Zum Glück giebts noch eine Art von Arbeit bei der man weder zu denken noch zu empfinden nöthig hat. Da haben Sie also die schlimme Laune die Sie mir schickten retour und nun hoffe ich von Ihnen eine Sendung guter, an der Sie ja Überfluß haben. Denn das muß ich schon ordentlich zur bösen Laune in Ihrem Brief rechnen, daß Sie mir von Ihrer neuen Freundin, dem ‚Menschengesicht‘ nichts Weiteres berichtet haben: denn dies Prädikat mocht’ ich drehen wie ich wollte, die Freundin wurde mir um nichts anschaulicher. Und von Joachim schreiben

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Sie gegen alle Verträge nichts. Ich habe seltsamer Weise heute Nacht von ihm geträumt, vielleicht weil ich mich gestern schon mit der Absicht zu schreiben trug. Was diesen Zauber über mich übt, ist glaube ich die eigenthümliche Tiefe des Gemüthslebens, die aus ihm spricht, gebändigt von der Energie künstlerischen Wollens. Daher entsteht ein solcher Eindruck des Einfachen, ruhig Klaren, hinter welchem doch die ganze ungestüme Kraft vielfacher Gemüthsbewegung, heftigen Ehrgeitzes, eines fast launenhaften Empfindungslebens liegt. Er ist eine durch u durch romantische Natur. Aber ich schreibe diese Räthsel nur so hin um Sie zu bewegen, mir dafür Aufklärungen zu schicken. Denn ich glaube doch immer daß sich Frauen besser auf Menschen verstehen, als wir Männer, selbst wenn wir Historiker von Profession sind, wie meine Kleinigkeit. Wenigstens bewundre ich Frau Dr. Lazarus immer wegen des feinen Ahnungsvermögens in dieser Beziehung und der außerordentlichen Klarheit der Eindrücke, die sie von Menschen empfängt – soweit nicht Vorurtheile, die aus ihrer Lage entspringen, ins Spiel kommen. Da ist natürlich für Frauen die Gränze, während sie wohl bei Männern mehr in der harten Eigenthümlichkeit ihres Wesens liegt. Jedenfalls ist es für mich ein, wenn nicht das Hauptstück wahrer, natürlicher, nicht künstlich präparirter Gescheidtheit bei Frauen, wenn sie sich auf die Menschen u. auf der Welt Lauf verstehen. Auf alle Ästhetik usw. leiste ich gern Verzicht. Übrigens wird Frau Dr. Laz[arus] Sie, wenn Sie sie kennen, sehr um ihrer selbst willen interessiren. Was hat diese Frau für ein herrliches Naturell! Mir steht im Augenblick kein andres Wort zu Gebote die tiefste Naturgrundlage zu bezeichnen. Ich meine nemlich die kraftvolle, feine, unendlich elastische Regsamkeit ihres inneren Lebens, die von der leisesten Anregung zu jeder Äußerung vom heitersten Scherz bis zum Aussprechen der tiefsten Empfindung erregt wird, die sich selbst immer ganz beisammen immer lebendig hat. Nichts liebenswürdiger, als sie ausgelassen zu sehen, mit diesem feinen Sinn für Anstand u. doch der Unerschöpflichkeit in guter Laune u. Scherz. Sie können sich denken, was für ein feines Verstehen der Menschen sich aus dieser tiefen Erregbarkeit bei jemandem, der viele u. einige bedeutende Menschen gekannt u. viel positiven Verstand hat, ergeben muß. Nehmen Sie dazu unaufhörliche Anregung zum Nachdenken u wahre innere Güte, so haben Sie die Grundzüge ihrer Natur. Leider sind sie mit der Zuthat versetzt, welche die Verhältnisse fast in allen Fällen in die ursprünglichen Anlagen mischen. Eine innre Bitterkeit über die Zurücksetzung ihrer Nation lässt sie alle Verhältnisse leicht in diesem Sinne betrachten u. verschieben; im ersten Verkehr äußert sich dieselbe leicht als zurückhaltendes Selbstgefühl; was dem Juden gewöhnlich versagt ist, Titel und Rang hat eine gewaltige Anziehungskraft für sie. Wie dem auch sei – wie gesagt, wenn Sie sie kennen lernen, werden Sie sie gewiß sehr bewundern u lieb haben.

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Aber es ist Zeit daß ich mich Ihnen empfehle, denn ich möchte bei Ihrem Herrn Gemahl auch noch eine kleine Visite machen. Ich wiederhole meine Bitte, mich nicht meiner schlimmen Laune rettungslos zu überlassen und freundlich zu gedenken Ihres W. Dilthey Lieber alter Bernhard! Ich sollte Dich zwar eigentlich mit Stillschweigen dafür strafen, daß Du Dich über meine Briefe an Deine Frau lustig machst u. nichts darin Deiner Aufmerksamkeit für werth u. für sie bestimmt erachtest, als was darin steht wie mirs geht. Und dazu thust Du noch gar als hätte ich zwei Stilarten, eine für Herren und eine für Damen, wie Alltags u. Sonntagskleider. Wie schön wenn Du gekommen wärest! Du kannst nemlich trefflich bei mir logiren, da ich zwei Zimmer habe. Nun muß ich mich aber wohl noch gedulden, bis ich wieder mit Dir die Linden entlang wandle. was für eine Freude wäre es doch gewesen. Doktors sind Dir wirklich von ganzem Herzen gut; ich freue mich immer, mit welcher herzlichen Anhänglichkeit Frau Dr. von Dir spricht. Wie gut hättest Du Dich auch mit meinem Freunde Usener verstanden. Also mit der Oper gehts rasch vorwärts. freilich wird Glasers Reise nach Hause wohl dies in Stocken gebracht haben.5 Laz[arus] hat ihn in Frankfurth getroffen u. von ihm gehört daß sein Vater gestorben ist. Versichre ihn doch meiner herzlichen Theilnahme. Ich lese jetzt den Scotus Erigena,6 den Pantheisten des 10ten Jahrhunderts. Mit Laz[arus]’s Abhandlung über den Einzelnen u das Allgemeine, die jetzt endlich kommen sollte als Schluß des 6ten Hefts wirds nun doch wieder nichts. Er will seinen in Bern gehaltenen Vortrag über die Entstehung der Sitten dazu nehmen7 u. dazu hab ich nun gar kein Fiduz.8 Tempeltey seh ich jetzt ziemlich oft, da ich so lange Riedels Braut zu Besuch da ist, oft mit ihm spatzieren gehe od[er] Abends dort bin. Er hat sich wirklich einigermaßen gemacht. Hie Welf hie Waibli[ngen] hab ich jetzt auch gelesen, ist aber nicht mehr dran als an der edl[en] Klytemnästra.9 Auch Jahns Mozart10 hab ich inzwischen zu Gesicht bekommen, bin aber völlig enttäuscht davon. In das Wesen der Musik wird man da auch nicht tiefer eingeführt. Es taugt nicht viel mehr in dies[er] Beziehung als Marx Beethoven.11 Schreib mir ja ordentlich mit, lieber, alter, und behalt lieb Dei[nen] W. Dilthey. Meine Wohnung ist: Dorotheenstraße 84.

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Original: Hs.; HLB Wiesbaden, HS 341 (5); Erstdruck: BDSch, Nr. 5; WA in: JD, Nr. 53. 1

Die Datierung wurde von der Hg. von BDSch vorgenommen. Kurort in Böhmen. 3 Gemeint ist der Briefwechsel Schleiermachers. 4 D.s Tagebuchaufzeichnungen wurden 1915 in den Mitteilungen aus dem Litteraturarchive in Berlin, N.F. 10 unter dem Titel Ethica. Aus den Tagebüchern Wilhelm Diltheys (1854–1864) veröffentlicht; WA in: JD, passim; die Aufzeichnungen der Heidelberger Zeit, ebd., S. 1–5. 5 Scholz arbeitete an einer neuen Oper, zu der Glaser den Text verfasst haben soll (vgl. die entsprechende Anmerkung der Hg. in: BDSch, S. 448, Anm. 2). 6 Johannes Scotus Eriugena (um 810–877): irischer Philosoph. 7 Den Vortrag Über den Ursprung der Sitten hielt Lazarus am 23. März 1860 in Bern; abgedr. in: ZfV 1 (1860), S. 437–477. Sein Beitrag Über das Verhältnis des Einzelnen zur Gesammtheit erschien später in: ZfV 2 (1862), S. 393–453. 8 Mut. 9 Tempelteys Drama Hie Welf – hie Waiblingen erschien 1859 in Leipzig (vgl. hierzu auch JD, S. 120). – Seine Tragödie Klytemnästra war bereits 1857 in Berlin publiziert worden. 10 O. Jahn: Mozart. 4 Bde. Leipzig 1856–59. 11 A.B. Marx: Ludwig van Beethoven. Leben und Schaffen. 2 Bde. Berlin 1859. 2

[77] Dilthey an seinen Vater (Berlin, zum 4. Juni 1860) Meinen herzlichsten kindlichsten Glückwunsch, liebster Vater, zu Deinem Geburtstage. Wie haben an diesem Tag Deine Kinder nur den einen Wunsch und das eine Gebet, daß Gott Dir einen langen, heiteren kraftvollen Nachsommer des Lebens gewähren wolle! Mir ist es als ob ich heftiger als je diesmal das Bedürfniß empfände, an diesem Tage bei Dir zu sein, meine unbegrenzte Dankbarkeit für soviel Liebe, Vertrauen und Geduld, wie Du sie mir so viel Jahre hindurch zeigest, Dir recht aus vollem Herzen auszusprechen. Und doch wie arm ist das Wort, wenn die Wogen der Empfindung über unsere Seele gehen in solchen Stunden höchster Erregung, in die sich eine ganze Vergangenheit zusammendrängt, wie arm zumal das meinige, das von Natur scheu ist, Mund zu Mund der inneren Gefühlswelt Ausdruck zu verleihen! Was ich je werde, verdanke ich Dir, und darum ist es auch mein liebster Wunsch, daß Deine Wünsche für mich Wahrheit würden und Du mich bald in einer Existenz sähest, die Du mit sorgloser Freude verfolgst, daß Du von meinen Arbeiten und Arbeitsplänen, von meinem ganzen inneren Sein auch äußerlich bald eine lebendige Anschauung gewönnest. Wem Gott die Eltern

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Dilthey an seinen Vater

erhält, der hat ja das Glück, allen Erfolg seiner Arbeit nicht für sich selbst – ein armseliger Zweck! – sondern für sie erstreben zu dürfen. Dies freilich wirst Du ja – so Gott mir Gesundheit läßt – immer wissen, daß ich in meiner Weise glücklich, thätig und tüchtig bin und sein werde. Aber ich bin nicht der Thor, der um seines eigenartigen und individuellen Glückes willen das allgemeine einer tüchtigen bürgerlichen Existenz gering achtete. Und so wünsche ich denn sehr von Herzen, daß ich Dich recht bald mit dem Geburtstagsgeschenk einer solchen überraschen könnte. Hier gehts jetzt ziemlich einsam zu. .|.|. In einem Monat kommt Usener nach Wiesbaden ins Bad und da wirst Du wohl recht oft Gelegenheit haben, Dich an ihm zu erfreuen. Er ist die Treue und Tüchtigkeit selbst. .|.|. Manchmal besuch ich Steinthal, der jetzt allein in Lazarus’ Wohnung haust und an der zweiten Auflage seiner „Classifikation der Sprachen“1 beschäftigt ist, die zu manchem interessanten Gesprächsthema Anlaß giebt. Er ist mir ein rechtes Bild, wie auch ein Gelehrter, dem im Äußeren nichts nach Verdienst gelingt – da er ein Jude ist, hat man ihm bisher immer noch keine Professur gegeben, obgleich er anerkanntermaßen der bedeutendste lebende Sprachphilosoph ist –: ein in sich bedeutendes, fruchtbares und heiteres Leben führen kann. Sonst hat sich unser Kreis durch die Ankunft Wachsmuths2 vermehrt. Er wohnt ganz in meiner Nähe und da er ein sehr gutes billiges Hausmannsessen von seinen Hausleuten bekommt, esse ich bei ihm und bin mit dem Tisch sehr zufrieden. Ohnehin ist mir das im Gasthaus neben jedem Beliebigen essen höchlichst zuwider, besonders da ich in meiner bisherigen Restauration meist jüdische Kaufmannsbengel – die nichtswürdigste Sorte Menschen, die Berlin produziert, zur Nachbarschaft hatte. In der Politik weiß jetzt hier kein Mensch aus noch ein; eine feste Ansicht über die italienische Sache hat hier die Regierung nicht. In meinen Arbeiten gehts sehr langsam; die Sachen sind unendlich schwierig. Ob ichs zwinge? Ich hoffe es immer noch. .|.|. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 54. 1

Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprachbaues. Berlin 1860. C. Wachsmuth lebte vorübergehend in Berlin, während er vom Frühjahr bis zum Herbst 1860 als Lehrer am Joachimsthalschen Gymnasium tätig war. 2

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Dilthey an seine Schwester Marie

[78] Dilthey an seine Schwester Marie Liebstes Mariechen!

(Berlin, [17.] Juni 1860)

Ich lege mir bei Euch einen Schatz guter Werke an mit meinem Briefeifer und hoffe Ihr werdet mir’s doppelt vergelten. .|.|. Ich bin zum Arbeiten ohnehin eben nicht aufgelegt, da ich erst heute nacht um 3 Uhr mit meinem Artikel zu Nitzschs Jubiläum fertig geworden bin und eben die Correktur dieses letzten Brockens, der seit 6 Uhr gesetzt wird erwarte.1 .|.|. Da kommt der verwetterte Druckerjunge. Wie oft habe ich in diesen Tagen geseufzt, wie idyllisch meine Wohnung beim Blühen des Jasmins wäre, wenn es keine Druckerjungen auf der Welt gäbe! [19. Juni 1860]2 Ich komme eben von Nitzschs wo Hoffmann und ich allein in der Familie waren. Alles festlich geschmückt mit Blumen in den schönen weiten Räumen der Probstei; der alte Herr kam uns entgegen und küßte uns eh wir ihm gratulieren konnten. Die vielen Beweise der Theilnahme – drei Tischchen liegen voll Dedikationen usw. – gingen ihm doch sehr nahe. Er habe rechtes Zutrauen zu seinem Charakter bekommen, da ihn eigentlich alle Adressen auf gleiche Weise auffaßten. „Am tiefsten ginge doch das in der deutschen Zeitschrift in seine wissenschaftlichen Gedanken ein.“ – „So.“ – „Ich dachte, wenn es von hier sei, könne es nur von Wehrenpfennig oder von Ihnen sein.“ – „Hm.“ – „Also Sie sinds nicht?“ – Da mußt’ ichs freilich gestehen. Dann kam er ins Erzählen, wie immer, wenn ihm recht gründlich wohl ist, und erzählte, wie’s ihm als Rektor 1848 ergangen sei, von seinen Reden und den Volksversammlungen usw. .|.|. Morgen Mittwoch ist Essen, dann Fackelzug der Studentenschaft, wozu ich in Nitzschs Wohnung eingeladen bin. Ist das vorbei, so hab ich Lust einen Festbericht für die preußische Zeitung zu machen,3 des schnöden Geldes willen, wenn ichs irgend der Stimmung nach über mich bringen kann. .|.|. Gute Nacht, morgen mehr! Mittwoch [20. Juni 1860] Festgegessen, gefackelt, den Festbericht, wie unser Joachimsthaler Rendant4 sich ausdrückte, ‚abgestoßen‘, und ich bin wieder ordentlich in der Arbeit. .|.|. Usener hat mit getafelt und den alten Böckh, der in seiner seligsten Laune mit der großen Rektorkette nach aufgehobenem Tisch herumbummelte, mit Aristoteles-Scholien5 auf die spaßhafteste Weise beunruhigt – er geht wieder leidlich. .|.|.

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Dilthey an seine Schwester Marie

Ich schicke den Aufsatz und auch den lumpigen Artikel in der preußischen Zeitung, der in einigen Stunden und zum Theil auf dem Redaktionszimmer fabriciert ist. .|.|. In Eile Euer Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 55. 1 D.s Beitrag Zum Jubiläum von Carl Immanuel Nitzsch erschien anonym in: Deutsche Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben, N.F. 3 (1860), Nr. 24 vom 16. 6. 1860, S. 185–192; WA in: GS XI, S. 39–57. 2 Dieser Briefabschnitt ist in JD datiert mit „Sonntag abend“. Aus dem Inhalt des Briefes geht aber hervor, dass er am Dienstag, dem 19. Juni 1860, geschrieben wurde. 3 Das Jubiläum des Propstes C. Imm. Nitzsch, in: Preußische Zeitung (Berlin), Morgenausgabe, Nr. 283 vom 20. 6. 1860, S. 1–3 (gez. „n“). 4 Rechnungsführer. 5 Erklärende Randbemerkungen (alexandrinischer Philologen) in griech. oder röm. Handschriften.

[79] Dilthey an seine Mutter Liebste Mutter!

(Berlin, Sommer 1860)

Nur eine Zeile, damit die Anfrage des Vaters Antwort findet. .|.|. Ich bin sehr fleißig, um mir 14 Faulenzertage zu verdienen und muß schlechterdings bis zu einem gewissen Punkt vor der Abreise kommen. Stören thut mich niemand, da alle Familien weg sind. .|.|. Laz[arus]’s schreiben ja, daß sie Euch recht frisch und den Vater gesund getroffen haben. Hoffentlich thut Gleisweiler1 auch noch das Seine! Da werden wir ja alle – so Gott will – recht frisch, gesund und heiter beieinander sein. Ich zehre auch einstweilen im Voraus davon, da das Bücher! und nichts als Bücher! mir denn doch zuweilen zuviel wird und den Kopf toll macht. Ich fühle mich zuweilen ganz nervös und müde von all dem Plunder. Wehrenpfennigs Memoire hat sich neuerdings wieder geregt und es ist – wie ich höre – davon die Rede, ihm die Redaktion der ministeriellen Zeitung mit 1500 r. Gehalt zu übertragen.2 Doch glaub ich noch nicht dran, so sehr lieb es mir wäre. Er käme in seine Branche und mir wäre es außerordentlich lieb, durch ihn in die politischen und Regierungsverhältnisse hier näheren Einblick zu bekommen; denn niemand außer denen welche die Sachen selbst machen, ist so gut von allem unterrichtet, als die Redakteure dieser Zeitung.

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Dilthey an seine Mutter

Ich habe wunderliche Gutachten eines Ministers und zweier Geheimräthe über das Memoire bei dem jetzigen Redakteur Eggers3 gesehen. Mit wie mäßigem Verstand wird auch zuweilen auch hier zu Lande die Welt regiert! Indeß wozu viel schreiben, da ich hoffe nächstens bei Euch am Cafétisch zu sitzen im Garten und durcheinander von dem und jenem zu erzählen! .|.|. Adieu! In treuer Liebe Dein Wilhelm Sonntag Mittag 2 Uhr. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 58. 1 2 3

Dorf in der Pfalz mit Kurbetrieb. Wehrenpfennig war 1858–1862 Direktor des Literarischen Büros im Staatsministerium. F. Eggers war 1858–1860 Hg. und Redakteur der neu gegründeten Preußischen Zeitung.

[80] Dilthey an seinen Vater (Berlin, Anfang August 1860) Ich denke liebster Vater, daß Dir ein baldiger Brief in der schattigen Stille von Monrepos1 doppelt lieb sein wird. Zumal Dir Usener dort leider keine weitere direkte Nachricht von mir geben kann, der kommenden Donnerstag in Wiesbaden ankommt und dort – sehr contre coeur die 4 Wochen verbringen muß zum Baden. Er wird gewiß fleißig nach Biebrich kommen. .|.|. Es ist doch wunderlich, wie wir uns in der Ferne gefunden haben! Obgleich in verschiedenen Gebieten arbeitend, ist er mir doch innerlich so verwandt, wie kein andrer meiner Freunde. Ich verdanke ihm gar viel und nicht nur seiner frischen, scharfen, zu philosophischer Genauigkeit in allem drängenden Natur, seinem überlegenen Wissen: die innere Zartheit und Milde, die rücksichtsvolle Feinheit seines Charakters ist meinen derben Manieren, mit Menschen und Sachen umzuspringen – gern ein wenig en gros – sehr heilsames Gegenmittel. Für Styl und Form von Werken aller Art hat er einen überaus feinen, fast genialen Sinn und da solche Fragen mich von früh sehr beschäftigten und mit meinen letzten Absichten, dem Verhältniß der verschiedenen Formen des menschlichen Geistes induktiv näher zu kommen, aufs engste zusammenhängen, so sind diese zumal ein unerschöpflicher Quell unseres Gesprächs. Er hätte Dir dann auch am besten erzählen können, was Du freilich

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wohl ohnehin schon als das Wahrscheinlichste angesehen hast, daß es mir nicht möglich geworden ist, zum Beginn der Vorlesungen zu Herbst fertig zu werden. Ich kann es mir nicht leid sein lassen, ja ich bin heimlich, was mich anbetrifft, froh darüber. Sobald ich zu lesen anfange, komme ich in den nächsten 2 Jahren nicht zu weitläufigen zusammenhängenden und auf engeres Gebiet beschränkten Untersuchungen. Man muß da eben mit seinen Studien große Gebiete durchmachen; kleine Arbeiten fallen ab; man bereitet Größeres vor; aber es kann nichts reif werden. .|.|. Wie nun die Verhältnisse einer so großen Universität sind, ist das Lesen hier, ohne einen Namen zu haben, mir äußerst fatal. Ich muß also nothwendig mit meinem Buche bis auf das Letzte, Darstellung usw. in der Hauptsache fertig sein. Wäre ich nur bei meinen Untersuchungen über die alexandrinische Religionsphilosophie und den Gnosticismus geblieben, so könnten sie jetzt nahezu fertig sein. Ich kann es aber doch nicht bereuen, daß ich mich ins Mittelalter habe locken lassen: zu viele Gesichtspunkte sind mir dadurch aufgegangen, auch für jene frühere Zeit, die mich in meinen letzten Bestrebungen, welche ich als den Zweck meines Lebens betrachte, gefördert haben: zu groß ist auch der Vortheil, ein so wenig durchgearbeitetes Gebiet, in dessen Bewältigung so sehr alle Kraft der Einzeluntersuchungen zugleich mit der größeren geschichtlichen Anschauung in Anspruch genommen wird, vor Augen zu haben. Schade freilich, daß ich die Pariser Handschriften nicht vorher in diesem Winter benutzen kann: nach dem Buche wird ohne Frage, wenn die Zeiten danach sind, eine Reiseunterstützung von Bethmann-Hollweg zu erlangen sein, zumal sich Nitzsch und Trendelenburg sehr dafür interessiren. .|.|. Mancherlei andere Pläne regen sich wieder in meinem Kopfe – mir sehr liebe darunter. Besonders sehr vieles, was ich in den letzten Monaten über das Wesen des Christenthums und seine Hauptformen nach historischer Auffassung niedergeschrieben habe. Ich möchte so gern einmal darüber meine Ansichten im Zusammenhang darstellen. Freilich muß ich erst einmal wieder Zeit haben, mich ausschließlich mit Metaphysik und Psychologie gründlicher als je früher zu beschäftigen. Ich denke, ein Collegium über Apologetik soll mir Veranlassung werden, dergleichen Dinge redend und schreibend aufzunehmen. Das Schönste bei diesem Hinausschieben ist aber, daß ich nun Zeit gewinnen werde, 2 Monate etwa mit Dir zusammen zu verleben, worauf ich mich unsäglich freue. Das muß recht ordentlich durchgedacht, angeordnet und ausgenossen werden, da es mir dann nicht so bald wieder so gut werden wird. .|.|. Von Lazarus’ habe ich jetzt auch die erste ordentliche direkte Nachricht, die ich beilege,2 da’s zum Schreiben zu weitschweifig ist, doch bitte ich Dich,

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den Brief sorgfältig aufzuheben, da ich meine kleine liebenswürdige Briefsammlung von Frau Doktorin sehr hoch halte. Du wirst leicht durch die fröhlichen Schilderungen das Gefühl der Enttäuschung durchsehen. Mit seiner Abhandlung über die Entstehung der Sitten, in der in den mittleren Parthien sehr Schönes ist, schicke ich Dir meinen Aufsatz über „den Satan in der christlichen Poesie“, dem ich leider sehr ansehe, daß er vor 11/2 Jahren geschrieben ist. Das erste gewaltsame Streben darin nach concreter Popularität, das alle Betrachtungen in Andeutungen zurückpreßt und den Styl zerreißt, ist mir sehr fatal und der Schluß, der sehr übereilt war, über Faust, ist fast unverständlich, so viel Gedanken ich dabei hatte. Der Gedanke war indes gut; ich wollte damals mehrere solche Aufsätze über alle wesentlichen Gestalten der christlichen Mythologie: ewigen Juden, Heiligentypus usw. machen, die freilich ganz anders und wissenschaftlicher behandelt werden müssen, sollte etwas dabei heraus kommen. Exemplare des Nitzschaufsatzes habe ich selbst keine mehr; ich habe mit dieser Nullität verschiedenen Freunden, die mir ihre Arbeiten geschenkt hatten, meinen guten Willen zeigen müssen. Hoffmann und andern hier hat er übrigens ganz gewaltig gefallen; dagegen denen auf deren Urtheil ich hier in Berlin am meisten gebe, Wehrenpfennig und Usener gar nicht sonderlich und Wehrenpfennig ist mir wegen seiner andeutenden undialektischen Manier darin stark zu Leibe gegangen, leider sehr mit Recht. Adieu, ich kann schon sagen, auf Wiedersehn! Dein Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 57. 1 2

Vermutlich ist das Seeschloss Monrepos (Ludwigsburg) gemeint. Nicht überliefert.

[81] Dilthey an seinen Vater Mittwoch (Berlin [Anfang August] 1860) Eben kommt Deine Encyclica,1 ehe ich meinen Brief abgeschickt habe. Die Heiterkeit darin thut mir unendlich wohl. Ich denke, dieser Aufenthalt und dann eine tüchtige Badezeit soll Dir für den Winter sehr gut thun. Und abgesehen davon, eine so idealische Existenz, wozu ich Religionsunterricht und Predigen sehr mitrechne, ist eine rechte Gabe Gottes.

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Wie freut mich, daß Dir der Aufsatz so gefällt!2 Wie soll Dir erst mein Buch über den Ursprung der mittelalterlichen Philosophie gefallen.3 Meine ganze Ansicht vom Verhältniß des Christenthums zur Philosophie und Kunst und meine ganze leidenschaftliche Liebe zum ächten Christenthum will ich hineinlegen. Vom Schleiermacherschen Briefwechsel bekommst Du schwerlich mehr als die ersten Bogen nach Monrepos und die kaum. Was sollst Du auch damit, eh Du das Ganze übersehen kannst, wozu wesentlich die Einleitung gehört, die erst zuletzt gedruckt werden kann. .|.|. Wehrenpfennig arbeitet eben an einer langen Abhandlung über die letzten Kammerverhandlungen für Hayms Jahrbücher4 und hats nach seiner Art höchst gründlich damit genommen. In diesen Tagen werde ich wohl einmal bei Riedels, die in Freienwalde5 einen Monat wohnen, einen Tag zubringen, was mir gut thun soll. So wunderlich der alte Nationalökonom, Historiker und Kammerredner usw. sein kann, so rede ich doch sehr gern mit ihm. Er hat mir jetzt seinen gesammelten Apparat über Anselm von Havelberg,6 einen interessanten Bischof des Mittelalters zur Bearbeitung angeboten, an dem er viele Jahre gesammelt und zusammengekauft hat, da die Werke desselben bis jetzt nur handschriftlich existiren. Auf welche Art ich ihn am besten benutze, weiß ich noch nicht, für jetzt ist gar keine Zeit dazu da. .|.|. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 56. 1

Gemeint ist vermutlich ein Brief des Vaters, der nicht überliefert ist. Satan in der christlichen Poesie. 3 Dieses Buchprojekt wurde nicht realisiert. 4 W. Wehrenpfennigs Aufsatz Die Legislaturperiode des Hauses der Abgeordneten 1858–61. Ein Rechenschaftsbericht erschien 1861 anonym in Band 8 der PJ (vgl. JD, S. 309, Anm. 63). 5 Freienwalde an der Oder: Stadt im Regierungsbezirk Potsdam, Hauptstadt des Kreises Oberbarnim. 6 Anselm von Havelberg (gest. 1158): Geistlicher in Deutschland und Italien; 1129 Bischof von Havelberg, 1155 Erzbischof von Ravenna. 2

[82] Dilthey an Georg Ernst Reimer Bad Homburg, d[en] 27ten August 1860 Geehrtester Herr! Für die Mittheilung des Briefs von Herrn G[eheimen] Reg[ierungs]r[at] v. Willich vielen Dank. Ich ersehe mit Vergnügen daraus, daß der Veröffentlichung1 kein weitres Hinderniß entgegentritt; denn die noch übrigen Briefe

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sind, mit den ihm Übersandten verglichen, unbedenklich. Über die zwei beanstandeten Stellen mündlich, da ich zum 1ten October nach Berlin zurückkehre. Es ist das doch auch für den Druck der zweiten Abtheilung nothwendig; wenn Sachen wie Samuel Wermfels p. 7 u.s.w.2 durchschlüpften so wäre das sehr fatal. In dieser Rücksicht wäre mir allerdings das Liebste, wenn der Druck nicht über die erste Abtheilung hinauskäme u. ich vom Beginn der Schlegelschen Briefe ab in Berlin anwesend wäre. Bis dahin wäre vielleicht am besten, wenn mein Freund Usener (Adjunkt am Joachimsth[alschen] Gymn[asium]), welcher nächsten Donnerstag oder Freitag nach Berlin zurückkehrt, die Correktur mit dem Manuscript übernähme. Es handelt sich ja doch wohl nur um c. 4 Bogen; denn ich übernehme später selbst beide Correkturen. Dem Drucker bitte ich zu bemerken, daß er die gewöhnliche Orthographie bei dieser ersten Abtheilung nehmen möge; ich meine es ihm, als ich mit ihm sprach, gesagt zu haben. Auch in diesem ersten Bogen möchte er sie noch einmal revidiren. Was die Herrn G[eheimem] R[egierungsrat] v. Willich nothwendig scheinenden Verkürzungen betrifft, so ist nach reiflicher Überlegung das für den Zusammenhang und litterarhistorisch Nothwendige stehen gelassen worden; wenn ich zurückkehre, so theile ich Ihnen gern das Einzelne hierüber, mit dem Manuscript in der Hand, mit. Im Falle Dr. Usener die Correktur macht, brauche ich das Manuscript nicht; wo nicht, so bitte ich doch, dasselbe mitschicken lassen zu wollen. Die erste Correktur schicken Sie dann wohl im ersteren Falle mit. Ich bin bis zum 8ten September jedenfalls noch hier (bei Küchenmeister Lotz, obere Promenadenstraße), dann wieder in Biebrich; entschuldigen Sie nur, daß Sie durch meine Abwesenheit wegen so mancherlei den Br[ie]fw[echsel] betreffend bemüht werden. Mit hochachtungsvoller Ergebenheit Dilthey Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 1. 1

Des dritten Bandes von Schleiermachers Briefwechsel. Siehe: Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. 3. Bd. Berlin 1861, S. 7. – Samuel Werenfels (1657–1740): reformorientierter Theologe. 2

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Dilthey an Georg Ernst Reimer

[83] Dilthey an Georg Ernst Reimer Eben, verehrtester Herr, bekomme ich einen neuen Druckbogen der sich in den zweiten Abschnitt hinein erstreckt. Ich bedaure sehr, mich nicht hinlänglich deutlich über diesen Abschnitt beim Weggang ausgedrückt zu haben. Da die ganze Orthographie nach der des Originals abgeändert werden muß, da ferner noch mehrere Worte nicht endgültig verstanden sind, z.B. einige italienische, vielleicht auch eine oder die andre Anmerkung – doch dies kaum – zu revidiren, jedenfalls aber alle Citate bei der Correktur noch einmal nachzuschlagen sind: so muß ich nothwendig 1) selbst mit dem Drucker noch einmal über die Grundregeln der Orthogr[aphie] reden, das Übrige nach den Originalen corrigiren 2) die Citate aus Büchern die hier durchaus nicht aufzutreiben sind nachschlagen 3) das Manuscript noch einmal überlaufen in Betreff der offen gelassenen Stellen. Es ist also schlechterdings unmöglich, daß der Druck ehe ich komme vorgenommen wird. Ich bedaure den Aufschub sehr, sehe aber nicht die Möglichkeit, ihn zu umgehen, zumal mein Freund U[sener] im Augenblick so überhäuft ist mit Arbeit durch die Königsrede am Gymnasium, daß er schlechterdings nicht im Stande ist diese Arbeit zu übernehmen. Nehmen Sie noch einmal die Versicherung, wie ich den Aufschub bedaure; aber es hieße die ganze Genauigkeit der Arbeit in fragestellen, wollte ich von hier aus aufs Geradewohl corrigiren oder dort jemand corrigiren lassen. Das schon gedruckte Stück kann ja wohl stehn bleiben, bis ich komme. Ergebenst W. Dilthey d[en] 10ten Sept[ember] 1860 Biebrich a/Rhein Gr[oßhe]rzogth[um] Nassau, Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 3.

[84] Dilthey an Georg Ernst Reimer Verehrter Herr ! Der mitfolgende Bogen hat sich etwas verspätet, da wir wegen des schlechten Wetters früher von Homburg weggingen u. er nachgeschickt werden mußte. Ich war, wie ich jetzt finde, doch noch nicht streng genug im Strei-

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Dilthey an Georg Ernst Reimer

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chen in Bezug auf einige Stücke aus Stube[nrauch]schen u. Sackschen Briefen;1 jetzt wo im Druck alles so breit dasteht, konnte ich nicht umhin, drei solche Briefstücke nachträglich zu streichen und wünschte sehr, daß bei den übrigen die Zwischenräume noch verkleinert werden könnten. Dann würden etwa 4 Seiten dieses Bogens noch gewonnen werden. Ich bedaure, daß wenn ich den noch für diesen Abschnitt restirenden nächsten Bogen erhalten haben werde, bis zum 1ten nächsten Monats eine Pause im Druck wird eintreten müssen. Da ich aber dann sicher eintreffe und der Druck mit beliebiger Schnelligkeit vor sich gehen kann, so können Sie Anfang December gewiß den ersten Band verschicken. Meine Adresse ist jetzt wieder ‚Kirchenrath Dilthey‘, Biebrich a/Rhein H[e]rz[o]gth[um] Nassau. Mit der Bitte, mich u. die Meinigen Frau Prediger Jonas2 freundlichst empfehlen zu wollen ergebenst Dilthey Biebr[ich] 10ten September. [1860] Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R1: Dilthey, 5. 1 Schleiermachers Onkel, der Hallenser Theologie-Professor Samuel Ernst Thimotheus Stubenrauch (1738–1807), und der protest. Theologe und Hofprediger Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738–1817) waren Briefpartner Schleiermachers. 2 Gemeint ist die Witwe Ludwig Jonas’, der am 19. September 1859 verstorben war.

[85] Dilthey an seine Mutter (Berlin, zum 15. Oktober 1860) Liebste beste Mutter! Glück und Heil und Segen Gottes zu Deinem neuen Lebensjahr. Du hast liebstes Mutterchen so viele Jahre für Andre gelebt: möchtest Du im neuen anfangen auch Dir selber mit rechter Ruhe zu leben. Unser aller Glück hängt ja daran, daß wir Euch, Dich und den Vater, heiter und glücklich sehen. Während Ihr ruhig und behaglich beisammen sitzt, habe ich hier schrecklich viel Arbeit vorgefunden. Der Briefwechsel geht ungeheuer rasch: und ich habe mir fest vorgenommen, vom ersten Tag ab meine mittelalterlichen Studien zu treiben und mich durch den Briefwechsel nicht abhalten zu lassen. .|.|. Die ersten Tage d.h. Samstag und Sonntag hat mir eine Anfrage von Wehrenpfennig, ob ich die Redaktion des wissenschaftlichen Beiblattes unter den

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Dilthey an seine Mutter

Bedingungen unter denen er eingetreten war – also mit 1000 Th[a]l[ern] Gehalt – übernehmen wollte, im Kopf gelegen. Zuerst schien mir’s garnicht der Erwägung werth; dann doch wieder, weil ich dachte, daß Euch der Gedanke, meine Existenz sei gesichert, angenehm sein würde; endlich kam ich doch wieder auf meinen ersten Instinkt zurück. Es hieße meine wissenschaftliche Zukunft halb – mehr als halb zerstören, wollte ich diese zersteuende und verflachende Thätigkeit übernehmen. Schreibt mir doch mit einer Zeile Eure Meinung darüber: dann will ich, wenn Ihr nämlich mit mir übereinstimmt, keinen Gedanken mehr an die Sache verlieren. Ohnehin ist für das nächste Jahr meine Existenz gesichert. Reimer hat mich heute früh gefragt, ob mir 1 Fr[iedrich] d’or1 pro Bogen als Honorar recht sei. Das ist in der That sehr, ja übermäßig splendid. Auf diese Art bringt mir der Briefwechsel mit seinen zwei Bänden etwa 500 Th[aler] ein, 100 habe ich noch bei Reimer zu Gute. Verlängern die Leute gar die Sache2 auf ein zweites Jahr, so sitze ich im Überfluß. Dann muß aber mein Buch eintreten und Geld von der Regierung zu einer wissenschaftlichen Reise nach Paris. Und in dieser Situation sollte ich mich in die Redaktionstretmühle verkaufen? Wenn ich noch verlobt oder verliebt wäre! Aber jetzt, liebstes Mutterchen, da ich eine so herrliche Gelegenheit mich solide niederzulassen von der Hand schlage, wirst Du doch Deine Befürchtungen, die Karls hinterlistige Worte in Dir aufs Neue aufgeregt haben, fahren lassen. Usener habe ich sehr wohlauf gefunden. Seine Theophraststudien haben zu für die Geschichte der griechischen Philosophie höchst wichtigen Aufschlüssen geführt und er wird im Winter den Theophast ediren.3 Das für Karl. .|.|. Das Fleißigsein thut mir unendlich gut. Viel regt sich, auch ein neuer wissenschaftlicher Plan, der mich schon auf der Reise beschäftigte: Untersuchung über die Tradition der Kirchengeschichte, wie sie bei Eusebius vorliegt. Ich darf ihn freilich im nächsten halben Jahr nur gelegentlich anrühren. .|.|. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 59. 1

Friedrich d’or: preuß. Goldmünze; entspricht 5 Reichstalern in Gold. Das Schleiermacher-Stipendium D.s wurde um ein Jahr verlängert. 3 Usener hatte 1858 mit der Dissertation Analecta Theophrastea promoviert. – Seine Edition von Theophrasts Metaphysik erschien erst 1890 in Bonn. 2

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Dilthey an Luise und Bernhard Scholz

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[86] Dilthey an Luise und Bernhard Scholz [Vor 31. Oktober 1860.]1 Und wie lange, liebe Frau Capellmeisterin, soll ich denn auf den versprochenen Brief warten? Lieber schreibe ich Ihnen mitten aus meiner Arbeitswirthschaft heraus eine Zeile – ein Brief nämlich ist nicht an der Reihe u. schlechtweg unmöglich – um Sie zu bedräuen u aus der behaglichen Ruhe aufzuschrecken, in der Sie außer Ihrem Maestro und der kleinen Cantatrice2 die ganze Welt vergessen. Ich bin seit fast 14 Tagen zurück. An der Schleiermacher-Schlegelschen Correspondenz wird heftig gedruckt, was, da ich viele Nüsse im Lesen u. den Sachen auf bessre Zeiten u. härtre Zähne aufgespart hatte, eine Masse Zeit kostet. Zugleich bin ich mit wahrem Heißhunger über meine alten Freunde, Scotus Eri[u]g[ena] und Lanfranc3 hergefallen u. habe mich also vorläufig gegen die ganze Welt vermauert in zwei kleinen Stübchen, die die Sonne gar heiter bescheint, etwas Bäume gegenüber und inwendig alles gar zierlich, nur etwas puppenschrankmäßig. Zu Hause habe ich alles wohl verlassen. Da ich mich sehnte den alten Rhein wiederzusehn, bin ich über Köln gereist – dazu um Köln endlich einmal zu sehen, die Stadt der Kirchen, der Mystiker und der Pfaffen. Ich habe dort alle wichtigeren Kirchen durchrannt u. einen förmlichen Kursus der Kirchenbaukunft durchgemacht. Mit was für Gedanken ich zwischen diesen Kirchen u. Klöstern wanderte mit dem Plane einer Geschichte der Gedanken in der Seele, welche der Lebensinhalt der Menschen jener Zeit waren, mögen Sie denken. Wer es vermöchte den ganzen Geist jener Zeiten, wie er am lebendigsten in Bild und Tönen u. Bauwerk lebt zu vergegenwärtigen! An den Worten buchstabire ich wieder eifrig genug, aber die Aufgabe ist zum Verzweifeln. Zweierlei hat mich besonders in Cöln bewegt. Einmal natürlich der Dom – wer könnte würdig davon reden? Ich traf dort eine gar nette Frankfurtherin die mit ihrem jung[en] Manne nach dessen Heimathsort Nürnberg über Brüssel u Paris reiste und mit der sehr gut über alles zu reden war was den Reiz des Sehens verdoppelte. So sahen wir denn mehrere Stunden lang alles sehr gründlich durch. Das andre war ein kleines Bild in Wasserfarben von Dürer – die zwei wandernden Musikanten: nie habe ich dergleichen Mischung von wilder Lebenslust u. Herzeleid, von Wandersehnsucht u. freudigkeit und Schmerz über die Einsamkeit eines verfehlten Lebens gesehn. Und dabei die beiden Gestalten so trotzig u. kraftvoll, in seltsam bunter Tracht aus dem Wald heraus schreitend auf eine Anhöhe! So etwas kann auch Cornelius4 nicht mehr machen.

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Dilthey an Luise und Bernhard Scholz

Hier habe ich Laz[arus]’s getroffen. Sie erzähl[t]en gleich, daß sie Sie an der Eisenbahn gesehn hätten. Schade daß Sie die Frau Dr. nicht näher gesehen haben! Den letzten October Nun hat der Brief, der doch nichts sollte5 als bei Ihnen rasch anpochen, wieder gelegen. Wie bin ich aber auch die Zeit her geplagt gewesen! Da ist zunächst Laz[arus] mit Frau abgereist: Sie können denken, daß ich noch möglichst viel dort war. Leider war er nicht lange da: ich hatte noch so vieles Wissenschaftliche mit ihm zu besprechen u. nun ists zu so Wenigem gekommen! Dann habe ich mich bei der Abreise an der Bahn so heftig erkältet, daß ich ein paar todte u. nichtige Tage gehabt habe! Und dazwischen, immer wieder meine Arbeiten störend, die Correkturen des Briefwechsels. Das Gute kommt freilich dabei heraus, daß ich durch diesen mit meinem Preis zusammengenommen fast anderthalb Jahre auf mir selber stehe. Inzwischen wird mein Buch fertig und sorgen dann die Leute nicht, daß ich nach Paris geschickt oder angestellt werde, so soll sie alle der Teufel holen. Wenn die edle hiesige Facultät nicht einmal dazu dienlich sein soll: wofür ist sie denn überhaupt auf der Welt u. bezieht ihre gewaltigen Besoldungen? Meine Schwestern denken gar oft u. gern an Sie: die Lili phantasirt förmlich von Ihnen, so haben Sie ihr Herz gewonnen. Wenn Sie mit Glaser noch in Corr[espondenz] stehen so theilen Sie ihm doch meine Adresse mit: ich habe noch Geld zu kriegen von den edlen Monatsblättern, aber es kommt keins. Oder bezahlen sie halb nicht vierteljährlich? Nun seien Sie gut, wie immer u geben Sie mir ordentlichen Bericht von der neuen Wohnung, Ihrer6 Gesundheit, Ihrem geselligen Leben – von allem was Sie beide u. die Cantatrice angeht. Die andre Seite möchte ich benutzen, mich Ihrem Eheherrn wieder vorzustellen. Ihr Dilthey Liebster Scholz! Ich bin gewohnt, daß Du alle Eide u Versprechungen, Schreiben betreffend, nur mit dem stillschweigenden Vorbehalt Deiner Faulheit schwörst und da ich mich desselben Jesuitismus schuldig weiß, darf ich nicht klagen. Was Dich zu hören interessiren würde, üb[er] Wehr[enpfennig]’s neues Eheglück u. leben, das habe ich noch zu wenig beobachtet bei meiner u W[ehrenpfennig]’s mangelnder Zeit uns öfter zu sehen, um Dirs näher bezeichnen zu können, wie sich die beiden Charaktere ineinand[er] finden. Genug sie thun es u. scheinen sich einander sehr zu verstehen, ob mir gleich das

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Dilthey an Luise und Bernhard Scholz

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überbildete und von allgemeinen, trivialen Betrachtungen strömende, an treffenden Worten u. lebendigem Naturell dürftige Wesen der Frau nicht zu W[ehrenpfennig]’s Wesen zu passen schien. Sie ist doch nur eine schlechte Copie männlicher Originale, von denen W[ehrenpfennig] ein so bedeutendes ist. Müller scheint einen Poetenstreich gemacht zu haben mit einer Verlobung mit einem einfachen Dorfkinde im Harz; doch ist dies noch sehr u. streng Geheimniß. Er muß eben überall auf seine Facon glücklich werden u. ich glaube er wirds: denn das Mädchen ist nach seiner Beschreibung gut, klug, kräftig u still, an redliges Wirthschaften im Haushalt u an innerliches Denken u. festes Entscheiden gewöhnt. Die Laz[arus]’ u die W[ehrenpfennigs] passen nicht zu einander. Bei allem äußeren Verkehr ist glaube ich jetzt jede innere Brücke abgebrochen. Was macht nun Deine neue Oper? Mach mir doch recht ordentlichen Bericht davon. Ebenso was es von Joachimicis giebt. Der Herm[an] Grimm7 hat ja ein ganz passables Buch über Michelangelo geschrieben, wenn auch etwas leichte Ware.8 Wehr[enpfennig]’s Stellung macht sich ausgezeichnet u. wird auch pecuniär bald sehr gut werden. Der edle Tempeltey schreibt ein bürgerliches Schau u Lustspiel – Geldgewinns halber; er hat auch seinen Doktor gemacht. Steinthal thront einsam im Laz[arus]schen Logis in einem alten Schlafrock: das Logis steht ihm, wie etwa ein Dir abgeliehener Rock; er sieht aus wie eine auf ein paar Stunden geliehene Tante oder Mutter. Er ist wieder damit beschäftigt, einen armen Empiriker, diesmal den Mythologen Kuhn9 philosophisch zu machen, indem er die von jenem entdeckten Data jetzt nachträglich völkerpsychologisch nachweist. Das wird das Hauptstück des nächsten Heftes werden, denn Laz[arus] verharrt vorläufig in seiner alten Götterruhe. Aber das Kolleg das er in Bern lesen will über Wissenschaftslehre wird ihn schon in Bewegung setzen u. hier ist er in der That auf einem Weg, auf dem sich meine Gedanken mit ihm begegnen, ob ich gleich selbst erst in einem halben Dutzend Jahren wagen werde ihn zu betreten: er will die Methoden und Voraussetzungen der historischen und exakten Wissenschaften untersuchen. Fürs letz[t]re wird er sich wohl auf Lotze10 stützen, der ein halbes Leben durch mit den umfassendsten Kenntnissen u mit Genialität diese Gedankenreihe verfolgt hat. Was er aber mit dem ersteren machen will – wo er eben meine Studien kreuzt – das kann ich nicht diviniren: Kenntnisse hat er sicherlich keine darüber. Trotz alledem, muß wer in diesen Gedankenreihen lebt nothwendig viel Wahres u. wenigstens Weiterführendes der Wahrheit entgegen – finden u. so bedaure ich unendlich mich über diese Dinge nicht mit ihm unterhalten zu können. Denn wenn irgend jemand durch ein ungeheures Talent der Beobachtung, des Divinirens, höchster Klarheit wirkliches Wissen bis zu einem hohen Grade ersetzen kann, so ist er es.

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Dilthey an Luise und Bernhard Scholz

Auf der Rückseite ein Gedicht Mörikes aus dem herrlichen ‚Maler Nolten‘11 zum Componiren in großem Styl. Das ‚Doch Du usw.‘ dann ‚Frühling usw.‘ endlich ‚mein Herz‘– Schluß componirt sich wohl von selbst; ich glaube aber daß grade das Übrige was in großem tiefem Styl gemacht werden muß, besonders der Anfang mit dem tiefsinnigen ‚die Wolke wird mein Flügel‘ usw. u. mit dem ‚der Sonnenblume gleich‘ zur höchsten stillen musikalischen Schönheit gedeihen kann. Hier lieg ich auf dem Frühlingshügel, Die Wolke wird mein Flügel, Ein Vogel fliegt mir voraus. – Ach sag mir, alleinzige Liebe, Wo du bleibst, daß ich bei dir bliebe! Doch du u. die Lüfte haben kein Haus. Der Sonnenblume gleich steht mein Gemüthe offen, Sehnend Sich dehnend In Liebe u in Hoffen. Frühling was bist du gewillt? Wann werd ich gestillt? Die Wolke seh ich wandeln u den Fluß, Es dringt der Sonne goldner Kuß Mir tief bis ins Geblüt hinein; Die Augen wunderbar berauschet, Thun als schliefen sie ein, Nur noch das Ohr dem Ton der Biene lauschet. Ich denke dies u denke das, Ich sehne mich u weiß nicht recht nach was; Halb ist es Lust, halb ist es Klage. Mein Herz o sage, Was webst du für Erinnerung In golden grüner Zweige Dämmerung? Alte unnennbare Tage!12

NB auf der Wanderung Noltens zu seiner Braut gesungen. Vielleicht könntest Du überhaupt eine Gruppe Lieder aus dem Roman componiren; er ist bei Schweitzerbart13 in Tüb[ingen] für 1 r. zu haben. Ach daß ich Deine Frau einmal wieder singen hören könnte! Also lasst baldigst u hübsch ausführlich von Euch hören u. es wird sich glänzend revanchiren Euer W. Dilthey Adr[esse] Mauerstraße 23 bei Gebhard.

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Dilthey an Luise und Bernhard Scholz

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Original: Hs.; HLB Wiesbaden, Hs 341 (6); Erstdruck: BDSch, Nr. 6; WA mit Auslassungen und unter Weglassung des Beibriefes an B. Scholz in: JD, Nr. 60. 1

Die Datierung wurde von der Hg. von BDSch vorgenommen. Scholz’ Tochter. 3 Lanfranc (1005–1089): Scholastiker und Kirchenpolitiker. 4 Peter Ritter von Cornelius (1783–1867): Historienmaler. 5 Im Original: „sollten“. 6 Im Original: „ihrer“. 7 Herman Friedrich Grimm (1828–1901): Kunsthistoriker und Schriftsteller; Sohn von Wilhelm Grimm; 1868 Promotion in Leipzig, 1870 Habilitation in Berlin, 1873 Prof. der Kunstgeschichte in Berlin; Mithg. der Weimarer Ausgabe von Goethes Werken. – D. und Grimm lernten sich im Winter 1863/64 durch die Vermittlung B. Scholz’ persönlich kennen; H. Grimm gehörte zum Freundeskreis D.s. 8 H. Grimm: Leben Michelangelo’s. 2 Bde. Hannover 1860–1863. 9 Franz Felix Adalbert Kuhn (1812–1881): Sprachwissenschaftler und Mythenforscher; 1841 Lehrer, dann Prof. und 1870 Direktor am Köllnischen Gymnasium zu Berlin. – Steinthals Arbeit Die ursprüngliche Form der Sage von Prometheus. (Mit Bezug auf A. Kuhn, Die Herabkunft des Feuers und des Göttertrankes, Berlin 1859) erschien 1862 in: ZfV 2, S. 83–101. 10 Von R.H. Lotze’s Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie (3 Bde.) waren die Bde. 1 und 2 bereits 1856 und 1858 in Leipzig erschienen; Bd. 3 folgte 1864. 11 Roman von Eduard Mörike. 12 Das Gedicht Im Frühling hat D. nicht wortgetreu zitiert. 13 Wahrscheinlich handelt es sich um ein Antiquariat. 2

[87] Dilthey an seinen Vater Liebster Vater!

(Berlin, November 1860)

Da Du vielleicht auch nach dem Brief an Mariechen und Leislers1 Bericht von mir einen Brief erwartest, unterbreche ich meine Arbeit ein Viertelstündchen, so sehr sie drängt. Es wird fürchterlich gedruckt. Nun hatte ich bisher mich tüchtig wieder in die Scholastik begeben und habe erst vorgestern dies aufgegeben, um die nächsten 14 Tage nur die Briefe zu redigieren, Anmerkungen zu schreiben und vor Allem die Einleitung, die 5, 6 Bogen werden wird und deren Druck den 1. December etwa beginnt zu arbeiten. Ich bin gern mit einer solchen Arbeit recht gedrängt und so ist mir das nicht unangenehm; nur auf Briefe dürft Ihr vor dem 5., 6. December nicht rechnen, höchstens auf einen gelegentlichen Zettel. .|.|. Was den Vorschlag Wehrenpfennigs betrifft, so habe ich Leisler so ausführlich die Sachen auseinandergesetzt, daß Dir’s in jeder Beziehung genügen wird. Was ich nicht so sagen

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Dilthey an seinen Vater

konnte: wenn es nicht etwas Gewaltiges und die Möglichkeit umfassender Wirksamkeit ist, so werde ich meine wissenschaftlichen Pläne nie aufgeben, denn sie sind mein besseres Selbst. Ich käme mir so losgelöst von meiner ganzen bisherigen Vergangenheit vor wie Peter Schlemihl ohne Schatten.2 Über W[ehrenpfennig]s Stellung ist im Augenblick alles in der Schwebe: kann also noch nicht darüber schreiben. Von Laz[arus]’s keine Nachricht; sie schreiben nicht, was mir ziemlich unbegreiflich, wenn sie wohl genug dazu ist; er nämlich ist stets zu brieffaul dazu. Steinthal hat wieder ein beträchtliches Buch geschrieben: Charakteristik der Haupttypen des menschlichen Sprachbaus.3 Auch ein Heft der Zeitschrift4 ist in der Presse. Lazarus liest Wissenschaftlehre: wie gern spräche ich über Vieles dabei mit ihm! Hoffentlich entkommt er der vertrackten Völkerpsychologie, für die ihm doch einmal die Kenntnisse fehlen. Useners schöne litterarischen Pläne für den Winter sind ihm durch Überhäufung mit neuen Stunden zu Wasser geworden. Wie schade, daß er jetzt ganz im Schulmeistern stecken bleibt. Wann wird sich das ändern? Wenn man nimmt, wie er in einem Maße, wie ich noch bei niemand gesehen, von Anfang an zu einem Gelehrten in großem Styl angelegt war, was für Gedanken und Pläne er in sich trägt, so wäre es ewig schade, wenn von dem Allem nur Dürftiges zum Vorschein kommen sollte. Ihn selbst verstimmt das oft gar sehr. Von Karl habe ich einige kurze und unzufriedene Zeilen.5 Wie schwer ihm überall wird, sich in die Welt zu finden! Was freilich den Mangel an Gleichstrebenden angeht, darin hat er – nach allem was ich aus Bonn höre – recht, desto weniger in seiner Unzufriedenheit im Verkehr mit den Professoren. Da wissen sich die Norddeutschen ganz anders geltend zu machen, als wie wir ungeschickten und stolz zurückhaltenden Süddeutschen. In Breslau wo fast keine Ausländer sind, war dieser Verkehr leicht; ich hatte gehofft, er würde von daher eine Praxis mitbringen, die ich freilich erst spät und dürftig erlernt habe. Auch Usener fehlt es in diesem Punkt. .|.|. Die besten Grüße an alle und Stimbes ein Dutzend Küsse vom alten Onkel. .|.|. Sobald ich über Wasser bin, erscheint eine Epistel von mehreren Bogen. Schreibt fleißig !!! und behaltet lieb Euern Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 61. 1 Franz Leisler: Rechtsanwalt und Notar in Wiesbaden sowie Führer der alten nassauischen Fortschrittlichen Volkspartei (vgl. JD, S. 310, Anm. 66a). 2 Adelbert von Chamissos Werk Peter Schlehmils wundersame Geschichte (1814) handelt von einem Mann, der seinen Schatten verloren hat.

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H. Steinthal: Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprachbaues. Berlin 1860. Gemeint ist die Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Nicht überliefert.

[88] Dilthey an seine Eltern [nach dem 21. November 1860]1 Ihr Liebsten! Sobald ich mir die Zeit abmüßigen kann, sitze ich da und schreibe. Freilich muß ich sagen, daß mir besser könnte vergolten werden. .|.|. Nun hat freilich meine Anstrengung nicht zu dem erwünschten Ziele geführt. Schon seit 8 Tagen sind 22 Bogen gesetzt, nur einige Bogen der Briefe und die Einleitung, an der ich Tag und Nacht arbeite, blieben übrig. Aber vergebens wartete ich auf die Originale der Reimerschen Correspondenz, da sie verlegt sind. .|.|. Meine Arbeit ist immer noch sehr groß, da ich, was ich schon von der Einleitung habe, noch einmal zu einer völligen wissenschaftlichen Entwicklungsgeschichte Schleiermachers umarbeiten werde, die dann wohl in kleinerem Druck 6 Bogen betragen wird, also zu einem förmlichen kleinen Buch. Bei dem Schleiermacherschen Fest2 traf ich Sydow, der mit Schwerins viel verkehrt, aus dessen Äußerungen ich schließen muß daß man mir gern das gesamte Material für eine Biographie Schleiermachers zu Gebote stellen würde, was man bis jetzt allen verweigert hat. Ganz klar sehe ich noch nicht in der Sache. Ich habe ihm aber erklärt, daß ich jetzt ganz andere Dinge für die nächsten Jahre zu thun hätte, die möglichst rasch zu einer Professur führen sollen. Wenn ich die erst hätte, würde ich dieses Anerbieten gern annehmen. Ich muß freilich sagen, daß, wenn mir der noch vorhandene Nachlaß von Friedrich und A.W. Schlegel, der bei Windischmann,3 Böcking4 u. a. sich befindet, wo möglich auch noch was von Novalis sich zusammenbringen läßt, geöffnet würde, ich weit lieber mit diesem und dem Schl[eier]m[acher] zusammen eine Geschichte der romantischen Schule aus den ungedruckten Quellen schriebe. Doch das ist schwer erreichbar, obgleich vielleicht nicht unmöglich: und dann wäre es freilich etwas Großes. Von meinem sonstigen Befinden ist wenig zu sagen. .|.|. Ich bin durch die Einleitung auf den Versuch einer Klassification der ethischen Systeme gekommen, der mich anhaltend neben der Einleitung beschäftigt. Von Laz[arus]’s ein höchst liebenswürdiger Brief.5 Ich schickte Euch solche Briefe gern,

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Dilthey an seine Eltern

wäre ich nur erst wieder in Besitz der früheren, denn bei der gegenwärtigen Oede des geselligen Verkehrs ist mir solche Briefe anzusehen zuweilen ein Trost. Auch von Frau Scholz ein kleines liebenswürdiges Buch von Brief 6 wieder: das lasse ich mir doch noch gefallen. Mit Wehrenpfennigs Frau stehe ich auf dem Fuße eines beständigen kleinen Kriegs in den Formen der größten Artigkeit: das ist noch die beste mögliche Situation, wenn man nicht vor Langeweile sterben will. .|.|. Wie einen auch die politischen Verhältnisse hier aufregen, könnt Ihr denken. Die falschen Grundsätze des Ministeriums in Bezug auf Beibehaltung der hohen Beamten ältren Regimes haben Schwerins ohnehin beschränkten Geist vollständig brach gelegt, da niemand von diesen Leuten nothwendige Reformen bei ihm in Anregung brachte, ja auch nur wenn er, soweit seine politische Uebersicht reichte, sie ins Auge faßte, ihn unterstützt. So ist ein Gesetzentwurf für die Competenzconflikte mit der Polizei längst hin und her überlegt worden, aber man konnte sich zu nichts entschließen. Die liberale Presse hat denn jetzt, als durch den Proceß die desperate Lage der Verhältnisse im Ministerium des Innern offenbar wurde, Schwerin mit einer unglaublichen Heftigkeit aufgegeben, ebenso aber auch die constitutionelle Parthei des Abgeordnetenhauses. .|.|. Was dies Ministerium in dieser Situation allein erhält, ist die allgemeine Besorgniß vor einem schlimmeren und der gänzliche Mangel an Capacitäten die eine andre Zusammensetzung ermöglichten, da man sich zu Vincke wohl nie entschließen wird. Niemand kann sich der Überzeugung entziehen, daß allein im auswärtigen Kriege die Möglichkeit einer fundamentalen Heilung der Verhältnisse liegt. Aber welche Aussichten für einen solchen, da Österreich ohne Zweifel, wie ja längst vorauszusehen war und jetzt schon fast im Anzug ist, einem Bankerutt und einer Revolution entgegengeht, aus denen es sich zweifelsohne nur mit ungeheuren Länderverlusten retten wird? Wie soll man einen Staat halten, der alles thut, sowohl durch Härte als durch Schwäche, sich selbst zu vernichten? Es kann kein unfruchtbareres Geschäft gedacht werden als welches die Verhältnisse Preußen aufladen werden – die Verhältnisse und seine eigene Unentschlossenheit. Alle Fäden der inneren und äußeren Politik sind im Augenblick durch Thatlosigkeit des Ministeriums verwirrt. Ohne Ministerverantwortlichkeitsgesetz wie wir sind, kommt die Differenz zwischen dem Prinzregenten und den Ministern, den Ministern und den Kammern nicht zum klaren Ausdruck und infolge davon auch die gemeinsamen Punkte nicht, auf die sich fest bauen ließe! so herrscht überall zweifelndes und versöhnliches Schwanken. Von Karl erwarte ich in diesen Tagen eine Antwort auf einen längeren Brief.7 Wenn Ihr schreibt, so theilt doch mit wie es ihm jetzt in Bonn behagt.

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Dilthey an seine Eltern

Meine Wohnung und Lebensart ist höchst behaglich. .|.|. Nun seid mir alle tausendmal gegrüßt. Ich gedenke Eurer bei Aufstehn und Schlafengehn. .|.|. Mit Gott! Euer Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 62. 1

In JD ist der Brief datiert auf: „Anfang 1861“. – Da der Prinzregent, der im Brief erwähnt ist, bereits am 2. Januar 1861 als Nachfolger des an diesem Tage verstorbenen Friedrich Wilhelm IV. von Preußen zum neuen preuß. König Wilhelm I. erklärt wurde, muss der Brief früher geschrieben worden sein – allerdings nicht vor dem 22. November 1860 (vgl. Anm. 2). 2 Feierlichkeiten aus Anlass des Schleiermacherschen Geburtstages am 21. November. 3 Friedrich Heinrich Hugo Windischmann (1811–1861): Philosoph, klass. Philologe; Sohn des Philosophen und Mediziners Karl Joseph Hieronymus Windischmann (1775–1839): Prof. der Anatomie in Löwen. 4 Eduard Böcking (1802–1870): Jurist und Historiker; 1829 a. o. Prof. in Berlin, 1835 o. Prof. in Bonn; u. a. Hg. von A.W. Schlegels Sämtlichen Werken. 16 Bde. Leipzig 1846–1848. 5 Nicht überliefert. 6 Nicht überliefert. 7 Nicht überliefert.

[89] Dilthey an Luise Scholz [Vor Weihnachten 1860.]1 Da haben Sie mir einmal wieder, liebe Freundin, einen recht eingehenden, liebenswürdigen, langen Brief 2 geschrieben: einen von der Art, die man gleich auf der Stelle zu beantworten Lust hat, da einem gleich auf der Stelle eine ganze Antwort im Kopfe summt. Und was hindert mich, eine Antwort in großen Buchstaben gleich auf der Stelle anzufangen? Ob auch in deutlichen? Seien Sie nur froh, daß Sie nur meiner Hand anmerken, daß sie jahraus jahrein aus Folianten auf tausend Blättchen in allerhand Sprachen durcheinander excerpirt und daß sie einen ganzen Schreibtisch voll Sammlungen zusammen hat schreiben müssen: wie leicht hätte mir das auch auf die inneren Theile schlagen können! Wenn Sie also künftig einmal recht böse über die armen Buchstaben sind, so denken Sie nur ‚es ist nur halt ein Wunder, daß was man zusammenbuchstabiren muß, manchmal ganz lustig und ohne alle Pedanterie ist‘. Und übertragen Sie Ihren Unmuth nicht von den nichtsnutzigen Buchstaben auf die Hand selber oder gar noch weiter.

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Über den Nolten3 würde ich gar gern einmal mit Ihnen u. Joachim reden, lieber noch über Kleist, dessen merkwürdige Novellen ich sehr genau kenne. Ich habe öfters über den Charakter und die Geschichte der Novelle nachgedacht u. da ist mir Kleist sehr interessant. Im Nolten sind leider zwei Manieren verknüpft, worunter der Charakter des Ganzen sehr leidet. Der Hauptstamm ist vortrefflich. Offenbar ist derselbe aus dem tiefsten Studium Göthe’s, besonders aber der Wahlverwandtschaften und einer Congenialität mit demselben, die kein Nachgöthesches Produkt so zeigt, hervorgegangen. Ganze Seiten könnten in den Wahlverwandtschaften stehen: er hat die feinsten Züge der sprachlichen Technik Göthes erfasst. Das sind Dinge die sich nur im Gespräch aufzeigen lassen. Nur ein Beispiel! Die Art wie Göthe die Reden behandelt, wie z. B. in der wunderbaren Stelle, wo Ottilie sich vom Knie der Charl[otte] erhebt ‚Zum zweiten Male, begann das liebliche Kind, begegnet mir dasselbige‘ usw. – diese Art ist an mehreren Stellen, wie z.B. im Gespräch der Gräfin mit Nolten im ersten Bande sehr schön nachgebildet, und Sie werden empfunden haben, wie diese künstlerische Darstellung dessen was in Wirklichkeit im Reden zerissen zum Vorschein kommt in einem Ganzen, die Gestalten unwillkührlich in die ideale Welt rückt. Hier ist Mörike nun ganz in seinem wahren Elemente. Indem er wie in den Wahlverwandtschaften geschehen ist ein eigenthümliches Problem aus dem Gebiet des tiefsten Gemüthslebens behandelt, ist er daheim; so ist die Reise zur Försterstochter und das Wiedersehen wohl das Schönste im Ganzen (ist Ihnen denn auch die tiefe Stelle so aufgefallen, wie ihn ein über dem Stuhle hängendes Kleid der Geliebten durch die Erinnerung bewegt?). Der Stoff so abgegrenzt zur psychologischen Darstellung des eigenthümlichen Doppellebens in den beiden Hauptpersonen hätte zu einer so reinen u einfachen Construktion des Ganzen geführt, wie sie in den Wahlverwandtschaften vorliegt. Nun haben ihn aber offenbar Jean-Paulsche u romantische Neigungen bestimmt, die andren Bestandtheile einzufügen, die den Charakter idealer epischer Ruhe zerstören. So schön in dem Larkens4 vieles ist, so passt doch dieser gutgeartete Roquairol, oder Schoppe5 – diese andre Wendung des Jean Paulschen Lieblingsmotivs eines Gemüthslebens auf dem Grunde des Scheins u. Betrugs, bes[onders] Selbstbetrugs – gar nicht in das Ganze – und die Zigeuner usw. Wirthschaft noch viel weniger. Sodaß das Ganze mir wenigstens den Eindruck der Verwirrung hinterlässt. Bei Kleist ist der Eindruck in eigentlichem Sinne schmerzlich. Er hat in seinen Novellen das Widersinnige, ja Absurde, welches uns zuweilen in schrecklichen Momenten im Schicksal erscheint, in den verschiedensten Formen ausgedrückt, am wildesten in der Marquise von O. u. im Kohlhaas. Dem Letzteren kommen wir jetzt dadurch beim Lesen zu Hülfe, daß wir den

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glühenden Haß darin, der dem Schicksal gilt, in die Politik hinüberspielen. Sieht man so in diesen Novellen alles Tollste mit kalter Alltäglichkeit auftreten, schreckliche Begebnisse ohne einen Ton der Mitempfindung, ohne einen Contrast, als müsste das so sein u wäre überall so, die seltsamsten Charaktere ohne jede leise Ironie des Darstellers, als wäre die Welt [als] ein Tollhaus vor uns hingestellt: so begreift man kaum wie dieser Mensch das Leben so lange ertrug. Man muß einige Stellen seines größten Werkes, des Prinzen von Homburg, in welchem seine Phantasie bereits mit den Schrecken des Todes in der Ahnung des Selbstmordes spielt (dieser Punkt ist mir stets ein Indicium gewesen, daß die That nichts spät aufgetauchtes, sondern etwas lang durchdachtes war) zu diesen Novellen halten, um das Innere recht zu durchschauen, aus dem diese Verzweiflung an der Vernunft in der Welt so hart u kalt und doch so glühend hervorbricht. Auf der Unterlage dieser Gemüthsstimmung bildeten sich nun diese Novellen unter dem Einflusse der romantischen Novellisten; in dieser Beziehung ist der Vergleich mit Arnims Novellen interessant, die freilich sehr talentlos sind. Das Straffe u. Kurze in seiner Technik – ebenso in der Behandlung der einzelnen Sätze, die kurz u. hart ausgeschnitten neben einander stehen, als wollte jeder stolz u. schroff nur auf sich stehen, als in der Art, wie die Handlung plötzlich eingeleitet u. plötzlich abgebrochen an einem einzigen scharf angezogenen Faden abläuft – ist so ebenso sehr Folge der inneren Stimmung seiner Phantasie, als seines Begriffs von der Kunstform der Novelle. Dies ist es nun was einen zuerst in Erstaunen setzt später zugleich interessirt u abstößt: auch ohne ihn völlig in seiner Intention zu verstehen, muß man schon durchfühlen, daß hier eine Stimmung dauernd her[r]scht, welche selber durchlebt zu haben jedem eine furchtbare Erinnerung ist. Und so hilft mir wenigstens wenig, daß hier aus jeder Seite ein großer Dichter redet: ich liebe es nicht, mich in dies Labyrinth der verworrensten Gemüthsstimmung in der einem ist, als ob – mit alten Sagen zu reden – die Sterne vom Himmel gefallen und die Sonne von dem furchtbaren Fenriswolf 6 verschlungen wäre und die tückischen und ungeschlachten Riesen her[r]schten nun ewig hineinziehen zu lassen. Das Schreckliche soll von dem Menschen mit einem heiligen Vertrauen auf die göttliche Vernunft hingenommen werden: jene Stimmung aber ihm gegenüber ist heillos, dumpf u. entsetzlich – entsetzlich wie der Gedanke von den zufällig kreisenden Atomen in der Wissenschaft – und zugleich wie dieser ohne Größe. Ich denke – durch eine seltsame Gedankenverbindung oder vielmehr einen Gegensatz der Vorstellungen – an jenen betenden Jüngling, der in de[m] Tiber7 gefunden worden ist, wie er still und groß u frei die Arme zum Äther emporhebt. Da ist wahre Größe in der Stimmung, und das ist mir in aller Kunst das Erste.

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Von der Bettina ihren Schriften soll ich Ihnen schreiben, wie sie mir gefallen? Mir ist ein Zug von Willkührlichkeit der Empfindung u. gemachter Naivität in ihr nicht angenehm; sonst habe ich sie früher sehr bewundert, doch seit lange nicht mehr gelesen. Persönliche Berührung habe ich nie mit ihr gehabt, so sehr mich das interessirt hätte. Alles Aufsuchen von Beziehungen u. Bekanntschaften geht mir wider die Natur: so bin ich denn mit den hießigen litterär[ischen] Kreisen mit denen mich nicht meine wissenschaftlichen Studien direkt zusammenführten, ganz unbekannt geblieben, so lange ich auch schon hier bin. Bieten die Verhältnisse etwas dieser Art ungesucht dar, so nehme ich es dankbar hin; denn Sie kennen mein Interesse an jedem bedeutenden Menschen, in welchem Gebiet es sei; aber ich kann es auch entbehren. Donnerstag Abend 12 Uhr Dem Brief geht es wie andren in der ersten Begeisterung entstandnen Plänen: er war zu groß angelegt für meine gegenwärtige Situation. Ich beende ihn also lieber noch den Abend kurz u gut als daß ich mich Ihrem Spott wegen der Fragmentensammlungen die ich Ihnen statt Briefen überschicke noch einmal aussetze. Freilich ich habe ‚glänzende Revanche‘ versprochen. Habe ich das wirklich gesagt? Dann ist es im unzurechnungsfähigen Übermuth geschehen. Ein Schelm giebt mehr Zeit als er hat. Dafür daß ich diese Weihnachte nicht anders als in innigen Wünschen und Hoffnungen bei Ihnen sein kann, soll mir der Frühling Ersatz sein. Ich bin in einem so fleißigen Zuge, daß ich mirs dann sehr gut erlauben darf und ohnehin habe ich vor dann einige Wochen nach Göttingen zu gehn, um die dortige Bibliothek zu benutzen u. was längst hätte geschehen sollen Ritter der jetzt der bedeutendste Historiker der Philosophie ist, u. Lotze der etwas mehr – der8 bedeutendste Philosoph ist, persönlich kennen zu lernen. Finde ich in der Bibliothek viel für mich von Belang, so miethe ich mich vielleicht dort vor der Stadt ein u. bleibe 2. 3 Monate. Mich fesselt jetzt ohnehin wenig Persönliches in Berlin, Usener (den sie zwar gesehen doch nicht kennen gelernt haben) ausgenommen. Ich weiß nicht ob ich Ihnen schon erzählt habe, daß mir das Haus meines Freundes Wehrenpfennig, der vor einem halben Jahre eine Frankfurtherin geheirathet hat, höchst unbehaglich ist. Ihn selbst nimmt die Politik, die stets unerfreulicher wird, sehr in Beschlag, so lange er noch mit seiner Stellung nicht im Reinen, mit seinen Geschäften nicht in der Übung ist. Aber das sind wir von je gewohnt, uns in solchen Zeiten weniger zu sehen, ohne daß das unser Verhältniß störte. Dagegen ist mir das bildungsbeflissene Gerede seiner Frau, das sich über Politik Wissenschaft u. Gesellschaft mit gleicher wässriger Ergiebigkeit ergießt, im höchsten Grade anti-

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pathisch. Sie ist höchstens ein verunglückter Mann, daher ich auch die höfliche Langmuth, die man sonst Frauen dieser Art gegenüber ganz natürlich hat, mir abzwingen muß u oft nicht immer kann, zumal sie jedes Gespräch stört. Sonst habe ich manchen Verkehr mit Familien u. könnte ihn beliebig vergrößern; aber nach keiner Seite hin darf ich mir Umgang nach meinem Bedürfniß davon versprechen. Die einzige Ausnahme bildet die Familie des Probstes Nitzsch. Die harmonische Stille im Hause, der herrliche Charakter des alten Herrn u. seine Genialität, das tiefe Gemüth der älteren, das anmuthige u heitre Wesen der jüngeren Tochter – diese Verbindung giebt diesem Kreise etwas höchst Eigenthümliches was mich jedesmal wieder auf das angenehmste bewegt. Dennoch bedarf ich wohl eigentlich Menschen, die meiner zur Reflexion, Menschenbeobachtung u. zu einem in verwandte Tiefen des Empfindungslebens hinabsteigenden Gespräch geneigten Natur gemäßer sind – solche die mir durch wirklich verwandte u. in gleichem Gedankenkreise lebende Art vertraut werden können. Sie werden mich verstehen! Zu aller Freundschaft gehört die Aussicht unbegrenzten Vordringens in das Innere des Andren u. eine unbegrenzte Hoffnung des sich immer völliger Aufschließenkönnens. Wo Denk- u Lebensweise durch ihre Verschiedenheit so bestimmte Grenzen gezogen haben, ist ein andres schönes Verhältniß möglich, wie ich es auch zu dieser Familie habe, aber nie freundschaftlicher Verkehr im wahren Sinne. Ich muß schließen, weil diesen Platz noch die sehr ernsthaft gemeinte Bitte einnehmen soll mir doch recht bald wieder zu schreiben. Sie glauben nicht wie ein Brief wirkt, wenn man sich so zu einer Arbeit von aller Welt abgeschlossen hat – er klingt den ganzen Tag nach. Also ja? Ich hoffe sicher darauf. Dem Bären wenn er zurück u. der Cantatrice – oder wollen Sie denn rundweg ableugnen daß dies artige Kind überhaupt schreien kann? meine besten Grüße. Behalten Sie in gutem Herzen Ihren Original: Hs.; HLB Wiesbaden, Hs 341 (7); Erstdruck: BDSch, Nr. 7. 1 2 3 4 5 6 7 8

Die Datierung wurde von der Hg. von BDSch vorgenommen. Nicht überliefert. E. Mörike: Maler Nolten. Novelle in zwei Theilen. Stuttgart 1832. Figur aus Mörikes Maler Nolten. Figuren aus Jean Pauls Titan. Gestalt aus der nordischen Mythologie. Im Original: „der Tiber“. Im Orginal: „ist der“.

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[90] Dilthey an Georg Ernst Reimer [Berlin, Ende 1860]1 Sehr hochgeehrter Herr ! Meine Bearbeitung der ersten Hälfte des Briefwechsels ist seit länger als acht Tagen völlig fertig bis auf die Benutzung mehrerer Schleierm[acher]scher Manuscripte. Dieselben waren zur Zeit, als ich mit dem seligen Jonas diese Dinge durchnahm, in gesonderten, sehr deutlich geschriebenen Heften, zum Theil auch in schwer leserlichem Original zusammen aufbewahrt. Es waren dies aus der Schlobittenschen Zeit: 1) über das höchste Gut 2) über den Determinismus (ohne Überschrift) (Schluß fehlt) 3) über den Werth des Lebens (ebenfalls ohne Überschr[ift] u. unvollendet.) Versuche, über welche zwar der sel[ige] Jonas ungewiß war, wie weit sie abzudrucken seien, welche aber doch mindestens nach ihrer für Schl[eiermacher]s Entwicklung sehr wichtigen Richtung – sie bewegen sich im Gedankenkreise der Berliner Popularphilosophen u. Kants, dem Styl nach verrathen sie dieselbe Schule, besonders den Einfluß Sacks, Engels2 Garves3 – kurtz charakterisirt werden müssen. Denn das ist wichtiger, als der ganze dieselbe Zeit darstellende Theil des Briefwechsels. 4) Ein Heft Übersetzung der Politik des Aristoteles habe ich zwar nicht zu Gesicht bekommen; es muß aber ebenfalls noch vorhanden sein. 5) Ein Werk seiner besten Zeit, der Zeit der Reden, Monologen, des Anfangs der Platonübersetzung ist der nicht vollendete Dialog über das Anständige, vielleicht der trefflichste Versuch, den wir in dieser Art in deutscher Sprache haben, derselbe war schon vom sel[igen] Jonas zum Abdruck bestimmt. 6) Nur in Schleierm[acher]s flüchtiger u. schwer leserlicher Handschrift – weil Notizen für ihn selbst enthaltend – ist ein Fascikel von Fragmenten aus 1798–1800 etwa, aus welchem die Schleierm[acher]schen genommen sind. Ich habe mit Frau Prediger Jonas über dieses besonders gesprochen. Ich hörte Frau Gräfin Schwerin habe mit Herrn Prediger Sydow beschlossen, daß davon nichts mitgetheilt werden solle. Dasselbe enthält in der That die Theorien der romantischen Zeit über Liebe u. Ehe. Aber während diese Theorien in den Briefen über die Lucinde4 u. in den Fragmenten mit polemischer Paradoxie hingestellt sind, giebt ein Theil dieser Fragmente eine sehr tiefe, mit

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dem edlen Individualismus Schleiermachers zusammenhängende Begründung derselben; er zeigt sie im Zusammenhange mit seinen philos[ophischen] Prinzipien, seinem Studium Kants u. Fichte’s, dem Gedanken der Eigenthümlichkeit. Was von vornherein zu erwarten ist, daß in Schleierm[acher]s edlem Geiste diese Gedanken einen durchaus edlen Ursprung hatten, daß seine Gedanken hierüber von denen der Schlegel und Tie[c]k nach den Motiven völlig zu unterscheiden sind: das bestätigen diese Papiere auf authentische Weise. Ich wüßte nicht, daß irgend jemand Fichte seine seltsamen Ehetheorien zum Vorwurf gemacht hätte. Jedermann sieht, wie sie mit seinen Prinzipien zusammenhängen. Diesen Beweis liefern nun auch für Schleierm[acher] die Papiere in Rede. Ich betrachte es also als eine Pflicht gegenüber dem Andenken Schleiermachers mit Hilfe dieser Papiere 1) den Zusammenhang seiner damaligen eth[ischen] Ansichten ans Licht zu stellen. Das Schärfste mag zurückbleiben; denn ein Geist von der Schärfe Schleierm[acher]s oder Lessings liebt natürlich zu sehr die paradoxe Form des Urtheils, als daß ihn nicht diese zuweilen über die Grenzen der eignen Ansicht hinausführte. Dazu aber hat ja der Kreis in dem er lebte aus dieser paradoxen Form sogar eine Theorie der Mittheilung gemacht: so sehr lebte er in derselben. 2) Auf jeden Fall aber, selbst sollte diese Benutzung, was alle Kenner dieser Zeit sehr beklagen würden, nicht möglich sein, muß mit Hilfe dieser Papiere Schleierm[acher]s Antheil an den Fragmenten definitiv festgestellt werden, über den Varnhagen in seinen Denkwürdigkeiten5 aus seinem bekannten Hasse gegen Schleierm[acher] Unverantwortliches gefabelt hat und über welchen sehr falsche Ansichten im Umlaufe sind. Schon aus den gedruckten Briefen lassen sich ganz herrliche Fragmente als Schl[eiermacher]isch bestimmen. Wir haben einmal den Versuch gemacht mit Hilfe des gesammten Materials die Ausscheidung zu unternehmen und es zeigte sich, daß das Beste in diesen Fragm[enten] Schleiermacher zugehört. Ich weiß nicht, ob sich Aufzeichnungen darüber finden. Jedenfalls besitze ich selbst genauere, da ich den ganzen in Zeitschriften hierüber zerstreuten Apparat gesammelt habe. Wünschenswerth wäre nur ein Blatt von Varnhagens Hand, in welchem dieser dem sel[igen] Jonas bezeichnete, was Schleierm[acher] angehöre. Ich war über die Unkenntniß und Böswilligkeit gegen Schleierm[acher], die sich darin zeigt ganz erstaunt u. es war mir leicht aus dem Lycäum6 u. Böcking’s Bemerkungen über die Sache zu beweisen, daß kaum 1/3 des dort Bezeichneten Schl[eiermacher] gehört, das Beste Schleiermacher Gehörige aber weggelassen ist. Dasselbe würde also über die Zuverlässigkeit Varnh[agen]scher Notizen, Schl[eier]m[acher] betreffend, sehr erwünschten Aufschluß geben.

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Ich füge kurtz die versprochenen Berichtigungen, den ersten Band des gedr[uckten] Br[ie]fw[echsels] betr[effend], hinzu: p. 231: der Brief vom 17 Mai 1799 gehört nach 1801 unter dasselbe Datum p. 234: Brief v[om] 16ten Juni 1799 nach 1798 d[e]ss[elben] Dat[um]s. p. 241: Brief v[om] 8ten Juli 1799 gehört nach 1800 d[e]ss[elben] Dat[um]s. Übrigens stört in demselben sehr der Lesefehler p.242 Anfang st[att] Anhang. Ebenso p.324 Allen anderen, wo zu lesen: Allem. Ich werde so frei sein, Montag zwischen 5 u. 6 Uhr um das Nöthige mit Ihnen zu besprechen, Ihnen meine Aufwartung zu machen, da ich fürchte, daß Sie morgens durch die Kammer verhindert sind. Mit ausgezeichneter Hochachtung ergebenst Dilthey [Beilage] 1) von Bogen 19 ab (inclusive) geht ein Correkturbogen von der Druckerei ab an Herrn v. Willich Geh[heimer] Rath, Breslau und der Druck kann immer erst 3 Tage danach, wenn eine Antwort von diesem da sein kann erfolgen. Daß es soweit sei bitte ich Herrn Reimer mitzutheilen, der hierüber an H[errn] v. Willich zu schreiben beabsichtigte. 2) Manuscr[ipt] liegt fertig; ich gebe es aber nur im Nothfall, u. bitte darum vorher Herrn Reimer zu sagen, daß jetzt die Briefe von Stolpe7 aus (zu denen die Herzschen8 und Reimerschen gehören würden) gedruckt werden sollten, damit dieser verfüge ob ohne die restirenden Briefe begonnen werden solle. Ich bin bis 12 – dann von 4 ab zu Hause. Dilthey Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 7–9. 1

Im Original: nächträgliche Datierung von fremder Hand: „1860 Dilthey Berl.“ Johann Jakob Engel (1741–1802): Schriftsteller und Popularphilosoph. 3 Christian Garve (1742–1798): Popularphilosoph. 4 F.D.E. Schleiermacher: Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde. Lübeck und Leipzig 1800. 5 Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858): Schriftsteller. – Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. 9 Bde. Mannheim 1837–1846, Bd. 8 und 9: Leipzig 1859. 6 Lyceum der schönen Künste. Bd. 1, T. 1. Hg. von J.F. Reichardt und F. von Schlegel. Berlin 1797. 7 Stolp in Hinterpommern. 8 Henriette Julie Herz (1764–1847): Freundin und Vertraute Schleiermachers. 2

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Moritz Lazarus an Dilthey

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[91] Moritz Lazarus an Dilthey Bern d[en] 31ten Januar [18]61 Mein lieber Dilthey! Es geht mit meiner Gesundheit wieder besser, so dass ich diese Woche schon gelesen habe; aber noch nicht gut, denn ich werde von jeder Arbeit gar leicht u bald ermüdet u fühle mich überhaupt noch matt. Gleichwohl hatte ich mir vorgesetzt nach dem Schluß meiner heutigen Vorlesung den ersten freien Tag zu benutzen, um Ihnen zu schreiben; nun aber da mich Ihr heute angekommener Brief 1 wieder mahnt u ich heute morgen im Bette glücklich u schnell die Vorlesung für Nachmittag präparirt habe, benutze ich sofort die Stunde, um Ihnen zu sagen, was ich „erwogen in des Herzens Geist und Empfindung“2 und „rede ganz nach der Wahrheit“.3 Der erste Eindruck Ihres Berichtes war bei mir die Auferweckung jener Gedankenreiche, die mich schon bei einem meiner näheren Freunde, bei W[ehrenpfennig], im gleichen Falle beschäftigt hatte. Es steht nicht gut um die deutsche und speciell um die protestentische Theologie, dass ihre Jünger, um sich kampf- und schlagfertig zu machen, hinausziehen auf andere Gebiete um Kunst u. Kraft dafür zu erwerben, und dann – nicht wieder heimkehren. Wo will das hinaus? Schlagen wir überhaupt im deutschen Gelehrtenlexicon der letzten zwei Jahrhunderte in allen Buchstaben nach, wo die Größen verzeichnet sind, so kehr[t] immer die gattungsmäßig gewordene Biographie wieder: „war zum Theologen bestimmt[“]; oder „studirte in den ersten zwei Jahren Theologie und wandte sich dann zur .|.|.“ und nun folgt die ganze Windrose wissenschaftlicher u litterarischer Richtungen. Im Polybius glaube ich einmal gelesen zu haben, dass aus Griechenland während seines Falles u nach demselben die besten Heerführer für die verschiedensten Staaten hervorgegangen seien. – Ich frage mich, was daraus werden soll? was, wenn die Alten, mit u nach Schleierm[acher] u Baur4 gebildeten, absterben u von den Jungen nur die ehrlich gedrillten, die Tuckmäuser, die Esel und die Heuchler bei der Fahne bleiben? Sie sagen mir vielleicht: was Sie und Andere für die Wissenschaft leisten, das kommt ja der Theologie doch zu Gute, ob es auch zunächst in anderen Facultäten geschieht. Ein Gedanke, der ja meine Anschauung, dass Alles in das Meer des Volksgeistes sich ergießt u alle Quellen von diesem wieder getränkt werden, noch viel mehr entspricht als der Ihrigen, die Sie mir mehr an den (abgegrenzten) objectiven Ideen u den engeren Genossenschaftsgeistern

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festzuhalten scheinen. Allein dieser Weg ist weit und wird nicht nach geographischen Meilen sondern Längen- und Breitengraden gemessen. Die Hülfstruppen extra muros oder intra machen einen so großen Unterschied eben wegen der – muri. Dies scheint mir der tiefe Mangel des Protestantismus, dass Kirche und Wissenschaft nicht blos innerlich jetzt schon so sehr getrennt, sondern dass sie auch äußerlich so sehr verbunden sind, dass die Kirche so auf die Wissenschaft drückt, sie in all ihre Schwenkungen u Schwankungen hereinzieht, dass sie ihr das Leben gibt aber keine Freiheit, dass die Theologie eine Präparirmaschine zu Kirchendienern aber keine Wissenschaft für sich ist. An der Mutterbrust der Medicin haben sich Anatomie u Physiologie großgesogen und sind selbsteigene Leute geworden, Kinder, welche der Mutter in Liebe getreulich helfen aber – nicht dienen. So ist es auf Seiten der Theologie kaum dem semitischen Orientalismus ergangen, es könnte und müßte aber in vollem Maße so der Kirchengeschichte, der Religionsphilosophie u von der Dogmatik wenigstens der Geschichte so ergehen. Aber eben deshalb, weil es nun jetzt so ist, begreife ich, dass Sie die Ellbogen frei haben wollen für die Forschung. Doch bevor ich weiter gehe, noch ein Wort im Allgemeinen über den angedeuteten Gesichtspunkt, der mich a priori und ceteris paribus wünschen läßt, dass jede rüstige Kraft bei der protest[antischen] Theologie verbleibe. Woher ich ein so heftiges Interesse für die, zur Zeit wahrlich nicht liebenswürdige, protestant[ische] Kirche und Theologie habe? Ich spreche Ihnen meine, auf Alles was ich über das deutsche Volk, dieses äußere Herz Europas und innere Herz des Erdballs, gedacht habe, gegründete Ueberzeugung aus! Ich kann mich wohl irren, aber ich meine, mehr als an Venetien, an der Kurhessischen u Schleswigholsteinschen Frage, mehr sogar als am linken Rheinufer (das wir doch nie ein Decennium lang verloren haben werden, ohne es wieder zu gewinnen; es sey denn, dass wir schon völlig Graeculi5 seien, und dann ist der ganze Bettel einerlei, dann mögen wir französisch oder russisch oder des Teufels sein –) mehr als an alledem liegt der deutschen Nation am rechten Heil und an der Wiederverjüngung der protestantischen Kirche. Freilich ein Anderes ist noch möglich, das ich nicht in Rechnung bringe, weil, wenn es eintritt, die Zukunft des deutschen u alles Geistes eine Gestalt annehmen wird, von der wir noch gar keine Ahnung haben, wobei das, was wir bisher Religion nennen, zwar nicht aufhören aber eine durchaus bescheidene Rolle spielen würde. Ich würde ein bedeutsames Vorzeichen für den Eintritt dieser Epoche darin sehen, dass neuerdings Grafen u Barone, junge u alte Schönheiten sich der Religion annehmen: hielte ich das nicht doch für vorübergehend u unbedeutend, ein kleiner Absceß während der Fieberkrankheit, der die Krisis weder hemmt noch fördert. Dies Eine ist, dass doch vielleicht

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der Ideenstrom, für dessen beide Arme Baco6 u Spinoza zwar nicht die Quellen aber doch Quelladern waren, so dass sie nach Ihnen klar[?] benannt werden mögen, sich vereinigt und – praktisch gestaltende Kraft gewinnt. Dazu fehlt noch Viel, wenn nicht Alles, und ich möchte die freien Gemeinden u.sw. so wenig als Vorläufer oder Vorposten einer solchen Zeit ansehen, wie ich Tischrücken auf Bauern- und Edelhof für eine Rückkehr des Mittelalters halte. Lassen wir aber die protest[antische] K[irche] auf sich beruhen: Sie gehen von der richtigen Voraussetzung aus, dass sie Ihnen Freiheit der Forschung zu gönnen nicht geneigt sey, auch wohl vor der Hand nicht sein wird. Geduldet aber wollen Sie nicht sein. Es bliebe noch ein Drittes, dass Sie Sich nemlich Ihre Stelle gleichsam erkämpfen, dass Sie nicht den Stand der Dinge auf der einen u Sich Selbst auf der andern Seite sähen, sondern Sich Selbst mitten drinn, so dass Sie die Veränderung der Dinge herbeikämpfen helfen; dieses Dritte finde ich in Ihrem Briefe nicht berührt. In der philosophischen Facultät freilich finden Sie Freiheit vollauf. Was mir nur nicht gefällt ist der Grund dieser Freiheit; der Staat, scheint mir, gewährt sie für alle historischen Untersuchungen selbst über das Christenthum, weil er an die einschlagende Wirksamkeit dieser Untersuchungen nicht glaubt. Ich gestehe, dass ich hier auf Seiten des Staates stehe, und auch nicht daran glaube. Nun weiß ich wohl, dass Sie ja dies Einschlagen nicht suchen, sondern Freieres u Tieferes, nemlich Erkenntniß der Sache selbst anstreben, ohne Seitenblick auf sofortige Anwendung. Aber wird auch nur dasjenige Interesse dafür vorhanden sein, dessen Sie doch bedürfen? Sie wünschen ohne ein langes Privatdocententhum zum Ziele zu gelangen; muß nicht, wenn Sie in „2–3“ – ich sage getrost in 4–5 – Jahren es erreichen wollen, eine Studentenschaft Ihren Forschungen mit einem gewissen Eifer sich anschließen? Das ist der Punkt, den Sie, lieber Dilthey, am reiflichsten bedenken müssen! Gibt es eine solche Studentenschaft? Die Theologie hat den einen Vorzug, dass sie ein Fach ist; in einem Fach sucht man Etwas. Werden die theologischen Studenten unter der Ueberschrift „Philos[ophie]“ oder auch „Geschichte“ suchen, ob sie da Etwas angekündigt sehen, um die Entwickelung des Christenthums zu begreifen? Natürlich meine ich innerlich was ich so äußerlich bezeichne. Werden die Philos[ophen], die Philologen, werden die Historiker selbst Sie suchen? Ich hoffe, dass Sie unsere Studentenschaften besser kennen, als ich; wir haben sonst schon zuweilen darüber gestritten – und wünsche, dass Sie mit besserer Kenntniß diese Frage sich bejahen mögen. Sehen wir dagegen von dem äußeren Erfolg gänzlich ab, wie man darf, und wie man, dico aperte, auch soll, – dann scheint mir im Innern der Sache Ihr Entschluß kein wesentliches Bedenken zu haben. Ich berücksichtige dabei zu-

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gleich Ihre Bemerkungen im jüngsten Briefe u finde es in der That völlig gerathen, dass einmal Einer vorwiegend von der historischen Seite her an das herankommt, was Gesch[ichte] u Philos[ophie] in sich vereinigt. Ich sehe aus Ihrem Briefe nicht deutlich ob Sie eventuell sofort nach der Habilitation nach Paris gehen oder vorher etliche Semester lesen wollen. In letzterem Falle sehe ich eine gewisse Schwierigkeit – obwohl keine unüberwindliche – darin: was Sie einstweilen lesen wollen, bevor Ihre historischen Arbeiten einigermaßen gereift sind, um auch nur Unterlage zur Durcharbeitung während des Lesens zu sein? Freilich weiß ich nicht, ob Sie nicht schon so weit sind. Sollten Sie aber gleich nach Paris gehen, dann rathe ich, dass Sie sofort neben den histor[ischen] Studien nicht auch philosophische überhaupt betreiben sollen, sondern ein bestimmtes neueres System gründlich durchmachen, nicht um darin festen Fuß zu fassen, sondern sich von ihm aus gründlich über die Gesch[ichte] d[er] Philos[ophie] rückwärts u vorwärts zu orientiren. Die Systeme sind Hügel; im Thal an ihrer Kette entlang zu gehen, gewährt eine schöne Ansicht; aber erst wenn man einen ersteigt, gewinnt man die Aussicht u die Fähigkeit zur selbsteigenen Höhenmessung. Mit diesem, wie alles Obige mit völligster Offenheit ertheilten, Rath will ich für heute schließen; ich stehe Ihnen in dieser, wie in jeder wichtigen Frage, zu jeder Correspondenz jederzeit bereit, wenn ich auch sonst durch meine Arbeiten sowohl von freundschaftlicher wie von wissenschaftlicher Correspondenz hier abgehalten bin. Sie wissen recht gut lieber Freund dass die Weite u Tiefe der Aufgabe der W[issenschafts]lehre eine Art von Arbeiten mit sich führt, welche eigentliche ruhige Muße wirklich ausschließt. Das geht u hämmert im Kopfe den ganzen Tag; da blicken die Gedanken fragend u warnend u neckend durch Thür u Fenster herein u huschen vorüber u.s.w. Und nun zu Ihrem Freund U[sener]. Es thut mir sehr leid, daß ich ihn nicht persönlich kenne, es wäre mir [Briefschluss fehlt.] Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 k; Erstdruck: LStB II/2, Brief 478. 1

Nicht überliefert. Homer: Illias, erster Gesang. 3 Ebd., zehnter Gesang. 4 Lazarus schreibt fälschlicherweise „Bauer“. 5 Begriff aus der Zeit Ciceros, der die politische Untüchtigkeit von griech. Gelehrten verächtlich zum Ausdruck bringt (vgl. LStB I, S. 722, Anm. 8). 6 Francis Bacon (Baron Baco von Verulam) (1561–1626): engl. Philosoph und Staatsmann. 2

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[92] Dilthey an Luise Scholz [2. Februar 1861.]1 Samstag Abend 12 Uhr; eine ordentliche Frühlingsnacht. Ich komme aus dem Concert, liebe Freundin, habe dann zu Hause, da ich mich schon auf dem Rückwege recht darauf gefreut hatte ordentlich an Sie zu schreiben einen Correkturbogen vorgefunden, der sich nicht aufschieben lassen will – nun ists Mitternacht vorüber und ich bin müde – also nur die Hauptsachen. Also die Ouvertüre2 ist aufgeführt, mit vielem Beifall aufgeführt: daß derselbe sich in diesen Soireen auch Meisterstücken gegenüber nur mit vornehmer Mäßigung äußert, weiß der Bär. Sobald Rec[ensionen] kommen schicke ich sie. Aber auch wie mir die Ouv[ertüre] gefallen, will er wissen? Unter andren Experimenten will er wohl auch das machen zu sehen welchen Eindruck er auf einen musikalischen Naturburschen u. Strandläufer macht: sollen wir uns dazu hergeben? Sei es doch, wenn es ihm was nützen kann. Vornehmlich hat mich der große und völlig unmanierirte Styl erbaut in dem das Ganze gehalten ist: im Eingange u. nachher wo der Marsch auftaucht hat mich derselbe geradezu an Meister Gluck3 erinnert; als nachher die Mendelsohn Adur Sinfonie4 darauf gespielt wurde, wurde mir der Kontrast gegen die manierirte Unruhe und Sentimentalitätsausstellung in dieser so schön gearbeiteten Sinfonie aufs angenehmste deutlich. Dann – was damit zusammenhängt [–] haben mich die Melodien u. harmonischen Wendungen darin gar sehr erfreut. Des Zusammenhanges des Ganzen bin ich so beim ersten Hören nicht mächtig geworden in allen Theilen: er scheint in der That verwickelt u. es ließe sich fragen ob das so eingehende Verfolgen der Handlung nicht dem Hörer zu viel Erinnerung an diese Handlung zutraut u. ob nicht die künstlerische Einheit darunter leidet: zumal durch einige Forte’s wurde ich ordentlich aufgestört. Gegen diese Forte’s habe ich überhaupt was auf dem Herzen: sie quellen durchaus nicht mit solcher Ursprünglichkeit aus dem Innersten als die andren Stellen u. so rissen sie mich nicht mit sich fort. Das Allerschönste aber u. für mich in der That hinreißend – wahrhaft tief – ist der Ausdruck der Versöhnung im Schlußtheil – vorher auch einmal der der Sehnsucht. – Ist es nicht spaßhaft daß ich so ausführlich meine subjektiven Empfindungen schreibe, meine, der ich in der Musik so unsäglich subjektiv bin? Die Hauptsache bleibt, daß das Ganze so wahre u. tiefe Empfindung athmet, als ich sie noch in keinem Opus Bernhards gefunden als etwa dem kleinen Liebeslied: und da hat

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doch das Objekt lange nicht diese Tiefe u. Breite – und daß diese Empfindung edel, völlig unmanierirt, in rein musikalischer Form sich ausprägt. Durch diese Ouv[ertüre] bin ich zum ersten Male gewiß geworden, daß Bernhard den großen Styl der wahren deutschen Musik in die Gewalt bekommen wird. Bin ich nicht thöricht daß ich schon kritisire was ich noch nicht verstehe? u. ein halber Berliner? Ganz kritiklos aber, liebe Freundin, lauter Bewundrung u. Glückwunsch, verhalte ich mich zu Ihrem kleinen Jungen.5 Möge er seiner Schwester, der cantatrice würdig werden: oder werden Sie mir leugnen wollen daß der kleine Kerl wirklich schreit? Vor allem hat er so Gott will ein tüchtig Stück Eigensinn von seinem Vater geerbt, der auf dieser alle Kraft verzettelnden Welt das allerwichtigste u nöthigste ist – und da wird ers natürlich am Schreien nicht fehlen lassen als welches die erste noch etwas unmanierliche Naturform dieser edlen Gabe ist. Ich freue mich noch jetzt darüber wenn mir die Mutter erzählt daß ich die schöne Gewohnheit gehabt den Athem so lange anzuhalten vor Aufregung bis ich hatte was ich wünschte u. daß als meine Kleinigkeit einmal Schläge bekam der Doktor geholt werden sollte ob ich nicht stürbe – ich wundre mich selbst daß aus dieser Zähigkeit bis jetzt noch nichts Bewundernswürdiges geworden ist. ‚Ernst‘6 ist doch wohl der Rufname für den kleinen Kapellmeister? Es ist der schönste Name den es giebt, der ordentlich auf den Träger wirken muß u. ein Bild von ihm vorbereitet, dem er entsprechen muß. Sehr ergötzt hat mich Ihre Schilderung der neuen Kombination der Künste an Ihren Abenden: ists keine Oper, so ists ein malerisch-musikalisches Kunstwerk. Mir gehts gut. Natürlich daß alles Interesse das über die eignen Arbeiten hinausgeht von den politischen Verhältnissen absorbirt wird, über die ich so gute Nachrichten habe, als ein außerhalb der Geschäfte selbst stehender sie haben kann. Ich fange jetzt erst an vollauf politische Geschichte zu verstehen, habe neulich was über die Politik Otto I geschrieben7 u trage mich mit vielen Gedanken zu einer comparativen Politik. Meine Arbeiten gehen voran, werden aber – soll ich „leider“ sagen? – immer ausschließlicher historisch-philosophisch. Sodaß ich wohl – obgleich das nach dem Kreis meiner Studien vielerlei gegen sich hat – mich in der philosophischen Fakultät statt in der theologischen habilitiren werde (doch dies bleibt völlig unter uns dreien, da ich hier u. meinem Vater gegenüber noch keine Silbe davon verlauten lasse: hier würde es mir bei der Bewerbung um ein Reisestipendium für Paris hinderlich sein u ich hasse allen Spektakel: im Grunde arbeite ich so weiter wie ich seit meinem zwanzigsten Jahre gearbeitet habe: es war ja stets meine Absicht aus der theol[ogischen] in die phil[osophische] Fak[ultät] einmal überzugehen, wenn meine systemat[ischen] Gedanken weit genug ausgebildet sei-

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en. Mit meinem Vater mache ich dergleichen persönlich ab. Daß also ja nicht – etwa durch Fräulein Pauline8 – von diesem halbausgegohrenen Entschluß – der wie gesagt auf meine Studien gar keinen Einfluß, somit über u. über Zeit hat fertig zu gähren bis in den Sommer hinein – etwas zu Hause verlautet. Sie können denken, wie höchst fatal das wäre. Meine pecuniäre Selbstständigkeit hat natürlich diesen Entschluß erleichtert. Erst seit Herbst stehe ich völlig auf eignen Füßen, wie ehedem als Schulmeister. Für über ein Jahr etwa bin ich gesichert u auch später werde ich etwa mit Opfer eines Drittels meiner Zeit, wenn dies wünschenswerth scheint auf mir selbst stehen können. Ich schließe die Paranthese und erzähle weiter –) – Laz[arus] kommt im Frühjahr 2 Monate her, nächsten Winter ist er wieder ganz hier. Mit meinem nach Göttingen gehen auf 1–2 Monate ists völliger Ernst. Wahrscheinlich von Mai ab: es hängt ganz vom Verlauf meiner Arbeiten ab. Ich freue mich unsäglich darauf, dann Sie beide wiederzusehen. Auch ich werde Ihnen hoffentlich Freude machen: ich bin viel heiterer geworden seitdem. – Aber es ist sehr – sehr spät geworden. Schlafen Sie wohl, wenn anders Ihr musikalisches Zweigespann das zuläßt – Behalten Sie beide lieb Ihren Dilthey. Original: Hs.; HLB Wiesbaden, Hs 341 (8); Erstdruck: BDSch, Nr. 8. 1

Die Datierung wurde von der Hg. von BDScH vorgenommen. Scholzens Ouvertüre zu Goethes Iphigenie wurde am 2. Februar 1861 im königl. Opernhaus in Berlin aufgeführt. 3 Christoph Willibald Ritter von Gluck (1714–1787): Komponist. 4 Sinfonie Nr. 4 in A-Dur op. 90 von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847). 5 Scholzens zweites Kind wurde am 29. 12. 1860 geboren. 6 Sein Vorname war Richard. 7 Anonym erschienen in: Preußische Zeitung, Nr. 19 vom 12. 1. 1861, S. 2 f.; Nr 21 vom 13.1 1861, Beilage S. 1; Nr 23 vom 15. 1. 1861, S. 1; Nr 25 vom 16. 1. 1861, S. 3 und Beilage S. 1; WA unter dem Titel Zur Geschichte der deutschen Kaiserszeit in: GS XVI, S. 29–45; zu Otto I. S. 34–37 und S. 41–42. 8 Gemeint ist Scholz’ Schwester Paula (vgl. Scholz, S. 152). 2

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Dilthey an seine Großmutter

[93] Dilthey an seine Großmutter (Berlin, Anfang Februar 1861) .|.|. Daß für mich wie von Natur in wissenschaftlicher Forschung und in der Durchbildung einer zusammenhängenden Ansicht der menschlichen Dinge der Reiz des Lebens liegt. So sehr mich alles, was auf dem großen und kleinen Theater des Lebens geschieht, bewegt, so mündet alle Bewegung doch unabänderlich in dem Triebe es zu erkennen, zu erklären, zu begreifen. So sehr ich die Geselligkeit liebe und so glücklich ich bin im Finden gleichstrebender Freunde, so kann ich dennoch sagen daß ich von Natur einsam bin, daß mich die Einsamkeit immer wieder als mein bester Freund empfängt. Ich weiß freilich nicht, wie mir zu Muthe wäre, wenn das Bewußtsein, von so viel trefflichen Menschen geliebt zu sein, mir entschwände: aber ihrer Anwesenheit und Nähe bedarf es für mich nicht und wenn wie es den Anschein hat der eine geliebteste Freund, mit dem ich jetzt seit zwei Jahren fast jeden Gedanken und jede Sorge getheilt habe, Berlin verlassen wird,1 so werde ich im Stande sein, reine Freude darüber zu empfinden, wegen des höchst ehrenvollen und seiner Natur angemessenen Wirkungskreises, in den er eintritt. Genaueres darf ich noch nicht sagen, da die Unterhandlungen über die Sache, bei welcher Stillschweigen ausbedungen ist, noch schweben. Die Aussicht war mir eine heimliche Freude gewesen – in Ermanglung von etwas Besserem, wozu Du Dich noch ein Jahr gedulden mußt, Dir den ersten Band des Litterarischen Briefwechsels von Schleiermacher zum Geburtstag zu übersenden:2 der Druck schleppt sich aber so langsam hin, daß ich mir lieber gar nicht berechnen will, bis wann er beendet sein wird. Wer zum ersten Male was drucken läßt, erlebt eben eine der größten Geduldsproben, denen die menschliche Natur unterworfen werden kann – ausgenommen die Schulmeisterei, mit der sich in dieser Beziehung nichts messen kann. Zu Herbst also – so Gott will – werden wir uns wiedersehen. Ich bin heitrer geworden, als da wir uns zuletzt sahen, weil so vieles was damals mich heftig bewegte, sich geklärt und gefestigt hat; auch meine äußere Lage wird bis dahin einen sichren Anhaltspunkt gewonnen haben, indem ich dann am Beginn der so lange von mir ersehnten Docententhätigkeit oder – wenn es das Glück recht gut meint – an dem einer wissenschaftlichen Reise stehe. Möge Gott geben, daß auch alles Übrige dann danach angethan sei, daß wir uns alle des Wiedersehens heiter erfreuen. Bis dahin aber liebste Großmutter gedenkt alle meiner in Liebe, und wenn der Vater und die Mutter an Deinem

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Dilthey an seine Großmutter

Geburtstage bei Euch sitzen, so seid gewiß daß sich niemand herzlicher sehnt unter Euch zu sitzen als Dein treuer Enkel Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 63. 1

H. Useners Berufung nach Bern stand bevor. D.s Großmutter, Caroline Eleonore Wilhelmine D., geb. Winckel, hatte am 14. Februar Geburtstag. 2

[94] Dilthey an Bernhard Scholz [Vor Ostern 1861.]1 Herzlichen Dank, mein Lieber! für Eure Briefe u. die Nachricht wie bei Euch alles gut geht. Es ist nur ein Zettel den ich heute zu schicken im Stande bin, vor Ostern, hoffe ich, bin ich noch im Stande ordentlich zu schreiben; jetzt ist Bibliotheksablieferung vor der Thüre und ich weiß mir nicht zu helfen vor Arbeit. Dann thu ich Dir auch Bescheid über Politik. Ich bin sehr Deiner Meinung; nur entschieden Süddeutscher. Ehe nicht in die hießigen dialektischen oder Reflexionsmaschinen gesunde süddeutsche Sachlichkeit kommt, ist es hier nichts mit Kammer u. Presse. Aber das Unrecht liegt eben deßwegen darin, daß man von Preußen das zu klein u. zum Theil aus sehr ungünstigen Volkselementen zusammengesetzt ist, verlangt, es solle erst eine große Rolle spielen, ehe die übrigen Deutschen sich an es anschließen könnten. Grade weil es das nicht kann, sollen die übrigen Deutschen sich an es halten, damit es die Möglichkeit gewinne. Wirst Du denn die Schubertsche Oper aufführen, die in Wien gefunden ist?2 Sicherlich. Mich hat gefreut daß auch dieser Mann allmählig zu seinen vollkommnen Ehren kommt. Etwas Wahres steckt doch in dem für die Unsterblichkeit Arbeiten u. nicht für den Ruhm. – Laz[arus]’s sind noch nicht da. Aber habe ich Dir denn schon das Wunder erzählt das sich zu meinem Ärger begeben hat? Steinthal hat – doch vollkommen unter uns, da es noch nicht bekannt ist – um Jeannettchen3 angehalten und – es hat ja gesagt. Das arme Kind dauert mich wirklich, obgleich die ganze übrige Gesellschaft nicht begreift warum ich es bedaure. Steinthal ist doch gar zu alt u. dürr innerlich.

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nicht wenig genirt mich auch dabei daß St[einthal] auf Laz[arus]’s Kosten doch wird leben müssen, da er kaum 400 r. jährlich verdient, wie er ja auch bisher gethan hat. In solchem Falle zu heirathen scheint mir doch zu parasitisch. Nun ist aber noch mit der Frau Capellmeisterin ein Wort zu reden, die mir alles Mögliche Üble zutraut in Bezug auf den künftigen Sommer. Die langen Ferien haben mich in der That erschreckt: ich hatte an diese gar nicht gedacht: aber ich werde es sicher so einrichten, daß ich nicht des Vergnügens entbehre, mir den kleinen Capellmeister, die cantatrice anzusehen, u die ganze musikalische Gesellschaft, nach welcher ich eine ordentliche Sehnsucht habe recht zu genießen. Ich richte daher an die Frau Capellmeisterin eine Anfrage über die Disposition des Sommers, vor allem wann abgereist wird; was dann menschenmöglich ist, damit ich mit meinen Arbeiten weit genug komme um reisen zu können: soll gewiß geschehen. Je bälder ich Notiz davon habe desto erwünschter wäre es mir, da ich es liebe, über meine Pläne wenigstens 1/4 Jahr voraus im Reinen zu sein. Es ist der letzte Sommer meiner absoluten Freiheit; ich will mir das also zu Nutze machen. Und wollen Sie etwas aus bloßer, bloßer Güte – an diese braucht man sich ja nur bei Ihnen zu wenden – an mir thun: so beantworten Sie diesen Wisch, als ob er auch an Sie gerichtet wäre, liebe Freundin, u. vertrauen mir daß ich mich revanchiren werde für soviel Edelmuth. Dir aber, lieber Freund, kann ich das schon eher ohne Appelation an Dein Gemüth zumuthen, da Du weißt, wie reinweg unmöglich das Briefschreiben ist, wenn einem die Wasser des Excerpirens Arbeitens Denkens über dem Kopfe stehn u. da Du zugleich weißt, wie einen in solcher Situation ein Brief auf ein paar Tage erquicken kann. Meine Schwester hat eine sehr angenehme Woche bei den Deinen in Mainz verlebt was mir gar lieb zu hören war; ich danke es jedem unendlich, der ihr einen heiteren Tag macht. Also auf baldige Nachricht. Adieu! Von ganzem Herzen der Deinige Dilthey. Original: Hs.; HLB Wiesbaden, Hs 341 (9); Erstdruck: BDSch, Nr. 9. 1

Die Datierung wurde von der Hg. von BDSch vorgenommen. Franz Schuberts einaktiges Singspiel Die Verschwornen (Zensurtitel: Der häusliche Krieg) entstand 1823, wurde aber erst am 1. März 1861 in Wien uraufgeführt. 3 Jean(n)ette Lazarus (1840–1925): Schwester von Moritz Lazarus und ab 1862 Ehefrau H. Steinthals. 2

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Dilthey an seinen Bruder Karl

[95] Dilthey an seinen Bruder Karl (Berlin, um März 1861) Liebstes Herz! Da Du Deiner Verstimmung wenigstens einen Brief 1 abgewonnen hast, will ich, obwohl in unsäglichem Hin und Hergehen der Gedanken und Arbeiten begriffen – vom Schleiermacher sitzt mir noch Einiges auf dem Halse, was mir durch Verschleppung höchst unleidlich geworden ist, und dazu drängen mich viele Gedanken über Logik und Ethik, welche ich gern jetzt irgendwie erledigen möchte und die mich doch von einem Buche zum andren ziehn – Dir dennoch sofort antwortend Bescheid thun. .|.|. Mit Wehrenpfennig plaudre ich Politik: vor einigen Tagen ist mir durch ihn – unter uns – eine Redaktion mit 2000 Thalern angeboten worden. Man darf sich aber dem Teufel um keinen Preis verkaufen. Sehr angenehm ist mir, bei ihm Veit, Baumgarten2 und andre mir sehr werthe Menschen zu sehen. Es kann freilich nicht fehlen, daß der Umgang mit dergl[eichen] Leuten einen mehr mit politischen Gedanken verwickelt als gut ist. Auf Lazarus freue ich mich unsäglich! Denn alle meine Gedanken streben jetzt zur Philosophie hin, in der mir, da ich mich ihr nach so langer historischer Beschäftigung wieder nähere, überall weitaussehende Ideen aufgehen. Usener’s Studien nehmen wirklich einen großen Gang. Er lebt jetzt ganz in der griechischen Grammatik, bes[onders] Lautlehre und hat Sanskrit angefangen. Hast Du übrigens gehört daß Kuhn nach Würzburg kommt?3 Neulich habe ich die ganze hiesige sanskritische Compagnie kennen gelernt, wo mich Gosche4 einlud einmal zum Sanskritkränzchen zu kommen. Kuhn hat mich wirklich höchlichst interessiert. Meine Studien zur mittelalterlichen Philosophie sind leider seit fast zwei Monaten durch die neuere Philosophie ins Stocken gekommen: ich freue mich höchstlichst, nach Beendigung des Briefwechsels sie mit neuen Ideen wieder aufzunehmen. Welches der weitere Verlauf ist mit mir, hängt noch davon ab, ob ich eine Pariser Reise möglich machen kann. Der Vater fragt immer an über meine Pläne, als ob man mehr thun könnte als arbeiten, und da ich schon seit Herbst und voraussichtlich weiter auf über ein Jahr auf eigne Faust lebe, sehe ich nicht, was für ein Grund sein soll mich todt zu arbeiten, damit ich nächsten Winter im Lektionskatalog stehe. Denn die Art und Weise meines Arbeitens dh. die Ausdehnung meiner Studien ist nun einmal meine Natur und ich will sie nicht ändern, auch wenn ich könnte. Auch ich bekomme von Hause nur kurze und sparsame Briefe: alles leise Klagen darüber hilft nichts. Was schlimmer ist, ich soll von meinen Plänen,

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meinem Innersten von Absichten immer schreiben, was schlechtweg unmöglich ist, da niemand das Ende seiner Arbeiten berechnen kann und ich mich durch solche Aufforderungen schon öfter habe dazu bewegen lassen, solche Endpunkte festzusetzen, an denen ich dann doch nicht halten kann. Kurz ich bin des Briefschreibens förmlich müde, wenn ich wirklich keine ausführlicheren Antworten mehr bekommen soll. .|.|. Leb nun wohl und behalt lieb Deinen Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 64. 1

Nicht überliefert. Hermann Baumgarten (1825–1893): Historiker; 1861 Prof. für Geschichte und Literatur in Karlsruhe, ab 1872 Prof. in Straßburg. 3 F.F.A. Kuhn blieb in Berlin. 4 Richard Gosche (1824–1889): protest. Theologe, Literarhistoriker und Orientalist; 1844 Kustos an der königl. Bibliothek in Berlin, 1861 a. o. Prof. der Literaturgeschichte in Berlin, 1862 o. Prof. der morgenländischen Philologie in Halle. 2

[96] Dilthey an Luise Scholz [Frühling 1861.]1 Liebe, verehrte Frau Capellmeisterin! Ich hatte mich so drauf gefreut, wenn ich mit meiner Einen Arbeit fertig wäre, der über Schleiermacher, ehe ich zur Vollendung der andern über mittelalt[erliche] Philosophie mich wieder in mich vergrübe, mich bei Ihnen einmal wieder recht heiter behaglich u. menschlich zu fühlen – hier komme ich ja jetzt gar nicht dazu –; aber all mein Koncept ist mir dadurch verrückt, daß die Arbeit unerwartete Schwierigkeiten gefunden hat, die mich nöthigten Kant u Fichte ganz von neuem vorzunehmen, sodaß ich jetzt noch, in größter Eile u. Unruhe, mit der Ausarbeitung beschäftigt bin. Nur damit Sie wenigstens nicht mit Unwillen, weil ich Ihre beiderseitigen liebenswürdigen Briefe nicht beantworte, sondern mit einiger Wehmuth u Theilnahme, weil ich sie nicht beantworten kann, u. zumal nicht so beantworten kann wie ich möchte – mit meinem plötzlichen Erscheinen – an mich denken: schicke ich Ihnen diese Zeilen. Wie nun alles werden wird da die Zeit entsetzlich drängt, weiß der Himmel; das Eine ist ziemlich gewiß, daß wir uns bei meiner Rückkehr von Göttingen gegen Herbst sehen. Wie lange freilich? Denn neben meiner Dissertation2 u jener zuweilen großen Arbeit u. dem Druck des zweiten Ban-

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des Schleiermacherscher Briefe,3 die freilich Gott sei Dank mit Ausnahme der Einleitung so ziemlich druckfertig sind, muß ich auch noch ab u. zu, da ich mich nun einmal auch mit meiner äußeren Exist[enz] auf meinen Kopf gestellt habe u. diese äußere Exist[enz] leider ein wenig kostspielig ist, noch den einen oder andren Quark schreiben, worüber schon mit Prof. Haym4 von Halle der die preuß[ischen] Jahrb[ücher] redigirt, neulich hier war u mich einigemale besuchte, Abrede getroffen ist. Ich werde ihm Essays über die Entwicklung der deutschen Geschichtschreibung seit Justus Möser5 geben, von denen wenigstens in Gedanken schon vielerlei fertig ist – aber von da bis aufs Papier ist noch ein zeitraubender Weg (Hiervon übrigens kein Wort an Glaser, bitte ich, da er mir 1) um Beiträge geschrieben hat, ich sie aber lieber einem so bedeut[enden] Blatt als d[en] pr[eußischen] Jahrb[üchern] gebe, wo sie mir auch außerdem weit besser bezahlt werden 2) das Thema so was verlockendes hat, daß ich mich wundre wie mirs nicht längst jem[and] vorweggenommen hat.) – kurz Sie glauben mir gewiß aufs Wort daß ich diesen Sommer ein unsäglich u über alle Begriffe geplagtes Individuum sein werde. Hoffarth6 muß Noth leiden. Die Programmusik, liebster Freund, leidet hoffentlich nicht darunter. Aber, weißt Du, ein andres Thema summt mir im Kopfe, so oft ich an Musik denke. „Über Schuberts musikalische Entwicklung“, aus seinen Liedern nach chronologischer Ordnung, sodaß die allmählige Vollendung seiner Technik u. Kunsttiefe in Melodien als Handhabe benutzt würde, dem Wesen u der Kunst der Melodie überhaupt näher beizukommen. Haben wir beiderseits einmal Zeit, so brächte ich alles was von der Psychologie aus von Vorbegriffen über Musik da ist mit, Du gäbest die musikal[ische] Theorie, die der eigentliche Kern ist u. so würde sich gewiß etwas Fruchtbares über diese Fragen daraus entwickeln. Über Politica nichts. Ich habe keine Zeit. Mag mir auch meine Stimmung nicht damit verderben (das Neueste ist daß man hier um nachzuweisen daß es Preußen nicht auf Kiel abgesehn hat, die andren deutsch[en] Armeecorps nach Holstein rücken lassen will, während man hier beobachtet u freie Hand behält) u. dann möchte ich Sie, liebe Frau Cap[ellmeisterin], nicht zum zweitenmale damit plagen. Gott sei Dank, daß Sie nicht politisch sind! Frau Prof. Laz[arus] ist noch 14 Tage hier; er kommt morgen ebenfalls von Leipz[ig]; ich habe leider nur zu wenig Zeit, die gute Frau zu unterhalten in ihrer hiesigen Einsamkeit u. die ich ihr widme kommt nur dadurch heraus daß ich das Spatzierengehn suspendire, was mir schlecht bekommt. Wehr[enpfennig] ist von dem polit[ischen] Quark sehr angegriffen, mag ihn aber nicht wegwerfen, obgleich ihm eine andre sehr angenehme Situation durch Gervinus von Baden aus angeboten ist; u. ich wünschte er bliebe, denn wenn wir Krieg bekommen ist er einer d[er] wenigen Menschen, die das ganze Ter-

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rain der hießigen Regier[ung] u d[er] auswärtigen Politik genau kennen u. die die Energie haben werden, die dann nothwendige Politik durchzuführen. Das ist nicht nur meine Ansicht, sond[ern] auch die von Haym u. Häusser (der jetzt hier war u mit dem ich zusammen fidelissimo in Erinnerung an mein liebes Südd[eutschland] gekneipt habe) usw. Dies mit Baden ist Geheimniß und niemand zu erzählen. Usener kommt – für mich leider – als Professor d[er] Philologie nach Bern (auch entre nous); er hat die Berufung bekommen, kann aber erst Herbst gehn; die Ungewißheit liegt nur noch darin ob man sich dort bis Herbst behelfen kann. Weißt Du, daß Steinthal mit Jeanette Laz[arus] verlobt ist? Für Steinthal freue ich mich, sie dauert mich. Ach, wenn Ihr wüßtet, wie gut mir Briefe thäten! u. baldige! Sobald der Druck beendet ist, schreibe ich dann, aber nur dann auch, einen ordentlichen Brief. Behalten Sie mich inzwischen in gutem Andenken, vergessen Sie daß ich auch so schlechte Wische schreiben kann, indem Sie bedenken daß es das einz[i]ge Mittel diesmal ist einen guten Brief einzutauschen. Herzlich d[er] Ihre Dilthey Original: Hs.; HLB Wiesbaden, Hs 341 (10); Erstdruck: BDSch, Nr. 10. 1 2

Die Datierung wurde von der Hg. von BDSch vorgenommen. D. promovierte erst am 16. Januar 1864 mit seiner Arbeit De principiis ethices Schleierma-

cheri. 3 Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. 4 Bde. Berlin 1858–1863. – D. meint Bd. 4, den er nach dem Tode Jonas’ allein besorgte; er erschien erst 1863. 4 Rudolf Haym war zwischen 1858 und 1864 Leiter der PJ. – Der Plan zu einer Historiographie, mit der D. bereits seit 1859 befasst war, führte zu einer Reihe von Aufsätzen, die D. unter dem Pseudonym „Wilhelm Hoffner“ in WM erscheinen ließ. Es ist die Aufsatzreihe: Deutsche Geschichtschreiber. I. Johannes von Müller. II. Barthold Georg Niebuhr. III. Friedrich Christoph Schlosser. IV. Friedrich Christoph Dahlmann, in: WM 19 (1865), S. 245–254, WA in: GS XI, S. 79–93. 19 (1866), S. 363–370, WA in: GS XI, S. 93–104; 19 (1866), S. 484–491, 20 (1866), S. 24–33. Hinzu kam später, 1873, noch ein Aufsatz über Dahlmann, in: WM 34 (1873), S. 373–386; WA (mit Einfügungen) in: GS XI, S. 164–185, und ein Beitrag über Friedrich von Raumer, in: WM 35 (1874), S. 489–496; WA in: GS XI, S. 185–194. – In den PJ 8 erschien von D. 1861 zunächst nur anonym: Ein Brief A.W. Schlegels an Huber, S. 225–235; WA ohne den Brieftext in: BDH, S. 36–41 sowie eine anonyme Selbstanzeige der Schleiermacherbriefe unter der Überschrift „Notizen“, S. 279–282; WA in: BDH, S. 42–45. Ein Aufsatz über Friedrich Christoph Schlosser wurde 1862 in PJ 9, S. 373–433, anonym publiziert, WA in: GS XI, S. 104–164. 5 Justus Möser (1720–1794): Publizist und Historiker. – Über J. Möser schrieb D. erst 1901 in seinem Aufsatz Das achtzehnte Jahrhundert und die geschichtliche Welt, in: DRS 8, S. 241–262, 350–380; WA in: GS III, S. 209–268, hier S. 248–257. 6 Dünkel, Hochmut.

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[97] Dilthey an Georg Ernst Reimer [Juni 1861] Hochverehrter Herr Reimer! Ich weiß doch nicht, ob ich mich in der Hast, das Nothwendigste rasch zu sagen, vollkommen verständlich ausgedrückt habe und jedes entfernt mögliche Mißverständnis von Seiten der Frau Prediger,1 der ich mit solcher Verehrung zugethan bin wäre mir unangenehm. Es versteht sich von selbst – dies hob ich wohl nicht genug hervor, daß meine Einleitung für den betreffenden Band nach wie vor zur Disposition steht. Ich bin nur überzeugt, daß die beiden hochgeehrten Damen, bei denen die Entscheidung steht,2 nicht ohne ein Gefühl der Unsicherheit, dieselbe an der Spitze des Bandes erscheinen sähen, nachdem Herr Prediger Sydow und Herr Dr. Krause,3 nächste Freunde des seeligen Jonas, über das Maß dessen was in einer solchen Einleitung über die Mittheilung hinaus Eignes enthalten sein darf andre Grundsätze ausgesprochen haben, als nach denen diese Einleitung gearbeitet ist. Ich dachte mir das Verhältniß dieser Briefe zu den Werken nicht anders als das der Gaßschen Briefe und glaubte daher mit derselben Freiheit verfahren zu dürfen, deren sich dieser bedient hat. Wie dem auch sei: da nun einmal entgegenstehende Ansichten von Autoritäten, die ich gewiß nicht am wenigsten hochhalte, wenn ich ihnen auch in diesem Punkte nicht beipflichten kann, lautgeworden sind, so wünschte ich, daß keinerlei Rücksicht auf mich in der Entscheidung dieser Sache wo nicht bestimmen doch unangenehm bewegen möchte; ich wünschte daher den andren Weg der Benutzung meiner halbjährigen Arbeiten für diese Sache eben so klar vorlegen zu können, als den zuerst beabsichtigten. Diese Erwägung ist es, aus der ich Ihnen jetzt – ohne vorher mit beiden hochvereehrten Damen darüber gesprochen zu haben – den Vorschlag gemacht habe den Sie kennen und es ist selbstverständlich daß er sich nur auf den Fall bezieht, der mir freilich wie gewiß erscheint, daß denselben[?] bei Vorlegung beider Möglichkeiten die zweite die genehmere wäre. Für Sie, verehrter Herr, hat mich der Gang dieser verwickelten Angelegenheit mit solcher Hochachtung erfüllt, daß es mir begreiflicher Weise eine liebe Hoffnung ist, mit Ihnen in dauernder Verbindung zu bleiben und daß keine Art der Erscheinung der umgearbeiteten Einleitung eine – auch von andren Rücksichten abgesehn – entfernt so wünschenswerth wäre, als die Ihnen vorgeschlagne. Dennoch wünsche ich, daß auch Sie keinerlei freundliche Rücksicht in Ihre Entscheidung einfließen lassen mögen. Sollte es Ihnen erwünscht sein ein Stück der Einleitung in ihrer jetzigen freilich für den andren

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Zweck völlig umzuändernden Gestalt zu Händen zu haben, so steht Ihnen dasselbe jederzeit zur Disposition. Ebenso ich selbst, sollten Sie vor Ihrer Entschließung noch das Eine oder Andre zu besprechen haben, über den mir möglichen Termin u.s.w. Genehmigen Sie den Ausdruck meiner größten Hochachtung W. Dilthey Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 10–11. 1

Witwe von L. Jonas. Die Witwe von L. Jonas und die Gräfin L. Schwerin-Putzar. 3 Heinrich Krause (1816–1868): protest. Theologe; seit 1854 Hg. der Protestantischen Kirchenzeitung für das evangelische Deutschland. 2

[98] Dilthey an seinen Vater (Anfang Juli 1861) Ich weiß nicht, liebster Vater, wies zusammenhängt, daß ich noch keine Nachricht von Euch habe; jedenfalls will ich den Regentag, der mich hier in Altwasser,1 einem kleinen Bade und Vergnügungsort beim Eintritt ins Schlesische Gebirge, auf den Vorplatz des Hauses fesselt, gleich mit einem Brief an Euch beginnen. Du magst Dir denken, wieviel mir der so bedeutend erweiterte Plan des Schleiermacher zu denken giebt: ich kann nicht sagen daß ich schon über die neue Eintheilung der Zeit im Reinen wäre: nur das Eine steht fest daß ich mich im Laufe des Winters habilitiren werde und wenn’s den Kopf kostet. Nun bin ich vorläufig vollkommen in Logik und Ethik eingepreßt, da sowohl der Schleiermacher als die mittelalterlichen Arbeiten immer wieder darauf hinweisen, mir darüber eine eigene Ansicht zu bilden, von der ich bei der historischen Betrachtung und Kritik auszugehen vermöchte. Wie weit ich nun hier in Schlesien mit den philosophicis kommen werde, läßt sich noch nicht absehen; doch bin ich guten Muthes: denn die vollkommene Einsamkeit ist gerade für meine Zwecke die wünschenswertheste Weise, meine Gedanken zu verbinden und zu ordnen.

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Zweierlei wäre nun wünschenswerth: einmal daß ich Dir über meine nächsten Pläne und wie sich Mittelalter und Schleiermacher vertragen werden schriebe; aber das alles ist noch in meinem Kopfe so chaotisch, daß ich’s mir auf Warmbrunn2 verspare und die nächste Woche. Dann, daß ich Dir noch erzähle, was von Berlin aus nur undeutlich geschah, wie mirs mit der Einleitung3 ergangen ist. Sie wurde eben immer umfassender und durchgearbeiteter, sodaß sie schon in gewöhnlichem Format und Druck über 12 Bogen, also etwa 200 Seiten betrug. Auch mochte ich nicht vermeiden, vieles was ich über Schleiermachers Genesis gefunden hatte, hauptsächlich seinen Zusammenhang mit der Periode der Aufklärung und dann mit Fichte und Schlegel darzustellen. Ich verfuhr dabei ebenso wie man mit Hegels Nachlaß und dem anderer mindestens ebenso bedeutenden Männer als Schl[eier]m[acher] verfahren ist, indem ich aus dem Nachlaß seiner früheren Zeit nur das Wichtigste wörtlich, das Übrige im Auszug mittheil[t]e und diese Mittheilung mit Bemerkungen über den Zusammenhang mit der damaligen Lage der Wissenschaft und nach vorn mit Schl[eier]m[acher]s späterer Entwicklung begleitete. Demgegenüber machte nun Sydow den Grundsatz geltend daß diese Bände als zur Herausgabe des Nachlasses gehörig nach denselben Grundsätzen behandelt werden sollten, nach denen jene herausgegeben seien, nemlich ohne alle Darstellung das ganze Material mitzutheilen. Es war vergebens daß ich dies für völlig unmöglich erklärte, da diese Schriften zu unbedeutend seien, um zwei Bände mit ihnen zu füllen, daß ich mich auf das Verfahren aller Herausgeber andrer bedeutender Nachlässe berief: zweierlei schlug durch: Einmal Schl[eier]m[acher]’s „Einzigkeit“, die nach keines anderen Sterblichen Maßstab gemessen werden dürfe, die man nicht umständlich genug kennen lernen könne; dann eine Theorie von innerer keimartiger Entwicklung, von der alle Schüler Schl[eier]m[acher]’s besessen sind, nach der alle Verknüpfung seiner Ideen mit denen der Gleichzeitigen und Alten als Ketzerei erschien. Das waren die wirklichen Gründe. Der Scheingrund war dann das Verfahren mit den früheren Bänden des Nachlasses. Auf diesen Scheingrund durfte ich dann freilich nicht antworten, da ich hätte sagen müssen, daß eben diese verkehrte Art der Herausgabe der Grund sei, daß Schleiermachers Philosophie so wenig auf die letzte Periode gewirkt, daß der Nachlaß nicht weiter verbreitet sei. Auf die wirklichen Gründe antwortete ich derb genug, sie bestritten mir aber, daß diese Gründe sie bestimmten. Du magst denken, wie heftig ich über diese Redensarten der beiden Ignoranten – denn auch Krause4 war dabei – wurde. Zuerst war meine Absicht, es ihnen zum Trotz durchzusetzen daß die Einleitung vorangedruckt würde. Indem ich aber überlegte, wie wünschenswerth doch ein anständiger Druck und die Möglichkeit, vieles klarer zu sagen, sei, zugleich wie penibel die Lage für die beiden Frauen sei, die so

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zwischen zwei Partheien gestellt seien: glaubte ich es für besser halten zu müssen, der Sache selbst rasch ein Ende zu machen und schrieb deswegen gleich den folgenden Tag der Gräfin Schwerin, daß ich unter diesen Umständen entschlossen sei, die Abhandlung als ein selbständiges Werk drucken zu lassen und redete mit Reimer das Nöthige ab, der sehr gern auf den Verlag einging. Nun wird eben die Vorrede, in der über den Briefwechsel das Nöthigste gesagt ist und auf das Buch zur näheren Erklärung hingewiesen wird, gedruckt. .|.|. Du glaubst nicht wie mich die Arbeit der letzten Monate angegriffen hat: ich kann noch immer nicht sagen, daß ich recht heiter sei: nur in dem einsamen Durchdenken meiner eigenen Gedanken, daß ich so lange habe entbehren müssen, indem ich durch die wunderschönen Berge wandre, liegt für mich eine immer neu erfrischende Erholung. Ich habe alle Hauptschriften Lotzes mitgenommen und es ist darin5 ein System von solcher Tiefe der Anschauung und solche Ruhe der Contemplation, daß es auf dieser Reise wie Poesie auf mich wirkt. Auch Novalis habe ich bei mir, über den ich des leidigen Geldes halber Haym einen Aufsatz geben will.6 Mit welcher Sehnsucht ich Eurer gedenke – jetzt, da ich nun so für mich und allen hin- und hergehenden Gedanken und Träumen offen die Tage verbringe, läßt sich nicht sagen. Wann werde ich einmal nicht mehr so mit meiner Zeit zu markten nöthig haben! Die Sonne fängt wieder an zu scheinen: mit meinem Plätzchen im Grase wo ich die halben Tage hinter dem Hause auf einer Anhöhe liege ist’s nun freilich heut und morgen nichts. Am liebsten ging ich morgen; ich hab aber den Damen im Hause, Polinnen usw., versprochen, morgen Abend zum Ball zu gehen – trotz meines grau-braunen Sommeranzugs – dann wird wohl abmarschirt. Neben mir wohnt nemlich eine polnische Gutsbesitzerin mit ihren zwei Töchtern: ein sehr seltsames Volk, das mich höchlichst amüsirt! Heut Nacht weckten sie mich händeringend, es flögen Funken gegen das Haus und als ich herauskam waren’s Johanniswürmchen, die nach dem Regen in großen Mengen scharf leuchtend flogen. Sie gehen natürlich a la Homburg gekleidet und machen die halben Tage Toilette – der Himmel weiß für wen in diesem bescheidenen Neste. .|.|. Nun Adieu! Ich will ins Freie! Die nächste Nachricht bekommt ihr also wohl von Warmbrunn wenn meine Reiselaunen beständig bleiben. Allen beste Grüße. Behaltet mich lieb Euer Wilhelm Freitag früh, Altwasser in Schlesien. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 65.

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Dorf im preuß. Regierungsbezirk Breslau/Kreis Waldenburg; Badeort mit Mineralquellen. Ort im preuß. Regierungsbezirk Liegnitz/Kreis Hirschberg (Schlesien); berühmtes Thermal-

bad. 3 Gemeint ist die Einleitung zum dritten Band der Edition der Schleiermacher-Briefe. Die ursprüngliche Fassung wurde nicht veröffentlicht, war aber der Keim von D.s späterer Schleiermacher-Biographie (vgl. JD, S. 310, Anm. 71). 4 Vermutlich ist H. Krause gemeint. 5 In JD: „dann“. 6 Der Aufsatz über Novalis erschien 1865 in: PJ 15, S. 596–650; WA in: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Vier Aufsätze. Leipzig 1906, S. 201–282, sowie später in: GS XXVI, S. 173–223.

[99] Dilthey an Luise Scholz [Vor 11. Juli 1861.]1 Wenns Ihnen, liebe Frau Capellmeisterin, auf das Briefmaterial nicht ankommt, in dem ich arbeite, so sollen Sie hier vom Fuß der Koppe2 bei zwei Talglichtern während ich über den Schreibtisch weg nach dem dunklen Gebirg blicke an dem entlang weiße regenverkündende Wolken ziehen, Antwort auf Ihren liebenswürdigen Brief 3 haben. Denn liebenswürdig ist er in der That – da Sie nun doch einmal etwas über ihn hören wollen. Es giebt nur Ein Kriterium ob ein Brief schön u. gut ist – wenn man gleich auf der Stelle in Gedanken zu antworten genöthigt ist, wenn man nicht gleich drauf zu seiner Beschäftigung zurückgeht, sondern mit großen Schritten in der Stube auf u. ab schreitet, die Antwort für sich schreibend. Und so geht mirs mit den Ihrigen jedesmal: ich glaube Sie dabei zu sehen: ja an eingen Stellen – lachen Sie nicht! – höre ich Sie singen. So geht mirs diesmal bei der über die wunderbaren Stimmungen einer schmerzlichen Beengung u. Sehnsucht ins Weite, die zuweilen mitten im Gefühl des Glücks uns überfallen, wie ich gestern vom Kynast4 über die sonnige Landschaft langgestreckte Wolkenschatten rasch hinstreichen sah. Mir selber ist dies einigemale auf so seltsam heftige Weise begegnet, daß es mir unvergeßlich ist. So überfiel mich noch neulich zweimal hintereinander bei Nitzschs, wo ich mich wie zu Hause fühle, während die Mädchen sangen u. alles in der heitersten Stimmung war ein so heftiges Gefühl der unbedingten totalen Einsamkeit, daß mir unaufhörlich die Thränen in die Augen traten. Wie natürlich ist doch diese Stimmung. Unser Gemüth ist unendlich, wie jede schöpferische Kraft; sein Bedürfniß sich mitzutheilen u. sich bewegen zu lassen, überragt je-

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de Menschen mögliche Beziehung; u. so steigt immer wieder eine dunkle Sehnsucht nach Erweiterung unsres Daseins in uns auf – nur selten u. plötzlich bei Menschen, die so glücklich sind, ganz verstanden zu werden, wie Sie es sind. Viel öfter freilich bei meinesgleichen die wie auf einer Wanderung begriffen sind u. in keinem Gemüth eine Heimath haben. Nicht so versteh ich Sie in dem was Sie über das Glück sagen, das in der Beziehung zu bedeutenden Menschen liegt. Das ist wohl im Grunde unser alter Streitpunkt. Sehn Sie, liebe Freundin, je bedeutender ein Mensch ist, desto mehr steht er im Grunde auf sich selbst u. der großen Gemeinschaft der in seiner Sphäre historisch gewaltigen Menschen. Alle Größe ist von einer eignen Einsamkeit ungeben; sie ist mit sich selbst mit der Natur u. mit ihresgleichen allein. Gerade in diesem Eindruck einer geheimnißvollen Abgeschlossenheit liegt nicht der geringste Reiz, mit dem bedeutende Menschen auf uns wirken. Jede durchgreifende Energie neigt dazu, die Welt, auch die menschliche, zum bloßen Material für die sie bewegenden Zwecke zu machen. So viel gewiß ist richtig an dem Satze, daß jede Größe egoistisch ist. Was Sie daher an einem bedeutenden Menschen besitzen, besitzen Sie ebenso an einem wahrhaft empfänglichen ohne produktive Kraft. Denn die Bewegung der Ideen in jenem verläuft für sich allein u. ohne Mittheilung. Jede Idee verblaßt, wenn Sie anders als in ihrer letzten Form zur Mittheilung kommt, wenn sie aus einem steten Impuls der Gestaltung zum Stoff flüchtiger persönlicher Mittheilung wird. Für die Hingabe des Gemüths aber, welche diese gewähren können, jene niemals so, nur in dem Einen u. Einzigen Verhältniß der Verhältnisse, entschädigen jene flüchtigen Blitze des Geistes nicht, die jenen eigen sind. Das ist meine Ansicht hierüber wenn ich auf die Extreme sehe. Nun giebt es zwischen der Größe von der ich hier rede u. geistigen Bedeutendheit viele Mittelstufen u. die Erfahrung hat ja auch mich gelehrt, wie bedeutende Menschen, als z.B. Lazarus ohne Frage ist, wahrer Freundschaft fähig sind. Für Joachim habe auch ich die größte Verehrung u. ich wünsche Ihnen Glück zum nahen Verkehr mit ihm. Sie wissen wie außerordentlich er mich von vorn herein als eine höchst bedeutende Natur interessirte. Denken Sie daß es mir jetzt mit Hermann Grimm ebenso geht, seinem nächsten Freunde, nachdem ich von ihm einen Vortrag über Göthe in Ital[ien]5 gehört habe. Er hat auch etwas Abgeschlossnes, was mich reizt u. wenn sich irgend eine Gelegenheit ergiebt, will ich sie nicht versäumen seine Bekanntschaft zu machen. Auf den Brief von Joachim freue ich mich deshalb auch; vielleicht daß er mir ihn deutlicher macht als er mir bis jetzt ist. Können Sie ihn nicht schicken? Ich garantire Ihnen rasche u. sichre Rückbesorgung. Da wir nun einmal bei dem Capitel der Freunde sind, so thu ich Ihnen kund u. zu wissen, daß Usener, dessen Sie sich vom vorigen Jahre erinnern u.

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der mir so nahe steht wie nie bis jetzt ein andrer Mann, sich in Wiesbaden auf vier Wochen zur Kur befindet. Sie thun ihm u. sich Gutes wenn Sie durch unser Haus durch, wo er gewiß öfter sein wird, sich mit ihm in Verbindung setzen. Freilich weit schöner wäre es wenn der Bär da wäre, der sich gewiß vortrefflich mit ihm verstehn würde. Er ist übrigens Professor der Philologie in Bern geworden u. geht zu Herbst dahin ab. Donnerstag d[en] [11]ten Juli6 Hierzwischen liegen nun Gebirgsreisen, Arbeiten – auch ein schöner Plan auf 14 Tage nach Biebrich zu kommen. Wie es einem so geht, wenn man wochenlang umherschweifend seinen Gedanken freien Lauf läßt, überkam mich eine heftige Sehnsucht meine Eltern wiederzusehn; Ihr Brief kam und zeigte mir Ihrem Zorn gegenüber die Aussicht heiteren Zusammenseins; mein Vater hat indeß in reiflicher Erwägung der Umstände – die Geschwister alle weg, das Haus voll, der Vater viel Arbeit, meine Zeit kurz – ein spätres Zusammentreffen vorgezogen u. mir die herrliche Aussicht gezeigt ihn in Berlin zu sehn. Wenn Sie das nur auch einmal thäten! Ich habe hier in Schlesien sehr glückliche Tage verlebt! Nur daß mir hier zuletzt d[ie] Verbindungen zu viel wurden; ich bin in einen Kreis von Officiers- und Gutsbesitzersfamilien gekommen, der sehr nett war mich aber doch wegen der täglichen Vergnügungslust der Damen, die mir keinen Nachmittag frei ließ, mißanthropisch zu machen drohte. Zunächst entfloh ich zu einer viertägigen Gebirgsreise mit Prof. Kirchhoff 7 und seinen Damen. Diese wird mir unvergeßlich sein. Wir gingen über den ganzen Kamm des Riesengebirgs, um uns vaste, unübersehbare, grünbewachsne Steinmassen, die die Kegel des Gebirgs weithin bedecken, dann weite Strecken von an der Erde hinkriechendem Knieholz, an Schneeflecken vorbei, bald von den Wolken umgeben, die der Wind gegen das Gebirge treibt, über das sie dann unruhig als Nebel schwanken, zuweilen auch von draus entstehendem Regen, bald dann wieder vom hellsten hindurchbrechenden Sonnenschein, der auf der einen Seite nach pr[eußisch] Schl[esien] auf der andren nach Böhmen die Aussicht öffnet – einmal zog auch ein gewaltiges Gewitter neben uns, sodaß es am hellen Nachmittag fast Nacht wurde auf der böhm[ischen] Seite. Man glaubt, dem Innersten der Natur näher zu sein, wenn man so aus tausend Rinnen die Gewässer zusammenfließen sieht, die Beweglichkeit der Pflanzenwelt, Arten hier zu niedrigem Strauchwerk zusammenschrumpfen sieht u. den Menschen in einsamen Bauden,8 in Einer Hütte mit seinem Vieh, mit der Natur kämpfend u. die Spuren dieses Kampfes in seiner müden, verkümmerten Gestalt an sich tragend. Und nun denken Sie sich uns vor dem Gewitter in eine solche Baude geflüchtet, die Kleider an dem ungeheuren Ofen, der

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dort Sommer u. Winter hindurch brennt trocknend u. dann sitzen wir beisammen u. Prof. Kirchhoff, ein berühmter Philologe, der versucht hat das ursprüngliche Lied, aus dem die Odyssee durch Erweiterung entstanden ist, herzustellen, liest uns nach dieser seiner wirklich trefflichen kritischen Ansicht hier in den Unwettern des Gebirgs die Irrfahrten des Odysseus auf den griechischen Meeren vor, bis der Himmel sich aufzuhellen beginnt. Nun abermals tägliche Parthien – kaum daß ich mir meine Arbeitszeit bis 2 Uhr rette. Heute gehts aber weg, ob zu Fuß oder Wagen ist noch Geheimniß meiner Karte – genug in 3–4 Tagen sitze ich in Berlin. U. glauben Sie wohl daß ich mich sehr darauf freue? Ich sehne mich nach meiner Arbeitsruhe, nach meiner Stube, nach meinen Büchern u. Freunden, nach dem Thiergarten, nach den Schutzmännern – kurz nach allen lang entbehrten Berlinismen. Die Zeit drängt zu schließen. Indem ich noch einmal Ihren Brief durchblikke, sehe ich, daß Sie fragen was ich über die Rahel9 denke. Es geht mir ganz wie Ihnen: so viel Geist sie hat, mir ist das Malcontente, künstlich Aufgeputzte, diese Zerrissenheit, die unglücklich ist, weil sie zwischen dem Spiritualismus der Salons u. schmutziger jüdischer Wirthschaft – wörtlich wahr bei ihr – hin und her getrieben wird, in tiefster Seele zuwider. Nun leben Sie wohl u. erfreuen Sie mich bald in meiner Mauerstraße 23, wo ich schon in vier Tagen sicher sitze, mit einem Brief, grüßen Sie von mir Ihre Eltern sowie das Haus Scholz aufs beste und bewahren Sie mir Ihre Freundschaft. W. Dilthey. Wenn Sie in dies[en] Tagen jemand von den meinigen sehn sollten bitte ich zu grüß[en] und zu sagen, daß ich gleich nach meiner Rückkunft nach Berlin schreiben würde und ihnen erzählen, wie mirs geht. Original: Hs.; HLB Wiesbaden, 341 (11); Erstdruck: BDSch, Nr. 11; WA in: JD, Nr. 66. 1

Die Datierung wurde von der Hg. von BDSch vorgenommen. Schneekoppe: Berg in Schlesien. 3 Nicht überliefert. 4 Ruinen eines Bergschlosses im Riesengebirge. 5 Der Aufsatz wurde abgedruckt in: H. Grimm: Neue „Essays“ über Kunst und Literatur. Berlin 1865, S. 344–371. 6 Im Original: „Donnerstag d 16. Juli“ und in BDSch: „Donnerstag d. 10ten Juli“. – Der 10. Juli 1861 war ein Mittwoch, daher wohl eher: 11. Juli (vgl. BDSch, S. 462, Anm. 4). 7 Adolf Kirchhoff (1826–1908): klass. Philologe; 1846 Adjunkt und später Prof. am Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin, 1865 o. Prof. der klass. Philologie in Berlin. 2

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Unterkunftshütte im Gebirge. Rahel Antonie Friederike Varnhagen von Ense, geb. Levin (1771–1833): Schriftstellerin, Ehefrau von Karl August Varnhagen von Ense. 9

[100] Dilthey an Rudolf Haym Sonnabend Abends 6 Uhr. 1 Verehrtester Herr Professor! Ich nahm mir Zeit auf Ihre freundliche Anfrage wegen einer Selbstrecension der Br[ie]fe zu antworten, weil mir die Sache nicht eilig schien; jetzt hat die Recens[ion] im letzten Hefte der Grenzboten von Julian Schmidt mir die Sache desto eiliger gemacht.2 Sie werden das begreifen, wenn Sie dies bodenlose Gerede gelesen haben. Er tadelt die Auslassungen von Stellen welche vertrauliche Privatverh[ältnisse] betreffen, mit Gemeinplätzen über Ineinanderlaufen von Persönl[ichem] u. Sachlichem bei den Romantikern und wünscht sichtlich daß in dem „aus Sch[leier]m[acher]s Leben“ Auskunft darüber gegeben würde, ob Caroline ihren Wilhelm betrogen oder nicht; wie lange u.s.w. – kraft des bek[annten] Anspruchs des Publici allem Skandal auf den Grund zu sehen. Zum zweiten klagt er daß über Geldverhältnis[s]e Etwas ausgelassen, indem er diese Auslassungen auf die spätere Zeit bezieht, während ein Blick auf die Briefe aus dieser späteren Zeit ihm zeigen würde wie formell sie gehalten sind, während er zugleich auch vorn sehn konnte, wo solche Stellen bei Gelegenheit des Ath[enäums] usw. ausgefallen sind. Er ahnt so etwas, daß Geld beim Übertritt F[riedrich] S[chlegel]s eine Rolle gespielt hätte u. scheint sich einzubilden, der Herausg[eber] d[er] Briefe hätte diese Ahnung – soweit sie richtig ist – nicht auch gehabt. Kurz es sind so lächerliche u. zugleich für das gros des skandalsüchtigen Literathentums so einleuchtende Mißverständnisse, daß mir nöthig scheint einige faktische Erläuterungen darüber was eigentlich ausgelassen ist, zu geben. Ich schlage es aber auch Ihnen vor: sehen Sie sich den Artikel gütigst einmal an u. urtheilen Sie. Sollten Sie meiner Meinung beitreten, so wäre die Frage, ob Sie eine solche Selbstanzeige, die Erläuterungen über die Auslassungen mit Rücksicht auf diese Anzeige – natürlich mit vornehmer Sachlichkeit – gäbe, haben wollen.

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In diesem Falle wäre denn freilich Eile sehr wünschenswerth, damit man dem Nachgeschrei der andren ästhetischen Blätter zuvorkommt. Ich schreibe daher augenblicklich, weil mir, freilich als 3/4 Unmöglichkeit, das Septemberheft noch vorschwebt. Ich würde Ihnen spätestens 2 Tage nach Empfang Ihrer Antwort die Anzeige zuschicken.3 Entscheiden Sie also, wie Sie’s für das Beste halten für die Sache dieser Herausgabe, der Sie einmal so viel freundliche Theilnahme geschenkt haben. Meine Rec[ension] der Jahrb[ücher] hat Unglück. Gliedmaßen u. Geist der A[llgemeinen] P[reußischen] Z[ei]t[ung] liegen in Hader u. bis jetzt unterliegt der Geist. In Folge davon liegt meine sehr ausführliche Anzeige schon seit über 3 Wochen auf dem Bureau der Z[ei]t[un]g.4 Entschuldigen Sie meine Hast mit der Dringlichkeit der Sache. Herr Prof. Häusser, der hier ist, erkundigt sich ob Sie denn diesen Monat nicht hierherkämen, u. analysirt noch immer mit unsäglichem Behagen die diplomatische Haltung, durch welche Sie den guten Prof. V.5 abgefertigt haben. Wehr[enpfennig] ist noch weg, Web[er]6 seit einig[en] Tagen zurück. In hochachtungsvollster Ergebenheit Ihr Dilthey. Mauerstraße 23. Original: Hs.; ULB Sachsen-Anhalt, Halle, Haym-NL, Yi 23 IV D 4 a; Erstdruck: BDH, Nr. 1. 1

Die Datierung wurde vom Hg. von BDH vorgenommen. J. Schmidt: Briefe über einige neue Erscheinungen der Literatur, in: Die Grenzboten. Wochenzeitschrift für Politik, Literatur und Kunst, 3. Vierteljahr, September 1861, Nr. 38, S. 470–474: Aus Schleiermachers Leben in Briefen. 3. Bd. Berlin 1861. – Der Literaturhistoriker Julian Schmidt (1818–1886) war, zusammen mit Gustav Freytag, 1848–1861 Redakteur der Grenzboten, 1861–1863 Redakteur der Berliner Allgemeinen Zeitung. 3 D.s Selbstanzeige erschien noch im Septemberheft der PJ 8 (1861), Heft 3, S. 279–282 anonym; WA als Beilage III in: BDH, S. 42–45. 4 Die Rezension der PJ erschien anonym zwischen dem 21. und 28. September 1861 in: Allgemeine Preußische (Stern) Zeitung, Nr. 143, 145, 147 und 149; WA der ersten Abschnitte in: GS XII, S. 123–130. – Die Allgemeine Preußische (Stern) Zeitung war das kurzlebige ministerielle Organ der liberalen Ära, das von D.s Freund W. Wehrenpfennig betreut wurde (vgl. BDH, S. 8, Anm. 1). 5 Möglicherweise ist Virchow gemeint, der in einer der vorhergehenden politischen Korrespondenzen angegriffen wurde (vgl. BDH, S. 8, Anm. 2). 6 Max Weber sen. (1836–1897): Jurist, nationalliberaler Politiker, 1862–1869 Stadtrat in Erfurt, 1872–1877 und 1879–1884 Mitglied des Reichstags; Vater der Soziologen Max und Alfred Weber. 2

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[101] Rudolf Haym an Dilthey Halle, 18. Oct[o]b[e]r. [18]61 Verehrter Herr u Freund, Auf Ihren ausführlichen u. trefflichen Brief werde ich Sie wieder kurz abspeisen müssen: ich schreibe unmittelbar vor dem heutigen Krönungsfestessen,1 dem ich mich nicht entziehen durfte. Gleich nach Schlosser’s Tode2 schrieb ich an Gervinus als den offenbar nächst Berufenen. So erfuhr ich zuerst v[on] der beabsichtigten Broschüre.3 Darauf zweimal an Häußer. Gleichzeitig mit Ihrem Briefe trifft seine Antwort endlich ein. Er ist halb krank in München gewesen, u. befindet sich jetzt zwischen Druckarbeit, angesichts der Vorlesungen u. des Landtags in der physischen u. moralischen Unmöglichkeit weitere Arbeiten zu übernehmen. So ist denn Ihr Anerbieten, auf Unterlage der G[ervinus]’schen Broschüre einen Aufsatz über die Schlosser’sche Geschichtsschreibung zu schreiben, eine wahre Hülfe in dringender Noth. Sie müßten aber freilich Schleiermacher, Mittelalter u. Lotze zur Seite schieben. Denn nachdem das A propos von Schlosser’s Hinscheiden versäumt ist, dürfte das von G[ervinus]’ Nekrolog nicht wieder vorübergelassen sondern prompt ergriffen werden. Ich nehme also an, daß wir hierüber Handels Eins sind. Sie werden Schl[osser] nicht anders als mit dem größten Respect behandeln, das weiß ich, u. der Verwandtschaft der Jahr[bücher] mit der Richtung des Mannes eingedenk sein, sofern beide (mit Gervinus zu reden) „das gemeinsame Kennzeichen haben, daß sie ihre Behandlung der Geschichte gerne, nach dem Bedürfniß der Zeiten, auf gemeinnützige Zwecke richten“ – von dem tieferen ethischen Bezuge nicht zu reden. Kann ich den Aufsatz für das December-Heft, also Ende November haben?4 Mir ist das so sehr Hauptsache, daß ich für jetzt den Baumgarten5 fahren lasse – nicht ohne mir vorzubehalten, später darauf zurückzukommen. Unmöglich kann ich die Schuld auf mich laden, das Quodlibet Ihrer Arbeiten noch quod-libetischer zu machen. Es freut mich, daß Sie sich über den Literaturbrief No 2 nicht geärgert, sondern amüsirt haben. Übrigens steht es nun fest, daß wir vom 15. Dec[em]b[e]r an statt Literaturbriefe Leitartikel von Julian zu lesen bekommen werden.6 In der mündlichen Verhandlung hat er einstweilen seine Sache mit der Partei sehr gut geführt. Diese Partei hat mir allerdings ihren Bericht über die letzte Sitzungsperiode für die Jahrbücher übergeben. Es ist nicht Veit’s, sondern eine Kollectiv-

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arbeit. Leider habe ich nur die Correctur gelesen u. nur einige Überflüssigkeiten u. stilistische Monstra noch beseitigen können. Erwarten Sie ja nicht zu viel, namentlich nichts sehr Durchschlagendes. Das Ganze ist viel zu lang, u. mischt Wichtiges u. Unwichtiges mit derselben urtheils- und geschmacklosen Langweiligkeit, welche die Sitzungen charakterisirte. Nichts desto weniger ist Vieles (z[um] t[eil] über die Armeereform) recht gut; man hat das Material einmal beisammen; der Bericht muß nach Kräften verbreitet und ausgebeutet werden. Zum Glück sind ja die Wahlen, auf die er wirken soll, hinausgeschoben. Ich danke für Ihre Notizen über Oppenheim.7 Ebenso für Ihre Artikel über die Pr[eußischen] Jahrb[ücher].8 Der Aufsatz war für eine Zeitung zu gelehrt u. holte zu weit aus – diesen relativen Tadel halten Sie meiner Offenheit wohl zugute. Über Lotze einmal mündlich. Ich theile seine ethische Grundanschauung, durchaus. Seine Metaphysik aber scheint mir zwiefach hypothetisch. Sie pfropft auf vorweggenommene Resultate der noch unfertigen exacten Wissenschaft die Ideen der überreifen philosophischen Wissenschaft. Dauerndes kann auf diese Weise nicht entstehn. Das hindert natürl[ich] nicht, daß ich den Scharfsinn des Mannes nicht anerkennte; ich halte ihn allerdings für den ersten der jetzt lebenden Philosophen, wie der Einäugige der König der Blinden ist. Übrigens glaube ich, daß wenn Lessing lebte, dieser gegen die dermalige Mischung von Empirie u. Philosophie, von Geschichte u. Speculation auf deren Scheidung dringen würde. Mit Verehrung u. Freundschaft der Ihrige. Vielleicht interessirt es Sie zu erfahren, daß mir von Frau v. Gleichen-Russwurm9 Briefe Schlegel’s an Schiller für die Jahrbücher zugesagt sind.10 Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 k. 1

Am 18. 10. 1861 war die Königskrönung Wilhelm I. in Königsberg. Der Historiker Friedrich Christoph Schlosser (geb. 1776) war am 23. September 1861 in Heidelberg gestorben, wo er seit 1819 gelehrt hatte. 3 G.G. Gervinus: Friedrich Christoph Schlosser. Ein Nekrolog. Leipzig 1861. 4 D.s Aufsatz Friedrich Christoph Schlosser erschien anonym in: PJ 9 (1862), S. 373–433; WA in: GS XI, S. 104–164. 5 Eine Rezension D.s von H. Baumgartens Geschichte Spaniens zur Zeit der französischen Revolution war bereits erschienen in: Berliner Nationalzeitung, 14. Jg., Nr. 429, 14. 9. (1861), gez.: „D.“. 6 J. Schmidt: Briefe über einige neue Erscheinungen der Literatur, in: Grenzboten, Nr. 38 (September 1861), darin: aus Schleiermacher’s Leben in Briefen. 3. Band. Zum Druck vorberei2

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tet von Ludwig Jonas, nach dessen Tode herausgegeben von Wilhelm Dilthey (S. 470–474). – Schmidts Herausgeberschaft der Grenzboten endete zum Jahresende 1861. 7 Heinrich Bernhard Oppenheim (1819–1880): Hg. der Deutschen Jahrbücher für Politik und Literatur, Organ der Liberalen Partei, die zwischen 1861 und 1864 erschienen. – Die „Notizen“ D.s über Oppenheim wurden nicht in den PJ gedruckt. 8 Neben seinem Beitrag über die PJ in der Allgemeinen Preußischen (Stern) Zeitung, WA in: GS XII, S. 123–130, schrieb D. über Die preußischen Jahrbücher. 1862. 1. Quartal. Berlin: Reimer, in: Berliner Allgemeine Zeitung, Morgenausgabe. Nr. 198 vom 30. 4. 1862, Beilage (anonym); WA als Beilage IV in: BDH, S. 46–48. 9 Emilie von Gleichen-Rußwurm (1804–1872): jüngste Tochter von Friedrich und Charlotte Schiller, verheiratet mit dem bayerr. Kammerherrn Adalbert von Gleichen-Rußwurm (1803–1887). 10 Briefe der Brüder Schlegel an Schiller aus den Jahren 1795–1801. Mitgeteilt von L. Ulrichs, in: PJ 9 (1862), S. 194–228.

[102] Christian A. Brandis 1 an Dilthey Ohngleich später als ich beabsichtigte, komme ich zur Beantwortung Ihres lieben Briefes,2 mein sehr geehrter Herr Doctor: die Hoffnung aus dem Nachlaß meines verewigten Freundes Bunsen3 inhaltsreichere Schleiermachersche Briefe verschaffen zu können als meine Sammlung sie enthält, hat den Verzug veranlasst, u. leider hat sich nicht gefunden was zu finden ich hoffte, obgleich es an Nachsuchungen nicht gefehlt hat. Nur einige Zeilen v[om] J[ahr] 1828 zur Einladung in die Singakademie haben sich vorgefunden. Möglich, aber freilich auch nur möglich, daß in den Papieren über Gesangbuchs u. Liturgie Angelegenheit noch ein Brief sich verborgen halten möge, u wenn so, werden Sie ihn erhalten. Bis jetzt haben diese Papiere noch nicht durchgesehen werden können. Ein fortgehender Briefwechsel hat zwischen Schl[eiermacher] u. B[unsen] nicht statt gefunden. Die in meinem Besitz vorhandenen schriftlichen Mittheilungen des unvergleichlichen Mannes übersende ich Ihnen, wiewohl sie sich bei weitem grösstentheils auf die Aristotelische Angelegenheit beziehen u. höchstens einige Notizen enthalten, die möglicher Weise sich verwenden liessen. Nach dem Winter 1832–33, in welchem ich das Glücke hatte fast ohne Ausnahme zwei oder drei Abende mit meinem ewig theuren Gönner zuzubringen, habe ich nur einige Zeilen von seiner Hand erhalten, die in meinen Briefpaketen noch nicht sich haben auffinden lassen. Sie müssen also das gute Wollen für die That nehmen. Gelegentlich erbitte ich mir die Briefe zurück. Möglich daß sich in Lückes4 Nachlaß noch Einiges finde. Consistorialrath Dr. Dorner5 würde darüber wohl Auskunft verschaffen können. Was in Steffens’6 Nachlaß sich erhalten hat, werden Sie wohl schon haben benutzen kön-

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nen; die Freundschaft Schleiermachers mit Steffens gehörte ja noch einer Zeit an, in welcher ersterer ohngleich mehr als später briefwechselte. Im dritten Band der Sammlung finden sich ja wieder manche köstliche Schleiermachersche Briefe, wiewohl Fr[iedrich] Schlegel in seiner Leichtfertigkeit das Meiste verzettelt haben muß u durch die von ihm erhaltenen Briefe für diesen Verlust nichts weniger als entschädigt. Fast möchte ich wünschen daß weniger die Schlegelschen Briefe des Abdrucks gewürdigt wären; welch ein Unterschied zwischen ihnen u den Schleiermacherschen! Erfreulich allerdings daß die Sage von dem entscheidenden Einfluß den Schlegel auf die Anordnung der platonischen Dialoge geübt haben sollte, nun gänzlich widerlegt ist. Mit Sehnsucht sehe ich dem vierten Bande der Sammlung entgegen u wünsche Ihnen Glück zu der Theilnahme, die Ihnen dabei zugefallen ist. Mit der Bitte der geliebten Familie Nitzsch mich bestens empfehlen zu wollen u hochachtungsvoll Ihr ergebenster Ch. A. Brandis Bonn 20 Octob[er] [18]61. Darf ich noch um gütige Besorgung der kleinen Einlage bitten? Leider fehlt mir die Kenntniß der betr[effenden] Adresse. Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 132, Bl. 142–143. 1 Christian August Brandis (1790–1867): Philologe und Philosoph; 1818 Prof. der Philosophie in Berlin, seit 1822 in Bonn. – Schüler Schleiermachers und Hg. von Schleiermachers Die Lehre vom Staat. Berlin 1845. 2 Nicht überliefert. 3 Christian Karl Josias Freiherr von Bunsen (1791–1860): Politiker und Gelehrter. 4 Gottfried Christian Friedrich Lücke (1791–1855): protest. Theologe; 1818 o. Prof. in Bonn, 1827 in Göttingen, 1839 Konsistorialrat in Hannover, 1843 Abt des Klosters zu Bursfelde im Weserbergland. – Briefpartner Schleiermachers und Mithg. von Schleiermaches Schriften. 5 Isaak August Dorner (1809–1884): protest. Theologe; 1838 a. o. Prof. in Tübingen, 1839 Prof. in Kiel, danach in Königsberg, 1847 in Bonn, 1853 in Göttingen, 1861 Oberkonsistorialrat und Prof. in Berlin. 6 Henrik Steffens (1773–1845): norweg. Philosoph, Naturforscher und Dichter; 1804 Prof. in Halle, 1811 in Breslau, 1831 in Berlin.

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[103] Dilthey an Rudolf Haym Allerverehrtester Herr Professor! Da ich eben über Gervinus „von Schlosser und mir selber“1 mit warmem Kopfe sitze, fällt mir ein, daß am Ende doch bei Ihnen lästige Ungewißheit entstehn könne, wenn ich nicht ausdrücklich schreibe, daß ich Ihren Vorschlag acceptire. Dies geschieht hiermit. Als Sie schrieben,2 hatte ich schon Zabel3 was versprochen: Sie werden den Anfang vielleicht in der Nat[ional]Z[eitung] von gestern gesehn haben, morgen kommt wohl das grausige Ende, das schon mit der Absicht verfaßt ist wo möglich nichts zu sagen um nur nichts vorwegzunehmen – was ziemlich gelungen sein möchte. –4 Ich lese Schlossers Bücher mit einem steigenden Eifer u. Interesse und Sie erhalten unbedingt für das Decemberheft den Aufsatz, welcher wohl über einen Bogen betragen wird, wie es mir vorschwebt, Theilung aber nicht verträgt; das I Leben II Lehre hasse ich ohnehin. Nur bitte ich mir zu schreiben, bis wann Sie zu diesem Zweck das Manuscript bedürfen, damit mir auch das ein Sporn sei. Gervinus’ Broschüre ist sehr schön; die Einseitigkeit seiner Auffassung würde aber doch in den Jahrb[üchern] nicht am Platze sein; Schlosser ist schon so lange wie gestorben, daß man nun da er es wirklich ist wohl seine Geistesart gelassen und gemüthlich, sein Leben u. Persönlichkeit wo möglich mit einiger Heiterkeit darstellen darf, wenn man so wie ich von seinem Werthe überzeugt ist. Die Nat[ional]z[ei]t[un]gsartikel, die lange vor Gervinus geschrieben, werden Ihnen zeigen, wie vielfach meine Ansicht mit der seinen übereinstimmt, in der Hauptsache bis zur Wörtlichkeit. Aber bei alledem muß man auch Müller5 u. Ranke gerecht sein können. Einzelne Geschichten bei G[ervinus] aus S[chlosser]’s Leben sind prächtig. Noch etwas. Kennen Sie eine Frau Professor Klenze6 in Halle? Wenn: dann bitte, fragen Sie dieselbe doch, ob sie nicht noch Briefe von Schl[eier-] m[acher] hat. Frau Hoßbach7 behauptet das. Sehr hübsche habe ich in diesen Tagen aus Bleeks8 Nachlaß erhalten, auch von Brandis einige. In großer Eile u größter Ergebenheit Ihr W. Dilthey. 31. Oct[ober] [18]61. Die Krönungsreden u. was sonst über Untelegraphirtes umgeht verwandelt überall wo ich hinhöre die Milch constitutioneller Denkart in Drachengift der Demokratie. Es fallen von loyalen Menschen verwunderliche Worte.

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Pr[ofessor] Gosche ist vermahnt, macht indes einen Eindruck ruhiger Verstocktheit. Ich würde gern, falls Sie das Buch schaffen können, in aller Kürze unter den Notizen Baur, die christliche Kirche, Band III, Tübingen bei Fues, K[irchen]gesch[ichte] des Mittelalters9 besprechen. Original: Hs.; ULB Sachsen-Anhalt, Halle, Haym-NL, Yi 23 IV D 4 b; Erstdruck: BDH, Nr. 2. 1 Ironische Formel für den Inhalt von Gervinus’ Schlosser-Nekrolog (vgl. BDH, S. 8, Anm. 3). 2 Vgl. Brief 101. 3 Vermutlich ein Redakteur der auflagenstarken Berliner National-Zeitung, die 1848 gegründet worden war und sich in den 1860er Jahren zum Hausblatt der Nationalliberalen Partei in Preußen entwickelte. 4 F. Ch. Schlosser I, Lehr- und Wanderjahre. II, Die Universal-Geschichte, in: Berliner National-Zeitung, 14. Jg., Morgenausgabe Nr. 506 und 512, 30. Oktober und 2. November 1861. Gez.: D. 5 Johannes von Müller (1752–1809): Historiker. 6 Die Witwe von Clemens August Karl Klenze (1795–1838): Jurist; ab 1825 o. Prof. in Berlin. – Die Familie Klenze war mit der Familie Schleiermachers befreundet. 7 Vermutlich die Witwe von Peter Wilhelm Hoßbach (1784–1846): protest. Theologe; 1815 Prediger in Berlin, seit 1821 an der Neuen Kirche, 1830 Superintendent und 1839 Mitglied des Konsistoriums der Provinz Brandenburg. 8 Friedrich Bleek (1793–1859): Bibelforscher; 1823 a. o. Prof. der Theologie in Berlin, 1829 o. Prof. in Bonn. – Briefpartner Schleiermachers. 9 Der Verlag L.Fr. Fues.

[104] Karl Dilthey an Dilthey (Biebrich, Ende Oktober 1861) Liebster Wilhelm! Das war ja eine lange Zeit, in der wir für einander verschollen waren, wie zwei feindliche Brüder! auch auf Umwegen sind nur gar sparsame Nachrichten von Dir an mich gelangt, und ich habe nun jetzt erst einen Haufen Briefe von Dir hier durchgesehen und mich nachgeschafft – über Karlsruhe1 usw. das Erste gehört. – Heute bin ich acht Tage hier, und werde auf alle Fälle den Mittwoch wieder gehen. Den Freitag vorher hatte ich Jahn2 den ersten Bogen meines Schriftchens de Callimachi Cydippa elegia überreicht,3 sonst verging der Tag ganz still, da sich Jahn jede Feier auf das Entschiedenste verbeten hatte; es sei ihm lästig, Mittelpunkt einer solchen

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Festlichkeit zu sein. .|.|. Doch werde ihm die Gratulationsschrift des Seminars sehr willkommen sein: der alte Welcker4 hatte auf den Abend Jahn mit seinem Neffen, dem Privat-Dozenten und bereits designierten Professor für Halle – Michaelis,5 ein recht lieber Mensch, doch gar nicht bedeutend – und Mommsen, dessen Kommen nach Bonn nun gesichert, nach Rolandseck6 geladen. Meine gedruckte Gratulation hat, wie ich höre, großen Beifall gefunden, weil ich in den nicht gerade einfachen Verhältnissen ganz das rechte Wort gefunden. .|.|. Diese Cydippe7 nimmt in der Entwicklungsgeschichte des griechischen Romans eine bedeutende Stelle ein, und ist aus dieser Periode der einzige Überrest der Art. .|.|. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 67. 1

D. hatte derzeit Hoffnung auf eine Anstellung in Karlsruhe (vgl. JD, S. 311, Anm 76). O. Jahn war seit 1855 o. Prof. der Altertumswissenschaft in Bonn. 3 Zum 25-jährigen Doktor-Jubiläum seines Lehrers Otto Jahn am 18. 10. 1861 überreichte Karl D. diesem im Auftrag des Bonner altphilologischen Seminars eine von ihm verfasste Festschrift: De Callimachi Cydippa. Gratulationsschrift des Bonner Seminars; sie erschien im Jahre 1863. 4 Friedrich Gottlieb Welcker (1784–1868): Altertumsforscher; 1809 o. Prof. der Archäologie und griechischen Literatur in Gießen, 1816 in Göttingen, 1819–1861 in Bonn. 5 Adolf Michaelis (1835–1910): Archäologe; nach seiner Habilitation in Kiel 1861 wurde er 1862 a. o. Prof. in Greifswald, ab 1865 o. Prof. der klass. Philologie und Archäologie in Tübingen, 1872 Prof. der Archäologie in Straßburg; Schwager von J. G. Droysen. 6 Ortsteil von Oberwinter (Remagen am Rhein/Kreis Ahrweiler). 7 Kydippe = Heldin einer griech. Liebessage, die in der (verlorenen) dichterischen Bearbeitung des Kallichos Vorbild für spätere griech. Prosaromane wurde. 2

[105] Dilthey an Friedrich Eggers 19. November 18611 Ist nicht, sehr verehrter Herr Doktor! unter Ihrer alles Gute fördernden (auch die Anfänge meiner Schriftstellerei schützenden) Redaktion des P[reußische] Z[eitung-]Feuilletons auch im Jahrgang 1858 oder 59 Wehrenpfennigs langer trefflicher Aufsatz über Schleiermacher2 erschienen? Sollten Sie ihn besitzen, so würden Sie mich sehr verpflichten, wenn Sie mir ihn mit dem kleinen Boten mitschickten. Zugleich möchte ich Ihnen den Vorschlag zu einer großen und zusammenhängenden Bummelei am Freitag machen. 1) bitte ich Sie mein Gast zu Tisch

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Dilthey an Friedrich Eggers

zu sein, falls Ihnen der Tag convenirt – bei Kellner.3 2) falls Herr Dr Roquette frei ist würde ich das am vorigen Freitag Verunglückte zur Repetition vorschlagen – um 6 Uhr in Gosches Vorles[ung] über Lessing, in der an 200 Zuhörer sein sollen zu gehn u. von da mit diesem zum wackeren Trarbach.4 In der Pause zwischen beiden Beschäftigungen können wir bei Herrn Professor Lazarus Kaffee trinken. Haben Sie zu 2) nicht Zeit, trotten Sie eben einfach mit mir? Mit bestem Gruß Dilthey 5 am Tage der Wahlschlacht, 8 Uhr Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey 13 p. 1

Nachträgliche Datierung von fremder Hand. – Friedrich Eggers (1819–1872): Kunsthistoriker und Redakteur. 2 Nicht ermittelt. 3 Vermutlich ist ein Berliner Restaurant gemeint. 4 Weinrestaurant in der Berliner Behrensstraße. 5 Ende November 1861 fanden Wahlen zum preuß. Abgeordnetenhaus statt.

[106] Friedrich Eggers an Dilthey am 21. Nov[ember] 1861. Langsam aber sicher, wie Sie sehen, lieber Doctor, geht das von Ihnen angelegte Aktenstück seiner Vervollständigung entgegen. Ich antworte: 1) Es verhält sich so: Wehrenpfennigs Aufsatz über Schleiermacher zierte das Feuill[eton] der P[reußischen] Z[eitung] als ich die Redaction desselben leitete. Ich habe lange danach gesucht. Endlich fiel mir ein, daß ich diesen Aufsatz wohl an meinen Bruder Rector in Sternberg nach Mecklenburg geschickt habe und mein Briefbuch bestätigt es wo jetzt der Junkerlandtag blüht und meinen Freund August Pogge-Jaebitz1 vicarirt.2 Sollte W[ehrenpfennig] ihn nicht haben? dh. seinen Aufsatz. 2) Wie es mit dem Essen sich umgedreht hat, das bitt’ ich freundlich, sich gefallen lassen zu wollen. Es geht das Gerücht durch mein Haus, daß wir eine Gans haben werden. 3) Den Kaffe[e] bringt uns schon die historische Entwicklung. 4) Was aber den Abend betrifft, so bin ich Taubert3 gegenüber auf die Verpflichtung eingegangen, mich wegen der „Sturm-aufführung“ durchaus zur

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Disposition zu halten. Freimaurerischerseits wurde dennoch bereits am Sonntage ein Angriff auf den Abend gemacht. Noten sind bis vor einer Stunde darüber gewechselt worden und noch immer weiß ich nicht wohin die Pflicht mich rufen wird, wenn ich auch klar darüber bin, daß die Neigung sich Ihren Vorschlägen gern hingiebt. Lassen wir – si placet – auch hierin die berühmte historische Entwicklung walten, die uns zu G[osche] und Trarbach führen möge. – Besten guten Abend Ihr Friedrich Eggers. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 p. 1 2 3

August Pogge-Jaebitz (1825–1884): Gutsbesitzer in Mecklenburg. Jemandes Stelle vertreten, aushelfen. Wilhelm Taubert (1811–1891): Pianist, Kapellmeister und Komponist.

[107] Dilthey an seinen Vater Liebster Vater!

(Berlin, 23. Nov[ember] 1861)

Ich hätte gern Deinen Brief, der mir so große Freude gemacht hat,1 gleich beantwortet; aber ich war in einer wunderlichen Confusion von Arbeiten. Nicht ohne Rücksicht auf die Badische Sache2 hatte ich übernommen, etwas Größeres für die preußischen Jahrbücher über Schlosser zu schreiben. Nun kam mir von dem Comité, dem ich wegen der außerordentlichen Zuvorkommenheit mit der sie den Preis verdoppelt und sonst sich gegen mich benommen haben, der Antrag, zu Schleiermachers Geburtstag, wo hier immer eine große Versammlung von etwa 100 Verehrern dieser Schule zusammen ist, einen Vortrag zu halten. Ich wählte zuerst die Fragmente, zu denen es nur einer Vorbereitung von wenigen Stunden bedurft hätte. Da aber in diesen Wochen hier die Leute kaum für ein andres Wort als ein politisches Ohr haben, so ließ ich mich bestimmen, über Schleiermachers Verhältniß zum Staat zu sprechen.3 Sonntag faßte ich den Entschluß. Montag und Dienstag sammelte ich auf der Bibliothek, wo ich die interessantesten Dinge über die geheimen Verbindungen und Schleiermachers Verhältniß dazu, über den Anfang der politischen Verfolgungen, die bis dahin noch garnicht bekannt waren und auch für Schleiermachers Lebensgeschichte einen wesentlichen Beitrag geben, fand, so-

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Dilthey an seinen Vater

daß ich mein Thema beinahe vergaß. Die ganze Politik von Schleierm[acher] wurde gelesen und erst Mittwoch Mittag kam ich dazu, den Vortrag niederzuschreiben, der Donnerstag Abend 7 Uhr zu lesen war. Es ging ganz gut und er fand sehr viel Beifall; die Leute verlangten alle, daß er gedruckt werde und Krause wünschte ihn sehr für seine Kirchenzeitung.4 Darüber habe ich noch nicht entschieden. Hätte ich Zeit ihn weiter auszuarbeiten, so gäbe ich ihn Haym für die Preußischen Jahrbücher und vielleicht lasse ich ihn bis dahin liegen. Denn die Jahrbücher sind denn doch die vornehmste deutsche Zeitschrift. Du kannst denken, daß ich so in großer Bedrängniß war; ich habe selbst den Schlaf auf 2 Stunden reduciren müssen und mit Freude bemerkt, wie eisern meine Natur Gott sei Dank ist. Gestern nun war ich zur Nachfeier meines Geburtstags bei Wehrenpfennig’s zu einem sehr feinen Diner eingeladen, wozu auch Dr. Veit, der bekannte constitutionelle Abgeordnete und mein Freund Weber,5 Baumgartens Schwager, zugeladen waren. Wehrenpfennig hat mir auch eine schöne Büste Luthers geschenkt. Nur solche Dinge konnten mich abhalten, auf einen so wichtigen Brief sofort zu antworten, der mich unter allen Arbeiten immer wieder zwischendurch beschäftigte. Freilich hast Du recht und es ist mir die größte Freude, daß Du es so wie ich empfindest, daß in der Verknüpfung des Philosophischen und des Historischen der Schwerpunkt meines Wesens und meiner Studien liegt. Bis in meine Gymnasialzeit kann ich die ersten Gedanken und den inneren Zug hierzu zurückverfolgen und die Theologie ist immer nur für mich die Form gewesen, in der sich dies beides verbinden läßt. Schon seit Jahren arbeite ich ja auch so, als gehörte ich garnicht in die theologische, sondern in die philosophische Fakultät. Daraus folgt nun nicht daß ich der ersteren unbedingt und für immer Valet sage. Aber wohl glaube ich: daß ich zunächst mich in der philosophischen Fakultät habilitiere. Lieber noch wäre mir wenn ich rasch eine solche Stellung wie die Karlsruher bekommen könnte; indeß hoffe ich, daß, wenn ich erst ein Jahr gelesen habe, dann auch auf diesem Wege durch eine größere Zuhörerzahl meine äußere Existenz gesichert sein wird. Ohnehin werden ja Arbeiten auf diesem Gebiet ausgezeichnet bezahlt. Wenn ich die Entwicklungsgeschichte Schleierm[acher]’s und über älteste mittelalterliche Philosophie geschrieben und mich in die Vorlesungen eingearbeitet habe und schließe dann mit Reimer über den Plan, von dem ich Karl geschrieben6 einen Kontrakt, so ist damit meine äußere Existenz vollkommen gesichert. Dies für den Fall, daß nicht irgend eine andre mir entsprechende Situation sich schon früher findet, was doch bei so gar mancherlei Verbindungen als ich sie habe nicht zu unwahrscheinlich ist. Wenn ich auch ab und zu einen kleinen Zuschuß gebrauchen werde, von Bedeutung wird es

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auch im schlimmsten Fall nie sein und Ihr könnt glauben, daß ich mir nicht das Geringste abgehen lasse, sondern im Ganzen so lebe, wie ich bei jedem Einkommen leben würde, etwa ein Glas Wein zu Tisch und eine größere Wohnung abgerechnet. – Ich will hier einem Gedanken nicht aus dem Wege gehen, den Ihr gewiß habt; Usener hat mich zuweilen wegen meiner ernsthaften Berücksichtigung desselben sehr ausgelacht. Als ich aus dem Joachimsthal ausschied, setzte ich ihm ruhig auseinander, am meisten schade sei, daß nun das Heirathen sehr problematisch werde, und er wollte nicht zur Ruhe kommen vor Lachen. Hierüber denke ich nun so und Du wirst gewiß mit mir übereinstimmen. Sollte, was bis auf diesen Tag nicht geschehn, mir jemand begegnen, der mir das feste Gefühl des unsäglichen Glücks das in Ehe und Familie liegt gäbe, so weiß ich, daß ich Manns genug bin, falls ich will, mir rascher als sonst nothwendig ist, eine feste und ausreichende Lage zu verschaffen. Zu einer verständigen Heirath, die ich weit entfernt bin gering zu achten, ist auch noch in vier Jahren Zeit, wie denn hier sehr selten Leute aus unsrer Sphäre früher heirathen. Unverheirathet oder verheirathet, wird immer eine meiner Hauptrücksichten sein, in die Lage zu kommen, Mariechen, wenn sie sich mir anders anvertrauen will, zu mir zu nehmen und ihr so die Genugthuung eines eigenen Haushaltes zu gewähren. Darf man auch daran denken, welche Geltung und Bedeutung man in den möglichen Stellungen einmal sich und seinem Namen verschaffen kann, so steht wohl unzweifelhaft fest, wieviel günstiger in diesen politischen und vielleicht allzu frei und realistisch denkenden Zeiten, die philosophisch-historischen Studien für wissenschaftliche und politische Thätigkeit sind, als die theologischen. Aber ich bin von Euch gelehrt worden – und nichts danke ich Euch mehr –, festes Beruhen auf sich selbst und inneres Glück, wie es aus der Übereinstimmung unsres innersten Wollens mit unsrer Thätigkeit entspringt, über alles zu schätzen. Und so würdet – auch bei dem entgegengesetzten Resultat aller obigen Erwägungen – Ihr doch gewiß billigen, wenn ich rein der inneren Stimme folgte. .|.|. Die Hauptsache ist, daß wir nach meinem Doktorexamen im Frühjahr mündlich alles aufs Gründlichste durchsprechen. Meine gegenwärtige Lage fordert keine äußere Entscheidung. Der Schleiermacher muß zunächst fertig werden und so, daß er mir Ehre macht, dann der Doktor über mittelalterliche Philosophie und die Habilitation. Ob ich mich auch zugleich in der theologischen Fakultät habilitiren soll, darüber reden wir dann wohl mündlich. .|.|. Für den 4. Band Schleiermacher habe ich einen großen Fund gehoben: 96 Briefe Schl[eier]m[acher]s an seinen intimsten Freund Brinkmann7 – für die Kenntniß Schl[eier]m[acher]s sicher von größter Bedeutung: ich habe die

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Briefe noch nicht in Händen. Auch sonst mehrere kleine Correspondenzen; der nächste Band wird auch dem Material nach zum großen Theil mein Eigenthum sein. .|.|. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 68. 1

Nicht überliefert. D.s Aussicht auf eine Anstellung in Karlsruhe. 3 D.s Vortrag, den er am 21. November 1861 im Englischen Hause in Berlin hielt, erschien in erweiterter Form 1862 anonym unter dem Titel Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit in: PJ 10, S. 234–277; WA (mit einigen Kürzungen) in: GS XII, S. 1–36. 4 Ein nicht von D. verfasster Bericht über seinen Vortrag erschien in der Protestantischen Kirchenzeitung für das evangelische Deutschland, 8. Jg., Nr. 49, 7. Dezember 1861, Sp. 2044–2046. 5 Max Weber sen. war damals Redakteur des Preußischen Wochenblatts. 6 Nicht überliefert. 7 Karl Gustav von Brinckmann (1764–1847): schwed. Diplomat und Dichter. 2

[108] Dilthey an seinen Vater Liebster Vater!

[nach 7.12. 1861]1

Ich begreife nicht, daß ich ganz ohne Nachricht bleibe, obwohl Ihr doch wißt, wie sehr ich danach verlange. .|.|. Mir gehts gut. Ich bin so in der Arbeit, daß ich Lazarus’ bis auf Weiteres Adieu gesagt habe und mich durch nichts stören lasse. Über meine Rede ist ein Bericht in der Protestantischen Kirchenzeitung, von der ich Euch ein Exemplar wenn ich es auftreibe schicken werde. Die Wahlen2 sind hier in Berlin geworden, wie zu vermuthen stand, zumal nachdem Duncker,3 Veit4 und Riedel5 sich so von ihrer Heftigkeit vor den Wahlmännern hatten hinreißen lassen. Wenigstens Duncker wäre bei größerer Besonnenheit sicher gewählt worden. Wir haben also eine Kammer ohne die bisherigen Häupter der constitutionellen Parthei: Vincke,6 Simson,7 Duncker, Veit, Riedel usw., was ein großer Übelstand ist. Du kannst denken, wie aufgeregt und erbittert die Leute sind; Veit und Riedel habe ich näher gesprochen. Erfreulich ist, daß Sybel8 von Bonn und Crefeld gewählt ist. Auch Krause wird in der Kammer sein unverzagtes Organ für die Freiheit der Kirche erheben – natürlich sehr erfolglos, da in dieser Frage die Liberalen verstockt sind.

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Über die badische Politik und wie sie an der hießigen Lage scheitern würde, schrieb ich Dir.9 .|.|. Scholzens laden ungeheuer dringend nach Hannover zu den Weihnachten ein. .|.|. Könnte ich doch nur 14 Tage abkommen, so käme ich zu Euch! Und mir selber ist lieber zu kommen, wenn Doktor und Habilitation vorüber ist und das Buch gedruckt, sodaß ich doch mit einiger Würde erscheinen und Ihr ein bischen stolz auf mich sein könnt. Dann läßt sich auch, ob ich mich noch weiter auch in der theologischen Fakultät habilitieren soll, u. dgl. heiter besprechen. .|.|. Überhaupt ist dies allezeit wenn ich an Euch denke mein Wunsch, daß Ihr so heiter sein möget, als gedenkbar und alles Gute was in jedem Ding steckt: Unterhaltung, Tisch, Lektüre recht genießen, wie es der Tag gibt. Besonders gilt dies für Mariechen und für Mutterchen, die allzuviel sorgt. Ein wenig muß man jeden Menschen, so lieb man ihn habe, für sich selber sorgen lassen und sich sein eigenes Inneres frei lassen. .|.|. Euer Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 69. 1 Datierung in JD: „Ende Novbr. 1861“. – Da der Beitrag über D.s Schleiermacher-Vortrag am 7. 12. 1861 in der Protestantischen Kirchenzeitung erschien, muß dieser Brief nach dem 7. 12. 1861 verfasst worden sein. 2 Bei den Wahlen im November 1861 erzielte die erst im Juni 1861 gegründete linksliberaldemokratische Deutsche Fortschrittspartei die meisten Mandate; die Altliberalen verloren ihre Mehrheit im preuß. Abgeordnetenhaus. 3 Max(imilian) Duncker war 1860 bis 1861 Mitglied im preuß. Abgeordnetenhaus (Partei Vincke); bei den Wahlen im November 1861 wurde er nicht wiedergewählt. 4 M. Veit, zwischen 1858 und 1861 Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses, wurde nicht wiedergewählt. 5 A.F.J. Riedel, der der Fraktion Vincke angehörte, wurde nicht wiedergewählt. 6 Von 1859 bis 1861 war G. von Vincke Wortführer der gemäßigten Liberalen gewesen, die später als „Partei Vincke“ bzw. „Altliberale Partei“ bezeichnet wurde. 7 Martin Eduard Sigismund Simson (1810–1899): Rechtswissenschaftler und Politiker; 1833 a. o., 1836 o. Prof. des röm. Rechts in Königsberg, ab 1846 Richter in Königsberg und Frankfurt/Oder; seit 1859 Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses. 8 Heinrich von Sybel (1817–1895): Historiker und Politiker; 1844 a. o. Prof. in Bonn, 1846 in Marburg, 1856 in München, 1861 in Bonn; 1862–1864 Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses, ebenso 1874–1880. 9 Nicht überliefert.

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Dilthey an Luise Scholz

[109] Dilthey an Luise Scholz [Mitte Dezember 1861.]1 Liebe Freundin! Eben da ich zur Bibliothek in Eile stürzen will, kommt Ihr bereits in heimlichen Gewissensbissen mir ahnend vorherangezeigter Mahnbrief.2 Mit dem Hut auf dem Kopfe – wenn Sie die Unhöflichkeit nicht übel nehmen wollen – antworte ich wie folgt: 1. Ihre Einladung hat mir die größte Freude gemacht; ich bin sehr geneigt ihr Folge zu leisten; ehe ich aber zusagen konnte, mußte ich zu Hause anfragen, da wenn ich mich einmal aus meinen Arbeiten herausreiße, dort die nächsten Ansprüche sind. 2. Nun erwarte ich auf den betreff[enden] Brief, den ich wiederum nicht früher schreiben konnte, da ich vor drei Wochen eine Rede auf Schleierm[acher] halten mußte – vergebens seitdem von zu Hause eine Antwort, wahrscheinlich weil man dort nicht mit sich im Reinen ist. 3. Sobald dieselbe da ist, erhalten Sie stehenden Fußes Mittheilung der Sachlage – wahrscheinlich kommt sie noch heut oder morgen: denn ich habe schon inzwischen einen Mahnbrief geschickt.3 4. Müssen Sie sich mit dieser meiner Unselbstständigkeit schon zufrieden geben, da ich selbst es thue. Solange mir Gott meine Eltern erhält, betrachte ich jede freie Zeit zunächst als ihr Eigenthum. Weiteres schreibe ich nicht, da ich der schönen Hoffnung lebe Sie bald zu sehen und in süßestem dolce far niente mit Bernhard u Ihnen ein paar schöne Tage zu verplaudern. Herzlich der Ihrige Dilthey. Dienstag früh 10 Uhr. Original: Hs.; HLB Wiesbaden, Hs. 341 (12); Erstdruck: BDSch, Nr. 12. 1 2 3

Die Datierung wurde von der Hg. von BDSch vorgenommen. Nicht überliefert. Vermutlich ist Brief 108 gemeint.

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Dilthey an Luise Scholz

[110] Dilthey an Luise Scholz [Vor Weihnachten 1861.]1 Liebe Frau Capellmeisterin! Nur in Eile die Nachricht, daß ich kommen kann; aber nicht zu den Weihnachtstagen, sondern nur zum Neujahr. Ein Aufsatz über Schlossers Geschichtschreibung, in dem ich unmöglich abbrechen kann, zieht sich dergestalt hinaus, daß ich vor dem 27ten sicher nicht fertig sein werde: ihn unterbrechen, hieße die aufgewandte Zeit zur Hälfte drein geben. Denn Sie wissen oder können sich denken, daß wenn man einen großen Wust gelesen hat u. nun mitten im Schreiben abbrechen wollte, man nachher nur getrost wieder mit Lesen anfangen kann. Ich sage nichts drüber, wie ich mich abgeplagt habe, die Möglichkeit des Fertigwerdens heraus zu bekommen; nichts, wie ich mich jetzt ärgere, daß ich gestehen muß: es ist unmöglich. Machen Sie mir das Herz nicht noch mehr drüber schwer, wenn Sie mir gut sind. Wie schön hatte ich mir grade Weihnachten gedacht! Aber können Sie mich auch nachher brauchen? Darüber bitte ich nur eine Zeile, in der ich auch die Adresse Ihrer Wohnung erbitte u. ein freundliches Wort, daß Sie meine Zögerungen im Schreiben u Kommen nehmen wie sie nun unabänderlich sind: in seiner Weise ist jeder gebunden u. wie leicht u. luftig auch aussieht was mich bindet, so ist es doch für jemanden der auf Folgerichtigkeit in einer sonst regellosen Existenz hält, so fest als die von Amt u. Beruf. Ehe ich nun die Sache übersehen konnte schrieb ich natürlich nicht; das Nachhause-planen fiel natürlich von selbst weg. So stehts mit d[ie]s[er] Sache. Das Datum meines Kommens schreibe ich Ihnen wenn Ihr betr[ef]f[ender] Brief hübsch freundlich u. gut ist, dann vor meiner Abreise genau. S[eine] Majest[ät] der Bär wird mein Motiv gewiß mit ruhigem Nicken würdigen, als Mann u als Künstler. Also so Gott will auf baldiges frohes Wiedersehn. Ganz der Ihrige W.D. Original: Hs.; HLB Wiesbaden, Hs. 341 (13); Erstdruck: BDSch, Nr. 13. 1

Die Datierung wurde von der Hg. von BDSch vorgenommen.

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Dilthey an seine Eltern und Geschwister

[111] Dilthey an seine Eltern und Geschwister [vor Weihnachten 1861]1 Fröhliche Weihnachten, Ihr Liebsten! Möget Ihr sie heiter feiern – heiter, so weit dieser Welt Lauf zur Fröhlichkeit eingerichtet ist. Habt Ihr doch das kleine Marichen, Euch an ihm zu erfreuen; und sehn möchte ich sie ein Stündchen beim Christbaum u. den Geschenken. Und wenn es drunten erträglich geht, was Gott gebe: so seid Ihr doch beisammen u. nicht einsam wie unser eins. Ein Schelm giebt mehr als er hat. Es sind schlechte Zeiten für mich, und so wollt’ ich nur dem Stimbes zeigen, daß ich an ihn denke u. hab’ ihm, von Frau Dr. Wehrenpf[ennig] u. Frau Dr. Schmidt2 geleitet, mit aller Überlegung u. nach gehöriger Verhandlung bei Gerson3 die folgende seidne Schürze gekauft, die mir nun schon seit 8 Tagen eine heimliche Augenweide ist, da ich mir den ganzen großen Stimbes drin vorstelle. Für Marichen sind die Novellen von Hermann Grimm,4 die leider die Spuren meines Mittagbrods schon an sich tragen, da ich ihn nach gemachtem Einkauf neugierig bei dems[elben] aufschnitt, um drin zu blättern. Es war Hasenbraten u. bei einem kräftigen Ruck gegen einen Knochen geschah das Unglück. – Für Vater schick ich die beiden Bücher, von denen das Eine jetzt viel besprochen war, das andre bringt mir eben J. B. Meyer,5 der jetzt hier ist, u. da mich Kirche u. Staat nichts angehn, sie aber in Vaters Arbeiten üb[er] K[irche] u. S[taat] einschlagen: amüsirt’s ihn vielleicht, in dem Buche zu blättern. Mütterchen u. Tante u. Karl schick ich gar kein sichtbar[en] Zeichen wie ich in diesen Tagen ihrer gedenke; sie müssen sich genügen lassen, wie ich’s im Herzen trage. Zum Feiern werde ich schwerlich viel kommen; mein Interesse geht ganz in meine Arbeiten auf. Dafür hab ich’s beim Arbeiten sehr behaglich. Eben bewohne ich, da Ass[essor] Drewke, der Wohnz[immer] u. Schlafz[immer] neb[en] mir hatte weg ist, zwei Wohnzimmer, in denen beiden ich bei den milden Tagen heizen lasse; während es daußen regnet u. das Wasser in den Straßen steht, erquickt mich, daß ich draußen nichts zu thun habe und es bei mir weit u. behaglich habe. Meist esse ich auch zu Hause, u. die alte Frau, die mir aufwartet höchst komisch ist, harthörig u. leidenschaftlich auf den Ankauf von Wil[d]bret u. Gänsen versessen, an denen ich dann eine halbe Woche essen soll: so giebt das die scherzhaftesten Szenen. Mit Neujahr geht Assessor Drewke nach Cöln als Advokat u. ich nehme dann die beiden großen Zimmer für mich, der einzige Luxus den ich treibe.

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Dilthey an seine Eltern und Geschwister

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Vetter Baur in Hamb[urg] plagte ich neulich mit einem Auftrag auf d[er] Bibl[iothek] u. habe einen höchst liebensw[ürdigen] B[rie]f 6 von ihm bekommen; nach allem was ich höre ist er in Hamburg außerordentlich beliebt. Ich muß ihn doch einmal mit Vater gemeinsam dort besuchen. Sonnabend früh Eben komme ich wieder vom Kunsthändler, da ich den Stich von Steinla7 noch ansehn wollte, ehe ich einen der vorhandenen schickte; er ist immer noch nicht da u. Lilly wird nun, wenn das Bild erst am Dienstag früh kommt, es einen ganzen Tag recht im Kopf herum wälzen, obwohl ich ihr ausdrücklich schrieb ich garantire ihr, verbiete mir aber, daß sie ihre für Ernst bestimmte Zeit mit der Narrensposse des richtig Ankommens vertrödle. vanitas – vanitatem. Übrigens hab ich heut Morgen von ihr einen Brief bekommen,8 nach dem’s ihr wieder recht gut geht. Sie scheint sich in den Kopf gesetzt zu haben sie bekäme das Nervenfieber, weil das mit Kopfweh anfing u. sie welches hatte – und heiße Grinde9 dazu! Ihre Briefe gefallen mir immer besser, obwohl – was ich bei ihr natür[lich] nicht andeuten d[u]rfte – sie doch immer noch an Inhalt Mangel leiden. Ich habe ihr gerade so viel von m[einen] Gedanken über das sonst so treffliche Howardsche Haus mitgetheilt, daß sie kapirte, wie sie die geistigen Anregungen vorzüglich in sich selber suchen müsse. Das ist freilich für ihren flüchtig über alle möglichen Dinge hinstreifenden Kopf nichts Kleines. Gut ist, daß Sandau’s weg sind, da sie in letzten Tagen leicht in Zwischenträgereien zwischen diesen u. Hirzel10 gerathen wäre, da die letzten versäumte Formalien uns übel genommen haben u. so eine schon f[ür] meine Ansicht unangenehme Rancüne enstand. Und dies gottverlassene Geschäft des Zwischentragens hat etwas ungeheuer Bequemes. – Von Usener sind die Nachrichten So so. Er sehnt sich sehr aus den Verhältnissen dort heraus u. hat jetzt doch die Redaktion einer schweitzerischen Zeitschrift, des Museums, übernommen,11 die ihn ganz von seinen Arbeiten abziehn wird. Übrigens hat er mit Teubner12 einen Kontrakt, wonach er im nächsten Jahre etwas ediren muß u. wird hoffentlich nicht losgelassen werden. Ich habe nicht geglaubt daß es so lange währen würde, bevor ich ihn wiedersähe. Scholz geht’s ja gut u. er scheint wieder in Erwartung guter Dinge bei seiner Frau zu sein.13 Geriehte es ihm nur mit den Kindern seines Geistes ebenso gut. Die Technik beherrscht er so anerkannt meisterhaft; aber ihm fehlt doch noch die grübelnde Tiefe, welche neue Gedanken langsam gestaltet; und ich glaube fast darum, weil er zu viel Hausstands u. Ordnungssinn hat. Wehr[enpfennig] nimmt seine Dispositionsstellung gar tapfer u. gut; er ist besser gemacht schlechte Zeiten zu tragen als gute. Er hat 600 r. Dispositions-

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Dilthey an seine Eltern und Geschwister

gehalt u. nun wohl durch den Tod seines Schwiegervaters, der sehr gute Verhältnisse hinterlassen haben soll, noch ebensoviel von dort. Seine Arbeiten werden ihm wohl auch 800 r. bringen u. so darf er sehr ruhig dem Kommenden entgegensehn. Seine Frau war entsetzlich angegriffen; der prächtige Junge thut indeß das Seine sie zu trösten. Ich denke, es wird diese Weihnachten recht amüsant sein. Auch Veits werden dort sein u. so haben wir zus[ammen] ja schon einmal sehr hübsche Weihn[achten] erlebt, besonders darin recht nach Vaters Sinn, daß der Weihn[achts]baum nicht zu spät gelöscht wurde u. ordentlich bei gutem Wein u. Abendbrot bei Tisch geplaudert. Freilich mit einen Blick auf Euch, den Stimbes zumal [.|.|.]. Adieu Ihr Liebsten. Freut Euch Eures Zusammenseins. Der Einsiedler in Berlin Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 c. 1 Im Original von fremder Hand: „Dezember“, sowie in anderer Handschrift: „Nach Biebrich, noch zu Lebzeiten des Vaters“. 2 Ehefrau von Julian Schmidt. 3 Vermutlich ein Textilgeschäft in Berlin. 4 H. Grimm: Novellen. Berlin 1856, 2. Aufl. 1862. 5 Jürgen Bona Meyer (1829–1897): Philosoph; Schüler Trendelenburgs; 1854 Dr. phil., 1862 PD in Berlin, 1868 o. Prof. in Bonn. 6 Nicht überliefert. 7 Moritz Steinla, eigentlich Müller (1791–1858): Kupferstecher. 8 Nicht überliefert. 9 Bakterielle Hautinfektion. 10 Salomon Hirzel (1804–1877): schweiz. Verleger; gründete 1853 in Leipzig den S. Hirzel Verlag. 11 H. Usener übernahm die Redaktion des Neuen Schweizerischen Museums erst im Jahre 1863 für kurze Zeit. 12 Benedictus Gotthelf Teubner (1784–1856): Buchhändler und Verleger; nach dessen Tod wurde der für den Bereich der Philologie in Deutschland führende Verlag von Teubners Schwiegersöhnen Adolf Rossbach und Albin Ackermann weitergeführt. 13 Scholz’ zweiter Sohn Wilhelm Joachim wurde am 6. Mai 1862 geboren.

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Ernst Bertheau an Dilthey

[112] Ernst Bertheau 1 an Dilthey Göttingen 6 Jenner 1862 Sehr geehrter Herr Dilthey. Wenn ich Ihr Schreiben vom 2. Oct[ober] 18612 erst jetzt beantworte, so werden Sie die Verspätung von vornherein als eine durch zwingende Gründe verursachte anzusehen geneigt sein, da Sie an meiner Bereitwilligkeit, Ihrem Verlangen nachzukommen, nicht zweifeln können. Der Nachlaß an Briefen, die an meinen sel[igen] Schwiegervater gerichtet sind, befindet sich im Verwahrsam meiner Schwiegermutter; er ist bis jetzt ungeändert [?]; der Zugang dazu steht mir nicht in jedem Augenblick frei; auch stand mir die Zeit nicht zu Gebote, welche die Heraussuchung der Briefe Schleiermacher’s in Anspruch nahm. Erst in den Weihnachtstagen habe ich mich daran machen können, den briefl[ichen] Nachlaß etwas zu ordnen. Ich habe eine geringere Anzahl an Briefen gefunden, als ich erwartete. Darunter nur sehr wenige, welche sich auf wissenschaftliche Fragen beziehen, was sich hinreichend aus der Scheu Schleiermacher’s erklärt, im brieflichen Verkehr auf wissenschaftliche Fragen einzugehn. Daß ich sorgsam nachgesucht habe, geht schon aus den vielen kleinen Zetteln hervor, die ich mit aufgeführt habe. Auch glaube ich nicht, daß Briefe verloren gegangen sind, denn Lücke legte auf jede Zeile von Schleiermacher’s Hand großen Werth: das bezeugt die Aufbewahrung der Einladungen u.s.w. Sie werden, geehrter Herr, gleich erkennen, daß die wenigen Briefe keine feste Grundlage darbieten für eine Darstellung der Thätigkeit Schleiermacher’s. Aber im Zusammenhang mit anderen Briefen scheinen mir einige derselben doch wichtige Beiträge für Ihren 4ten Band zu enthalten. Ich erlaube mir daher Ihnen Alles, was ich gefunden habe, zuzuschicken. Sie würden uns verpflichten, wenn Sie nach Bearbeitung der Briefe sie uns wiederzuschicken wollten. Ich möchte die Briefe als eine werthvolle Erinnerung an Schleiermacher für die Lücke’sche Familie aufbewahren. In größter Hochachtung u. Ergebenheit Bertheau Ich lege auch einen Brief an s[e]l[ig]e Frau Schleiermacher bei, den zu lesen Ihnen vielleicht erwünscht sein wird. Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 130, Bl. 145–145R.

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Ernst Bertheau an Dilthey

1 Ernst Bertheau (1812–1888): Exeget und Orientalist; 1842 a. o., seit 1843 o. Prof. in Göttingen; in erster Ehe verheiratet mit einer Tochter Friedrich Lückes (1791–1855): protest. Theologe; 1816 PD in Berlin, 1818 o. Prof. in Bonn, 1827 in Göttingen. – Freund und Briefpartner Schleiermachers. 2 Nicht überliefert.

[113] Dilthey an Rudolf Haym Als ich, verehrtester Herr Professor! Ihren Brief 1 vom 30ten erhielt, gedachte ich ihn sofort mit Manuscript zu beantworten. Aber da ich auch heute noch nicht gern etwas mitschicke, will ich Sie doch nicht länger in Zweifel lassen. Hätte ich ahnen können, welche Arbeit ich mit dem Schlosser übernahm! Denn wenn man hier c. 20 Bänden gegenüber erst anfängt gewissenhaft zu werden, ist kein Ende abzusehen. Nun bin ich indeß so weit, in 8 Tagen den größeren Theil des Manuscript[s] Ihnen sicher zuschicken zu können; ein paar Tage darauf dann den Rest. Es werden, wie gesagt, etwas über 2 Bogen. Ein großer Vortheil wäre freilich, wenn ich nur kleine Stücke gleich in die Druckerei abzugeben brauchte u. sie dann dafür im Satz zurückerhielte um das Ganze stets vor Augen zu haben. Können Sie sich dazu entschließen es erst bei der Correktur der einzelnen Stücke, von denen Sie dann schon in 8 Tagen das erste solide Stück in Händen haben sollten, zu sehen: so wäre das von den Kosten zweimal[i]gen Manuscriptschickens abgesehn mir eine außerordentliche Erleichterung. Daß alles dann rechtzeitig fertig wird, dafür stehe ich Ihnen. Der Hauptgesichtspunkt ist neben dem Ihnen sonst Bek[ann]ten: Nachweis daß Schlossers Ges[chicht]s[chrei]b[un]g auf Litt[eratur] des 18. saec[ulums], auf Hume u. Kant beruht, daß seine Gesch[icht]schr[ei]b[un]g daher im Gegensatz zur gegenwärtigen im Gedanken einer gleichmäßigen Tradition der Kultur unter allen Völkern liegt u.s.w. Die Form ist: Biographie, für die ich allerhand Hübsches gefunden, jedesmal mit wissensch[aftlichen] Parthien verbunden u. dann – was das Beste werden soll – zusammenfassende Darstellung seiner historisch-polit[ischen] Ideen aus seinem Grundcharakter. In der Beurtheilung selbst – die übrigens sehr zurücktritt – stimmen Sie sicher genau mit mir überein. In Bezug auf die Form ergebe ich mich Ihnen bei der Correktur auf Gnade u. Ungnade, obwohl ich es diesmal damit genau nehme. Stimmen Sie mit diesem [?] Vorschlag überein: so brauchen Sie nicht einmal zu antworten. Ist bis Dienstag Abend keine Gegenantwort von Ihnen da, so gebe ich Mittwoch früh das Erste in die Druckerei.

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Dilthey an Rudolf Haym

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Die Geschäftssache beseitigt, sage ich Ihnen nachträglich meine besten Glückwünsche zum neuen Jahr. Möge es Sie auch einmal wieder hierher führen. Dann meinen Dank in Sachen des Klentzeschen Briefs;2 gestern sind auch durch Bertheau wieder schöne Briefe an Lücke angekommen. Lommatsch3 hat nichts von sich hören lassen. Über die Marwitzsche Sache4 stand einmal in dem Morgenblatt eine Ausführung; dem was ich bis jetzt hier gerüchtweise hörte schenkte ich keinen Glauben u. von d[er] F[rau] Gräf[in] Schwerin hörte ich auch nicht viel mehr als Allgemeines darüber. Sie können also denken wie gespannt ich auf Ihre Mittheilung bin. Auf die Schleierm[acher]iana können Sie rechnen u. sie wenn Sie wollen anzeigen u[nter] [dem] T[itel] „Schleiermacher als Politiker“ (mit Benutzung neuer Materialien / od[er] ungedruckter Briefe?).5 Julian Schmidts Zeitung6 hat recht viel Abonnenten bereits u. ich finde einige Leit.A[rtikel] vortrefflich; dagegen alles Übrige bis jetzt noch höchst mangelhaft. Ihn selbst habe ich mehrmals bei Veits gesehn. Seinen Irrthum in Sachen der Br[ie]fe sah er vollkommen ein u. bedauerte ihn, als ich ihm das Nähere mittheilte: über die Sophistik des zweiten Litt[eratur]br[ief]s beschwerte ich mich nur im Allgemeinen,7 worauf er mir dann seine tiefste Entrüstung über die Intervention d[er] pr[eußischen] J[ahrbücher] zu erkennen gab, insofern dieselben ihn durch Tadel gegen seinen „moralischen St[an]dp[un]kt“ gereizt hätten; „das könne er nicht vertragen“. Ich dachte an die bekannte niederdeutsche Geschichte: „eben weil sie von Natur schief waren“. Ich hoffe übrigens von ihm, daß er an seinem Standpunkt in bezug auf das Herrenhaus festhalten wird, ohne sich in die reine ministerielle Richtung hinein treiben zu lassen, in die man hier die Constitutionellen verwickeln möchte. Der König würde nie u. nimmer – was auch Leute sagen mögen die unterrichtet sein wollen – widerstehn, wenn das Schicksal der Militärsache in vollem Ernst durch die Major[ität] von der Pairsernennung abhängig gemacht würde. Die Stellung der Constitut[ionellen] ist nur dann gefährdet, wenn sie sich in dieser Sache einschüchtern lassen. Möchte Ihre Correspondenz auch ein scharfes Wort sprechen! Ein trefflicher Mitarbeiter für Sie ist hier angekommen Dr. Wilbrandt,8 der sich hier habilitiren wird – womöglich schon zu Ostern: u. zwar für Ästhetik und Litt[eratur]geschichte. Er will sich mit einer Arbeit über Kleist habilitiren. Ich glaube daß er außerordentliches Talent für dies Fach hat; dazu ist er lebhaft, liebenswürdig und nicht von Reflexion zernagt. Bei d[ie]s[er] Gelegenh[eit] mache ich Sie auf den Kunsthistoriker Dr. Eggers, mit dem Wilbr[andt] ein gemeins[ames] Logis hat u. innig befreundet ist aufmerksam. Er macht z.B. über Renaissance, niederl[ändische] Schule u.s.w. auch in Beziehung auf den Zusammenhang mit Kultur u. polit[ischer] Gesch[ichte] die

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Dilthey an Rudolf Haym

trefflichsten Studien; es wird schwer sein, ihm etwas zu entreißen, da er zu einer resignirten Apathie neigt, aber doch nicht unmöglich – und was Sie bekommen, wird vortrefflich sein, da er außerordentlich hübsch schreibt. Vielleicht schickt er Ihnen auch Kunstnotizen mit einiger Regelmäßigkeit; diese Notizenabtheilung kann überhaupt nicht genug erweitert werden, wenn alles Einzelne so hübsch kurz bleibt. Er u. mehrere Freunde schrieben seiner Zeit die prächtigen Kritiken unsrer [?] Litteratur, die vor mehreren Jahren im Centralblatt9 soviel Aufsehn machten. Gedenken Sie nicht fürs nächste Jahr das Nennen der Namen bei nicht politischen Arbeiten einzuführen?10 Mich dünkt, daß dadurch Mannichfall[ti]gk[ei]t u. Interesse sehr wächst und gegenüber den Namen bei Oppenheim gewinnen Sie doch sofort einen großen Vorsprung. D[ie]se Z[ei]tschr[ift] ist noch viel ungefährlicher als ich dachte u. Einiges z.B. Scherr über Gesch[icht-] schr[eibung] wahrhaft albern.11 Dazu klingt das Verzeichniß ganz hebräisch! Ich schließe in Eile wie ich schrieb. Mit besten Grüßen herzlich der Ihrige Dilthey. d[en] 10 Jan[uar] [18]62. Original: Hs.; ULB Sachsen-Anhalt, Halle, Haym-NL, Yi 23 IV D 4 c; Erstdruck: BDH, Nr. 3. 1

Nicht überliefert. Clemens August Karl Klenze: Freund Schleiermachers. 3 Karl Bernhard Lommatzsch (1788–1865): Oberlehrer und Korrektor am Gymnasium zum Grauen Klosten, Schwiegersohn Schleiermachers; Hg. von Vorlesungen Schleiermachers. 4 Schwärmerei von Schleiermachers Frau Henriette für Alexander von Marwitz (1787–1814): Offizier, Schüler Schleiermachers in Halle. 5 Vgl. den Brief D.s an seinen Vater vom 23. November 1861. 6 Die Berliner Allgemeine Zeitung erschien ab 1. Januar 1862 als Organ der Altliberalen Partei. 7 Vgl. den Brief D.s an Haym (vor dem 19. September 1861). – J. Schmidt antwortete auf die Notiz der PJ 1861 noch einmal in den Grenzboten. Bd. 4, S. 109–114. 8 Adolf Wilbrandt (1837–1911): Schriftsteller; Studium der Rechtswissenschaft, Geschichte und Philologie; 1859 bis 1861 Leiter der Münchener Neuesten Nachrichten (später: Süddeutsche Zeitung) in München, danach in Frankfurt. – Ebensowenig wie Wilbrandt lieferte auch der Kunsthistoriker Friedrich Eggers Beiträge für die PJ. 9 Literarisches Centralblatt für Deutschland (Leipzig). Begründet und herausgegeben wurde das Wochenblatt ab 1850 von dem Germanisten Friedrich Karl Theodor Zarncke (1825–1891), der seit 1858 Prof. der deutschen Sprache und Literatur in Leipzig war. 10 Die Nennung der Autorennamen wurde erst 1863 in den PJ zur Regel (vgl. BDH, S. 12, Anm. 1). 2

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11 Der Artikel von Johannes Scherr Geschichtschreibung und Geschichtschreiber der Gegenwart erschien im 1. Bd. (1861), 3. Heft, S. 367–381 der Deutschen Jahrbücher für Politik und Literatur und wurde erst im Augustheft 1862 fortgesetzt.

[114] Franz Theodor Richter 1 an Dilthey Hochgeehrtester Herr, Der Geheime Hofrath Ritter2 in Göttingen vermuthet, daß ich Briefe von Schleiermacher besitze, weil er weiß, daß ich in den Jahren 1814 bis [18]16 als Berliner Student den Stiefkindern Schleiermachers Henriette u. Ehrenfried von Willich3 Privatunterricht in Latein und Geometrie gegeben habe u. viel im Hause u. in der Familie Schleiermachers gewesen bin. Deshalb hat er mich aufgefordert, solche Briefe an Sie zu schicken, von dem auch der Briefwechsel Schleiermachers außer den nächsten Familienbriefen herausgegeben werden solle. Ich besitze nur einen einzigen Brief von ihm. Es ist eine Antwort auf ein Schreiben von mir. Ich sollte nämlich 2 zu Wolden4 und [.|.|.] Predigerverein von mir im Interesse der Union geschriebene Abhandlungen über Abendmahl u. Prädestination auf den Rath u. Vorschlag des Probst Nitzsch (damals in Kemberg5 jetzt in Berlin) in Schuderoffs Jahrbüchern Bde 41,3 u. 47,1.2 abdrucken lassen.6 Diese schickte ich meinem verehrten Lehrer Schleiermacher u. bat ihn um Rath, ob ich wohl daran thue, so etwas zu veröffentlichen. Zugleich erzählte ich ihm von meinen amts- und sonstigen Verhältnissen u. bat ihn um Nachricht von [.|.|.] u. den Seinigen [.|.|.]. Ich erzähle Ihnen dies, damit Sie die Antwort Schleiermachers leichter verstehen. Diese Antwort hat mir nun ganz große Freude gemacht und ist mir ein sehr theures Andenken an den Mann, dem ich so viel zu verdanken habe u. der mich mit vieler Liebe behandelt hat. Allein ich bin ungewiß, ob dieser Brief Schleiermachers, der sich zur Hälfte auf mein Streben bezieht, der Veröffentlichung förderlich sei u. sich dazu eigne. Doch will ich dies Ihrem Ermessen nahe stellen, denn Sie müssen am besten wissen, was in Ihren Plan paßt. Ich habe den Brief ganz wortgetreu abgeschrieben u. nur einen Nebensatz hinzugefügt. Eine Stelle darin habe ich mit Bleistift eingeklammert u. angestrichen. Ich wollte sie eigentlich weglassen, weil ich wünsche, daß sie nicht mit veröffentlicht werde. Aber ich habe sie doch auch abgeschrieben, um diplomatisch genau Ihnen den ganzen Brief vorzulegen. Sollten Sie den Brief

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Franz Theodor Richter an Dilthey

wirklich in eine zu veröffentlichende Sammlung aufnehmen, so kann ja wohl diese Stelle weggelassen u. von Ihnen gestrichen werden. Ueber das ganze Unternehmen der Mittheilung der Schleiermacherschen Briefe freue ich mich sehr u. bedauere nur, daß ich nicht mehreres dazu beitragen kann. Ich hatte eine gewisse Scheu, den vielbeschäftigten Mann mit Briefen zu belästigen, obwol ich von seiner Liebe überzeugt bin, daß er mir jedes Mal geantwortet haben würde. Der Mann wird jetzt vielfach verkannt u. doch hat er Großes gewirkt. Wenn es möglich gewesen wäre, daß er die jetzige Zeit mit rüstiger Kraft erlebt hätte, wie würde er doch kirchlich u. politisch eingegriffen haben? Diese Frage hat sich mir oft aufgedrängt. Hochachtungsvoll Ihr ergebenster Dresden [?] den 18ten Januar 1862

F. Richter Superint[endent] u. Consistorialrath

Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 130, Bl. 144–144R. 1

Franz Theodor Richter: Subrektor in Zerbst/Sachsen-Anhalt. Vermutlich der Philosoph Heinrich Ritter, der seit 1837 in Göttingen lehrte. 3 Henriette von Willich (1805–1886); Ehrenfried von Willich (1807–1880): Jurist. 4 Gemeinde im Landkreis Demmin (Mecklenburg-Vorpommern). 5 Kleinstadt im Landkreis Wittenberg. 6 F.Th. Richter: Ueber das Dogma der göttlichen Prädestination, ein Beitrag zu den Unionsverhandlungen, in: Jahrbücher für Religions-, Kirchen- und Schulwesen. Hg. von J. Schuderoff, Bd. 41 (Leipzig 1822). Heft 3, S. 280–346 sowie: Ueber das Dogma vom heiligen Abendmahle. (Fortsetzung des 41. Bds. 3. Heft, S. 280 angefangenen Beitrags zu den Unionsverhandlungen.), ebd., Bd. 47 (Leipzig 1825). Heft 1, S. 36–84 und Heft 2, S. 164–183. 2

[115] Dilthey an Rudolf Haym [18. Januar 1862]1 Hochverehrter Herr Professor! Ich lege somit auf den ersten Platz des Febr[uar]hefts, welcher ohnehin meiner Eitelkeit schmeichelt, Beschlag – und auf sehr viel Platz, das heißt c. 21/2 Bogen. Und zwar will ich dann, wenn’s Ihnen recht ist, schon Mitte

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Dilthey an Rudolf Haym

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nächster Woche, den Druck anfangen lassen, sodaß Sie noch in diesem Monat den ersten Druckbogen bekommen. Ich denke, Sie sollen Freude daran haben. Da Reimers Bote wartet, sage ich sonst nichts, zumal nichts über den Dynastienwechsel, von dem Sie reden, den Sie sich aber so Gott will werden ausreden lassen.2 Auch nichts über Schleiermacheriana. Wollen Sie die Corr[ektur] in kleineren Stücken, als gleich 1 Bog[en] sehen, so liegt das ja ganz in Ihrer Hand. Nur sehe ich gern während des Arbeitens Etwas gedruckt, um mich selbst zu befeuern. Mit den bestem Gruß der Ihrige Dilthey. Sonnabend früh Original: Hs.; ULB Sachsen-Anhalt, Halle, Haym-NL, Yi 23 IV D 4 d; Erstdruck: BDH, Nr. 4. 1

Der Hg. von BDH datiert den Brief auf „Mitte Januar 1862“, weil dieser, wie er zu Recht schreibt, nach Hayms Antwort auf D.s Brief vom 10. Januar 1861 verfasst wurde. Da D. „Sonnabend früh“ angibt, fällt das Briefdatum vermutlich auf den 18. Januar. – Auf dem Briefumschlag: „Herrn Professor Dr. Haym bei der nächsten gelegentlichen Sendung mitzuschicken, bittet ergebenst Dilthey“. 2 Haym wollte damals die Redaktion der PJ abgeben.

[116] Dilthey an Rudolf Haym [nach dem 15. Februar 1862]1 Verehrtester Herr Professor! Da ich auch heute das Manuscript noch nicht schicken kann und Sie es wohl erst Ende dieser Woche erhalten, schreibe ich doch lieber eine Zeile voraus. Also: Sie erhalten das Manusc[ript]; ich lasse mich mit rührender Geduld in’s Märzheft versetzen. Aber ich hoffe, Sie revanchiren sich dafür, indem Sie über die Dicke meines Manusc[ript]’s nicht erschrecken, u. es hübsch beisammen lassen. Denn nur die Zeit die Sie ihm ließen, ließ es so anschwellen. Also ich empfehle es Ihrem milden Richterspruche, der es hoffentlich nicht wie der jüdische Richter mitten durchspalten wird: es käme nicht mit dem Leben davon.

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Dilthey an Rudolf Haym

Daß wir Hoffnung haben, Sie im nächsten Monat hier zu sehn ist vortrefflich. Sie werden schon aus der Entfernung bemerken, daß die Verwirrung nie größer war als jetzt u. unsre Parthei nie weniger der Lage gewachsen. Diese müßte nach meiner Meinung in den letzten Wochen unbedingt ein Verständniß mit der Fortschrittsparthei, für den nächsten Moment vorläufig, möglich machen. Man mußte Bernstorffs ganz die wahre Lage mißverstehenden Erklärungen über die Macht Preußens durchaus die vom Bedürfniß der deutschen Nation gegenüberstellen, damit man im übrigen Deutschland sah, wie dieses nur beleidigende Prahlen mit nicht vorhandenen Dingen ein singulärer Einfall unsres Ministers war.2 Freilich hat auch der – Frese die kurhess[ische] Frage für eine Machtfrage Preußens zu erklären den realistisch staatsmännischen Sinn gehabt.3 Zu einem wahren Unglück für die Parthei reift allmählich d[ie] B[erliner] Z[eitung] heran. Veit, Riedel u.s.w., die ich sprach, fühlen das durchaus. S[chmidt]4 ist einmal in einem kaum glaublichen Grade ohne jedes Organisationstalent; imperatorische Mienen u. kurze königliche Dikta über Menschen u. Verhältnisse sind seine ganze Regierungsmethode. Dann aber ist, seit er einige in Leipzig langsam präparirte Geschosse verschossen hat, ihm nichts als die pure Negativität übrig geblieben. Anstatt positive Gedanken so stark zu vertreten, daß sich eine Majorität um sie aus der Partheizerklüftung sammeln könnte: bleibt ihm bei seinem absoluten Mangel an solchen nichts übrig als elende Reibereien die seine Parthei mit allen andren verfeinden. Es ist schade um so viel Ehrlichkeit und Festigkeit, die ihm nicht abzusprechen sind! Schade auch um die Position, die er zuerst recht standhaft einnahm! Aber es wird unläugbar, daß der theoretisch mögliche Fall auch hier wieder nicht möglich wird: daß nämlich einer, der sich auf Überzieher nicht verstand, mit Mänteln reussiert. Also gegen Ende der Woche erhält Reimer das Manusc[ript] zur Übersendung. Sie wissen doch, daß in diesen Tagen „Briefe über Gervinus’ Nekrolog Schlossers“,5 eine anonyme malitiöse Partheischrift, erschienen sind? Es ist angenehm, daß sie beim Publikum der Sache noch mehr Wichtigkeit giebt u. so werde ich hier u. da Berücksichtigungen derselben einfügen. Sachlich ist sie werthlos; was sie enthält, hat Sybel unvergleichlich besser gesagt.6 Indem ich mich also nochmals wegen meines ansehnlichen Manuscripts Ihrer Rücksicht empfehle, verbleibe ich, wie allezeit in herzlicher Verehrung der Ihrige Dilthey. Original: Hs.; ULB Sachsen-Anhalt, Halle, Haym-NL, Yi 23 IV D 4 e; Erstdruck: BDH, Nr. 5.

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Dilthey an Rudolf Haym

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1

Der Hg. von BDH datiert den Brief auf „Ende Februar 1862“. Albrecht Graf von Bernstorff (1809–1873): 1861–1862 preuß. Minister der auswärtigen Angelegenheiten. – Zu Bernstorffs Erklärungen vom 14. Februar 1862 vgl. die Angaben in BDH, S. 13, Anm. 1. 3 Julius Frese (1821–1883): 1862 bis 1866 Abgeordneter der Fortschrittspartei für MindenLübbecke, später preußenfeindlicher Agitator in der Schweiz. 4 J. Schmidt wechselte 1861 von den Grenzboten zur Berliner Zeitung, einem Organ der Altliberalen, dessen Erscheinen 1863 eingestellt wurde. 5 Briefe über den Nekrolog Friedrich Christoph Schlossers von G.G. Gervinus. Ein Beitrag zur Charakteristik Schlossers vom literarischen Standpunkt. Chemnitz 1862. – Der Verfasser war Friedrich Wilhelm Loebell (1786–1863): 1829 a. o., seit 1831 o. Prof. in Bonn. G.G. Gervinus’ Friedrich Christoph Schlosser. Ein Nekrolog war Ende 1861 in Leipzig erschienen. 6 H. v. Sybel: Über den Stand der neueren deutschen Geschichtschreibung. Rede gehalten zur academ. Feier des Geburtstages sr. kgl. Hoh. des Kurfürsten am 20. Aug. 1856. Marburg 1856, Neudruck in: Kleine historische Schriften. Bd. I. München 1863, S. 343–360. 2

[117] Dilthey an seinen Bruder Karl Liebster Karl!

(Berlin, zum 18. März 1862)

Meine besten Wünsche zu Deinem Geburtstag. Ich weiß, Du bist überzeugt, wie herzlich ich sie meine; neben allen für Dich habe ich auch für mich diesen, daß wir über kurz oder lang eine Zeitlang zusammenleben mögen. Denn so lieb und werth mir ist, daß wir uns von Zeit und Zeit im elterlichen Hause zusammenfinden, so ist doch jeder, aus seinen Arbeiten und Ideen herausgerissen, nur ein halber Mensch. .|.|. Von mir selbst mag ich nichts schreiben. Ich stecke in Doktorarbeit und Schleiermacher. Das ewige sich bis auf den letzten Rest aussprechen, was der Vater alle drei Wochen einmal verlangt, ist mir ohnehin heute durch seinen Brief 1 ein Gegenstand der Verzweiflung. Eine solche Art Briefe zu schreiben ist ganz undurchführbar – für mein Naturell wenigstens. Ich habe darin das Unglaubliche geleistet, weitläufig und mich selber secirend in Briefen vorzugehn; ich bin aber dieses ewigen Anatomisirens müde. .|.|. Zwischen den Arbeiten, gelegentlichen Nichtigkeiten, um das Deficit im Ertrag des Schleiermacher und meine Existenz zu decken (darüber noch viel schreiben, ist um zu verzweifeln!), nothdürftigem Verfolgen der Politik, nothdürftigem Erhalten der gesellschaftlichen Beziehungen, nothdürftiger Correspondenz kommt man sich zuweilen, wenn Extraordinaria wie Lillys Sache und Firnhaber2 eintreten, wie zerrieben vor. .|.|.

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Dilthey an seinen Bruder Karl

So hast Du diesmal eigentlich nur herhalten müssen, meine Klagen zu hören. Es kommt indeß selten vor und so magst Dus denn ruhig aushalten! Könnt’ ich Dich nur Ostern entschädigen! Aber an mein Kommen ist nicht zu denken! Ich kann schlechterdings nicht weg, eh’ nicht der Doktor erledigt ist, der mir zur Last ist. – Nun sind mir aber bei Gelegenheit des Schlosser, da ich ins Lesen kam und auf alle möglichen Historiker gerieth, so viele Fragen allgemeinerer Art aufgestoßen, daß ich mir davon doch auch Manches zurecht legen mußte und immer noch muß. Bei meiner Art zu denken, bei welcher jedes Historische, Einzelne in allgemeine Ideen hineinführt, ist das nun einmal nicht anders. Dergleichen kostete und kostet also auch immer wieder Zeit. Also Anfang Juli wird wohl am Ende herankommen, ehe ich mich von dieser alten Last befreie. Ich hoffe aber die ganzen Herbstferien mit Dir gemeinsam zu Hause sein zu können, falls es sich so einrichten läßt daß ich dort wirklich am Schleiermacher ruhig schreiben kann; denn diesen will und muß ich auch noch in diesem Jahr abschütteln. Wann gehst Du nach Hause? Du kannst dort ein überlegtes Wort über alle die Ansprüche, die auf mich einstürmen, fallen lassen, denn Firnhaber wird doch sich excentrisch äußern nach seiner Art. Alles Reden ist unnütz, da was mich so in Beschlag nimmt, eben die Notwendigkeit ist, die Deficits der größeren Arbeiten durch Nichtiges zu decken. Da kann mich denn ein Dreinreden nur verstimmen und mir noch mehrere Zeit durch Mißstimmung verderben. So unsäglich lieb ich den Vater habe – ich habe vielleicht nur zu sehr mit seinen Wünschen das Bedürfnis meiner eignen Natur zu vermitteln gesucht – so kann mir doch sein Wunsch nicht über reelle Schwierigkeiten hinweghelfen, da nun einmal das Geld eine harte grobe und zudringliche Wirklichkeit ist. Leb wohl, Liebster und behalte mich lieb Dein treuer Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 72. 1

Nicht überliefert. D.s ehemaliger Lehrer am Wiesbadener Gymnasium; später Nassauischer Regierungsrat und Schulreferent (vgl JD, S. 311, Anm. 80). 2

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Dilthey an seinen Vater

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[118] Dilthey an seinen Vater (Berlin [nach 18.] März 1862) Liebster Vater! Ich verschob von Tag zu Tag den Brief, den Du bald wünschtest. .|.|. Es hat mich geschmerzt, daß Du meinen kannst, ich denke weniger an Euch, weil ich drei Wochen drei kurze und schnelle Briefe1 schrieb – um Lilly in jeder freien Stunde mich bemühend, vor Bibliotheksschluß, zuletzt noch mehr als jede freie Stunde, förmlich den halben Tag von Firnhaber besetzt. In der That berücksichtigst Du doch nicht das Gedränge und die Unruhe, in denen ich lebe. Ach, wenn ich in Eurer behaglichen idyllischen Ruhe lebte! in der jeder Tag nicht Zeit allein, die findet sich ja freilich irgendwo wohl immer, aber vor allem die Stimmung für einen Brief brächte. Und doch fehlt es mir manchmal förmlich und geradezu an der Zeit. Denn eingehende Briefe, wie ich sie zu schreiben pflege, schreibt man nun einmal nicht in einer verlorenen Viertelstunde nach Tisch, und sie nehmen vor und nachher mehr als die Zeit des Schreibens in Anspruch, wenn sie aus dem Herzen kommend wirklich die Bilder der Abwesenden vor die Seele führen. Daß es so wenig meine als Deine Art ist, hierüber oft und viele Worte zu machen, hindert die Thatsache nicht, daß sich dann mein Herz auf das lebhafteste mit Euch beschäftigt. Ich bin so gewohnt, die Gemüthsseite des Lebens, die bei mir vielleicht tiefer geht, als bei den meisten, welche sie voll und lebhaft äußern, als selbstverständliche Voraussetzung zu betrachten, daß ich durch diese meine Weise wie ich wohl weiß z.B. auch bei Freunden oft Anstoß errege. So seiner Zeit bei Usener, den ich gewiß lieb habe, im Anfang unsrer Freundschaft; nachher kannte er mich. Noch vor acht Tagen habe ich Riedel und seiner Braut, die mir sehr lieb sind, gegenüber mich hierüber verteidigen müssen. Es ist das aber wohl überhaupt die Folge eines nach innen gekehrten Lebens, daß die Intensivität des Empfindens wächst, aber das Bedürfniß und die Leichtigkeit des Ausdrucks abnimmt. So also mögt Ihr Euch – wovon mir auch heute wieder zu reden völlig als Überfluß scheint – fest überzeugt halten, daß ich um nichts weniger täglich Eurer gedenke, wenn ich einmal weniger schreibe oder oberflächlicher schreibe. Hast Du selbst mir doch von der Angelegenheit, welche Dich sicher schon seit lange am meisten beschäftigt, der Kirchenverfassungsfrage, nicht ein Wort weiter, als vor einem halben Jahr ein ganz flüchtiges geschrieben und ich mußte erst von Firnhaber das allerallgemeinste hören. Aber zum Schreiben über solche Dinge, die einen tief beschäftigen – das weiß ich sehr wohl – gehört eben viel Zeit; sie bewegen sich

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dann aufs Neue in ihrer Gesamtheit so in uns, daß wir sie schwer wieder los werden; wenn wir sie zusammenfassen, andern verständlich machen wollen, finden wir der eignen neuen Erwägungen kein Ende; kurz dergleichen gehört zu den Dingen, die sich nicht oft repetiren lassen, gegen deren ewige Repetition sich auch eine Abneigung in unserm Innern gegen das allgemeine und planmachende Reden von bestimmten Dingen, in dem sich die beste Triebkraft verpufft, jedesmal regt. .|.|. Daran, mich neben der philosophischen in der theologischen Fakultät zu habilitiren, ist unter Mühler2 nicht zu denken; es ist aber auch eine gegenwärtig in der Ferne liegende Sache. Daran, was ich im Herbst lesen werde, kann ich auch noch nicht denken; wahrscheinlich über Schleiermacher, da der erste Band desselben im Winter fertig werden muß, sodaß nicht für sehr viel Großes sonst Zeit übrig bleibt. Daß ich sofort, nachdem ich den Doktor absolvirt, auf mehrere Wochen, wenn nicht länger, zu Euch kommen werde, hoffe ich sicher. .|.|. Leider kommt meinem Schleierm[acher] sehr störend in den Weg, daß die Gräfin Schwerin, der ich gestern Adieu gesagt habe, nach Italien reist. Die Papiere die sie noch etwa hat, zu bekommen für eine Biographie, haben sich Schwartz,3 Haym u. a. vergeblich bemüht; ich selbst hatte früher durchaus nicht die Absicht einer Biographie, habe nur bei ihr für Haym gesprochen ebenso wie bei Reimer. Es hat daher sehr viel Schwieriges, sie dafür zu gewinnen, zumal sie weiß, wie wenig Schleiermacherianer ich bin. Ich habe daher die Charakteristik Schlossers für die preußischen Jahrbücher mit der ausdrücklichen Absicht geschrieben, ihr von meiner Art dergleichen zu behandeln einen ungefähren Begriff zu geben (zugleich hab ich allerdings auch an Karlsruhe dabei gedacht). Ebenso soll meine Rede über Schl[eiermacher] als Politiker, die darauf erscheinen wird, in den Preußischen Jahrbüchern, wenn ich nur erst die Zeit gewinne sie wieder vorzunehmen, darauf wirken. Wieviel sie besitzt, kann ich nicht genau übersehen; es ist nicht von großem Belang gegenüber dem bereits Gedruckten; aber schon um der Anschaulichkeit willen beim Schreiben wünschte ich soviel als möglich von den Originalen um mich zu haben. Dies alles wird jetzt natürlich hinausgeschoben, meine Verbindung mit ihr unterbrochen. Was sie hier hat, werde ich vor ihrer Abreise in einer Woche noch einmal durchsehn; es ist aber nur die Jonassche Sammlung. Dir wird dies alles nun umständlich erscheinen, wie Du denn schreibst: wenn ich nur erst die Schleierm[acher]-Sachen abgeschüttelt hätte! Ich selbst habe wohl dazu Anlaß gegeben, weil ich mich sehne, eine Zeitlang zu rein systematischen und dann zu Arbeiten in größerem historischem Styl zu kommen. Aber Du mußt denn doch bedenken, daß ausgezeichnete Leute wie Haym, Guhrauer4 usw. den besten Theil ihres Lebens an eine einzige solche Arbeit gesetzt haben, daß dergleichen Jahre des Reifens

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braucht und wenn es gelingt, doch sich schon sehen lassen kann. .|.|. Und zugleich mußt Du doch auch erwägen, wie viel Zeit mich die mittelalterlichen Arbeiten kosten, da man dabei stets mit Folianten operirt. Dann, daß ich doch eben Gedanken allgemeiner Art verfolge, die ohnehin im Zustand fortdauernder Unterdrückung und Empörung sich befinden. Endlich, daß die Politik mich beschäftigen muß und daß ich Zeit brauche, um ab und zu daraus Geld zu machen. Das Erstere betreffend, scheinst Du zu fürchten, daß ich damit zuviel Zeit verschwende. In der That ist das nicht der Fall. Ich habe nun einmal wie wenige meiner Beschäftigungsart Gelegenheit, die Lage der Partheien, die Art politischen Handelns kennen zu lernen. So ist jetzt wieder mein Freund Weber Dirigent der constitutionellen Wahlbewegung; er theilt mir auf das offenste Briefe der bedeutendsten Leute der Parthei mit; ich erhalte Einblick in die politische Denkweise der Constitutionellen, wie sie sonst schwer zu erlangen;5 daß nun jemandem von meinen Beschäftigungen und Plänen diese Einsicht von größtem Werth ist, kannst Du denken. Aber ich bin sehr sparsam in der Zeit, die ich diesen Dingen zumesse. Wichtiger noch ist die Geldseite. Es ist denn doch keine Kleinigkeit, daß ich mit gelegentlichen Quisquilien meine Ausgaben bis auf gelegentliche Deficits, die Du so freundlich deckst, bestreite. Zum Mindesten bringt es eine Unruhe in das Leben, das, was andere Leute ihre ganze Zeit kostet, in abfallenden Stunden zu beschaffen, von der Du Dir doch leicht einen Begriff machen kannst. Du fragst nach Reimer. Ich erinnere mich deutlich, Dir bereits zweimal geschrieben zu haben, daß ich auf das Honorar für die Briefe zugunsten der Jonas verzichtet habe und nur, weil die Familie es wünschte, 1 Friedrichsd’or pro Bogen angenommen habe. .|.|. Für den Schlosser werde ich wohl etwa 100 Thaler erhalten usw. Daß es freilich angenehmer wäre, ich brauchte nicht gelegentlich über Vorlesungen und Bücher Kritiken zu schreiben, kann niemand mehr fühlen als ich. Aber ich habe mich sehr über Firnhaber geärgert, der mit hochweisen Mienen die dummen Befürchtungen ausprach, diese 6 oder 7 Stunden, die ich die Woche darauf verwenden mußte in den letzten Monaten, würden mich zum „Litteraten“ machen, und sich dabei durchaus nicht genirte mich soviel Zeit zu kosten, daß ich bequem hätte einen Aufsatz schreiben können, dessen Ertrag für zwei Monate ausgereicht hätte. Der gute Mann scheint davon keine Ahnung zu haben, daß dergleichen lächerliche Befürchtungen mich nothwendig beleidigen und ihm gegenüber völlig verstimmen müßten, betrachtete ich ihn nicht als alten mir sehr werthen Lehrer. Mir aber in dieser Hetze des Lebens, in der ich mir zuweilen wie ein gehetztes Thier vorkomme, soviel Zeit in Anspruch zu nehmen und dann in dieser mir mit unruhigen Fragen usw. die Hast vermehren und die Stunde der Ruhe verderben, so die

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Harmlosigkeit des Verkehrs zerstören, hat in der That keinen Sinn. Du wirst ihn natürlich davon nichts merken lassen, sowie auch ich ihn von meiner knappen Zeit und meinen Verstimmungen nichts merken ließ; denn ich habe ihn als meinen alten Lehrer sehr lieb und halte ihn sehr hoch. Ohnehin übertreibe ich wohl und Er würde dies ganz und gar nicht begreifen, da er das Beste gewollt hat .|.|., aber nicht einsah, daß der nothwendigste Egoismus in meiner Lage ist, alle Verstimmung und Unruhe, die zwecklos ist, wie ein absichtliches Quälen zu empfinden, während er sicher glaubt und in seiner Weise völlig zu glauben recht hat, sehr diskret und zart mir seine Meinung und Wünsche angedeutet zu haben. .|.|. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 70. 1

Nicht überliefert. Heinrich von Mühler: 1862–1872 preuß. Kultusminister. 3 Karl Schwarz (1812–1885): protest. Theologe; 1842 PD, 1849 a. o. Prof. in Halle, 1856 Oberkonsistorialrat und Hofprediger in Gotha, 1858 Oberhofprediger, 1876 Generalsuperintendent. 4 Gottschalk Eduard Guhrauer (1809–1854): Literarhistoriker; 1853 Prof. für Literaturgeschichte in Breslau. 5 M. Weber sen. war zwischen 1862 und 1869 Stadtrat in Erfurt und später ein führendes Mitglied der Nationalliberalen Partei. 2

[119] Dilthey an seine Schwester Marie Liebstes Mariechen!

(Berlin, [vor 23.] März 1862)1

In aller Eile auf Deinen lieben Brief und Vaters Zeilen Antwort,2 sowie Angabe meiner neuen Wohnung. Ich habe die Aussicht nach dem Garten zu wohnen, die mir werth war, aufgeben müssen. .|.|. Somit habe ich mich dem andern Pol, der mich anzieht, um so mehr genähert – der Bibliothek. Ich wohne ihr dicht gegenüber, Behrenstraße 31, 2 Treppen. .|.|. Heut habe ich Häußer aus Heidelberg 1/2 Stunde gesprochen, der seit vorgestern hier ist; er sagt, an seiner persönlichen Stellung zu Preußen werde er festhalten, aber er sei überzeugt, daß Preußens Stellung in Deutschland diese Zustände, wenn sie dauerten, nicht überleben würde. Ich habe ihn nie so aufgeregt gesehn. Selbst die Stimmung der preußenfeindlichen Süddeutschen sei nicht zensurfähig, ja kaum hier auszusprechen. Mir war schon erzählt wor-

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Dilthey an seine Schwester Marie

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den, daß er in seinem letzten Kolleg sich mit Thränen in den Augen auf ähnliche Weise über Preußen und Deutschland ausgesprochen habe. .|.|. Bleibe mir gut, liebstes Mariechen! wenn ich auch jetzt nicht Zeit finde, Dir ruhiger, behaglicher zu schreiben. Die Zeit ist hoffentlich nahe, wo endlich einmal mein Leben zu einer gewissen Ruhe kommt. Dann soll Dir gewiß alle die Liebe, welche ich jetzt nur hegen kann, auch sichtbar werden. Wie freue ich mich drauf, im Sommer den Stimbes wiederzusehn! Erinnere ihn nur recht oft an mich, daß ich ihm nicht ganz fremd werde und ihn seiner Neigung zu sehr gegen die anderen Geschwister, Onkel und Tanten, zurückstehe. Nun Adieu! Sonntag ziehe ich um. Du kannst also denken, was für ein Wirrwarr mir da bevorsteht. Was ist alles vorher durchzusehn, zu ordnen, zu zerreißen, damit ich mir nicht das ganze Zimmer mit meinen Papiermassen und Schnitzeln fülle. Höre ich denn von Mutterchen nicht einmal wieder ein Wort? Wie lange ist es her, daß ich das letzte gehört habe und welche Freude macht mir jeder Brief von ihr. Rechnet nicht mit mir; Ihr alle seid ruhige, stille, behagliche Menschen, denen die Tage wie ein stiller Strom verfließen; ich lebe leider wieder wie im Sturmwind! Ich preise Euch glücklich, aber laßt mich wenigstens Eure stille Ruhe manchmal mitgenießen, mich in den ruhigen Strom Eures Lebens hineinblicken. Und behaltet mich allezeit halb so lieb als ich Euch. Dein treuer Bruder Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 71. 1 Da D. seiner Schwester im vorliegenden Brief mitteilt, dass er am Sonntag umziehen werde, und am 27. März 1862 bereits unter Angabe seiner neuen Adresse an Haym geschrieben hat, muss der Brief in den Tagen vor Sonntag, dem 23. März geschrieben worden sein. 2 Nicht überliefert.

[120] Eduard Tempeltey an Dilthey Gotha. März 22. [18]62. Lieber Freund, Du wolltest nicht eher Nachricht von mir haben, als bis ich ungefähr vierzehn Tage hier sei und mich in die neuen Verhältnisse einigermaßen eingewohnt habe.1 Inzwischen hast Du mich schon mit einem herzlichen Gruß aus der Heimath erfreut.2 Die vierzehn Tage sind vorüber, aber doch könnte ich Dir erst wenig melden; wenig, was des Meldens werth wäre. Zwar von auswendig habe ich mir

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Eduard Tempeltey an Dilthey

die Dinge bereits angeschaut, Gegend, Zustände, auch die Gesichter der Menschen; habe zum Theil auch bereits Bericht abgestattet. Viel weiter reicht meine Wissenschaft noch nicht; denn selbst boshafte Bemerkungen, sollen sie zugleich wahr sein, setzen eine nähere Kenntniß voraus. Gestatte mir daher, vorerst in Muße das Terrain zu sondiren. Jedenfalls, daran zweifle ich nicht, wird in Zukunft uns beiden mannigfache Gelegenheit sich bieten, einander dies oder jenes von Wichtigkeit mitzutheilen; so lange dies nicht der Fall ist, sind wir uns wohl herzlich genug nahe getreten, um auch mit freundschaftlichem Gruß vorlieb zu nehmen. Und den sende ich Dir fürs erste – aus meinem einsamen Schlosse. Du hast Recht: solche Abgeschiedenheit ist nicht gerade gemüthlich; Raubanfälle zwar sind in Thüringen nicht zu befürchten, und mit den Geistern stehe ich auf gutem Fuße; aber im Fall einer plötzlichen Erkrankung wäre die Verlassenheit wirklich störend. Nun, zur Zeit befinde ich mich ja leidlich wohl, und der Überfluß an Raum ist mir nach meiner engen Behausung in der Ritterstraße recht schätzenswerth. Hätte ich doch nie geglaubt, daß ich einst, außer den bewohnten Gemächern, eine ganze Stube als Papierkorb und eine andre für meinen bescheidenen Butter- und Käsevorrath haben würde, dazu noch Extragelaß für eine kleine Bierniederlage. Von der „Unendlichkeit des Raums“ habe ich eine klare Anschauung gewonnen. Auch sieht’s in meinem Arbeitszimmer ganz wohnlich aus. Nur der eine alte Herzog, der über dem Schreibtisch hängt, hat ein gar zu dummes Gesicht, und ich werde ihn, der besseren Aussicht wegen, umhängen lassen. Gott sei Dank, daß er einen Stern auf der Brust trägt; wer mich besucht, könnte es sonst für ein Familienbild halten. Neulich habe ich den hiesigen Landtag besucht: viel guter Wille, und Offenheit bis zur Grobheit; aber im Grunde doch nur mittelmäßige Intelligenz und herzlich wenig staatsmännische Begabung. Sehr vorteilhaft hob sich von Allen Minister Seebach3 ab; der Mann hat übrigens soviel Kinder, daß ihm nie um eine ministerielle Fraction bange zu sein braucht. Von andern nennenswerthen Gothanern nenne ich (weiter aber heute noch nichts) Samwer,4 Holtzendorff 5 und Schwarz. Dem letzteren sieht man an, daß er als Privatdozent alt geworden ist; er hat indeß für einen Theologen ein merkwürdig nettes und frisches Weibchen annectirt. – Daß ich die Entwicklung der Dinge bei Euch mit reger Theilnahme verfolge, kannst Du Dir denken. Es wäre mir lieb, wenn Du mir schriebst, ob Du der Fortschrittspartei in der Kammer den geringsten Vorwurf machen kannst; ich glaube, wir werden jetzt völlig harmoniren. Für mich ist die deutsche Frage das Entscheidende; und „moralische Eroberungen“ in Deutschland sind jetzt nur noch durch die Fortschrittspartei zu machen. Die ehrlichen Konstitutionellen werden uns noch

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einmal segnen. Eine Weile werden üble Tage kommen, aber ich bin voll froher Zuversicht und hoffe auf dauernden Gewinn. Was meinst Du zum verwaschenen Programm der Konstitutionellen? „Der alte Herr“ steht ja auch darunter. Ich hatte mich schon gefreut, als ich ihn unter der ersten Ankündigung nicht fand, meinte, er sei vernünftig geworden, wunderte mich nachher, daß ich so etwas hatte meinen können. Laß Dich durch Zeitungsnachrichten nicht täuschen; der preuß[isch]-öster[reichische] Antrag in der hessischen Frage ist ein neues Bronzell6 für uns. Das Wahlgesetz [Briefschluss fehlt.] Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 k. 1

Nachdem Tempeltey von 1860 bis 1861 Hg. des Feuilletons der Berliner Nationalzeitung gewesen war und seit deren Gründung im Juni 1861 Schriftführer der Deutschen Fortschrittspartei, wurde er 1862 Kabinettsrat im Herzogtum Sachsen-Koburg-Gotha. 2 Nicht überliefert. 3 Camillo Freiherr von Seebach (1808–1894): seit 1849 Staatsminister der Herzogtümer Coburg und Gotha. 4 Karl Friedrich Lucian Samwer (1819–1882): Staatsrechtler; 1850 Prof. in Kiel, 1852 Bibliothekar und Staatsrat in Gotha, seit 1859 Mitglied des Staatsministeriums, 1863–1866 in Diensten des Prinzen Friedrich von Augustenburg. 5 Franz von Holtzendorff (1829–1889): Rechtswissenschaftler; 1861 a. o. Prof., 1873 o. Prof. in Berlin, 1873 in München. 6 Dorf im preuß. Regierungsbezirk Kassel, bekannt geworden durch die sogen. Schlacht von Bronzell, einem Scharmützel am 8. November 1850 zwischen preuß. Truppen auf der einen und bayer. und österr. Truppen auf der anderen Seite. Dieser Kampf um die Vormachtstellung in Kurhessen endete bereits im Vorfeld, da Preußen die Kampfhandlungen aufgab. Der Legende nach kamen nur fünf österreichische Soldaten und ein preuß. Schimmel zu Schaden.

[121] Dilthey an Rudolf Haym Verehrtester Herr Professor! Wehr[enpfennig] sagte mir, daß wir Hoffnung hätten, diese Woche Sie bei uns zu sehn; da ich aber von Reimer höre daß Sie durch eine Grippe – die hoffentlich nicht von Bedeutung – aufgehalten worden seien: will ich doch meinem hilflosen Manuscript noch ein begleitendes Wort nachsenden. Es betrifft, wie Sie rathen werden 1) meine Entschuldigung über seine Ausdehnung; nur die Abwechslung zwischen Erzählung u. Charakteristik im Inhalt kann hier ein Trost sein. Am schlimmsten ist dabei, daß der zweite Theil seinem Inhalt nach ein wenig langweilig ist oder ein wenig sehr, aber er war

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gar zu nothwendig, wenn meine ganz von Gervinus abweichende Auffassung begründet werden sollte. In Betreff der Briefe1 konnte ich nicht grob genug sein; sie grenzen an Niederträchtigkeit. Gegen Gervinus habe ich nur sehr zart polemisirt; aber die ganze Auffassung tritt eigentlich der seinigen, wonach Schlosser der Normalhistoriker, der Historiker der Zukunft wäre und seiner Methode, aus einer antithetischen Charakteristik seiner Geistesart seine Stellung zu erklären, statt aus der damaligen Lage der Geschichtschreibung u. des Lebens, durchaus entgegen. In Anbetracht, daß die Sache eine lebhaft discutirte Streitsache betrifft, und eigentlich zwischen die Partheien tritt: können Sie ja wohl ein bischen mehr Raum opfern, als der Verf[asser] beanspruchen durfte. Es betrifft 2) meine dringende Bitte, den Aufsatz nicht zu zertheilen. Z. B. der zweite Theil hat seine ganze Stellung nur als Begründung des vierten. Ich habe mich geduldig in den Mai schieben lassen; haben Sie nur ein bischen Nachsicht mit einer Langathmigkeit, die sonst nicht meine Natur ist. Sie sollen auch inskünftige allerhand hübsche kleine Sachen haben, wenn Sie mir dies eine Mal – wohldenkenden Herzens gegen Ihren Mitarbeiter – die ganze Serie auf einmal absolviren. Und ist nicht das gelegentlich berührte Thema über das Verhältniß der römischen Geschichte zu den politisch-histor[ischen] Ideen seit Machiavelli hübsch?2 Alles Weitere verspare ich auf mündliches Gespräch, dem ich mich außerordentlich entgegenfreue. Häusser ist seit gestern hier u. erwartet Sie allabendlich hinter den großen weißen Tischen bei Trarbach. Wehr[enpfennig]’s Schicksal3 ist wie es scheint noch nicht entschieden. Weber ist gegenwärtig auf dem Bureau der constitut[ionellen] Parthei permanent.4 Wenn nur die Sache Erfolg haben wird! Leider waren die Paragraphen des Programms etwas zu schnell formulirt u. es hält schwer, das Schiefe der Paragraphen über Budget u. Militär vergessen zu machen durch abweichende Interpretationen, wie sie in der Erklärung und dem Rechenschaftsbericht stehen. In der angenehmsten Hoffnung Sie und das unzerschnittne Manuscript bald hier zu sehen.5 Ihr allerergebenster Dilthey d[en] 27 März [18]62. Postscr[iptum]: Häusser geht schon in der nächsten Woche wieder weg. Dies, damit Sie sehen wie eilig es mit Ihrem Kommen ist. Meine Wohnung ist jetzt: Behrenstraße 31 2 Treppen.

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Original: Hs.; ULB Sachsen-Anhalt, Halle, Haym-NL, Yi 23 IV D 4 f; Erstdruck: BDH, Nr. 6. 1

Vgl. hierzu den Brief D.s an Haym (nach dem 15. Februar 1862). Zur Veröffentlichung dieses für die PJ geplanten Beitrags ist es nicht gekommen. 3 Nach der Auflösung des Parlaments im März 1862 war die berufliche Zukunft Wehrenpfennigs, der seit 1858 Leiter des literarischen Büros des preuß. Staatsministeriums gewesen war, ungewiss. 4 M. Weber sen. war Vorsitzender des am 17. März 1862 gebildeten Zentral-Wahlkomitees der Konstitutionellen Partei. 5 Haym besuchte D. vermutlich im April 1862 in Berlin, denn D. erinnert sich später anlässlich eines zu Hayms goldenem Dozentenjubiläums entworfenen Beitrags (1900/01): „[.|.|.] besonders gedenke ich eines harten Vormittags wo Sie mein übermäßig angeschwollenes Manuskript über Schlosser mir zusammenstrichen, um es dem Raum der Jahrbücher anzupassen.“ (GS XI, S. 225). 2

[122] Dilthey an Rudolf Haym In aller Eile, verehrtester Herr Professor u. Freund! beantworte ich Ihre Anfrage sofort. Böse bin ich durchaus nicht, da mich Gott [da]vor schütze, sachliche Verhältnisse aus Eitelheit nicht einzusehn. Übrigens habe ich an zwei oder drei Stellen, an denen Sie mit der Feder operirt haben, mich eben auch um der Sache willen nicht fügen können; dafür aber anderwärts dasselbe Quantum ausgestrichen, wo mir’s schicklicher schien. Den Schiller über Fichte habe ich mir angesehn; die Sache ist aber so außerordentlich hübsch u. führt so mitten in Schillers prosaische u. besonders philos[ophische] Form u. Behandlungsmethode, daß ich’s nicht übers Herz bringe, es in Einem Nachmittag abzumachen – u. mehr Zeit hätte ich auch nicht.1 Schleierm[acher] als Politiker bekommen Sie – falls Herr G. Reimer wie zu vermuthen mit dem Druck der zwei betr[effenden] Briefe einverstanden – für das Juni oder Juliheft.2 Können Sie 21/2 Bogen dafür aussetzen? Natürlich mit der Bedingung, daß ich den Etat nicht überschreiten darf, da ich jetzt den quantitativen Begriff der preuß[ischen] Jahrb[ücher] aus wehmüth[iger] Erfahrung besitze. Aber in weniger läßt sichs schlechterdings nicht zusammendrängen. Ist Ihnen das recht u. R[eimer] einverstanden, so mögen Sie den Aufsatz immer anzeigen, wenn Sie wünschen. Die bewussten Kleinigkeiten vergesse ich gewiß nicht: vielleicht überrascht Sie einmal ein kleiner Aufsatz „über Partheien“ nächstens.3 Falls Herr Dr. Treitschke4 die pr[eußischen] Jahrb[ücher] nicht hält, möchte ich ihm 1 Ex[emplar] schicken. Falls er es thut, bitte ich sehr ihm mei-

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nen Namen zu nennen u. mich ihm zu empfehlen. Ich habe dabei den egoist[ischen] Zweck, wenn ich das nächstemal durch Leipzig reise ihm irgendwie bekannt zu sein. Mein großer Respekt vor ihm reicht doch nicht zu. Die Rec[ensions]angelegenheit in der Berl[iner] Zeitung ist in Ordnung.5 Julian Schmidt hat bereits die Anzeige des letzten Vierteljahrs in Händen u. ist mit der Methode einverstanden, daß ich jedes einzelne Heft, wie es erscheint, kurz empfehle. Das nächste bitte ich an Julian Schmidt zu schicken, da ich dabei incompetent bin; die folgenden bitte ich dann mir möglichst früh zu schicken, da eine Art Voranzeige reizt u. es ohnehin immer spät wird. Ich habe in der Anzeige bes[onders] hervorgehoben, daß es lauter berühmte Leute schreiben, da dies das Einzige, was unsrem Publikum imponirt. Übrig[ens] habe ich auch J[ulian] S[chmidt] gesagt, ob man nicht gelegentlich sie in Leitartikeln benutzen könne. [Am Rand:] bitte auch mich, was das Publ[ikum] wissen darf oder was man auch etwa andeuten darf, bei jedem Heft wissen zu lassen. So kann man die Anonymität in ein[en] Vortheil verwandeln, da dann umsomehr davon geredet wird, wenn man [über] die Namen klatschen kann. Daß ich einen Artikel von Ihnen mit Vergnügen corrigire – sollte es auch viel mehr als 11/2 Stunden kosten – versteht sich. Reflektiren Sie nur in allen ähnlichen Fällen auf mich, ohne sich zu geniren. Bekäme man nur bald wieder einmal etwas von Ihnen zu sehn. Übrigens hat Reimer noch nichts geschickt. Die Schleiermacher-Frage trage ich allezeit auf dem Herzen u. sobald ich im Stande bin, Ihnen ganz klar zu schreiben, wie ich mir meine Arbeit denke, schreibe ich sofort. Ich selbst habe das höchste Interesse dabei, sie so zu fassen, daß sie einen von dem Ihrigen abweichenden Weg geht; denn wie weit würde ich, auf demselben Wege mit Ihnen, an Lebendigkeit u. künstlerischer Form der Darstellung zurückbleiben – von Allem andren zu schweigen.6 Die politica sind zum Verzweifeln. Bei Dunckers Namen hat gestern das Gesindel des ersten Wahlbezirks gezischt. Das ist denn doch eine Art Hundetollheit. Veit wird in Posen in zwei Wahlbezirken, aufgefordert, auftreten. Vincke Oldend[orf]7 wollte aus Gesundh[eits]rücks[ichten] refüsieren u. Bardeleben8 vorschlagen; nun hat er sich doch noch entschlossen u. Bard[eleben] kommt wahrsch[einlich] noch in der nächst[en] Zeit nicht als preuß[ischer] Mirabeau9 zur Anerkennung. Wehr[enpfennig]’s Urlaub ist verlängert, was Sie wissen werden – eine sehr glückl[iche] Wend[ung]. Leben Sie wohl und bleiben mir gut Ihr ergebenster Dilthey. 29. IV.[18]62

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In großem Arbeitseifer – ich habe einige sehr hübsche Sachen über schwierige Fragen der Philos[ophie] des 11ten Jahrhunderts gefunden – ist der Brief liegen geblieben. Entschuldigen Sie mich nach Vermögen. Die Fortschr[itts]parthei ventilirt, Schwerin zum Präsidenten zu machen.10 Dieser besinnt sich ob er zurückkommen soll; wird aber hierauf doch wohl kommen, da dann einstimmige Wahl als Demonstration bevorstünde – falls sich nämlich wirklich, wie zu hoffen die F[ortschritts]p[artei] darüber einigt. Heute od[er] morgen wollen Grabow11 u. Genossen hier tagen; auch Vincke ist in Sachen der Grundeinschätzungskommiss[ion] hier. Ganz der Ihrige D. Original: Hs.; ULB Sachsen-Anhalt, Halle, Haym-NL, Yi 23 IV D 4 g; Erstdruck: BDH, Nr. 7. 1

Zum bevorstehenden 100jährigen Geburtstag Fichtes am 19. Mai 1862 erschien umfangreiche Literatur, unter anderem auch die zweite Auflage von Johann Gottlieb Fichtes Leben und literarischer Briefwechsel von dessen Sohn Immanuel Hermann Fichte. Im zweiten Teil wird hier der Briefwechsel zwischen Fichte und Schiller mitgeteilt, der sich entspann, als Schiller die Aufnahme von Fichtes Briefen über Geist und Buchstaben in der Philosophie in die Horen ablehnte (S. 375–391). Haym wird D. auf diese Briefe hingewiesen haben (vgl. BDH, S. 16, Anm. 1). – Ein Beitrag D.s hierzu in den PJ kam nicht zustande. 2 D.s Aufsatz über Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit erschien erst im September-Heft 1861 in: PJ 10, S. 234–277; WA in: GS XII, S. 1–36. 3 Dieser Plan D.s wurde nicht realisiert. 4 Heinrich von Treitschke (1834–1896): Historiker, politischer Publizist, Mitglied des Reichstags; Studium der Geschichte und Nationalökonomie in Bonn, Leipzig, Tübingen und Freiburg, 1858 Habilitation, 1863 a. o. Prof. in Freiburg, 1868 o. Prof. in Kiel, 1867 in Heidelberg, ab 1873 in Berlin; seit 1858 Redakteur der PJ in Leipzig. 5 Die Anzeige D.s der Preußischen Jahrbücher erschien anonym in der von J. Schmidt hg. Berliner Allgemeinen Zeitung. Morgenausgabe. Nr. 198 vom 30. April 1862 (Beilage); WA als Beilage IV in: BDH, S. 46–48. 6 Haym fürchtete offensichtlich, dass D.s Pläne zur Schleiermacher-Biographie sich mit seinen Arbeiten über die romantische Schule all zu eng berühren würden. – D.s Leben Schleiermachers erschien Anfang 1870, Hayms Romantische Schule kurz darauf im Juni 1870. 7 Karl Friedrich Freiherr von Vincke-Olbendorf (1800–1869): liberaler Politiker; seit 1858 Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses. 8 Richard von Bardeleben (1821–1896): Direktor des literarischen Bureaus des preuß. Staatsministeriums. 9 Der Marquis de Mirabeau (1749–1791), führende Figur während der Anfangszeit der französischen Revolution, war berühmt für seinen Mut, sein Engagement und seine Entschlossenheit. 10 Maximilian Graf von Schwerin-Putzar war März-Juni 1848 preuß. Kultusminister, 1848 Mitglied der Nationalversammlung, 1849 Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses, 1859–1862

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preuß. Minister des Inneren. – Schwerins Wahl kam nicht zustande, Grabow wurde wiedergewählt (vgl. BDH, S. 17, Anm. 3). 11 Wilhelm Grabow (1802–1874): preuß. Politiker; 1860 bis 1861 Vizepräsident und ab 1862 Präsident des preuß. Abgeordnetenhauses; Führer der rechtsliberalen Fraktion.

[123] Dilthey an Luise Scholz [April 1862.]1 Beste Freundin! Sie bleiben stumm vor Entrüstung – und ich könnte es leicht bleiben vor Arbeit. Aber die Gefahr, die Sie nicht zu fürchten brauchen – vergessen zu werden – ist für mich zu groß. Es ist ein zerbrechliches Leben das man in der Seele derer führt, die man lieb hat – u. vielleicht doch das beste. Ich stelle mich also Ihrer Entrüstung u. lasse Sie über mich richten. Meine arme Existenz ist folgendermaßen beschaffen. 1) Ich muß u. will alles dransetzen im Winter zu lesen – u. zwar worauf ich früher nicht vorbereitet war: Philosophie. 2) Ich habe nicht einmal einen Doktor gemacht, weil ich den für m[eine] früheren Absichten nicht bedurfte, bin also an einer Dissertation.2 3) Mit d[em] nächst[en] B[an]d der Briefe3 habe ich so viel unerwartete Arbeit bekommen d[urch] neues Material; dazu stehn mir eben Quellen für Schl[eier]m[acher]’s Biogr[aphie] offen, die d[ie] mühsamste Arbeit fordern, aber später vielleicht nicht benutzbar sind. 4) Gelegentlich u. in verlornen Stunden schreibe ich so viel als ich zu meinem leider immer kostspieliger werdenden Leben bedarf. 5) Ich bin denn doch ein Mensch für sich, den manchmal seine aparten Gedanken Zeit kosten, neben der ewigen Beschäftigung mit denen andrer Leute. Wenn Sie nun dazu nehmen, daß ich außerdem auch ein unprakt[ischer] Mensch bin, also zuweilen eine Arbeit übernehme, die vorher nicht berechnete Zeit kostet – wie den unglückseligen Schlosser, der mich Ihren Verk[ehr] gekostet hat für d[ie]s[en] Winter (u. den ich Ihnen nächstens übersenden werde, da eben am 2ten Bogen gedruckt wird – in d[en] pr[eu]ß[ischen] Jahrb[üchern]) –, versetzen Sie dann einen Menschen in solcher Lage in meine hießigen Verhältnisse – Aber die muß ich Ihnen doch für Spaß u. Ernst erst schildern. Erstens also sind Laz[arus’] noch da, sie war den ganzen Winter im höchsten Grade leidend, er verstimmt, es zog einen oft zu ihnen hin u. doch hatte man selten das Gefühl, ihnen eine heitre Stunde gemacht zu haben, nie kam man selbst heiter zurück; zu einem rechten Gespräch kam es nur das eine oder andre

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Mal, wenn ich ihn auf einem Spaziergang allein hatte. Dann Wehrenpf[ennig], dessen Frau sich sehr gemacht hat; daß sie sehr gescheidt sei, sagte ich Ihnen ja, sie hat aber auch gewisse äußre Manieren, die mir sehr unangenehm waren, hier in der guten Gesellschaft sehr rasch abgelegt z.B. Dreinwerfen französ[ischer] Worte, Geziertheit in der Art sich mit Andren zu stellen, ein gewisses Durchfahren im Gespräch und dergl. Dann bin ich viel in Riedels, nicht selten in Nitzschs [Hause] – neuerdings kommt Julian Schmidt dazu, mit dem u. dessen Frau sich sehr hübsch verkehren läßt – u. dann die Gesellschaften! Dann die Durchreisen! So war ich mit Häusser, der einige Wochen hier war, viel zusammen, ebenso mit Haym – im Augenblick kommt ein Billet von Tempeltey4 der heute gekommen, während ich im Moment erst vom Zusammenessen u. Cafetrinken mit einem Dr. Frensdorf 5 aus Göttingen zurückkomme, den ich kennen lernte – kurz ich würde zerrissen – wenn es auch keine Politik gäbe. Von dieser rede ich lieber gar nicht, da mir dies schon einmal Strafe von Ihnen zugezogen hat; ich constatire nur das Faktum, daß sie Zeit kostet. Wundern Sie sich also nie, wenn ich mit meiner Zeit nicht ausreiche; wundern Sie sich vielmehr, daß nicht alles in die Brüche geht, daß Sie hier ein Lebenszeichen erhalten, daß es doch Zeiten giebt in denen ich ganz ordentlich schreibe. Mir ist zu Muthe wie – sans comparaison – jenem ehrlichen Heiligen zu Muthe gewesen sein mag, der die schöne Erfindung der Klöster machte, weil ihm die Welt zu bunt wurde – und vielleicht auch zu kostspielig, ohne ihm damit zu nahe treten zu wollen. 27. Mai. Endlich,6 liebwertheste Frau Gevatterin! finde ich heut unter seit einem Monat u. drüber unberührten Papieren dies werthvolle Fragment – werthvoll darum, weil es ein juristischer Beweis meines guten Willens ist, Angesichts dessen mich selbst die Jury Ihres Herzens die Parthei ist, freisprechen muß. Lassen Sie mich zunächst Ihnen noch einmal extra meinen Dank sagen, daß Ihr Söhnchen7 zwischen uns eine noch engere Verbindung stiften soll. Denn ich sehe Ihr Anerbieten als den größten Beweis von Vertrauen an, den Sie mir geben konnten, und wie oft ich Ihnen auch unruhig u. von all dem Widerspruch von historischen u. philos[ophischen] Arbeiten, gesell[iger] Lebensfreude u. polit[ischem] Antheil – u. was alles in diesem modernen Chaos Berlin gen[annt] auf unser Interesse einstürmt bewegt u. hin u. hergeworfen erscheine: glauben Sie mir, daß Beziehungen wie zu Ihnen u. Bernhard wechsellos mir gegenwärtig sind u. den besten Theil meines Lebens bilden. Wie

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oft wünsche ich mir, vor Ihren Bildern stehend, nur Einen Tag, Alles, was mich, was Sie bewegt, einmal gründlich vom Herzen abzuplaudern! Es kann auch so nicht bleiben – und die Zeit muß bald kommen, in der ich meiner Freunde ruhig genießen darf, weil ich wenigstens Etwas erreicht habe. Denken Sie: in diesen Tagen, habe ich mich mit d[em] Gedanken einer Übersiedelung nach Heidelberg ernsthaft getragen, weil mir von dort d[er] Wunsch ausgesprochen worden ist – neuangeregt durch die Abh[andlung] ü[ber] Schlosser – ich möchte mich dort habilitiren; man werde mich gewiß bald z[um] Prof[essor] machen. Indeß verträgt es sich nicht mit d[em] Schleiermacher u. d[en] mittelalt[erlichen] Arb[eit]en d[ie] beide nur hier gemacht werden können. Aber die Verb[indung] festzuhalten u. d[ie] Hoffnung zu hegen, einmal u nicht zu spät dort als Prof[essor] zu leben, ist mir eine sehr liebe Hoffnung. Wissen Sie schon, daß meine kleine lange Schwester nach Leipzig kommt? Es war von allen Seiten über die Howardsche Familie (Prediger) so viel Gutes zu hören, daß nicht daran zu zweifeln war, sie sei dort in den besten Händen. Nach Pfingsten wird sie mein Vater hinbringen u. ich werde dann mit ihm zusammentreffen: entweder kommt er u. die Mutter, wie ich wünsche u bitte, hierher, oder ich fahre nach Leipzig herüber. Usener hat Heimweh hierher; auch Tempeltey in Gotha: wer einmal an die Berliner Luft gewöhnt ist, gewöhnt sich schwer um. Lazarus’ Frau allein scheint sich in Bern sehr zu gefallen, ohne daß ich – aufrichtig zu sein – eine rechte Vorstellung davon hätte, was sie dort hat – die wundervolle Natur ausgenommen, für welche indeß einen starken Sinn zu haben gar nicht in ihrer Natur liegt, und allenfalls etwas mehr gesellige Stellung als sie hier hatte, wenn es menschenmöglich ist darauf Werth zu legen. Ich habe jetzt auf der letzten Seite eine unbändige Freude in dem Gedanken, daß Sie nun nothwendig schreiben müssen u. ich demnächst einen langen Brief wie in alten Zeiten von Ihnen alle Tage erwarten darf. Wäre es auch nur, um mir zu schreiben, wann die Taufe sein wird. Und nun lassen Sie auch ordentlich hören, wie es dem kleinen Volk geht, was Bernhard arbeitet, wie Sie gesellig leben – kurz ein bischen von Allem. Ich grüße Bernhard und erwarte Ihren Brief. Von Herzen der Ihrige Wilhelm Dilthey. Berlin, Behrenstraße 31 Original: Hs.; HLB Wiesbaden, Hs 341 (14); Erstdruck: BDSch, Nr. 14.

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Die Datierung wurde von der Hg. von BDSch vorgenommen. D. promovierte – über Schleiermacher – erst im Januar 1864. 3 Der vierte Band von D.s Leben Schleiermachers. In Briefen erschien Ende 1863. 4 Nicht überliefert. 5 Ferdinand Frensdorff (1833–1931): Rechtswissenschaftler; 1866 a. o., 1873 o. Prof. des deutschen Rechts in Göttingen. 6 Im Original: „Endliche“. 7 Wilhelm Joachim Scholz war am 6. Mai 1862 geboren worden. D. sollte als Taufpate fungieren. 2

[124] Dilthey an Ludwig Häusser Hochverehrter Herr Professor! Mögen Sie ermessen, wie sehr wir hier wünschen, Sie einmal wieder an uns zu erinnern, wenn ich sogar mein etwaiges schriftstellerisches Renommé bei Ihnen zu diesem Zweck aufs Spiel setze, indem ich diesen Aufsatz Ihnen übersende, dem jeder verborgenste Zug des Gegenstandes längst vertraut ist. Aber man sagt ja daß die kundigsten Richter die mildesten sind. Wie hier die Dinge gehn, davon geben die Zeitungen doch nur ein unvollkommenes Bild. Auch das Centralwahlcomité u. die Zeitungen der Fortschrittsparthei können das Auftauchen der Größen u. Stimmungen des Jahres [18]48 nicht hemmen. Stachelten sie bei der vorigen Wahl an, so suchen sie bei der jetzigen nur zu mäßigen; sie können es bereits kaum mehr wagen sich von der Parthei W[aldeck]s u. dem Namen Waldecks loszusagen.1 Vergebens haben Twesten2 und Unruh3 für die Wahl von Saucken-Julienfelde4 sich persönlich verwandt; der Fortschritt geht in diesem Augenblick in den Massen viel entschiedener voran, als bei denen, die sie in Bewegung gesetzt haben. Ein möglichstes Zusammengehn der Constitutionellen mit der Fortschrittsparthei, für das sich Weber im Comité bemühte, ich hier u. da bei Jul[ian] Schmidt, wird stets schwieriger durch die steigende Erbitterung der Constitut[ionellen], ihre abnehmende Zahl, das wachsende gedankenlose Selbstgefühl der Fortschr[itts]parthei. Auch Sybel wird diese Verhältnisse nicht ändern, sondern sich ihnen fügen müssen, indem er zur Frakt[ion] Bockum-D[olffs]5 tritt oder selbst eine kleine Fraktion bildet. Freilich kann sich bis zum Zusammentritt der Kammern noch viel ändern u. so eine günstigere Fraktionsbildung möglich werden. So ist in diesen Tagen stark von Erlassen an die Polizeipräsidien über die Presse die Rede. Winter6 soll aber

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dem Minist[er] erklärt haben, daß er nach eignem Ermessen handeln werde und seinen Abschied nur vom König nehme. Von der Beredsamkeit Bardelebens, einer der größten Gefahren für die const[itutionelle] Parthei, seinem „Sprechanismus“, wie sich gestern der alte Oberburggraf v[on] Brünneck7 ausdrückte, wird diesmal noch das Abgeordnetenhaus verschont bleiben. Vincke-Old[endorff] hatte ihm das Versprechen gegeben, ihn an seiner Stelle wählen zu lassen; der dortige Wahlkreis zeigt aber unüberwindliche Abneigung u. so hat sich V[incke] selbst noch im letzten Augenblick entschließen müßen. Der Plan v[on] d[er] Heydt’s8 ist entschieden: Nachgeben in der Budgetfrage u. Beschränkung des Abgeordnetenhauses auf dieselbe, um es brach zu legen. Wenn man sich dazu entschlösse strikt an dieser Taktik festzuhalten, so wäre, da auch pro 1863 vorgelegt wird u. die Fortschrittsparthei sich engagirt hat, dies zu billigen, der Bestand des Ministeriums auf 11/2 Jahre „gesichert“. Indeß wird es sicher nicht an Zwischenfällen fehlen, die diese Taktik kreuzen. Von Jagow9 erzählen sich seine Räthe, daß sie selten etwas talentloseres gesehn hätten. Dafür weiß er seine Leute zu benutzen. Zu dem Wahlerlaß zwang er einen mir ganz wohl bekannten, höchst liberalen jungen Hilfsarbeiter seines Ministeriums, dem Schwerin sein vollstes Vertrauen geschenkt hatte u. der gleichwohl nicht den Muth fand, sich zu weigern. Derselbe forderte dann seine Versetzung, hat sie aber bis heute nicht erlangt. Dieselbe Politik, niemanden zu entlassen, die Identität mit dem früheren Ministerium zu behaupten, befolgen sie auch Wehr[enpfennig] gegenüber. Sie haben seinen Urlaub verlängert, wollen aber auf seine anderweitige Placirung oder Dispositionsstellung nicht eingehn. Wehrenpf[ennig], Weber, Herr Dr. J[ulian] Schmidt empfehlen sich Ihnen auf’s Beste. In größter Ergebenheit der Ihrige W. Dilthey Berlin d[en] 4 Mai [18]62 Behrenstr. 31 Original: Hs.; UB Heidelberg, Heid. Hs. 3407. 1 Benedikt Franz Leo Waldeck (1802–1870): preuß. Politiker; 1848 einer der Führer der Linksliberalen, in den 1860er Jahren einer der Führer des konstitutionell-liberalen Flügels der Fortschrittspartei. 2 Karl Twesten (1820–1870): Jurist und Politiker; 1845–1868 im preuß. Justizdienst, Mitbegründer der Fortschrittspartei; 1862 Mitglied im preuß. Abgeordnetenhaus, 1866 Mitbegründer der Nationalliberalen Partei, Vorkämpfer der liberalen Rechtsstaatsidee, Sohn von A.D.Ch. Twesten.

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3 Hans Viktor von Unruh (1806–1884): Regierungs- und Baurat und Politiker; 1848 Mitglied der preuß. Nationalversammlung, 1849–1850 Mitglied der Zweiten Kammer, 1859 Mitbegründer des Deutschen Nationalvereins, 1861–1863 Vorsitzender der Fortschrittspartei, 1866 Mitbegründer der Nationalliberalen Partei, 1867–1879 Mitglied des Reichstags. 4 August von Saucken-Julienfelde (1798–1873): Politiker; seit 1849 Mitglied der preuß. Zweiten Kammer, schloss sich 1859 der Fraktion Vincke und 1866 der Nationalliberalen Partei an. 5 Florens Heinrich von Bockum-Dolffs (1802–1899): Politiker; 1852–1885 Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses, 1861 zunächst der Fraktion Vincke angehörend; gründete 1862 eine eigene „Fraktion Bockum-Dolffs“ (1862–1870); 1867–1870 Mitglied des Norddeutschen Bundes, 1871–1884 Mitglied des deutschen Reichstags. 6 Leopold von Winter (1823–1893) war Berliner Polizeipräsident von 1860–1862. 7 Magnus von Brünneck (1786–1866): Gutsbesitzer und Politiker; 1848 Mitglied der preuß. Nationalversammlung, 1848–1854 Mitglied des preuß. Landtags, seit 1854 Mitglied des preuß. Herrenhauses. 8 August Freiherr von der Heydt (1801–1874): Bankier, preuß. Politiker; 1848 Minister für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, März–September 1862 und 1866–1869 preuß. Finanzminister. 9 Gustav von Jagow (1813–1879): Jurist, konservativer Politiker; von März–Dezember 1862 preuß. Innenminister.

[125] Dilthey an Hermann Baumgarten1 Verehrtester Herr Professor! Sie sind seinerzeit mit meiner Absicht, diesen Aufsatz2 zu schreiben geplagt worden und so sollen Sie nun doch auch von seiner verspäteten Existenz unterrichtet werden. Ohnehin ist mir jede Gelegenheit werth, mein Gedächtniß bei Ihnen aufzufrischen, da ich immer noch herzlich bedaure, daß mich die Verhältnisse und meine eigene Zurückhaltung Älteren u. Tüchtigeren gegenüber gehindert haben, hier öfter mit Ihnen zusammen zu sein und mich gemüthlicher mit Ihnen auszusprechen. Sie waren schon weg, als ich erst durch Weber3 recht ordentlich von Ihnen hörte. Sie werden von diesem schon Klagen genug gehört haben über den hießigen Gang der Dinge; wir beide stehn ja zusammen auf der äußersten „Linken“ der constitutionellen Parthei und empfinden daher die steigende Verbitterung der Constitutionellen am stärksten. Wenn Sybel Hoffnung zu haben scheint, eine engere Verständigung der liberalen Parthei herbeizuführen, so wird er hier bald sehen, welche unübersteiglichen Schranken auf der Einen Seite persönliche Verstimmung und der Aberglaube, ausschließlich regierungsfähig zu sein, auf der andren die Abhängigkeit von der Anfangs nur geduldeten Wal-

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deckschen Parthei geworden sind. Twesten u. Unruh selbst haben sich vergebens bei ihren Leuten für die Wahl von Saucken-Julienfelde verwandt; ich weiß genau, daß das C[entral]W[ahl]comitée der F[ortschritts]P[artei] selbst nach seiner Majorität wohl einsieht, wie diese Alliance mit Waldeck zu einem Übergewicht desselben zu führen droht, daß aber diese Einsicht ihm den abstimmenden Massen gegenüber wenig hilft. Denn diese sind nur einer starken Initiative gegenüber vernünftig; macht man diese den liberalen Partheien unmöglich, so fallen die Massen unfehlbar in die Hände derer, die das Tollste versprechen. Fast scheint es als ob die Regierung in der Thorheit soweit ginge diesen Verlauf mit Vergnügen zu sehn; als ob sie gedächte durch kühle Renitenz auch die gegenwärtige Majorität der Fortschrittsparthei abzunutzen, wie sie die Constitutionellen abgenutzt hat, um wieder mit der Alternative: Demokratie oder militärischer Feudalstaat zu manipuliren. Wie oft ist es schon seit der franz[ösischen] R[evolution] mit dieser Regierungskunst versucht worden! Wehr[enpfennig]’s Urlaub ist verlängert worden; sein Schicksal also noch unentschieden. Weber hat sich furchtbar plagen und in und außerhalb der Mauern Trojas kämpfen müssen. Aber es war ein großes Glück, daß die Wahlsachen in seine, und nicht in die Hände irgend eines verbitterten Const[itutionellen] gefallen sind. Darf ich Sie nun mit einer Bitte belästigen? Mein Vater, der dem Herrn Minister von Roggenbach4 wohl von seinen Söhnen gelegentlich erzählte, zu einer Zeit als derselbe noch nicht so völlig durch die wichtigsten Geschäfte in Anspruch genommen war, wünscht, daß dem Herrn Minister ein Ex[emplar] des Aufsatzes zukomme. So sehr ich wünschte, daß ihm irgend etwas darin gefallen könnte, so würde ich das doch, ohne den Wunsch meines Vaters u. Ihre freundliche Vermittlung, nicht wagen. Wenn Sie es somit schicklich finden – und nur in diesem Falle, so würden Sie mich außerordentlich verbinden, wenn Sie es übernähmen, ihm eins der beilieg[enden] Ex[emplare] mit den ergebensten Empfehlungen meines Vaters, denen ich die meinigen anschließe, bei guter Gelegenheit zu übergeben. Von Herzen der Ihrige Wilhelm Dilthey Berlin. Behrenstraße 31. d[en] 5 Mai [18]62. Original: Hs.; BA Berlin, NL Baumgarten, N 2013, Bl.16–17 R.; Erstdruck: BDH, Nr. 7a; Abdruck eines Teils des Briefes bereits zuvor in: Die Sturmjahre der preußisch-deutschen Einigung 1859–1870. Politische Briefe aus dem Nachlaß liberaler Parteiführer. Ausgewählt und bearbeitet von J. Heyderhoff. Bonn und Leipzig 1925, S. 89 f.

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H. Baumgarten war derzeit Prof. für Geschichte und Literatur in Karlsruhe. D.s Aufsatz über Friedrich Christoph Schlosser. 3 Max Weber sen. war Baumgartens Schwager. 4 Franz Freiherr von Roggenbach (1825–1907): Jurist und badischer Politiker; 1861–1865 badischer Außenminister und Minister des großherzoglichen Hauses, 1871–1873 Mitglied des Reichstages, 1871 Kommissar für die Universitätsneugründung in Straßburg. 2

[126] Dilthey an Rudolf Haym 1 Verehrtester Herr Professor! Ich habe einen Nationalökonomen, Statistiker u. Staatsrechtsmenschen am Berliner Himmel entdeckt u beeile mich Sie von dieser Entdeckung pflichtschuldigst zu benachrichtigen. Es ist ein Doktor Horn,2 eine Zeit lang in Jena, wo er in etwas unverständlichem Deutsch ein paar Bogen über das Problem der Philosophie, dann, glaube ich in etwas überschwenglichem Deutsch3 Blätter zum Jen[aer] Stift[un]gsfest schrieb. Er hat Jurisp[rudenz] u. Staatswissenschaften studirt u. sich dann auf Philosophie u. Staatswissenschaften ausgebreitet. Jetzt ist er hierhergekommen u. versucht sich hier zu halten, obwohl ohne Vermögen. Sie können also auch auf einen eifrigen Mitarbeiter rechnen u. haben die Genugthuung ihm selber damit einen Dienst zu erweisen. Ich will das einzige Bedenken nicht verschweigen. Er ist ohne Zweifel gründlich; aber er erscheint etwas trocken u. stylistisch möchte er mancher Nachhilfe bedürfen, da er zu einer abstrakten Terminologie neigt. Aber bei seiner Gründlichkeit u. dem festen Ernst, mit dem er Alles nimmt, müßte sich dieser Anstoß, falls ich mich nicht überhaupt in diesem Punkte täusche, sich doch bald überwinden lassen. Wie gesagt: vielleicht täusche ich mich auch ganz über seinen Styl: dann ists ja um so besser. Ein besondrer Vortheil ist, daß er hier im statistischen Bureau arbeitet. Sie werden leicht von ihm kürzere statistische Mittheilungen erhalten können, die ohne Zweifel für die J[ahr]b[ücher] von Vortheil wären. Das Nächste was er leisten zu können hoffte, war: 1. größere Aufs[ätze] von 1 bis 2 Bog[en] über die neueste Staatslehre des Liberalismus in Anknüpfung an Trendelenburgs Naturrecht.4 Hiermit tun Sie auch Trendel[en]b[urg] einen Gefallen, der sich gewiß üb[er] eine Bespr[echung] in den J[ahr]b[üchern] sehr freuen würde.

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Dilthey an Rudolf Haym

2. kurzer Aufsatz über: Frauer:5 Die Reform des Zollvereins.6 Steht politisch auf großdeutsch[er] Seite, kommt aber durch nationalökon[omische] Betrachtung zum Kleindeutschland. Dies würde hervorgehoben werden. 3. hat er Jul[ian] Schmidt Aufsätze über die Behandlung der schwebenden Handelsvertrags-Frage durch die Augsb[urger] Allg[emeine] Zeitung gegeben, die diesem wahrscheinlich zu lang, wohl sicher nicht genug im Zeitungston sein werden. In dies[em] Falle stünden auch diese Ihrer Ansicht zu Gebote. Ich habe – wohl in Ihrem Sinne – gesagt: Sie müssen nach der Natur der Jahrb[ücher] kleine Aufsätze vorziehn und er wollte Ihnen zunächst die paar Blätter über Frauer einschicken. Vielleicht thun Sie gut, ihm eine Zeile vorher zu schreiben, ihm bei der Arbeit die Ungewißheit der Stimmung, die so widrig ist zu nehmen und das Bedürfniß einer gewissen Lebendigkeit ihm anzudeuten. Beinahe habe ich ihm Hoffnung auf eine Zeile von Ihnen gemacht, die Ihr Einverständniß mit dies[em] Thema ausdrückt. Seine Adresse ist: Prinzenstraße 80, 3 Treppen. Von Gerv[inus] ist ein dankender Brief eingelaufen. Er wollte gegen die Briefe selbst auftreten, will sich’s aber jetzt ersparen; übrigens vermuthet er – was mir ganz unglaublich dünkt – als Verf[asser] des Machwerks – Wuttke7 in Leipzig! Trendel[en]burg drängt mich sehr zur endlich[en] Habilitation – ich muß alle Allotria fahren lassen! Er droht mir mit Jürgen-Bona-Meyers Habilitation dahier, der eben wieder eine langweilig nichtssagende Broschüre über Fichte geschrieben hat, die ich Ihrer „scharfen Feder“ empfehle.8 Doch schwebt diese Aussicht noch über 3 Univ[ersitäten] – auch Gött[ingen] u. Bonn. Es liegt in der Hand der Götter. Schleierm[acher] als Polit[iker] soll trotzdem nicht drunter leiden. Entschuldigen Sie meine Eile mit dem Widerstreit zwischen meinem Wunsch den Jahrb[üchern] u. Dr. Horn nützlich zu sein u. meinem ewigen Zeitmangel. Ich schreibe daher auch k[eine] Politica u. empfehle mich Ihnen. Mit herzlichster Hochachtung der Ihrige Dilthey. Original: Hs.; ULB Sachsen-Anhalt, Halle, Haym-NL, Yi 23 IV D 4 h; Erstdruck: BDH, Nr. 8. 1 2 3

Die Datierung wurde vom Hg. von BDH vorgenommen. Eine Mitarbeit Horns an den PJ kam nicht zustande (vgl. BDH, S. 20, Anm. 1). Im Original: „Deutsche“.

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Dilthey an Rudolf Haym 4

A. Trendelenburg: Naturrecht auf dem Grunde der Ethik. Leipzig 1860. In BDH fälschlicherweise: „Franer“. 6 L. Frauer: Die Reform des Zollvereins und die deutsche Zukunft zur Versöhnung von Nord und Süd. Braunschweig 1862. 7 Heinrich Wuttke (1818–1876): Historiker und Politiker; 1848 bis 1876 Prof. für historische Hilfswissenschaften in Leipzig, 1848 Mitglied der Nationalversammlung. – Die Schrift, die 1862 anonym in Chemnitz erschien, wurde nicht von H. Wuttke, sondern von dem Historiker Johann Wilhelm Loebell verfasst. 8 J.B. Meyer habilitierte sich 1862 in Berlin. – Seine Broschüre Über Fichtes Reden an die deutsche Nation (Berlin 1862) wurde von Haym nicht in den PJ besprochen, sondern nur kurz angezeigt (Bd. 9, S. 483). 5

[127] Adolf Wilbrandt an Dilthey Berlin, 19. Mai [18]62. Lieber Dilthey, ich werde Sie heute um 4 Uhr in Ihrer Wohnung aufsuchen, wenn Sie nicht dem kleinen Ueberbringer eine andere Weisung mitgeben, u. bringe Ihnen dann den Schlosser mit. Ich schließe mich (obwohl ich jetzt nicht mehr unbefangen urtheile, da ich ihn ganz gelesen habe) mit Ehrfurcht dem staunenden Wort der Süddeutschen Zeitung an. Doch alles Andere mündlich. Sie haben auch den Artikel über Fichte in der Julian Schmidt-Zeitung1 geschrieben. Mein Herr! Dieser Artikel ist außerordentlich schön. Doch ich will Ihnen bei diesem warmen Wetter keine Schmeicheleien sagen. Mein Kleist ist gestern endlich fertig geworden. Auf Wiedersehen Ihr A. Wilbrandt. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 k. 1

Anonyme Besprechung von: Johann Gottlieb Fichtes Leben und literarischer Briefwechsel. Von seinem Sohne Immanuel Hermann Fichte. Zweite sehr vermehrte und verbesserte Auflage. Zwei Bände. Mit einem Bildniß J.G. Fichtes. Leipzig, F.A. Brockhaus, 1862, in: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik und Literatur 21. Jg. I. Semester, 2. Bd. Leipzig 1862, S. 276–277.

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Dilthey an seinen Vater

[128] Dilthey an seinen Vater d[en] 27. Mai (1862) Mir ist, liebster Vater, völlig unbegreiflich, wie beigesandter Brief 1 liegen bleiben konnte. Es ist durch die sichre Idee geschehn, Dir geschickt zu haben – inzwischen war es der Aufsatz über Schlosser. Die Hauptsache ist die Hoffnung, Euch so bald wieder zu sehen. Schon an sich muß Dir ja sehr interessant sein, Dir einmal hießige Verhältnisse jetzt anzusehn – alles verworren, unruhig, voll Hoffnung u. Zukunft. Für das Geld bin ich sehr dankbar, habe schon 50 Thaler geholt. u. fürchte fast, bald Neues holen zu müssen, will ich nicht verderbliche Schreibereien zwischendrein machen. Denn der Schlosser wird erst Anfang nächsten Monats bezahlt. Ich schreibe nicht weiter da jemand auf mich wartet, um zu Tisch zu gehn, schreibe ohnehin in diesen Tagen zu Deinem Geburtstag. Einen Brief Baumgartens2 lege ich bei, der Dich interessiren wird – Ehe indeß Schleierm[acher]’s Biographie fertig und das Angefangene über Mittelalter, – kann ich nicht weg. Wollen sie mich denn auf mein hiesiges Lesen hin, dort zum außerord[entlichen] Professor machen, so wäre das wunderschön. Denn ich lebte nirgend in der Welt lieber als dort. Allen beste Grüße. Also in diesen Tagen schreibe ich ordentlich. Verzeih die Hast. Euer Wilhelm. Dienstag 2 3/4 Uhr. d[en] Brief erbitte ich zurück, da was für Weber drin steht u. ich dies ihm noch nicht gezeigt. Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript mit handschriftlichen Korrekturen und Ergänzungen von Clara und Georg Misch ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o. 1 2

Nicht überliefert. Nicht überliefert.

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Karl Dilthey an Dilthey

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[129] Karl Dilthey an Dilthey Himmelfahrt morgen [29. Mai] (Bonn 1862) Liebster Wilhelm! Unter einer Masse höchst interessanter inedita, die aus F. H. Jakobis1 Nachlaß in Überwegs2 Hände gekommen waren, darauf von Michael Bernays3 erschwindelt wurden, dem man sie auch wahrscheinlich aus unverantwortlicher Gutmütigkeit zur Herausgabe überlassen wird, befindet sich ein 8 Seiten langer Brief Schleiermachers an Jakobi vom 30. März 1818, worin er seine Stellung zur Jakobischen Philosophie bespricht, in höchst interessanter Weise. Falls der Brief, wie dies der Fall zu sein scheint, nicht zufällig in irgendeiner Zeitschrift gedruckt ist, so schreibe mir dies gleich, dann sollst Du umgehend eine Abschrift von mir bekommen. Deinen prächtigen Aufsatz über Schlosser habe ich, da das Lesen im academischen Lesezimmer mir lästig ist, nur zur Hälfte gelesen. Wie hübsch wäre es, wenn Du Wort hieltest und mir einen Abzug schicktest. Ich habe nach Hause geschrieben um den des Vaters, aber nichts bekommen. Es interessirt Dich vielleicht zu hören, daß die anonymen Briefe über Gervinus’ Schlosser nach Gervinus eigener Vermutung, wie mir ein Freund sagte, der ein Neffe von Gervinus ist, von Wuttke in Leipzig sind, „der jedem in die Waden zu beißen pflege“. .|.|. Ade Liebster für heute. Mit Schleiermachers Brief ein Mehreres über mich Dein treuer Bruder Karl. Ob Dich der Brief in B[erlin] findet? Zu Hause vermutet man Dich in Hannover. Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript mit Korrekturen und Ergänzungen von der Hand G. Mischs ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o. 1

Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819): Philosoph und Schriftsteller. Friedrich Ueberweg (1826–1871): Philosoph; 1862 a. o., 1867 o. Prof. in Königsberg. 3 Michael Bernays (1834–1897): Literarhistoriker; 1873 a. o., 1874–1890 o. Prof. der Literaturgeschichte in München. 2

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Rudolf Haym an Dilthey

[130] Rudolf Haym an Dilthey Halle, 20. Juli [18]62. Sie lassen, verehrtester Herr u. Freund, nichts von sich hören noch sehn. Oder vielmehr, gehört habe ich freilich durch Reimer, wie Sie es mit Ihren Mittheilungen für die Jahrb[ücher] zu halten gedenken: aber es läßt mir nicht Ruhe, ehe ich nicht die Bestätigung von Ihnen selbst in der Hand habe. Reimer sagt mir also, daß Sie die den politischen Schleiermacher betreffende Mittheilung in zwei Dosen zu machen vorhätten – die eine, die entchiffrirten Documente enthaltend – im August –, die andre, den Commentar, die weitere Darstellung, im Septemberheft. Das approbire oder acceptire ich nun natürlich ohne Weiteres, da Sie ja über die Zweckmäßigkeit des Verfahrens am besten selbst u. allein urtheilen können. Seine Zustimmung zu der Veröffentlichung der in Rede stehenden Briefe hat mir Reimer mündlich ausgedrückt. Möchte ich ihn nur richtig über Ihre Absicht verstanden haben, möchte es nur namentlich damit seine Richtigkeit haben u. möchte es nicht an Ihren anderweitigen Arbeiten scheitern, daß ich die Documente für den August bekomme! Denn einmal habe ich zwar für diesen Monat Einen sehr langen u. sehr vorzüglichen Aufsatz von Treitschke, aber übrigens für die ganze Ausfüllung des Heftes große Noth – die gewöhnliche Sommernoth. Und ebenso wird es sich mit dem September verhalten; das, woran ich selbst arbeite, kann ich erst in den Ferien zu Stande bringen. Also Hülfe, Hülfe! u. baldige, dem nächstmonatlichen Bedarf abhelfende! Es kommt hinzu, daß ich eine gewisse Eifersucht gegen die Grenzboten wegen ihrer Fichte-Mittheilungen1 empfinde, u. ihnen gern – ich denke, es ist eine erlaubte Wetteifersucht – mit dem Schleiermacher ein Paroli böte.2 Daß es mir sehr recht ist, wenn Sie die Mittheilung unter Ihrem Namen geben, habe ich Ihnen, ni fallor, schon geschrieben. Ich bemerke nun weiter, daß ich das M[anu]script wo möglich in der ersten Woche des August haben möchte, u. bitte sie schließlich recht dringend, diese Zeilen mit guter Nachricht baldigst zu beantworten, auch, wenn Sie dazu im Stande sind, eine Notiz über Willprant3 hinzuzufügen, der, nach einer unbestimmten Angabe von andrer Seite, Berlin wieder verlassen hätte. Wie mag es damit stehn? Und wie steht es mit Ihrer Habilitirung? Mit herzlicher Hochachtung u. den besten Wünschen Ihr R. Haym Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 349, Bl. 306–307.

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Rudolf Haym an Dilthey

1 D.s anonyme Besprechung von Johann Gottlieb Fichtes Leben und literarischer Briefwechsel (vgl. A. Wilbrandts Brief an D. vom 19. Mai 1862). 2 Im Original: „böge“. 3 Gemeint ist A. Wilbrandt.

[131] Dilthey an Rudolf Haym 1 Verehrtester Professor!

2

Schreiben Sie es eben nur einem entsetzlichen Mißbehagen zu, daß ich mir’s so bequem machte, Ihnen durch Reimer meine Zusage zukommen zu lassen. Fast seit ich von der angreifenden Reise3 nach Hause zurück bin, quält mich – wenige gute Tage ausgenommen – Katharr mit Kopfschmerzen und verzweifelte Laune drüber, so manchen schönen Tag in halber und doch nie wirklicher Krankheit zuzubringen. Daß keine Weichlichkeit von meiner Seite dabei mitspielt glaube ich zu wissen. Was mich oben hält, sind die Schleiermacherschen Briefe an Brinckmann.4 Das ist einmal eine Eroberung! Freilich bis jetzt habe ich erst die Hälfte in Händen. Fast alles, was ich in meiner ersten Ausarbeitung der Entwicklungsgeschichte aus den vorh[andenen] Fragm[enten] Schl[eiermacher]sch[er] Arb[ei]t[en] divinirt, bestätigen u. erweitern sie auf das Glänzendste. Denn sie gehn von seinem Studentenleben ab in ununterbrochener Reihe bis 1789, dann wieder [17]99 und dann die ganze Stolpesche Zeit. Ich kann die Zeit kaum erwarten, wo ich zu meiner Ausarbeitung komme. Freilich klarer ist mir inzwischen der Plan immer noch nicht geworden.5 Wenn Sie nur im Herbst einmal herkommen, damit wir alles gehörig durchsprechen können. Sie müssen kommen. Meine Einth[eilung] hat Reimer doch nicht genau mitgetheilt. Der erste Artikel enthält alles über seine politische Thätigkeit, der zweite kürzere über Entstehung, Bedeutung u. Wirksamkeit seiner politischen Theorie (Verh[ältnis] ders[elben] zu Vinke,6 Dahlmann7 usw. d. h. neuen englischen Schule, ebenso dann zu den älteren Montesquieu’s, sowie zu Plato – Aristot[eles] u. bes[onders] dem Geist der antiken Politik.) Dann über seine Anfänge einer richtigeren Eintheilung der Verfassungen, über seine Wirkung in Bezug auf Stellung der Kirche u. Wiss[en]sch[aft] z[um] Staat u dgl. Dieser zweite Artikel wird nicht groß, etwa 1 Bogen vermuthe ich. Dagegen der erste mindestens

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Dilthey an Rudolf Haym

2 Bogen. Wann diese fertig werden, steht in der Hand des wettermachenden Zeus; denn von diesem hängt mein wirkliches Gesundwerden ab. Mein Mittelalter hat natürlich auch sehr gelitten, sodaß ich erst Anfang nächsten Semesters vorgehen kann. Ich überlege eben: auf erste Woche des August können Sie auch im besten Falle kaum mit Sicherheit rechnen. Ich bin zu matt und unfähig zu schreiben. Und ich kann auch gar nicht berechnen ob, wenn ich erst schreibe, dh. neu arbeite, der Aufs[atz] nicht auf 21/2 Bogen oder gar mehr (doch sicher nicht 3) anwächst. Da vermuthe ich nun, in Einem Heft mit Treitschke’s sehr großem Aufsatz würde das zu viel sein. Ja der zweite, der kann sich überall noch in einer Ecke niederlassen. Aber der erste wird sich mit einem Aufsatz von 3 Bogen etwa, wie wohl T[reitschke]’s ist, unbedingt nicht vertragen. Ich komme so auch aus der Gefahr dieser Nachbarschaft, die mich doch ängstigt.8 Übrigens habe ich T[reitschke] in Leipzig besucht und er hat mir außerordentlich gefallen. Wenn ich ein Mädchen wäre – wovor Gott sei – den würde ich trotz aller Harthörigk[ei]t9 heirathen. – Über Wilbr[andt] s[in]d Sie unrichtig berichtet. Er hat eine Reise nach Wien usw. mit seiner Gemahlin Senniora Eggers gemacht; kommt er zurück, so geht er bald darauf nach England auf 4.5 Wochen. Dann aber bleibt er hier fest. Inzwischen wird sein Buch über Kleist10 gedruckt. Der Fichtesche Brief ist wunderschön. Da schwinden alle erhabenen Phantasien über seine unbedingte Moralität. Den hatte er auch ganz vergessen, als er sich keiner Sünde seines Lebens erinnern wollte.11 Eine Rec[ension] des letzt[en] Vierteljahrs d[er] J[ahr]b[ücher] kann ich doch w[egen] des Schloss[er] kaum machen. Ich habe Schmidt drum gebeten, dafür zu sorgen. Er will’s auch; aber auch da bin ich wieder verhindert, ihn zu quälen, da das aussieht, weil er über den Schlosser so sehr günstig urtheilt, als wollte ich ihn zwingen, dies Urtheil zu publiciren. Über Polit[ica] ein andermal; denn der Kopf brennt mir schon wieder von diesem bischen Schreiben. Haben Sie Mitgefühl für mich u. bleiben Sie mir gut. Herzlich der Ihre Dilthey. Original: Hs.; ULB Sachsen-Anhalt, Halle, Haym-NL, Yi 23 IV D 4 i; Erstdruck: BDH, Nr. 9. 1

Die Datierung wurde vom Hg. von BDH vorgenommen. Auf der ersten Seite über der tiefgesetzten Anrede stehen Notizen für eine Antwort auf diesen Brief von der Hand R. Hayms: „[.|.|.] Bedaure weg[en] Unwohlseins. [–] Gratulire weg[en] Brinckm[ann] B[rie]fen [–] An dem Gesundwerden hängt das [–] Wegen Treitschke ganz recht 2

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Dilthey an Rudolf Haym

[–] D[an]k für die Nachricht über Wilbrandt[-]Red[aktion] der Jahrb[ücher].“ – Haym trug sich mit dem Gedanken, die Redaktion der PJ abzugeben. Dabei dachte er in erster Linie an D., in zweiter Linie an Wilbrandt. 3 Gemeint ist D.s Reise nach Leipzig, wo er sich mit seinem Vater und seiner Schwester traf. 4 Karl Gustav Brinkmann (1764–1847): Schriftsteller und Diplomat; schwed. Freund Schleiermachers. 5 Der Plan zur Schleiermacher-Biographie. 6 Friedrich Ludwig Wilhelm Philipp Freiherr von Vincke (1774–1844): preuß. Reformer. 7 Friedrich Christoph Dahlmann (1785–1860): Historiker und Politiker; zählt zu den „Göttinger Sieben“; 1813 a. o. Prof. für Geschichte in Kiel, 1829–1837 o. Prof. in Göttingen für Geschichte und Staatswissenschaften, 1842 o. Prof. in Bonn; Mitglied des Erfurter Parlaments und 1850 der preuß. Ersten Kammer. 8 Treitschkes Aufsatz Das Ordensland Preußen erschien im Augustheft der PJ, D.s Schleiermacher-Aufsatz im September 1862. 9 H. v. Treitschke war von Kindheit an schwerhörig. 10 A. Wilbrandt: Heinrich von Kleist. Nördlingen 1863. 11 D. bezieht sich vermutlich auf eine Edition von Briefen J.G. Fichtes: Achtundvierzig Briefe von Johann Gottlieb Fichte und seinen Verwandten. Mitgetheilt von M. Weinhold, in: Die Grenzboten. 21. Jg., II. Semester, III. Bd. (1862), S. 81–86, 121–140, 161–182, 217–230. – Haym hatte in den PJ 10, S. 92 ff. auf die Veröffentlichung von 48 Briefen von Johann Gottlieb Fichte und seiner Familie durch Moritz Weinhold hingewiesen.

[132] August R. Ch. de Wette 1 an Dilthey Basel den 9: August 1862 Vereehrter Herr und Freund! Bereits hatte ich Schleiermachers Briefe an De Wette2 hervorgesucht und deren Abschrift beginnen lassen, als ich Ihr verehrt[es] Schreiben vom 26: [letzten] M[onats] erhielt, das mich aufmuntert es zu thun. Seit einigen Tagen sind die Abschriften beendigt aber meine nächsten Pflichten haben mich verhindert, dieselben zu durchgehen und soweit ich dazu fähig bin, Kritik zu üben. Ich übersende Ihnen nun beiliegend die Abschriften, welche getreulich Alles enthalten, was wir besitzen und zwar sende ich es in Abschrift, weil ich einen Werth darauf setze, die Originalien zu behalten, diese aber unter der Hand des Setzers unvermeidlich leiden, die Originalien aber lege ich bei, weil ich mir kein genügendes Urtheil zutraue, namentlich in Beziehung auf einige Namen der Gelehrtenwelt, seinen Freund Hagenbach3 aber, dem ich die Kritik der Abschrift überlassen würde, noch für 8 od[er] 14 Tage abwesend, nach seiner Rückkehr übrigens mit Geschäften überhäuft ist. Ein anderer Grund noch bestimmte mich, die Originalien zu schicken, es ist der dass ich die Briefe von Frau Schl[eiermacher] nicht habe abschreiben lassen, diese aber für den Plan Ihres Buchs vielleicht passen. Sie erhalten also zu ganz freier Ver-

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August R. Ch. de Wette an Dilthey

fügung Abschrift u. Original nur mit der Bitte, mir letztere nach gemachtem Gebrauch wieder zukommen zu lassen. Ich sehe mich übrigens bei Durchgehung der Abschriften zu einigen Bemerkungen veranlasst, deren Würdigung ich Ihnen überlassen muss, auch habe ich leichterer Übersicht wegen da wo mir ein Zweifel aufgestoßen ist, das Wort mit einem Punkte bezeichnet. [.|.|.]4 Weitere Zweifel od[er] Bemerkungen geltend zu machen finde ich mich bei nochmaliger Lesung nicht veranlasst, allein demungeachtet möchte ich keine Verantwortlichkeit für irgend etwas übernehmen u. eben desswegen ist es besser, ich sende Ihnen wie schon gesagt die Originalien, die ich mir dann wieder zurückerbitte. Auch über die Ausdehnung des Gebrauchs erlaube ich mir kein Urtheil; es ist vielleicht Einzelnes in den Briefen, was besser nicht bekannt gemacht würde, weil nicht Jedermann die Briefe mit Wohlwollen lesen wird; mir bereitet ein[en] ungemeinen Genuss, sie zu lesen und recht gründlich zu lesen, damit mein Schreiber sie möglichst gut abschreibe. Und somit mögen sie dann werden und einen Theil bilden einer Korrespondenz eines ebenso merkwürdigen Mannes als ausgezeichneten Gelehrten. Was die Briefe der Frau betrifft, so bedaure ich ohne Weisung gelassen zu sein, ob ich sie soll abschreiben lassen; dieselben sind eben auch entzückend schön und würden gewiss manchem Leser noch mehr zusagen, als die von Schl[eiermacher] selbst. Ich [erbitte] dann die Originalien seiner Zeit zurück und schliesse mit der Bitte, uns Ihrer achtungswerthen Familie und namentlich der Mutter Reimer ins Gedächtnis zu rufen. Ihr ergebenster August De Wette Ich lege das Sonett bei, dessen im Briefe vom 5. März 1822 gedacht ist.5 Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 113, unpaginiert. 1

August Rudolf Christoph de Wette (1845– unbekannt); Sohn von W.M.L. de Wette. Wilhelm Martin Ludwig Leberecht de Wette (1780–1849): protest. Theologe; 1807 Prof. in Heidelberg, 1819 in Berlin, 1819 Entlassung, 1822 Prof. in Basel; seit 1817 mit Schleiermacher befreundet. 3 Karl Rudolf Hagenbach (1801–1874): Kirchenhistoriker; 1823 Habilitation in Basel, 1828 o. Prof. in Basel. 4 Es folgen Anmerkungen zu einzelnen Briefen von und an Schleiermacher und seine Frau, die hier nicht wiedergegeben werden. 5 Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. Bd. 4. Berlin 1863, S. 283 (Brief von de Wette an Schleiermachers Frau vom 29. Dezember 1821) und S. 292 (Frau Schleiermacher an de Wette vom 5. März 1822). 2

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Dilthey an seinen Vater

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[133] Dilthey an seinen Vater Bester Vater!

(Berlin, Anfang [September] 1862)1

Mit dem ordentlichen Brief, den Du nach Deinen eben erhaltenen Zeilen2 wünschst, das wäre ein Kunststück – und Du mußt Dich schon gedulden, bis ich in Thüringen sitze. Die ganze Brinkmannsche Correspondenz ist mir noch in den letzten Tagen in die Quere gekommen; Briefe von Schleiermacher an de Wette; die Abhandlung für Haym ist noch nicht fertig – ich habe Tag für Tag abends bis in die Nacht einen Schreiber, und da ich ihn einmal da habe, diktiere ich ihm auch um des leidigen Geldes willen Allotria, wie die „Laienbriefe“ in der protestantischen Kirchenzeitung und Allerhand in der Berliner Allgemeinen.3 Nun kommt gestern auch zu meiner großen Freude plötzlich Häußer aus Heidelberg bei mir zur Thür herein und die paar Tage, die ich noch da bin, will ich ihn doch auch genießen; ich esse Mittags mit ihm zusammen und trinke Abends nach 9 auch wohl noch ein paar Mal mit ihm zusammen. Ob ich so vor Sonnabend fertig werde, weiß der Himmel und mir ist doch nichts nöthiger, als daß ich fortkomme. Montag4 d[en] 8.ten Das Wasser vom Himmel will nicht enden; ich muß mich in Geduld fassen. Und die Einsicht ist nicht besser als die Aussicht. Ich selbst übellaunig, verstimmt, beinah traurig; die einzelnen Gedanken in dieser Stimmung sind gleichgültig, es ist eben die Farbe, die alles trägt. Auch Häußer bessert’s nicht. Ich esse mit ihm, geh mit ihm spatziren in Regen und Sonnenschein, wenn ich kann, bin ich auch Abends noch mit ihm. Er ist so gut und voll Theilnahme für mich, wie ich es nie gehofft hätte. Und er gehört, wie Du weißt zu den paar Menschen, bei denen mir daran wirklich etwas liegt. Aber mitteninne überkommt mich doch auch bei ihm Überdruß und Müdigkeit. Und diese politische Lage, die jedem, dem an Preußen etwas liegt, wie ein Alp auf der Seele liegt. Gestern Abend saßen hinter der Flasche zusammen: Häußer, Saucken-Julianfelde, Sänger,5 Fubel,6 Roepell,7 Julian Schmidt – alles von den entschieden gescheitesten und ernstesten Leuten – aus verschiedenen Fraktionen –: aber diese Art von Rathlosigkeit, in welcher jede Vernunft zwischen der Waldeckschen Majorität und der Regierung steckt, unfähig sich zu regen, ist bei allen gleich. Der unermüdliche Refrain: „wir gerathen in ein Chaos von Verfassungsauflösung“ – nichts mehr von einer Vorstellung über die Zukunft, von einem Plan. Ich mußte wieder an Schlosser denken, der den

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Dilthey an seinen Vater

klugen, überall tiefe Pläne witternden Historikern gegenüber das gesunde Gefühl hatte, daß unter allen menschlichen Schöpfungen keine im Ganzen durch so ungeschickte Hände laufe als der Staat und daß der gewöhnliche Zustand Gedankenlosigkeit sei. Wenn ich denke, was ich diese drei Jahre hier erlebt habe, so kommt er mir wie ein Optimist vor. Nicht als wären die Leute so einfältig; aber die Sachen, die Vergangenheit, die von Narren und Böswilligen großgezogenen Leidenschaften der Masse und der Großen sind für den bedeutendsten mittleren Verstand unüberwindlich. Es giebt in Europa kein Land, in dem mehr guter politischer Wille wäre als Preußen: und was ist das Produkt dieser Faktoren! Was hätte ich Dir alles von hießigen Verhältnissen zu erzählen, was ich zu schreiben nicht Zeit habe – und auch nicht darf. Auch aus persönlichen Briefen des Königs, die ich gesehn. Von mir selbst, wenn ich nicht so verstimmt bin. Du weißt, daß das nicht oft über mich kommt. Aber diesmal habe ich nur noch das einzige Gefühl: Veränderung, Bewegung, Ruhe von meinen Arbeiten, unter denen mir die liebsten zum Ekel sind. In dieser Stimmung mißräth mir der Aufsatz über Schleiermacher als Politiker völlig: ich fühle es nur zu genau. Etwa in 14 Tagen wirst Du die größere Hälfte, die im September-Heft der preußischen Jahrbücher erscheint, in Händen haben.8 Ich habe wenigstens den Trost, daß ich noch einmal Gelegenheit haben werde, es besser zu machen. Gott besser’ alles. Also nächstens, wenn ich in Freiheit bin und mich selbst wiedergefunden, auch die „preußische Politik“, deren Vergangenheit nach Droysen so tiefsinnig war – wo ist der Tiefsinn geblieben! – vergessen habe, schreibe ich gründlich. Dein Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck: JD, Nr. 73. 1 In JD ist der Brief datiert auf „Anfang Juli 1862“. – Da die Laienbriefe (s. Anm. 3) im August 1862 erschienen waren und D.s Schleiermacher-Aufsatz für die PJ noch nicht gedruckt war, wird der Brief Anfang September 1862 geschrieben worden sein. 2 Nicht überliefert. 3 Laienbriefe über einige weltliche Schriften. I. Weltliche und theologische Literatur. II. Gustav Freytag und seine „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“, in: Protestantische Kirchenzeitung9. (1862), Nr. 34 (23. 8.), Sp. 743–746; Nr. 35 (30. 8.), Sp. 759–768, gez.: „D“; WA in: GS XI, S. 57–70. – Rezension von: Die Kultur der Renaissance in Italien, ein Versuch von Jacob Burckhardt, in: Berliner Allgemeine Zeitung, 1862, Nr. 420; WA in: GS XI, S. 70–76. – Weitere Beiträge in der Berliner Allgemeinen Zeitung konnten nicht nachgewiesen werden.

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4 Dass der 8. Juli 1862 nicht, wohl aber der 8. September, auf einen Montag fiel und dass D. weiter unten an seinen Vater schreibt, dieser werde den Schleiermacher-Aufsatz etwa in 14 Tagen in den Händen haben, da er im Septemberheft erscheine, ist ein weiteres Indiz für die Datierung des Briefes auf den September 1862. 5 Nicht ermittelt. 6 Friedrich Fubel (1810–1893): Pfarrer und Politiker; Studium der Theologie und Philosophie in Halle, 1849–1854 und 1857–1863 Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses. 7 Richard Roepell (1808–1893): Historiker und Politiker; 1841 a. o. Prof., 1854 o. Prof. in Breslau, ab 1861 Mitglied des preuß. Landtags. 8 D.s Aufsatz Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit erschien in: PJ 10 (1862), S. 243–277 (erw. Fassung seines Vortrags vom 21. November 1861); WA (mit Kürzungen) in: GS XII, S. 1–36.

[134] Dilthey an Hermann Baumgarten Verehrtester Herr Professor! Ich gedachte, Ihren freundlichen Brief 1 zugleich mit der Übersendung eines Aufsatzes über Schleierm[acher]’s pol[itische] Wirksamkeit aus den preuß[ischen] Jahrbüchern zu beantworten. Nun kommt aber unser Freund Weber und erwähnt einer neuen Anregung der dortigen polytechnischen Angelegenheit, welche mich ein wenig in Bewegung bringt. So mag lieber der Aufsatz in einigen Tagen folgen. Weber ist freilich so wenig als ich über die genaueren Verhältnisse der Stelle unterrichtet. Anstände werden allerdings wohl vorhanden sein. Indeß warum sollten sich diese nicht durch beiderseitigen guten Willen beseitigen lassen? Die äußerste Grenze wäre freilich diese, daß ich in der Vorbereitungsschule keinen Religionsunterricht (den ich unter keinen Umständen erteilen würde, da ich aus Erfahrung vom Gymnasium weiß daß hierzu, soll er nicht zur Last werden, eine vorherrschende religiöse Richtung gehört) zu ertheilen brauchte und mein Unterricht überhaupt möglichst auf Geschichte concentrirt würde, ferner daß meine Hauptthätigkeit doch dem Polytechnicum zufiele. So gutes Zutrauen ich auf den Verlauf habe, da ich mich nach einer fruchtbaren lebendigen Thätigkeit unglaublich sehne: so könnte ich doch unmöglich Jahre lang in einer mir inadäquaten zersplitterten Thätigkeit in allerhand Schulgegenständen leben. Etwas Andres ist, sich in den Vorbereitungsclassen einen tüchtigen Stamm von in der Geschichte geschulten Polytechnikern zu bilden: – Darin ist Zusammenhang der pädagogischen Thätigkeit, wovor ich stets den größten Respekt habe. Für vorherrschende Schulthätigkeit würde ich alle Zeit preußische Gymnasien, in welche ich jederzeit zurücktreten könnte, vorziehn. Also nur wenn ich eine zusammenhängende, folgerichtige

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und ehrenvolle Thätigkeit am Polytechnicum u. zur Vorbereitung in meinen Fächern an der Vorbereitungsschule hätte: könnte ich vor mir selbst verantworten, wozu mich eine starke Neigung für Süddeutschland u. speciell für einige Menschen, mit denen ich dort in näherer Beziehung bleiben könnte, treibt.2 Noch einmal indeß mache ich Sie darauf aufmerksam, daß ich allerdings glaube bei einer solchen Anordnung, welche mich auf das Polytechnicum beschränkte und dort die nach dem Standpunkte mögliche Ausbildung im philosophischen Fach, vor Allem die Geschichte der Philosophie in ihrem Zusammenhang mit den anderen Wissenschaften und der Bildung mir mitübertrüge neben der zweiten historischen Stelle: daß ich bei einer solchen Anordnung am nützlichsten sein zu können glaube. Niemand kann selbst über seine etwaigen Fähigkeiten urtheilen. Aber es wäre doch möglich, daß ich auf den allgemeinen Geist u. die wirkliche Bildung der Polytechniker auf diesem Wege einen Einfluß von einigem Belang für das Ganze gewönne. Und Sie werden es natürlich finden, daß man eine Stellung wenigstens mit solchen Hoffnungen antritt: falls sich dann auch die Schwierigkeiten unüberwindlich zeigen sollten. Die Frage wäre also, ob irgend eine Aussicht auf das letztere wäre – was ich im Interesse der Sache noch mehr als in meinem eignen außerordentlich vorziehen und worauf ich ohne Weiteres eingehen würde. Sollte dies für den Augenblick nicht der Fall sein: so müßte ich Sie, falls jene oben angegebenen äußersten Grenzen gleich erreichbar wären, schon mit der Bitte plagen, mir das Nähere darüber freundlichst mittheilen zu wollen. Aber freilich wenn Sie mich, in der vielleicht zu einer solchen anregenden Thätigkeit besten Zeit des Lebens, und mitten in dem durch jahrelange Einsamkeit gesteigerten Bedürfniß nach Thätigkeit und Mittheilung mit meinen etwaigen Kräften vollauf nützen wollen: dann bitte ich Sie, nochmals zu überlegen, ob es nicht einen Weg giebt, mir eine reine Thätigkeit am Polytechnicum zu schaffen. Vielleicht vermag Herr von Roggenbach, sich dafür zu interessiren und Herr Professor Häusser greift vielleicht gern mit dem Ansehen seines Urtheils in die Sache ein. Sollten jene Grenzen freilich nicht einmal erreichbar sein: in diesem Falle würde ich Sie bitten, die Sache ganz ruhen zu lassen. Was Ihren freundlichen Heidelberger Plan betrifft, so wüßte ich freilich keinen Ort, wo ich lieber oder auch nur so gern lebte. Zumal ich für einen literarischen Lieblingsplan, der Reisen in den Ferien nach Frankreich u. Italien verlangt, dort auch besser säße, als hier in Berlin. Von der Freude, unter dieser Regierung u. mit solchen Freunden zu leben, sage ich nichts. Aber zunächst ist für die Schleiermachersche Biographie u. meine Studien der Philos[ophie] des zehnten u. elften Jahrhunderts, die ich zu Ende zu bringen mich

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sehne, Berlin der weitaus gelegenere Ort. Ist dann meine hießige Lehrthätigkeit u. das Urtheil über meine literarischen Leistungen der Art: dann giebt es ja immer ein Übersiedlungsmitel, einen außerordentlichen Einpaarhundertgulden-Professor aus mir zu machen. Nun dies vom Herzen ist, möchte ich Ihnen, verehrter Freund, noch Vieles schreiben, drängte die Zeit nicht zu sehr. Ich verspare es auf den nächsten Brief. Von den beiden Ex[emplare]n, die ich sende, sind Sie wohl, wenn Sie es schicklich erachten, so freundlich, Herrn von Roggenbach bei passender Gelegenheit eines zu übergeben. – Weber ist glücklich und heiter zurückgekehrt; die Erfurter Sache hat uns Allen große Freude gemacht.3 Häusser gedenkt zwischen Sonnabend u. Montag von hier abzureisen. Ob er nach Weimar geht, will er von seinen Arbeiten abhängig machen, wird aber weidlich dazu gedrängt. Gestern feierten wir Bismarck’s Ministerium4 mit einer langen Weinsitzung bis tief in die Nacht: Häusser, Haym, Prof. Röpell aus Breslau (ein wunderlicher Heiliger, der von der Breslauer Historie u. Politik einen gleich schlechten Begriff giebt), Julian Schmidt u. Weber – es wurden unterschiedliche heftige Tisch u. Nachtischreden über Nord u. Süddeutschland gehalten u. ein combinirter Angriff auf die versammelten Vertreter der constit[utionellen] Monats u. Tagespresse versucht. Weber war selbst vor Häusser im Vordertreffen u. hat sich sehr ausgezeichnet. Für Bismarck ist keine Parthei. Alle vagen Hoffnungen, welche auf ihn gesetzt wurden, schwinden mit seinem Zutritt zu den bisherigen Ministern. Die Sache ist genau, wie das vorige Mal: Sitzung der conservativen Fraktion des Minist[eriums], welche die „liber[alen] Elem[ente]“ – Heidt5 und Bernstorff 6 – hinauswirft; es liegt darin doch für diese eine ironische Rache des Schicksals. Heidt soll dem König einen sehr entschiedenen Brief geschr[ieben] haben, daß er von Anfang [an] erklärt hätte, nicht ohne Budget die Finanzverwaltung zu führen; wenn er hofft, was er sehr wünscht, so noch einmal populär werden zu können, so täuscht er sich gröblichst. Ich weiß nicht wie Rößler,7 der getreue Bismarckite, jetzt denkt. Sicher aber würde jeder Versuch, jetzt eine große Politik mit ungelöster Militärfrage zu machen, auch die Sympathie des phantastischsten Politikers nicht haben. Vincke war kein Antrag geschehen; die Gerüchte waren unwahr. Bismarck hat ihn garnicht gesehn u. Vincke sich über B[ismarck] scharf ausgesprochen. Häussers Notizen über B[ismarck] wirken sehr heilsam auf Julian Schmidt u. Haym. Dieser letztere ist – unter uns gesagt – hier, mir auch wo möglich d[ie] Jahrbücher abzutreten. Aber wer könnte diese Last von Verantwortung zugleich auf sich nehmen, der noch irgend freien Sinn für seine Arbeiten übrig behalten will? Ich habe ihm eine Triasidee entwickelt, für welche nur einer der die politische Abth[eilung] übernähme schwer zu finden wäre. Er wird

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wohl diesmal noch nicht davon kommen, so sehr er sich sehnt, einmal wieder für eigne Arbeiten Raum zu gewinnen. Es thut mir für Reimer gar zu leid, daß auch dies Unternehmen nicht gehörig rentiren will. Über Ägidi’s Lieferungen8 ist er auch in Verzweiflung u. sehnt sich nach dem Ende des Deficits dieser Sache – ganz unter uns. Dieser übrigens, mit seiner etwa noch einmal so großen Frau – eine ostpreuß[ische] Gestalt, mit starken Zügen, lauter Stimme, phlegmatisch u. entschiedener Haltung – er wie ein Wiesel um sie thätig – ist ein wundersamer Anblick. Bei nächster Gelegenheit über hießige Verhältnisse Gründliches. Darf ich Sie bitten, mich Ihrer Frau zu empfehlen, falls sie sich nicht zu dunkel meiner erinnert? Ihr ergebenster Dilthey. Berlin, Behrensstraße 31, 2 Tr[eppen] – d[en] 24 Sept[ember] Original: Hs.; BA Berlin, NL Baumgarten, N 2013, Bl.18–20 R.; Erstdruck: BDH, Nr. 9 a. 1

Nicht überliefert. Baumgarten lehrte derzeit (bis 1872) am Polytechnikum Karlsruhe Geschichte. 3 M. Weber sen. wurde für sieben Jahre besoldeter Stadtrat in Erfurt. 4 Otto von Bismarck (1815–1898) wurde am 23. September 1862 zuerst interimistisch, am 8. Oktober dann endgültig zum preuß. Ministerpräsidenten und Minister des Auswärtigen ernannt. 5 Von der Heydt war von März–September 1862 preuß. Finanzminister. 6 Albrecht Graf von Bernstorff (1809–1873) war von Oktober 1861 – September 1862 preuß. Außenminister. 7 Konstantin Rößler (1820–1896): Philosoph, Staatswissenschaftler und Publizist; 1857 a. o. Prof. der Philosophie in Jena, seit 1860 als Publizist in Berlin lebend. 8 Ludwig Carl Ägidi (1825–1901): Staatsrechtler, Publizist und Politiker; 1857 Prof. der Rechte in Erlangen; 1859–1868 Prof. der Geschichte am Akademischen Gymnasium in Hamburg, Mitarbeiter an den PJ. – Gemeint ist wohl das Staatsarchiv, das Ägidi seit 1861 herausgab. 2

[135] Dilthey an Adolf Wilbrandt Lieber Freund! Ich schreibe in Eile u. daher nichts davon, wie sehr wir Dich hier Alle vermissen, sondern nur zur Sache. Haym will die Red[aktion] d[er] Jahrb[ücher] abgeben u. eine collegiale[?] Redaktion von etwa 3 nach Fächern ist in Frage gekommen. Dabei bist Du dann natürlich mit in Rechnung gezogen; meine mögliche Mitwirkung – sie

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hängt auch vom Urtheil meines Vaters ab – habe ich ganz davon abhängig gemacht, daß Du mit von der Parthie bist. Die Jahrb[ücher] sollen auf breiterer polit[ischer] Grundlage – mit Herreinnehmung von Sybel – der dazu bereit ist – u. Twesten – der den Moment abwartet – constituirt werden. U. zwar vom 1 Jan[uar] ab. Sodaß freilich Eile in der Anordnung Noth ist. Weisest Du also die Sache, wie doch sicher zu hoffen, nicht ganz von der Hand, so lasse dies u. wann Du nach Berl[in] kommst, mich wissen. Haym will dann zur Besprechung nach Berlin kommen. Ich bin in Umzugsnöthen (Charlottenstraße 51. 3 Trepp[en]) u. eben von der Reise gek[ommen]. Entschuldige also meine Flüchtigkeit u. gieb mit einer Zeile Bescheid Dein[em] getreuen Dilthey 14 October [18]62 Original: Hs.; ÖStA Wien, Wilbrandt-NL, K 3, fol. 809.

[136] Rundschreiben Rudolf Hayms an Georg Ernst Reimer, Wilhelm Wehrenpfennig, Wilhelm Dilthey – nebst Diltheys Antwort1 Herrn Georg Reimer, Herrn Dr. Wehrenpfennig, Herrn Dr.2 Dilthey teile ich angebogen einen Brief von Häusser in Sachen der den Pr[eußischen] Jahrb[üchern] zugedachten Redaktionsreform mit. Indem ich meinerseits bemerke, daß ich nur mit dem Urteil nicht einverstanden bin, das in dem Briefe Gneist3 angesonnen wird, ersuche ich die oben bezeichneten Herren um sofortige, möglichst umgehende Begutachtung der Häusser-Sybelschen Propositionen, damit ich bei meiner demnächstigen Antwort auf den H[äusser]schen Brief des Einverständnisses mit Ihnen sicher sei: Es kömmt, scheint mir, bei den Heidelberger Vorschlägen, wesentlich auf das hinaus, was wir am 13. in Berlin mündlich besprochen haben. Namentlich wird Twesten’s Mitbetheiligung ja gewiß erst nach dem Zusammentritt des Abgeordnetenhauses sich entscheiden u. erreichen lassen. Halle, 18. Nov[em]b[e]r 1862.

R. Haym.

[Diltheys Antwort] In Bezug auf Gneist bin ich völlig Sybels Meinung; das Vorurtheil gegen Leute wie Simson4 und die von außen zurechtgemachten Kategorien für die-

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Rundschreiben Rudolf Hayms an Georg Ernst Reimer, .|.|.

selben schwindet am gründlichsten, wenn man sie mit andren entschieden Constitutionellen – was Gneist durchaus ohne Schwanken geblieben ist –, die einen andren Weg politischer Praxis eingeschlagen haben, zusammenwirken sieht; inwieweit ich die herrschende Ansicht über Gneist’s poli[tischen] Charakter nicht theile: darüber glaube ich mit Ihnen gesprochen zu haben. – Was die Form der Teilnahme betrifft, so scheint mir die Entscheidung drüber, wie Ihnen und W[ehrenpfennig] erst nach Zutritt von Leuten wie Twesten möglich, da für diese die Entscheidung wohl am häßlichsten sein wird. Ich bemerke noch, daß der Zutritt von Gneist wohl Twesten den seinigen sehr erleichtern dürfte.5 Dilthey. Original: Hs.; ULB Sachsen-Anhalt, Halle, Haym-NL, Yi 23 V 181 b; Erstdruck: BDH, Nr. 10. 1 Die dem Original auch beigelegten Antworten von Reimer und Wehrenpfenning sind hier nicht wiedergegeben. 2 D. war derzeit noch nicht promoviert. 3 Heinrich Rudolf Hermann Friedrich Gneist (1816–1895): Rechtswissenschaftler und liberaler Politiker; 1844 a. o., 1858 o. Prof. in Berlin, 1858 Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses, Mitglied des Norddeutschen Bundes und des deutschen Reichstages, ab 1867 führendes Mitglied der Nationalliberalen Partei. 4 M.E. von Simson war damals Richter und Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses. 5 Zur Frage der Redaktionserweiterung der PJ vgl. Brief 138 sowie BDH, S. 27, Anm 1.

[137] Karl Dilthey an Dilthey (Bonn, November 1862)1 Ich arbeite fleißig, d.h. ich bin am Niederschreiben, wobei sich aber erst eine Masse von Schwierigkeiten u. Lücken des gesammelten Materials herausstellte. Das bloße Suchen verschlingt die meiste Zeit; um einer Quisquille willen, die aber der Zusammenhang erfordert, wälzt man Dutzende von Büchern durch, und das ermüdet entsetzlich. Dazu bringts der Stoff mit sich, daß ich per saturam die diversesten Sachen vornehmen muß; man wird der Arbeit ansehen, daß ich mir’s nicht leicht gemacht habe; wenn nur nicht zu sehr! – Von dieser Art von Handwerksklapperei habt ihr Historiker doch keinen Begriff. Aber es ist doch am Ende so in der Ordnung.

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Über den anonymen Aufsatz in der historischen Zeitschrift, den ich bereits gewürdigt habe, kann ich Dir bis jetzt nur Vermutungen mittheilen. Es scheint mir fast sicher, daß er entweder von dem braven Maurenbrecher2 oder was wahrscheinlicher von Dr. Bernhardt (der eben über Diocletian geschrieben)3 abgefaßt ist. Maurenbrecher hörte ich vor längerer Zeit ganz ähnliche Gedanken über Schlosser und Gervinus aussprechen, in der Kneipe, und stritt damals mit ihm hierüber – es war vor Erscheinen Deines Aufsatzes. Auch damals sprach er besonders von Gervinus’ Stolz und Eitelkeit u. wollte sich besonders über d[en] Schluß des Nekrologs4 nicht beruhigen, der – was beiläufig elendes Missverständnis – seinen souveränen Hochmuth klärlich beweise. Natürlich redete aus ihm nur der im Namen der heutigen Geschichtsschreibung gekränkte Meister. Und das breite leere Gewäsch wäre dieses kindischen und unreifen Menschen ganz würdig. Nun spricht aber dagegen, daß M[aurenbrecher] schon seit länger als einem Vierteljahr in England u. Spanien abwesend ist. – Dr. Bernhard, der mir vom philologischen Verein her wohlbekannt, wo er unter der Schaar unbedeutender Menschen einer der Unbedeutendsten war, damals Mädchenschullehrer, jetzt provis[orischer] Redacteur der Sybelschen Z[ei]tsch[rift].5 Für dessen und M[aurenbrecher]’s Abwesenheit, ist wohl für Dich eine unbekannte Größe. Auf ihm wird’s wohl sitzen bleiben. In seinen Mund paßt mir der Aufs[atz] mit seiner schulmeisterlichen gedehnten Weisheit noch besser; Bernhardt so gut wie Maurenbr[echer] sind ja doch nur Trompeten oder besser Maultrommeln von Sybel. .|.|. Ein paar gesunde Gedanken scheinen sich mir auch, wie das Thema für einen Schüleraufsatz, aus dem elenden Machwerk herauszuheben. Wenn ich nun diesem Edlen, der mir ohnedem seit der gewaltsamen Auflösung des Philol[ogischen] Vereins, die ich durch meinen Austritt veranlasst, nicht recht grün ist, selbst geradezu fragte, bekäme ich natürlich keine rechte Antwort. Ich hab also Wachsmuth, der als Mitarbeiter engagirt ist, hinter ihn geschickt, u. werde bald Sicheres zu vermelden haben. – Daß dem Guten Deine Philosophie unklar geblieben, darf nicht auffallen. Was die Frage wegen der Preuß[ischen] Jahrbücher betrifft, Lieber, so glaub ich nicht, daß Du in Deinem Vortheil handelst, wenn Du darauf eingehst; daß die Leute, die Du nennst: Sybel, Twesten, Häußer sich vernünftig und dauernd zusammenfinden können, bezweifle ich sehr. Sybel ist, soviel ich sehe, doch zu momentan u. praktisch in seiner Politik, als daß sich da so viel von Standpunkt sagen ließe, wie man es zu solchem Zweck wünscht, bes[onders] in solcher Zeit der Krisis. Twestens politischer Standpunkt ist mir dermalen überhaupt unbekannt, und manchem Andern gehts damit hier ebenso. Wenn diese Zusammensetzung überhaupt zu Stande käme, würde sie, glaub ich, eine Quelle endloser Verstimmungen sein. –

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Du hast ohne Zweifel überlegtere u. tiefere Gründe für Deine politischen Überzeugungen, wie ich für die meinen; aber damit ist mir’s eben doch nicht ermöglicht, die meinen gegen Deine zu vertauschen. Und nach diesen, die sich, glaub ich, in mir befestigen u. vertiefen, aber nicht wesentlich verändern werden, hab ich überhaupt an der Sorte Politik der Preuß[ischen] Jahrbücher wenig Freude, wie an der ganzen esoterischen politischen Verwicklung. [Briefschluss fehlt.] Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript mit handschriftlichen Korrekturen und Ergänzungen von G. Misch ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o. 1

Datierung von der Hand G. Mischs. Karl Peter Wilhelm Maurenbrecher (1838–1892): Historiker; 1862 Habilitation in Bonn bei H. v. Sybel, 1867 Prof. in Dorpat, 1869 in Königsberg, 1877 in Bonn, 1884 in Leipzig. 3 Theodor Bernhardt (1837–1870): Historiker; ab 1863 PD in Bonn. – Diokletian in seinem Verhältnisse zu den Christen. Eine geschichtliche Untersuchung. Bonn 1862. – Anonym erschienen: Zur Beurtheilung Friedrich Christoph Schlosser’s, in: Historische Zeitschrift 8 (1862), S. 117–140. – Vgl. hierzu D.: Friedrich Christoph Schlosser, in: PJ 9 (1862), S. 373–432; vgl. hierzu GS XI, S. 104–164. 4 Gemeint ist Gervinus’ Schlosser-Nekrolog. 5 Die Historische Zeitschrift wurde 1859 von H. v. Sybel begründet. 2

[138] Dilthey an seinen Bruder Karl (Berlin, Ende November 1862) Herzlichen Dank, liebster Karl! für Deine Geburtstagswünsche und Geschenke! Dergleichen hilft einem über diesen schlechtesten Tag des Jahres weg. Deine Photographie, obwohl schwarz angelaufen, hat mir große Freude gemacht: ich hatte sie eine Woche vor mir liegen, eh’ ich sie nun in’s Album einsperrte. .|.|. Mit meiner Arbeit geht’s langsam, da zugleich die systematischen Fragen mich plagen. Ich habe jetzt eben einen Entwurf einer Art Wissenschaftslehre täglich einige Stunden unter Händen. Der Antischlosser ist von einem gewissen Norden.1 Ich habe kein rechtes Gefühl davon, ob etwas in der Sache zu thun wünschenswerth, nachdem sicher ist, daß niemand von Belang dahinter steckt. Einfach die Einstellungen aufzählen – giebt eine förmliche Antikritik, die ich hasse. Auf die von jenem

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angeregten Themata mich einzulassen – denn er ist es, der Eine Art von Geschichtschreibung charakterisiren will als die normale, ein armseliger Schulstandpunkt! – ist mir zuwider, da diese Redereien leeres Stroh sind. Auf mein Thema – die Genesis und Grundzüge von Schlossers geschichtlicher Ansicht – abermals zurückzugehn, würde mehr Zeit kosten als ich habe. Schreibe, wie Du darüber denkst. Im Nothfall setze ich 8 Tage dran. Ich lebe einsam, wie seit lange – innerlich noch viel mehr als äußerlich. Einen Menschen, den ich rückhaltlos lieb hätte, habe ich hier gar nicht. Aber ich muß auch sagen, daß ich mich nicht darum bemühe, da ich ein Bedürfniß der Sammlung und des Ziehns der Resultate nach so langem Umherschweifen habe, das jede andre Neigung überwiegt. Möchte ich Dich bald hier haben; denn Du würdest ohne überflüssige Reflexionen und Debattirkram über die Sachen mit mir reden können. In der Politik denke Dich nicht zuweit von mir. Noch neulich als von Gründung eines constitutionellen Clubs die Rede war, erklärte ich, mit den Altliberalen in keinen gemeinsamen Club zu treten, in welchem sich nicht wenistens Leute wie Twesten befänden. – Bei einem neulichen Circulär von Häußer-Sybel – worüber völlig Schweigen natürlich bitte – über die Preußischen Jahrbücher, das Haym, Wehrenpfennig und ich bekamen – ich qua möglicher künftiger Mitredakteur, falls ich nämlich Zeit habe und frühestens von Ostern ab, und falls ich mich über das Geschehende mit den Betr[effenden] verständigen kann – war von Gneists Zutritt zu den Jahrbüchern die Rede, welches Sybel sehr wünschte. Haym entschieden dagegen, Wehrenpfennig zweifelhaft, ich unbedingt dafür. Freilich habe ich leicht urtheilen, daß eine Partheibildung, die in der wirklich politischen Lage keine Basis hat, sondern nur in einer Historie thörichter Reibereien, von den Jüngeren nicht acceptirt werden darf: die alten Herren haben einmal ihren Grimm und zählen an allen Fingern historische Gründe dafür auf. .|.|. Laß bald von Dir hören. Deine Briefe sind mir stets für den ganzen Tag Erheiterung. Dein Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 74. 1 Karl von Noorden (1835–1883): Historiker; 1863 Habilitation in Bonn, 1868 o. Prof. in Greifswald, 1870 in Marburg, 1873 in Tübingen, 1876 in Bonn, 1877 in Leipzig.

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[139] Karl Dilthey an Dilthey (Bonn, Dezember [18]62) Liebster Wilhelm! Du erhälst hierbei ein Exemplar meiner opera omnia,1 nebst einem nunmehr wirklich trefflichen Bildniß des Verfassers. Ich habe Dir das Beste augesucht, u. Du magst es nun in Deinem Album an die Stelle des ersten treten lassen. – Ist denn gar keine Hoffnung, Dich Weihnacht zu Hause zu finden? Es wäre prächtig, u. sie können dort etwas Aufheiterung u. Zerstreuung so wohl brauchen. Ich werde wenig leisten können, ich bin herzlich abgetrieben u. etwas angegeriffen von dieser hastigen Arbeiterei, d.h. Schreiberei; u. doch ist’s mir nicht möglich, so weit ich sehe, ehe ich nach Hause gehe, fertig zu werden. Die Haare könnten sich mir einzeln in die Höhe stellen, – aber es hilft Nichts. Ich habe zu Haus noch einmal angetippt, wegen Deines Kommens, des mangelnden Geldes usw., da Du doch selbst gerne kämest. Ob’s was geholfen weiß ich nicht. – Den Möser2 will ich auf Buchhändlerweg nach Berl[in] schicken. .|.|. Weißt Du, dass Usener wahrscheinlich nach Greifswald kommen wird als ordinarius?3 Concurrent ist Bücheler,4 der unter andern Umständen wohl das prae hätte, sich aber in folge seiner neulichen Catullrecension (Lachmann5 – Haupt6) die ganze mächtige Clique der Lachmannanbeter verfeindet hat, besonders Jahn und Haupt, mit allem was drum und dran hängt. Sollt ich Dich also zu Hause nicht sehen, so halt gute Feiertage, u. nimm im Voraus mein bestes Prosit Neujahr, das ich habe. – .|.|. Ich bin begierig wie sich’s mit den Preuß[ischen] Jahrb[üchern] machen wird. Mit Hin- und Herschreiben kommt man dabei doch nicht weiter. Könnten wir drüber reden. Herzlichsten Gruß von Deinem tr[euen] Br[uder] Karl Original: nicht überliefert; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o: maschinenschriftliches Transkript mit wenigen handschriftlichen Korrekturen. – Am oberen linken Rand die Notiz von G. Misch: „fällt fort“; das Transkript ist durchgestrichen, der Brief wurde nicht in JD aufgenommen. 1 2 3

Ein Schriftenverzeichnis Karl D.s liegt dem Tyopskript nicht bei. Um welches Werk J. Mösers es sich handelt, ist nicht zu ermitteln. H. Usener erhielt 1863 einen Ruf nach Greifswald.

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4 Franz Bücheler (1837–1908): klass. Philologe; 1858 a. o., 1862 o. Prof. in Freiburg, 1866 in Greifswald, 1870 in Bonn. 5 Karl Konrad Friedrich Wilhelm Lachmann (1793–1851): Philologe; 1825 a. o., 1827 o. Prof. in Berlin. – Lachmanns Catull-Ausgabe war 1829 erschienen. 6 Moritz Haupt (1808–1874): Philologe; 1841 a. o., 1843 o. Prof. für deutsche Sprache und Literatur in Leipzig, 1853 Prof. in Berlin (Nachfolger Lachmanns). – Seine Catull-Ausgabe war 1853 erschienen.

[140] Dilthey an seinen Bruder Karl (Berlin, vor Weihnachten 1862) Herzlichen Dank, liebster Karl; für das sehr gute Portrait Deines äußeren Menschen, das fragmentum Deiner Werke und Deinen Brief. .|.|. Die Arbeit thut freilich das ihrige, daß man so etwas von einem Egoisten wird. Denke Dir, ich schreibe jetzt in den ersten Morgenstunden Grundzüge von Geschichte und System der Wissenschaftslehre seit einigen Tagen und rechne dabei sehr auf die Feiertage. Auch für den Schleiermacher wird vieles reif; eine harte Nuß ist nur noch eine Kritik seiner Kritik der Ethik und des auf diese gebauten Systems. Besonders seine Entdeckung eines dreifachen systematischen Zusammenhanges von Güterlehre, Tugend- und Pflichtenlehre, die man für unantastbares Axiom seitdem hielt, ist Fundament seiner Irrtümer, wie ich glaube. Diese wollte ich neben dem ersten Bande der Biographie für die Leute vom Fach herausgeben und die Kritik seiner Methode und ihrer Begründung in der Dialektik hineinflechten, zumal Ueberweg diese repristinirt hat. Der 4. Band Briefe, der mir so fertig schien, macht beim Druck (10 Bogen gedruckt) doch immer noch viel Arbeit, besonders Laufen zur Bibliothek. – Meine Hauptarbeit ist natürlich die Dissertation und ich hoffe Anfang Februar fertig zu sein. Ich scheue mich, problematische Dinge hinein zu bringen, bevor ich nicht die Pariser Manuscripte durchgesehn habe; ihr geheimer Mittelpunkt wird wohl nicht ein bestimmter Gegenstand der Geschichte der Philosophie des 10. 11. Jahrhunderts, sondern die Polemik gegen Prantl’s Behandlung dieser Zeit.1 Aber nicht in der Manier des Sarisburiensis Schafschmidtius, der doch wirklich ein höchst komischer Patron ist.2 Die Hauptsache ist, etwa dadurch Geld vom Cultusministerium zu erhalten, im Herbst auf 3 Monate nach Paris zu gehn, um die Vorarbeiten für die Geschichte selber womöglich zu beenden. Wenn nur erst einmal der Schleiermacher zu Stande gebracht ist und ich damit aus der Vielthuerei heraus!

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Dilthey an seinen Bruder Karl

Mögest Du den Vater erheitern in diesen schlechten Zeiten. Und halt Dich selbst gesund, lieber Junge, mit allen Kräften. Wir werden’s noch nöthig haben, wenn die Firma „Gebrüder Dilthey“ in die Höh’ kommen soll, wie sie schlechterdings muß, wenn Gott das Leben erhält. .|.|. Laß mich über zu Hause von Dir getreuen Bericht haben, auf den ich mit Schmerzen warte. Dein Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 75. 1 Carl von Prantl (1820–1888): Philosoph; 1847 a. o. Prof. in München, 1854 o. Prof., zuerst der Philologie, dann der Philosophie. – C. Prantl: Geschichte der Logik im Abendland. 4 Bde. Leipzig 1855–1870. – Nach Angabe von C. Misch war der 1861 erschienene zweite Band dieses Werkes, neben einer damaligen Augenerkrankung, der Hauptgrund dafür, dass D. seine Arbeit über die Anfänge der Scholastik nicht abgeschlossen hat (vgl. JD, S. 312, Anm. 84). 2 D. nimmt Bezug auf Carl Schaarschmidts 1862 in Leipzig erschienene Schrift: Johannes Saresberiensis nach Leben und Studien, Schriften und Philosophie.

[141] Dilthey an Bernhard Scholz [Vor Weihnachten 1862.]1 Du wirst lieber Freund! böse genug auf mich sein, daß ich Dich so lange ohne Antwort ließ. Obwohl Dir schon recht geschieht, weil Dein Brief 2 so dürftig u. knapp war, daß mir gar nicht so zu Muthe war, als ob das Antworten an mir sei. Doch freilich über die Oper. Aber über diese weiß ich nichts Rechtes zu sagen. Der Stoff scheint sehr vortrefflich u. es kann unmöglich eine große Aufgabe sein, draus einen Text zu schneidern.3 Nach allem hat dies Rodenberg bei der Bott’schen Oper recht gut gemacht,4 obwohl hierüber eben die Berl[iner] Z[ei]t[un]gen so urtheilten – Freunde R[odenberg]’s. Von Roquette5 ist nichts zu bekommen. Aber ohnehin schiene mir das Rechte, daß Du Dich an einen oder den andren der Münchener Poeten wendetest, die ja massenhaft u. sehr lyrisch dort existiren. Besser würde mir freilich ein selbst erfundner Stoff gefallen, da doch an nicht wenigen Orten die B[raut] v[on] M[essina] im Schauspiel gegeben wird u. an allen die Spannung durch die Bekanntschaft der Hörer mit dem Süjet wegfällt.

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Dilthey an Bernhard Scholz

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Von mir ist absolut nichts zu berichten, als daß ich sehr wohl, sehr glücklich, sehr in meiner Arbeit bin – mich um sonst nichts kümmre zwischen Himmel u. Erde. Gott segnet jeden einmal mit einer Zeit wo ihm ist, als fielen ihm die Früchte in den Schooß, während er lange sich vergebens zu mühen glaubte. Ob nun die Früchte reif oder welk, wird so Gott will das kommende Jahr ja zeigen. Ohnehin treibt jeden die odiöse politische Lage in sich hinein, vorläufig dort Trost zu finden gegen die ungewissen Wolken die am Horizont hängen. Sollen die Regenmonate kommen, so will man wenigstens ein sichres Daheim haben. Und des geselligen Treibens wird man täglich müder; es ist eine fingirte Welt die nur reizt, bis man der Coulissen ansichtig wird u. so bemerkt, daß alles gemalt ist. Um so herzlicher gedenkt man der Freunde und ich freue mich sehr der Zeit – die sich freilich noch lange nicht vorausberechnen läßt – wo ich die neue Fremdenstube des Hannoverschen Capellmeister’s werde versuchen dürfen. Diesen Herbst waren wir wahrscheinlich gleichzeitig in Dresden, wie ich nachher aus den Zeitungen sah. Ich war dort zur Zeit der Aufführung – ich denke eines Gluckschen Stücks im Mozartton.6 Und Deine Frau schreibt mir nicht einmal eine Zeile? Bin ich ganz vergessen? Sie hat sich wahrhaftig selber um einen großen Weihnachts oder Neujahrsbrief gebracht u. mag nun zusehn, wie sie jemandem, der – in tausend Dinge verstrickt – ihr so treulich schrieb, wieder einen Brief entlockt. Laß bald ordentliches von Dir hören, liebster Freund! damit Du einen ordentlichen Brief verdienst. Und hab heitre Feiertage u. gedenke meiner in Liebe – Du u. Deine Frau. Grüßt die kleine Cantatrice u. auch große, an deren Zimmer am Rhein ich noch mit Vergnügen zurückdenke empfiehl mich, am meisten aber meinem Pathen, den ich bald sehn muß. Dein Wilhelm D. Was macht denn Glaser?7 Ich seh immer nur in den Zeitungen daß er alles Mögliche aus seinem Füllhorn schüttelt: Geschichten, Romane, Novellen. Will er sich denn gar nicht verloben? Grüß ihn herzl[ich], wenn Du ihn die Feiertage siehst. Original: Hs.; HLB Wiesbaden, Hs 341 (15); Erstdruck: BDSch, Nr. 15. 1 2

Die Datierung wurde von der Hg. von BDSch vorgenommen. Nicht überliefert.

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Dilthey an Bernhard Scholz

3 Scholz trug sich mit dem Plan, eine Oper Die Braut von Messina zu komponieren, der jedoch nicht realisiert wurde. 4 Zu der Oper Actäa, das Mädchen von Korinth von Jean Joseph Bott schrieb Julius Rodenberg den Text. Sie wurde am 11. April 1862 in Berlin uraufgeführt (vgl. BDSch, S. 55, Anm. 3). 5 Roquette war seit 1862 Prof. für Literaturgeschichte an der Kriegsakademie in Berlin. 6 Vgl. hierzu BDSch, S. 56, Anm. 2: „Im Herbst 1862 stellte die Dresdner Hofoper vergleichende Versuche der Orchesterstimmung an und brachte mehrere Stücke in sogenannter ‚Mozartstimmung‘, d. h. in der Wiener Orchesterstimmung zur Zeit Mozarts, die etwa um einen halben Ton tiefer liegt als die Dresdner Orchesterstimmung angegebener Zeit. So wurde am 28. September Glucks Iphigenie in Aulis in dieser früheren, tiefen Stimmung gespielt. Daneben war im Plane Glucks Armida vorgesehen. Unter den Kapellmeistern, die der Einladung der Dresdner Generalintendanz zu diesen Versuchen gefolgt waren, befand sich auch Bernhard Scholz. Vgl. Neue Zeitschrift für Musik, Bd. 57, S. 71, 115, 126–134.“ 7 A. Glaser war seit 1856 Redakteur von Westermanns Monatsheften und daneben schriftstellerisch tätig.

[142] Dilthey an seine Eltern und Geschwister [Berlin, nach dem 28.12. 1862]1 Glückliches neues Jahr, Ihr Liebsten! und möge uns der Himmel allesamt gesund erhalten, das Mosbacher Pfarrhaus u. uns in der Fremde. Wir können Gott nicht dankbar genug sein, daß doch seit Jahren unser Haus von schwerer Krankheit frei blieb – wo geschieht das sonst sieben Menschen so leicht! Eure Briefe2 habe ich bekommen, zuerst den mit dem Weihnachten, wofür ich insbesondere der Tante meinen herzlichsten Dank sage; das Geld thut mir sehr gut. Und eben jetzt Eure Antwort, die mir Eure Weihnachtstage beschreibt. Wie oft wünschte ich mich zu Euch, u. auch Euch manchmal hierher. W[eihnacht]s Ab[en]d war ich mit Veits bei Wehrenpf[ennig]’s, wo der kleine Junge ganz allerliebst war u. wir andren um einen mächtigen Baum u. dann um eine große Gans kindisch vergnügt. Schenkte eine neusilb[erne] Thékanne u. bekam eine mir höchst angen[ehme] wollene Decke. Ersten Feiertag Abends bei Wehr[enpfennig]’s große – Kindergesellschaft; in der wir uns herumtrieben: Regierungsrath Hobrecht3 u. Frau, Julian Schmidts u. ich. Zweiten Feiertag bei Veits zu Tisch, mit Profess[or] Ad[olf] Schmidt4 aus Jena und Legationsrath Meyer5 zusammen. Abends bei Julian Schmidts. Sonntag bei Schulrath Kießling zu Tisch u. bei Geh[eim]rath Riedels zu Abend – dies das Allerschönste; Tempeltey aus Gotha da u. wir, wie vor Jahren, auf einem kleinen Eckkanapee der Musik zuhorchend, mein lieber Freund Riedel zum letzten Mal so unter uns, bevor er in sein eignes Haus geht: wir waren alle sonderbar aufgeregt u. werden den Abend schwerlich vergessen. Ich hatte

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Dilthey an seine Eltern und Geschwister

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die Resignation, zu erklären, daß ich nicht mit nach Rostock kann. Zwischeninne habe ich mit Anstrengung gearbeitet. Nun ist’s auch mit den Festtagen überstanden; nur Morgen noch zu Tisch bei Wehr[enpfennig]’s mit Ad[olf] Schmidt u. Veits u. Abends bei Nitzschs Gesellschaft, wo – zwei Bräute präsentirt werden. Die ältere der beiden Töchter, von der ich Euch schrieb, daß ich sie nach ihrer schwermüthigen Zeit neulich wiedergesehn, hat jetzt ihre Verlobung mit ihrem Vetter, Oberl[an]desg[erichts]advokaten Nitzsch in Kiel erklärt. Die Sache war nemlich so (ganz unter uns): sie war mit einem Sohne von Julius Neuber6 vor mehreren Jahren verlobt, da überfiel sie der Gedanke, daß sie die Ihrigen verlassen müsse usw.: kurz sie ward schwermüthig u. die Verlobung rückgängig. Nun vor 3/4 Jahren verlobte sie sich mit diesem ihrem Vetter u. ward abermals so von dem Ged[anken] an den b[e]v[or]steh[en]den Wechsel aufgeregt, daß sie in eine neue, diesmal eine religiöse Schwermuth verfiel. Nun endlich, da sie sich gefunden hat, wird die Verlobung deklarirt u. sie werden wohl die Hochzeit bereiten, damit nicht wieder ein Rückfall eintritt. Dann wird sich der älteste Sohn zum zweiten Male mit einer Greifswalderin verheirathen, die denn jetzt hier auch zu Besuch ist. Ich freue mich sehr, daß die alten Leute so Frohes erleben. Franz7 grüßt; ich hab ihn heute besucht; er hat allerlei Aufträge von der Berleburger Cousine, die nach ihrem Brief wohl situirt ist, erhalten, nach Art des Berleb[urger] Onkels, der ihm einmal ein paar alte Neusilberne Sporen schickte, damit er hier dafür einen silbernen Punschlöffel einhandle. Er ist sehr wohlauf, hat auch von seinem Vater gute Nachrichten. Usener bekomme ich wieder in die Nähe; es ist jetzt entschieden, was seit einiger Zeit spielte, daß er als Prof[essor] nach Greifswald kommt. Von mir selber ist nichts zu erzählen, als daß ich erträglich wohl bin u. froh die Feiertage hinter mir zu haben u. daß es mit m[einen] Arbeiten leidlich voran geht, ebenso mit dem Druck des vierten Bandes. Marichen dank ich sehr für ihre guten freundlichen Zeilen; das Bild vom Stimbes hat mich ganz entzückt; es ist gar nicht wie ein Portrait, sondern wie ein Idealbild; es ist als wollte er gern eben lachen, so sonderbare Mienen macht er. Ich schreibe Marichen nicht, da mich wirklich jetzt alles Schreiben kreuzunglücklich macht; weil ich den ganzen Tag schreibe u. wirklich nichts zu erzählen habe was der Mühe lohnte. Reuter’s8 olle Camellen kenne ich sehr wohl; er hat uns auch einmal einen Abend viel davon vorgelesen, als er vor 6 Wochen hier war; es ist ein höchst amüsanter Mann, voll von Witz, Anekdoten u. behaglichster Laune. Wenn sich M[arie]chen etwas Großes kaufen will, soll sie doch Geld sammeln u. dann die neue Univ[ersal] Götheausgabe9 sich kaufen, welche in kurzer Zeit wohl erscheinen wird. Nur darf sie sie freilich nicht in Mosbach einbinden lassen.

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Dilthey an seine Eltern und Geschwister

Das Geld werd’ ich also den 2.ten holen. Für Lilly’s Geschenk hab ich – nur die Verpack[un]g Transport usw Silbergroschen nicht zu rechnen – 6 Thaler ausgelegt, 4 Thaler das Bild, 2 Thaler der Rahmen: Leider hat’s die Leipz[iger] Post nicht rechtzeitig ausgeliefert; es wird indeß wohl seine Wirkung gethan haben. Adieu Ihr Liebsten frohes neues Jahr. Bleibt mir gut. Euer Wilhelm [über die sehr tief geschriebene Anrede gesetzt] Laßt mich doch ja von Zeit zu Zeit wissen, wie’s darunten geht. Das treue Linchen! u. grüßt auch die Wiesb[adener] ordentlich. Ist Karl noch da, Dank für Photogr[aphie] u. nächstens Brief. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 k. 1 Der Brief ist undatiert. Da D. schreibt, dass Usener nach Greifswald komme (1863) und da er vom Sonntag nach Weihnachten berichtet, welcher im Jahre 1862 der 28. 12. war, muss der Brief nach dem 28. 12. 1862 geschrieben worden sein. 2 Nicht überliefert. 3 Arthur Hobrecht (1824–1912): nationalliberaler Politiker; Regierungsrat im preuß. Innenministerium, 1863–1872 Oberbürgermeister von Breslau, 1872–1878 Oberbürgermeister von Berlin, 1878–1879 Finanzminister, 1880 Mitglied des preuß. Landtags, 1881–1890 Mitglied des deutschen Reichstags. 4 Wilhelm Adolf Schmidt (1812–1887): Historiker und nationalliberaler Politiker; 1845 a. o. Prof. in Berlin, 1851 in Zürich, 1860 in Jena, 1874–1876 Mitglied des deutschen Reichstags. 5 Alexander Meyer (1832–1908): Politiker und Journalist. 6 Nicht ermittelt. 7 Vermutlich ein Verwandter D.s. 8 Fritz Reuter (1810–1874): niederdeutscher Schriftsteller. – Olle Kamellen. Wismar 1860. 9 Werke. Nach den vorzüglichen Quellen revidirte Ausgabe. 36 Theile (in 23 Bänden). Berlin 1868–1879, besorgt von W. Freiherr von Biedermann u. a.

[143] Bernhard Scholz an Dilthey [Anfang 1863]1 Lieber Dilthey! Die Stimmung mit der Du, Deinem letzten Briefe zufolge, das alte Jahr beschlossen und das neue begonnen hast, ist glücklich und glückverheißend. Du hast Recht, es gibt nichts Schöneres, als sich das Herz frei und fröhlich arbeiten; mir ist auch gar nicht bange, daß die Früchte, die Dir jetzt in den Schooß fallen, gute und gezeitigte sein werden, und ich sehe mit Erwartung

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Bernhard Scholz an Dilthey

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der Zeit entgegen, wann Du mir eine Probe davon senden wirst, – denn daß Du das thun wirst, darf ich doch wohl voraussetzen. Gott gebe mir auch wieder einmal eine so gute Zeit! Ich habe in den letzten Wochen mancherlei Ermuthigung gehabt. Mein Requiem ist in Köln aufgeführt worden2 und Kritik und Publicum haben es sehr warm aufgenommen; noch mehr werth war mir aber, daß es mir selbst noch gefallen hat, eine Eigenschaft, die nicht viele meiner früheren Sachen noch besitzen. Ich habe bei der Aufführung Manches gelernt, ich habe manche Mängel der Composition herausgefühlt aber in Summa habe ich doch das Gefühl bekommen, daß ich mir etwas zutrauen darf und daß ich nicht ganz so unnütz bin, als es mir in der letzten Zeit oft erscheinen wollte. Am 30. Dec[ember] habe ich meine Dir bekannte Oper wieder einmal in Bremen aufgeführt3 und am 5. Febr[uar] soll das Requiem in Aachen vom Stapel laufen; das Alles regt mich an, u. ich sehe, wie ein Tiger nach Beute, nach einem Stoffe aus, auf den ich mich werfen kann. Denn ich glaube, herausgefühlt zu haben, daß ich in der Vocalmusik mehr leisten werde, als im rein Instrumentalen. In Letzterem ist das Höchste geleistet, während im Gebiete der Oper das letzte Ziel noch nicht erreicht ist. Außerdem muß ich einen Stoff haben, der erst auf mich wirkt, um mein bischen Talent in Erregung zu bringen; – dann glaube ich was Tüchtiges auf die Beine bringen zu können, weiß wenigstens – leider – keinen Zeitgenossen, dem ich mehr zutraute als mir, – während ich zur Bewältigung der großen Instrumentalformen nicht genug Zeug in mir fühle, – möglich daß das später anders wird. Ich schrieb Dir schon einmal wegen der Braut von Messina; der Stoff enthält das Vortreffliche, für die Oper sehr viel, aber doch steht die Fabel ein wenig auf Stelzen, ist gar zu künstlich. Dann dachte ich an Kriemhilde – aber da ist eine solche Ueberfülle des Stoffs, daß sie nicht zu bewältigen ist. Nun denke ich an Medea – und ich glaube, daß dies ein ganz herrlicher Text werden müßte! Die Handlung ist einfach – ich habe dabei das Scenarium des Stücks das die Ristori spielt im Sinne – gibt Gelegenheit zur Entfaltung der Charactere in ihrer ganzen Tiefe und Anlaß zu den ergreifendsten Scenen; dabei habe ich einerseits die Anregung, daß mir stets lebendig das hohe Bild der Ristori vorschwebt, und daß ich andrerseits die Rolle der Medea für eine dafür ganz geeignete und dabei mir persönlich liebe Künstlerin, Frl Weis, schreiben könnte; kurz, ich brenne auf den Text – aber noch habe ich keinen Mann gefunden, ihn zu machen. Ein mir befreundeter Musiker rühmte mir nun jüngst die musicalische Begabung (und Gewandtheit in Bearbeitung von Text zu musical[ischen] Scenen) des jungen Dichters Heigel, dessen Trauerspiel Marfa an vielen Or-

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Bernhard Scholz an Dilthey

ten mit großem Beifall gegeben worden ist.4 Ich habe vor, mich an ihn zu wenden; im Falle es mit ihm nicht geht, bin ich wirklich nicht abgeneigt, Rodenberg aufzufordern; der wird wenigstens, so denke ich, Alles thun, was man verlangt, und einen guten Handlanger abgeben. Vorgearbeitet ist ja genug in diesem Stoffe; es gibt ja selbst eine Oper von Cherubini „Medea“5 die aber in ihrer veralterten Form zum ewigen Schlummer verurtheilt ist. Ich glaube, daß ich mir über Opernmusik nun so ziemlich den richtigen Begriff gebildet habe; ich arbeite jetzt auch mit etwas mehr Gewissenhaftigkeit als früher, und hoffe mein Scherflein zur Lösung der Opernfrage durch ein gutes Beispiel beitragen zu dürfen. [Briefschluss fehlt.] Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 k. 1

Im Original: nachträgliche Datierung von fremder Hand: „c. 61?“. Nach Scholz’ eigener Angabe wurde sein Requiem im Dezember 1862 in Köln aufgeführt (vgl. Scholz, S. 164). 3 Am 30. Dezember 1862 dirigierte Scholz in Bremen die Ouverture zu seiner Oper Iphigenie. 4 Karl August von Heigel (1835–1905): Bibliothekar und Schriftsteller. – Sein Drama Marfa hatte er für die Schauspielerin Fanny Janauschek (1829–1904) geschrieben, die seit 1861 am Dresdener Hoftheater engagiert war; gedruckt wurde das Trauerspiel erst 1876. 5 Maria Luigi Carlo Cherubini (1760–1842): ital. Komponist; seine Oper Médée war 1797 uraufgeführt worden. 2

[144] Dilthey an Adolf Wilbrandt Berlin. Charlottenstraße 51 [Anfang 1863] Liebster Wilbrandt! Ich lese D[einen] Brief 1 von vorn nach hinten u. rückwärts abwechselnd um mich von meinem Staunen zu erholen – es lautet förmlich märchenhaft. Magst Du nun Verse schreiben oder Prosa: was in aller Welt kann Dich bewegen nach Frankfurth überzusiedeln?2 Dieselbe Stellung, die Du dort findest: kannst Du Morgen, wenn Du Lust hast, bei der Berliner Allg[emeinen] Z[eitung] haben. Julian Schmidt3 träumt Nachts von Dir u. sein Feuilleton ist ein Raub des Zufalls und tückischer Geister. Die Arbeit bei den preuß[ischen] Jahrb[üchern] – wenn Du Dich für diese entscheidest – ist wahrhaftig nicht größer und doch lohnender als die dortige. Kurz allewege ist Noth, daß Du Deinen Entschluß revidirst. Denn habilitiren müßtest Du Dich hier nächstens. Gosche geht Ostern nach Halle4 u. die Litter[atur]geschichte ist

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Dilthey an Adolf Wilbrandt

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dann verwaist. Du mußt kommen; die Frankfurther werden dies in Anbetracht dieser Thatsache sicher einsehn. Du hast hier zu viele, die Dich lieb haben, als daß das mit dem Gehn so ginge. Amen. Ich setze sofort Haym in Allarm, wenn ich nicht binnen 4 Tagen, befriedigenden Widerruf erhalte. Und was das heißt: davon hast Du zur Stunde in Deinem Poeten dolce farniente noch keine Erfahrung. Unus pro multis Daß es mir damit Ernst ist, daß ich meine Theiln[ahme] an der Redakt[ion] d[er] preuß[ischen] Jahrb[ücher] von der Deinen unbedingt abhängig mache: drauf verlasse Dich nur fest. Ich kenne Niemanden, mit dem ich freudigen Herzens eine solche gem[einsame] Unternehmung begönne, zu der ein inneres unmittelbares Einverständniß ohne viel Worte und Vertrauen ohne Schwankungen gehört, als Dich. Dies habe ich Haym, als von dem Projekt d[ie] Rede war, unbedingt erklärt u. bleibe dabei. Bedenke also auch, daß das Feuillet[on] in Frankfurth gar mancher redigiren kann – schlechter freilich – item redigiren, sodaß der Frankfurther Philisterismus sich an den herben Gedanken, dergleichen in den Didaskalia5 fürs Gemüth nicht vorkommen, doch aber den Magen verdirbt. Hier aber bist Du unersetzlich. Für das Creiren Deiner unsterblichen Werke aber werden wir hier die zartesten Rücksichten haben u. in der Brütezeit soll Dich nie einer stören. Seltsames Schicksal: die Eine Hoffnung des Constitutionalisirens – des neuen nämlich, von dem Julian zuviel des Nachts seltsame Träume hat, die aber ein neidischer Gott in der Morgenfrühe ihm mit der Schlafmütze zugleich abzieht – sitzt in Leipzig, soll ein großes hist[orisch] polit[isches] Buch schreiben u. viele kleine (heißt Treitschke) – u.: schreibt ein Trauerspiel.6 Die andre ist episch gestimmt! Das ist die „List“ der Weltgeschichte, durch die wir um die deutsche Einheit betrogen werden. Aber glaube mir, Du sollst an uns auch bessere poetische Freunde haben, als Dir Fr[an]kf[urt] bieten kann. Wenn Du’s nicht anders thust, will ich im Nothfall Verse machen, um mich Dir wöchentlich als solchen zu legitimiren. Und nun laß Dir auch was scherzhaft lautet, im Ernst durch die Seele gehn. Denn es ist völlig ernst gemeint. U. laß mich nur mit einer Zeile etwas Gutes wissen, das ich an Haym schreiben könnte. Besser noch komm hierher. Du kannst bei mir log[ieren] (ist freilich dumm, dh. nicht nöthig) u. ernsthaft überlegen, ehe Fr[an]kf[urt] definitiv wird. Adieu! In großer Eile.

Dein Dilthey

Original: Hs.; ÖStA Wien, Wilbrandt-NL, K 3, fol. 807–808.

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Dilthey an Adolf Wilbrandt

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Nicht überliefert. Wilbrandt hatte von 1859 bis 1861 die Leitung der Münchener Neuesten Nachrichten (später Süddeutsche Zeitung). 3 J. Schmidt hatte Ende 1861 die Grenzboten verlassen und war seitdem für die Berliner Allgemeine Zeitung tätig, bis deren Erscheinen 1863 eingestellt werden musste. 4 R. Gosche, der seit 1860 a. o. Prof in Berlin war, folgte 1863 einem Ruf als o. Prof. nach Halle. 5 Didaskalia Apostolorum: eigentl. Lehre der Apostel. 6 H. Treitschke war seit 1858 Redakteur bei den PJ. 2

[145] Dilthey an Adolf Wilbrandt [Anfang Januar 1863]1 Lieber Wilbrandt! Da Du Dich mit einer unglaublichen Beharrlichkeit ausschweigst, muß ich Dir wohl einen Brief herauslocken, indem ich – nach Anleitung des bekannten Art[tikels] d[er] süd[deutschen] Z[eitung] üb[er] polit[ische] Br[ie]fe – Dich in eine polit[ische] Geschäftscorresp[ondenz] verwickle. Mit Haym hab ich mich dahin geeinigt, bis Ostern die Sache in dispenso zu lassen. Inzwischen schreibt Wehr[enpfennig] die pol[itische] Correspondenz (Geheimniß !!!); Sybel u. Häusser haben sich z[um] Beitritt bereit erklärt; Twesten war weg; Ostern soll alles arrangirt werden. Inzwischen wünschte ich sehr als Gegengewicht gegen W[ehrenpfennig]’s Gothaismus2 süddeutsche Correspondenzen und habe das Haym gesagt, daß ich mich deßhalben [an] Dich wenden werde, da Du in München aus alter, in Frankfurth aus neuer Erfahrung die möglichen Correspondenten leicht ausfindig machst. Wie wichtig gerade jetzt, u. in Hinsicht auf den noth[wendigen] Beruf der Jahrbücher das Verh[ältnis] v[on] Seiten Nordd[eu]tschl[ands] aufrecht zu erhalten auch in schlimmsten Zeiten, dieses wäre, geht aus dem von uns im Herbst besprochenen hervor. Nimm Dich also dieser Sache, die auch die Deinige werden sollte, bestens an. Ferner wäre doch, da Du einen so hübschen Platz unter den kleinen Notizen dafür hast, bequem, wenn Du der einzelnen Monatshefte der preuß[ischen] Jahrb[ücher] gedächtest. Hat die Redaktion kein Ex[emplar], so will ich’s Reimer sagen. Oder ziehst Du vor, daß ich von hier aus ein zwei Zeilen schreibe, mit Angabe der Verfasser hier u da, so wird sich auch dies machen lassen.

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Dilthey an Adolf Wilbrandt

Haym schreibt, daß Du vielleicht etwas über Freytag’s Technik3 den preuß[ischen] Jahrb[üchern] schenken würdest. Was sagst Du zu dem merkwürdigen Buch? Ich bewundere es u. habe doch eine entschiedne Abneigung dagegen. Seine Wirkung wird sicher vortrefflich sein; es liegt aber, obwohl klug versteckt, eine sonderbare Ideenschau drin, ärger noch als in dem neulichen wunderlichen Artikel der südd[eutschen]. Ich werde übrigens das Buch auch besprechen, wohl in der Berl[iner] A[llgemeinen] Z[eitung],4 zumal ich in der Beh[andlung] des alten Drama viel korrigire ja wirkl[liche] hist[orische] Verstöße finde. – Daß der über B. Goltz5 u. über H. Grimm von mir war,6 hast Du wohl errathen, wie ich dasselbe von Deinen schönen Arbeiten über Uhland. U. nun Liebster, sag mir wie Du lebst – selbst ob Du wohl bist – wenn Dir das auch sonderbar u. schwer ankommen sollte als modernem Menschen. Mir gehts in m[einen] Arbeiten sehr gut; sonst leb ich fast total einsam für mich hin. Unendliche polit[ische] Discussionen hasse ich; für andre fühl ich mich doch sehr isolirt. Möchte mir das Glück bald ein paar heitre Tage mit Dir zusammen schenken[.] Einen lang entbehrten Freund bekomme ich jetzt doch näher, da Usener nach Greifswald kommt. Wehr[enpfennig] hast [Du] wohl auf Durchreise nach Heidelberg gesehn? Über Wehr[enpfennig]’s Antheil an Jahrbüchern, sowie das g[an]ze Projekt erbitt ich unbedingtes Schweigen. Leb wohl Liebster Dein

Dilthey

Charlottenstaße 51 Original: Hs.; ÖStA Wien, Wilbrandt-NL, K 3, fol. 804–805. 1

Am oberen rechten Rand von fremder Hand: „(Anfang Januar 63.)“. Eine nach der 1848er Revolution enstandene politische Richtung, welche die Bemühungen Preußens unterstützte, eine Union deutscher Staaten unter Ausschluss Österreichs zu schaffen. Das Gothaer Konzept einer kleindeutschen Vereinigung unter Führung Preußens übernahm später die Mehrheit der Liberalen, die sich 1859 im Deutschen Nationalverein zusammenfanden. 3 G. Freytag: Die Technik des Dramas. Leipzig 1863. 4 D.s Rezension erschien anonym in: Berliner Allgemeine Zeitung. Morgenausgabe Nr. 143 vom 26. 3. 1863, S. 1–3; Nr. 149 vom 29. 3. 1863, S. 1–4 und Nr. 157 vom 3. 4. 1863, S. 1–3; WA in: Die große Phantasiedichtung und andere Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte, a. a.O., S. 132–159. 5 Bogumil Goltz (1801–1870): Schriftsteller. 6 Eine Arbeit D.s über Goltz ist nicht nachgewiesen. – Zu H. Grimm vgl.: Goethe in Italien. Ein Vortrag von Herman Grimm, in: Preußische Zeitung (Berlin), Morgenausgabe, Nr. 143 vom 26. 3. 1861; WA in: GS XVI, S. 210–216. 2

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Dilthey an Adolf Wilbrandt

[146] Dilthey an Adolf Wilbrandt [Februar 1863]1 Liebster Freund! Bemitleide mich; der Arzt verdammt mich, meiner sehr angegriffenen Augen wegen, fast zu völliger Unthät[i]gk[ei]t. Wenig lesen, fast nichts schreiben. Daher nur d[ie]se Nachricht, bis ich aus dies[em] Fegefeuer erlöst bin. Ich schicke Dir eine Notiz über das wirklich excellente neuste Heft d[er] pr[eußischen] Jahrb[ücher], da Du diesen Modus wünschtest – oder wenigstens zuließest. Du thust Haym u. Reimer einen rechten Gefallen u. der guten Sache einen Dienst. Denn d[ie] Jahrb[ücher] lass[en] sich an, Organ der Mittelparthei z[u] werden. Üb[er] das Polit[ische] wäre viel zu sagen, wenn d[ie] Augen erlaubten. Ich denke es nächstens so abzumachen, daß ich etwas über die Interna der Abgeordnetenhäuser für Dich diktire – mit privaten Anmerkungen. Jul[ian] Schmidt ist unwohl u. in dies[er] Sit[uation] so unausstehlich, daß ich mich fast ganz von ihm zurückgezogen habe. S[chmidts] Frau dauert mich. Adieu. Dein leidend[er] Fr[eun]d Original: Hs.; ÖStA Wien, Wilbrandt-NL, K 3, fol. 798. 1

Im Original: nachträgliche Datierung von fremder Hand.

[147] Dilthey an seinen Vater Liebster Vater!

(Berlin, gegen Februar 1863)

Ich soll für meine wissenschaftlichen Excesse bestraft werden! Der Doktor will, daß ich einige Wochen meine Augen entschieden schonen soll, d.h. gar nicht mehr bei Licht arbeiten, oder doch wenig und nur ab und zu. .|.|. Ich war natürlich – wegen meiner Arbeiten – sehr consterniert, da die mittelalterlichen Arbeiten mit den großen Formaten und kleinen Drucken natürlich Augenpulver sind und man an ihnen nur so lange arbeiten kann, als man die Nase im Buch hat, da kreuzwenig freie Gedanken dabei sind. Ging also gleich nach gründlicher Überlegung zu Trendelenburg, legte ihm die Sachla-

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Dilthey an seinen Vater

ge vor und wir kamen überein, daß ich mit der Dissertation kurzen Prozeß mache, einen Gegenstand nehme, bei dem das Denken die Hauptsache ist und ich mir Abends vorlesen lassen oder diktiren kann – Kritik der Schleiermacherschen Ethik –, und nachher bei der Habilitation meine mittelalterlichen Papiere irgendwie zurechtgestutzt einreiche, ohne sie, unreif, drucken zu lassen. So kann ich denn trotz der Augenkur, den Sommer, wenigstens von Pfingsten an noch lesen. Er war überaus liebenswürdig, meinte, es werde in den nächsten Jahren so manche philosophische Professur frei und es seien so wenige, die wirklich Aussicht gäben, daß er dringend wünsche, daß ich alles beeile. .|.|. Allen beste Grüße

Euer Wilhelm

Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 76.

[148] Dilthey an seine Eltern Liebste Eltern!

(Berlin, März 1863)

Es hat sich mir von Tag zu Tag verschoben, Euch über den Stand meiner Gesundheit zu benachrichtigen. Mit den Augen kann ich recht zufrieden sein; sehr selten nur noch, daß ich Morgens mit Augenschmerzen aufstehe. .|.|. Mit der Arbeit geht’s so natürlich nicht allzu rasch; ich habe ziemlich viel diktirt; was sich den letzten Resultaten gegenüber, denen ich nahe zu sein hoffe, halten wird, weiß ich noch nicht. Jedenfalls bin ich zu Beginn des neuen Semesters mit meinem lateinischen Opus1 zur Hand. Mit Kant bin ich fertig, auch mit Fichte fast ganz, sowie mit Herbart. Nun bleibt mir nur noch sehr wenig zu lesen, bevor ich die Dissertation selber diktire. Da ich nun so viel Zeit zum Träumen übrig habe, Freunde und Freundinnen sich im Vorlesen so liebenswürdig erweisen und der Schreiber zur Hand ist: so entsteht manches Gelegentliche. So hat Julian Schmidts liebenswürdige Frau, die sich wirklich in dieser Zeit schwesterlich gegen mich benommen hat, mir alles über Heinrich v. Kleist zusammengebracht und vorgelesen und wollte auch, daß ich ihr darüber diktiren sollte, was mir nun doch der Güte zu viel ist. Aber im Kopf ist ein Essay über Kleist so gut wie fertig, der sich in den künftigen „kleinen Schriften“ ganz gut ausnehmen soll.2 Mein Kommen ist natürlich frühestens in 9 Wochen und ganz von der Schnelligkeit abhängig mit welcher beim Beginn des Semesters meine Dok-

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Dilthey an seine Eltern

torsache von der philosophischen Facultät abgewickelt wird. Ich sage frühestens. Hoffe aber doch gewiß, daß es nicht später sein wird. Dann endlich kann ich doch mit erträglichem Anstand erscheinen: als Privatdocent freilich, was wenig genug, mehr als nichts ist, aber das Etwas muß sich eben aus der Biographie Schleiermachers, von deren erstem Bande alles Hauptsächliche fertig ist und die nun nur definitiv auszuarbeiten ist,3 ergeben. Der vierte Band, dessen Druck ich der Augen wegen liegen lassen mußte, ist denn auch fertig in 8 Wochen.4 Außer der mittelalterlichen Arbeit habe ich so viel eigene philosophische Gedanken zu verarbeiten, daß mir ganz schwindlich wird vor der Arbeit der nächsten Jahre. Aber auf das Kollegienlesen freue ich mich unsäglich. Jetzt endlich, nachdem ich in den letzten Monaten leider soviel Zeit hatte, meinen Erwerb an eigenen Gedanken zu ordnen und zu befestigen, denke ich, dazu reif zu sein. Und wenn ich auch nicht mit einem eigenen System auftrete, so werde ich doch allerdings Logik und Ethik mit wesentlichen Umgestaltungen lesen. .|.|. Von den 100 r. die ich zum ersten April bei meinem Überschlag im Herbst zu brauchen glaubte, werden vorläufig 50 r. genügen. .|.|. Sollte ich die preußischen Jahrbücher zum 1. Juli mitübernehmen,5 auf wohin, nur um meinetwillen, Haym alles Arrangement verschoben hat: so würde ich von meinem dortigen Antheil an den Geschäften, der nicht groß sein wird, 2–300 Thaler jährlich fest haben. Armselig freilich bleibt die praktische Seite meiner Existenz. Gott besser’s bald. Soviel, da Vater genaue Nachrichten über den Stand meiner Angelegenheiten haben wollte. .|.|. An alle herzliche Grüße

Euer Wilhelm

Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 77. 1 2 3 4

Gemeint ist D.s lateinisch geschriebene Dissertation. Der Essay kam ebenso wenig zustande wie die Kleinen Schriften. Der erste und einzige Band von D.s Leben Schleiermacher erschien erst 1870. Der vierte Bd. von D.s Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen wurde Ende 1863 veröffent-

licht. 5

Zum 1. Juli 1863 war D.s Eintreten in die Redaktion der PJ geplant.

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Dilthey an seinen Vater

[149] Dilthey an seinen Vater [nach dem 5. April 1863]1 Dein Brief,2 liebster Vater! war mir eine außerordentliche Beruhigung, da ich stündlich auf Nachricht wartete, wie Du die Ostertage, in so vielen Aufregungen, überstanden hättest. Gott sei Dank, daß es leidlich geht. Nun blühn ja alle Bäume so wunderbar, daß Du Dich gewiß von den Aufregungen des Winters im Garten u. am Rhein erholst. Wollten wir nicht auch über so Trauriges Herr werden: so wäre das Leben nichts als Leid. Mir, blühende Bäume unter dem Fenster so viel eben da sind, geht es mit den Augen wirklich gut. Diese Wohnung zu nehmen war eine theure, aber außerordentlich nützliche Maßregel. Ich bin, ganz wie Du auch wünschest, entschlossen, nicht eher die Erholungszeit zu beginnen, als bis meine Promotion absolvirt u. wenn eine Habilitationsschrift nöthig ist, diese eingereicht ist, wo möglich auch die Förmlichkeit der Habilitation überstanden – muß ich indeß drauf mehrere Wochen nach Einreichung warten, dann natürlich nicht. An der Dissertation habe ich vorgestern zu schreiben angefangen u. denke in 4 Wochen sie einreichen zu können, 4 Wochen drauf Examen u. Promotion. Also 1 Juli etwa. Mitte Juli wäre also der frühste Termin meines Kommens. Ich habe so viel zur systematischen Philosophie gefunden, daß ich für die Collegien immer besseren Zutrauens lebe u. ich habe schon eine halbe Ethik diktirt. Usener that’s sehr leid, daß er nicht heraus konnte. Firnhaber der jetzt auf einmal mit ihm zufrieden ist, da er ordentlich[er] Professor ist, während er sonst stets an ihm nörgelte, scheint ihn in festen Klauen gehalten zu haben. Er gehört auch mit in unsre Sommerpläne, da er d[en] 15 Aug[ust] v[on] Greifsw[ald] abreist u. gern irgendwie m[it] mir z[u]s[ammen] treffen möchte. Karl fand er leider – er war mehrere Tage in Bonn – nicht so heiter, als ich eigentlich gehofft. Es wird ihm auch sehr gut thun, nach allen Strapazen sich eine Zeit lang zu Hause auf dem Bärenfell auszustrecken. Denn seine Gesundheit erlaubt nicht zu viel. Wie es nun bei solcher Einth[ei]l[un]g mit Lilly werden wird, weiß ich nicht. Daß sie sich nach mir richte hat darum Schwierigkeit, weil es mit meinem Fertigwerden gar so ungewiß ist. Sonst käme es ja auf ein paar Wochen wohl nicht an. Wenn es sich also bis in den Anfang August hinauszöge, wäre das unangenehm, ohne daß ich doch irgend ab oder zuthun könnte.

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Dilthey an seinen Vater

Ich hätte sie gerne paar Wochen hier gehabt, aber das würde doch zu lang3 dauern u. neben allen andren verreist auch die einzige Frau, bei der ich sie gern ein paar Wochen hätte – J. Schmidts Frau schon in ein paar Wochen. W[ehrenpfennig]’s haben es angeboten, aber, wenn sie auch nicht schon in 14 Tagen nach Fr[an]kfurth u. Schwalbach4 gingen, ist sie jetzt zu vielfach angegriffen u. ich möchte ihnen nicht ohne Noth so viel Dank schuldig sein. Möget Ihr nun Lilly so entwickelt u. gesammelt finden, als ich sehnlich wünsche. Daß Linchen sich tapfer aufrecht erhält ist mir ein großer Trost. Mich verlangt recht sie wiederzusehen. Und der Stimbes mit dem Ränzchen! Ich muß seit gestern immer an den kleinen Kerl denken. Mutters Brunnentrinken hätte doch hübsch mit meinem wahrscheinlichen zusammenfallen können. Lebt alle wohl u. behaltet mich lieb, bis ich aus allem Wirrsal der Arbeiten befreit bin u. wieder für mich und Euch l[e]b[e]n kann. Euer Wilhelm [Postskriptum über der Anrede] Dr. Hirzel5 ist da; er meint, Du würdest in Leipzig sicher erwartet, Lilly zu holen u. dies gehöre doch auch zum würdigen Schlusse [.|.|.]. Könntest Du Dich also mit Mutter entschließen, so wäre [es] doch sicher das Beste.6 Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 a. 1 Der Brief, der kein Datum trägt, muss nach dem 5. April 1863 geschrieben worden sein, da Ostern in diesem Jahr auf den 4./5. April fiel. 2 Dieser Brief ist nicht überliefert. 3 Im Original: „lang lang“. 4 Kurort im Taunus. 5 Der Leipziger Verlagsinhaber S. Hirzel. 6 Dieses Postskritum wurde von D. über die Anrede gesetzt.

[150] Dilthey an Rudolf Haym 1 Verehrtester Herr Professor u. Freund! Nur eine Zeile Nachricht; keine Klagen über mein Mißgeschick u. die Zerstörung meines ganzen Arbeitsplans; nur daß die Congestionen2 nachzulassen beginnen u. ich wieder etwas zusammenhängend arbeite. Und zwar, da an

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Dilthey an Rudolf Haym

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Forts[etzung] des Mittelalters in solch[em] Zustand nicht zu denken – das was mir in dieser ganzen Sache am meisten nahe gegangen ist – an einer Dissertation über die Schleiermachersche Ethik, damit ich wenigstens desto früher mit der Biographie zu Stande komme u. diesen Cardinalpunkt derselben voraus absolvire. Das entscheidende Mittel für meine Augen ist eine vierwöchentliche völlige Pause, Reise oder Badeaufenthalt, diese aber lasse ich unbedingt erst eintreten, wenn ich den Doktor absolvirt habe. Mit der Habilitationsschrift denke ich, da Trendel[enburg] zu jeder mög[lichen] Erleichterung bereit u. m[eine] schnelle Habilitation sehr zu wünschen scheint, dann auch rasch zu Ende zu kommen. Wenn nicht vorher, nachher. Mein Eintreten zu den Jahrb[üchern] wird so freilich hinausgeschoben u. mich dünkt, die Sache objektiv betrachtet, daß ein anderweitiges Arrangement wohl für diese das zweckmäßigste. Wenn es sich bequem so machen läßt, daß ich dann Juni oder Juli eintreten kann: so scheint dies, nach dem Rath[schlag] des Augenarztes zu schließen, thunlich. Aber ein gutes Definitivum dürfte nicht dadurch verzögert werden. Ein südd[eutscher] Correspondent war nicht durch Wilbrandt zu erlangen. Die Südd[eutsche] ist überh[aupt] so geg[en] alles, was mit Altliber[alen] zus[ammen]hängt, erbittert, daß Wilb[randt] sehr dav[on] angesteckt scheint. Indeß habe ich doch von ihm verlangt, daß dort die pr[eußischen] Jahrb[ücher] monatlich angez[eigt] werden. Ab[er] mit keinem andr[en] Arrangement, als daß ich selbst die Notiz schreibe, da ihm meine nicht altliberale Denkart bekannt ist. Sie finden die erste Anzeige in der Sonntagsnummer.3 Sorgen Sie nur, daß mir Reimer die Hefte präcis schickt, da ich bei m[einen] Augen 2 Tage brauche, bis ich mit der Notiz zu Stande komme. Das letzte Heft war brillant. Ich selbst trage mich mit ein[em] Aufsatz über die tragische Empfindung in ihrem Verhältn[is] zum dramatischen Schema – Andeut[un]g[e]n finden Sie in 4 Feuilletonartikeln der B[erliner] A[llgemeinen] Z[eitung]. Als ich hörte, daß Sie noch niemand hätten, wollte ich mich von J[ulian] S[chmidt], dess[en] Ex[em]pl[ar] ich hatte, loseisen. Unmöglich. Lassen Sie mich mit e[iner] Z[ei]le wissen, ob Sie nicht am Ende inzw[ischen] jem[and] andres gef[unden]. Freilich komme ich noch l[an]ge nicht dran.4 – Dann auch ernstlich mit Forts[etzung] des Schleierm[acher]. Wehr[enpfennig] beginnt sich von altlib[eraler] [Fachautorität] zu befreien; fördern Sie das ja, es ist den pr[eußischen] Jahrb[üchern] unb[e]d[in]gt nothw[endig]. Gerüchte von einer großen Zeitung der Frakt[ion] Bockum-Dolffs. Wohl thöricht. Groß[er] Schrecken Gärtner’s.5 – Gneist hat als Redner jetzt Vinke total überflügelt. Rößler radical, schwärmt für Gneist. – Kommen Sie: es ist eine totale Hexenküche.

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Dilthey an Rudolf Haym

Empfehlen Sie mich Ihrer Frau u. theilen Sie in etwa die herzl[iche] Zuneigung mit der ich bin Ihr ergebenster Dilthey. Ich seh’ eben Wilbrandt’s Brief noch einmal an; einen jedesmaligen Bericht wünscht er nicht, sondern nur über bedeutende Abh[an]dl[un]g[en]. [Postskriptum:] Wehr[enpfennig] grüßt; hat nicht geschrieben, da Max, der Kleine, Bräune6 hatte u. Frau unwohl, will pol[itischen] Aufs[atz] von nicht einem Bogen schreiben, der sehr interess[ant], u. womöglich noch bis zum 18 ten zum nächsten Heft schicken.7 Original: Hs.; ULB Sachsen-Anhalt, Halle, Haym-NL, Yi 23 IV D 4 k; Erstdruck: BDH, Nr. 11. 1 Im Original von fremder Hand: „Vermutlich 63“. Der Hg. von BDH datiert den Brief auf die Tage zwischen dem 10. und 15. April 1863. 2 Lokaler Blutandrang, z. B. bei Entzündungen. 3 Nach Angabe des Hg. von BDH ist eine solche Anzeige der PJ in der Süddeutschen Zeitung nicht erschienen (vgl. BDH, S. 28, Anm. 2). 4 Rezension D.s von G. Freytag: Technik des Dramas. Leipzig 1863, in: Berliner Allgemeine Zeitung, in vier Folgen vom 26. 3. bis 9. 4. 1863; WA in: Die große Phantasiedichtung und andere Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte, a. a. O., S. 132–159. – Vermutlich hatte Haym von D. einen Aufsatz über Freytags Technik des Dramas für die PJ gewünscht. 5 Paul Ernst Rudolf Gaertner (1817–1880): seit 1841 wissenschaftlicher Verlagsbuchhändler in Berlin, Verleger der Berliner Allgemeinen Zeitung. 6 Durch Entzündung und Anschwellung des Rachens bzw. des Rachengebildes hervorgerufene Behinderung des Schluckens, Atmens und Sprechens. 7 Es könnte sich um den Aufsatz Vor der Militärdebatte handeln, der im Mai 1863 im 11. Bd. der PJ anonym erschienen war, da Wehrenpfennig damals die politischen Korrespondenzen in den PJ schrieb (vgl. BDH, S. 29, Anm. 1).

[151] Richard Gosche 1 an Dilthey

Richard Gosche an Dilthey

Lieber Dilthey, Ich erinnerte mich, daß Sie noch einige philos[ophische] Werke von der hieß[igen] Bibliothek haben, welche Sie durch mich empfangen hatten und an mich zurückgeben wollten. Da mir nicht ganz aber erinnerlich ist, was aus

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Richard Gosche an Dilthey

Ihren Zetteln geworden ist, so geben Sie die Sachen an Ohm2 mit der Bitte, dieselben gelegentlich mit den Zetteln zu vergleichen, eventuell in die Bibliothek stellen zu wollen. Ich habe Ohm alle Zettel gegeben, welche sich auf Benutzung im Handschriftenzimmer bezogen: also wird er die Sachen ebenso leicht als gern ordnen. Wir sitzen in großer Unruhe. Montag soll ich Genesis und Einleitung beginnen, nach dem ABC in die Facultät eingeführt werden, überall Katzbukkeln der Beamten etc. – kurz man könnte sich als Ordinarius fühlen, wenn nicht das Gefühl des menschlich Ordinären überwöge. – Grüßen Sie Alle! Ihr treu ergebner R. Gosche Halle a[n] [der] S[aale] (Kleine Wichstr[asse] 27.) 25 April [18]63. Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 25, Bl.27. 1 2

R. Gosche war seit Ende 1862 Ordinarius für semitische Sprachen in Halle. Vermutlich ein Bibliothekar.

[152] Dilthey an Wilhelm Scherer1 [19. 5. 1863]2 Lieber Freund! Ich muß heut meiner Augen wegen, die seit d[en] l[e]tz[ten] Tagen Morgens sehr entzündet sind, nothwendig zu Michaelis3 (21/2 Uhr) u. so muß ich auf das Vergnügen gemeinsamen Essens verzichten. Wüßte ich indeß wo ich Sie später (etwa Café Boulevard oder Carlsbad) fände mit Erdm[annsdörffer]:4 so käme ich dorthin. M[it] b[esten] Gr[ü]ß[en] Ihr W. Dilthey Dienstag früh. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331,1; ein handschriftliches Transkript des Briefes von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261,1.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

1 D.s Bekanntschaft und spätere Freundschaft mit dem Germanisten W. Scherer (1841– 1886) geht wohl zurück auf das Jahr 1860. Scherer war nach drei Semestern im Frühjahr 1860 zur Fortsetzung seines Studiums nach Berlin gekommen. Hier traf sich regelmäßig Sonntags zum Mittagessen eine Gruppe von Studenten, Professoren und vor allem Privatdozenten zum „Kränzchen“, wie Scherer am 14. 12. 1860 an seine Mutter schreibt (vgl. Wilhelm Scherer. Briefe und Dokumente aus den Jahren 1853–1886. Hg. von M. Nottscheid und H.-H. Müller. Göttingen 2005, S. 68, Brief 10). Dem Kreis gehörten neben D. und Scherer u. a. B. Erdmannsdörffer, H. Grimm, A. Tobler und seit 1864 A. Boretius an; bisweilen waren später J. Schmidt, Th. Mommsen sowie H. von Treitschke als Gäste anwesend. Da sich dieser Kreis hauptsächlich aus jungen Gelehrten zusammensetzte, „die über ihrem ersten Buch saßen oder es vollendet hatten und nun sehnsüchtig auf den Erfolg warteten, aus Privatdozenten, die ebenso sehnsüchtig auf ihren ersten Ruf harrten“, herrschte oft eine „desparate Grundstimmung der Verdrossenheit und Verbitterung“ (B. Erdmannsdörffer: Alfred Boretius, in: PJ 104 [1901], S. 1–14, hier: S. 5 f.). Deshalb bezeichnete J. Schmidt diesen Kreis als „Selbstmörderklub“, wie Erdmannsdörffer später berichtete (ebd.). Unter diesem Namen war die Gesprächsrunde bis ins 20. Jh. bekannt (vgl. E. Rothacker: Einleitung in die Geisteswissenschaften, 2. Aufl. Tübingen 1930, S. 137). Der Kreis traf sich im „bekannten Weinlokal von Frederich“ (Kleinere historische Schriften von Bernhard Erdmannsdörffer. Mit einem biographischen Geleitwort hg. von H. Lilienfein. 1. Band: Der große Kurfürst. Großenwörden/Nieder-Elbe 1912, S. VII). 2 Vermerk auf dem Transkript: „Datum von Scherers Hand“. – Der 19. Mai 1863 fiel auf einen Dienstag. 3 Vermutlich ein Berliner Augenarzt. 4 Bernhard Erdmannsdörffer (1833–1901): Historiker; enger Freund D.s; 1858 PD in Jena, 1862 in Berlin, 1864 Lehrer an der Kriegsakademie in Berlin, 1871 o. Prof. in Greifswald, 1873 in Breslau, 1874 in Heidelberg.

[153] Dilthey an Rudolf Haym 1 Verehrtester Freund! Es ist im gegenwärtigen Augenblick – die Arb[ei]t l[an]gsam vorang[e]h[en]d, die Augen mittelmäßig – schlechterd[in]gs unmöglich, mich in eine Arb[ei]t zu verwickeln, die mich abführt. Was Sie in der B[erliner] A[llgemeinen] Z[eitung] l[e]s[e]n, stammt aus den ersten traurigen Tagen meines Augenleidens, wo an zus[ammen]h[än]g[en]de Arbeit nicht z[u] denken war u. ich Zerstreuung b[e]durfte.2 Ich schrieb nun nicht, weil ich hoffte, der Schl[eier]m[acher]sche Br[ie]f – vom höchst[en] Interesse – würde sich mir aufklären. Dies zu erzwingen habe ich keine Zeit und der Erfolg wäre höchst problem[atisch]. Da er mir durchaus nach gelegentl[ichem] Nachschlagen u. Rathen nicht klarer wird, kann

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ich ihn leider in dies Heft nicht geben. Sein Verständniß hängt von einem Glücksfall ab, der gute Weile braucht. Ich muß mit m[einen] Augen u. m[it] m[einer] Habilitation in’s Reine kommen – diesen kategorischen Imperativ habe ich bei mir in solcher Art festgesetzt, daß Alles Andre, was mir sonst am Herzen liegt, diesem nachstehn muß. Für nachher habe ich die schönsten Pläne u. hoffentlich schöne Zeit im August u. September. Wie schwer ich einem Wunsch von Ihnen widerstehe, wissen Sie – oder wissen es wohl kaum ganz. Führen Sie mich also hübsch nicht in Versuchung und solange Sie dem Mitarbeiter grollen, bewahren Sie meiner menschlichen Parthie Ihre Anteilnahme. Ihr ergebenster Dilthey. N[ach]s[chrift] v[om] 22ten: Habe den Brief liegen lassen u. nochmals d[ie] Br[ie]fe versucht; es geht eben nicht.3 Ihr D. Original: Hs.; ULB Sachsen-Anhalt, Halle, Haym-NL, Yi 23 IV D 4 l; Erstdruck: BDH, Nr. 12. 1

Die Datierung wurde vom Hg. von BDH vorgnommen. D.s Rezension von G. Freytags Technik des Dramas. 3 Offensichtlich sollte D. einen Schleiermacher-Brief für die PJ edieren. Dieses Projekt wurde jedoch nicht realisiert. 2

[154] Dilthey an Rudolf Haym Verehrtester Freund! Antwort.1 sollen Sie gleich haben; aber, wenn ich etwas zu sagen, zu schikken, auch nur zu versprechen hätte: hätten Sie sie längst. Wenn ich nicht schreibe, liegt gewiß stets die Schuld an der Sache, nicht an meiner Schreibunlust: das wissen Sie. Der Sch[leiermacher]sche Br[ie]f liegt noch in egyptischen Finsternissen. Sobald sich diese aufhellen wollen sollten: würde ich ihn schicken. – Was Wilb[randt] betrifft: so steht das daß eines Essay fest: schicken Sie also immerhin das Buch, aber ohne Eile, wenn Sie an Reimer eine Send[un]g ha-

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ben.2 Das wann hängt von den Augen ab, wie sie sich nach überstandenen Mühen gestalten werden. Auch von Trend[elenburg], worüber zu schreiben zu weitläuft. Wehr[enpfennig] weiß es u. wird Sie ja nächster Tage sehen. Dieser wird Ihnen auch eine Menge über die Jahrb[ücher] erzählen können – mein entweder – oder. Entw[eder]: sie wollen durch Politik wirken und können es: das geht nur durch Twesten – Gneist u. volle freie Bahn in dieser Richtung; oder – sie können oder wollen dies nicht: dann denke ich, daß sie eben nur in der bisher[igen] Lage sind; denn kein Abonn[ent] glaub ich hält sie weg[en] ihrer polit[ischen] Correspondenz u. dgl. Diese müssen sie dann möglichst verstärken. – Mir schien als ob W[ehrenpfennig] sich eine Art Suprematie seinerseits vorstelle, wenigstens keine Collegen wünsche. Dies als unabänderlich angenommen, habe ich vorgeschlagen, etwa 6 Personen für jährlich 2 selbständige u. vortreffl[iche] Essays fest zu engagiren u. diese dafür höher zu bezahlen; dies könnte die andre Einrichtung bis auf einen gewissen Punkt ersetzen. In manchem ist es vorzuziehn. Mein Ideal wäre, daß Twesten und Sie plenipotentiair3 die Jahrb[ücher] übernähmen.4 Über Alles allesammt mündlich, da ich, bevor d[ie] Augustfer[ien] beginnen durch Halle und Leipzig komme. Nebenbei oder allererst freue ich mich unsäglich laboribus peractis5 Sie u. Gosche, dem ich mich herzlichst zu empfehlen bitte, wiederzusehen. Von ganzem Herzen d[er] Ihrige Dilthey 2 Juni [18]63. Original: Hs.; ULB Sachsen-Anhalt, Halle, Haym-NL, Yi 23 IV D 4 m; Erstdruck: BDH, Nr. 13. 1

Der vorausgegangene Brief R. Hayms an D. ist nicht überliefert. D.s Plan, über Wilbrandts Abhandlung Heinrich von Kleist, die 1863 erschien, in den PJ zu schreiben, wurde nicht ausgeführt. 3 Plenipotenz: unbeschränkte Vollmacht. 4 Nicht Twesten, sondern Wehrenpfennig trat in die Redaktion der PJ ein. 5 Mit vollendeten Arbeiten. 2

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[155] Dilthey an Adolf Wilbrandt Juni 18631 Lieber! Du hast lange nichts von mir gehört. Die Augen mangelhaft; die Stimmung trübselig; die Arbeit langsam schleichend. Vor Mitte Juli bin ich nicht fertig. Dann wird f[ür] d[ie] Augen gelebt u. ich werde Dich in Frankfurth langen. Über Kleist wäre viel zu schreiben gewesen; Dir selbst wird inzwischen, was von Beifall oder abweichender Meinung zu sagen wäre, wie aus einer alten Zeit klingen. Eher geht das noch mündlich u. am besten, wenn der große Essay da ist, dessen Dein Buch im August oder Sept[ember] d[en] preuß[ischen] Jahrb[üchern] theilhaftig werden soll.2 Ich habe mit der wundersamen Berechtigung – vermöge unsrer sonst[igen] Harmonie – geschlossen, Du müßtest so über Kleist schreiben, wie ich über ihn dächte u. habe daher verschiedne Briefe mit starken Invektiven gegen die Differenzen Deines Briefs3 von den mir eignen Gedanken geschrieben. Du wirst ja dann, wenn ich zum Schreiben komme meine Ansicht Kleists sehn u. das ist besser als blos die Differenzen d[e]rs[elben] von den Deinigen zu bezeichnen. Üb[rigens] ist das Ex[emplar] des Verlegers immer noch unterwegs! Von Politik nichts; auch sonst nicht die Möglichkeit mehr zu schreiben, da meine Zeit ents[etzlich] zersplittert ist. In 5 Wochen sehn wir uns ja. Auf dem andren Blatt einige Zeilen über die preuß[ischen] Jahrb[ücher] durch deren Aufnahme Du Haym verpflichten würdest. Bleib mir gut, wenn wir auch nicht über Kleist gleich denken – über einige andre nicht unwichtige Dinge sind wir ja erträglich einig. Dein Dilthey Lützower Wegstraße 36. im Garten. [Nachfolgende Zeilen sind auf einem Blatt beigelegt] [.|.|.]: ich brauche Geld u würde daher, falls Ihr gut bezahlen könnt einige Sachen für die Südd[eutsche] widmen, welche ich entweder hier oder später zu Hause diktirte. Ich könnte nehmen: 1) die deutsche Novellenlitteratur; am liebst[en] 2 Artikel einen über Göthe, Tieck, etc., einen über die neusten u. allerneusten. 2) aus Schopenhauers Leben. (Gwinner[,] Frauenstädt).4 Oder auch überh[aupt] üb[er] diesen. 3) Sulpiz Boissereé (s[eine] Mitth[eilungen] über Göthe).5 4)

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Dilthey an Adolf Wilbrandt

Freytags Theorie des Drama u. ihre Gegner (= Klein6). – Ich müßte es aber bald wissen. Für die B[erliner] A[llgemeine] Z[eitung] bekomme ich c 50 r. für d[en] Bogen. Original: Hs.; ÖStA Wien, Wilbrandt-NL, K 3, fol. 795–796. 1

Am oberen rechten Rand von fremder Hand: „(Juni 63.)“. D.s geplante, aber nicht geschriebene Besprechung von Wilbrandts H. v. Kleist. 3 Nicht überliefert. 4 W. Gwinner: Arthur Schopenhauer aus persönlichem Umgange dargestellt. Leipzig 1862; J. Frauenstädt: Briefe über die schopenhauersche Philosophie. Leipzig 1856. 5 J.S. Boissereé: Briefwechsel und Tagebücher. Stuttgart 1862. 6 Julius Leopold Klein nahm Bezug auf G. Freytags Technik des Dramas in: Deutsche Jahrbücher für Politik und Literatur. Jg. 1863, Nr. 7, S. 119–144. – D. schrieb hierzu in: Berliner Allgemeine Zeitung (1863), Nr. 143, 149, 157, 163; Literarisches Centralblatt (1863), Nr. 31, S. 738 f.; Kritische Blätter (1863), Nr. 7, S. 27; WA in: Die große Phantasiedichtung und andere Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte, a. a. O., S. 132–159. 2

[156] Dilthey an seinen Bruder Karl (Berlin, Mitte Juli 1863) Liebster Karl! Ich bekomme eben vor Tisch Deinen Brief 1 und antworte gleich. .|.|. Ich habe mit meinen Augen viel Sorge wieder ausgestanden und werde nun ihretwegen vor meiner Abreise nicht weiter kommen als 1) die Dissertation einzureichen 2) die Habilitationsschrift ziemlich fertig zu haben. Nach Abspruch mit Trendelenburg würde ich so dann am ca. 15. November zum Lesen kommen, wenn die Kur des Nichtarbeitens so einschlägt wie sie soll. .|.|. Wie ich mit dem Gesagten fertig werden und Geld beschaffen konnte, während ich eigentlich weder lesen noch schreiben darf, ist ein Kunststück, das mir nicht bald jemand nachmachen wird – trotzdem bin ich darauf gefaßt, zu Hause eine begreifliche Unzufriedenheit zu treffen. .|.|. Vater meint mit Sicherheit ich werde 1) fertig sein 2) Geld haben 3) meine Augen kurirt haben. Dies wunderbare Kunststück ging natürlich über meine Kräfte. .|.|. Von Politik nichts. Die Rechnung der Fortschrittsparthei auf „das Volk“, wenn sie je richtig war, wird doch erst sehr spät fällig werden. Der Kronprinz2 ist – nach allem – dank dem Einfluß der sogenannten Gothaer3 fest;

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Dilthey an seinen Bruder Karl

aber ein einstiges Ministerium der altliberalen Parthei wird doch auch weder der Stimmung des Landes noch den wirklichen Bedürfnissen genügen können. Und anders als durch ein zweites „Geschenk“ werden wir den zweiten Manteuffel4 sicher nicht los. Der einzige Trost in dieser Hexenküche bleibt, daß durch wachsende politische Bildung im Laufe der Jahre die Politik vom Einfluß Einzelner freier werden wird. Laß bald von Dir hören – auch wann Du dann abreisest. Dein Wilhelm Lützower Wegstr. 36. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 78. 1

Nicht überliefert. Friedrich Wilhelm von Preußen (1831–1888): seit 1861 preuß. Kronprinz, ab 9. März 1888 für 99 Tage Deutscher Kaiser und König von Preußen. 3 Ehemalige Abgeordnete des Frankfurter Parlaments, die im Juni 1849 in Gothar beschlossen („Gothaer Nachparlament“), die Unionspolitik Joseph von Radowitz’ zu unterstützen und am Erfurter Unionsparlament teilzunehmen, um doch noch einen engeren Zusammenschluss Deutschlands zu erreichen. 4 Otto Theodor Freiherr von Manteuffel (1805–1882): konservativer Politiker; 1848–1850 preuß. Innenminister, 1850–1858 preuß. Ministerpräsident; Gegner der Unionspolitik und des Generals von Radowitz. – Mit dem „zweiten Manteuffel“ ist vermutlich Otto von Bismarck gemeint, der bereits seit September 1862 preuß. Ministerpräsident und Minister der auswärtigen Angelegenheiten war. 2

[157] Dilthey an Adolf Wilbrandt [Anfang August 1863]1 Lieber Wilbrandt! Ob ich durch irgend einen Zufall oder durch Dich um unser Zusammensein gekommen bin, weiß ich nicht. Nun muß ich wohl, falls Du Mittwoch nicht kommen kannst erwarten, ob ich Dich irgend sonst wie vor der großen italienischen Tour noch zu sehen bekomme.2 Aber einen Gefallen könntest Du mir vorher thun. Ich habe Sonntag frühe meinen Paß an Wehrenpfennig geschickt um ihn vom italienischen Gesandten beglaubigen oder visieren oder welche Operation er sonst für ihn gut findet zu lassen. Nun fange ich an zu fürchten daß Wehrenpf[ennig] bevor er ihn erhielt abgereist ist und daß er vielleicht nicht heute (Donnerstag Nachmittag) zurückkommt. Da ich nun Donnerstag ganz frühe abreisen muß 3 so bitte ich Dich auch falls Wehren-

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Dilthey an Adolf Wilbrandt

pfennig heute Nachmittag nicht zurück ist, Dir den [.|.|.] Brief 4 von Bibrich [?] geben zu lassen, unter der Vergütigung etwaiger Auslagen Mittwoch frühe den Paß zu besorgen und mir zu schicken. Ich wüßte mir sonst nicht anders zu helfen, als daß ich extra nach Frankfurt käme, um ihn in ungeheurer Hast zu holen, nämlich am Donnerstag frühe. Wenn Du mir, da meine Augen die Eisenbahn schlecht vertragen und ich nachher in furchtbarer Eile bis Friedrichshafen reisen müßte um die Reisegefährten dort zu treffen, ersparen kannst, so thust Du mir einen großen Gefallen. Auf den Paß und Brief schreibe ja „sogleich abzugeben[“]. Adieu auf Wiedersehen nach der Reise Dein Wilhelm Dilthey. Original: Hs. von fremder Hand (Diktat D.s); ÖStA Wien, Wilbrandt-NL, K 3, fol. 797. 1

Im Original unter der Anrede von fremder Hand: „August 63.“. Wilbrandt unternahm in den Jahren 1863/64 ausgedehnte Reisen nach Italien und Frankreich. 3 D. machte zusammen mit R. Haym, dem Hallenser Augenarzt Alfred Graefe (1828–1870) und dem Hallenser Gynäkologen Robert Olshausen (1835–1915) in den Herbstferien 1863 eine Reise in die Schweiz und an die oberitalienischen Seen (vgl. R. Haym: Aus meinem Leben. Erinnerungen. Aus dem Nachlaß herausgegeben. Berlin 1902, S. 281–284). 4 Nicht überliefert. 2

[158] Dilthey an seine Eltern Pontresina,1 d[en] 20. August [1863]2 bei starkem Schneefall. .|.|. Hier wäre nun die schönste Zeit, zu schreiben, Gedichte zu machen usw., denn das ganze Thal ist im Schnee. Heute früh sollten Gletscher bestiegen werden, oder der Pic Languard; nun haben wir uns kurz entschlossen, der Kälte und dem Eis und Schnee nach Italien zu entfliehen. Wir müssen die Berninastraße aufgeben und gehen heute mittag mit der Post nach Chiavenna, von da nach Bellagio. Gestern hatten wir einen wundervollen Tag. Der wundervolle Weg von Silva Plana nach St. Moritz – der See dort von gewaltigen Spitzen im Schnee umgeben, dann wieder die Seen entlang hierher, wo wir auf dem Weg stun-

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Dilthey an seine Eltern

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denlang im Grase lagen rings um uns Schnee und Eis, in warmer Sonne – von dem allen mündlich. Ich schreibe weiter, sobald wir in Bellagio sind. Bellagio, den 22. August Eben da wir von einer wundervollen Fahrt über den Comersee zurückkehren, bekomme ich Vaters Brief 3 – wie man Briefe auf der Reise, in voller Freiheit bekommt, mit tausend Freuden. Der Comersee ist nun doppelt blau, die Luft doppelt klar, da ich weiß, daß es Euch allen so gut geht. Der Weg über den Malojapaß war unbeschreiblich schön. Aus Schneeumgebung in drei Stunden in italienische Luft: wir hatten einen Condukteursitz hoch oben, die fünf Pferde immer im Zickzack galoppirend zwischen den Felswegen, die jauchzenden Postillione, die rasende Eile an Schluchten und Abgründen vorüber: alles machte einen wundervollen Effekt. Der Regen hatte nachgelassen, schon als wir zu den Gebirgsseen des Inn kamen, und bei den Pässen war es scharf und klar. In Chiavenna kamen wir um 10 Uhr an: italienischer Gasthof: der Palast Barbarossas in Trümmern, schöne Aussicht auf die Berge, zwischen denen die Splügen- und Malojapässe laufen und die dann in Weinberge enden. .|.|. Wir fuhren nicht weiter den Abend, um nicht in der Fieberstadt Colico zu übernachten, die an der Nordspitze des Comersees liegt. Aber die Passagiere kamen ohnehin zurück, da die Post durch einen Engländer angehalten worden war, der dort bei seinen Landsleuten Hilfe suchte, weil er eben auf dem Weg von Colico nach Chiavenna mit drei anderen beraubt, die Post geplündert, zwei verwundet waren. Wir sollten Carabinieris am andern Morgen zur Begleitung haben, sie schienen aber nicht eingetroffen zu sein. Das Geld trugen wir mit großer Beschwer in den Stiefeln: indeß wollte sich von den 14 Ungeheuern keines einstellen. In Colico begann der Comersee und italienische Natur. So blau, so durchsichtig, so klare Linien, so farbengesättigt, daß keine Phantasie es erreicht, taucht auf allen Wegen wieder See und Berge und Himmel vor einem auf, während man zwischen Lorbeeren und Myrthen, wildwachsendem Oleander sich durchwindet. .|.|. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 90. 1

Dorf im schweizerischen Kanton Graubünden, Bezirk Maloja, im Oberengadin. In JD ist der Brief fälschlicherweise datiert auf „1865“. D. berichtet hier jedoch von seiner Reise in die Schweiz und nach Oberitalien, die er 1863 zusammen mit R. Haym, A. Graefe und R. Olshausen unternahm. 3 Nicht überliefert. 2

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Dilthey an Rudolf Haym

[159] Dilthey an Rudolf Haym 1 Verehrtester Freund! Wo bleibt Ihre freundlichst versprochene Berichtigung der Briefstelle? Die Correktur wartet auf diese Notiz. Nochmals meinen besten Dank für Ihre liebenswürdige Zeitverschwendung während meiner Anwesenheit. Übrigens habe ich hier immer noch mit Ihrer anmuthigen – soll ich sagen: Dichtung oder Indiscretion? zu kämpfen, da W[ehrenpfennig], wie es scheint, der halben Welt von einem merkwürdigen Abentheuer erzählt hat, das ich bestanden haben soll.2 Dies zu Ihrer moralischen Aufbesserung in der vorliegenden Rücksicht. W[ehrenpfennig] rumort in der ganzen Stadt nach „Glanzpunkten“ für die Jahrb[ücher] und unterhält hunderttausend politische Beziehungen für die Jahrbücher. Mein Promotionstermin ist der 10 December.3 Sie haben doch in der Augsb[urger] Allg[emeinen] Z[ei]t[un]g Liebigs höchst-energische Erklärung gegen Sigwart gelesen?4 Nach Kiel kommt wahrsch[einlich] Überweg, vielleicht dann J. B. Meyer nach Königsberg.5 Das Register ist aufgegeben,6 da Reimer in 2 Jahren etwa eine wohlfeile ordentlich geordnete Ausgabe machen zu können hofft. Trotz aller andr[en] Arbeit kann ich mich von Grote gar nicht losreißen, von dem für alle Art Geschichte unendlich zu lernen ist.7 Mit bester Empfehlung an Ihre verehrte Frau, an Gräfe und Olsh[ausen] Ihr W. Dilthey. Dienstag früh. Original: Hs.; ULB Sachsen-Anhalt, Halle, Haym-NL, Yi 23 IV D 4 n; Erstdruck: BDH, Nr. 14. 1

Die Datierung wurde vom Hg. von BDH vorgenommen. Vgl. R. Haym: Aus meinem Leben. Erinnerungen 1902, S. 281 ff. 3 D.s Promotionstermin war erst der 16. Januar 1864. 4 Justus Freiherr von Liebig (1803–1873): Chemiker; 1824 a. o. und 1826 o. Prof. in Gießen, 1852 in München. – Christoph von Sigwart (1830–1904): Philosoph; 1859 bis 1863 Prof. in Blaubeuren, ab 1865 o. Prof in Tübingen. – J. v. Liebig: Ein Philosoph und ein Naturforscher über Francis Bacon von Verulam, in: Augsburger Allgemeine Zeitung, 2.–7. November 1863, Beilagen zu Nr. 306–307, 310–311; gerichtet gegen Sigwarts gleichnamige Abhandlung im Augustheft 1863 der PJ 12 (S. 93–129), die sich ihrerseits wieder mit einer früheren Abhandlung Liebigs Ueber Francis Bacon von Verulam und die Methode der Naturforschung (München 1863) 2

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Dilthey an Rudolf Haym

auseinandersetzte. Liebig hielt Bacon für unfähig zum Verständnis der Naturerscheinungen und der Methoden, die zu ihrer Erkenntnis führen. Sigwart antwortete noch einmal in: PJ 13 (1864), S. 79–89: Noch ein Wort über Francis Bacon von Verulam (vgl. BDH, S. 31, Anm. 3). 5 Ueberweg blieb in Königsberg, J.B. Meyer in Berlin. 6 Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. Bd. 4, S. VII–XVI: „Chronologisches Verzeichniß der in dieser Sammlung enthaltenen Briefe“. 7 D.s späterer Aufsatz über den engl. Geschichtsschreiber George Grote (1794–1871) erschien erst im April 1877 in: WM 41, S. 650–657 (Pseudonym „Karl Elkan“); WA in: GS XV, S. 251–258.

[160] Maximilian Dilthey an Dilthey [zum 19. November 1863]1 Mein lieber Wilhelm,

2

Gottes Segen mein lieber Wilhelm zu Deinem Geburtstag u. dem neuen Lebensjahr, das Du mit ihm antrittest und Segen von Deinen Eltern für Dein ganzes Leben, denen Du ja bis zu dem heutigen Tage nie Kummer bereitet und deren Freude u Stolz Du bis hierher gewesen u mit Gottes Hülfe immer bleiben wirst! Mit ruhiger Zuversicht sehe ich Deinem neuen Lebensjahr, u. was es Dir und in u mit Dir uns bringen wird, entgegen! Du selbst, denke ich mir, bist in Dir ruhiger und entschiedener seit die Sache mit Karlsruhe u den preuß[ischen] Jahrbüchern abgethan ist und Du nun mit allen Kräften Deinem erwählten Ziele zusteuern kannst. Wie wenig sind doch auch die Verhältniße in Preußen dazu angethan Deine schöne Thätigkeit an jene Zeitschrift zu hängen! Ich habe die feste Zuversicht, daß Deine Habilitation an d[er] Universität, verbunden mit Deinen Verbindungen i[n] mehr u mehr bekannt werdender Tüchtigkeit, Dir in nicht weiter Ferne, eine entsprechende Stellung schaffen wird. Die störende Arbeit mit den 2 B[än]d[en] d[er] Schl[eiermacher] Briefe scheint ja nun auch fast überwunden. Freilich Deine projectirte größere Arbeit über Schl[eiermacher] bleibt immer noch übrig u es wird mir lieb seyn zu hören, wie Du es den Winter über mit derselben, neben der Habilitation zu halten gedenkst. Heidelberg behalte ich gern vor allen übrigen für Dich im Auge u hoffe, daß bei der ersten günstigen Gelegenheit uns Roggenbach seinen Einfluß nicht versagen wird. Du bist jeden Falls dort weit mehr an dem Platze als in Berlin u für Dich, wie für uns, würde damit ein neues Leben beginnen. – Von unserm Carl haben wir gute Nachricht, zwei kleine Glassplitter sind durch Prof. Weber aus der Hand entfernt u d[ie] Hand zugeheilt u hoffent-

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Maximilian Dilthey an Dilthey

lich [bleibt] nichts mehr zurück. Die Sache hatte ihn indeß mit ihren Störungen für seine Arbeit doch mehr verstimmt, als er gestehen wollte; dazu kam ihm Westphals3 [.|.|.] Anwesenheit in Bonn, der dort sich habilitirt als Privatdozent, aber nach seinem letzten Brief wieder verschwunden ist. Schreibe dem braven Carl doch ja zuweilen u. bitte ihn ebenfalls, daß er sich nicht über Gebühr abarbeitet. So heiter er war, nach seiner Reise4 u so tref[f]lich aussehend, scheint er mir doch wieder ab u zu an dem alten Kopfweh zu laboriren u da ist Schonung eben dringend Noth, es jagt ihn ja niemand! – Von Lily ist vorgestern ein sehr heitrer Brief gekommen. Bleibt auch manches in den dortigen Verhältnißen zu wünschen übrig, so freue ich mich doch von Herzen über des Kindes treuen guten Willen u offenbar günstige Entwicklung; vollkommenes gibts nun einmal nicht in der Welt! Mariechens Unwohlsein war so unbedeutend u rasch vorübergehend, daß Du dich deshalb nicht hättest beunruhigen sollen, die Hauptsache war ohne Zweifel eine Erkältung die sich auf den Magen geworfen, das Ganze war in drei Tagen völlig vorbei – Mit Koepp5 gehts seit acht Tagen besser, die Geschwulst hat abgenommen, die Nächte viel mehr Schlaf. Er sitzt den ganzen Tag auf dem Kanapee, hat durchaus keine Schmerzen, lästig ist nur die Athmungsbeschwerde die ihn nicht am Sprechen, wohl aber am gehen hindert, eine Klage kommt nie über seine Lippen. Ich bin jeden Tag zweimal unten, namentlich abends die Unterhaltung thut ihm sehr wohl. Linchen hält sich wunderbar aufrecht, sie ist wahrlich ein Engel. Der Großmutter gehts gut, sie alle gratuliren Dir aufs herzlichste! Ein erneuerter Antrag von mir, die Großmutter, wie schwer das auch in mancher Beziehung für uns ist, zu uns [zu] nehmen, hat weder bei dieser noch bei Linchen u. Koepp Anklang gefunden u. man muß diese Sache, die mir schwer auf dem Herzen liegt, vor der Hand gehn lassen. – Bei uns im Hause geht alles gut u wir wollen an dem Ehrentage Deiner in Liebe gedenken, wie immer! Mit der Anlage 10 Th[a]l[er] v[on] Tante, 5 von mir sollst Du Dir Gutes thun und unser fröhlich gedenken! Daß Du der Tante Marie Geburtstag 14 Nov. vergessen thut uns allen leid, hole es ja bald nach! [Die] Conferenz [ist] glücklich vorüber, mir macht viel Schreiberei nur Noth bei meinen schwachen Augen [.|.|.]. Ich würde dabei viel Widerspruch noch erfahren, da ich der einzige bin der den Rotheschen6 Standpunkt vertritt. Nun Gott mit Dir treuer Wilhelm u laß bald etwas Gutes u Liebes von Dir hören. Mit der alten Liebe Dein tr[euer] Vater Dilthey

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Maximilian Dilthey an Dilthey

Schreib auch wie Du den Geb[urts]tag verlebt! auch ob Du ordentlich für die Gesundh[ei]t sorgst! Vergiß mir den Sohn des braven Eibach7 nicht! er ist mir sehr lieb [.|.|.]. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 a. 1

Im Original: nachträgliche Datierung von fremder Hand: „ca. 1862“. Darüber von D.s Hand: „Mein Vater“. 3 Rudolf Westphal (1826–1892): klass. Philologe; 1857–1862 a. o. Prof. in Breslau, 1875–1880 Lehrer am Lyzeum in Moskau. 4 Karl D. hatte eine Forschungsreise nach Griechenland unternommen. 5 Ferdinand Koepp, der Ehemann von D.s Cousine Karoline, gen. Linchen. – F. Koepp starb noch im Jahre 1863. 6 Richard Rothe (1799–1867): protest. Theologe; 1828 Prof. in Wittenberg, 1837 o. Prof. in Heidelberg, 1849 in Bonn, 1854 in Heidelberg. 7 Sohn des Biebricher Pfarrers Eibach. 2

[161] Lina Duncker 1 an Dilthey [6. Februar 1864] Es hat mir recht leid gethan, daß Sie während unserer kurzen Mittagspause hier waren. Sie werden wie alle Freunde Veits außer sich sein über seinen unerwartet schnellen Heimgang nach scheinbarer Besserung.2 Ich habe hier in den letzten Tagen ein schauerliches Unglück erlebt, unser jüngster Freund und Hausgenosse hat sich vergiftet, und ich war Zeuge seines letzten Augenblicks. Ein unvergeßlicher Anblick und Eindruck. Sie könnten mir einen rechten Gefallen thun, wenn Sie mir die von Herman Grimm herausgegebenen 2 Reden von Jacob Grimm3 besorgen wollten. Leider sind dieselben im Buchhandel vergriffen. Haben Sie dieselben nicht, so können Sie dieselben wohl bei Grimms entlehnen. Ich hätte sie gern morgen und sende sie Ihnen übermorgen zurück. – Morgen Abend würden Sie uns übrigens zu Hause finden, wenn Sie kommen mögen. Sehr eilig L. Duncker Sonnabend Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 247, unpaginiert.

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Lina Duncker

1 Lina Duncker (1825–1885): Gattin des Verlegers Franz Duncker, führte in Berlin, Potsdamer Straße, einen Salon, in dem W. Scherer, J. Rodenberg, G. Keller, A. Ruge, F. Lasalle u. a. regelmäßig verkehrten. 2 M. Veit, Buchhändler und Verleger in Berlin, starb am 5. Februar. 3 J. Grimm: Rede auf Wilhelm Grimm und Rede über das Alter. Gehalten in der königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Hg. von H. Grimm. Berlin 1863.

[162] Dilthey an seine Mutter [ca. 8./9. Februar 1864] Liebste beste Mutter! Meine Glückwünsche zu Deinem Geburtstag. Möchte dies Jahr Dir nichts Trübes und recht viel Heitres bringen. Ich wünsche mich gar oft in dieser Zeit zuweilen zu Euch, meine Arbeit stockt manchmal, und da ich den wie ich glaube heilsamen Trotz habe, keine Zeile sonst zu arbeiten bis sie fertig ist, damit nichts mich zerstreue: so bedarf ich selten der Gesellschaft u. der Aufheiterung. Nun hoffe ich in stark 14 Tagen fertig zu sein. Ich will unendlich froh sein; meine Arbeit kommt mir jetzt zuweilen vor, wie wenn man unreifes Obst abbricht, damit es rasch im Liegen reif wird. Ich habe daher auch noch gar keinen rechten Begriff wie viel das Zeug werth sein wird. Heut früh war ich bei unermeßlichem Schneegestöber in dem ungeheuren Zug von Veits Leichenbegängniß. Sein Tod ist mir nah gegangen. Er hatte ein unbegrenztes u. reines Wohlwollen in seiner Natur. Unglaublich stark ist hier in diesem Winter die Sterblichkeit gewesen u. alle Welt hat unter den seltsamen Witterungswechseln gelitten. Auch Julian Schmidt ist krank wahrscheinlich ebenfalls an einem Herzleiden u. seine ohnehin schlechte Laune unerträglich, sodaß seine Frau obwohl er sich bei ihr mehr als bei andren Menschen in Acht nimmt auch schlechte Tage gehabt hat. Dazu hat sich die unerträgliche Schwester in Permanenz erklärt. Sie streichelt ihren Bruder u. kratzt alle übrigen Menschenkinder: als eine getreue Hauskatze. Wehrenpf[ennig]’s Frau ist von ihrer im Mai bevorstehenden Niederkunft sehr angegriffen, da sie das vorige Mal in Lebensgefahr war. Die Politik hat uns hier alle in der Gewalt. Es ist fast kein Haus in Berlin, das nicht einen verwandten in Schleswig hätte, die Aufregung ist außerordentlich groß, wohin die Entscheidung des Königs fällt.1 Als der Kronprinz abreiste, hat ihm der König versprochen sich vom Protokoll loszusagen; dann wieder Bismark, die Kronpronzessin erklärte dem König in einer stürmischen Szene, er compromittire ihren Mann, er habe ihn durch Bismark beseitigen lassen u.s.w. Der König selbst ist immer noch im Schwanken.

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Dilthey an seine Mutter

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Eine rechte Wohlthat ist mir der Verkehr mir Hermann Grimm, den ich immer lieber gewinne. Er ist zugleich so vornehm u. so offen und gut. Ich glaube, daß wir obwohl unser theoretischer Gedankenkreis sehr dishamonirt, recht für einander gemacht sind. Seine Frau, eine Gräfin Arnim, Tochter der Bettina,2 ist sehr kränklich, aber außerordentlich gut und klug u. lebhaft. Ab u. zu bringt der Diener einen scherzhaften Brief von ihr; sie hat wirklich Witz. Sonst war sehr viel Gesellschaftstreiben. Ich habe mich sogar verleiten lassen, zwei Bälle zu besuchen, einen bei Trendelenburg u. einen bei dem großen Demokraten Franz Duncker,3 der sich jetzt ein förmliches Palais gebaut hat, das eingeweiht wurde. Bei diesem sieht man denn die Häuptlinge der Demokraten: Löwe,4 Twesten, Schulze-Delitzsch5 – von denen Löwe der interessanteste ist. Die Chancen der Demokratie sind durch diesen Krieg außerordentlich gefallen; aber sie hat Patriotismus genug dies jetzt gar nicht zu empfinden. Natürlich ist von der Militärfrage nicht so bald wieder die Rede, falls sich der König vom Protokoll lossagt. Mein Freund Scherer aus Wien ist nun auch weg.6 Er schrieb sehr ergötzt drüber, daß als er dort sich im Hause des Superintendenten Franz7 wieder vorstellte u. dort geglegentlich meinen Namen nannte, der Franz von Vater mit großer Freude zu erzählen anfing u. dessen Besuch in Wien. Einen furchtbaren Fehler hat meine jetzige Lebensweise: ich verdiene gar nichts. Und das ist grade, wenn ein Neujahr mit Rechnungen dazwischenfällt, ein sehr arger Fehler. Indeß soll nun alles so durchgesetzt werden daß ich zu Ostern lese8 und für den Schleiermacher zugleich reine Bahn habe: dann läßt sich das in den nächsten Wochen schlechterdings noch nicht ändern. Der Druck allein hat, nebst d[en] nöthigen Buchbindereien, 56 Thaler gekostet: der Doktorschmaus9 auch etwa 12, sodaß Tantes Geschenk auch nicht zureichte. So bin ich wieder auf dem Trockenen. Wenn ich auch in 16. 17 Tagen dazu komme, etwas für die preuß[ischen] Jahrbücher zu schreiben, so bekomme ich doch das Geld erst den 1. April und das kaum, da es schwerlich in’s Märzheft noch käme. Überhaupt ist so wichtig daß ich mit dem ersten Bande des Schleiermachers Ernst mache, auch pecuniär wichtig schon damit mir damit niemand zuvorkommt, daß mein Vorschlag der wäre: Ihr überlegt, wie viel Ihr mir gut für dies Jahr geben könnt noch, die Tante macht auf möglichst lange die Zinsen flüssig u. leiht mir dann, was ich noch überdies gebrauche, sodaß ich es ihr nach Beendigung des ersten Bandes des Schleiermacher zurückbezahle. Ich rechne, daß ich bis zum 1 September, wo ich mit dem 1 Band fertig zu sein u. zu Euch kommen zu können hoffe 400 Thaler gebrauchen werde als Maximum; 100 Thaler verdiene ich ohne mich zu sehr zu zerstreuen für Mittheilen von Briefen u. dgl. in den preuß[ischen] Jahrbüchern. 300 Thaler wünschte ich sehr

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so bekommen zu können; im Nothfall muß auch davon was erschrieben werden. Dies also zu Eurer Überlegung. Ich hoffe sicher drauf daß dies mein letztes Geldbedürfniß von großem Belang ist; die 2 B[än]de Schl[eier]m[acher] werden hoffentlich etwa 1200 Thaler eintragen. Und deßwegen hab ich auch den Muth drum zu bitten. Seid mir alle aufs Beste gegrüßt u. laßt bald von Euch hören. Euer Wilhelm. NB. im Augenblick brauche ich noch kein Geld, etwa 1 März 100 r. – 1 Mai 100 – 1 Juli 100 – Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 b. 1 Am 1. Februar 1864 hatte der deutsch-dänische Krieg begonnen; preuß. und österr. Soldaten besetzten Schleswig und rückten weiter nach Jütland vor. 2 Giesela Grimm (1827–1889): Schriftstellerin; Ehefrau H. Grimms seit 1859. 3 Franz Gustav Duncker (1822–1888): Verleger und links-liberaler Politiker; Mitbegründer der Fortschrittspartei. 4 Friedrich Wilhelm Löwe (1814–1886): Arzt, linksliberaler Politiker; seit 1861 Mitglied der Fortschrittspartei, 1863 Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses. 5 Hermann Schulze-Delitsch (1808–1883): Politiker, Begründer des deutschen Genossenschaftswesens; 1859 Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses. 6 Scherer wurde 1864 Privatdozent in Wien. 7 Gottfried Franz (1803–1873): protest. Pfarrer; Kandidat im Herzogtum Nassau, 1829 Pfarrer in Wien, 1838 Superintendent in Wien. 8 D. nahm seine Lehrtätigkeit in Berlin erst im Wintersemester 1864/65 auf. 9 D.s Promotion hatte am 16. Januar 1864 stattgefunden.

[163] Dilthey an Bernhard und Luise Scholz [Frühling 1864.]1 Liebster Freund! Seit ich Deinen Brief 2 bekam wollte ich alle Tage schreiben. Aber warum stellst Du einem auch dabei eine so pikante, nämlich scheinbar so leichte, in Wirklichkeit so schwere Aufgabe, als das Finden eines Textes zu einem weltl[ichen] Orator[ium], wie Du ihn wünschst?3 Nachdem ich mich selbst, Bücher u. Freunde gefragt: will mir doch nichts beifallen als: 1) Szene aus Gudrun,4 am besten der letzte Theil. 2) Wiedertäufer, wobei freilich der Prophet5 Tischnachbar. Müßte die Münstersche Geschichte mit aller Leidenschaft gemacht werden.

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Dilthey an Bernhard und Luise Scholz

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3) Ich habe meinen Dante verliehn; aber hier ist der verschiedenste Stoff zu großen allegorischen Gedichten – falls sich ein ordentl[icher] Dichter fände, der dies frei behandelte, mit orpheischen Szenen ‚furchtbare Schatten‘ etc. Übrigens hat Frau Grimm Joachim aus dem Dante einen sehr schönen Stoff gegeben, wo Dante (paradiso) auf die zur Reinigung überfahrenden Schatten trifft u. einen erkennt. Wenn Joach[im] damit Ernst macht, so fällt also Dante weg. Ich erwähne ihn daher hauptsächlich um das Genre der möglichen Stoffe zu erwähnen: im Parcival des Wolfram von Eschenbach liegt ebenfalls ein sehr tiefsinniger Stoff; das Fragen desselben ist höchst dramatisch etc. Dies alles ließe sich schon in ein paar Tagen in Hannover in Ordnung bringen, nöthigenfalls auch der Text – falls ich nur ein paar Tage hätte! Aber mit dem ganzen, vollen und kaum erträglichen Bewußtsein, unter dem Zorn meiner verehrten Freundin, ja dem nicht unverdienten Zorn zu stehn, muß ich doch folgendes offene Bekenntniß ablegen: Allerverehrteste Frau Gevatterin! Um nicht aus einem Flunkern ins andre zu gerathen, habe ich alle Versprechungen verschworen u. gebe nur folgende auf Ihr Mitgefühl berechnete Schilderung meiner gegenwärtigen Situation. Nachdem endlich die Präludien im Ganzen, wie ich hoffe abgespielt sind (noch 2 öffentl[iche] Vorles[ungen], e[ine] vor Fakultät u. 1 vor Studenten restiren, die ich eben ausarbeite), nachdem der 4te B[an]d der Schleierm[acherschen] Corresp[ondenz] edirt: habe ich nun 2 Aufgaben zugleich vor mir 1) meine erste Vorl[esung] in d[ie]s[em] Sommer zu halten 2) die Schleiermachersche Biogr[aphie] definitiv zu Stande zu bringen. Fasse ich die 2 Sachen langsam an, so kommt der Herbst ohne daß aus der Hauptsache, dem Schl[eier]m[acher], etwas Ord[en]tl[iches] geworden ist. Da nun sothanes6 Opus auf 2 Bände angelegt ist: so habe ich unweigerlich beschlossen, den ersten Band bis zum Herbst zu absolviren. Hierfür ist, neben der Vorles[ung], die größte Eile von Nöthen; ich knausere daher, wie ich kann – um im Herbst einmal wieder mit Zeit um mich werfen zu können. U. zwar rechne ich, vom 1 Sept[ember] bis gegen Ende October gründlich zu faullenzen. Das hat aber, wenn ich mit d[em] 1 Bd nicht fertig, gar keine Manier. Sinnen Sie also, wie wir nachher möglichst behaglich eine Zeit lang zusammen sein können. Ich habe dann ein gut Gewissen. Denn ich bin auch Zeit her ziemlich fleißig gewesen. Meine gedruckte dicke latein[ische] Dissertation schicke ich nicht. Mein noch dickeres Buch, das der Fakult[ät] weg[en] Habilitirens vorliegt, lasse ich noch nicht drucken (über die Grundlagen der Ethik)7 es soll noch langsam wachsen. Sie sehn was für leidenschaftliche Manöver ich mache, in

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jenes wunderbare Buch zu kommen, von dem ich zuweilen träume, welches durch den Bau der Stimmritzen, durch Fingerfertigkeit, Zungengeläufigkeit u. ähnliche werthvolle Naturgaben u. Künste gegenwärtig vielbelobte Personen enthält. Daß Ihr Mann, oder daß Du die Bekanntschaft mit Hermann Grimm vermittelt hast: ist mir viel werth. Wir sind uns einander recht nah gekommen und auch seine Frau ist mir durch das reine Wohlwollen in ihrer Natur sehr werth. Bei einer sehr großen Verschiedenheit der geistigen Richtung – die kaum viel größer gedacht werden könnte – scheinen wir doch dazu gemacht zu sein, einander gegenseitig zu verstehen. Größer kann freilich die Differenz kaum gedacht werden als zwischen meinem Köhlerglauben an die Zukunft aller wahren, strengen Wissenschaft und seinem künstlerischen Subjektivismus, [Briefschluss fehlt.] Original: Hs.; HLB Wiesbaden, Hs 341 (16); Erstdruck: BDSch, Nr. 16; WA in: JD, Nr. 79. 1

Die Datierung wurde von der Hg. von BDSch vorgenommen. Nicht überliefert. 3 Den Text zu Scholz’ Deutschem Tedeum schrieb später D. nach Worten der Bibel und kirchlichen Hymnen; die Aufführung fand am 1. März 1867 durch den Sternschen Gesangverein statt (vgl. Scholz, S. 216). 4 Epos aus dem frühen 13. Jh. 5 Gemeint ist die gleichnamige Oper des deutschen Komponisten und Dirigenten Giacomo Meyerbeer (1791–1864), die 1849 in Paris uraufgeführt wurde. 6 Sotan: solch, so beschaffen. 7 D.s Habilitationsschrift Versuch einer Analyse des moralischen Bewußtseins wurde erst postum veröffentlicht in: GS VI, S. 1–55. 2

[164] Dilthey an Herman Grimm Mittwoch d[en] 6ten Juli, Berlin [1864] Lützow[er] W[eg] 36. Lieber Freund! Denen die Gott lieb haben müssen sich alle Dinge zum Besten wenden, sogar Regenwetter! Wissen Sie übrigens daß Ihr Brief 1 allerdings etwas von kühler Witterung an sich hat? Wenn ich auch nicht an meine Freunde schreibe, so denke ich wenigstens wärmer an sie. Aber ich vergesse .|.|. Wenn Ihnen wieder eine Antwort ausbleibt, so denken Sie eher alles andre, als daß der betreffende Sünder gestorben ist. Wie das vielmehr eher der Feh-

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ler sehr vergnügter Leute ist, so ist auch Dr. Richter2 im Augenblick nur noch zu sehr mit seiner neuen Würde beschäftigt. Derselbe hat nämlich den Vortrag der Litteraturgeschichte an der Kriegsakademie durch Wiese3 erhalten: eine Thätigkeit, die zu wöchentlich 4 Stunden verpflichtet, höchst angenehm ist und 400 r. einbringt, also so passend nur etwas für ihn gedacht werden konnte. Dies wird hoffentlich auch entscheiden, daß er sich habilitirt, wozu er in letzter Zeit wenig Lust zu haben schien, anstatt sich in den Staub eines Archivs zu vergraben. no 2: Erdmannsdörfer corrigirt u. liest Collegien Tag u. Nacht. Die Unzufriedenheit die in ihm überhandnimmt macht mir Sorge. Es ist eine sonderbare Lage, sich pecuniär sehr gut zu stehn, durch lauter wissenschaftliche Arbeiten, und doch immer wie durstig an der Quelle zu sitzen. Seine Reisepläne sind auf die Miniaturausgabe eines mitteldeutschen Gebirgs zusammengeschrumpft. Oder er geht nach Rügen und Dresden. Es quält ihn mancherlei. Er möchte gern seine Schwester hier in einer schicklichen Stellung, zur Unterstützung einer Hausfrau etwa, haben. Lassen Sie nicht merken, daß ich Ihnen das geschrieben; aber wenn Ihre Frau eine Situation der Art, die für ein tüchtiges, gescheites, liebenswürdiges thüringisches Kind paßt, auszudenken weiß, so würde sie ihn, der außerordentlich an seiner Schwester hängt und, einer zweiten Frau seines Vaters wegen, sie nicht im elterlichen Hause sehen möchte, eine große Last vom Herzen nehmen. Sie ist jetzt bei Freunden. Dies ganz unter uns. no 3. Jürgen Bona Meyer geht Anfang August nach Karlsbad. Berichs4 erklärt ihn für unbedeutend leberleidend. Es ist wahrscheinlich secundär und der Magen der eigentlich schuldige Theil. Ist wieder heiter, faulenzt, macht keinen Schopenhauer, während der Haym’s Morgen erscheint.5 Wird hoffentlich schließlich Fräulein D heirathen und dann ganz gesund werden. Vielleicht kommt er an Waitz’ Stelle nach Marburg.6 Dies, nicht Marburg, sond[ern] Fr[äulein] D. abermals ganz unter uns. (Ich habe es daher für besser gehalten, den Namen lieber wieder auszustreichen.) no 4 Meine Wenigkeit. Er ist jetzt wirklich Privatdozent der Philosophie in Berlin,7 letzter, der falls er Zuhörer bekäme, kein Auditorium zu bekommen pflegt. Trotzdem hat er mit vielem Gottvertrauen Logik und über Schleiermacher angekündigt. Überwältigt von all dem was er in den übrig bleibenden vier Monaten thun mußte (dann auch dran denkt einen Bogen über Logik drucken zu lassen für – seine Zuhörer!),8 ist er in einen sehr angenehmen schlafähnlichen Zustand verfallen, in welchem ihm von einem Hermann Stauffer9 viermal geträumt hat, dann von einer Theorie der historischen Methode und verschiednen logischen Schnitzeln, sehr wenig leider von Schleiermacher. Dieser Zustand dauert nun seit dem 16ten Juni, an welchem Tage er

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seine lateinische Antrittsrede hielt, acht Tage vorher erst seinen Spinoza:10 tantae molis erat romanam condere gentem.11 Dieser Vortrag ist mit vieler Attention von der philos[ophischen] Fakultät angehört worden. Prof. Trendelenburg erschien als Gegner, mit sämmtlichen Werken Spinozas in Händen, nachdem er über denselben Gegenstand seit einem halben Jahre arbeitet um eine Vorlesung in der Akademie drüber zu halten.12 Der Kampf war sehr heftig. Der Betreffende rechnet es sich allerdings zu großem Stolze, in etwa sechs Wochen es mit Spinoza so weit gebracht zu haben, daß er [sich] keine auffallenden Blößen gab. Für den Druck will er erst die Vorlesung Trendelenburgs in der Akademie abwaren. Die Herrn waren ungemein artig. Hier lieber Freund haben Sie in objektiver Kühle, worüber Sie objektiv-göthesch-kühl-vornehm-sachlich-beinahe gegenständlich, bis auf Ihre Handschrift von einem Sekretär geschrieben, angefragt haben: „Nachricht was die Freunde thun, damit man überhaupt merke es werde noch etwas gethan“. Sollte übrigens eines Tages die Sonne scheinen und Ihr Auge heiter u. herzlich auf mich zufällig fallen, so schreiben Sie drei Zeilen und Sie sollen Nachricht haben wie mir’s zu Muthe ist, ordentliche und freundschaftliche. Dann schreibe ich Ihnen auch ordentlich über den Michelangelo,13 den ich mit vielem Dank erhalten, in dem ich eifrigst herumgelesen, wie einmal meine Unsitte ist, den ich aber erst in diesen Tagen, nachdem er vom Buchbinder zurück ist, ordentlich zu studiren angefangen habe. Mir ist vorläufig nur als könnte man über die Zeit gar nicht anders schreiben als Sie thun; alles tritt zwingend u. eigenthümlich, und doch klar hervor; es ist nicht möglich einer historischen Darstellung mehr künstlerische Geltung und Anschaulichkeit zu geben. Scherers Vortrag14 ist im Centralblatt in einer sehr hämischen Weise angegriffen worden. Die wilde Zerstörungslust geht schon draus hervor, daß beinahe zwei Spalten dem kleinen Schriftchen, welches kaum in’s Centralblatt gehörte gewidmet sind. Die ganze Kritik ist auf ein absichtliches Mißverständniß gebaut. Scherer soll gesagt haben, Karl d[er] Gr[oße] hätte die deutsche Litteratur geschaffen, einfach verursacht, während seine Meinung nur war, die politisch-kirchliche Bewegung, welche K[arl] hervorbrachte, habe an verschiedenen Orten diese Anfänge hervorgetrieben. Grüßen Sie Sch[erer] wenn Sie ihm schreiben. Eben von Meyer ein Zettel daß er und Überweg in Marburg vorgeschlagen sind. Meine ergebensten Grüße an Ihre Frau. Herzlich der Ihre Dilthey. Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Brief 942.

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Nicht überliefert. Otto Richter (1843–1918): Gymnasialdirektor in Berlin. 3 Ludwig Wiese (1806–1900): Pädagoge; 1838 Prof. am Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin, 1852 Geheimer Rat im preuß. Kultusministerium. 4 Vermutlich ein Arzt. 5 R. Haym: Arthur Schopenhauer. Berlin 1864. 6 Theodor Waitz (1821–1864): Philosoph, Psychologe und Anthropologe; 1844 PD, 1848 a. o. Prof. für Philosophie in Marburg. – Waitz war am 21. Mai 1864 gestorben. 7 D.s Habilitation hatte im Juni 1864 stattgefunden. 8 D. kündigte für das WS 1864/65 in Berlin an: 1) Logik, mit besonderer Berücksichtigung der Geschichte und Methode der einzelnen Wissenschaften (4 std.); 2) Über Schleiermacher (in Beziehung auf Philosophie und Theologie unseres Jahrhunderts) (1 std.). – Der „Bogen über Logik“ erschien 1865 als Privatdruck mit dem Zusatz Für Vorlesungen im Berliner Verlag E.S. Mittler und Sohn unter dem Titel Grundriß der Logik und des Systems der philosophischen Wissenschaften (16 S.); WA in: GS XX, S. 19–32. Eingesetzt wurde er von D. erst in seiner zweiten Logik-Vorlesung im WS 1865/66. 9 „Herman Stauffer“ war offenbar als ein Pseudonym D.s. geplant, unter dem er aber vermutlich nie publiziert hat. 10 Am 17. Juni (D. schreibt: „16“.) hielt er seine öffentliche Antrittsvorlesung mit dem Thema: De Platone a Schleiermachero restaurato; acht Tage zuvor, am 9. Juni 1864, fand die Probevorlesung vor der Fakultät statt: Über die Beziehungen der Erkenntnislehre des Spinoza und seiner metaphysischen Grundbegriffe. 11 So großer Mühlsal bedurfte es, das Volk der Römer zu begründen. Vergil: Aeneis 1,33. 12 Trendelenburgs Abhandlung über Spinoza, die er in der Akademie der Wissenschaften am 2. Februar 1865 und am 15. März 1866 vortrug, erschien unter dem Titel Ueber die aufgefundenen Ergänzungen zu Spinoza’s Werken und deren Ertrag für Spinoza’s Leben und Lehre, in: Ders.: Historische Beiträge zur Philosophie. 3. Bd.: Vermischte Abhandlungen. Berlin 1867, S. 277–398. 13 H. Grimm: Leben Michelangelo’s. 2 Bde. Hannover 1860–1863. 14 W. Scherer: Über den Ursprung der deutschen Litteratur. Vortrag gehalten an der Universität zu Wien am 7. März 1864, in: PJ 13 (1864), S. 445–464; anonyme Rezension in: Literarisches Centralblatt für Deutschland, Nr. 24 (1864), S. 572–574. 2

[165] Dilthey an Herman Grimm [Mitte Juli 1864] Lieber Freund! Ich muß Ihnen schreiben um Ihnen unter frischem Eindruck meinen Dank auszusprechen. Sie sehen ich habe den Michelangelo gelesen. Seit ich ihn ordentlich zu lesen anfing ließ er mich nicht los, bis ich nun zu Ende bin.

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Man wird sicher immer wieder zu diesem Buch zurückgeworfen, wenn man den Geist empfinden will, in welchem in der Periode der italienischen Kunstblüthe gearbeitet wurde. Mir ist daher alles was Sie über Lionardo, Raphael, Tizian sagen nur noch nicht ausführlich genug. Michelangelo’s langes Leben u. seine Stellung macht möglich die ganze Natur der italienischen Kunstblüthe an ihn zu knüpfen. Eher entbehrte ich dafür Einiges Politische: nur nichts was Julius1 betrifft den Sie wundervoll dargestellt haben, und dessen Stellung zur ital[ienischen] Kunst, mit der Leo’s2 verglichen, Sie doch zuallererst im wahren Lichte gezeigt haben. Von Allem Einzelnen bewundre ich die Form welche Sie für das Ganze gefunden haben. Man bemerkt leicht wie Ranke Ihnen hierfür den ersten Anhalt gab. Aber sie ist vollkommen frei ausgebildet, nach Ihrer Individualität und dem Stoff selber den Sie behandeln. An diese Lektüre können sich nun leichter Ihre Belehrungen knüpfen, soviel Sie mir deren im kommenden Winter wollen zu Theil werden lassen. So sammeln sich denn allmählich die inneren Bedingungen, Italien zu sehn und zu genießen: dann finden sich ja wohl auch einmal die äußeren. Ich habe mich bemüht, Mehreres von Lionardo zu sehn und empfinde den geheimnißvollen Reiz seiner Arbeiten, den Sie so besonders schön ausgesprochen haben, immer stärker. Durch sein realistisches Auge und Studium ragt er doch nach Einer Seite über alles Andre und Spätere hinaus. Wie seine wissenschaftlichen Studien, die ganz modern waren, sich zu Michelangelo’s platonischem Tiefsinn verhalten: so steht er auch als Künstler den Heutigen viel näher. Ich wünschte sehr, Sie schrieben einmal ausführlicher über ihn. An ihm läßt sich zeigen was wahrer Realismus sei, der sich dem Geheimniß der Schönheit durch leidenschaftliche Hingabe an das Specifische der Erscheinungen nähert; daher ihm eigen ist, durch tiefes Nachdenken geleitet, Specifisches so auszudrücken, daß nicht nur unser Gemüth ruhig erhoben wird, wie bei den andren, sondern der Tiefsinn auf das Mannigfaltigste beschäftigt. Dienstag d[en] 19 Juli [1864] Da haben Sie nun Keime einer verhaltnen Anzeige! Aber warum haben Sie mich auch, Druck betreffend, so eingeschüchtert? Ich lebe als ein Einsiedler u. werde hier unter den grünen Bäumen bis tief in den August ausharren. Habe große Freude am Wachsthum meiner Arbeiten; zumeist Logik getrieben, in welche die ganze Theorie der Wissenschaften kommen soll, nun geht’s auch mit dem Schleiermacher seit einigen Tagen wirklich vorwärts. Indeß treibe ich Alles mit einem gewissen dolce far niente, beinahe als faulentze ich. Die gewaltsame Anstrengung mit der Ethik u. dem Spinoza hat meinen Kopf doch etwas heruntergebracht u. ich folge nun ruhig meinem Bedürfniß.

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Montag früh Eben kommt Ihr Brief 3 Ja der arme Stauffer! Es ist nämlich weder ein Max Ring4 noch eine Expedition zu finden, erstrer verreist, letztere wie vom Erdboden ausgelöscht. den 17ten [August 1864]5 Liegen geblieben. Die preuß[ischen] Jahrb[ücher] haben Sie hoffentlich rechtzeitig erhalten. Das erste Buch des Schleiermacher (– 1796) ist im Wesentlichen fertig. Sonnabend wird abgereist. Und zwar gehe ich zunächst mit Erdmannsdörffer durch den Thüringer Wald; von da an den Rhein. Ich denke, acht Tage etwa werden wir Thüringen durchstreifen; am Rhein bleibe ich dann bis Mitte September. Dann bleiben bis zum Beginn der Collegien noch anderthalb Monate zum Arbeiten. Und wenn ich die edle Logik, wie zu vermuthen, nicht zu Stande bekomme, noch eine grenzenlose weitere Zeit. Wenn aber, dann wird dieser Winter sehr arbeitsvoll und einsam werden. Die beiden Geldbriefe von Ihrer verehrten Frau habe ich von der guten Alten selber hinbringen lassen. Der Schreiber ist schwer zu besorgen, wenn man nicht weiß auf wann. Denn drauf kommt es z.B. bei dem besten, den ich weiß, meinem Gymnasiasten, der bis dahin Student ist, wesentlich an. Für die ausführlichen Nachrichten wünsche ich ihr den schönsten Dank. Was ihre Analyse meiner Wenigkeit betrifft, so wollen wir das heiter der Zeit überlassen, welche alles auf sehr objektive Art herausanalysirt, was in einem Menschen steckt. Ich verkenne die edle Absicht nicht, mir die Einsicht, welche man in die Natur eines andren gewonnen hat, diesem förderlich sein zu wollen. Aber ich glaube, daß die Verschiedenheit der Naturen, welche sie selber bemerkt, dies für jetzt noch unmöglich macht. Leben Sie so heiter als möglich, beide. Wenn Sie mir mit Nachricht über Ihr weiteres Befinden und Leben große Freude machen wollen: so trifft mich vom 1 bis 15 September ganz sicher dieselbe unter der Adresse: bei G[eheimer] Kirchenrath Dilthey, Biebrich a/Rhein, Herzogthum Nassau. Von Herzen der Ihrige Wilhelm Dilthey Von Richter6 sind 2 Bogen gedruckt, alles bis aufs letzte Capitel fertig. Er verreist nicht. Erdmannsdörffers Urkunden sind beinahe fertig gedruckt. Er hat sich bei einem jungen Arzt, der sehr geschickt u. theilnehmend scheint, in Behandlung gegeben. Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Brief 943.

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Papst Julius II. (1443–1513). Papst Leo X. (1475–1521). 3 Nicht überliefert. 4 Max Ring (1817–1901): Mediziner, Journalist und Schriftsteller; Mitarbeiter der Gartenlaube und 1864 Hg. der von dem Buchhändler Ernst Keil (1816–1878) begründeten kurzlebigen Zeitschrift Der Volksgarten. Illustriertes Haus- und Familienblatt, die in Berlin erschien. 5 Im Original von D.s Hand: „September“. 6 Nicht ermittelt. 2

[166] Dilthey an Hermann Usener (Biebrich, [Anfang September]1 1864) Liebster Hermann, Wie wir uns freuen Dich zu sehn glaubst Du gar nicht; inzwischen leben wir sehr behaglich. Die Damen liegen eben auf den Sophas nachdem wir gebadet u. getrunken u. gefrühstückt. Kommst Du so gehn die Excursionen los. Ich wollte Dich nur bitten, mir ein paar Bücher mitbringen zu wollen. Eins was ich nothwendig brauche, da in meiner Ferienschmökerei ich drauf zurückgreifen muß: Joachimsthal, analytische Geometrie.2 Wenn Du sie beim Antiquar findest, bitte, kaufe sie für mich. Sonst etwa aus der Bibliothek. Dann Fechners Psychophysik.3 Diese wirst Du so wenig beim Antiquar auftreiben als es mir bisher belang. Daher Du es wohl wirst aus der Bibliothek nehmen müssen. Bist Du einmal da u hast Platz in Deinem Koffer, so nimm von Comte’s philosophie positive 4 so viel mit als von diesen dicken Wälzern Dir bequem ist, unentbehrlich ist mir nur die Philosophie der Mathematik im ersten Bande. Die Damen wünschen sich etwa den Chamfort,5 da ihnen der Gedanke Einiges draus zu übersetzen durch den Sinn geht. Natürlich nur falls Du in Deinem Koffer Platz hast. Soviel Eiligst. Es geht Lily ja recht gut. Gestern Abend schien sie Migräne bekommen zu wollen, doch geht es heut schon wieder gut. Morgen fahren wir allesammt mit Ebstein und s[einer] Frau6 nach beendeten Kurpflichten den ganzen Tag nach Schlangenbad.7 Also auf baldiges fröhliches Wiedersehn mit tausend Grüßen von Allen Wilhelm. Wenn Du irgend kannst – lassen Dir die Damen sagen – möchtest Du Dich doch frei halten, sodaß Du nicht gebunden bist nach 8 Tagen zurückzukehren. Luft u. Wald sind hier wirklich wundervoll. Also schiebe Alles auf möglichst spät! Tausend Grüße an die 2 Marien,8 die uns dann in Bibrich begrüßen.

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Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL, S 2102, 3, 44; ein handschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 80. 1 In JD datiert auf: „Juli 1864“. – D. hielt sich vermutlich seit 1. September 1864 in Biebrich auf. – Usener lehrte seit 1863 als o. Prof. in Greifswald. 2 Ferdinand Joachimsthal (1818–1861): Mathematiker. – Elemente der analytischen Geometrie der Ebene. Hg. von O. Hermes. Berlin 1863. 3 Gustav Theodor Fechner (1801–1887): Physiker und Philosoph; seit 1834 o. Prof. für Physik in Leipzig. – Elemente der Psychophysik. 2 Bde. Leipzig 1860. 4 August Comte (1798–1857): franz. Philosoph. – Cours de philosophie positive. 6 Bde. Paris 1830–1842. 5 Chamfort, eigentlich: Sébastien Roch Vocolas (1741–1794): franz. Schriftsteller und Moralist. – Maximes et pensées, caractères et anecdotes (1796). 6 Wilhelm Ebstein (1836–1912): Internist, Pathologe und Medizinhistoriker; 1869 Habilitation in Breslau, 1874 o. Prof. der Medizin in Göttingen. 7 Badeort im Taunus. 8 D.s jüngere Schwester Marie Lade und ihre Tochter Mariechen – Maries Ehe mit Adolf Lade wurde 1864 geschieden.

[167] Dilthey an Herman Grimm Lieber Freund! Anfang dieser Woche bin ich wohl u. heiter hier angelangt u. habe mich muthig in den grauen Ocean der Logik gestürzt. Mögen es die Guten, welche auch über den Philosophen walten – Musen oder Minerva oder bei wem sonst dies bescheidene Amt ist – zum Besten wenden! Ich habe den Rhein genossen wie seit meiner Kindheit nicht mehr. Gearbeitet so viel als gar nichts. Gedanken kaum gehabt. Ihr Brief, die Zeilen Ihrer verehrten Frau,1 die Alpenblumen freuten mich sehr. Ich antworte nicht weil ich immer denke, Ihr grauer Bote kommt mit einem Brief aus der Grabenstraße herein und Sie sind da. Inzwischen erscheint der arme Dr. Herman Stauffer bei Ihnen mit beiliegendem Zettel des ehrlichen Redakteurs Max Ring. Das ist die Art wie diese Biederen an der Villa des Herrn Keil2 bauen helfen! Der Honorarsatz von 60 Thalern welchen er Ihnen angab war keineswegs exceptionell; ich habe neulich gehört daß dies überhaupt der gute Satz der Zeitschrift ist. Weiß freilich auch daß er andre außerhalb der Verhältnisse u. des litter[arischen] Marktes Stehende ebenfalls mit 40 Thalern bezahlt hat. Ich überschicke ihm natürlich die Bilder nicht, finde aber als das Schicklichste, falls Sie dies unangenehme

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Geschäft nicht von der Hand weisen, daß Sie hier gelegentlich mündlich die Sache arrangiren. Im Nothfall ziehe ich mein Manuscript zurück, das ich leider neu und ausschließlich für diese populäre Zeitschrift geschrieben habe und Herman Stauffer verschwindet aus dem Volksgarten.3 Doch übergenug von der unangenehmen Sache. Es ist das erste Mal daß ich nöthig habe über den Geldpunkt in solchen Dingen zu discutiren. Ich habe mit Erdmanndörffer gemeinsam in der Jägerstraße 73 gemiethet. Wir haben jeder zwei Zimmer u. ein gemeinsames Entrézimmer. Es lebe der Winter mit seiner Logik, seinem Schleiermacher, seinem Thé! Machen Sie nur daß wir Sie bald wieder hier haben, damit wir gleich in vollen ordentlichen Winterzustand kommen. Ich denke, ich kann sagen auf baldiges Wiedersehn! Von Herzen der Ihrige Wilhelm Dilthey Der Schreiber ist bestens besorgt. Von 1 October ab: Jägerstraße 73. d[en] 22ten Sept[ember] [18]64. Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Brief 923. 1

Nicht überliefert. Ernst Keil: Begründer der Zeitschrift Die Gartenlaube, die seit 1853 erschien. 3 D. muß offenbar einen Beitrag im Volksgarten unter dem Pseudonym „Herman Stauffer“ geschrieben oder zumindest zugesagt haben, der allerdings nicht nachgewiesen werden konnte. 2

[168] Dilthey an Herman Grimm [Berlin, nach dem 1. Oktober 1864] Lieber Freund! Meinen besten Dank für die Erledigung des verdrießlich-langweiligen Geschäfts; denn erledigt ist es natürlich: mein schriftstellerischer Ehrenpunkt, daß ich wenn ich schreibe das höchste Honorar erhalte von dem verlautet daß eine Zeitschrift es zahle, ist gerettet! ich bin demnach zufrieden.

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Dilthey an Herman Grimm

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Sie kommen also doch wenigstens in diesem Monat! Angesichts eines schrecklichen Gerüchts, das im Finsteren schlich und von Richter erhascht wurde: Sie wüßten überhaupt nicht ob Sie den Winter zurückkämen, ist diese Nachricht hier von den Beisitzern Ihres winterlichen Kamins mit vielen Freuden aufgenommen worden. Sie kommen gerade, wenn mein Docentenfieber im schönsten Steigen begriffen sein wird; es wird eine Augenweide für Sie sein, einen Menschen zu sehn, der sich zehn Jahre auf diese Eventualität vorbereitet hat und dem nun zu Muthe ist als ob er einen leichtsinnigen Streich beginne. Mein armer Schleiermacher: dies ausgenommen, daß ich alle meine Papiere für den ersten Band genau geordnet habe und nun bereits eine ganz hübsche Übersicht über ein mir selbst erstaunliches Material, seit 4 Jahren aufgehäuft, vor Augen habe, so daß ich im Winter auch nöthigenfalls sehr abgerissen dran arbeiten kann – ist seit meiner Zurückkunft gar nichts für ihn geschehn. Und da will nun mein Unglück, daß Lotzes Mikrokosmos, dritter Band, erscheint,1 auf den ich seit 2 Jahren warte, weil er seine Philosophie der Geschichte u. den Abschluß seiner Metaphysik enthält, daß das Buch gegen vierzig Bogen hat, daß darin eine grenzenlose Masse meist vereinzelte Ideen aufgehäuft ist, daß es mich abwechselnd schrecklich ärgert wegen seiner Grillenhaftigkeit u. sehr beschäftigt wegen bedeutender u. ganz neuer Gesichtspunkte! kaum bin ich in der Hälfte, so kommt Rößler mit einem ansehnlichen Band seiner Studien über preußische Verfassung,2 Bücher von Freunden muß ich aber lesen – kurz das Chaos ist über mich hereingebrochen und ich gehe im Wirbelwind spatzieren. Wenn für Neid in meiner Seele Raum wäre: so dächte ich an Sie, wie Sie sich von dem was der Tag bringt ruhig bewegen lassen dürfen und dabei doch einen Michelangelo schreiben. Erdmannsdörffers Buch ist fertig gedruckt.3 Eben wird die Vorrede die Duncker4 im Namen des Kronprinzen u. der Kommission geschrieben, vorgeklebt; wenn Sie kommen, finden Sie es fertig. Scherer hat die erste Hälfte des Jakob Grimm an Haym geschickt.5 Auch diese beträgt 5 Bogen u. muß abermals getheilt werden. Franz Duncker, mit dem u. seiner Frau er acht Tage in d[ie]s[em] Herbst gereist ist, hat ihm angeboten es bei sich zu drucken: er möge ihm nur die Bed[in]g[un]g[e]n nennen; gleichviel ob es vorher in den preuß[ischen] Jahrb[üchern] erscheine oder nicht.6 Er ist demnach in Betreff des die Jahrb[ücher]aufsätze beherrschenden Naturgesetzes noch im Unklaren. Richter gesehn; ist vergnügt u. hat zu lesen angef[angen] bei der Kriegsakad[emie]. – Tempeltey da u. weiß viel Merkwürdiges über das Treiben des

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Dilthey an Herman Grimm

schlesw[ig] holst[einischen] Ministers in Kiel zu erzählen. – Ich schließe um Erdmannsdörffer noch einige Zeilen zu lassen, in denen er Ihnen sein schlechtes Gewissen ausschütteln mag. Empfehlen Sie mich mit dem Ausdruck m[einer] herzlichen Ergebenheit Ihrer Frau und leben Sie wohl. Auf Wieders[ehen] der Ihrige Dilthey Auf diese Art komme ich doch auch noch einmal dazu, Sie mit zwei Worten zu begrüßen; ich schäme mich so sehr daß ich es so unhöflich vernachlässigt habe, daß ich jetzt gar nicht einmal anders als ad maximum [?] und unter dem Titel eines besseren Correspondenten noch eine Zeile gewagt hätte. Nun wenigstens auch von mir ein vorläufiges Willkommen für Berlin. Dilthey hat mich immer au fait gehalten über Ihre Erlebnisse, er sagte mir auch neulich, daß Sie mit dem ganzen Michelangeloapparat kommen – bei diesem Namen fällt mir ein, daß ich sogar die Unhöflichkeit besessen, nicht einmal meinen Dank für das Exemplar Ihres Buches zu sagen; ich wünschte, die Sachen fügten sich mit den Arbeiten des bevorstehenden Winters so, daß ich meine Schuld durch zu erwartende Verdienste um den Dichter M[ichel] A[ngelo] tilgen könnte; wie prächtig wäre es, brächten wir die geplante Arbeit zu Stande – an Ihnen nicht, aber an mir zweifle ich noch ein wenig – ma vedremo. – Mehr gestattet Dilthey’s Papier nicht – darf ich bitten, auch Ihrer Frau Gemahlin mit den besten Empfehlungen mich zu nennen. Der Ihrige B. Erdmannsdörffer Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Brief 925. 1

H. Lotze: Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie. Bd. 1 und 2. Leipzig 1856–1858; Bd. 3 erschien 1864. 2 Konstantin Rößler (1820–1896): Philosoph, Publizist und Politiker; 1857 a. o. Prof. der Philosophie in Jena, ab 1860 Publizist, 1877 Leiter des Literarischen Bureaus, 1892 Legationsrat im Außenministerium. – Studien zur Fortbildung der preußischen Verfassung. Berlin 1863. 3 B. Erdmannsdörffer: Graf Georg Friedrich von Waldeck. Ein preußischer Staatsmann im 17. Jahrhundert. Berlin 1869. 4 M.W. Duncker war 1861–1866 Vortragender Rat für Politik beim Kronprinzen. 5 Der erste Artikel von Scherers Jacob Grimm erschien 1864 in: PJ 14, S. 632–680 und 1865 in: PJ 15, S. 1–32. – Der zweite Artikel wurde publiziert in: PJ 16 (1865), S. 99–139. 6 Scherers Arbeit über seinen Berliner Lehrer Jacob Grimm (erster und zweiter Artikel) erschien als Buch 1865 im Berliner Verlag Georg Reimer.

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Dilthey an seine Eltern

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[169] Dilthey an seine Eltern Freitag, d[en] 21. Oktober 1864 Liebste Eltern! Mir ist unbegreiflich daß ich gar keine Nachricht von Euch bekomme. Ich selber stecke in tiefster Arbeit: in acht Tagen fange ich an zu lesen, früher als anfänglich meine Absicht war, da ich plötzlich sehe, daß der schlimmste unter meinen vier Rivalen, die Logik lesen, Michelet,1 schon Montag zu lesen anfängt. Es ist ärgerlich daß ich nicht gleichzeitig mit ihm angeschlagen habe. .|.|. Die Unvermeidlichkeit, von der mir alle sagen, sich im 1. Semester des Auftretens mit ca. 3 Zuhörern zu begnügen, preßt mir den frevelhaften Wunsch aus, daß dann lieber gar keiner da sein möchte, zum Heile meines Schleiermachers, der seit meiner Zurückkunft ganz und völlig daniederliegt. Wie soll das enden? Ihr könnt denken, wie sonderbar mir in diesen Tagen zu Muthe ist. Ich sehe mich vor bedeckten Karten. Wenn ich an meine künftigen 3 Zuhörer und an meine schöne kostbare Zeit denke, so ist mir ganz desperat zu Muthe. Es wäre doch hübsch, wenn ich nur mein Publicum zu lesen brauchte, und das mit einer ordentlichen Anzahl von Zuhörern. Ihr seht, die Leiden der Privatdocentenzeit fange ich an zu empfinden. Möchten Sie mir kurz sein! .|.|. In meiner Wohnung fühle ich mich wohl. .|.|. Das Zusammenwohnen mit Erdmannsdörffer übertrifft noch meine Erwartungen. Wir stören uns garnicht am Tag über, und des Abends kann man so behaglich ab und zu plaudern, so daß man doppelt gern in seinen vier Wänden bleibt. Von Herzen Euer Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 81. 1 Karl Ludwig Christian Michelet (1801–1893): Philosoph, Schüler Hegels und führender Junghegelianer; seit 1829 a. o. Prof. in Berlin.

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Dilthey an Gisela Grimm

[170] Dilthey an Gisela Grimm [Berlin, 26. Oktober 1864]1 Verehrteste Frau! Gott sei Dank daß Sie da sind! Wenn ich auch in den ersten Tagen nicht viel davon profitiren kann; Morgen halte ich meine erste Vorlesung, und am Freitag gleich zwei, und zwar von 6-7 die öffentliche über Schleiermacher. Und das ist mir nun über den Hals gekommen noch bevor ich recht vorbereitet bin. An den Jüngling, der Ihnen schreiben soll, und der inzwischen sein Maturitätsexamen gemacht hat, Officier werden will u. sein Freiwilligenjahr abdient habe ich geschrieben. Wenn er kommt: so müssen Sie hübsch standesgemäß mit ihm umgehn. Er ist ein braver Junge. Meine herzlichsten Grüße an Ihren Mann. Freitag nach der Vorlesung um 7 Uhr werde ich mich zu Ihnen heraus auf den Weg machen. Das soll mein Lohn sein. Der Ihrige Wilhelm Dilthey Mittwoch Abends Jägerstr. 73. Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Brief 918. 1 Der von D. undatierte Brief ist mit dem Datum 26. Oktober zu versehen, da D. seine Vorlesungen im WS 1864/65, wie seinen eigenen Angaben aus vorangegangenen Briefen zu entnehmen ist, am Donnerstag, 27. Oktober 1864, und Freitag, 28. Oktober 1864, begann.

[171] Dilthey an seinen Vater Liebster Vater!

(Berlin [vor 19.] Nov[ember] 1864)

Nur eine Zeile aus großer Arbeit heraus, wie’s mir mit den Collegien geht. Ich habe bis jetzt im Collegium über Logik 5 Zuhörer, in dem über Schleiermacher etwa 40.

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Dilthey an seinen Vater

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Ich habe kaum geglaubt daß die Logik, da ich den Studenten ganz unbekannt, zu Stande kommen würde. Nun ist das so auf ganz anständige Weise geschehn, da viele Privatdocenten, die lange lesen, nicht mehr haben – obwohl ich hoffe, daß dies das kleinste Collegium sein wird, das ich halte. Es kommen eben nicht mehrere, da das Auftreten eines Privatdocenten hier keine Katze rührt, und so muß ich zufrieden sein, die welche überhaupt kommen, auch gehalten zu haben. Die Hauptsache ist daß ich das Sprechen zu völliger Gewohnheit mache. Denn im Schleiermacher war ich so furchtbar befangen in der ersten Vorlesung, daß ich meine Sache schlecht genug gemacht haben mag. Hier habe ich auch Privatdocenten etc. zu Zuhörern. Ob ich eigentliches Talent zum Vortrag habe, muß dieser Winter zeigen. Es ist noch viel dazu zu lernen, wenn es werden soll. Talent zu einem lebendigen, klaren und unholprigen Vortrag nach Notizen – dies scheint sich einzustellen. Ich bin aber entschlossen, es mit der Übung im Vortrag in diesem Winter so streng und ernst als möglich zu nehmen. Ich komme keinen Abend vor 12 oder 1 Uhr zu Bette. Morgens 61/2 Aufstehzeit. Wenig Pausen. Menschen sehe ich gar keine. Daß mir das geistig gut bekommt, weißt Du. .|.|. Dies vergangene Jahr, wenn mein Geburtstag nun kommt, ist mir erträglicher als das frühere. Es ist jetzt ein Jahr, daß ich die letzte Vorbereitung zum Doktor machte. Inzwischen ist dieser gemacht, die Habilitationsschrift geschrieben, die Abhandlung über Spinoza, das erste Buch Schleiermacher, die Logik vorbereitet. Wenn mein Geburtstag mir dann nach einem gesunden Jahr wiederkehren sollte, muß das erste Buch Schleiermacher in die Welt gesandt sein und ich muß den Ruf eines guten Docenten haben. Geduld mußt Du freilich auch so mit mir haben. Wäre ich kein Trendeler, so müßte es auch so anders sein. .|.|. Nun laßt mich Nachricht von Euch haben. Die Hauptsache: halte Dich heiter und gesund! .|.|. Das Leben ist unaufhaltsam. Ich möchte Dich darum täglich bitten, ihm so viel heitre Tage als möglich abzugewinnen. Ich grüße und küsse Alles Dein Wilhelm Eiligst in der Nacht Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 82.

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Dilthey an seinen Vater

[172] Dilthey an seinen Vater Liebster Vater!

(vor Weihnachten 1864)

Ich schreibe nur eine Zeile, nicht Weihnachtsbrief, sondern sehr ungeduldig und ängstlich, von Euch garnichts zu vernehmen. Also endlich Ferien! Ich habe die verschiedensten genußsüchtigen Pläne gemacht. Aber freilich wird doch die erste Rolle die Arbeit spielen. Das wäre nun auch ganz gut. Denn sie ist ja meine Lebensfreude. Und mich täuscht gewiß nicht die sichere Ahnung, daß nicht bloß die theoretische Laufbahn, in welche ich jetzt eingetreten bin, raschen Erfolg haben wird und sich einmal ganz respektabel ausnehmen soll, wenn ich gesund bleibe; sondern auch daß diese Zeit, welche alles in Gährung versetzt und in der zu leben eine Freude ist, sicher auch den Moment herbeiführen wird, in welchem der öffentliche Unterricht und die kirchlichen Verhältnisse umgestaltet werden müssen, und daß dann wirklich fruchtbare und wohlerwogene Grundgedanken über die intellektuelle und moralische Bildung des Menschen allein befähigen, auf diese Umgestaltung, die ich für ebenso wichtig halte als die politische, einen bestimmenden Einfluß zu üben. Aber so wohl ich mich in einer angestrengten Existenz fühle, die mir Bedürfniß ist, da mich Faulenzen sehr unbehaglich, unwirsch, langweilig – alles mögliche macht, mit so riesigem Selbstgefühl ich der Zukunft entgegengehe: so ist mir die finanzielle Lage der Gegenwart eine beständige Qual. Ich schreibe gleich heut, weil es mir wirklich vorläufig mein Feriengefühl ganz stört, daß ich zu Neujahr wieder Geld gebrauche. Mindestens mußt Du mir 50 r. zuschießen. Es würde mir die ganzen Ferien verderben, wenn Du Dich darüber ärgertest. Es ist eben in diesem Semester keine Idee gewesen, am Schleiermacher direkt fortzuschreiben. So kann der Druck noch nicht angehn. Und so habe ich auch noch kein Geld. Denn dem Teufel andrer Schriftstellerei darf ich mich nicht verschreiben, bevor der Schleiermacher fertig ist: meine rasche Carrière hängt daran. Und nachher, so Gott will! brauch ich’s nicht. Nimm also dies ewige Geldgebrauchen mit der gütigen Berücksichtigung meiner gegenwärtigen Lage, die Dir natürlich ist, und die allerdings in den letzten 2 Jahren auf eine harte Probe gestellt worden ist. .|.|. Sind Dir 100 r. bequem, so sind sie mir lieber, aber nicht nöthig. Also bis auf meine Weihnachtsbriefe in täglicher Erwartung von Nachricht Dein Wilhelm. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 83.

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Dilthey an seine Familie

[173] Dilthey an seine Familie Ihr Liebsten Alle!

(Berlin, Weihnachten 1864)

.|.|. So seid Ihr denn zu Weihnachten außer mir alle beisammen, und für mich habt Ihr gesorgt, daß ich auch was von Eurer festlichen Stimmung nachempfinden kann, wenn ich mir ein volles Glas Niersteiner an den Arbeitstisch stelle – nemlich am Vormittag wenn ich zu Hause bin; denn sonst bin ich in einem Trubel von lustigen Nichtsthuern seit Mittwoch früh. Um 3 Uhr wird gegessen und von da ab giebt es keine Bücher in der Welt. Mein erstes Fest war, die „verlorene Handschrift“ von Freytag1 zu lesen, in der ja ein Conterfey von uns Gelehrten sein sollte. Bewahre uns der Himmel in Gnaden! Ich fand uns unerträglich langweilig. Dagegen ist sonst viel schönes im Roman, zumal die Heldin, und er sei daher Vaters Nachmittagsschlaf und Lillys und Marichens Abendslektüre bestens empfohlen. Der Weihnachtsabend hat sich noch nicht geklärt. Es ist aber sehr wahrscheinlich daß bei Wehrenpfennig der ganze Kreis, der sonst bei Lazarus’ zusammen saß, sein wird: Lazarus und Frau, Müller und Frau,2 und ich. Ihr könnt denken, was mir das für ein Plaisir wäre. Das Hauptplaisir ist freilich der kurze Augenblick vorher bei Julian Schmidt. Ich schenke ihm die Photographie der Mona Lisa des Lionardo da Vinci: sie steht auf meinem Schreibtisch und kostet vorläufig mich selber eine Menge Zeit; denn die Frau des ehrlichen Jocondo in Florenz ist so wunderbar schön daß, wenn sie lebte, man wohl den Verstand verlieren könnte. Ich wollte wohl daß Vater die Photographie sähe, der Kunsthändler Amsler, den ich wohl kenne und der mir gern einen Gefallen thut, hat mir sein eigenes Exemplar, das ihm der Pariser Verleger ausgesucht hatte, gegeben. Eure Geschenke haben mich froh wie ein Kind gemacht. Alle alten Weihnachten kommen mir vor die Seele. .|.|. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 84. 1 2

G. Freytag: Die verlorene Handschrift. Roman in 5 Büchern. 2 Bde. 2. Aufl. Leipzig 1864. Freund D.s.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

[174] Dilthey an Wilhelm Scherer 1 Berlin 30 Dec[ember] [18]64 Jägerstraße 73 Lieber Scherer! Grüßen wenigstens u. Ihnen ein glückliches Jahr wünschen wollte ich noch auf diesem spärlich zugemessenen Raum. Sie können denken, wie mich Ihr J Grimm interessirt hat: ich finde ihn ein wenig zu vortrefflich, das heißt Sie haben zu viel hineingesteckt. Die Vorlesungen bringen Aufregung Arbeit auch einige Freude. Ich lese im Sommer nur ein Publ[icum] um Schleierm[acher] zu Ende zu bringen. Spräche das Gerücht wahr, daß Sie herkommen zu Ostern: so würden Sie auch mir damit die größte Freude machen. Denn wir haben wohl beide Manches zu erzählen. Ihr Dilthey. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 370. 1 Voraus geht diesem Brief ein 11seitiger Brief B. Erdmannsdörffers, D.s Mitbewohner, an Scherer.

[175] Dilthey an seinen Bruder Karl (Berlin, Anfang 1865) Liebster Karl! Mir geht seit gestern Abend beinahe unverdrängbar Dein Missbehagen im Kopfe herum.1 Ist man erst entschlossen, sich unglücklich zu fühlen, so gräbt sich das immer tiefer ein. Wie ich es überlege: ich komme immer auf dasselbe Resultat, dass Du Dich in der Situation eines Privatdocenten noch viel unglücklicher fühlen würdest, nach Deiner hypochondrischen Natur. Ich bedaure nun doppelt dass Du nicht jetzt gleich Dich nach Italien gemeldet hast wie ich Dir rieht. Das wäre zu Hause durchzusetzen gewesen. Da Du das nicht wolltest, musst Du auch bis künftiges Jahr aushalten, heiter sein, Deine Zwecke im Auge haben. Kommst Du von da zurück, so bin ich hoffentlich Professor u. der Vater ist mit dieser Art von Carriere ausgesöhnt.

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Dilthey an seinen Bruder Karl

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Jordan2 ist 4 Jahre Privatdocent. Zu schreiben in dieser Zeit ist beinahe übermenschlich. Wer weiss wann er Professor wird? Dabei hat er sehr viel Erfolg bei den Studenten, weil er wirklich höchst lebhaft u. frisch ist. Diese Lage der Verhältnisse ist allgemein. Wachsmuth beweist nichts, da Du seine vorandringende Manier durchaus nicht besitzest so wenig als ich. Denke Dich also vier Jahre, zu jährlich etwa 700 r brauchend, ausser Stande bei den Collegien etwas zu schreiben (das sind alles keine Phantasien, sondern die Natur der Sache, nach dem geringsten Anschlag); dabei gar keine Gewissheit wann das ein Ende nimmt. Du kämest ganz in meine Lage mit 31 Jahren noch unselbstständig zu sein; aber darin noch unangenehmer dass Du dann noch viel mehr als ich gebraucht hättest. .|.|. Dagegen kannst Du durchaus als Gymnasiallehrer etwas ordentliches Schriftstellerisches leisten, so die Bedingung des Vorankommens erfüllen, an welcher alles gelegen ist. Und in einer behaglichen, selbstständigen Lage, in welcher Du Dir nicht jeden Lebensgenuss, der über die Bedürfnisse der Gesundheit geht, als ein halbes Unrecht vorzuhalten nöthig hast. .|.|. Ich denke an das was ich an Einem Gymnasium seit 6 Jahren gesehn habe[.] Nauck,3 Usener, Kiessling, Kirchhoff, gerade vorher war Giesebrecht4 abgegangen. .|.|. Ausser Nauck fühlten sich diese alle, auch in dieser Zwischenzeit, höchst glücklich. Sich auf eine besondre psychische Organisation einer Lebenslage gegenüber berufen, dazu hat man nach meiner festen Ueberzeugung kein Recht. Hier kann man was man will u. durch die zweckmässigen Mittel einer klaren Lebenseintheilung, eines wissenschaftlichen Verkehrs, einer Energie die auch unter ungünstiger Stimmung eine Arbeit anfängt, verfolgt. Ich hätte noch viel zu sagen, aber ich denke, dass auch das schon überflüssig war, da die Zeit die Gemüthsstimmung beherrscht, nicht Gründe. Es ist mir nur zu traurig, Dich so als Schatten Deiner selbst herumschleichen zu sehn. Dein getreuster W. Original: nicht überliefert; der Brief ist als handschriftlich korrigiertes Typoskript hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o. 1

D.s Bruder Karl legte im März 1865 seine Doktorprüfung ab. Henri Jordan (1833–1886): Philologe; 1861 Habilitation in Berlin, 1867 o. Prof. der klass. Philologie in Königsberg. 3 August Nauck (1822–1892): Philologe; 1853 Adjunkt am Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin, 1858 Oberlehrer am Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin, 1859 a. o., 1861 o. 2

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Dilthey an seinen Bruder Karl

Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg und zugleich dort 1869–1883 o. Prof. der griech. Literatur. 4 Friedrich Wilhelm Benjamin von Giesebrecht (1814–1889): Historiker; zunächst Oberlehrer am Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin, 1857 o. Prof. der Geschichte in Königsberg, 1862 in München.

[176] Dilthey an Hermann Usener [Berlin, Anfang März 1865] Liebster Usener! Du mahnst durch H[offmann] mit Recht u. ich schreibe gleich da ich sehe, daß doch vielleicht noch für Erdmannsdörffer eine Aussicht ist. Mein Urtheil war vielleicht ein wenig stark formulirt, aber ernst gemeint; ich will es so sagen daß ich jedes Wort vertreten kann. Erdmannsdörffer ist ein feiner und auf die Tiefe der Dinge gerichteter Kopf, wenig geneigt die politischen Fragen in den Vordergrund zu schieben u. aus ihnen Capital zu machen, ganz einer tieferen Grundlegung der Geschichte durch Studium der Kultur zugewandt. Die Geschichte der Renaissance ist sein Lieblingsgegenstand; er war jahrelang in Italien. – Er ist fleißig ist sehr fleißig, was ich erwähne, da das die gegenw[ärtige] Generation von Historikern nicht zu sein pflegt: sie lungern hier schwatzend auf der Bibliothek herum u. politisieren. – Er war Philologe, hat noch philolog[ischen] Doktor gemacht, spricht so fließend Latein, daß es selbst Hoffm[ann] mit Bewunderung erfüllte, ebenso italienisch, ist in den Quellen der griechischen Geschichte völlig zu Hause; von seiner Kenntniß des 17 Jahrhunderts hat er eben in den Aktenstücken des groß[en] Kurfürsten, von denen Droysen u. Duncker entzückt sind Zeichen gegeben. Im Augenblick ist er der eigentliche Leiter des ganzen Unternehmens u. dies der Grund, warum Droysen u. Duncker, unter deren Namen es geht, nicht recht wünschen, daß er eine Professur bekommt; sie wollen ihn hier zum außerordent[lichen] Professor machen.1 Von Charakter würdest Du die größte Freude an ihm haben. Ich gl[au]be daß er Dir Michaelis2 ersetzen würde. Seine Universitätsthätigkeit hier war stets durch das Archiv u. neuerdings durch Vorlesungen an der Kriegsakademie eingeschränkt. Mit welch[en] Schwierigkeiten sie ohnehin hier für jeden jungen Docenten, zumal neben dem aus Polit[ik] Capital machenden Droysen verbunden ist weißt Du. Er hatte aber immer Zuhörer die ihn gern hörten, spricht frei, lebhaft, wenn

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Dilthey an Hermann Usener

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auch die Form sonst nicht auf der höchsten Stufe steht, wird an der Kriegsakademie sehr gern gehört. Es ist blos das Bedürfniß voller Universitätswirksamkeit was ihn wünschen läßt, von hier weg zu einer Prof[essur] zu kommen, da er hier über 1000 r. Einkommen hat, von dem er sehr gern ein Stück fahren läßt. Im Übrigen kann ja Droysen über ihn berichten. Was den armseligen Abel3 betrifft: so hat er ja außer seiner Dissertation nichts geschrieben: was also angreifen. Lies seine letzte elende, den Schwätzer Pauli über Bernhardi 4 erhebende Recension. Er ist ein Kind u. ein talentloses. Soll übrigens Waitz’ Tochter heirathen. Soviel hiervon. Nun von etwas Andrem das mir am Herzen liegt. Eben kommt von meinem Bruder Nachricht, daß er das Doktorexamen absolvirt5 u. in 8 Tagen das Staatsexamen macht. Nun ist am Joachimsthaler [Gymnasium] eine Stelle gewesen, aber vergeben. Mir geht die abentheuerliche Idee durch den Kopf: wenn in Greifswald eine ordentliche Stelle zu Ostern zu haben wäre: so könnte er doch nirgend besser als in Deiner Nähe eine Zeit lang zubringen.6 Es wäre die beste Cur für sein Wesen, das Du richtig bezeichnest. Aber es ist auch nur eine Idee! Von mir selbst schreibe ich ein andermal. Ich bin eben zu unruhig. Der bevorstehende Schluß der Collegien u. daß ich dabei mich von Morgen ab für das hießige Unterkommen meines Bruders umthun muß, füllen mir den Kopf. Aber Du sollst, sobald ich ruhiger Seele bin einen gründlichsten Brief haben. Lebe wohl, Liebster. Wären nicht Geld u. Zeit, zwei weltbeherrschende Gewalten, so träte ich selber statt dieses Briefs in Dein Zimmer. Es sollten doch schöne Tage sein. Dein Dilthey Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL, S 2102, 3, 26; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 85. 1

Sein Freund, der Historiker Bernhard Erdmannsdörffer, für den sich D. hier bei Usener einsetzt, lehrte seit 1864 an der Kriegsakademie in Berlin und arbeitete an einer großen Publikation der Urkunden und Akten zur Geschichte des großen Kurfürsten. 2 A. Michaelis war seit 1862 a. o. Prof. für Archäologie in Greifswald, bervor er 1865 einem Ruf nach Tübingen folgte. 3 Sigurd Abel (1837–1873): Historiker, Schüler von Georg Waitz; 1859 Dr. phil, 1861 Habilitation in Göttingen, PD ebd., ab 1868 o. Prof. in Gießen. – Ueber den Untergang des Langobardenreiches in Italien. Diss. Göttingen 1859.

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Dilthey an Hermann Usener

4 Reinhold Pauli (1823–1882): Historiker; 1857 Prof. in Rostock, 1859 in Tübingen, 1867 in Marburg und 1870 in Göttingen. – Theodor von Bernhardi (1802–1887): Diplomat und Historiker. – S. Abels Rezension konnte nicht nachgewiesen werden. 5 Karl D.s Promotion zum Dr.phil. fand am 30. März 1865 in Bonn statt. 6 H. Usener war nach seinem Weggang von Bern seit 1863 o. Prof. für klass. Philologie in Greifswald.

[177] Dilthey an seinen Vater Liebster Vater!

(Berlin, März 1865)

Ich wollte nicht eher schreiben, bis Karls Angelegenheiten – die mir unendliche Laufereien gemacht haben – beendigt wären. .|.|. Alles erwogen, sind die philologischen Aussichten im Augenblick hier so ungemein günstig, daß ich gar keinen Augenblick zweifle, er wird eine, dem Lehrerstande entsprechend, gute Carriere machen. Es ist freilich nicht als wenn er, meinem Drängen entsprechend, Arzt geworden wäre. .|.|. Wenn man aber sein Leben überdenkt, wie man hätte geraden Wegs zu dem Einen wahrhaft entsprechenden Ziele gehen können: so fahren sich ohnehin die Meisten, die nicht in früher Zeit ein klares und umfassendes Bild der Welt, das sie leiten konnte, vor Augen hatten, nach den Haaren. Wenigstens Ich pflege es so zu machen. Meine Collegia sind also geschlossen. Ich war die ersten Tage von der Überanstrengung des Winters ganz unwohl, die nun erst, nachdem ich frei war, mich überfiel mit ihren Folgen. Ich werde wohl noch ein paar Tage brauchen, ehe ich zu ordentlicher Anstrengung beim Schleiermacher wieder fähig bin. Denn dieser ist nun mein Tag- und Nachtgedanke. Ich habe das Interesse der Vorlesungen ihm diesen Sommer unterordnen müssen. Er soll und muß fertig werden, und das geschieht nur, wenn im Anfang August der Druck beginnt. Bis dahin aber 3/4 Band zu schreiben, ist eine furchtbare Anstrengung, von der ich noch nicht weiß, wie ich sie mir zumuthen darf, obwohl ich mich unaussprechlich auf diese Arbeit freue. Ich lese demgemäß ein Publicum Spinoza und halte ein Disputatorium darüber,1 um mich mit einer Anzahl Studenten näher bekannt zu machen. Mit dem Gegenstand meiner Habilitationsschrift bin ich auch beständig beschäftigt gewesen und will dann gleich ein schon bis in viele Einzelheiten durchdachtes kleines Buch „über die sociale und moralische Natur des Menschen“ ausarbeiten,2 in welchem ich den Versuch mache, neue Ideen, welche

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Dilthey an seinen Vater

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aus dem Leben selber und seiner angestrengtesten Beobachtung geschöpft sind, auch mit soviel sinnlicher Anschaulichkeit, Lebendigkeit und Leidenschaft zu sagen, als mir zu Gebote stehn. Der ganze Kopf ist mir voll Ideen. Aber der Körper verlangt auch jetzt sein Recht; ich will nicht wieder eine solche Katastrophe erleben: wer weiß ob sie wieder so glücklich endigte? Von Gesellschaften habe ich mich diesen Winter sehr zurückgehalten. Inzwischen ziehen mich meine Bekannten doch alle auf, wegen der unermeßlichen Menge von Menschen, die ich kenne. Ich meine dann, daß das eben ein Stück meines schönen Metiers ist und der einzige Vortheil den diese entsetzlich theure, riesenhaft wachsende Großstadt mir gewährt. Und auch darin werden die Einrichtungen immer großstädtischer: man stellt sich einen Augenblick der Wirthin vor und läßt sich dann vom Strudel treiben, sitzend, stehend, auf- und abgehend in den Zimmern. Wer hier lebt und für Menschenkenntniß Talent hat, muß schließlich das klarste Bild menschlicher Natur, gesellschaftlicher, politischer Verhältnisse gewinnen. .|.|. Sage übrigens den Schwestern einmal ordentlich Deine Meinung über das ewige Nichtschreiben, wenn sie nicht ausdrücklich von mir vorher einen Brief gehabt haben. Es sollte ihnen wahrhaftig Freude machen, mir von Zeit zu Zeit Nachricht zu geben. Aber niemand will sich als Glied der Familie fühlen, sondern jedes für sich Abrechnung halten als Einzelnes. Was das für eine sonderbare Vorstellung ist! Ich grüße alles aufs Herzlichste. Dein treuster Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 86. 1 D. kündigte für das Sommersemester 1865 an: Über Spinoza und sein Verhältnis zu dem modernen Pantheismus (1 std.) sowie Disputatorium über denselben Gegenstand (1 std.). 2 Dieses Buch-Projekt wurde nicht realisiert.

[178] Dilthey an Wilhelm Scherer Lieber Freund! Nicht wahr, ein Brief von mir Schreibfaulen hat zunächst für Sie ein Fragezeichen? Und damit Sie nicht lange nachsuchen, was mich in Bewegung setzt, schicke ich es gleich voraus.

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Wehrenpfennig schreibt eben aus Fr[an]kf[urt], ich möchte Sie doch so dringend als möglich um M[anu]scr[i]pt bitten. Sie sollen an die Spitze des Juliheftes, dessen Druck mit dem Beginn des Juni, wo möglich, anfängt. Treitschke’s Essay über Cäsar kommt erst im Verlauf des Juni und soll daher die zweite Stelle erhalten.1 Er bittet dann weiter nicht ungehalten zu sein, falls die Nothwendigkeit auf den 6 Bogen der Jahrbücher 4–5 Nummern zu bringen zu einer Theilung zwingt. Hieraus scheint mir nun zu folgen daß auch ein Theil des Manuscripts hochwillkommen wäre. Aber Frau Duncker sagte mir zu schon vor mehreren Tagen daß das Ganze fertig sei. Diesen Auftrag wäre ich also los. Wir hier liegen in der Sonne, das zweifelhafte Glück eines ordentlichen Mai’s mit hartnäckigem Faulenzen feiernd. Gestern bin ich mit Grimm’s spatzieren gefahren u. wir haben dann auf dem Balkon gesessen; ich höchlichst vergnügt, obwohl nicht ohne die Landplage fremder Gesichter. Der Mutter geht’s gut auch Frau Gisela leidlich, wie es schien ob sie’s gleich nicht wahr haben wollte. Auch ein schönes Mährchen wurde erzählt von Ihrem Herkommen im Winter, das ich ungläubig-gläubig vernommen habe. Sie wissen doch wohl nicht ganz, wie werth mir ist, Sie auf diesem Straßenpflaster, zwischen Potsdamer Straße und Grabenstraße, herumlaufen zu wissen. Wenn ich Sie auch nicht gerade viel zu Gesicht kriege, so hat es doch was Beruhigendes. Ich schreibe drauf los Schleiermacher, recht vergnügt; nur daß mich die Hitze leichtfertig macht, ich suche mir bisweilen die nothwendigsten Gedanken zu ersparen. Mit dem Publicum bin ich sehr zufrieden. Den Novalis2 denk ich Ihnen schicken zu können; ich habe aber beim Corrigieren einen Schrecken über den andern gehabt; in seiner Langeweile ist der apathische Zustand, in dem ich ihn, nach den übertriebenen Winteranstrengungen schrieb, auf das adäquateste ausgedrückt. Auch Erdmannsdörffer ist fertig, seit gestern, mit seinem Essay. Bei Dunckers waren allerlei beste Sommergesellschaften im Garten. Sie wird Ihnen davon geschrieben haben, aber nicht daß man sie gar nicht hübscher arrangiren u. doch um Alles unbekümmerter dabei erscheinen kann als sie thut. Montag früh So gestern. Eben war ich noch einmal bei Reimer, in Gedanken daß Ihr M[anu]sc[ript] da sein könne, was aber nicht der Fall ist. Wir haben gestern eine Landparthie nach Sauwinckel3 gemacht; ich hatte leider den Kopf von meiner Arbeit voll. Erdmannsdörffer grüßt. Ich frage ihn eben ob er nichts dranschreiben wolle. Er wisse nichts.

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Leben Sie wohl u. lassen gelegentlich ein Lebenszeichen zu uns herüberkommen. Ihr Wilhelm Dilthey ten Montag früh d[en] 29 Mai [18]65. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 2; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 2; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 87. 1 W. Scherer: Ueber das Nibelungenlied (Vortrag, gehalten im Saale der Handelsakademie zu Wien am 5. März 1865), in: PJ 16 (1865), S. 253–271; H. v. Treitschke: Der Bonapartismus. I. Das erste Kaiserreich, ebd., S. 197–252. 2 D.s Aufsatz über Novalis erschien in: PJ 15 (1865), S. 596–650; aufgenommen in: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Vier Aufsätze. Leipzig 1906, S. 201–282; WA in: GS XXVI, S. 173–223. 3 Sauwinkel: Stelle am Eingang des Ortes Dolgenbrodt im Südosten Berlins, wo „Langer See“ und „Dolgensee“ verbunden sind; im Transkript: „Saatwinckel“.

[179] Dilthey an seinen Vater Liebster Vater!

(Berlin, Anfang Juni 1865)

Meine herzlichsten Glückwünsche zu Deinem Geburtstag. Möge Dir in dem neuen Jahre Gesundheit und Freude an uns, Deinen Kindern bescheert sein. Im übrigen erfährt jeder Mensch – das sage ich auf die Gefahr, daß es Dir wieder etwas melancholisch erscheint – daß es wenig ist glücklich zu sein und viel, ja alles Glück enthält, andre glücklich zu machen. .|.|. Ihr könnt denken, mit welcher Sehnsucht ich mich in solchen Wochen an einen menschlicheren Ort wünsche: die brennende Hitze, der umherfliegende feine Staub, der die Augen so angreift, nirgend frische erquickende Luft, auch nie in den Abendstunden. Noch mehr macht das freilich für Karl aus, der eben aus der behaglichsten Existenz bei Euch heraus sich überhaupt in Berlin garnicht zu finden Lust hat. Man kann ihm nicht Unrecht geben, wenn er seine Klagelieder mit stets neuen Variationen absingt; aber das Faktum ist daß, wer eine Anzahl von Jahren hier gelebt hat, Berlin nur ungern mit irgend einem andern Ort der Welt vertauscht. Hiervon liegt ein Hauptgrund in der Art des Verkehrs. Die Menschen rücken sich nie störend nahe auf den Leib; man bleibt immer, mitten unter ihnen, in seiner nachdenklichen Einsamkeit

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und empfindet doch immer in sich das Strömen großer und leidenschaftlicher Interessen. Dies Ganze gibt eine Art von freiem Lebensgefühl, dergestalt daß einen, wie ich glaube, die Luft jedes andern Ortes ein wenig drücken wird. So genießt man, was die Geselligkeit der Stadt bietet, indem man wohl weiß daß das Günstigste wäre, sobald als möglich vorläufig weg zu kommen. Denn die Preise steigen in unglaublicher Weise. Mit einem mäßigen Einkommen hier verheirathet zu leben, ist das unbehaglichste Ding von der Welt. Julian Schmidts, die keine Kinder haben, brauchen über 2000 Thaler jährlich. Sie bekommt monatlich 100 r. Wirtschaftsgeld, worüber wir neulich einen sehr amüsanten Disput hatten; er möchte das immer heruntersetzen; sie berechnet daß außer dem Essen davon Kohlen, Oel usw. Holz, Wäsche bezahlt werden müßten. Ihr könnt denken daß sie auf diese Art ein gut Stück über 2000 Thaler – bei den theuren Mieten – gebrauchen. .|.|. Was doch aus Gelehrten werden kann! Wehrenpfennig baut in Frankfurt ein Haus, Lazarus eine ganze Straße in Leipzig. Übrigens mag ich jetzt Wehr[enpfennig]’s Frau sehr gut leiden. Sie hat sich hier ungemein entwickelt und ist hier sehr in der Gesellschaft beliebt, trotz ihrer schwerfälligen Formen. Sie hat wirkliche Noblesse und Wärme des Antheils. Wehr[enpfennig] schrieb, sie würden Euch vielleicht einmal in Biebrich besuchen. Es scheint ihnen das so natürlich, da sie, so wenig wir uns auch sehen, doch wahrhafte Anhänglichkeit an mich haben. Ich habe nicht drauf geantwortet, da ich nicht wußte, ob es Euch angenehm sein würde, weil ihn ja Papa nicht sehr gern mag. Ebenso ist’s mit Lazarus, dessen gesellige Art zu sein, sich aber so entwickelt hat, daß er in Bern die Hauptperson der Universität ist, mit den Hauptpersonen der Schweizer Regierung in Verhältnissen, wie kein Deutscher je vor ihm in der Schweiz (das sagt Usener, nicht Lazarus) und der hier im Winter ungemein gefallen hat. Er ist eben wieder nach Bern. Hat einen Aufsatz über die Ideen in der Geschichte geschrieben,1 der hier die Leute der einschlagenden Wissenschaften lebhaft beschäftigt. Das habe ich Euch doch geschrieben daß ich neulich ein paar sehr heitere Tage in Britz2 war. .|.|. Sehr hübsche Gesellschaften geben jetzt Dunckers in ihrem großen Garten, wo man – 30–40 Personen – mit Kaffee, Eis und Wein sich plaudernd herumtreibt. Besonders rede ich bei solchen Gelegenheiten mit Twesten,3 der gute philosophische und historische Kenntnisse neben seiner Kenntniß der preußischen Verwaltung hat und ein merkwürdig fest und genau formulirtes Urtheil über alles. .|.|. Furchtbar langweilige Gesellschaft war in diesen Tagen bei Nitzschs. Die Freiheit in der die Nichtgelehrten Kreise sich bewegen verwöhnt einen sehr. Mit Trendelenburg habe ich neulich einen sehr schönen Abend zugebracht. Mit Grimm brüte ich an einem

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Dilthey an seinen Vater

Plan, der im Winter die Berliner etwas in Erstaunen setzen soll. Wir wollen mit unserm Freund Erdmannsdörffer zusammen 6 Vorlesungen über das achtzehnte Jahrhundert in dem großen Saale der Singakademie halten. Da Grimms höchste Vornehmheit bis zum Anstoß bekannt ist: so können wir, unter seinem Schutze in dieser Beziehung, das Geld einstecken und hoffen, ein ganz gutes Geschäft zu machen. Es wäre das erstemal daß in Berlin über einen zusammenhängenden Gegenstand, mit ernstem Zweck der Belehrung, ohne Koketterie mit einem wohlthätigen Zweck Vorlesungen gehalten würden, und es könnte daher ein sehr wohlthätiger Anstoß sein. Wir haben vorläufig festgestellt: 1. Einleitung. Voltaire – Herm[an] Grimm; 2. Friedrich d. Große und Lessing – Erdmannsdörffer; 3. Rousseau – H. Grimm. 4. Adam Smith – ein nationalökonomischer Professor soll dazu aus Halle oder Hamburg verschrieben werden, 5. Kant – ich, 6. Goethe – ich. Was meinst Du dazu? Als Kollegien habe ich für den Winter angezeigt: Privatim: Logik und System der philosophischen Wissenschaften – Publicum: über Schleiermacher. Für das Privatcolleg lasse ich einen Bogen Grundriß oder vielmehr Übersicht drucken.4 Wie wird es nun mit unserm Wiedersehn im Herbst werden? .|.|. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 88. 1

M. Lazarus: Über die Ideen in der Geschichte. Rectoratsrede am 14. November 1863 in der Aula der Hochschule zu Bern gehalten. Berlin 1865; auch in: ZfV 3 (1865), S. 385–486. 2 Kreis Angermünde, nahe Eberswalde. 3 K. Twesten war im preuß. Justizdienst tätig und Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses. 4 Grundriß der Logik und des Systems der philosophischen Wissenschaften (Für Vorlesungen). Berlin 1865; WA in: GS XX, S. 19–32.

[180] Dilthey an Wilhelm Scherer Berlin, 24. 6.18651 In größter Eile, lieber Freund, schreibe ich was ich lange hätte thun sollen, daß Wehrenpf[ennig] Ihren Nibelungenaufsatz sehr wünscht. Und zwar sobald Sie ihn schicken können, damit er sich drauf einzurichten im Stande sei. Mich freut daß Ihnen mein N[ovalis] in Bezug auf den Inhalt gefallen. Sie wissen, ich kann auf die Form keinen großen Werth legen. Was sie in Bezie-

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hung auf diese bemerken ist vollkommen richtig. Ich habe das Allgemeine nur an d[ie]s[er] Stelle gesagt, um es überhaupt zu sagen. Die Exposition über die neue Verlobung2 hatte ich Erdmannsdörffer schon ganz ausführlich gemacht u. war daher nachher zu faul, sie noch einmal zu schreiben. Meine Erklärung des Ofterdingen,3 insbes[ondere] durch die geheime Springfeder der Seelenwanderung, nimmt sogar Julian Schmidt an; sie ist also acceptirt! Mein fabula docet ist zumeist für diesen repetiert, da es sich stets auf bestimmte Stellen von ihm bezieht, ich ihn aber nicht nennen mochte. Ich glaube jetzt mit der Entwicklungsgeschichte Spinoza’s, bei Gelegenheit meines Collegs, ganz in’s Reine gekommen zu sein. Könnte ich sie doch bald auf ein paar Bogen, ganz einfach und nur für wissenschaftlich mit dem Stoff vertraute Leser, drucken lassen! Aber das ist nun erst no 3. und ich sage mir immer: ruhig, eins nach dem andren! Grimm’s sind weg nach Kissingen. Erdmannsdörffer wird in den Ferien an den Rhein gehn; er wird im Winter Kulturgeschichte lesen, seit der Reformation, wozu ich ihn sehr gedrängt habe. Das heißt doch ordentlich in’s Wasser springen: wo es tief ist. Ich weiß wie gut mir das bei der Logik gethan hat. Um mich gar nicht zu zerstreuen, will ich diese im Winter wieder lesen, aber erweitert zu Logik und System der philosophischen Wissenschaften, damit hübsch ein Schritt nach dem andren geschieht. Äußerlich betrachtet ist das freilich ungünstigst, da ich keine Zuhörer so von meinem letzten Privatcolleg hinübernehme, mehreren auch schon über Kant versprochen hatte. So kommts vielleicht gar nicht zu Stande. Desto besser! Mit meinem Colleg bin ich sehr zufrieden, habe auch Disputationen angefangen. Mit bestem Gruße Ihr W. Dilthey Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 3; ein handschriftliches Transkript des Briefes von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 3; eine maschinenschriftliche Abschrift des Briefes ist zudem hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W.Dilthey, 13 o. 1 2 3

Nachträgliche Datierung von der Hand Scherers. Novalis’ Verlobung mit Julie von Charpentier im Dezember 1798. Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Ein nachgelassener Roman. Erster Teil. Berlin 1802.

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer

[181] Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer [Ende Juni 1865] Liebster Erdmannsdörffer: willst Du so gut sein diese 25 Thaler zur Bezahlung beifolgender Rechnung Herrn Götz zu geben. Er hat mich mit Recht in einem sehr deutlichen Sendschreiben gemahnt. Die 5 Thaler, (weniger 2 S.)1 die übrig bleiben soll er mir gutschreiben. Das söhnt ihn hoffentlich mit mir ein wenig aus. Entschuldige meine Nachläßigkeit bei ihm. Vom 20ten Juli ab habe ich auf 10 Tage auf Rigi-Kaltbad gemiethet. Könntest Du doch bei mir sein! Ich lauere jeden Morgen auf die Dich betreffende Neuigkeit. Demnächst gebe nur das erste Manuscript an Reimer ab. Ich bin totmüde. Lebe wohl und grüße die Freunde. Dein treuster Wilhelm Dilthey. Sonntag abends Original: nicht überliefert; ein handschriftliches Transkript des Briefes von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, P. Ritter-NL, Nr. 30, Fasz. 1, Bl. 214. 1

S = Silbergroschen.

[182] Dilthey an seinen Vater Liebster Vater!

(Berlin, Sommer 1865)

Eben da Karl einen Brief an Euch anfing kommt die Todesnachricht der geliebten Tante.1 Wir erwarteten sie seit Karls Ankunft, und man müßte wie ein Narr für sich selber am Leben hangen, wollte man nicht für die geliebte Gestorbene, nach so furchtbaren Leiden, aufathmen, da selbst für den Gesunden dies Leben eine zweideuthige Wohlthat ist. Wir aber verlieren wieder einen der Menschen, an denen wir von Kindesbeinen an hangen durften; Du weißt wie ich ihrer Güte die glücklichsten Stunden meiner frühen Jugend verdanke, wie ganz unvergeßlich mir diese Liebe, die uns wie Kinder hielt, sein wird; dann in späteren Jahren war mir ihr heller freier, klardenkender

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Dilthey an seinen Vater

Geist so unsäglich werth, der durchgehende Zug unsrer Familie, den wir Jüngeren gern fortsetzen. Du kannst denken wie wir um Dich in Sorgen sind. Wie leer sind in solchen Augenblicken alle Bitten, Dich zu schonen, die Aufregungen des Schmerzes nach Möglichkeit zu meiden. Und doch deucht mich daß wir die Pflicht haben, dem ersten Andrang des Schmerzes mit Fassung zu begegnen; die unvergängliche Empfindung des Verlustes wäre das Einzige, was ich nach meinem Tode empfunden wissen möchte. .|.|. Wenn es eine Erklärung für diese Welt gibt, so ist es daß unsre Schwäche uns andern nähern soll, die Fülle der Schmerzen in der Welt unser Mitleid rege machen, diese ganze Gebrechlichkeit der Dinge uns mit den Genossen solchen Schicksals verknüpfen. Es giebt keine andre als diese oder eine sehr finstere Lösung. Lebe wohl und halte Dich nach den Umständen gesund. Dein treuster Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 89. 1

D.s Tante väterlicherseits, Sophie Louise Christine Wirths.

[183] Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer [vor 20. August 1865] Hier, lieber Erdmannsdörffer, drei in diesen Tagen eingelaufene Briefe, von denen einer von einem italienischen Brief begleitet war.1 Unser Wirth2 ist sehr krank, so sehr daß er mir nicht ohne Lebensgefahr scheint. Aus unserm Projekt wird leider nichts.3 Ich werde ein Stück in den September hinein bei meinen Eltern in Homburg sein. Solltest Du in Arolsen4 so viel zu thun gefunden haben daß Du auch erst um dieselbe Zeit die Rheinreise machst, so laß mich es doch gleich wissen. Ich reise am Sonntag d[en] 20ten früh,5 wie von Anfang bestimmt war. Du kannst aber auch nach Homburg schreiben unter Adresse: obere Promenade N.o 13, bei Madame Scheller. Scherers Abzug ist noch nicht da.6 Sage mir ob Du ihn, falls er bis Sonntag kommt zugeschickt haben willst und laß überhaupt, wo möglich, etwas hören, was Du treibst. Ich danke Gott wenn ich erst fort bin und in der Berg- und Waldluft des wunderbaren Homburg. Du kannst denken daß die Krankheit des H.7 (Ko-

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer

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lik, wahrscheinlich aber kommt noch eine Entzündung dabei zum Vorschein) die Existenz hier noch übler macht. Arbeite inzwischen, nach Menschenmöglichkeit. Dein Schwager läßt Dir sagen, die Kur sei ihm gut bekommen, er aber für sein Theil habe den gegenseitig abgelegten Schwur nicht halten können. Hat auch auf Dich nicht allzu viel Zutraun. Du Ärmster! Hat wahrscheinlich Deiner Schwägerin unerfüllbare Versprechungen machen müssen. Heut früh war Gosche8 hier, der Dich auch sehr grüßen läßt und 14 Tage in Berlin bleibt. Hagen9 sah [er] erst in Halle, da er nach Tyrol geht. Julius10 ist zurück, einsam, mit Diarröh [bedauerns]werth – [J.B.] Meyer fort. Laß von Dir hören. Dein Wilhelm. Original: nicht überliefert; ein handschriftliches Transkript des Briefes von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, P. Ritter-NL, Nr. 30, Fasz. 1, Bl. 199–200. 1

Nicht überliefert. D. und Erdmannsdörffer teilten sich damals eine Wohnung in Berlin, Jägerstraße 73. 3 Vgl. D.s Brief an seinen Vater (Anfang Juni 1865). 4 Kleinstadt in Hessen. 5 Der 20. August fiel 1865 auf einen Sonntag. 6 Der zweite Artikel von Scherer: Jakob Grimm erschien 1865 in: PJ 16, S. 1–47 und S. 99–139, ebenso Scherers Aufsatz Über das Nibelungenlied, S. 253–271. 7 Vermutlich der oben erwähnte Hauswirt. 8 Gosche war seit 1863 Prof. in Halle. 9 Karl Hagen (1810–1868): Historiker; 1845 a. o. Prof. in Heidelberg, seit 1855 o. Prof. in Bern. 10 Möglicherweise ist Julius Rodenberg gemeint. 2

[184] Dilthey an Hermann Usener [vor dem 20. August] 18651 Liebster Usener, In aller Eile bitte ich Dich mir den Band für die Bibliothek zurückzuschikken 2) mich wissen zu lassen ob Du an den Rhein kommst. Ich werde c. den 20ten August von hier nach Hause reisen u. bis c. den 20ten September dablei-

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Dilthey an Hermann Usener

ben; je enger Du – nach den Kategorien von Raum und Zeit – an mich heranrücken könntest, desto schöner wäre es. Daß wir uns überhaupt sehn u. zwar daß Du uns in Biebrich besuchst drauf rechne ich mit größter Sicherheit u. dies ist bereits in das Ferienvergnügen, und zwar als eine der Haupt u. Glanzparthien, mit eingerechnet. Daß ich nichts weiter unter solchen Umständen schreibe, würdigt Deine eigne Abneigung zu schreiben wohl völlig. Novalis kriegst Du nur in Biebrich. Also sinne wie wir gute Tage miteinander haben mögen. Dein Dilthey Berlin, Jägerstraße 73. Ich sage kein Wort drüber wie die Meinigen sich freuen wenn Du Dich im Pfarrhaus ein paar Tage niederließest, dagegen halte ich nicht für unnöthig zu bemerken daß Papa’s Weinkeller einige neue Glanzstellen besitzt. Firnh[aber] geht in’s Seebad. Mein Vater wird bis Ende August in Boppard sein. Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL, S 2102, 3, 47. 1

Im Original: nachträgliche Datierung von fremder Hand.

[185] Dilthey an seine Mutter Liebste Mutter!

(Berlin, zum 15. October 1865)

Was ich Gutes und Heitres zu wünschen vermag, zu Deinem Geburtstag! Könnte ich doch lieber zu Deiner Heiterkeit thätig beitragen. Es ist mir recht in die Seele gegangen, als gestern Frau Duncker von meinem Freunde Scherer erzählte, der in Wien Privatdocent ist und den sie dort bei seinen Eltern besuchte. Die Mutter habe ihr erzählt, wenn es im Hause recht bunt ginge, so erkläre sie kurz und gut, nun ginge sie zu ihrem Wilhelm; dann finde sie ihn immer ruhig an seinem Schreibtisch, alles um ihn still und harmonisch; sie sitze bei ihrem Nähzeug mit ihrer Tasse Thee, sähe ihn arbeiten, ein und das andre Wort gehe hin und her und da fühle sie sich denn ganz wieder in Stille und Frieden. Wie gut könntest Du auch manchmal so ein Asyl brauchen und wie glücklich würde es mich machen, Dich manchmal so neben mir zu ha-

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Dilthey an seine Mutter

ben. Möchten mich die kommenden Jahre wenigstens Euch näher führen und mich in eine Lage, daß ich Dich manchmal recht ordentlich zum Besuch haben kann, wenn Du einmal Sehnsucht nach dem Stilleben hast, wie wir Gelehrte es führen. .|.|. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 92.

[186] Dilthey an seine Tante Marie Heuschkel [Berlin, Dezember 1865]1 Liebste Tante, Meinen herzlichsten Dank für Dein Geburtstagsgeschenk und Deine, wie aller Euer Geburtstagswünsche. Allerdings habe ich mit Karl zu Tisch ein Glas auf Euer aller Wohl geleert und wir sind recht heiter gewesen – soweit man an einem Geburtstag das ist bevor man dazu ein gründliches Recht hat. Karl hat mir außer einem Buch eine reizende Wanduhr geschenkt, deren Tikken mir das größte Vergnügen macht. Gestern waren wir bei van Beek2 zu Tisch. Wir nahmen nicht sonderlich gern die Einladung an da sie doch nur Vaters wegen geschieht und wir keine Gelegenheit haben ihm wieder freundlich zu sein – ein nicht sehr angenehmes Gefühl –; aber nach großem Rat in meiner Stube erschien uns das doch als unumgänglich. Er war denn wirklich sehr liebenswürdig, ließ Champagner kommen, ging in Betreff des sehr guten Diners mit sehr gutem Beispiel voran, führte auch die Siegestrophäen von Tony in Gestalt eines Artikels des Biebricher Moniteur über die ‚Dienstboten von Venedig‘ [.|.|.] u.s.w. bei sich, was denn für die neuste Biebricher Saison höchst instruktiv war. Karl u. ich vereinigten uns in dem lebhaften Wunsche daß Lilly – diese Narrenspossen mit ruhigem Gemüthe ansehn möchte. Seine Auffassung der großen Casinofrage war: Lilly habe den Papa hereingebracht u. setze überhaupt alles durch, wenn sie Theaterspielen wolle werde sie auch Theater spielen – wir bekreuzigten uns.3 Gestern Abend hat uns Joachim bei Hermann Grimm wundervoll vorgespielt. Er hat hier Berlin recht in Aufregung gebracht: die Leute sollen im Concert etwas tobsüchtig gewesen sein. Man kann doch aber auch nicht Vollendeteres hören. Er sieht ungemein wohl aus u. scheint sehr glücklich, erwartet demnächst die 2te Niederkunft seiner Frau, sein Verhältniß in Hannover hat er aufgelöst, wird den Sommer irgend wo auf dem Lande wohnen, den folg[enden] Winter vielleicht hier. Frau Scholz ginge es gut, Bernhard wäre

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Dilthey an seine Tante Marie Heuschkel

mit seinem Erfolg in Florenz sehr zufrieden. Wir haben viel über Bernhard gesprochen, ich bin noch mit ihm nach Hause zu gefahren. Mit der Arbeit gehts gut voran. Ich gehe gar nicht in Gesellschaft und befinde mich sehr glücklich dabei. Ich habe es dahin gebracht daß die Leute gar nicht mehr wissen ob ich denn wirklich nach Berlin zurückgekehrt bin. Nie hat mich eine Arbeit so glücklich gemacht als meine gegenwärtige. – Auch Karl ist ganz heiter; sein Gymnasium kostet ihm jetzt nicht allzuviel Mühe u. er fängt doch an Zeit für sich zu haben. Usener soll unter den 3 an Ritschl’s Stelle nach Bonn Vorgeschlagenen sein – so hat wenigstens Mommsen Karl erzählt, dh von der Bonner Fakultät hier bei der Regierung Vorgeschlagenen. An erster Stelle aber ein älterer Mann, der zwar tüchtige Bedingungen stellen wird, aber doch wohl schließlich annehmen.4 Lilly’s Brief 5 war mir völlig mysteriös: als mir ihn Karl erklärte, hatte ich ihn selbst nicht zur Hand: jetzt wo ich ihn vor mir habe ist mir Karls Erklärung verschwunden. Es wäre doch sehr nett von ihr, wenn sie einmal lang ordentlich und gründlich schriebe. Dagegen habe ich das Sendschreiben von Stimbes6 mit vieler Freude gelesen u. sage ihm meinen ergebensten Dank: seine zarten Vorwürfe wegen des nicht von Karl abgegeben[en] Briefs sind nur zu gerecht! Von Mariechen keine Zeile? Weiß Gott, die zwei Schwestern übertreiben’s nicht mit der Schriftstellerei; wer sollte glauben daß sie zwei ansehnliche Gelehrte zu Brüdern hätten? Das Briefschreibetalent von Mama hat sich auch nicht in einem gemäßigten Grade auf sie vererbt. Und nun Adieu, beste Tante u. Ihr Liebsten Alle; ich muß zur Bibliothek, wo ich jetzt täglich von 1 bis gegen 3 arbeite, wo ich dann erst esse. Laßt bald von Euch hören. Es ist ein hübscher Nebenvortheil daß wir jetzt jeder doppelt so oft von zu Hause hören als sonst. Mit tausend Grüßen Euer Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. Karl Dilthey, 137; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 93. 1

Im Original: nachträgliche Datierung von fremder Hand. Nicht ermittelt. 3 Die angesprochenen Vorgänge sind nicht mehr aufzuklären. 4 H. Usener übernahm 1866 in Bonn das Ordinariat des klass. Philologen Friedrich Wilhelm Ritschl, der aus politischen Gründen Bonn verließ und einen Ruf nach Leipzig annahm. – Th. Mommsen war seit 1861 o. Prof. für Altertumskunde in Berlin. 5 Nicht überliefert. 6 Nicht überliefert. 2

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Dilthey an Moritz Lazarus

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[187] Dilthey an Moritz Lazarus [Ende Dezember 1865 oder Anfang Januar 1866]1 Verehrtester Freund, mich allarmirt eine Nachricht, welche zuerst im Frankfurther Journal gestanden und von da in die andren hießigen Blätter übergegangen ist: Sie hätten in Bern Ihre Entlassung eingereicht und wollten hier Ihren schriftstellerischen Arbeiten leben. Ich war zuerst als ich sie las verblüfft, kann mir indeß wohl denken, wie Ihre Arbeiten u. Ihre Leipziger Geschäfte zusammen Sie diesen Entschluß haben fassen lassen.2 Doppelt begierig natürlich bin ich, Näheres über Ihr Kommen zu hören. Vielleicht erwirbt sich Ihre Frau dies Verdienst um mich. Wie ich mich drauf freue Sie in einer Epoche hier zu haben wo ich von Arbeiten ein weniges freier bin, denken Sie sich hoffentlich. Noch lieber freilich tauschte ich mit Ihnen: um meines Vaters und jetzt auch um meines Bruders willen, der sich dann gleich habilitiren würde, geschähe mir mit jedem Jahr einer Anstellung früher ein unbeschreiblicher Gefallen. Dies Ihrer wohlwollenden Erwägung im Vertrauen.3 Der Druck des Schleiermacher beginnt dies Frühjahr.4 Ich darf nicht daran zurückdenken was für Einzelstudien mich dieser Band gekostet hat und noch kostet, damit mir nicht das Vergnügen jedes Erfolges von vorn herein vergällt werde. Es ist mit Monographien biographischer Art eine verzweifelte Sache. Bald danach soll hoffentlich eine Übersicht von etwa 10 Bogen über den Stand der Frage einer philosophischen Behandlung der historischen Wissenschaften fertig werden. Ich glaube daß ich vorigen Herbst als ich meine logischen Untersuchungen noch einmal zu Hause, in freier Muße, ganz durcharbeitete, zu einem vorläufig mittheilbaren Abschluß gediehen bin. Seitdem bin ich mit einigen Specialuntersuchungen beschäftigt, welche das philosophische Verfahren in den verschiedenen Zweigen der Geschichte veranschaulichen sollen. Sobald der Schleierm[acher] ganz, dh auch der zweite Theil fertig, von dem schon große Parthien geschrieben sind, gedenke ich mich mehrere Jahre ausschließlich diesen Fragen zu widmen u. alle Resultate, die aus meiner nunmehr 10jährigen unablässigen Beschäftigung mit Geschichte mir sich noch als Vermuthungen und Versuche darstellen zu ziehen versuchen. Es ist ein sonderbarer Weg den mich das Schicksal hat gehen lassen, aber ich fange doch an seine Zweckmäßigkeit einzusehen. Mill und Comte fehlt durchaus – neben andrem – die strenge historische Schulung, wodurch sie denn gar

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Dilthey an Moritz Lazarus

nicht zu wirklich fruchtbaren Resultaten gelangt sind. Ich denke es soll ein mal auf diesem Gebiete in recht ruhigem Einvernehmen und gegenseitigen Fördern gearbeitet werden, ohne den Lärm ewiger Polemik. Zwei neue Nachrichten: Usener kommt als Ritschls Nachfolger nach Bonn; Bernays wird dort außerord[entlicher] Prof[essor] und Oberbibliothekar.5 – Wehrenpfennig kehrt im Sommer nach Berlin zurück. Der Bauplatz ist verkauft, es handelt sich nur noch um Veräußerung von Haus und Geschäft. Ich bin wohl, habe meinen Bruder hier u. habe mich sonst von fast allem menschl[ichem] Verkehr zu meinen Arbeiten zurückgezogen, die mich, wie es billig ist, abwechselnd sehr glücklich u. herzlich unglücklich machen. Ich wollte, ich könnte Ihnen den einen oder andren Abschnitt Schleiermacher zur Begutachtung vorlegen, das andre – der Biographische – Ihrer Frau, die es gewiß besser machte als ich kann. Mit Trendelenburg gehe ich fleißig spaziren und discutire ungemein gern mit ihm, trotz der großen Verschiedenheit unsrer Ansichten. Er hat mich auch – ganz anders als gewisse andre Leute – den Herbst – in Biebrich besucht, wo Gott sei dank alles wohl ist. Nun ein glückliches neues Jahr für Sie beide u. Fräulein Ernestine6 u. daß mir von Ihnen in ihm mehr zu Gute kommen möge als im vorigen. Das Leben ist ja so kurz. Ihr Wilhelm Dilthey Original: Hs.; UB der HU Berlin, Lazarus-NL, I, 112; Erstdruck: LStB II/2, Brief 519. 1 Handschriftliche Notiz des Empfängers am oberen Rand: „Etwa Anfang 66 oder Ende 65 erhalten.“ – Die Datierung wurde von der Hg. von LStB vorgenommen. 2 Lazarus kehrte erste 1867 nach Berlin zurück, einem Ruf an die preuß. Kriegsakademie folgend (vgl. LStB I, S. XXX f.). 3 D. ging nicht nach Bern; Lazarus’ Stelle in Bern blieb zunächst vakant. 4 Die erste Lieferung von D.s Leben Schleiermachers (bis S. 152) wurde 1867 in Berlin ausgegeben. 5 J. Bernays wurde, nachdem Ritschl nach Leipzig gegangen war, 1866 a. o. Prof. für klass. Altertumswissenschaften in Bonn, wo er zugleich als Direktor der UB tätig war. 6 Ernestine Lazarus, Schwester von M. Lazarus.

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Dilthey an Hermann Usener

[188] Dilthey an Hermann Usener (Berlin, Januar 1866) Liebster, Deine monumentale Mittheilung mit ihrem stummen Vorwurf – wenn die Menschen schweigen müssen die Steine reden – hat mich erschüttert. – Freilich müssen wir uns sehn; ich habe die größte Sehnsucht danach. Vorläufig aber bin ich ganz außer Stande zu reisen; es geht zu langsam mit dem Schleiermacher, da alle letzten metaphysischen Fragen welche da spielen, insbesondere die Lehre von der Freiheit gegen mich aufstehn. Was im Hintergrund steht kostet mich eben viel mehr Zeit als was ausgeführt den historischen Verlauf bildet. Auf jenem Ersteren beruht ja auch die Wirkung. Ich schreibe so viel für die Darstellung des Systems im zweiten Theil daß meine Arbeit für diesen nur in den zwei historischen Büchern liegen wird, für welche ich die Einsicht in die Akten des Oberkirchenraths zu erlangen suchen muß. Das Geh[eime] Staatsarchiv mit seinen Papieren über geheime Umtriebe u. Demagogenriecherei hat bis heute niemand unsrer Denkart zu sehn bekommen. Aber Karl wird Sonnabend erscheinen wie er Dir wohl schon gestern Abend geschrieben hat und wie auch Lilly Dir gewiß gemeldet. Ich denke, es soll ihm gut thun einen Tag mit Dir zuammen zu sein. Denn das Gymnasium macht ihn in einer Weise verstimmt und zerrissen, die mir in der Seele leid thut. Er hat nicht die feste Ruhe, den Faden seiner Arbeiten nicht abreißen zu lassen. Ungemeine Feinfühligkeit und nervöse Gespanntheit und Abgespanntheit hängen in ihm merkwürdig zusammen. Was vorläufig für ihn erreichbar wäre, ist daß er Alles thue was ihm das italienische Stipendium völlig sichre. Ich bin überzeugt daß sich in der dortigen Lage am besten seine Gesundheit und Heiterkeit herstellen würden. Er muß sich also die große Anstrengung zumuthen, etwas ordentliches Archäologisches zu schreiben, trotz des Gymnasiums, damit die Leute den Eindruck eines frischen Vorangehens haben u. ein Zeugniß seines archäologischen Sinnes vorliege. Doch das weißt Du ja Alles besser als ich. Mir ist es eine ungemeine Beruhigung daß Du einmal Alles mit ihm durchredest: ich weiß was das für ihn sein wird. Dann aber, Liebster, mußt Du einmal herüberkommen. Trendelenburg möchte Dich auch gern einmal sprechen wegen der Scholien zum Aristoteles, obwohl von selber vermuthend daß dazu im nächsten Jahr keine Aussicht sei. Aber der Herbart [?] könne erst nach den Scholien gedruckt werden und nähere sich dem Abschluß.1 Nächstens schreib ich ordentlich. Besser aber: komm! Dein Wilhelm

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Dilthey an Hermann Usener

Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL, S 2101, 3, 46; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist aufbewahrt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 n; Erstdruck (mit erheblichen Auslassungen): JD, Nr. 95. 1 Drei Aufsätze Trendelenburgs zu Herbart erschienen in: Ders: Historische Beiträge zur Philosophie. 3. Bd.: Vermischte Abhandlungen. Berlin 1867.

[189] Dilthey an seine Schwester Marie Liebstes Mariechen,

(Berlin, zum 22. Januar 1866)

Meine herzlichsten brüderlichen Glückwünsche zu Deinem Geburtstag. Wie oft und in wie mannigfacher Beziehung sind in diesen Tagen meine Gedanken bei Dir gewesen! Wie bald wird die Zeit kommen, in der Du nebst dem Stimbes im alten Pfarrhaus den Eltern allein bleibst.1 Es wird Euch nicht leicht werden, die Ruschelige zu ersetzen, die Lustigkeit wird wohl Stimbes allein liefern müssen, denn die hat von uns Geschwistern eigentlich von Anfang Lilly allein besessen. Ich habe davon nur sehr vorübergehend was in mir gespürt, und Karl, der das Naturell dazu hat, wird von gar zu Vielem geplagt. .|.|. Wie mir zu Muthe sein wird, wenn ich ihn erst auf dem Wege nach Italien weiß, – das heißt bei ihm etwas ganz andres und mehr als bei andren Menschen: auf dem Weg zu seiner körperlichen Stärkung und innerer Versöhnung so viel streitender Menschen in ihm, goldner, kluger, thörichter, wunderlicher Wesen, die sich in ihm streiten, – das kann ich Dir gar nicht schildern. Ich blicke so tief in all diese Leiden, die niemandem erspart werden, der ein Ziel idealer Natur mit Leidenschaft vor sich sieht – eine Thorheit vielleicht, aber die uns doch erst zu wahren vollen Menschen macht, an denen dann Gott und Menschen, wenn’s sein soll, Freude haben können – und wie ich auch das alles verstehe: ich kann ihm doch so gar nicht helfen, nur die Verhältnisse können es. Und sie werden es: eine so reichbegabte und edle Natur wird auch zu Friede und Glück gelangen, trotzdem daß seine ganze Entwicklung vom Gymnasium ab, wie ja Vater am besten weiß, der ihn immer in seiner Nähe gehabt hat, dem so viel Schwierigkeiten in den Weg [ge]legt als selten der Fall ist, und ich fürchte beinahe, darunter körperliche, ein von Kind an überspanntes Nervensystem. Hätte er sich entschließen können meinem Rathe zu folgen und Medicin zu studieren! Aber ich war zu jener Zeit selbst noch so unreif daß ich nicht mit der Kraft auf ihn einwirken konnte, die vielleicht seinem ganzen Leben eine weit glücklichere Wendung gegeben

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Dilthey an seine Schwester Marie

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haben würde. Wir beginnen alle unsren Weg im Halbdunkel über uns selber und die Welt; unendlich selten ist daß Verhältnisse oder Menschen ihn so regeln und von vorn herein bestimmen wie uns am besten ist; in scharfem Tageslicht des Bewußtseins über Kräfte, Glück, Hemmnisse, wie sie in der Welt und in uns liegen, müssen wir ihn durchlaufen. Was man dann empfindet, verschließt man am besten tief in der eigenen Seele. .|.|. Mit Lilly ist mir wie einem zur Ruh gesetzten alten Hauptmann, der seine Mannschaft einem ganz neuen Reglement unterworfen sieht. So viele Jahre hindurch haben meine um ihre Zukunft sorgenden Gedanken, mehr als sie je ahnen wird, sie umgeben. Nun liegt das alles in andren beßren Händen. Lazarus kommt im Frühjahr hierher. Leider bleibt seine Stelle in Bern unbesetzt, die ich so gern gehabt hätte: man rechnet darauf daß er sie später wieder einnehme. Tante Marie sage doch folgendes von mir; es soll Vater nicht verborgen werden, aber ihr selber sei anheim gegeben ob es ihn sorglich macht oder nicht: sie müsse so gut sein, von meinem Geld mir so viel flüssig zu machen, daß ich zunächst 40 [r.] und im Anfang März weitere 40 [r.] erhalte. Sie soll sich ja nicht die geringsten Sorgen machen: ich handle nach überlegter Überzeugung. Ich brauchte mich nur 14 Tage in meiner Arbeit zu unterbrechen, um mir mehr als das selber zu verschaffen; aber eher schneide ich mir meinen kleinen Finger ab, als daß ich jetzt wo alle meine Arbeit zum Abschluß kommt und meine Zukunft sich bald entscheiden muß, mich unterbreche um Geld zu verdienen. Sobald der Druck des Buchs beginnt, bin ich gedeckt, wie ich sicher erwarte. Noch einmal: und wenn es die letzten Thaler wären, die ich hätte, so würde ich sie ruhig aufbrauchen und weder rechts noch links sehn. Niemand möge mir das Herz schwerer machen als diese Geldmisére es mir ohnehin macht. Was wäre ich ohne die Kette dieses miserablen Bewußtseins an meinen Beinen für ein glücklicher Mensch! Vielleicht zu wunschlos und fest in meinem innren Menschen als daß mir das zu gestatten wäre. Doch mehr als genug davon. .|.|. Euer Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 94. 1

Die Hochzeit von D.s Schwester Lily und Hermann Usener stand bevor.

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Dilthey an seinen Vater

[190] Dilthey an seinen Vater (Berlin, Ende Februar 1866) Liebster Vater! Ich wollte recht gründlich schreiben und nun häuft sich – in den letzten 14 Tagen des Semesters die Arbeit so. .|.|. Es liegt nun wieder die ausgearbeitete, zwanzig Bogen starke Vorlesung dieses Winters über Schleiermacher vor, die freilich vorzugsweise dem zweiten Bande zu Statten kommt, nämlich dem letzten Buche, einer Darstellung der Weltansicht Schleiermachers, ganz unabhängig von der Ordnung, in welche sie seine Vorlesungen gebracht haben, aus der Anschauung des wahren Zusammenhangs in seinem Geiste heraus. Wie froh will ich sein, wenn dieser Block wirklich in die Welt gesetzt ist. Eben hat Strauß gegen Schleiermacher geschrieben.1 Ich finde in keiner Art bedeutend was er sagt. Er ist gegenwärtig hier und ich werde ihn in diesen Tagen kennen lernen. .|.|. Du kannst denken daß die Annexionsfrage hier an der Tagesordnung ist,2 und sehr großes Aufsehen macht die Broschüre von Treitschke, dem bekannten Tänzer von Lilly, darüber: ebenso wie dessen politische Essays, welche der politischen Richtung der jüngeren Historiker sicher eine andere Richtung geben werden.3 Er ist das größte junge Talent, das seit einer Reihe von Jahren .|.|. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 96. 1 D.F. Strauß: Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte. Eine Kritik des Schleiermacher’schen Lebens Jesu. Berlin 1865. 2 Der Krieg zwischen Preußen/Österreich und Dänemark war am 14. August 1865 beendet worden mit dem Ergebnis, dass Preußen und Österreich die Oberhoheit über die Herzogtümer Schleswig und Holstein gewannen. 3 Gemeint ist wohl Treitschkes Schrift Bundesstaat und Einheitsstaat, die Anfang 1865 zusammen mit anderen politischen Aufsätzen, die zuvor in den PJ erschienen waren, im 1. Bd. seiner Historischen und politischen Aufsätze in Leipzig veröffentlicht wurde.

[191] Dilthey an Ernst Reimer1 [Ende März 1866] Lieber Freund, Haben Sie für Ihren theilnehmenden Brief meinen herzlichen Dank. Endlich bin ich in der Verfassung gewesen die nächsten Capitel, wie meine Absicht war, neu zu schreiben und so kommt hier S.184–233 des Textes. Ich selber fol-

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Dilthey an Ernst Reimer

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ge am Schluß des Monats, um die unterbrochenen Arbeiten für Schleierm[acher] auf der Biblioth[ek] fortzusetzen. Von großer Bedeutung sind die inzwischen erlangten Erweiterungen des handschrift[lichen] Materials aus A.W. Schlegels Nachlaß. Unter Andrem erhalten wir für eine etwaige spätere Auflage der Briefe 25 neue interessanteste Briefe Schleiermachers an A.W. Schlegel (worüber ich aber zu schweigen bitte im Interesse Böckings, wovon mündlich). Das dann weiter folg[ende] Manuscr[ipt] vertraue ich lieber nicht der Post an, da ich von demselben nicht, wie von diesem, ein Concept besitze. Das vorliegende wird Bogen 7 füllen und 8, wohl noch in 9 ein Stück gehen. Sobald ich die Correktur von 8 erhalte, ohne Aussicht selber baldigst einzutreffen, sende ich doch noch ein Stück voraus. Nun bitte ich ergebenst, von der 2ten Correktur des schon Gedruckten (6 u. Stück von 7) und dem Abzug des Manuscripts das folgt (nach Durchsicht vom Correktor natürlich) 3 Abzüge machen zu lassen und Einen an mich, Einen an Prof. Trendelenburg (Charlottenstr.) Einen an Dr. J.B.Meyer (Mathäikirchstraße durch den Setzer Schmidt) senden zu wollen, damit auch diese beiden die Darstellung des Verhältnisses zu Kant noch einmal durchsehen. Am besten übersenden Sie erst an die beiden, wann das ganze Manuscr[ipt] fertig gesetzt ist, was freilich voraussetzte daß dazu die Buchstaben ausreichten: in diesem Fall würden Sie auch die Übersendung des Manuscr[ipts] an mich sparen: ich werde dann bei meiner Ankunft in Berlin die Correktur, nach vorheriger Besprechung mit beiden, machen. Geht das so? Nur daß ich wann ich komme, den Satz des Vorhandenen bis S. 293 des M[anu]scr[ipts] fertig finde, damit keine Verzögerung entsteht, dh. den 28ten etwa. Mit Dr. Ascherson2 habe ich also gesprochen daß er die Correktur übernimmt. Vielleicht macht diese Maßregel die Übersendung des Manuscript’s an mich überflüssig, wenn er sich in den Wochen meiner Anwesenheit in Berlin eingeschossen hat. Ich werde im Winter über Lessing, Schiller und Göthe lesen,3 sodaß Sie nach Vollendung des ersten Bandes einen (hoffentlich sehr glänzenden!) Essay über Göthe erhalten werden für d[ie] Jahrbücher. So geht hoffentlich auch der Plan allmähliger Vollendung entgegen, von welchem ich Ihnen einmal sprach. Vieles mündlich. Die Aussichten von welchen ich Ihnen einmal sagte dauern noch fort. Ihr treuster Wilhelm Dilthey Ihrem Herrn Vater empfehlen Sie mich ganz ergebenst. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, unpaginiert.

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Dilthey an Ernst Reimer

1 Ernst Reimer (1833–1897): Buchhändler; ältester Sohn des Verlegers G.E. Reimer, seit 3. März 1865 Prokurist im Verlag seiner Familie, 1876 Teilhaber, 1884 Übernahme des Verlags. 2 Ein Mitarbeiter des Reimer Verlages. 3 D. las schon im Sommersemester 1866: Über Lessing, Herder, Goethe und Schiller in ihrem Verhältnis zur Philosophie (1 std.).

[192] Dilthey an Hermann Usener Mein liebster Usener,

(Berlin, [Mitte] April 1866)1

eben war Michaelis bei mir und hat die Erinnerung an Dich so lebhaft in mir wachgerufen daß ich, wie ich mich zur Arbeit setze – ich bin heftig in der Vorbereitung für die Collegien – immer über sie hin an Dich denke – und so ists das räthlichste meinen Briefbogen zu packen, um laut mit Dir zu denken. Drängt michs doch ohnehin Dich in dem neuen Hause zu begrüßen, in welchem, so Gott will, Du und meine geliebte Schwester nun so bald mir ein stattliches Exempel des Glücks aufrichten sollt – das für mich immer noch am fernsten Horizont liegt. Zuerst also was mir das Herz ein wenig schwer macht: Michaelis meint die Aussichten Karls für das Stipendium seien beinahe gering. So gut als sicher erhalte das Disponible ein Schüler von Mommsen, Bormann,2 der für diesen dort zu arbeiten habe. Wenn dann der von Graser3 an einen andren vergeben würde: so käme auch ein eigentlicher Archäolog, Wöniger,4 der immer um Gerhard5 gewesen sei in Frage: zumal dieser bisher noch niemals einen von ihm Protegirten durchgesetzt habe. Inzwischen macht Karl die archäologische Parthie von Hero und Leander6 fertig. Vielleicht daß ihm dies doch noch von Nutzen ist. Seit er in der Arbeit tief steckt ist er heiterer und ich hoffe, sie bricht jetzt nicht ab. So denke ich denn daß er sich hier noch geduldet und etwas Größeres fertig macht, bevor er sich habilitirt. Denn wie ich Dir, glaube ich, schon mündlich sagte: es scheint mir, in Betracht seiner weniger festen Gesundheit, durchaus nicht gerathen, daß er früh wie ich seinen Vermögensantheil allmählig aufbraucht. Darum erscheint mir denn auch Italien, ohne Stipendium, wie Du meintest, wie ihm selber aber gar nicht nahezuliegen scheint, als allzu gefährlich. Mittwoch beginne ich schon meine Collegien und da sich schon drei Studenten gemeldet haben, vermuthlich also mehrere da sein werden, so muß ich wohl lesen. Das ist an sich sehr schön, da ichs so gern thue; aber in Anbetracht daß das zweite Buch des Schleiermacher noch lange nicht fertig ist und

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Dilthey an Hermann Usener

doch vorher der Druck nicht beginnen kann: ziemlich verzweifelt. Solange ich an der alten Philosophie bin, wird an gar nichts andres zu denken sein, als höchstens den Abschnitt über Plato zu schreiben. Da ich aber sehr rasch zur modernen Philosophie vordringen will, in etwa 20 Stunden, und in dieser mir jetzt kaum bei einem der großen Philosophen etwas Wesentliches aus der Lektüre der Quellen fehlt – ich habe im Winter Leibniz und Kant wieder aufs ernsthafteste vorgehabt – so muß sich dann Muße ergeben. An meinem Vorsatz daß zu Weihnachten der erste Band auf dem Tische liegen muß halte ich fest und sollte ich nur eben zu Eurer Hochzeit auf 8 Tage nach Hause kommen. Mein Logis ist ganz dazu angethan es den ganzen Sommer und Herbst durch in Berlin auszuhalten. Es ist ganz im Freien, mit dem Blick auf Graben und Thiergarten, im Schatten, hohe große Zimmer, freilich 1/2 Stunde von der Universität, nach der ich wohl 5 mal werde müssen. Mein Publik[um] über das Verhältniß unsr[er] dichterischen Epoche zur Philosophie,7 so viel dafür fertig war, macht doch Heidenarbeit. Ich werde es nur 6 oder 7 mal lesen, um die Hände frei zu bekommen. Vielleicht lasse ich die Hauptparthien des schnöden Geldes wegen, in den preuß[ischen] Jahrb[üchern] drucken.8 Montag Liegen [ge]blieben; da schickt eben Karl heitere Zeilen von Papa, an denen Du wohl gern theilnimmst. Den Passus über Euer Schlaraffenleben wirst Du seiner Weltweisheit zu Gute halten, gemäß der Deinigen. Hier wimmelts von Professoren: Curtius,10 Treitschke, Baumgarten, Schmoller11 etc. – überall stolpert man über irgend einen. Du kannst denken daß mich Treitschke am meisten interessirt. Seine durchgreifende Rücksichtslosigkeit, die ihm so vornehm und sicher zu Gesicht steht, macht mir immer das größte Vergnügen. Leider versteht er mich absolut nicht,12 kaum hier u. da einen Satz: das hindert aber nicht daß wir Freude aneinander haben. Zunächst wird ein neuer Band historisch politischer Aufsätze von ihm kommen, Cavour13 darunter für den er im Herbst nach Italien geht; die Geschichte des deutschen Bundes von 1815 ab wird 3 Bände werden;14 er schaltet hier in den Papieren vom Ministerium des Äußeren aufs Behaglichste. Demnächst kommen noch zwei Aufsätze über Napoleon I und die Napoleoniden bis zum dritten.15 Er ist grenzenlos einseitig. Neulich sagt’ er mir: ‚da habe ich eben einen Brief von dem Alten (d[em] General auf Königstein der die Schätze S[einer] Maj[estät] bewacht)16 gekriegt über die Politik: da hört ja aber alle Pietät auf etc.‘ Von Politicis nichts zu sagen: nur daß Bismark krank ist, weil er von allen Seiten so furchtbar geärgert wird, niemand dürfe zu ihm; wie es mit Baiern steht, ob dasselbe wirklich für Preußen durch den Vorschlag süddeutscher Regentenherrlichkeit gewonnen ist wie es hieß kann man nicht erfahren. 9

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Die Herren vom M[inisterium] d[es] Äuß[eren] führen einen hohen Ton; von Keudell17 sah ich in d[iesen] T[agen] einen Brief an H[einrich] T[reitschke], worin ‚sie wollten die Sache nun in Begleitung von Kanonendonner [im] großen Styl beendigen‘. Michaelis reist in diesen Tagen wieder ab, sieht ja ungemein wohl aus: er hat doch wahre Poetenaugen. Nun, mein Liebster, laß ein Wort, ists auch nur ein Wort, von Dir hören, ich schreibe nach Beginn der Collegien wie der Hase läuft – auf diesem elend[en] Felde. Leb wohl Dein Wilhelm Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL, S 2102, 3, 42; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 n; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 99. 1

Im Original: nachträgliche Datierung von fremder Hand: „Berlin 1865“. Eugen Bormann (1842–1917): Althistoriker und Epigraphiker; ab 1870 Lehrer am Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin, 1881 o. Prof. für alte Geschichte und klass. Philologie in Marburg, 1885 o. Prof. für alte Geschichte und Epigraphik in Wien. – Nach seiner Promotion 1865 in Berlin hielt sich Bormann auf Empfehlung seines akademischen Lehrers Th. Mommsen bis 1869 zu epigraphischen Studien in Italien, besonders in Rom auf. 3 F. Graser war damals Reichsarchivspraktikant in München. 4 Nicht ermittelt. 5 Eduard Gerhard (1795–1867): Archäologe; 1829 Mitbegründer des Archäologischen Instituts zu Rom, 1837 Archäologe am königl. Museum zu Berlin, seit 1844 a. o. Prof. in Berlin. 6 Karl D.s Schrift über Hero und Leander erschien erst 1874 in Bonn. 7 D. bot neben seiner vierstündigen Vorlesung über die Geschichte der Philosophie im SS 1866 eine einstündige Vorlesung Über Lessing, Herder, Goethe und Schiller in ihrem Verhältnis zur Philosophie an. 8 Vgl. D.s Antrittsvorlesung in Basel 1867 unter dem Titel Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770–1800, in: GS V, S. 12–27. 9 Nicht überliefert. 10 Ernst Curtius (1814–1896): Archäologe und Historiker; 1844 a. o. Prof. für klass. Philologie in Berlin, 1856 o. Prof. in Göttingen, 1868 o. Prof. für alte Geschichte und Archäologie sowie Leiter des alten Museums in Berlin. 11 Gustav Schmoller (1838–1917): Nationalökonom; 1864 a. o., 1865 o. Prof. der Staatswissenschaften in Halle, 1872 in Straßburg, 1882 in Berlin, 1884 Mitglied des preuß. Staatsrats. 12 Treitschke war schwerhörig. 13 H. v. Treitschke: Cavour, in: Historische und politische Aufsätze. N. F. 2. 2 Theile. Leipzig 1870, 1. Theil, S. 349–494. 14 Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert (Staatengeschichte der neuesten Zeit 24–28). 5 Bde. Leipzig 1879–1894. 15 H. v. Treitschkes Aufsatz Der Bonapartismus I war 1865 erschienen in: PJ 16, S. 197–252; vier weitere Aufsätze zum Bonapartismus folgten in: PJ 20 (1867), S. 357–394; 21 (1868), S. 40–102 und S. 491–536; 22 (1868), S. 1–99. 2

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16 Burgfestung Königstein in Sachsen, wo in Kriegszeiten sächs. Staatsreserven und geheime Archivbestände eingelagert wurden. 17 Robert von Keudell (1825–1903): Politiker; Freund der Familie Bismarck; seit 1864 Vortragender Rat im preuß. Außenministerium.

[193] Dilthey an seinen Vater Liebster Vater,

(Berlin [Ende April] 1866)1

Du wünschtest einige Politica zu hören, in der Abgeschiedenheit von Gräffenberg.2 Die sind nun freilich im Augenblick nicht der angenehmsten Art. Bismarck hat bis heute seine Absicht, mit Oesterreich Krieg zu führen, nicht durchgesetzt. Auf diese war sein ganzer Plan gegründet, der nun an der Abneigung des Königs hiergegen zu scheitern droht. Denn wenn Italiens Kriegsbewegung gehemmt und dort abgewiegelt werden sollte, wenn man sich dort von Preußen getäuscht fände: so wäre der einzige wahrhaft günstige Augenblick für Preußen versäumt. Wie es scheint, in dieser Verlegenheit griff Bismarck zur Reformfrage, die er jetzt so ernsthaft betreibt, daß er nicht abgeneigt ist, im Ministerium Veränderungen vorzunehmen, Anknüpfungspunkte mit den außerpreußischen Liberalen, Bennigsen u. a. sucht. – Vieles hierher Einschlagende darf ich leider jetzt nicht sagen, so interessant es ist. – Aber vorbereitet scheint in dieser Beziehung mit den Regierungen nichts von Belang, auch mit Baiern nicht; mit den Partheiführern in Deutschland ist gar nichts vorbereitet, ja nicht einmal mit denen in Preußen. So ist dieser ganze Plan entweder ein bloßer Fechterstreich, oder er muß ein unglückliches Ende nehmen. Denn ein Parlament, in welchem die Österreicher sitzen, ist ein Nonsens. Auf dieser Sachlage beruht meine Ansicht daß sich Bismarcks Politik nur noch nach Wochen wird zählen lassen. Dies traue ich ihm zu daß er sie selber nicht zu Grabe geleitet d. h. in Italien abwiegelt und im Bunde den Reformplan sich hinschleppen läßt, sondern daß er dann auch geht. Wenigstens ich wünschte es für ihn. Das Unglück für Preußen wäre dann sehr groß. In Schleswig-Holstein ungenügende Convention; im Einverständnis mit Österreich eine friedliche Reaktion schwarzgelber Färbung. Diesem allen kann aber doch ein leidenschaftlicher Moment ein Ende machen, welchen Bismarck benützte, den König zu rascher kriegerischer Wendung zu treiben: worin die einzige Hoffnung Preußens liegt, so hart auch diese Thatsache ist.3

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Dilthey an seinen Vater

Soviel hiervon. .|.|. Karls italienische Frage ist noch unentschieden. ‚Hero und Leander‘4 werden Gott sei Dank zur Meldung fertig. Mit meinem Kolleg5 bin ich zufrieden. 8 haben belegt und einige in Aussicht: besser als irgendein Privatdozent in der philosophischen Fakultät sowie irgend einer in der juristischen. Daß mein Buch wieder liegen muß, ist furchtbar; ich hoffe aber es in 14 Tagen wieder flott zu machen. Aber 5 Stunden lauter neues Colleg. Ich arbeite von Morgens 6 Uhr bis Abends meist 12, mit wenig Unterbrechung zumeist; bin aber sehr glücklich, da die allgemeine Geschichte der Philosophie mich leidenschaftlich interessirt. Dazu kommt daß mein Logis vor sich den weiten Blick auf den Thiergarten und die Villen hat, große Fenster mit einem Spiegelglas, große Flügelthür, hohes Zimmer; Du würdest Deine Freude haben. Treitschke war ganz erstaunt, wie vornehm Berliner Privatdocenten wohnen. Ist’s möglich, so würde Nachricht, eh Du abreisest, uns hier sehr glücklich machen. Verzeih meine eilige Schrift. Das Schönste wäre schon, Du reisest durch Berlin. Dein Brief 6 und Deine Heiterkeit haben uns unendlich wohlgetan. Dein treuster Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 98. 1

In JD ist der Brief datiert auf „Frühjahr 1866“. D.s Vater unternahm im Frühjahr 1866 zusammen mit dem befreundeten Herzog Adolf I. von Nassau eine Kaltwasserkur im Kurort Gräfenberg (Österreichisch-Schlesien, bei Freiwaldau). 3 Veranlasst durch den Streit zwischen Preußen und Österreich um die Gebiete Schleswig und Holstein, der nach dem Vertrag von Gastein vom 14. August 1865 ausgebrochen war, drohte Krieg zwischen Preußen und Österreich und deren jeweiligen Verbündeten. 4 Karl D. ging erst Ende 1866 nach Italien. – Seine Schrift Hero und Leander erschien erst 1874 in Bonn. 5 Im SS 1866 las D. erstmals Allgemeine Geschichte der Philosophie bis zu Hegels und Herbarts Tod (4 std.). 6 Nicht überliefert. 2

[194] Dilthey an seinen Vater [Berlin, Pfingsten,1 21. Mai 1866] Liebster Vater, es ist zweiter Feiertag, und nachdem ich schon den ersten bei der Arbeit zugebracht, für diesen Nachmittag aber die besten Vorsätze hatte, bei Bekannten herumzuziehen: regnet es, um den Berlinern den Rest

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vom Feiertagsvergnügen, welchen ihnen die Mobilmachung noch gelassen, vollends zu zerstören, nach Kräften. .|.|. Treitschke ist von Bismarck über die Bundesreform unterhalten worden; er scheint eine unendliche Menge von Dingen in das Rohr2 hinein vorgetragen zu haben und bezeugte seine Freude, als er durch seinen Legationsrath Keudell, einen Freund Julians, hörte daß Treitschke sie im Ganzen verstanden. An Krieg3 glaubt hier niemand, als wer unmittelbar mit den Dingen zu thun hat. Das ist aber stets so: wer die Aufregung nicht theilt, versteht sie nicht. Faktum ist, daß der Kronprinz ebenfalls jetzt für denselben unter gewissen Eventualitäten gewonnen ist, woran dem König lag. Übrigens ist hier nicht die geringste Aufregung, ja man hört die Leute kaum lebhaft über den Krieg werden: sie sind weder kriegslustig, noch unruhig über das was geschieht; in der Rheinprovinz allein schlagen die Kaufleute Alarm. Mich interessierte zu hören, in diesen Tagen, daß den Banquiers besonders Bismarcks Uneigennützigkeit imponirt. Der junge Benary4 von hier, der im Auftrag von Rothschild5 bei ihm war, sagte, daß die Banquiers erstaunt seien, ihn auch gegen die feinsten Formen von Gewinn ganz fest zu finden, was in Wien und Paris völlig unerhört ist. In Wien scheint der Gedanke eines Staatsbanquerotts wieder, für den Fall des Kriegs, ganz vertraut. Die Aufregung gegen Preußen in Wien schreibt sich – dies aus sicherer Quelle – hauptsächlich aus der Nachricht von den Verhandlungen zwischen Preußen und Italien. Im Fall eines Kriegs mit Preußen würde Italien sofort Venedig angreifen. Indeß – Du wirst jetzt selbst wohl besser als ich mit Nachrichten versorgt sein. Mögest Du auch gute Festtage gehabt haben und möchte bald ein Wort von Dir hören Dein Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 97. 1 In JD ist als Briefdatum „Ostern 1866“ angegeben. Da der im Juni beginnende Krieg bevorsteht, wird der Brief Pfingsten geschrieben worden sein. 2 Treitschkes Höhrrohr. 3 Der Krieg Preußens gegen Österreich („Deutscher Krieg“) fand im Juni/Juli 1866 statt. 4 Vermutlich ein Sohn des Bankiers Salomon Levi Benary (1770–1828), der aus Kassel stammte und 1821 nach Erfurt übersiedelt war. 5 Rothschild: das bedeutendste Bankhaus des 19. Jahrhunderts, begründet von Mayer Amschel Rothschild (1743–1812) in Frankfurt a. M., weitergeführt von seinen fünf Söhnen.

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[195] Dilthey an seinen Vater (Berlin, zum 4. Juni 1866) Liebster Vater, alles Glückliche und Heitere zu Deinem Geburtstag, was uns menschlicher Weise beschieden ist, überhaupt und zumal in so mächtig und wenig erfreulich bewegenden Zeiten. Mich rührt immer Kants Beweis des Satzes daß das Leben nicht um des Glückes willen gelebt werde,1 so oft er mir wieder aufstößt: diesen Zweck, meint er, würde die Natur viel sichrer und gründlicher durch den Instinkt des Thieres erreicht haben, welches inmitten von Gefahren furchtlos, ohne Gefühl der Zukunft und ohne Erinnerung der Vergangenheit seinen Weg geht, vom Drang des Begehrens geleitet, als durch diese unsere wunderbare Organisation, die uns mitleiden läßt mit jedem Leid, uns gegenstemmen wo ein Ungerechtes geschieht, die Zukunft mit Sorgen füllen nicht für uns nur sondern mehr noch für andre. Wie wahr ist das. Es wird Dir eigen zu Muthe sein, daß es – so Gott will – das letzte Mal ist daß Lilly ihn als ein Glied des Hauses mitfeiert. Wie denke ich dabei daran, wenn wir des Morgens herausschlichen um die ersten Sommerblumen zusammenzupflücken, als Kinder, und nach Deinem Eckfenster hinaufschielten, ob auch noch nicht die Fensterladen sich öffneten; wie ich das erste Jahr in Wiesbaden war und zu Deinem Geburtstag nicht heraus sollte, Tag und Nacht heulte: damals ging ich oft den damaligen Fußweg ein Stück und weinte, indem ich nach dem Mosbacher Berg blickte. Ich glaube, solches Heimweh hat nicht leicht ein andrer Mensch gehabt. Nun wird Kleinmariechen den Strauß machen und zwischen die Bretzel legen, deren Figur – behaglich und breit – ich mit Augen sehe. Ich bin so übergesund und voll Lebensbehagen daß selbst die Gefahr, in einem Monat hier mit Kroaten und Slovaken in einem Bett zu schlafen, mich nicht mehr anficht.2 Mich dünkt, in so schönen Tagen mußt Du Dich auch gesund und heiter fühlen. Du lebst ja auch auf gutem Fuße mit Bäumen und Himmel. Laßt bald von Euch hören und denkt meiner an Deinem Geburtstag auch mit nur der halben Liebe wie ich Euer als der älteste, treuste obwohl nicht ganz gemüthliche Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 100; WA in: Das Elternhaus. Briefe großer Deutscher. Gesammelt und eingeleitet von H. Roch. Berlin/Wien 1944, S. 317f.

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Dilthey an seinen Vater

1 Vgl. I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kants Gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 4. Hg. von P. Menzer. Berlin 1903, S. 395. 2 Anspielung auf den drohenden preußisch-österreichischen Krieg.

[196] Dilthey an seinen Vater Liebster Vater,

(Berlin, Mitte Juni 1866)

ich habe ein rechtes Bedürfniß, oft an Euch zu schreiben: wer weiß wie lange Briefe noch unerbrochen laufen. Ich kann mir zwar denken daß Ihr meine aufgeregten Briefe in diesen letzten Monaten nicht selten belächelt habt als Berlinismen. Das Ungewitter ist da: wir sind bestimmt, den dritten allgemeinen deutschen Krieg zu erleben,1 und man wird sich darüber keine Illusionen machen können: so lange er dauert, wird Anspruch auf Anspruch, Opfer auf Opfer folgen. Es ist eine wunderliche Stimmung hier. Die straffe Zucht und das starke Staatsgefühl geben dem Soldaten einen festen Halt. Aber dem Bürger will schlechterdings nicht wieder in den Sinn, daß die Regierung nicht durch Opfer ihres Eigensinns thut, was ihre offenbare Pflicht ist: den Staat frei macht, damit er der äußersten Kraftanstrengung fähig sei, die doch so offenbar nothwendig ist. Da kommt dann jeder einzeln, besonders den Wahlen gegenüber, in eine wunderliche Lage. Geld verweigern für einen unvermeidlichen Krieg, für die Soldaten, für den Staat – das ist nicht viel besser als Verrätherei. Denn zu denken, daß die friedlichste Gesinnung einer preußischen Regierung heute etwas anderes vermöchte, als tiefste Demüthigung Preußens herbeizuführen – heißt sich die Welt nach Kinderart unschuldig und spielend vorstellen. Andererseits hat die verbitterte Opposion die Aufgabe, das Recht des Landes zu schützen – es ist ein Konflikt, der jedem Ernsthaften schwere Stunden macht. Wir haben, eine vermittelnde Parthei, Droysen, Duncker, Beseler,2 Julian Schmidt, Reimer, einige andre, neulich bei Duncker eine Besprechung gehabt, ob sich ein Wahlprogramm aufstellen ließe, haben uns aber für Schweigen entschieden. Ich habe Droysen gestern angeregt, ob nicht Vorlesungen zum Besten der Verwundeten für die Aufklärung des Publikums über den Krieg praktisch wären; er will heut mit Duncker drüber reden, schien selber sehr damit einverstanden. Es wäre doch etwas. Man denkt und sinnt, was man thun könnte, da jetzt jeder private Zweck und jeder persönliche Wunsch ganz armselig erscheint gegenüber dem ungeheuren Schicksal unsres Volkes,

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Dilthey an seinen Vater

dessen Beugung unter österreichische Suprematie ich nicht erleben möchte – jetzt aber nutzt nur, wer eine Flinte trägt. Vorlesungen zumal zu halten, ist keine Kleinigkeit. Und doch bin ich froh sie zu haben, da sie durch harte Nothwendigkeit abziehn von der Politik. Daneben bin ich sehr fleißig in den letzten Wochen, habe einen großen Essay über Lessing beinahe fertig3 und bin, so gut es geht, am Schleiermacher, damit, sobald der erste Sonnenstrahl von Friede da ist, er sich aus dem Manuskript entpuppen kann. Dabei habe ich eben Glaser einen Vorschlag gethan, der mir, wenn er ihn annehmen kann, durch Ausnutzung der Pausen der Vorlesungsarbeit in kaum ein Dutzend Tagen für drei Monate zu leben schafft. Wenn er kann! Oh wenn er mir für zwei Bogen, die ich ihm schreiben will, in diesen Zeitläuften 100 r. zahlen kann. Donnerstag, d[en] 20. Juni 1866 Dieser Brief blieb liegen, um gleich nach Empfang des Geldes (für dessen Expedition ich bestens danke) abgeschickt zu werden. Aber das Geld erschien nicht, dagegen wird die Verbindung zwischen uns unterbrochen durch den Ausbruch des Krieges. In der politischen Stimmung Preußens hat das einen mächtigen Umschwung hervorgebracht; hat man die Leute von der Fortschrittsparthei einzeln, so sind sie ungemein verständig. „Sie werden mich doch auch für einen Patrioten halten“ usw. Nur in Masse sind sie noch etwas schwer zu behandeln gegenüber dem, was so offenbar nothwendig ist. Freund Duncker ist nun schon in Kurhessen.4 Die Gerüchte, die hier umliefen von einem Gefecht bei Friedberg, sind hoffentlich falsch gewesen. In Berlin ist kein Militär mehr zu sehn; alle Wachen beinah ohne Posten; und nun kommt’s zum zweiten Aufgebot. Sonderbar ist es mit der Stimmung: die höheren Officiers sind sehr ungewiß hinsichtlich des Ausgangs des Kriegs, jeder Bürger dagegen hält alles schon für ausgemacht und fertig. Bismarcks Idee ist offenbar, wenn der Krieg glücklich endet, die Mainlinie, und dafür Überlassung Belgiens an Napoleon, was mir schon um der Engländer willen Vergnügen machen würde, deren blinde Abneigung gegen jede bessere Organisation Deutschlands damit die gebührende Abstrafung erhielte. – ich muß nun den Brief zu Ende bringen. Da kommt eben ein Stadtgerichtsrath Eberty,5 Abgeordneter irgendwo, ob ich nicht in dem Wahlbezirk hier eine Versammlung der „Liberalen“ arrangiren wolle mit ihm. Stellt sich als ein ausnehmend dummer aber guter Mensch heraus. Ist, wenn der König auf seinem Kopf bliebe, bereit zur Zersplitterung Preußens zur Ehre der Freiheit. Ich donnere ihn sehr beträchtlich an, und er tritt die Retirade zu vernünftigeren Maximen an. Anderthalbstündiges Geschwätz. Und nun muß ich zum Colleg. Ich schreibe demnächst gründlich. Werde nur rasch

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Dilthey an seinen Vater

wieder gesund, liebster Vater,6 um diese großen Zeiten mit heitrer Seele mitzudurchleben. Ich denke täglich an Dich. Dein treuster Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 101. 1 Mit dem Einmarsch preuß. Truppen in Holstein am 9. Juni 1866 und dem der preuß. Armee in das mit Österreich verbündete Sachsen am 16. Juni 1866 begann der preußisch-österreichische Krieg. 2 Karl Georg Christoph Beseler (1809–1888): Rechtswissenschaftler und Politiker; 1835 Prof. in Basel, 1837 in Rostock, 1842 in Greifswald, 1848 Abgeordneter der deutschen Nationalversammlung, 1849 und 1860 Mitglied der Abgeordnetenkammer, seit 1859 Prof. in Berlin, 1874 Mitglied des deutschen Reichstags und 1875 Mitglied des preuß. Herrenhauses. 3 D.s Essay Gotthold Ephraim Lessing erschien in: PJ 19 (1867), S. 117–161 und S. 271–294; später aufgenommen in: Das Erlebnis und die Dichtung. Leipzig 1906, S. 1–136; WA in: GS XXVI, S. 12–112. 4 Max Duncker war in den Kriegsmonaten 1866 preuß. Zivilkommissar in Kurhessen. 5 Gustav Wilhelm Eberty (1806–1887): Jurist; Stadtrichter in Berlin. 6 D.s Vater hatte im Frühjahr 1866 während seines Aufenthaltes in Gräfenberg einen leichten Schlaganfall erlitten (vgl. JD, S. 302).

[197] Dilthey an seine Eltern Ihr Liebsten!

(Berlin, [16.] Juli 1866)

Eben kommt Karls Brief,1 dem ich dafür sehr dankbar bin; immer noch der Wechsel zwischen guten und schlechten Nächten! Jeden Abend muß ich an Vater denken, wenn Erdmannsdörffer und ich alle Thüren aufsperren, um die Luft in diesen schwülen Nächten frei circuliren zu lassen. Ich bin nur froh daß es mit meinem Colleg sich dem Ende nähert und ich Papa ordentlich pflegen kann. Zwischen Mitte und Ende der nächsten Woche, etwa den 25.–27. Juli2 werde ich bei Euch sein. Ich bringe Vater eine Welt von politicis mit zu erzählen. Sehr lieb wird mir sein, aus dem verwünschten Choleranest wegzukommen.3 Erdmannsdörffer und ich gehen, mit starken flanellenen Leibbinden bekleidet, was auch nicht zu angenehm, Erdm[anns]d[örffer] hat einen förmlichen Panzer von 4 Schuh Breite, den er, einer Rüstung gleich, an- und abschnallt. Julian Schmidt bietet das wunderbarste Schauspiel. Ich war nie über seine äußerste Furcht vor dem Tode und seinen entschiedensten Entschluß, demselben fast jede Möglichkeit an ihn zu kommen, zu benehmen, im Zweifel. Aber es ist jetzt kaum anzusehn. Sobald die Cholera anfing zu wachsen,

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Dilthey an seine Eltern

setzte er sich in Besitz eines Mittels für das erste und eines andern für das zweite Stadium, stellte sie vor sich auf und erzielte glücklich durch Angstgefühle eine Diarrhö. Diese hält seitdem an, durch reichlichen Genuß von Spirituosen, Grog insbesondere, mit Anstrengung in Schranken gehalten. Gestern komme ich gegen Abend hin, das Dienstmädchen, ebenfalls von der Angst ergriffen, war hingefallen, hatte Krämpfe bekommen und sich angestellt als wollte es binnen einer Stunde sterben. Die Schwester von ihm hatte verweigert daß es auf dem Kanapee liegen dürfe in ihrem Zimmerchen, dem mittleren, in dem wir aßen, und hatte sich voll Angst zurückgezogen. Das arme Mädchen hatte immer die Hand der Doktorin festgehalten: sie möge sie doch nicht verlassen. Der Junge ebenfalls an Schwindelzuständen krank. Und er? war sofort in eine Weinstube gelaufen um Rotwein und Grog zu trinken, – wie er sich ausdrückte, politische Nachrichten einzuziehen. So saß ich denn erst etwas beim Jungen, brachte sie dann spatziren, damit sie sich etwas erhole von dem Schrecken. Er ist ein feiger Tropf in aller Form, und seine politische Courage erscheint mir darum nur lächerlich. Wie kann ein Mensch sich so vor dem Tode fürchten! Seine moralischen Phrasen bilden einen wunderlichen Kontrast zu einer solchen freien, reichlichen und ungestörten Entwicklung des Egoismus. Was für Schicksale in fast alle Berliner Familien eingebrochen sind, davon macht Ihr Euch doch keine Vorstellung. Fast keinen Schritt kann man thun ohne auf schwartze Kleider zu treffen, und was für furchtbare Arten von Verwundung und Tod. Wahrhaft grausenhaft sind die hierherkommenden Schilderungen. Gott sei Dank daß dergleichen nicht lange andauern kann. Im Colleg halten die Studenten merkwürdig gut Stand; obwohl mehrere einberufen sind, habe ich an manchen Tagen 14, 15 Zuhörer. Ein alter Hegelianer hat sich mit einem Schmerzensschrei an den Dekan gewandt, weil ich im nächsten Semester Geschichte der Philosophie mit ihm zugleich in derselben Stunde lese.4 Sobald Friede ist, mache ich Kontrakt und lasse den Druck anfangen; ich freue mich unsäglich darauf, wie Vater die einzelnen Aushängebogen bekommen wird. Und nun gehts, die zwei Bände durch, in einem Zug. Ich habe in diesen Wochen auch einen genauen Entwurf des kleinen Buches contra Lazarum et Lazaristas, Millium etc. gemacht. Es soll heißen: über das Studium des Menschen und der Geschichte.5 Ihr könnt denken, mit welcher Sehnsucht ich auf Nachrichten harre. Ich will nun auf der Post unterhandeln, wie Ihr wohl diese Zeilen am besten bekommt. Schreibt, schreibt. Euer treuster Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck: JD, Nr. 102.

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Dilthey an seine Eltern 1

Nicht überliefert. Nach Mitteilung der Hg. ist in JD D.s Angabe „25.–27. August“ richtig in „25.–27. Juli“ korrigiert (vgl. JD, S. 313, Anm. 100 a). 3 Im Juli 1866 hatte die Cholera-Pandemie auch Berlin erreicht. 4 Wahrscheinlich ist der Philosoph Karl Ludwig Christian Michelet (1801–1893) gemeint; Mithg. der Werke Hegels und seit 1829 a. o. Prof. in Berlin. 5 Erstes Projekt D.s einer Philosophie der Geisteswissenschaften, das erst 1875 mit der Abhandlung Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat realisiert wurde, in: Philosophische Monatshefte 9, S. 118–132 und S. 241–267 (unter Fortlassung einer Anmerkung WA in: GS V, S. 31–73). 2

[198] Dilthey an seinen Vater Liebster Vater,

(Berlin, [17. Juli] 1866)1

nun kriegt Ihr mich doch noch früher, als ich gestern schrieb, zu Karl und der Einquartierung dazu. Ich kann sehr wohl bis Mittwoch oder Donnerstag mit meinen Vorlesungen zum Abschluß kommen und mir ist jetzt schlechterdings unheimlich; die steigende Cholera, die Gedanken an Euch und mein Wunsch, diese schlimme Lage mit Dir zu theilen und Dir zu erleichtern. Freut Euch, wenn ich da bin. Ich komme aber recht eigentlich, Papas üble Nächte zu theilen, da ich in diesem Sommer zu viel im Schlafen geleistet habe; wenn’s also geht, richtet’s so ein, daß ich allein bei Papa schlafe, oder wenn Mutter sich nicht verdrängen läßt, nebenan. Ich kann wie die Sultanin in Tausend und eine Nacht soviel Nächte durcherzählen vom wunderbaren Lauf der Welt, als Ihr wollt. Ich sehe zum Fenster hinaus nach der schwarzen choleraduftenden Spree und träume schon vom Rhein – man vergißt doch nicht daß man in Arcadien geboren ist, auch heute nicht. Im Hintergrund meiner Gedanken steht irgendein schöner Punkt Süddeutschlands, an dem ich mit Papa und Mutterchen sitze. Adieu bis ich Euch alle im Arm halte. Euer treuster Wilhelm Dienstag. Original: nicht überliefert; Erstdruck: JD, Nr. 103. 1

Aus D.s Angabe „Dienstag“ ergibt sich, dass der Brief vermutlich am 17. Juli 1866 geschrieben wurde.

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Dilthey an Hermann Usener

[199] Dilthey an Hermann Usener [Berlin, 17. Juli 1866]1 Liebster Usener, die Berichte von Vaters Krankheit bestimmen mich, meine Collegien Mittwoch Abend zu schließen und Donnerstag mit dem Schnellzug der 7 Uhr 30 Minuten von Berlin abgeht abzureisen. Ich werde demnach Donnerstag Abend dh. übermorgen den 19ten in Köln um 9 Uhr Abends im Centralbahnhof ankommen; dann 10 Uhr 15 Minuten von da nach Bonn weiterfahren wo ich um 11 Uhr Abends bei Dir anlange. – Kommst Du nach Cöln herüber so thust Du mir einen großen Gefallen; ich werde mich gleich nach Dir umsehn. Aber nur wenn Du Zeit hast. Wie anders hofft ich diesen Weg zu Dir zu machen. Selbst Karl, der Vaters frühere Krankheitszustände so genau kennt, scheint nur einen mäßigen Grad von Hoffnung zu haben. Dein treuster Wilhelm Ich habe Dir die Zeit nach dem Cursbuch vom 16. Juni geschrieben, dem letzten. Du bist ja auch orientiert. Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL, S 2102, 3, 43. 1

Die Datierung ergibt sich aus dem Briefinhalt.

[200] Dilthey an Hermann Usener [Biebrich, vor dem 22. August 1866]1 Lieber Hermann, es ist zum Verzweifeln. Der ganze redliche Entscheid Müllers ist wieder contercariert. Vater läßt mich eben herunterrufen während Fritze da ist. Ich solle selbst die Meinung desselben hören. Fritze erklärt schlechterdings, gegen jede Reise Lillys in diesem Herbst in die Schweitz zu sein, ganz unabhängig von Schwalbach u. etwaiger Verschiebung der Hochzeit.2 Er habe bei zu viel zarten Frauen bei Hochzeitsreis[en] in die Schweitz furchtbare Folgen u. Unglücksfälle

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Dilthey an Hermann Usener

erlebt. Ich bemühe mich Näheres zu hören, obwohl b[ei] ein[em] so difficilen Gegenstand. Aber Du weißt, Er unruhig, Vater überrascht. So war nichts Weiteres herauszubringen. Eins ausgenommen daß Vogler3 seiner Meinung sei. Nun sagen Marichen und Tante Vogler er kenne ebenfalls Lillys Natur und Individualität, so gut als Fritze der sich ausdrücklich auf die Kenntniß derselben beruft. So bleibt in dieser verzwickten Lage nichts übrig als daß Du an diesen schreibst. Der sich in diesem Augenblick, wohl auf mehrere Tage bei seinem Bruder im Rheingau aufhält. Ist er Fritze’s Meinung, dann ist eben nichts zu machen. Ist er aber der entgegengesetzten, dann muß er wohl sich mit Fritze darüber auseinandersetzen. Noch eins. Ich habe natürlich sofort Fritze gesagt daß es sich um keine Kletterei, sondern um langsame bequeme Bewegungen von einer Pension aus handle. Auf jene gingen wohl seine Erfahrungen. Gebrumm und Kopfschütteln: Du kennst ihn; er scheint zu meinen, wäre Lilly erst dort so würde sie doch die allerdings offenbar nothwendige große Vorsicht vergessen. Über die Art der Reise also müsse Dir Dein Onkel ein Wort sagen. Marichen heut zum erstenmal auf. Vater langsam vorangehend. Ich so hernieder daß ich nachher eine kleine Gebirgstour machen muß um nur wieder auf den Stand eines Privatdocenten der 5 Stunden neue Collegia im Sommer geles[en] u. in die Ferien reist nothdürftig zu kommen. Gott bessers. Dein Wilhelm Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL, S 2102, 3, 1. 1 Am oberen linken Rand von der Hand des Empfängers: „Erh[alten] u. beantw[ortet] Mittwoch 22. Aug[ust] 66“. 2 D.s Schwester Lily und H. Usener heirateten am 4. 9. 1866. 3 Johann Karl Wilhelm Vogler (1796–1869): Wiesbadener Arzt – wie auch vermutlich Müller, Fritze, Leitge und Mandt.

[201] Dilthey an Hermann Usener [Biebrich, August 1866] Sonntag Mittag Lieber Hermann, in großer Eile, da Vater mich zum Spazierengehen will nur Folgendes.

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Dilthey an Hermann Usener

Als Deine Briefe1 kamen, war Marie schon unwohl und sie hatte den Tag drauf einen Brustkrampf, liegt fest im Bette, sodaß ich fast seit Abreise von Euch jede Nacht bei Vater bin und wohl auch bis zu deren Zurückkunft sein werde. Also daran daß ich selbst mit Müller sprach oder auch in der nächsten Zeit sprechen könnte war und ist nicht zu denken, demgemäß habe ich die Frage wie ich sie mir dachte den Schwalbachern geschrieben damit sie sie mit Müller gründlich besprächen. Müller hat entschieden wie ich es mir vorstellte: ein Aufschub würde absolut gar nichts an seiner Ansicht über eine Reise ändern und in dieser bezog sich seine Abneigung gegen die Schweitz nur auf anstrengende Bergparthien, die er eben unbedingt für Lily verboten erachtet. Aber das kann Euch nicht hindern dort Unendliches zu genießen. Leitge wollte ich erst wenn ich Müllers Ansicht hätte darüber fragen, gebe auch in der That auf seine nähere Ansicht wenig da er den Verlauf der Kur von Lily nicht kennt auf welchen es doch wesentlich mit ankommt. Seine frühere Abneigung gegen eine Schweitzerreise bezog sich auf die Anstrengungen von Bergparthien die er für Lily für unzuträglich hält. Die Ansicht von Mandt stimmte mit der von Müller [überein]. Diese Unterredung mit M[andt] und der Brief darüber an mich war wohl der Grund daß Lily in der Bedrängniß des Badelebens einen Brieftermin versäumte: so erkläre ich mir Dein heutiges Telegramm. Inzwischen hast Du wohl sicher schon einen Brief erhalten. Marichens Gesundheit bessert sich. Die Hauptsache war ein durch die Nachtwachen herbeigeführter nervöser Zustand. Wir bringen große Opfer den Schwalbachern eine ungestörte Kur zu ermöglichen; ich bin ebenfalls ganz herunter. Wir sind aber deßwegen auch drüber ganz einig daß der vor der Hochzeit vorhergehende Tumult im Interesse der ganzen nervös angegriffenen Gesellschaft so kurz als möglich festgesetzt werden muß. Du wirst so wenig als die Damen selber drüber im Zweifel sein daß ein verdoppelter Termin diesen Tumult nicht intensiv verringern sondern nur extensiv verlängern würde. Müller besonders muß unbedingt geschont werden, aber auch Lily. Und doch würde in den nächsten Wochen Marichen keinesfalls sich für Lilys Sache wie bisher mitanstrengen dürfen: es fiele also auf Lily. Dagegen ist erst totale Ruhe hier, Lily und ich weg, so werden sie bald das übrige Bleibende anfassen können ohne ihrer Gesundheit zu schaden. Bestimmt Ihr beiden also nur unter Euch den Tag, ob Ihr den Dienstag beibehalten wollt2 oder einen der nächstfolgenden. Marichen sagt Du habest den Dienstag gern gewollt. Dies Alles damit Du siehst wie es steht. Die Schwalbacher wissen von Marichens Krankheit. Nichts als daß sie einen oder ein paar Tage gehustet habe. Also kein Wort schreiben. Mit Vaters Befinden geht es langsam voran; seine

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Ungeduld, sein Bedürfniß nach lebendiger Unterhaltung hemmt überall die Fortschritte. Es gehört eine unsägliche Geduld dazu ihn am Tage sündigen zu sehen und Nachts an seinem Bette zu sitzen. Er ist Dir für Deinen Brief sehr dankbar, wollte schreiben, darf aber schlechterdings noch nicht. Ich bin nur froh daß wir Lily vor den Anstrengungen der Krankenpflege bewahrt haben. Ich werde alles aufbieten daß in den c. 10 Tagen die sie nach der Kur hier ist schlechterdings gar keine Unruhe zu den nothwendigen Geschäften bekommt, damit ja nichts verdorben wird. Dring auch in sie daß sie in dieser Zeit möglichst wenig und kurz an Dich schreibt. Eure Reise wird dann die beste Nachkur sein. Mariechen grüßt Dich aufs Herzlichste und freut sich daß Du mit Deiner Kur zufrieden bist – Marichen ruft mir noch aus dem Bett eben einen besonderen Gruß zu. Ich kann schlechterdings nichts arbeiten, bin froh so meine Nerven durchzubringen und hätte eben ohne Zweifel eine Kur nöthiger als Du. Also auf Wiedersehn Liebster, laß wenn Du Muße hast bald von Dir hören. Dein Wilhelm Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL, S 2102, 3, 40. 1 2

Nicht überliefert. Der Hochzeitstag (4. September 1866) fiel auf einen Dienstag.

[202] Dilthey an Hermann Usener [Biebrich, August 1866]1 Freitag früh Lieber Hermann, Marichen wollte heut früh Deinen Brief beantworten gleich; sie hat aber wieder Fieber und beklagt sich im Bett schrecklich drüber Dir nun nicht schreiben zu können, da sie heut wohl nicht wird aufstehn dürfen. Deine Proposition in Betreff der Hochzeitsreise, erst am Hochzeitstage selber Deinen Onkel zu fragen ist noch kürzer als die meinige ihm zu schreiben. Als Du mir schriebst und ich nicht nach Schwalbach konnte, war mein Vorschlag dorthin daß Mutter sich von Müller die Gründe auseinandersetzen las-

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Dilthey an Hermann Usener

se: dies wäre genug gewesen. Fritze habe ich obwohl Du es wünschtest gar nicht gefragt weil es nichts taugt mehrere Ärzte zu fragen, am wenigsten einen so unberechenbaren, sultanischen. Vater hat mich herzugerufen und als ich auf Gründe drang war mit den zwei alten Herren nichts anzufangen. Hierauf habe ich in Marichens und Tantens Gegenwart Papa gesagt daß ich einen solchen Bescheid ohne Gründe, den ich ohnehin gar nicht extrahirt nicht botentragen würde; ich habe es schließlich nur gethan um den Vorschlag Dir zu schreiben Dich mit Deinem Onkel zu benehmen. Hiermit genug dieser Tintenvergeudungen: ich hoffte und wußte daß Ihr nach der Schweiz geht, mit Anwendung der Vorsichtsmaßregeln welche Dein Onkel Dir sagen wird. Auf Eindrücke können diese sich schlechterdings nicht beziehen wie Du Lilys Brief auffaßtest, die ja dort harmonischer und heiterer sind als an einem andren Orte der Welt, sondern nur auf körperliche Anstrengungen. Die Hemden betreffend habe ich nachdem hier auf Tante die ganze Haushaltung, 4 Mann Einquartierung, 3 Nähmädchen, zwei Waschfrauen lasten – gar keine Idee mehr daran gehabt: ich muß errathen haben, unbewußter Weise, daß Du errathen würdest aus meiner Schilderung daß es bei dem stärksten Willen unmöglich sei, wie ihn Tante wirklich zu unsrer aller Erstaunen entfaltet. Deine beiden Fragen in Vaters Brief betreffend: die Papiere sind richtig hier, das Honorar für den Arzt ist in den Kaltwasserbädern, so nach Vaters Erfahrung, in dem Wochenpreis miteingerechnet, soweit es die für die Bewässerungen nothwendigen Consultationen betrifft; nur bei schweren Krankheiten werde ein besonderes Honorar bezahlt. Der Hochzeitstag erfreut sich allseitiger Zustimmung. Sobald also die Nachricht von Michaelis möglicher Gegenwart da ist welche uns große Freude macht können die Einladungen vom Stapel laufen. Vater hatte so sehr sich drauf gefreut die Trauung selber zu vollziehn; jetzt rathen wir, discret [?] alle ihm davon ab. Er fragt also bei Dir an ob Du vorzögest von Deinem Schwager in Erbach (welchem wir gestern im Wagen einen Besuch abgestattet haben und den wir nebst Deiner Schwester in großem Behagen unter vielem rheinischem Natursegen von Obst Geflügel etc. fanden) oder von unsrem Caplan Bickel [wünschst] getraut zu werden. Laß also bitte, hierüber durch Lily die ja Sonntag kommt etwa uns Bescheid wissen, da jedermann so etwas gern voraus weiß. Treitschkes Broschüre2 hat dieser mir selber geschickt; dann auch mir seine Verlobung jetzt angezeigt und höchst lustig über die Broschüre geschrieben. Er ist mit einer badischen, adlichen katholischen Officierstochter aus Freiburg verlobt.3 Vater hatte, in Folge eines Experiments mit einem harmloseren einschläfernden Mittel zwei schlechte Nächte; auch die heutige war noch übel genug;

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Dilthey an Hermann Usener

mir graut davor wie die liebste Mutter im Winter wird in Anspruch genommen werden. Marichen ruft mir eben erneut zu ob ich auch gehörig für den Brief für sie gedankt – sie kann gegen Mittag aufstehn. Aus Tante Dank für Bismark zu extorquiren4 wage ich nicht; diese Bange ist der einzige Differenzpunkt zwischen uns beiden. Dein Wilhelm Tante kommt noch: ich soll ja besten Dank sagen für dieses Kleinod in dessen Besitz sie doch auf keine andere Weise gekommen wäre.5 Dies ihre Worte. Nebst herzlichsten Grüßen. Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL, 2102, 3, 41. 1 Zur Datierung: Treitschkes Broschüre, von der in diesem Brief die Rede ist, erschien am 30. Juli 1866 (vgl. JD, S. 313, Anm. 104). 2 H. v. Treitschke: Die Zukunft der norddeutschen Mittelstaaten. Berlin 1866. 3 Treitschke hatte sich im Juni 1866 mit Emma von und zu Bodman (1836–1901) verlobt (vgl. JD, S. 313, Anm. 106). 4 Abpressen, erzwingen. 5 Bezug nicht mehr aufzuklären.

[203] Dilthey an Rudolf Haym 1 Lieber Freund, ich will Sie wenigstens durch meinen Bruder in Berlin begrüßen. Sie glauben nicht wie leid mir thut, diese Wochen nicht mit Ihnen und den andren Freunden durchleben zu können, nach so langer Zeit Sie einmal gründlich wieder zu sehn u. zu sprechen. Aber ich behalte die Aussicht, wenn ich etwa den 8ten September in Berlin wieder eintreffe, Sie da zu finden; sollten Sie nicht mehr da sein, so würde ich Sie freilich schwerlich in Halle finden,2 Sie sind dann sicher auf der Reise. Mein Bruder wünschte sehr Sie kennen zu lernen, und wenn Ihnen die Politik Muße u. Interesse für literarhistorische Fragen übrig läßt – er ist Philologe – so werden Sie sich gewiß gut zusammen verstehn; vielleicht sind Sie ein und den andren Abend mit ihm bei Trarbach oder ähnlichen guten Angeden-

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Dilthey an Rudolf Haym

kens nebst Treitschke, J. Schmidt etc. zusammen. Er will auch gern eine Rede von Ihnen hören und hat Auftrag mir drüber Bericht zu erstatten. Hoffentlich treffe ich jetzt, da es mit meinem Vater leidlich geht, auch einmal mit Wehrenpfennigs3 zusammen. Er wird auch keine goldnen Tage gehabt haben während der Contributionsdebatte. Also die Thronrede legt offenbar in die Hand der Gemäßigten die Aufgabe einer Verständigung. – Verstehe ich sie recht, so illustrirt sie Rhoons4 Satz man möge dies Budgetrecht u. die Macht von § 99 lieber künftig an einer andren Frage probiren. Und das ist jetzt in der That das Naturgemäße sich mit der formellen Anerkennung und der Nachsuchung der Indemnität zu begnügen, die damit freilich gar nicht angerührte verfassungsrechtliche Frage erst bei andren Gegensätzen wieder einer Lösung näher zu führen. Ich hoffe daß Sie dies der Juristenschaar gegenüber durchsetzen. G[erade]5 in Süddeutschland findet ein völliger Umschlag der Stimmungen statt auch in dieser Beziehung (da doch Grund wird die Demokratie besonders von Wirtemberg zu fürchten), wofern nur große Szenen im Abgeordnetenhaus vermieden werden. Doch von diesem allem wird Ihnen mein Bruder ja berichten. Also, lieber Freund, auf baldiges Wiedersehn Ihr treuster Wilhelm Dilthey Original: Hs.; ULB Sachsen-Anhalt, Halle, Haym-NL, Yi 23 IV D 4 o; Erstdruck: BDH, Nr. 15. 1 Zur Datierung des Hg. von BDH: Die Thron-Rede, von der D. schreibt, fiel auf den 5. August 1866. 2 Haym war am 23. Juli in das preuß. Abgeordnetenhaus gewählt worden. 3 Wehrenpfennig hielt sich vorübergehend in Frankfurt auf. 4 Albrecht Theodor Emil Graf von Roon (1803–1879): preuß. Feldmarschall; seit 1859 Kriegsminister und seit 1861 zudem Marineminister. 5 Tintenverschmiertes Wort im Original.

[204] Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer (Biebrich, [Ende] August 1866)1 Liebster Erdmannsdörffer, tausend Dank für Deinen so höchst instruktiven Brief:2 Du kannst Dir kaum denken, wie abgeschnitten man sich ohne dergleichen hier fühlt. Wenn ich dran denke daß ich hier leben sollte täglich diese und diese Urtheile hören – lieber todt als lebendig-todt.

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer

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Die Hauptsache also: Papa’s Gesundheit macht sich jetzt erstaunlich. Er ist eben, da Mama und Lilly, von der Pflege sehr angegriffen, in Schwalbach im Bade sind, Mariechen aus demselben Grunde zu einer Erkältung sofort Fieber bekommen hat, ganz in meiner Pflege; ich schlafe Nachts da, führe ihn am Tage spatzieren, schläfre ihn durch Vorlesen ein, .|.|. und was die Hauptsache ist nach der Verweichlichung einer unmäßigen Krankenpflege behandle ich ihn „sthenisch“,3 wie Schelling zu sagen pflegte. An Arbeiten natürlich nur durch die größte Anstrengung stundenweise zu denken. Zuweilen macht michs verzweifelt. Sobald meine Schwester Marie hergestellt ist, in 2 oder 3 Tagen, ziehe ich mich ganz von Allem zurück. Vielleicht komm ich auch plötzlich wenn die Aufschiebung der Hochzeit um 8-14 Tage sich als unvermeidlich herausstellen sollte, wegen einer beabsichtigten Schweitzerhochzeitsreise die nach Schwalbach unmittelbar nicht rathsam sein möchte. Mich freute sehr aus Deinem und Frau S[chmidt]’s Brief zu sehn daß Ihr ziemlich viel zusammen seid: Ihr werdet schon ordentlich Geschmack aneinander finden. Aber was hast Du mit Julian S[chmidt]’s Broschüre gemacht?4 Ich habe nichts bekommen. Vielleicht ist sie verloren gegangen. Die von Treitschke,5 finde ich, ist das Schönste was er noch gemacht hat, soviel einfacher ausgedrückt wieder als seine letzten Arbeiten. Ich schreibe ihm wohl selbst eine Zeile. Es ist hier sehr sichtbar wie nützlich die Broschüre doch ist, obwohl ihr nächstes Ziel, die Annexion Sachsens, durch die politische Lage unpraktisch geworden ist. Ich wünschte für Süddeutschland, sie betonte einen Standpunkt noch stärker, der allein die wüste Demokratie hier überwinden kann: gegenüber den fürstlichen Geschlechtern, welche sie seien, giebt es keine Pflichten; wenn das Staatswohl es verlangt müssen sie sich so gut pensioniren lassen als jeder Subalternbeamte dessen Beine oder Schreibefinger zu steif geworden sind: die monarchische Gesinnung bezieht sich allein auf das große Bedürfniß des in Krieg und politischer Verwicklung auswachsenden deutschen Staats, welcher einer einheitlichen festen Leitung bedarf. Die Gefühle von Mensch zu Menschen sind bei jedem ordentlichen Kerl demokratisch, aber der Verstand lehrt eine strenge Monarchie verlangen und tragen. Übrigens ist die ganze jüngere Generation hier preußisch gesonnen, leider nur zum größeren Theil ohne Initiative. Das Durcheinander der hießigen Verhältnisse mit angesehen zu haben macht mir Vergnügen. Das Symbol davon ist etwa daß auf dem Schloß wo die Herzogin ist das nassauische blaugelb weht, ein paar Schritte davon auf dem rheinischen Hof wo die Officiere essen, die schwarzweiße Fahne. Die Verwirrung der höheren Staatsdiener, die vortragende Räthe, Generäle etc. waren und nun in einer neuen Organisation kaum den Platz

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von Majors, Schulräthen, und Regierungsräthen finden können nach dem bisherigen Umfang ihrer Thätigkeit, ist hochkomisch. Gestern erregte Entsetzen als Diest6 in die Sitzung einen Assessor mitbrachte: ‚ich stelle Ihnen p.p. vor der in die hießige Regierung eintritt. Vereidigt braucht er nicht zu werden. Er ist schon in Aachen vereidigt.‘ Wählen darf ich leider nicht obwohl meine nächsten Freunde eine sehr gute Rolle dabei spielen und sich vortrefflich benehmen. Aber die Pietätsgefühle meines Papas müssen geschont werden. Grüße doch Bona aufs herzlichste; wie leid thut mir die Vereitlung der Jenaer Aussichten.7 Für seine Zeilen danke ich ihm gar sehr.8 Im Trouble in dem ich lebe komm ich eben nicht zur Beantwortung. Du wirst nicht unzufrieden sein wenn ich noch so lange als möglich bleibe. Sieh Dich inzwischen nur ab und zu nach einer passenden Wohnung für uns um. Da ich den 1ten noch nicht dasein werde erhälst Du hier 14 r. Miethe. Übe bald wieder Mildthätigkeit! was habe ich hier zu schreiben, und wie Vieles und Interessantes Du von dort. So sehr mich auch die französische Verhandlung aufregt, so bin ich doch nicht sehr besorgt dabei; ich denke, es wird mit der Annexion der größeren Hälfte von Belgien endigen. Für die Kurhessischen Officiere etc. wäre es wie eine Erlösung, sich restituiren zu können in ihrer militärischen Ehre durch einen ordentlichen Kampf gegen einen solchen Reichsfeind, ebenso für die Nassauischen etc. – Die Bücher hat wohl mein Bruder besorgt und ich hoffe auch daß keine manquirt9 haben, die etwa zwischen den andren verstellt wären: ich habe so gut ich damals im Stande war nachgesehn. Briefe mache auf und schick mir sie nach Befinden, es ist mir lieber als wenn Du sie einfach umadressierst. Nun Adieu Liebster, grüß Alles tausendmal – es giebt nur Ein Berlin – gerade jetzt fortzureisen ist wahrhaft hart – nichts arbeiten zu können dabei noch härter – aber Gott sei Dank daß Alles so steht wies steht. Also nicht wahr, Du läßt bald wieder von Dir hören? Dein Wilhelm D. Original: nicht überliefert; zwei handschriftliche Abschriften des Briefes von der Hand S. von der Schulenburgs und eines unbekannten Schreibers sind hinterlegt in: BBAW, P. Ritter-NL, Nr. 30, Fasz. 1, Bl.230–234 und Bl. 195–198; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 104. 1 2 3

In JD datiert auf: „Augsut 1866“. Nicht überliefert. Kraftvoll, energisch.

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J. Schmidt: Die Notwendigkeit einer neuen Parteienbildung. Berlin 1866. H. v. Treitschke: Die Zukunft der norddeutschen Mittelstaaten. Berlin 1866. 6 Landrat und Zivilkommisar zur Vorbereitung der Annexion Nassaus; seit dem 31. Juli 1866 Administrator in Wiesbaden. 7 J.B. Meyer erhielt erst 1868 eine Professur, und zwar in Bonn; Pläne, zuvor in Jena eine Anstellung zu bekommen, hatten sich offenbar zerschlagen (vgl. JD, S. 313, Anm. 105). 8 Nicht überliefert. 9 Mankieren: fehlen. 5

[205] Dilthey an Heinrich von Treitschke Biebrich 1866 [nach 23.] VIII1 Lieber Freund, ich habe meinen Freund Bernhard Scholz der Capellmeister in Hannover, Prof. d[er] Musik vorher in München war u. ein ganz ausgezeichneter Musiker ist aufgefordert ein Projekt in Betreff der annektirten Hoftheater2 aufzuschreiben was mir richtig und edel gedacht schien. Sie wissen daß Techniker nicht die besten Schriftsteller sind und daher ist Ihnen der Styl des Blattes ganz auf Gnade und Ungnade übergeben; die Sache selbst und die einfache Kürze in der sie ausgesprochen ist wird Ihnen Freude machen. Sollte der Anfang den Charakter einer Hofbühne wie die Berliner ist die doch immer durch den Geschmack eines großstädtischen Publik[ums] getragen ist nicht genugsam unterschieden [sein] von dem der Bühnen von Hannover, Kassel und Wiesbaden, so ist Ihnen überlassen einen solchen Zusatz, der hinzugedacht ist und sich nachträglich aus dem Zusammenhang auch ausdrücklich ergiebt nach Belieben anzufügen. Also zu beliebiger Änderung, nur daß die Zeilen falls sie Ihnen conveniren und irgend Platz ist noch ins bevorstehende Heft kommen, damit sie Aufmerksamkeit finden bevor über das Schicksal der Capellen entschieden ist.3 Hier sind fast alle Jüngeren preußisch. Das Verhältniß steht hier einfach so daß die ältere Generation die durch Vortheil Bequemlichkeit und Pietät an das herzogliche Haus geknüpft ist nassauisch ist, die jüngere, die noch etwas selbstloser ist und dazu noch keine Vortheile unter dem gegenwärtigen Regime genießt, dagegen unter dem preußischen große erwartet, für die Annexion. Wie unter dieser jüngeren Generation gerade Ihre Aufs[ätze] gewirkt haben und von aller polit[ischen] Schriftstellerei eigentlich diese fast allein, würde Ihnen doch große Freude machen sähen Sie hier einige treffliche Freunde.

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Dilthey an Heinrich von Treitschke

Soviel während großer Unruhe. Mein Bruder reist heut früh nach Berlin, meine Mutter, die durch die Pflege meines Vaters sehr angegriffen ist nebst junger Schwester nach Schwalbach, mein künftiger Schwager nach Bonn zurück. Mein Vater selber ist in entschiedener, aber sehr langsamer Besserung begriffen und man ist in der täglichen Besorgniß eines Rückfalls der durch den geringsten Fehler in jeder Art von Diät möglich wäre. Ich bleibe mit meiner älteren Schwester und einer Tante hier zu seiner Pflege. Gleich nach der Hochzeit meiner Schwester die etwa den 7ten Sept[ember] sein wird kehre ich nach Berlin zurück und freue mich unsäglich drauf Sie dann noch recht lange zu sehen.4 Näheres über hieß[ige] Zustände kann Ihnen leicht mein Bruder berichten. Mit h[e]rzl[ichen] Grüßen Ihr

Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Treitschke-NL, K 5, 129, 1. 1

Im Original: nachträgliche Datierung von fremder Hand. Hannover, Kurhessen, Nassau sowie Frankfurt und Schleswig-Holstein wurden mit dem Frieden zu Prag (23. August 1866) Preußen zugeschlagen. 3 Nicht nachweisbar. 4 Treitschke hatte am 4. Juli 1866 in Berlin die Redaktion der PJ übernommen. 2

[206] Dilthey an Heinrich von Treitschke Lieber Freund, Meine herzlichsten Glückwünsche über Ihr Glück,1 das mir darum nicht minder Freude macht weil es mich nicht mehr überrascht: Sie hatten uns ja schon ganz ordentlich vorbereitet und auch Fama hatte das ihrige gethan. Ihre „gelbe Brandschrift“2 hat mir unsägliches Vergnügen gemacht. Wissen Sie daß die Kritik der allerhöchsten sächsischen Herrschaften, nunmehr da sie Gott sei’s geklagt eine neue Frist erhalten haben, doppelt werthvoll ist? Denn wer wird nun wieder, bis zum Ablauf derselben, in Deutschland über sie die Wahrheit sagen dürfen? Das ist übrigens der einzige Vorwurf den ich hier, in der eigentlichen Heimath des Radicalismus, gegen Ihre Schrift gehört: sie sei zu radical! Sie müssen aber auch wissen was man hier darunter versteht. Es ist synonym mit: bismarkisch. Hätte das deutsche Volk alle Fürsten nach England geschickt und die Gewalt an sich genommen, so würde niemand et-

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Dilthey an Heinrich von Treitschke

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was dagegen haben hier zu Lande; es wäre der Weg Rechtens. Aber daß Einer unter diesen die andren verschlingen soll, ist gegen den Localpatriotismus: nach hießigen Begriffen taugt einer soviel als der andre, sodaß die Ungerechtigkeiten gen Himmel schreien. Ich habe mehrmals einen Ansatz gemacht die politische Moral des süddeutschen Philisters aufzuzeichnen, aber die Feder sträubt sich. Ich hoffe den 10ten September endlich wieder in Berlin zu sein. Den 5ten ist die Hochzeit meiner Schwester3 und unmittelbar von da werde ich wohl einige Tage in dem Harz umherstreifen. Die Krankheit meines Vaters bei dem ich die meisten Nächte gewesen (sein Hauptübel jetzt ist aufger[egtes] Nervensyst[em] u. Schlaflosigk[ei]t) hat mich sehr heruntergebracht. Gott sei Dank ist die Besserung ganz constant. Politisch verstehe ich mich in keinem Wort mehr mit ihm. Die Erklärung Ihres Vaters hat mich geschmerzt weil sie ihm gewiß durch die allerniederträchtigsten Machinationen und geistige Tortur – ich weiß hier vom Hof, in kleinsten Verhältnissen, wie man dergleichen versteht – abgerungen ist gegen das reine Gefühl seiner Rechtssphäre.4 Aber diese falschen Ideen von kindlicher Pietät, welchen gemäß auch Überzeugungen und Lebensgang eines Mannes wenigstens moderirt werden sollen und in ein philiströses Mittelmaß herabgedrückt um derselben willen, sind das schönste Beispiel unsrer aus der Theologie stammenden Kleinkindermoral. Wehrenpfennig hoffe ich in diesen Tagen zu sehn. Bisher konnte ich an so etwas kaum denken. Ich hoffe doch Sie noch in Berlin vorzufinden; oder werde ich schon Ihnen in Frankfurt begegnen? Auf Wiedersehn Ihr getreuster Wilhelm Dilthey Biebrich, den 29ten August 1866. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Treitschke-NL, K 5, 129, 3–5; Erstdruck (mit einer Auslassung): JD, Nr. 105. 1

D. gratuliert nachträglich zur Verlobung Treitschkes mit Freiin Emma von und zu Bodman (1836–1901) am 18. Juni 1866. Die Hochzeit fand am 18. März 1867 statt. 2 Gemeint ist H. von Treitschkes Broschüre Die Zukunft der norddeutschen Mittelstaaten, die am 30. Juli 1866 erschienen war. 3 Die Hochzeit fand am 4. September 1866 statt. 4 Treitschke und sein Vater, Eduard Heinrich von Treitschke (1796–1867), königl.–sächsischer Generalleutnant und Gouverneur von Dresden, hatten sich aufgrund der Publikation von Treitschkes Historischen und politischen Aufsätzen I (Juni 1865) und der o.g. Flugschrift zerstritten (vgl. JD, S. 313, Anm. 108).

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Dilthey an seinen Vater

[207] Dilthey an seinen Vater Liebster Vater,

[Berlin, September 1866]1

gestern Abend, Mittwochs bin ich hier angelangt und habe heut früh nach 7 Uhr, wo ich Karl aus dem Bette holte, Eure Briefe2 gelesen. .|.|. Samstag mit dem ersten Zug fuhr ich von Frankfurt nach Braunschweig, wo Glaser meinen Brief noch rechtzeitig erhalten. Sonntag Mittag reisten wir gleichzeitig ab, er nach Wiesbaden, ich nach Harzburg. Schon im Waggon fand ich vergnügliche Gesellschaft eines jungen Weinhändlers mit Schwester, Cousinen etc., wir aßen unten im schönen Gasthof zusammen und kletterten recht lustig den Berg hinauf, das Wetter hatte sich gut gewandt und der Brocken lag klar vor uns da. Inzwischen ward mir der Vergnüglichkeit zu viel und ich entschlüpfte, ging hinunter und nahm mir einen kleinen Führer für den folgenden Tag nach dem Brocken. Um fünf Uhr setzte ich mich bei hellem Wetter in Bewegung, lief so daß ich um 9 schon oben war, hatte wundervolle Aussicht und machte dann ohne Führer, da der Weg von oben zu übersehen war, meine Wanderung weiter nach Elbingerode über Schierke – ein wundervoller Weg, in Schierke traf ich auf die Spangenbergs3 und andre Maler, die da hausen, und machte da mit ihnen Mittag und half ihnen ihre letzte Flasche Portwein austrinken. In Elbingerode kam ich mit ein wenig wunden Füßen an, schleppte mich aber noch bis Rübeland, wo ich in tiefer Einsamkeit zwischen den Felsen übernachtete. Ich habe den Tag fast 10 Stunden gemacht. Andern Tags ging ich von da über Treseburg auf die Roßtrappe; aber hier lagen mir die Felsen, die Enge, die Melancholie der Gegend schon so auf der Seele, daß ichs kaum ertragen konnte. Stundenlang lag ich an den Klippen der Roßtrappe in der Sonne, die Beleuchtung so schön man sie denken konnte, entzückte Fremde kommend und gehend, ohne daß mir irgend dabei das Herz aufgegangen wäre. Mit der sinkenden Sonne ging ich hinab nach Thale, dort zu übernachten und auch keine Stunde länger zwischen den Bergen zu bleiben. So muß ich denn suchen, hier mit meinen Nerven fertig zu werden. Den Augen hat die Luft und das Grün wohlgethan. .|.|. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 91. 1

In JD ist der Brief datiert auf: „Berlin, Herbst 1865“. Nicht überliefert. 3 Louis Spangenberg (1824–1893): Landschafts- und Architekturmaler; Gustav Spangenberg (1828–1891): Maler; Paul Spangenberg (1843–1918): Porträtmaler. 2

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Dilthey an seinen Vater

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[208] Dilthey an seinen Vater Liebster Vater,

Donnerstag, d[en] 27. Sept[ember] (1866, Berlin)

ich hatte so sicher gehofft, bei diesem wunderbaren Wetter Deinen nächsten Brief aus dem Schwarzwald oder Nassau oder dergleichen zu bekommen, daß mich das Mosbach wirklich erschreckte.1 Das ist ja ein Nachsommer ohnegleichen. Auch mir thut er gut. Ich habe wirklich üble Zeiten hier gehabt, so widrige Nervenzustände und einen solchen Grad von Melancholie daß ich Erdmannsdörffer übergab, irgendeine Wohnung für mich zu mieten,2 so gleichgültig war mir das alles. Ich muß Dir aber mein Zimmer beschreiben. Das Haus liegt ziemlich am Ende der Straße, welche die Ehre hat deinen Namen zu tragen, da wo sie in die Luisenstraße einmündet. Diese führt in etwa 4 Minuten rechtwinklig auf die Linden. Gehe ich sie aber quer durch eine ziemlich parallele Straße verfolgend, so komme ich in etwa 3 Minuten am Haus wo Lazarus wohnt zum Thiergarten hinaus. Ich wohne nun par terre die erste Thür. Das Zimmer ist groß, kühl, jetzt leider so sehr, daß ich immer noch heizen muß, im Sommer wird mir dies aber sehr wohl thun. Es hat zwei große Fenster nach der ruhigen Straße. Dicht bei dem einen, an der der Thür entgegengesetzten Wand steht mein Schreibpult, sehr bequem eingerichtet, oben mit den Büchern, die ich zu meiner augenblicklichen Arbeit gebrauche, darunter eine Reihe Schubladen für meine verschiedenen Papiere. Wenn ich mir Café oder Thé bereite, so habe ich dafür eine treffliche Einrichtung à la turka. Ein ganz kleines liebstes Tischchen, das sonst am Ofen steht, mit blankgeputztem Geschirr stelle ich mir an den Schreibtisch, sodaß ich nichts zurechtzurücken brauche. Auch morgens mache ich mir den Café selbst. .|.|. Es geht allmählich leidlich, aber von Arbeit kann noch wenig die Rede sein. Tagelang war ich so, daß ich kaum die Feder zu halten im Stande war. Gott sei Dank ist dieser rätselhafte Zustand vorüber und ich fühle mich nur müde und ohne die Frische, mit der ich sonst Morgens in die Welt sehe, wenn ich aufstehe. In einigen Tagen ist auch das hoffentlich wieder da. Wie nun alles geworden ist, kann ich nicht dran denken, im Winter zu lesen, wenn der Schleiermacher nicht wieder völlig, fast ein Jahr lang liegen soll. Es macht mir schwere Sorge, aber ich denke, Du billigst es, wenn ich jetzt um jeden Preis diese Last abschüttle. .|.|. Tausend Grüße in treuster Liebe Dein Wilhelm

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Dilthey an seinen Vater

Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 106. – Ein Teil des Briefes, der als Transkript – geschrieben von D.s späterem Schwiegersohn G. Misch – im Dilthey-NL (cod. ms. W. Dilthey, 13 o) in der StUB Göttingen hinterlegt ist und in JD fehlt, wurde hier ergänzt. 1

Nicht überliefert. Vgl. hierzu Brief 204. – D. war, im September 1866, nach seinem längeren Aufenthalt in Biebrich, vermutlich in die Wilhelmstraße 40a innerhalb Berlins umgezogen. 2

[209] Dilthey an seine Eltern [September 1866]1 .|.|. Tags zuvor kam ein Brief von Usener,2 der mich auch so in die schönsten alten Zeiten versetzte u. doch mit dem Gefühl daß sie gegenwärtig sind, daß ich an Liebe und innerem Glück immer reifer werde. Haltet Euch nur um’s Himmels Willen gesund, damit wir das zukünftige Gute heiter gemeinsam genießen.|.|. Auf Julians Gesicht freu ich mich, wenn ich in meinem Überzieher an einem schönen Abend die zwei Flaschen anbringe. Ich werde den Eindruck getreulichst referiren. Er wollte uns in diesen Tagen den Anfang der neuen (fünften) Auflage der Litteraturgeschichte3 vorlesen: und da will ich denn die zwei Flaschen festlich dazu aufstellen: das wird ihm für das Ganze Muth einflößen. Freilich gehn mir die politischen Geschichten bei uns doch sehr durch den Kopf. Es ist unheilvoll, daß das Einfachste, das kleine schöne Land gut zu verwalten, wie man ein Landgut bewirtschaftet (das sagte nemlich Göthe als er von seiner kleinstaatlichen Verwaltung sprach: man müßte es wie ein großes Gut ansehen das man treulich zu verwalten habe), demgemäß die finanzielle u. Industrieseite mit Vorliebe zu behandeln, sich mit treuen Beamtenfamilien zu umgeben, jedem das Gefühl erwecken, daß sich hier die Regierung so nah und individuell um ihn kümmere als in einem großen Staate ganz unmöglich ist – dies Einfachste, das der herzogl[ichen] Verwaltung ein Übergewicht über alle auf ferne Zukunft gerichtete Opposition gäbe, von ihr so blind mißachtet wird. .|.|. Original: nicht überliefert; ein Transkript des Brief-Fragments ist als Typoskript hinterlegt, versehen mit handschriftlichen Anmerkungen und Korrekturen von der Hand G. Mischs, in: StUB Göttingen, cod. ms. W.Dilthey, 13 o.

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Dilthey an seine Eltern

1 Handschriftliche Notiz am linken Rand des Typoskripts: „Das Folgende kann doch auch nach dem Krieg geschrieben sein!“ 2 Nicht überliefert. 3 J. Schmidt: Geschichte der deutschen Literatur seit Lessing’s Tod. Zweiter Band: Die Romantik 1797–1813, 5. durchweg umgearbeitete und vermehrte Aufl. 3 Bde. Leipzig 1866. – J. Schmidt schreibt in seinem Vorwort vom 7. September 1866: „Das Buch war vor drei Monaten fast fertig gedruckt; ich hielt es zurück, weil man in den Tagen, wo das ganze Schicksal Deutschlands auf dem Spiele stand, Niemand zumuthen konnte, sich um Literatur zu kümmern.“

[210] Dilthey an seine Schwester Lily [Oktober 1866] Hier, liebste Lily, was zu Deiner Unterhaltung damit Du Dich geduldiger fügest ins Stillesitzen, falls es nicht schon überstanden ist. Den Kinderadvokat lade ich auf Dich ab da mir ihn die Malice1 von Frau Gisela Grimm aufgeladen nachdem sie mich einen ganzen Abend Frau Olfers2 – imponirt hatte. Laßt mich hören ob die Familie schon die ‚Leute von Seldwyla‘ von Gottfried Keller3 besitzt: wo nicht so soll er nachfolgen. Übrigens ist mir unbegreiflich daß von den Bibrichern niemand die völlige Muße bei Euch benutzt mir zu schreiben. Sobald ein Brief Karls kommt, bitte ich ihn sogleich zu schikken (vielleicht ist schon einer inzwischen gekommen?). Ich bitte Mama noch einmal mir den Gefallen zu thun darin künftig sorgsam zu sein: es ist ja so wenig u. da die Briefe nun einmal für mich mitgeschrieben sind – etc. Dann bitte ich um eine Notiz ob denn die unglückseligen Braunschw[eiger] Würste immer noch unterwegs sind. Ich habe inzwischen die Adresse noch einmal hinlaufen lassen. Sind sie noch nicht da: so laßt doch einmal das Mädchen auf dem Paketbureau der Post nachfragen. Ihr werdet sehn daß sichs der Mühe verlohnt! Nun habe ich meine verschiedenen Desiderien vorgebracht, liebste Lily, erwarte daß ein Familienmitglied sich hinsetzt das Versäumte gut zu machen, falls wie ich mir vorstelle wenigstens ein Bruchtheil noch in Bonn zurückgeblieben. Deine Freundin Sally Fischer läßt Dich sehr grüßen. Ich werde sie heut Abend wieder sehn wo – angeblich auf meinen Wunsch – bei Merian Genast4 eine Schubertsche Operette repetirt wird, die im verg[angenen] Winter da aufgeführt worden. Freilich bin ich sehr neugierig auf das was Hermann aufs Mündliche lieber

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Dilthey an seine Schwester Lily

aufschieben will – muß mich aber wohl fügen. Ich danke ihm sehr für seinen Brief.5 Er wie ich, wir beide strahlen in Brillantfeuer mit unsrem ‚Schreibergruß‘ während andre Leute – Dein Wilhelm Falls Storm schon vorhanden bei Dir, macht er viell[eicht] Marichen Vergnügen. Sonst verschenk ihn sonst. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 e. 1

Bosheit. Die Schriftstellerin Marie von Olfers (1826–1924), Tochter des Generaldirektors der Königlichen Museen zu Berlin, führte einen Salon in Berlin. Gisela Grimm, eine Jugendfreundin Marie Olfers’, hatte D. vermutlich in diese Gesellschaft eingeführt. 3 G. Keller: Die Leute von Seldwyla. Erzählungen. Braunschweig 1856. 4 Emilie Genast-Merian (1833–1905): Sängerin, Vertraute und Muse von Franz Liszt; seit 1863 verheiratet mit Emil Merian (1827–1873). 5 Nicht überliefert. 2

[211] Dilthey an seine Schwester Marie Liebstes Mariechen,

(Berlin, Ende Nov[ember] 1866)

tausend Dank für Deinen ausführlichen Brief.1 Endlich ist mit meinem Gesundheitszustand ernstliche Besserung eingetreten. Du hast wohl zwischen den Zeilen gelesen, daß ich ganz anders leidend war als ich schrieb. .|.|. Papas Zeilen, daß ich an Karl mir ein Beispiel nehmen möge und auch einen heiteren Brief schreiben, machten einen sehr wehmüthigen Eindruck auf mich in meinen Schmerzempfindungen. Ich lief in allerhand befreundeten Häusern herum, um nur mich selber zu vergessen. Der liebste Erdmannsdörffer mit einem Korb spanischer Trauben etc. hinter mir her, weil er wußte wie mir diesmal an meinem Geburtstag zu Muthe sein würde. .|.|. Die Baseler scheinen leider nicht zu reagieren;2 wenigstens höre ich nichts daß sie sich an Trendelenburg oder Lazarus um Auskunft gewendet hätten. Auch von Bernhard höre ich über die Hammermühle3 daß es mit Vater weiter gut geht. Tausend Grüße an ihn und alle von Eurem treusten Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 108.

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Dilthey an seine Schwester Marie

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Nicht überliefert. D.s Berufung an die Universität Basel stand in Aussicht. – Am 12. Dezember 1866 schlug die Kuratel der Universität Basel dem Erziehungskollegium die Ernennung D.s vor, nachdem der in Königsberg lehrende F. Ueberweg den Ruf abgelehnt hatte. 3 Besitztum der Familie Scholz, gelegen zwischen Biebrich und Mainz. Sowohl B. Scholz als auch D. hielten sich hier häufig während ihrer Kindheit und Jugendzeit auf. Bewohnt wurde die Hammermühle von Scholz’ Großvater Bernhard May. Auch D.s Vater war hier häufig zu Gast, besonders zu musikalischen Treffen. – Nach seinem Weggang aus Hannover verbrachte B. Scholz, bevor er 1866 nach Berlin umzog, längere Zeit mit seiner Familie in der Hammermühle. 2

[212] Walther Chalybaeus 1an Dilthey Kiel. 2 Dez[ember] 1866. Geehrter Herr, Wenn Sie den Namen des Schreibers dieser Zeilen gelesen haben werden, so darf ich vielleicht hoffen, daß Sie sich desselben noch erinnern, wenn ich auch nur selten das Vergnügen gehabt habe, Sie in Berlin am dritten Orte zu treffen. Den Anlaß, der mich zu diesen Zeilen treibt, erfahren Sie aus dem beiliegenden Briefe, den ich neulich zufällig wieder unter die Hand bekam und der mich an Ihre Schleiermacherschen Studien erinnerte. Derselbe ist gerichtet an den im vorigen Jahre hieselbst verstorbenen Medic[in] Prof. Hegewisch,2 von dem ich ihn vor einigen Jahren erhielt. Der Brief selbst zeigt, daß es sich um den Gedanken einer Regeneration des Adels nach englischem Muster handelt, und ich dachte mir, die freilich nur kurzen Bemerkungen Schleiermachers würden Ihnen von Interesse und vielleicht von Nutzen sein können. Ich erlaube mir daher, Ihnen denselben in wortgetreuer Abschrift zuzusenden, für die ich eintreten zu können glaube mit Ausnahme der bezeichneten adeligen Namen. Einige selbstverständliche Änderungen habe ich durch Klammern angedeutet. Der Brief bezieht sich wohl zu eng auf Hegewischs Brief und ist zu archaistisch, um in seiner ganzen Ausdehnung allgemeines Interesse zu erwecken; sollten Sie aber trotzdem den Abdruck des ganzen Briefs für zweckdienlich erachten, so wäre es mir doch lieb, vorher die Tochter des Adressaten um die Erlaubniß angehen zu können.3 – Meine Absicht war es nur, Ihnen selbst, geehrter Herr eine Notiz zu geben, da ich glauben darf, daß für Sie auch ein geringerer Beitrag zu Schleierma-

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Walther Chalybaeus an Dilthey

chers Leben und Ansichten Wichtigkeit hat. In diesem Sinne bitte ich Sie diese Sendung anzunehmen und empfehle mich Ihnen als der Ihrige Walther Chalybaeus cand. theol. Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 113, Bl. 173–176. 1

Walther Heinrich Chalybaeus (1844–1914): Sohn des Philosophen Heinrich Moritz Chalybaeus; damals Student der Theologie, später Pastor in Rahlstedt. 2 Franz Hermann Hegewisch (1783–1865): Mediziner; seit 1809 a. o. Prof. in Kiel. 3 Die nachfolgende Abschrift des Briefes Schleiermachers an Hegewisch vom 22. Oktober 1828 wurde hier weggelassen.

[213] Dilthey an seine Tante Marie Heuschkel [Berlin, Mitte Dezember 1866]1 Liebste Tante! Tausend Glückwünsche zu Deinem Geburtstag. Möget Ihr ihn recht heiter feiern; ich werde im tiefen Grunde eines Weinkellers mein Glas auf Deine Gesundheit leeren und mich unter Euch denken. .|.|. Sonntag zu Tisch bin ich immer mit Scholz2 und seiner Frau, sodaß wir uns regelmäßig sehen. Eine Matinée, in der er sein Orchesterkonzert und ein Quintett von sich in seinem Zimmer aufführen ließ,3 hat sehr guten Erfolg gehabt, die Sachen haben sehr gefallen und sind in allen Blättern sehr günstig besprochen worden. Er hat in seiner Entwicklung einen großen Fortschritt gemacht. An zwei Sonntag Nachmittagen haben wir zusammen den Text einer Siegeshymne fabriciert,4 an der er vom Morgen bis in die Nacht arbeitet, damit sie hier oder in Cöln noch in diesem Winter aufgeführt wird. .|.|. Eben ist mein Freund Scherer aus Wien abgereist, der mir die genauesten Details gab. Die tüchtigsten Deutschen haben dort keine andere Idee mehr als Zertrümmerung des Kaiserstaats, Übergang der erbärmlichen Dynastie an ein Ungarnreich, wenn das sie haben will,5 Anschluß aller deutschen Elemente an das neu sich bildende Deutschland. .|.|. Heut kommen unsere Kammern zusammen,6 kein Hahn kräht danach. Es ist nicht zu sagen, wie sich die Stimmung geändert hat. .|.|. Nun Adieu, liebste, beste Tante, bleib mir gut ob ich gleich im Augenblick wenig anderes thue als Geld verbrauchen. Tausend Grüße an Alle von Eurem treusten Wilhelm

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Dilthey an seine Tante Marie Heuschkel

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Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 107. 1

In JD ist angegeben: „Berlin den 13. November früh. Wilhelmstr. 40a.“ – Zur Neudatierung vgl. die Anmerkung 3 zu diesem Brief. 2 B. Scholz wohnte seit Herbst 1866 wieder mit seiner Familie in Berlin (Schöneberger Ufer Nr. 14). 3 B. Scholz schreibt hierzu in seinen Erinnerungen: „Julius Stockhausen gab dort [in Berlin] am 12. Dezember 1866 ein Konzert mit mir [.|.|.]; ich wirkte als Pianist in dem D-Dur-Trio von Beethoven mit und führte ein Quintett von mir (op. 25) auf.“ (S. 216 f.) 4 Scholz komponierte anlässlich des preuß. Sieges ein Deutsches Tedeum, wozu ihm D. „nach Worten der hl. Schrift und kirchlicher Hymnen“ den Text schrieb. Es wurde am 1. März 1867 vom „Sternschen Gesangverein“ uraufgeführt (vgl. Scholz, S. 216). 5 Das Habsburgerreich begann sich zur Doppelmonarchie Österreich-Ungarn umzubilden. 6 Mitte Dezember 1866 wurde eine Vertreterversammlung des neugegliederten Norddeutschen Bundes einberufen, um einen von Bismarck vorgelegten Verfassungsentwurf zu beraten.

[214] Dilthey an Hermann Usener (Berlin, [15.] Dezember 1866)1 Liebster Hermann Gestern Abend ist aus Basel von Karl Vischer, im Namen der Curatel, die Anfrage2 gekommen, ob ich eine außerordentliche Professur mit 800 Thalern (3000 fr[anken]) und Aussicht auf baldige Beförderung annehmen würde.3 Obwohl das „Außerordentliche“ daran nicht eingänglich für mich war: so schien mir das doch im vorliegenden Fall, in welchem die Vorlesungen zwischen Steffensen4 und mir vertheilt werden sollen, von weniger Gewicht als es sonst sein würde. Ich habe das Zutrauen zu mir daß ich mir dort meine Stellung schon selbst machen werde. Die Gefahr daß sich wenn ich auf der ordentlichen Professur bestünde die Sache zerschlagen würde, da man von einer solchen Forderung, einmal aufgestellt, nicht abgehen kann, dünkt mich größer als der etwa zu erzielende Vortheil.5 Denn auch das ist zu erwägen daß es ein Vortheil ist in dem ersten Jahre, in dem ich so furchtbar überhäuft sein werde mit schriftstellerischer Arbeit, gar nichts mit Fakultätsgeschäften zu thun zu haben und in seinen Verpflichtungen freier gestellt zu sein. Solltest Du trotzdem andrer Ansicht sein so bitte ich Dich, sofort zu telegraphiren: ich werde meine Zusage erst Montag abschicken. Ich weiß nicht ob Du in der Zeitung von meinem Succeß mit Vorlesung des umgearbeiteten Anfangs des Schleierm[acher] gelesen:6 kurz die Buch-

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händler von Leipzig (auch der junge Lampe7 drunter, des[sen] Frau Lily kennt) und hier rissen sich darum.8 So war ich in der Lage, mit Reimer einen sehr vortheilhaften Kontrakt abzuschließen: für die Auflage von 1000 Exemplare 3 Fr[iedrichs]dor für den Bogen, also für die 2 Bände 1000 Ex[emplare] über 1300 Thaler; für den Fall daß ich zum Jubiläum9 das bloße Lebensbild extrahirte, besonderer Kontrakt; Du siehst daß selbst in diesem Fall wohl bald an eine zweite Auflage zu denken wäre, im Fall daß ich dies nicht thäte, wohl sicher im Jahr darauf. Ich darf also wohl in den nächsten 3–4 Jahren für dies Buch auf etwa 3000 Thaler rechnen. An meinem andren Buch arbeite ich auch schon ganz hübsch: an den Untersuchungen.10 So würde ich also pecuniär sehr gut gestellt sein, wenn die Sache sich realisirt mit Basel, über 1400 T[haler] jährlich, während ich rein mit dem Ausbilden meiner Ansichten in den Vorlesungen und der Ausarbeitung der zwei Werke beschäftigt wäre (d. h. der erste Band muß hier noch beendigt werden). Nächstens kann ich Dir das erste Stück von 5 Druckbogen preuß[ischer] Jahrbücherformat über Lessing11 schicken. Und nun Verzeihung, Ihr Liebsten, Du und Lily, daß ich heut nur über diese Exteriora schreibe. Zu Weihnachten hin schreib ich ganz ordentlich. Aber diese Exteriora haben ja für Dich ein doppeltes Interesse, da Du das Agens in der Maschinerie bist. Lebt wohl bis auf Weiteres. Du denkst wie gespannt ich auf Deine Ansicht von der Sache bin. Euer, ganz Euer Wilhelm Wilhelmstr. 40a Samstag, Nachmittag. Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL, S 2102, 3, 38; ein unvollständiges Typoskript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 n. Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 109. 1

In JD datiert auf: „Mitte Dezember“. Die Anfrage K. Vischer-Merians ist nicht überliefert. 3 Karl Vischer-Merian (1818–1895): Mitglied des Kleinen und des Großen Rates der Stadt Basel seit 1843. – F. Ueberweg hatte den Ruf nach Basel abgelehnt. Die Curatel schlug dem Basler Erziehungs-Collegium deshalb mit Schreiben vom 12. Dezember 1866 (vgl. WD, Nr. 72–74) vor, D. zu berufen, und zwar als Professor „extra ordinarius“, weil nach dem Universitätsgesetz kein zweiter Prof. für Philosophie vorgesehen war; andererseits schloss sie eine Berufung als ordentlicher Professor nicht aus. 2

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4 Karl Steffensen (1816–1888): seit 1854 Prof. der Philosophie in Basel; K. Steffensen setzte sich vehement dafür ein, dass ein zweiter Vertreter des philosophischen Lehrfachs berufen werde, da er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage war, seine Lehrveranstaltungen im gesetzlichen Umfang abzuhalten. Er verzichtete sogar auf einen Teil seines Gehalts zugunsten eines weiteren Dozenten. 5 Das Erziehungs-Collegium schlug dem „Kleinen Rath des Kantons Basel-Stadt“ daraufhin (am 20. Dezember; vgl. WD, Nr. 72–74) eine Berufung D.s als Ordinarius vor, welcher am 22. Dezember (vgl. WD, Nr. 75–76) einen demgemäßen Beschluss fasste und dem Rektor der Universität am 24. Dezember (vgl. WD, Nr. 80) die Berufung D.s mitteilte. 6 D. hatte am 21. November, Schleiermachers Geburtstag, aus seinem Leben Schleiermachers vorgetragen. 7 Sohn von Carl Lampe (1804–1889): Leipziger Unternehmer und Verleger. 8 Die 1. Lieferung des Leben Schleiermachers. Erstes Buch. Jugendjahre und erste Bildung 1768–1796 (bis S. 152) erschien 1867 in Berlin im Verlag Reimer. 9 Schleiermachers 100. Geburtstag am 21. 11. 1868 stand bevor. 10 Gemeint ist wohl ein Vorläufer zu D.s Projekt einer Philosophie der Geisteswissenschaften. 11 D.s Lessing-Aufsatz erschien im Frühjahr 1867.

[215] Dilthey an Ernst Reimer 17. XII. 18661 Verehrtester Freund, der – sonst sehr günstige – Verlauf der Angelegenheit, von welcher ich Ihnen neulich sprach, macht mir sehr wünschenswerth, ja von Bedeutung, daß mein Lessing überhaupt auf den Februar verschoben werde, auch der erste Theil. 2 Ich schreibe heute noch in diesem Sinne an Wehrenpfennig und werde ihn proponiren, im Fall daß das Heft nicht ohnehin besetzt ist, Scherers Aufsatz über Abraham,3 der 2 Bogen hat, einzurücken. Derselbe liegt, wie Sie wissen, bei Erdmannsdörffer bereit. Näheres mündlich. Ganz ergebenst Dilthey Im Bett geschrieben, bei gelindem Unwohlsein. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 12. 1

Nachträgliche Datierung von fremder Hand. D.s Aufsatz über Lessing erschien in: PJ 19 (1867), S. 117–161 und S. 271–294. 3 W. Scherers Aufsatz Pater Abraham a Sancta Clara erschien ebenfalls erst 1867 in den PJ 19, S. 62–98. 2

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Dilthey an Wilhelm Vischer-Bilfinger

[216] Dilthey an Wilhelm Vischer-Bilfinger1 Hochverehrter Herr Professor,2 mein Schwager Usener theilt mir eben den Brief 3 mit, durch welchen Sie ihm und mir über die Professur in Ihrer Fakultät nähere Mittheilungen zukommen zu lassen die große Güte hatten. Inzwischen habe ich die Anfrage der Curatel durch Herrn Reg[ierungs-]Rath Vischer-Merian erhalten. Nehmen Sie für Ihren gütigen Antheil an der Sache meinen ergebensten Dank und gestatten Sie mir zugleich, Ihre freundliche Vermittlung noch etwas weiter in Anspruch zu nehmen. Ich habe auf die Anfrage im Ganzen und Großen gern bejahend geantwortet. Ich schlage das Glück nicht gering an, mit Herrn Professor Steffensen, welchem ich mich in der allgemeinen Richtung verwandt weiß, zusammenzuwirken. Die freundliche Art, in welcher Sie mir entgegenkommen, die Thatsache daß die Fakultät sich einstimmig für mich entschieden hat, geben mir die Aussicht auf eine lebendige und harmonische gemeinsame Thätigkeit wie sie mir Bedürfniß ist. Wenn das Schwergewicht meiner Vorlesungen in die Logik und Psychologie fällt, so entspricht das ganz meinen Wünschen. Auch werde ich den Vortrag der Pädagogik gern übernehmen; hier, in Berlin, hielt mich hauptsächlich die Rücksicht auf meinen Freund Jürgen Bona Meyer davon ab, Pädagogik zu lesen. Eine planmäßige Vertheilung der Vorlesungen für eine Serie von Semestern würde wohl am zweckmäßigsten auf die mündliche Besprechung mit Herrn Professor Steffensen aufgespart. Nach den gegebenen Andeutungen würden sich die mir zugedachten Vorlesungen wohl am schicklichsten in dieser Reihenfolge behandeln lassen: 1. Semester: Logik und System der philosophischen Wissenschaften, nach einer Übersicht von Einem Druckbogen, die ich für meine Zuhörer habe drucken lassen. Darauf gebaut: 2. Semester: Psychologie. Und auf Psychologie weiter gebaut: 3. Semester: Pädagogik, neben welcher dann wieder Logik erscheinen würde. Dabei wären dann die weiter einzuführenden Vorlesungen zu überlegen. Doch hiermit will ich nur eine mögliche Reihenfolge andeuten. Sobald die Berufung geordnet wäre, würde ich mich natürlich sofort an Herrn Professor Steffensen wenden, um an seinem Entschluß über die Anordnung seiner Vorlesungen in den nächsten Semestern einen Ausgangspunkt zu haben und seine Ansicht zu erbitten. Ich sehe der Beziehung zu ihm mit großer Freude entgegen. Nun aber das einzige Bedenken das ich habe. Man entbehrt an einer kleinen Universität doch schwer der Theilnahme an dem Collegium der ordentli-

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Dilthey an Wilhelm Vischer-Bilfinger

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chen Professoren. Und ich denke mir daß sich dies gerade in der ersten Zeit der Wirksamkeit besonders fühlbar macht. Man steht doch immer außerhalb des Punktes, von dem aus die Zustände und Bedürfnisse der Studenten am leichtesten übersehen, das in der Korporation der Universität herrschende Leben am raschsten mitgefühlt und verstanden wird. In vielen Fällen muß man bei seiner Einwirkung auf die Studenten unsicher tasten, während man als Mitglied des Collegiums der Regenz richtig und sicher zugreifen könnte. Da ich nun doch in die Pflichten einer ordentlichen Professur eintreten würde: so würde durch diese Abänderung eben nur eine günstige Bedingung mehr für meine Wirksamkeit geschaffen, ohne daß mit ihr ein Opfer von Seiten der Regierung oder Fakultät verbunden wäre. Ganz unberührt von dieser Abänderung bliebe natürlich mein Verhältniß zu Herrn Professor Steffensen, welchem gemäß ich eben die Aufgabe haben würde, ihn in den Collegien zu ergänzen, von welchen er sich zurückzuziehen wünscht. Auch Herr Professor Trendelenburg theilte dies Bedenken; ebenso Usener. Darf ich dies nun in Ihre Hand legen, hier, wenn es irgend möglich ist – der § 12 der Universitätsgesetze giebt ja einer solchen Möglichkeit Raum! – eine Abänderung zu vermitteln? Sie haben schon so viel Anrechte auf meinen Dank. Zürnen Sie mir nur nicht daß ich selber, ohne meines Schwagers Vermittlung, von Ihrem gütigen Anerbieten Gebrauch mache, im Fall meiner Zustimmung im Ganzen und Großen etwaige Bedenken im Einzelnen vermitteln zu wollen. Und darf ich auch dies noch sagen? Was, ohne Beeinträchtigung der Sache, für baldige Erledigung geschehen kann, wäre mir sehr erwünscht. Es wird Ihnen ja bekannt sein, daß in den nächsten Monaten wahrscheinlich mehrere philosophische Stellen in Preußen zu besetzen sein werden. Da ist es denn ein wunderliches Gefühl darüber ungewiß zu sein, ob man sich als fest gebunden ansehen darf. Und doch möchte ich es gerade bei Ihnen so gern sein! Ich bin am Rhein, bin in Süddeutschland geboren und da bleibt doch immer nach dem Süden und der dortigen Art der Menschen ein Zug. Mit diesem müssen Sie nun auch entschuldigen, wenn ich, obwohl Ihnen noch ganz unbekannt, mich so vertraulich an Sie gewandt habe. Möchte ich Ihnen bald persönlich meinen Dank aussprechen können! In größter Hochachtung und Ergebenheit Dr. Wilhelm Dilthey Berlin, Wilhelmstraße 40a, den 17 Dec[ember] 1866. Original: Hs.; StA Basel-Stadt, PA 511 a 611–17–0588.

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Dilthey an Wilhelm Vischer-Bilfinger

1 Wilhelm Vischer-Bilfinger (1808–1874): 1835 a. o. und seit 1836 o. Prof. der klass. Philologie in Basel und Ratsherr in Basel-Stadt. 2 Über der Anrede, vermutlich vom Empfänger: „W.m Dilthey 17 Dec. 1866. Beantw. 29 Dec.“ 3 Nicht überliefert.

[217] Dilthey an Hermann Usener [Berlin, nach dem 17. Dezember 1866]1 Lieber Hermann, liebster Hermann, herzliebster Hermann! Deine Weihnachtsbescherung ist stattlich genug. Von meinem Dank sage ich nichts.2 Als Dein Brief kam,3 war die Anfrage der Curatel schon da und ich hatte mit Trendelenburg bereits gesprochen. Dieser war genau Deiner Ansicht. Auch er hob hervor, die einzige Abänderung die ich wünschen müsse liege in der Verwandlung der außerordentlichen in eine ordentliche Professur, der Rückberufung nach Preußen wegen welche auch er nahe hoffte, – und zugleich war er der Ansicht daß diese Abänderung wohl erreichbar sein würde. Übrigens besann er sich – sagte, einer persönlichen Angelegenheit wegen sei ihm meine Wegberufung nicht lieb – aber doch sei dies der richtige Weg nach Basel zu gehen; ich müsse es thun. Da ich nun bereits wußte, daß er, schon zu Neujahr vielleicht, sich aus der Prüfungscommission zurückziehen will (was aber noch Geheimniß ist), so kann ich mir nur denken daß er mich für die Geschichte der Philos[ophie] in diese vorschlagen wollte. Übrigens theilte er mir Weiteres vertraulich mit: Lotze4 soll hierher berufen werden; die Frage ist nur noch, ob nachdem man soeben der Universität Göttingen volle Erhaltung versprochen, man ihr nun einen ihrer berühmtesten Dozenten nehmen darf. Dann würde Harms5 nach Göttingen kommen. Überweg6 wird wahrscheinlich nach Leipzig kommen. In Kiel und Königsberg würden also Stellen offen. Auf Kiel hofft Jürgen Bona Meyer worüber ich mich herzlich freuen würde. Angesichts dieser Sachlage, dazu Deiner und Trendelenburgs Ansicht folgend, habe ich meine Zusage im Ganzen und Großen gegeben, aber über die außerord[entliche] Prof[essur] meine Bedenken vorgelegt, ob nicht eine Umwandlung in eine ordentliche zu ermöglichen sei. Als Bedingung habe ich es nicht gestellt, doch auch nicht gesagt daß ich annehmen würde falls die Umstände die Abänderung unmöglich machten, weil sonst für die Abänderung

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Dilthey an Hermann Usener

natürlich keine Aussicht wäre. Und zwar habe ich in allgemeineren Grundzügen der Curatel (dh. Vischer-Merian) angedeutet, wie ich in die Pflichten einer ordentl[ichen] Prof[essur] eintreten würde u. wie ich daher den natürl[ichen] Wunsch hege, eine Bedingung mehr für günstige Wirksamkeit, welche ja ohne Opfer von Regierung u. Fakult[ät] zugest[anden] werden könne, gewährt zu sehen – bessere Einsicht in die Bedürfnisse der Studenten, rascheres Einleben in den Geist der Universität. Näher habe ich dann, von seinem Brief an Dich ausgehend, Prof. Wilhelm Vischer meinen Wunsch dargelegt und die Sache ihm zur Vermittlung in der Fakultät in die Hand gelegt.7 Erfolgt eine Auseinandersetzung wie meine Stellung auch so keine Hemmung von Belang erfahre und wie die Abänderung Schwierigkeiten mache (und sie wird wahrsch[einlich] erfolgen): so nehme ich eben rundweg an. Daß man es übel nimmt, kann ich mir nicht vorstellen. Bist Du nun einverstanden mit dem was ich gethan? Wenn Du’s für zweckmäßig hältst, W. Vischer noch selber, da Du doch wohl seinen Brief durch einen Dank beantwortest, ein Wort über diese Abänderung zu sagen: so habe ich Dir darin nicht vorgegriffen. Die Schwierigkeit drüber zu schreiben lag eben darin weder die Abänderung als Bedingung zu stellen noch erkennen zu lassen daß man sich nicht auf sie einzulassen nöthig habe. Hältst Du mein Verfahren nicht für richtig, sondern bist für runde Annahme, so brauchst Du nur so zu schreiben, daß man sieht, ich sei bereit auf die außerord[entliche] Prof[essur] einzugehen u. wolle nur Bedenken gelöst haben. Denke Dir: ich freue mich kindisch auf Basel, den Rhein, die Alpen, mit den Studenten zu leben und endlich in d[en] Vorles[ungen] meine eign[en] Ansichten in einer glücklichen Einsamkeit zum Abschluß zu bringen. Die Situation ist wie geschaffen dazu, und ich danke sie Dir, Liebster, Alter! Mein endliches Ziel bleibt freilich, bei Euch zu leben und zu sterben. Tausend Grüße an Lily, ihr Unwohlsein ist doch nicht bedeutend? Wenn die Sache in Ordnung wäre (bis dahin habe ich Papa um Stillschweigen gebeten; Du weißt wie entsetzlich unangenehm vom Dach geflogene Vögel sind), wäre also die Sache fertig: so hielte mich Nichts, zu Weihnachten bei Lacks8 zu logiren. Dein Wilhelm Noch einmal: ich selbst bin zweifelhaft geworden, ob nicht mein Verfahren durch irgend einen Zwischenfall die Sache wieder in Frage bringen könne, da sie nun doch wohl wieder den Instanzenzug durchmacht. Denn die Situation dort sagt mir sehr zu, auch so; ja der Gedanke an dieselbe macht mich wahrhaft glücklich. Solltest Du nun etwa derselben Meinung sein, so bist Du autorisirt, in einem Brief an Vischer die Sache so zu wenden daß ich mein Be-

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Dilthey an Hermann Usener

denken Dir mitgetheilt, daß Du es theiltest (dies habe ich, Deinem Brief gemäß W. Vischer geschrieben), doch daß Du mir Recht geben möchtest, daß ich es nicht wichtig fände, die Sache selber dadurch irgendwie wieder in Frage stellen zu wollen; ich hoffe, wenn man meine Art thätig zu sein sähe würde man bald auf diese Abänderung nachträglich einzugehen sich geneigt zeigen. Oder wie Du sonst die Sache zu wenden, nach Deiner Erfahrung, gegenüber mir in Berufungen ganz Unerfahrenem, für zweckmäßig findest. Alles Deiner höheren Weisheit anheimgegeben, da ich eben – ein Philosoph bin. Lazarus war entschieden für runde Annahme, gegen allen Bedenken; es werde sich dort machen. Doch schien mir ein eigenes Gefühl bei ihm im Spiel zu sein daß ich soviel früher erreichen solle was er erreicht – ich las etwas davon auf seinem Gesicht. Oder ob es war, daß ich es in d[er] Schweiz, ohne seine Einwirkung erlangt? Also Deiner wahren Weltweisheit überlassen, da unsre sog. Weltweisheit sich auf Begriffe von der Welt bezieht, nicht auf ihre Behandlung. Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL, S 2102, 3, 39; eine maschinenschriftliche Abschrift einiger weniger Sätze des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 n; Erstdruck (mit erheblichen Kürzungen): JD, Nr. 110. 1 Datierung in JD: „Berlin Mitte Dezember 1866“. – Der Brief muss am 17. 12. 1866 oder in den darauffolgenden Tagen geschrieben worden sein, da D. auf seinen Brief vom 17. 12. an Vischer-Bilfinger Bezug nimmt. 2 Vermutlich hatte sich H. Usener bei seinem Basler Kollegen W. Vischer-Bilfinger für die Berufung D.s als o. Prof. eingesetzt. 3 Nicht überliefert. 4 Im November 1866 hatte R.H. Lotze einen Ruf an die Berliner Universität erhalten, den er aber ablehnte. 5 Friedrich Johann Simon Harms (1819–1880): Philosoph; 1848 a. o., 1858 o. Prof. in Kiel. – Harms kam, nachdem Lotze abgelehnt hatte, 1867 als Ordinarius für theoretische Philosophie an die Universität Berlin und blieb hier bis zu seinem Tode. 6 Friedrich Ueberweg, der seit 1862 a. o. Prof. in Königsberg war und 1866 den Ruf nach Basel abgelehnt hatte, blieb in Königsberg und wurde hier 1868 zum o. Prof. ernannt. 7 Gemeint ist Brief 216. 8 Nicht ermittelt.

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Wilhelm Vischer-Bilfinger an Dilthey

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[218] Wilhelm Vischer-Bilfinger an Dilthey Basel, den 22. December 1866 Hochgeehrter Herr.

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Wir haben das Vergnügen, Ihnen im Anschluß die Urkunde2 zu übermitteln, wodurch Sie von unsrer Regierung zum ordentlichen Professor der Philosophie an unsrer Universität ernannt werden, nachdem Sie sich bereit erklärt haben, einem Rufe an unsre Hochschule zu entsprechen. Wenn wir mit Bedauern wahrgenommen haben, daß unser Herr Prof. Karl Steffensen sich aus Gesundheitsrücksichten genöthigt sieht, seine Lehrthätigkeit auf ein kleineres Maaß zu beschränken, so mußte es uns auf der andern Seite zur Freude gereichen, an Ihnen einen fernern Vertreter der philosophischen Lehrfächer zu gewinnen, von dem wir voraussetzen dürfen, daß er sich die Förderung der wissenschaftlichen Bestrebungen namentlich unsrer akademischen Jugend werde angelegen sein lassen. Es wird Ihnen, hochgeehrter Herr, nicht unbekannt sein, daß sich unsre Universität an Umfang und Zahl der Zuhörer nicht mit den größern Anstalten Deutschlands messen läßt und Sie mögen daher immerhin den Ihnen angewiesenen Wirkungskreis einen bescheidenen nennen, allein lassen Sie uns trotzdem die Erwartung aussprechen, daß es Ihnen gelingen möge, das so reiche Feld der philosophischen Wissenschaften, welchem Sie Ihre Thätigkeit zugewendet haben, zu Ihrer eignen Befriedigung u. zum Nutzen der studierenden Jugend zu bebauen. Bei der regen Theilnahme unsrer Bevölkerung für die Interessen der Hochschule wird es Ihnen überdieß auch an Gelegenheit nicht fehlen, auch in weitern Kreisen fördernd und anregend zu wirken. Die Vertheilung der verschiedenen Disciplinen überlassen wir gerne der Verständigung zwischen Ihnen und Herrn Professor Steffensen und wiederholen hier nur unsern Wunsch, daß auch das Lehrfach der Pädagogik in den Kreis derselben möchte eingeschlossen werden. In diesem Sinne heißen wir Sie als Mitglied unsrer Hochschule willkommen. Wie wir Ihnen bereits vorläufig eröffnet haben, beträgt die Ihnen ausgesetzte und von der akademischen Gesellschaft übernommene jährliche Besoldung Frs. 3000.–. Schließlich sprechen wir die Erwartung aus, daß wir Sie mit Beginn des nächsten Sommersemesters hier begrüßen dürfen und Sie uns nach hier bestehender Uebung die Zusage geben, daß Sie im Falle einer anderweitigen Beru-

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Wilhelm Vischer-Bilfinger an Dilthey

fung der Behörde von Ihrem Weggange wenigstens 3 Monate vorher Anzeige machen wollen. Genehmigen Sie die Versicherung unsrer vorzüglichen Hochachtung. Namens des Erziehungskollegiums des Kantons Basel-Stadt. Der Präsident: Vischer des Raths. Original: Hs. (vermutlich eines Stadtschreibers mit eigenhändiger Unterschrift Vischers); StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 17,2. – Ein handschriftlicher Entwurf dieses Schreibens ist hinterlegt in: StA Basel-Stadt, PA 511 a 611–17–0588; Erstdruck mit Faksimile in: WD, Nr. 77f. 1 Links oben der Stempel: „Die Staatskanzlei des Kantons Basel-Stadt“. – Unten auf der 1. Seite des Schreibens: „Tit[el] Herrn Dr. ‹J› Wilhelm Dilthey. No 40a. Wilhelmstraße Berlin“. 2 Der Text der Urkunde lautet: „Bestellungsurkunde für Herrn Dr. I. Dilthey als professor ordinarius 22 Dezember 1866. [Darüber: „Expedit“] Wir Bürgermeister & Rath des Kantons B[asel] Stadt übertragen hiermit und Kraft der uns laut Gesetz vom 30 Januar 1866 zustehenden Befugniß auf den Antrag des Erziehungskollegiums Herrn I. Dilthey Dr. phil. aus Nassau, gegenwärtig Privatdozent an der Universität zu Berlin den Titel eines ordentlichen Professors an der philosophischen Fakultät. Dessen zu Gezeugniß haben wir die gegenwärtige Urkunde ausgestellt und mit der Unterschrift unsres Stadtschreibers und unsrem gewöhnlichen Standessiegel verwahren lassen. Namens B[ürger]meister und Rath des Kantons Basel Stadt [–]Der Stadtschreiber.“ (Original: Hs.; StA Basel, Erziehungsakten CC 14; Erstdruck mit Faksimile in: WD, Nr. 79).

[219] Dilthey an seinen Bruder Karl (Berlin, Weihnacht 1866) Mein liebster Karl! Du hast Grund, über alle Maßen auf mich zu schelten. Und doch hast Du sicher die richtige Ahnung gehabt, daß ich Dich nicht durch meine Krankheit zuerst, dann durch eine halbe Aussicht – es ist mir jetzt unmöglich, von Aussichten zu schreiben, nachdem das Papa gegenüber so lange ein nothwendiges Metier war – beunruhigen wollte. Nun kann ich Dir vermelden daß ich ein ziemlich gesunder professor ordinarius der sehr kleinen, aber ehrbaren Universität Basel bin. Höre also meine Leidensgeschichte und Odyssee, da Du mein vielduldendes Herz im Hause der Penelope weißt.

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Dilthey an seinen Bruder Karl

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Als Du gingst,1 hatte ich von meinem wirklichen Befinden Dir keine Details mitgetheilt, um Dich nicht zu ängstigen. Nur in meiner Stimmung am Abend des Abschieds konnt’ ich mich nicht mehr halten: ich glaubte Dich nicht mehr wiederzusehn. Ich hatte fast seit meiner Rückkunft heftige Nervenschmerzen; mein rechter Arm war gerade damals vor Schmerz so gut als steif und der Arzt hatte mich drauf vorbereitet, er könne leicht in Folge der Schmerzen vorübergehend gelähmt werden. Er untersuchte in allen Richtungen, kam aber immer wieder drauf zurück daß hier ein ganz gesunder Körper durch Nervenerschütterungen von einer sehr selten vorkommenden Stärke afficirt sei. .|.|. Die nervösen Schmerzen bin ich durch tägliche warme Bäder, Unthätigkeit und frische Luft fast völlig in den ersten Wochen nach Deinem Weggang losgeworden, jetzt völlig und total. .|.|. Inzwischen begann also die Baseler Angelegenheit deren Verlauf dieser war. Trendelenburg war zu allererst von Steffensen gefragt worden: er hatte in erster Reihe Ueberweg und Harms genannt, in zweiter die drei stehenden preußischen Artikel: Jürgen Bona Meyer, mich und Teichmüller. .|.|. Inzwischen hatte mich Trendelenburg noch näher kennen gelernt. (Von dem Folgenden darfst Du unbedingt niemand ein Wort sagen.) Er giebt einen neuen Band historischer Beiträge heraus. Die beiden großen Abhandlungen drin sind über Kants Raum- und Zeittheorie und über Spinoza.2 Er hatte mir schon lange davon gesagt daß er sie mir vor dem Druck vorlegen möchte, um mein Urtheil und meine Bemerkungen zu hören. Es lag ihm offenbar viel daran daß der erste Aufsatz (und der zweite zum Theil) mit Kuno Fischer so anbinde daß dieser antworten muß, wenn er seine Reputation retten will.3 Sie sind beide methodisch wundervoll gearbeitet, wie er ja hierin für kritische Geschichte der Philosophie seit Schleiermacher der anerkannteste Meister ist. Er war sichtlich überrascht, als ich ihm zeigte daß er in einigen schwierigen Punkten Versehen begangen, die ich zur Evidenz zu bringen im Stande war, und ihm hie und da Zusätze gab. Von meiner eigenen Produktivität hatte er wohl stets eine sehr gute Meinung gehabt, aber daß ich in methodisch kritischen Untersuchungen so auf dem Platze sei, war seinem philologischen Gemüth ein Novum. Er ist seitdem so gegen mich, daß ich ihm gelegentlich um den Hals zu fallen Lust hatte. Ohne Zweifel hat er auch in diesem Sinne geschrieben. So kamen Motive genug zusammen daß die Fakultät sich einstimmig für mich entschied. .|.|. Vorher schon hatte ich auch den Vertrag über den Schleiermacher abgeschlossen. .|.|. So werde ich also für die nächsten 4-5 Jahre jährlich etwa 1400 Thaler haben. Baldige Gehaltsbesserung ist mir ohnehin von Basel zugesichert. Kurz das Unglaubliche, eigentlich Widersinnige und gänzlich Unlogische ist geschehn: Wilhelm ist in brillianten Geldverhältnissen. Du weißt,

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Dilthey an seinen Bruder Karl

was das für mich bedeutet. Denn, liebster Junge, Du hast mich in der Friedrichstraße umherirren sehen, genöthigt, Vater um 100 Thaler zu schreiben, mit Wuth im Herzen. Mein zweites Buch habe ich auch zu schreiben angefangen. Ich werde es in Lieferungen herausgeben so wie die Untersuchungen fertig werden, da der Plan zu umfassend ist. Nächstens mehr drüber. .|.|. Wenn nicht irgend ein anmuthiges Motiv – wovon doch am ganzen Horizont nichts sich zeigt – mich in Deutschland zurückhält, so komme ich nach Vollendung des Schleiermacher unbedingt ein paar Monate zu Dir nach Rom. Von zu Hause gute Nachricht. Sei tausend Mal gegrüßt und geküßt zum Weihnachten und zum neuen Jahr, Alter, Liebster, Treuster, Nächster, und sei glücklich. Dein Wilhelm Berlin, Wilhelmstraße 40 A am dritten Feiertage. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 111. 1

D.s Bruder Karl hatte inzwischen Berlin wieder verlassen und war nach Italien gereist. A. Trendelenburg: Historische Beiträge zur Philosophie. 3. Band, a. a. O., darin: VII. Ueber eine Lücke in Kants Beweis von der ausschliessenden Subjectivität des Raumes und der Zeit. Ein kritisches und ein antikritisches Blatt, S. 215–276, sowie VIII. Ueber die aufgefundenen Ergänzungen zu Spinoza’s Werken und deren Ertrag für Spinoza’s Leben und Lehre, S. 277–398. 3 Seit dem Erscheinen von K. Fischers Kant-Buch im Jahre 1860, das A. Trendelenburg in der 2. ergänzten Aufl. seiner Logischen Untersuchungen von 1862 nicht erwähnte, entbrannte ein Streit zwischen beiden, der 1869/70 mit Trendelenburgs Kuno Fischer und sein Kant und Fischers Anti-Trendelenburg seinen Höhepunkt erreichte. 2

[220] Dilthey an Wilhelm Scherer 1 Januar 1867, zum Beginn des neuen Jahres verfaßt vorläufig: Berlin, Wilhelmstraße 40a. Liebster Freund, Ihr Brief 1 kommt meiner Mittheilung zuvor. Da ist ja Reimer einmal rasch gewesen! Ich selbst war erst am Weihnachtsabend in der Lage nach Hause es zu telegraphiren u. erhielt dann erst am zweiten Weihnachtstag das Dekret.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

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Die Sache schwebte freilich schon länger; aber es handelte sich noch um die Verwandlung der außerordentlichen Professur in eine ordentliche. Die Herren sind mit einer Freundlichkeit auf meine Wünsche eingegangen, daß ich von meiner dortigen Lage das Beste hoffe. Es waren zugleich auch andre Möglichkeiten in der Perspektive, aber es war auch Trendelenburgs Meinung daß falls man dort auf eine ordentliche Professur einginge, dies der sichere Weg sei zur raschen Erreichung meines Ziels – das eben nicht in Basel liegt. Ich freue mich sehr auf die ganz sorgenlosen Jahre in einem schönen Lande, mit der Möglichkeit Italien und Frankreich kennen zu lernen, mit einem bescheidenen, aber dafür auch klar übersichtlichen Kreis der Thätigkeit. Ich werde auf Niemanden Rücksicht zu nehmen nöthig haben, habe die Begrenzung geselliger Beziehungen ganz in der Hand – kurz kann der Ausbildung meiner Gedanken auf dem Katheder u. in einzelnen Absätzen des projektirten Buches ganz leben. 800 Thaler Gehalt. Nebeneinkünfte wohl nicht bedeutend; baldigste Gehaltsaufbesserung versprochen. Den ersten Band des Schleiermacher hoffe ich sicher hier lassen zu können, obwohl ich seit dem Herbst hartnäckig leidend war, wenig arbeiten durfte u. nun die Nothwendigkeit im Sommer Psychologie zu lesen mich auch sehr in Anspruch nimmt. Ich habe am Geburtstag Schleiermachers hier einige Capitel des ersten Buches auf Verlangen vorgelesen; d[er] Bruder eines Leipz[iger] Buchh[ändlers] brachte die Herren dort sehr in Allarm; auch von hier Anfragen; dies veranlaßte mich die Sache mit Reimer zu ordnen, u. derselbe hat in wahrhaft liberaler Weise sich bei dem Contract od[er] vielm[ehr] b[ei] unserer Verabredung benommen, meine Bedingungen rundweg acceptirt. Zur Reise komme ich erst wenn die beiden Bände in der Druckerei sind. Also, liebster Scherer, unsere Pläne sind nun aufgeschoben, nicht aufgehoben. Erdm[annsdörffer] Sie u. ich müssen noch an Eine Univ[ersität] zus[ammen] kommen und eine Zeitschrift machen.2 Ich fürchte nur daß Sie Ihren Flug grades Weges nach Berlin richten – das mir für eine Reihe von Jahren verschlossen sein wird. Nun aber, Liebster! wie ernsthaft nehmen Sie das Geschick eines Aufsatzes in d[en] preuß[ischen] Jahrb[üchern]. Als ob Sie sich feindlich gesinnten Menschen oder einer polit[ischen] Gruppe od[er] Gott weiß wem gegenüberbefänden u. nicht einer schwerfälligen Maschine, unglückseligen Redaktionswirrnissen. Soviel wie Erdm[anns]d[örffer] sagt war der Verlauf dieser: bei ihm sein Aufsatz, Notiz an Wehrenpfennig daß er da sei, es sei nicht nöthig daß er ihn lese; Baumgartens umfassende Arbeit3 die doch gleich erscheinen müßte weil sie politischer Natur ist; große Sorge um Raum, Bedurfniß ganz langer Aufsätze; Wehrenpfennig jede Woche in Begriff sein Geschäft zu verkaufen u. in dieser Entscheidung seiner ganzen Existenz sehr natürlicher Wei-

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Dilthey an Wilhelm Scherer

se ohne alles Interesse für die Vertheilung von Aufsätzen in Hefte, seine Antworten bleiben aus; er antwortet ohne die Briefe bei der Hand zu haben u. vergißt so manches: Sie werden sagen daß das den Mitarbeitern gegenüber nichts entschuldige die es nicht mit Privatangelegenheiten des Redakteurs zu thun haben. Aber einmal handelt es sich hier um einen Kreis von meist einander befreundeten Genossen die doch mehr oder weniger ein persönliches Interesse am Zustand dieser einzigen wirklich bedeutenden wissenschaftlich-politischen Zeitschrift unsres Vaterlandes haben, dann weiß jeder daß d[er] Verleger nur große Opfer, der Redakteur keinen seiner Arbeit entsprechenden Vortheil hat, daß beide wirklich Opfer bringen um die Aufsätze gut honoriren zu können – in solchem Fall muß man vorübergehende Zustände wie der gegenwärtige, so verdrießlich sie einen treffen, mit hineinnehmen in die ganze Lage. Dies ist der wirkliche Thatbestand, Ihre Ansicht beruht auf ganz irrigen Voraussetzungen. Ihr Aufsatz ist durchaus nicht zwisch[en] Kiel u. B[erlin] gewandert noch drüber corresponirt worden: wie soll man das auch über einen Aufsatz den man gar nicht kennt? u. wie würde man es über einen aus dem engsten Freundeskreis der um die preuß[ischen] Jahrb[ücher] sich gesammelt hat? Ihr Brief lautet als ob keiner etwas dort geschrieben: dies schreibe ich Ihnen geradzu, als meine u. Erdm[mannsdörffer]’s Überzeugung, natürlich in der Voraussetzung daß Sie Liebster!, weder Reimer noch den Redakteuren gegenüber davon irgendwelchen Gebrauch machen. Erdmannsdörffer hat übernommen dem jungen Reimer sofort drüber ordentlich den Kopf zu waschen. Ich bezweifle auch durchaus daß von W[ehrenpfennig]’s Seite irgend etwas anderes als Vergeßlichkeit vis à vis der Entscheidung seiner eignen Angelegenheiten gewaltet hat. Und selbst den unwahrscheinlichen Fall angenommen daß ich mich irrte, so werden Sie sich eben schon im Lauf dieses Jahres besser kennen lernen u. gewiß sich gegenseitig gern haben. Denn was auch in W[ehrenpfennig]’s äuß[erer] Weise sich zu geben zuweilen anstoßen mag: er ist durchaus einsichtig, der Verständigung offen u. ein treuer Freund seiner Freunde. Auch Sie müssen vor jemand[em] der sich in der letzt[en] polit[ischen] Krisis von Anfang an mit solchem voraussehenden Verstand benommen, Achtung haben – die preuß[ischen] Jahrb[ücher] waren eine ganz isolirte Thatsache politischer Capacität der Presse, mit welcher auch d[ie] Nationalzeit[ung] nicht gleichen Schritt hielt –; lesen Sie seinen „italienischen Krieg“ oder d[ie] Serie seiner Correspondenzen,4 so müss[en] Sie Achtung vor ihm haben; er hat sich in den preuß[ischen] Jahrb[üchern] das Verd[ienst] erworben daß man sieht wie es auch außerhalb des Adels u. der Diplomatie in Deutschl[an]d in diesem Jahr richtig u. kühl urtheilende Köpfe gegeben hat.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

Ich bin da wahrhaftig von Ihrer Art d[ie] Sache zu nehmen angesteckt worden – ist auch ein Überschuß von Worten und Gründen für diese Sache, so möge sie auf Ihr Verhältniß zu den Jahrbüchern überhaupt zu denen Sie wie Haym, Erdmannsdörffer und ich als ein integrirender Bestandtheil gehören, nach Kräften wirken. Wie leid hat es Grimm später gethan daß er um einer unbedeutenden Ursache willen mit den Jahrb[üchern] gebrochen hat! Sie können denken, daß ich Berlin doch schwer verlasse, inzw[ischen] werde ich des 2ten B[an]ds weg[en] im Herbst u. auch zu Ostern dann mehrere Monate hier sein müss[en]. Ich gehe erst im Lauf des April weg. Sie sind doch vorher hier? Grimm hatte eine liebensw[ürdige] Freude an meinem Vorankommen; Frau Gis[ela] hat aus irgend einem ihrer vielen Gründe mir kein Wort des Glückwunsches gesagt. Mit Frau Duncker hoffe ich noch recht viel zusammen zu sein, bevor ich gehe. Man meint so vor dem Weggang viel Versäumtes noch nachholen zu müssen. Williram5 erhalten u. mit groß[em] Behagen, aber ohne alle Kritik gelesen, daher ich noch nichts drüber schreibe. Auch für die Anzeige besten Dank. U. nun, liebster Scherer, v[on] E[rdmannsdörffer] u. mir tausend Grüße, alle besten Wünsche für das kommende Jahr u. für uns auch der drunter daß wir Sie hier noch einmal ordentlich haben. Ihr getreuster

Wilhelm Dilthey

Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 4; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 4; Erstdruck (mit erheblichen Auslassungen): JD, Nr. 112. 1

Nicht überliefert. D., Scherer, Erdmannsdörffer, J.B. Meyer und H. Grimm planten seit Mitte der 1860er Jahre eine interdisziplinäre Zeitschrift, welche der theoretischen Fundierung der verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen dienen sollte. – Das Zeitschriftenprojekt wurde nicht realisiert. 3 H. Baumgarten: Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik. Berlin 1866; zuerst erschienen in: PJ 18 (1867), S. 455–515 und S. 575–629. 4 W. Wehrenpfennig: Geschichte der deutschen Politik unter dem Einfluß des italienischen Krieges. Berlin 1860. – Wehrenpfenning schrieb regelmäßig für die Politischen Correspondenzen in den PJ. 5 W. Scherer: Leben Willirams Abtes von Ebersberg in Baiern. Beitrag zur Geschichte des XI. Jahrhunderts, in: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Philos.-histor. Classe. 53. Bd. Wien 1866. 2

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Dilthey an seine Eltern

[221] Dilthey an seine Eltern d[en] 2. Januar [1867], neues Schneewetter! zum Verzweifeln! Ein glückliches neues Jahr, Ihr Liebsten! Möge ich es mit Euch in Heiterkeit genießen, am Rhein und zwischen den Alpen. Mein Lieblingsgedanke in demselben ist, mit Dir, liebste Mutter und Papa, ein paar Wochen auf dem Rigi1 in der heißen Zeit zuzubringen, zu unser aller Erholung. Freilich das ist nur eine schöne Hoffnung: denn ich habe mehr zu thun als jemals. Ich habe mir selber versprochen, den ersten Band des Schleiermacher bis auf einen kleinen Rest, an dem ich in Bonn arbeiten kann, hier zu lassen, und auch Reimer, dem ich die größte Rücksicht schulde, bittet sehr darum. Und nun werde ich gleich im Sommer das schwierigste aller philosophischen Collegien zum ersten Male lesen müssen: Psychologie, neben anderem. Dazu brauchte ich eigentlich zur Vorbereitung die Hälfte der Zeit bis dahin: Dann Druck und zweiter Band. Ich habe keine Ruhe bis das Ganze gedruckt vor mir liegt. Dann habe ich ein Stück Lebensaufgabe erfüllt: ich hoffe eine solche Biographie eines wissenschaftlichen Kopfs soll mir nicht so bald wieder jemand nachmachen. Ob ich dann zum Ausruhen komme? Wenigstens vereinfacht sich dann die Art meines Arbeitens für die nächste Zeit sehr. Ich habe ein andres Buch angefangen, an welchem ich schon schreibe, da es mir die unglaublichste Freude macht, Zusammenfassung meiner eigenen wissenschaftlichen Untersuchungen über den Menschen und die Geschichte2 – das soll in einzelnen Lieferungen erscheinen, und daran kann ich dann überall den Zusammenhang so zerstreuten Materials mit Behagen aussinnen. Ihr habt doch keine Idee, was für eine Lebensfreude in Forschung, Schreiben, Reden steckt. Wenn es uns irgendwie passabel geht, sind wir Dichter, Philosophen, Geschichtsschreiber doch die von Gott begnadigten Menschen! Wie ich mich auf Bonn freue, ist nicht zu sagen. Ich will dort mich 14 Tage zum Arbeiten einrichten und mit Hermann nach alter Weise sumfilologeı˜n – am Plato. Für Mutters Brief 3 tausend Dank; eins hat mich darin sehr beunruhigt und dies ist auch, was mich eigentlich zu sofortiger Antwort antreibt. Ich fürchte [um]4 Papas Reise nach Rumpenheim.5 Alle seine Reisen mit und zu dem Herzog6 sind für seine Gesundheit unheilvoll gewesen, und ich halte es durchaus nicht für recht und erlaubt, wenn er eine Gesundheit, die er uns schuldig ist, da wir sie dem Tod abgerungen haben, für die aufs Spiel setzt, welche nichts von einem solchen Anspruch haben. Dies meine sehr ernst ge-

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Dilthey an seine Eltern

meinte Überzeugung. Pflichten gegen Andre bemessen sich doch nach dem Grad von Opfern, die andre gebracht und im Verfolg dessen, was sich aus ihnen ergeben kann, wieder bringen würden. Nun aber genug von Fragen und Querelen die nur meine unablässige Sorge für Papas Gesundheit entschuldigt. Er muß im Sommer mit mir heiter die Schweiz genießen. Ist kein Geld dazu da, so habe ich welches. Ihr lacht? Wahrhaftig, es ist so. Euer treuer Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck: JD, Nr. 113. 1

Bergstock zwischen Vierwaldstätter See und Zuger See in der Zentralschweiz. D.s Vorarbeiten zu einer Grundlegung der Geisteswissenschaften, die einen ersten Abschluss in seiner Abhandlung Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat fanden; sie erschien in: Philosophische Monatshefte 11 (1875), S. 118–132 und S. 241–276; WA in: GS V, S. 31–73. 3 Nicht überliefert. 4 In JD: „von“. 5 Kleiner Ort am Main, nahe Offenbach. 6 Herzog von Nassau. 2

[222] Dilthey an Wilhelm Scherer Berlin d[en] 7ten Jan[uar] [1867], Wilhelmstraße 40.a Liebster Scherer, Treitschke der zwei Tage hier war u. dem ich von Ihr[em] Mittelalter1 gesagt: wird Ihnen schon geschrieben haben, wie dankbar die pr[eußischen] Jahrb[ücher] für dasselbe sein werden. Soeben erhalte ich von Wehrenpfennig einige Zeilen, hastig und trostlos: sein Junge hat einen Rückfall v[on] Gehirnentzündung bekommen und er wird ihn wahrscheinlich verlieren wie er fürchtet. Sie sollen ihn entschuldigen wenn er nicht noch selber schreibt u. ich soll Ihnen in seinem Namen d[ie] Freude über das ‚Mittelalter‘ aussprechen. 2) mittheilen daß wenn Ihre Zusage dazu zeitig einträfe er Ihnen das Aprilheft offen halten werde; nur muß er sicher auf das M[anus]scr[ipt] für Anfang März rechnen können. Wollen Sie ihm drüber Bescheid sagen? (Direktor Wehrenpf[ennig] Firma Hölzle in Frankfurt am Main, Katharinenpforte). Abraham2 kommt ins Januarheft. Wehr[enpfennig] hatte die Corr[ekturen] an mich verwiesen aber ich habe nichts davon gesehen. Ich will gleich heute nachfragen.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

Ich bin heut ganz außer Stande ordentlich zu schreiben; die Briefschreiberei der letzten Wochen war zu verzweifelt. Zu Herm[an] Grimms Geburtstag3 hatte seine Frau ein wahres Zauberfest arrangirt u. sich in 100–200 Stück Briefen einmal ordentlich ausgeschrieben. Diese 200 Stück u. die in ihnen enthaltenen Malicen (in Betracht deren man einer Frau gegenüber eben waffenlos ist) abgerechnet, war das Arrangement des Ganzen so wahrhaft künstlerisch, besonders zeigte sie ein solches4 Zeichentalent daß sie die größte Freude daran gehabt hätten wie ich. – J.B. Meyer ist in die Prüfungskommission eingetreten da Trendelenburg unbedingt seine Entlassung aus derselben forderte u. uns beide vorgeschlagen hatte; er war der Meinung gewesen daß ich Basel vorziehen sollte, der lästigen Arbeit und verschiedner andrer Umstände wegen; ich bin sehr erfreut J.B. nun auch in einer angenehmen Lage zu wissen. Lassen Sie uns nur überall vigiliren5 wo für Erdmannsdörff[er] eine Aussicht sich aufthut. Denken Sie ich habe mich entschlossen im Sommer kurzweg mit dem Kopf voran ins Wasser zu springen u. Psychologie zu lesen! Überhaupt lebe ich in einer artigen Verwirrung von Arbeiten. Nun Adieu Liebster, Ihr Wilhelm D. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 5; ein handschriftliches Transkript des Briefes von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 5. 1 W. Scherers Beitrag Mittelalter und Gegenwart, der hier gemeint sein könnte, erschien in: Die Presse, Nr. 289 (1870). 2 W. Scherer: Pater Abraham a Sancta Clara (Karajan, Abraham a Santa Clara. Wien 1867), in: PJ 19 (1867), S. 62–98. 3 H. Grimm feierte am 6. Januar 1867 seinen 39. Geburtstag. 4 Im Original: „solchen“. 5 Wachsam sein.

[223] Dilthey an seinen Vater Liebster, bester Vater, anfangen wenigstens will ich heut Abend noch einen ordentlichen Brief, wenn ich auch nicht weit kommen werde. Zunächst also, mit meiner Gesundheit geht es gut. .|.|. Eigentlich laborire ich jetzt nur noch an einer unbändigen Faulheit, die durch allerhand Umstände mir über den Kopf gewachsen ist. Ich habe mir aber nächsten Montag Abend als letzten Termin festgesetzt: von da ab schließe ich mich zur Noth

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Dilthey an seinen Vater

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ein. Die Briefwechselei mit Basel geht endlich zu Ende – die letzten Festtagsbegegnisse verlaufen sich, auch meine allerliebste Freundin, Frau von Görschen,1 beschließt morgen ihren Festtagsaufenthalt hier mit einem großen Ball, zu dem ihr Mann aus P[otsdam] herüberkommt, sie abzuholen, und sie hat heut im Ballcostüm von mir Abschied genommen, um denselben recht feierlich zu machen – Bernhard giebt Morgen sein Concert2 – Montag bin ich noch einmal zur Gräfin Schwerin gebeten, ihm und ihr aus meinem Buch ein wenig vorzulesen. Dann will ich einen großen Strich unter all die Aufregungen und unglaubliche Unruhe der letzten Monate machen. Möge der Himmel meinen Arbeiten ein ruhiges gesammeltes Jahr schenken, mit so viel Sonnenschein als sie nöthig haben – nicht mit weniger, doch auch nicht mit mehr. Heiter genug lassen sich alle Aspekte an. Wenn ich nur von Euch gute Nachrichten habe! Denke Dir, daß wahrscheinlich im Laufe dieses Jahres zwei Professuren in Göttingen und Kiel frei werden. Wenn dann Bonn an die Reihe kommt, so müßte es mit dem Teufel zugehn, sollte sich da nichts machen lassen. Menschen welche ab und zu eine philosophische Idee haben gibt es allezeit wenige in der Welt! Dies gab mir von Anfang an die Ruhe über meine äußere Zukunft, welche Dich bisweilen erschreckte, abgesehen davon daß auch mein glorreicher Idealismus mir stets fördersamst zu Hilfe kam. Die Stellung, für welche ich mit J. B. Meyer hier vorgeschlagen war, als Mitglied der Prüfungskommission an Stelle von Trendelenburg, hat nun mein Freund J. B. Meyer erhalten. So manche Vorzüge sie vor der meinigen hat: so hat sie den einen Nachtheil, daß sie die Arbeitszeit durch Allotria zersplittert. Pekuniär ist sie bedeutend besser als die Baseler. Freilich werden in Basel meine Collegien auch mich fast ganz absorbiren, wenn ich mich nicht gewaltig auf die Hinterbeine stelle, neue gesellschaftliche Verwicklungen meide und mich meiner Verpflichtung, 2 Privatcollegia jedes Semester zu lesen, sachte Semester für Semester zu entledigen suche. Psychologie im Sommer ist ein unentrinnbares Schicksal – Hermann hat ja sehr recht in allem, was er mir darüber schrieb, er irrt nur in dem einen Punkt, daß er annimmt, ich könne nach Erscheinen des ersten Bandes des Schleiermacher pausiren. Es ist fast wichtiger daß der zweite dem ersten rasch folgt, als daß der erste zu gehöriger Zeit kommt. .|.|. Das ist nun die Hauptsache daß Du im Sommer mich in Basel besuchst und wir den heißesten Monat, den ich Ferien habe (Juli), vergnüglich auf dem Rigi und sonstwo zubringen. Das ist dann endlich für mich eine Zeit des Ausruhens, Faulenzens, in der ich wie ein Tagdieb an der Sonne liegen und in den blauen Himmel und die Gletscher sehen will. .|.|. Die Wintersonne scheint sehr vergnüglich in mein Fenster und ich freue mich für Dich, liebster, theuerster Vater! der gewiß nun bald seinen Morgenspatziergang macht – und auch für mich ein wenig, der ich Trendelenburg verspro-

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chen habe, ihn nach Tisch (wir haben heut Clubtag d. h. bei Hannes,3 Dir angenehmsten Andenkens, gemeinsames Mittagessen des Privatdocentenclubs oder wie er auch genannt wird, des „Clubs der Selbstmörder“)4 zu einem großen Spatziergang abzuholen. Behaltet mich lieb bis ich Euch wiedersehe, seid heiter, wie sich für die ziemt, welche das Licht der Sonne sehen. Euer treuster Wilhelm Sonnabend d[en] 11 Jan[uar] 1867. Wilhelmstr. 40a. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 114. 1 Ehefrau von Otto Friedrich Ferdinand von Görschen (1824–1875): Kommandant des 8. Brandenburgischen Infanterie-Regiments des Prinzen Friedrich Karl von Preußen. 2 B. Scholz spielte am 12. Januar 1867 in Berlin, wie er selbst schreibt, „ein Klavierkonzert eigener Komposition mit Orchester“ (Scholz, S. 217). 3 Vermutlich ein damaliges Restaurant. 4 Vgl. hierzu Brief 152, Anm. 1.

[224] Dilthey an Franz August Potthast1 Hochverehrter Freund, entschuldigen Sie wenn ich Sie noch einmal mit einem desiderium belästige. Aber es handelt sich eben um ein Buch das mir ganz unentbehrlich ist und hier nirgend sonst zu beschaffen. Sie hörten neulich Dr. Seitzel;2 ich sage nicht darüber. Es handelte sich um das „Lyceum der schönen Künste“, welches 1797 hier in Berlin herausgekommen ist; sein, ich glaube ungenannter, Herausgeber der Capellmeister Reichardt.3 Ich wünsche diese nur Ein Jahr erschienene Zeitschrift einige Tage zu Hause zu benutzen, da ich die darin befindlichen Fragmente Fr[iedrich] Schlegels mit Manuscripten von diesem u. von Schleiermacher zu vergleichen habe. Ich erhielt zunächst den Zettel mit dem Bemerken zurück daß das Lyc[eum] nicht bei den Zeitschriften stehe: falls ich künftig meine Zettel in den Briefkasten würfe so kämen sie an den rechten Mann! Neuer Zettel von mir, abermals Verzögerung eines Tages! Und nun bringt mir eben der Bibliotheksdiener mit meinen Büchern auch diesen Zettel zurück, mit der Aufschrift „nicht vorhanden!“ Ich bin so frei Ihnen den Zettel beizulegen. Ich habe das Lyceum zweimal, bei Herausgabe der Briefe, in meinem Hause gehabt. Sie sehen aber, daß es eben für mich nicht vorhanden sein soll. Es mag sein, daß es verstellt ist, schon lange oder seit kurzem. Wollten Sie sich gelegentlich einmal in diesen Tagen überzeugen ob es zu finden ist: so

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Dilthey an Franz August Potthast

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würden Sie mir einen wahren Dienst erweisen. Es handelt sich um eine wichtige Untersuchung, welche den bis dahin gar nicht auszusondernden Beitrag Schleiermachers zu den berühmten Fragmenten des Athenaeum4 bestimmt u. zu der ich zuerst und ganz allein die Materialien habe. Nur wegen der Wichtigkeit der Sache wähle ich diesen Weg (da ich auf jedem andren das Buch leicht gar nicht erhielte in den nächsten Wochen) und belästige Sie abermals. Hoffentlich zum letzten Male. Dankbarst ergeben Wilhelm Dilthey Berlin, Wilhelmstr. 40a. Montag Nachmittag d[en] 28ten J[anuar] [18]67. Original: Hs.; BBAW, A. Potthast-NL, Nr. 45. 1 Franz August Potthast (1824–1898): Mittelalterhistoriker und Bibliothekar; seit 1862 Mitarbeiter an der Königl. Bibliothek zu Berlin. 2 Nicht ermittelt. 3 Lyceum der schönen Künste. Bd. 1. Berlin 1797. Hg. von J.F. Reichardt und F. Schlegel. – Johann Friedrich Reichardt (1752–1814): Komponist und Musikschriftsteller. 4 Vgl. K. Nowak: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung. Göttingen 2001, S. 91.

[225] Adolf Kießling1 an Dilthey Lieber Freund, Praeter morem at que consuetudinem2 setze ich mich sofort nach Empfang Ihres Schreibens hin, um Sie nicht allzulang warten zu lassen. Wie es sich schickt beginne ich vom Ende ab. Geselliges Leben? – ist im Sommer nicht und reducirt sich im Winter auf einige Abfütterungen. Natürlich gilt dies nur von den Baselern. Wir deutsche[n] Prof[essoren] verkehren viel und rege. Kneipe und Natur treten dabei wie billig in den Vordergrund. Überzugsentschädigung erhalten Sie gewiß, wenn Sie erst hier sind und die Leute kennen. Man sieht es ungern, wenn schon vor dem Herkommen davon die Rede ist, ist aber gegen Anwesende dann ganz anständig. Ich erhielt ca. 300 Franken Gehalt – halbjährlich postnumerando, eine Einrichtung für Millionäre, und eigentlich als „Aufreizung zum Schuldenmachen“ für das

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Adolf Kießling an Dilthey

Strafgesetzbuch qualificirbar. Doch pflegen solche leichsinnigen Gesellen wie ich durch eine private Hinterthüre ihren Gehalt schon quartaliter zum Entsetzen der Casse zu erheben. Anschlag – um den 24 April herum zu machen. Wohnung. Sehr schön wäre es wenn wir zusammen ziehen könnten. Nun habe auch ich die Absicht für nächsten Winter auszuziehen, da mir meine Wohnung zu enge wird. Aber diesen Sommer gedenke ich noch unbedingt die herrliche Aussicht aus meinem Fenster zu genießen, und rathe Ihnen das Gleiche: An Ihrer Stelle miethete ich für diesen Sommer die Wohnung in der Hartmann (Romanist)3 bis jetzt in meinem Hause gewohnt. Sie ist für einen Philosophen entschieden groß genug – falls er nicht der peripatetischen Schule angehört – und erfreut sich nach dem Rheine im Grünen hinausgelegen einer völlig philosophischen Ruhe und Abgeschiedenheit. Auch ist sie nicht auf dem Boden aufstehend, sondern ruht völlig auf vier freien Pfeilern, also wörtlich zu fassen auf Hypothesen. Sonne ist hier im Sommer eher zu meiden, als zu suchen; übrigens liegt die Wohnung nach Osten frei, hat also Morgensonne; dagegen ist ein nach Norden gegen den Rhein gelegener Balcon eine höchst schätzenswerthe Beigabe. Was Gesundheit anlangt, so sind weder ich, noch Hartmann, noch früher Jacob Burckhardt4 jemals darin erkrankt. Das Schlafzimmer ist 7 Fuß breit und 27 Fuß lang mit zwei Fensteröffnungen. Alle Schattenseiten aber – unter diesen ist Hauptsache der Eingang, wie auch zu mir, über den Hof – überwiegt die Aussicht, die die schönste ist welche in Basel zu finden ist. Ich würde Ihnen also für den Sommer unbedingt zureden, und Sie bitten Ihren Entschluß mir schleunigst zu schreiben, um mit den Hausleuten die nöthigen Anordnungen zu treffen. Falls Sie sich nicht dazu entschließen, so will ich sehen, ob ich in den Anlagen Ihnen eine paßliche Wohnung aufstöbere. Es ist aber nicht ganz leicht, da es in Basel nur wenig Cölibataire giebt, die Ansprüche machen. Man ist hier wesentlich auf Commis etc eingerichtet und hat wenig anständige Junggesellenwohnungen. Über Ihre Vorlesungen lassen Sie sich keine grauen Haare wachsen. Psychol[ogie] u. Spinoza sind angekündigt; die Stunde müßten Sie sich aussuchen, wenn Sie hier sind. Anfang. gesetzlich 29 April, factisch etwa 3. 4. Mai. Ich möchte Ihnen rathen, etwa Mitte April zu kommen – oder noch früher – um das hier herrliche Frühjahr zu genießen, Besuche zu absolviren, und Ihre Antrittsvorlesung – öffentliche Exhibition vor Ihren Collegen u. Bürgermeister und Rath, von einer Stunde Länge über ein allgemeineres Thema – abzuschütteln. Das wären ja erst alle Punkte. Um noch einmal auf Nro 1 zurückzukommen, so lebt man hier wirklich ganz behaglich, aber ohne eigentliche feinere

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Adolf Kießling an Dilthey

Geselligkeit, was auch die Baseler selbst fühlen, aber nicht ändern können. Mit den Männern sieht man sich oft, und das collegialische Verhältniß ist gewiß so gut, wie nirgends – doch bleibt man dem Baseler immer etwas fremd. Dafür ist unsere deutsche Colonie um so intimer, und Sie werden sich in derselben gewiß bald sehr behaglich fühlen. Wenn diese Zeilen ankommen, so ist ja nun der erste Deutsche Reichstag eröffnet.5 Ich bin mit den Wahlen zufrieden. Zu wirklicher Reaction im schlimmen Sinne ist die Zeit nicht angethan, und daß unsrer zerfahrenen vaterlandslosen und dicknäsigen Fortschrittsparthei der Daumen aufs Auge gedrückt wird, ist reiner Gewinn. Nach dem wüsten Taumel der letzten Jahre gewinnen doch jetzt wieder die Mittelparteien Oberwasser. Das Budgetrecht ist ganz schön, wenn es aber in die Hände von Kindern fällt, die damit so lange spielen, bis es zerbrochen ist, so würde ich es als guter Hausvater noch einige Jahre in den Schrank stellen und verschließen. – Fabelhaft ist es aber doch wie Bismarck Alles glückt was er anfängt; er ist eben der prädestinirte Staatsmann, der uns ins gelobte Land der Einheit führen soll. – Daß wir Deutschen hier – mit einer Ausnahme – ganz enthusiastische Verehrer Bismarcks sind, werden Sie wohl schon wissen. Die Schweizer freilich haben drob großen Zorn, müssens aber hinunterschlucken. Nun grüßen Sie Hoffmann und Dondorff, wenn Sie diesen sehen, und wenn Sie an Usener schreiben, so rütteln Sie ihn etwas aus seiner Faulheit auf. Mit herzlichen Grüßen Ihr A Kießling B[asel] 23/2 [18]67. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. Karl Dilthey, 139. 1

Adolf Kießling war bereits seit 1863 Prof. für klass. Philologie in Basel. Gegen Sitte und Gewohnheit. 3 Gustav Hartmann (1835–1894): Jurist; 1864–1872 Prof. des römischen Rechts in Basel, 1872 in Freiburg, 1878 in Göttingen, 1885 in Tübingen. 4 Jacob Burckhardt (1818–1897) war bereits seit 1858 Prof. in Basel. 5 Am 12. Februar 1867 hatten in den Staaten des neu gegründeten Norddeutschen Bundes die ersten Wahlen zum Reichstag stattgefunden. – Am 24. Februar 1867 wurde in Berlin die konstituierende Sitzung des Reichstags abgehalten. 2

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Dilthey an seine Eltern

[226] Dilthey an seine Eltern Ihr liebsten Eltern!

(Berlin, [Anfang] März 1867)1

Wie begierig ich bin, von Tag zu Tag, von Vaters Befinden Nachricht zu erhalten, könnt Ihr denken. Hier ist so furchtbares Wetter daß alle Welt beinahe leidend ist. – Auch meine Gesundheit kommt erst wieder ganz ins Gleiche, wenn ich einige Zeit ganz lustig umherreisen kann. Ob ich dazu mir 8 Tage gewinne, weiß ich noch nicht. Kießling, ein dortiger Kollege, schrieb mir daß die Vorlesungen gesetzlich 29. April, faktisch 2–3 Tage später begännen, zugleich aber, daß ich ja früher kommen möge, da ich eine Antrittsvorlesung vor Bürgermeister und Rath der ehrsamen Stadt und meinen Collegen zu halten habe. Dies wirkte wie ein Schreckschuß! Denn eine solche will doch auch gemacht sein, und das Anständigste ist, wenn ich sie so mache daß ich sie drucken lasse, wozu ich mich auch entschlossen habe. Auch andre Dinge schrieb er mir, noch unlustiger anzuhören. 1. daß die Besoldung halbjährig post numerando bezahlt werde – ganz gegen allen sonstigen Brauch, wie er zufügte: eine Ermutigung zu leichtsinnigem Schuldenmachen und als solche unter das Strafgesetzbuch fallend. 2. Familiengeselligkeit hätten die deutschen Professoren dort so gut als gar keine, dagegen lebten sie in Kneipe und Natur recht gemüthlich zusammen! Schöne Aussichten! als ob ich mich dazu hergeben würde, mit ein paar Bekannten beim Wein herumzusitzen! Und nun gar mit den Schweizern, in deren Familien ich nicht wäre, im Wirtshaus zusammen zu schwatzen – das ist ein lotteriges Verhältniß, auf welches ich mich nie einlassen würde. Doch warte ich dies letztere sehr vergnüglich ab, während der Casus mit dem Gehalt mich beträchtlich erschüttert. Überhaupt wird das wohl einige Differenz geben: Kießling wie die andern 2 unverheiratheten Professoren, welche als seltene Vögel in Basel flattern, werden wohl hübsch faulenzen und machen sich nichts draus, im Nothfall 5 Jahre in Basel zu sitzen. Ich dagegen freue mich, endlich in ganz neuen Verhältnissen, ohne überall umspinnende Beziehungen, arbeiten, nachsinnen, reden, schreiben zu können; und ich gedenke nicht allzu lange in diesem Stadium meiner Carriere zu bleiben. Ein förmlicher Donnerschlag war mir eine Zeitungsnotiz: Lotze habe in Bonn abgelehnt; ich konnte gestern nicht Trendelenburg aufsuchen, aber sollte die Sache wahr sein, sollte also wirklich jetzt schon an die Besetzung der Bonner Stelle gedacht werden: so würde das ja meine liebste Aussicht, mit Hermann und Lily zusammen zu leben, kreutzen. Nur noch ein Jahr! und ich könnte vielleicht Ansprüche an die Stelle machen;

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Dilthey an seine Eltern

sehr hart wäre mir aber, wenn sich mir Bonn jetzt zuschlösse, wo ich leben und sterben möchte. Der große Zauderer Reimer kommt immer noch nicht dazu, mit dem Druck anfangen zu lassen. Ich habe nichts dagegen da auch ich sehr langsam fortrücke. .|.|. Wie glücklich preise ich Leute welche, wenn sie ihre ordentliche Professur erreicht haben, sich sagen, nun ruhe Dich einmal ordentlich aus! Ich bin unruhiger als zuvor. Gesellschaftlich ist der Trouble jetzt hier über alle Beschreibung. Braun2 habe ich noch nicht gesehn, werde [es] aber wohl in diesen Tagen. Er ist in die nationale Fraktion (Twesten, Lasker,3 Bennigsen, Forckenbeck4 etc.) getreten, bei welchen ja jetzt alle Wünsche der Tüchtigen sind. Diese wie die Linke ist gegen die Behandlung des Budgets in der Gesetzvorlage der Regierung, hoffentlich auch die altliberale Parthei; in diesem Falle wäre eine Majorität da, mit welcher die Regierung gewiß ein Compromiß eingehen würde, das dann etwa aus der Mitte der altliberalen Parthei käme. Scholz und Frau, zu denen ich jetzt gleich zu Tisch gehe, fühlen sich hier sehr in ihrem Esse. .|.|. Heut wird nach Tisch große Musik gemacht: könnten doch Mama und Mariechen dabei sein. Laßt bald von Euch hören und seid alle tausendmal gegrüßt von Eurem Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 116. 1

Datierung in JD: „Mitte März 1867“. Karl Braun (1822–1893): Politiker; 1848–1866 Mitglied und zwischen 1858 und 1863 Präsident der nassauischen zweiten Kammer, 1867 Mitglied des norddeutschen und des preuß. Landtags, 1871–1887 Mitglied des deutschen Reichstags. 3 Eduard Lasker (1829–1884): Jurist und Politiker; seit 1865 Mitglied des Abgeordnetenhauses, 1866 Mitgründer und eine der führenden Persönlichkeiten der nationalliberalen Partei im Abgeordnetenhaus, im norddeutschen und deutschen Reichstag. 4 Max von Forckenbeck (1821–1892): Politiker; 1858 Mitglied des Abgeordnetenhauses, 1866 Mitbegründer der Nationalliberalen Partei, 1866–1873 Präsident des Abgeordnetenhauses, seit 1867 Mitglied des Reichstags, 1873 Oberbürgermeister von Breslau, 1874–1879 Präsident des Reichstags, seit 1878 Oberbürgermeister von Berlin. 2

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Dilthey an Hermann Usener

[227] Dilthey an Hermann Usener März 18671 .|.|. Ich hoffe Du erkennst 1. welche anhaltende Sammelarbeit die definitive Erledigung kostet 2. wie ihr Gelingen die Ethik zu einer Wissenschaft machen würde und damit ein neues Gebiet der wahrhaft fruchtbaren Methode unterwerfen [würde]. Sobald der erste Band Schleiermachers erschienen ist, setze ich einige Monate daran, dieser Untersuchung die höchste Reife zu geben. Am liebsten würde ich die Zeitschrift2 mit ihr eröffnen. – Du kannst geltend machen bei denen, die von dergleichen eine Ahnung haben, wie ich zur Klasse der J.B. Meyer’schen „Forscher“ gehöre, also nicht mit bloßen Ideen herausbreche, Zeit brauche und vieljähriges geschichtliches Studium wie ich aber mit diesem Unternehmen, die moralischen Erscheinungen einer komparativen Methode zu unterwerfen, nach zweimaligem Ansatz und bei beständiger Arbeit mich nunmehr dem Abschluß nähere. Dieser Aufschluß von Dir und die erste Lieferung Schleiermachers müssen doch wirken d. h. man muß, unparteiisch genommen, einsehen, daß ich jedenfalls viel wirken kann, vielleicht doch auch wissenschaftlich tiefer eingreife in den kommenden Jahren .|.|. Dein treuster Wilhelm. Original: nicht überliefert; ein Typoskript des Brief-Fragments ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 17, 7. 1 2

In Typoskript: „Oktober 1867“. Vgl. Brief 220, Anm. 2.

[228] Dilthey an Konstantin Rößler1 Berlin, Wilhelmstraße 40.a d[en] 9ten März [18]67. Lieber Freund, haben Sie schönsten Dank für die Wünsche mit denen Sie mich in meine Baseler Professur begleiten. Denn Ach! Mehr als Wünsche sind Ihre Erwartungen demnächstiger Opera nicht. Wäre ich hier geblieben, wie ich das denn

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Dilthey an Konstantin Rößler

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auch aus Gründen der Zweckmäßigkeit für mein Vorankommen mit Trendelenburg sehr ernsthaft überlegt habe, so hätte ich mich mit meinen bisherigen Collegen noch ein Jahr begnügen dürfen; meine eigenen systematischen Gedanken wären nicht so von allen Seiten durchgearbeitet worden wie nunmehr geschieht; aber ich hätte ganz anders schreiben können. Eben als die Berufung kam waren auch die ersten Capitel einer eigene Ideen darstellenden Schrift geschrieben. Nun aber brüte ich über der Psychologie die ich gewiß im Sommer lesen muß; im Winter darauf Wissenschaftslehre und – Pädagogik, welche mich im denkbar höchsten Grad interessirt mir aber wie ein unentdeckter Welttheil ist. Sie imaginieren mit Ihrer Kenntniß von Vorlesungsmühsalen was das für ein Leben giebt, den Schleiermacher hinzugenommen! Diesen betreffend habe ich jetzt den Salto mortale gemacht, endlich den Druck anfangen zu lassen.2 Eben wird an den Druckproben gearbeitet, die schwierig sind, da ich viel auf Einer Seite haben will u. doch wirkliche Eleganz. Es erscheint bei Reimer. Aber das dritte Buch des ersten Bandes,3 etwa 8 Bogen, muß, freilich auf Grund früherer vielerwogener Ausarbeitungen, in Basel noch im Sommer geschrieben werden. Für den zweiten Band komme ich im Herbst hierher, soweit es gestattet wird die Archive des Kultusministeriums u. Staatsarchive zu benützen. Über die Anordnung des Systems selber bin ich endlich in den entscheidenden Punkten im Reinen; doch bleiben einige Schwierigkeiten über die ich gern mit Ihnen spräche. Freilich bleibt der interessanteste Theil des Lessing zurück!4 Ich hoffe daß auch Ihre Erwartungen befriedigt sein werden – was überraschendes Finden betrifft. Und daß ich die Anwendung des neu gegebenen auf die offenen Fragen, um so kurz als möglich zu sein, einfach den Lesern überlassen habe – so z.B. was nun endgültig von der Erziehung des M[enschen] G[eschlechts]5 zu halten sei, wie Nathan6 im Einzelnen zu verstehen – ist Ihnen gegenüber kein Nachtheil. Es wäre übrigens wunderschön wenn Sie wieder eine weitere Untersuchung daran anknüpften.7 Wüßte ich daß dazu Hoffnung wäre, so würde ich im Stande sein extra nach Hamburg zu kommen um einen ganzen Tag Sie dazu aufzustacheln! Lassen Sie ja gleich hören sobald Sie die in 8 Tagen erscheinende zweite Abtheilung gelesen haben wie Sie davon denken.8 Wenn Sie nicht selber einen weiteren Aufsatz schreiben: so bitte ich sehr um Ihre Abweichungen Zusätze und kritischen Bemerkungen; denn ich betrachte den Aufsatz nur als einen ersten Entwurf meiner Ansicht (daher er auch stylistisch so vernachlässigt ist) und Sie sollen ihn in nicht zu später Zeit in ganz andrer Gestalt wieder erblicken, neben [einem] über Herder, Göthe, Novalis, Tieck, dem Gang der geschichtlichen Anschauung in Deutschland.9 Es ist arg; nun muß ich auch eine Antrittsvorlesung in Basel vor Bürgermeister und Rath der edlen Stadt u. Collegen halten; ich werde einen Punkt

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Dilthey an Konstantin Rößler

aus meinen beiden vorhandenen ethischen Untersuchungen10 nehmen und, um mir wie den Leuten ein Vergnügen zu machen, gleich drucken lassen. Ich gehe in der Mitte April weg, zunächst auf ein paar Tage zu meiner Schwester nach Bonn, von da über das elterliche Haus nach Basel. Den 3ten od[er] 4ten Mai beginne ich meine Vorlesungen; wenn es möglich wäre möchte ich ein paar Tage vorher am Vierwaldstädter See oder in Schaffhausen in Einsamkeit ausreisen, denn seit den Nachtwachen dieses Herbstes sind meine Nerven verstimmt und erschlafft, so daß ich zuweilen verzweifelt an meine alte Arbeitskraft denke. Meine Wohnung wird eben erst in Basel von Freunden gesucht; erfahre ich sie hier noch, so theile ich sie Ihnen mit; andernfalls reicht das ‚an der Universität‘ völlig aus, und sollte ich das Glück haben Sie plötzlich mit der Reisetasche auftauchen zu sehen (wobei ich meine Wohnung als Absteigequartier empfehle): so führt Sie auch dafür eine Erkundigung im Universitätsgebäude ganz sicher. Frau Dr. Jul[ian] Schmidt hat einen Brief an Ihre Frau schon geschrieben gehabt aber dann, glaube ich, nicht abgeschickt. Sie ziehen zum April in eine neue Wohnung, die etwas kleiner ist, wobei der Hauptvortheil daß die beiden jetzt versandten Schwestern von ihm für ewig von der Bildfläche verschwunden. Und nun empfehlen Sie auch Ihren Freund unbekannterweise Ihrer unbekannter Weise verehrten Frau aufs Beste u. lassen Sie bald über den Lessing Ihre Richterstimme vernehmen. Ihr treuster Wilhelm Dilthey. Original: Hs.; BA Berlin, K. Rößler-NL, N 2245, Nr. 64, 19–20 R. 1

K. Rößler war 1865–1868 im Auftrag des Ministeriums des Auswärtigen in Hamburg tätig. D.s Leben Schleiermachers, Bd. 1, 1. Lieferung (S. 1–152) erschien 1867 in Berlin im Verlag Reimer. 3 Das dritte Buch über Schleiermachers Zeit in Stolpe 1802–1804 sowie das vierte Buch, das die Jahre 1804–1807 in Halle behandeln sollte, wurden von D. nicht abgeschlossen. Der von ihm seit 1865 hierfür ausgearbeitete Plan mit Buch- und Kapitelüberschriften wurde erst postum in GS XIII/1 veröffentlicht. 4 D. nimmt hier Bezug auf seinen Aufsatz Ueber Gotthold Ephraim Lessing, dessen 1. Teil im Februar 1867 in: PJ 19, Heft 2, S. 117–161 erschienen war. 5 G.E. Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts. Berlin 1780. 6 G.E. Lessing: Nathan der Weise. Dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen. o. O. 1779. 7 Vgl. K. Rößler: Neue Lessingstudien, in: PJ 20 (1867), S. 268–284; WA in: GS XXV, S. 495–505. 8 Der 2. Teil von D.s Lessing-Aufsatz erschien im März 1867 in: PJ 19, Heft 3, S. 271–294. 9 Das hier angesprochene Buchprojekt wurde erst 1906 durch Das Erlebnis und die Dichung realisiert, in dem neben Lessing auch Goethe, Novalis und Hölderin behandelt wurden. 2

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Dilthey an Konstantin Rößler

10 D.s Dissertation De principiis ethices Schleiermacheri von 1864 und seine Habilitationsschrift Versuch einer Analyse des moralischen Bewußtseins (1864). – D.s Antrittsvorlesung in Basel hatte den Titel Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770–1800. Sie wurde erst postum veröffentlicht in: GS V, S. 12–27; Teile des Manuskripts hat D. in der Einleitung zum Leben Schleiermachers verwendet.

[229] Dilthey an Wilhelm Scherer Liebster Scherer,

[Berlin, 10. 3. 1867)1

So wenig Zeit ich habe oder eigentlich ein unglaubliches Deficit: so muß ich doch für den Abraham2 aufs Schönste danken und meine große Freude daran aussprechen; zugleich petitioniren daß Sie hübsch früh hier eintreffen, da ich Mitte April hier abreise, damit ich doch auch noch was von Ihnen habe. Den Abraham finde ich ganz erschöpfend erklärt, sodaß ich nicht weiß – nach meiner Kenntnis der Sache – was ein Künftiger noch zur Erklärung hinzufügen sollte als bestätigende Einzelheiten. Diese angenehme Pflanze ist nun für immer bestimmt, untergebracht und nach ihren geographischen Bedingungen auf ganz bestimmte Felder verwiesen. Sie wissen daß ich von den Sachen lieber rede als von der Form der Darstellung: deßwegen sage ich nichts über unsere Differenzen in dieser Beziehung, welche hier in der ganzen Anordnung liegen. Williram noch heute ungelesen. Aber Sie müssen auch bedenken, wie mir’s geht. Ich habe mich entschlossen, Psychologie zu lesen im Sommer, um diesen letzten großen Block, der mir an vielen Stellen die Aussicht versperrte, gleich wenigstens in eine rollende Bewegung zu bringen. Ängstlich wie ich bin, mich nicht zu präoccupiren durch Aufstellung schöner bestimmter Sätze, die nur falsch sind u. die man dann sein Leben mit sich schleppt, in der Regel wenigstens, auch wo man’s gar nicht fürchtet: quälen mich die nothwendigen ersten Annahmen, ohne die man nicht das einfachste psychologische Gesetz aussprechen kann, entsetzlich. Nun höre ich jetzt auch daß ich eine Antrittsvorlesung vor Bürgermeister, Rath und Collegen halten soll; muß das sein, so will ich wenigstens das Plaisir davon haben, irgend etwas was mir auf dem Herzen drückt loszuwerden und in zwangloser, anspruchsloser Form unter die Leute zu bringen. Und zwar habe ich mir dazu etwas von den moralischen Untersuchungen ausersehen, deren Ausarbeitung Ihnen ja auch wünschenswerth erschien. Ich hoffe daß der Gedanke an den ehrs[amen] Bürgermeister u. d[ie]

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Dilthey an Wilhelm Scherer

Rathsherren des biedren Schweizerortes mir eine unerhörte Deutlichkeit abzwingen wird. Sie kennen ja die Grenze derselben bei mir, die in meiner Abneigung gegen verfrühte oder einseitige wenn auch glänzende Formulirungen liegt. An Lessing konnte ich leider nichts mehr ändern – die Lücke Bonnet betreffend natürlich ausgenommen.3 Sobald der zweite Theil da ist, erhalten Sie das Ganze. Wenn Sie hier sind, will ich Ihnen einen Plan vorlegen, diese Aufsätze und andre, die halb fertig geschrieben daliegen, zu einem Ganzen (wie es wirklich vor den Theilen da war) zu verbinden, das für das Studium der Literaturgeschichte von Nutzen sein könnte.4 Und nun machen Sie, liebster Freund, daß man Sie bald hier hat. Diese ist die einzige Störung welche ich mit wahrem Vergnügen voraussehe. Lassen Sie mich auch womöglich (durch Fr. D[uncker] etwa) ein Wort wissen, wann Sie da sein werden. Ich muß vom 1 April bis zu meiner Abreise, etwa d[en] 15ten, in einem chambre garnie wohnen; wie wundervoll wäre wenn wir da in Einem Hause wohnen könnten, falls Ihre Arbeiten Sie hindern bei Dunckers Wohnung zu nehmen. Mit tausend Grüß[en], auch von Erdmannsdörffer, für den sich hoffentlich d[urch] Waitz’ Weggang Aussichten, etwa nach Greifswald, aufthun.5 Ihr treuster Wilhelm Dilthey Was wir übrigens auch besprechen müssen, sind hübsche Sommerpläne und Herbstpläne: wie soll man sonst bei Psychologie, Druck und lokaler Einsamkeit im Sommer aushalten? Der Druck verzögert sich noch, weil Reimer neue Lettern bestellt hat da ich es zugleich zierlich u. doch sehr compreß haben will. Es muß doch in zwei nicht abschreckende Bände! Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 6; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 6; Erstdruck: JD, Nr. 115. 1

Im Original: nachträgliche Datierung von der Hand Scherers: „10.3.67?“. W. Scherers Pater Abraham a Sancta Clara war im Januar 1867 in den PJ 19, S. 67–98 erschienen, sein Leben Willirams bereits 1866. 3 D. behandelt in seinem Lessing-Aufsatz den Einfluss des schweizer Naturforschers und Philosophen Charles de Bonnet (1720–1793) auf Lessings Seelenwanderungslehre. 4 Dieser Plan wurde erst fast vierzig Jahre später in D.s Buch Das Erlebnis und die Dichtung realisiert. 5 Erst im Dezember 1870 erhielt Erdmannsdörffer einen Ruf als o. Prof. der Geschichte an die Universität Greifswald; einen 1869 zuvor an ihn ergangenen Ruf an die deutsch-russische Universität Dorpat hatte er abgelehnt. 2

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Dilthey an seine Mutter

[230] Dilthey an seine Mutter Liebste Mama!

(Berlin, März 1867)

.|.|. Ich gehe nicht fort, bis meine Arbeiten an einem bestimmten Punkt sind, und sollte ich mit dem Courierzug direkt nach Basel fahren! Lessing muß Papa zusammenheften lassen, damit er lesbar wird. Er thut hier sehr gute Wirkung, wie noch nichts, was ich geschrieben. In Gesellschaft bringt mich nur etwas ganz Besonderes, Persönliches. Scholzens sehe ich nur Sonntags zwei Stunden, bei Tisch. Du irrst überhaupt sehr, liebe Mama, wenn Du glaubst, daß ich Neigung besäße, mit mir angenehmen und lieben Menschen, wie sie sind, nun viel zusammen zu sein, und daß ich sie in Basel vermissen würde. Ein solches behagliches Zusammensitzen als solches, mit „guten Freunden“ hat leider für meine rastlose Natur gar keinen Reiz. Wie wunderbar, liebste Mama, ist daß Ihr mich so garnicht kennt; ich, eine so unruhige und leidenschaftliche Natur, die nur durch Einsamkeit und Philosophie sich fassen gelernt hat, werde von Euch für eine behagliche Seele genommen, die sich über wenig ärgert, nie aufbraust, gern gemüthlich mit gemüthlichen Menschen zusammensitzt. Sähet Ihr mich einmal 8 Tage hier leben, so durch einen wunderbaren Ring in die Ferne blickend, der alles durchsichtig macht: so käme Euch, wie ich’s treibe, wohl sehr fremdartig vor. Meine beste Hoffnung ist, in Süddeutschland oder der Schweiz jemand zu finden, den ich ungeheuer lieb haben kann. Dann werde ich gern mit guten Leuten zusammensitzen, weil das bloß Nebensache ist, gern Ruhestunden halten – kurz etwas von dem werden was Ihr denkt, und wovon ich genau das Gegentheil bin. Der Tag, an welchem mir dies begegnet, soll zeitlebens für mich der höchste Festtag sein. .|.|. Wenn ich erwäge, welchen Respekt ich hier für mich in der Gesellschaft erreicht habe, wie ich geehrt und geliebt werde – und grade in diesen Dingen liegt für mich gar kein Glück. .|.|. Noch einmal Adieu Euer Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 117.

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Dilthey an Ernst Reimer

[231] Dilthey an Ernst Reimer Verehrtester Freund,

[März 1867]1

Ich bin sehr froh über Ihre Nachricht daß heut der Satz beginnt. Die Probe mit den zwei weggeschnittenen Zeilen, die ich zuletzt erhielt finde ich recht hübsch und bin ganz damit einverstanden. Hier schicke ich das erste Capitel, S. 1–16 und komme heute selber mit einem ansehnlichen Pack. Ihr ergebenster Wilhelm Dilthey Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 24. 1 Im Original: nachträgliche Datierung von fremder Hand: „Dilthey. Hier 67“; vermutlich wurde der Brief im März 1867 geschrieben, denn bereits im April 1867 schreibt D. an E. Reimer, dass sich die Denkmale in dem Petitdruck „zu schlecht“ lesen ließen (Brief 236).

[232] Dilthey an Konstantin Rößler Lieber Freund,

[Ende März/Anfang April 1867]

Sie bekommen nur sehr prompte Antwort,1 da mich ein Schnupfenfieber das ich von der Expedirung meiner Bücher und sonstigen Habseligkeiten davon getragen habe auf Erledigung von Briefen anwies. Dies Frühjahr sehen wir uns leider nicht mehr, da der Gesundheitszustand meines Vaters mich wieder nöthigt sobald ich hier abgeschlossen habe nach Hause zu eilen. Wir müssen dann für den Herbst eine Vorsorge treffen. Daß Sie von meinem Aufsatz2 aus weitergehen wollen freut mich sehr. Die geschichtliche Anschauung ist ja ihrer Natur nach unendlich. So erscheint naturgemäß die Bedeutsamkeit eines Menschen für einen jeden neuen Betrachter anders und neu. Sie werden bemerkt haben daß ich mich wohl hüte, diesem Verhältniß entsprechend, alle wichtigen Anschauungen Lessings mittheilen zu wollen, geschweige denn alle Gesichtspunkte für unsre Anschauung dieser Anschauungen. Jede Ergänzung ist mir daher hoch willkommen. Daß der genetische Zusammenhang den ich aufstelle, oder gar mein thatsächliches Resultat über die einzelnen Zusammenhänge seiner Forschungen falsch sei – was freilich etwas ganz Andres wäre und wirklich schlimm! – das fürchte ich

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Dilthey an Konstantin Rößler

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nicht. Ich habe selber ein großes Detail zurückbehalten, das jeden Hauptpunkt näher bestätigen kann. Der Aufsatz macht übrigens merkwürdiges Glück. Selbst Droysen höflichst interessirt u. contentirt! Ebenso Trendelenburg, der sich auch wieder in die Lessingschen Schriften zur Nachprüfung eingelassen hat. Eine solche Nachprüfung hat Scherer vorgenommen indem er fast ¼ Jahr in s[einer] Litt[eratur]g[e]sch[ichte] ([.|.|.]) bei Lessing stehn geblieben ist und er hat gefunden wie er schreibt,3 daß an den Resultaten auf welche es mir ankommt nichts zu ändern ist, natürlich aber Anderes zur Ergänzung gefunden werden kann, wovon er ebenfalls verschiedenes in petto hat. Ebenso hat Gosche in Halle die Sache untersucht und ist höchst contentirt: über einige Punkte wollte er noch in diesen Tagen mit mir sprechen. (Unzufrieden war nur Jul[ian] Schmidt wegen des kecken Tons gegenüber sämmtlichen hochachtbaren Litterarhistorikern, den einzigen Gervinus ausgenommen.) Aber besser freilich als alles Lob ist wenn ein Zweiter wie Sie die Sache selber weiterführt. Ich freue mich unbändig darauf. Hier sitze ich nun in der Bibliothek meines Freundes J[ürgen] B[ona] Meyer (Matthäikirchstraße 19), arbeite Psychologie, dann eine Antrittsvorlesung: Versuch einer neuen Theorie des sittl[ichen] Urtheils, die ich dann drucken lassen werde etc. J. Schmidts wohnen jetzt Jägerstraße 11, parterre – kleinere Wohnung – Schwestern abgereist. Adieu. Der Kopf schmerzt mich unbändig. Eine Wohnung in Basel habe ich, weiß aber dieselbe ([.|.|.]) nicht. Schreiben Sie ‚Prof. d[er] Philos[ophie] an d[er] Univ[ersität]‘ so kommt ja der Brief an. Aber halten Sie auch hübsch Wort. Man muß mit den wenigen Menschen die mit wahrem Beruf verwandte Studien betreiben gute Nachbarschaft halten, wenn man seines Arbeitens froh werden will. Das Schönste wäre schon, Sie überfielen mich in Basel selber, wo ich eine sehr hübsche Wohnung habe und Freunden die behaglichste Existenz versprechen kann. Gerade die Zeit in der wir uns nicht mehr gesprochen ist für meine eignen philos[ophischen] Untersuchungen entscheidend gewesen u. wir haben endlos zu sprechen u. stehen auch wie ich glaube jetzt niemandem viel näher. Also auf Wiedersehen in Basel, mit meinen ergebensten Empfehlungen an Ihre Frau Ihr treuster Wilhelm Dilthey. Novalis steht im sechsten Heft des Jahrgangs 1865.4

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Dilthey an Konstantin Rößler

Original: HS.; BA Berlin, K. Rößler-NL, N 2245, 64, 27–28. 1 2 3 4

Rößlers vorausgegangener Brief ist nicht überliefert. D.s Lessing-Aufsatz. Dieser Brief ist nicht überliefert. D.s Arbeit Novalis ist abgedruckt in: PJ 15, Heft 6 (Juni 1865), S. 596–650.

[233] Dilthey an seinen Vater Liebster Vater!

Basel, [Ende April] 18671

Meine Lampe brennt so behaglich, auf meinem Tisch vor mir stehen frische Nägelchen,2 eben aufgebrochen – da schiebe ich denn meine Materialisten, an denen ich kaue, ein wenig auf die Seite, ein erquickliches Gespräch mit Dir zu führen. Mit Basel geht mir’s wunderlich.3 Die Lage der Stadt finde ich anmuthig; die Art wie sich alles für die Universität interessirt, sehr wohltuend; auch Menschen finde ich, die mir sehr wohl gefallen – eben ging noch der Physiologe His4 von mir, mit dem ich eine sehr angenehme und unterrichtende Stunde hatte –: dennoch liegt ein Druck auf mir, halb aus Heimweh nach Euch, halb doch aus etwas Andrem gemischt. Es liegt etwas so Enges in der Art der Menschen, zu denken und zu sein. In Berlin giebt jeder sich ganz gerade, offen, ohne besonderen Argwohn. Hier finde ich selbst bedeutende Menschen wie Burckhardt, sehr weltkundige wie die beiden Vischer5 mißtrauisch, beobachtend, als wäre bei dem Gegenüber auf verborgene Fangeisen irgendwo zu rechnen, in die man treten könne. Noch mehr fällt etwas andres auf: ein Mangel an Glaube, an Zuversicht auf die Welt. So war mir ganz überraschend, wie ein Mensch wie Burckhardt plötzlich damit hervorkam: er habe wenig Hoffnungen in irgend einer Art, Europa werde alt, mit unsrer Kultur neige es zu Ende. Wahrhaftig man müßte das letzte Jahr in Berlin nicht erlebt haben, um solche Ideen auf etwas Andres als Unkenntniß der eigenen Zeit zurückzuführen. Das macht so eng, daß man sieht, wie hier Alles doch aus einem Winkel gesehn und beurtheilt wird. Das macht sich dann auch darin geltend daß niemand hier fast an Schreiben denkt: der Wirkungskreis an der Universität wird als allein wichtig angesehn. Dies hat die meist sehr störende Folge daß die Vorlesungen auch von den Tüchtigsten als ausschließlicher Lebenszweck behandelt werden. Obenan steht dabei mein Col-

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Dilthey an seinen Vater

lege Steffensen, von dessen Vortrag Wunderdinge erzählt werden. Ich, mit soviel Arbeiten auf dem Halse, werde also einen sehr schweren Stand haben. Ungemein gut hat mir Burckhardt gefallen. Er wollte gleich den Abend eine Kneiperei arrangiren: ich war aber so von Heimweh, oder wie ich es nennen soll, geplagt daß ich einen Vorwand machte. Er hat eben aus Tübingen einen Ruf ausgeschlagen, auf eine Anfrage aus Heidelberg verneinend geantwortet. Ein Vierziger im Anfang, mit schon ganz weißem Haar, das er kurzabgeschnitten trägt, muskulöse, schlanke Gestalt, lebendige Manieren, eine wundervolle Manier zu sprechen. Wie ich bis jetzt sehe, kein großer ihn tragender Lebensinhalt. In meiner Wohnung bin ich jetzt eingerichtet. Doch muß ich sagen: ohne mich bis jetzt darin besonders behaglich zu fühlen. .|.|. Nun Ihr Liebsten laßt mich bald von Euch hören. Mir ist als ob ich zum ersten Male von Euch weggegangen wäre, unter wildfremde Menschen. Ich denke mit einer unbändigen Sehnsucht an Euch und an die Bonner. Seid tausendmal gegrüßt von Eurem Wilhelm Schützengraben 45. Basel. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 118. 1

In JD datiert auf: „Basel, Frühjahr 1867“. Nelken. 3 D. war um den 20. April 1867 nach Basel gezogen; auf dem Weg dorthin hatte er in Bonn Usener besucht. 4 Wilhelm His (1831–1904): Physiologe und Anatom, seit 1857 Prof. in Basel. – Bei His, der vor allem „durch seine Arbeiten zur allgemeinen und speziellen tierischen Entwicklungsgeschichte“ hervortrat, hörte D. im WS 1868/69 und im SS 1869 Physiologie-Vorlesungen und nahm auch an dessen Präparier-Übungen teil. Diese Zeit bedeutete für D. die „Hinwendung zur Psychologie ineins mit dem Studium von Johannes Müller und Helmholtz und dem Verkehr mit den Vertretern der Physiologie und Physik“. Einige Jahre danach (1870) hat er sie Scherer gegenüber so beurteilt: Er habe „dadurch einen ganz neuen Anstoß erhalten“. Es begann also für D. „in Basel das Sichhineinarbeiten in die damals vordringende naturwissenschaftliche Richtung, gegen deren Vorherrschaft in der Philosophie er selber dann später ankämpfen sollte.“ (JD, S. 314, Anm. 119 f. und in diesem Band Brief 340). 5 Gemeint sind Wilhelm Vischer-Bilfinger und Karl Vischer-Merian. 2

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Dilthey an Ernst Reimer

[234] Dilthey an Ernst Reimer [Ende April 1867] Verehrtester Freund, Heut erst komme ich dazu meine nähere Adresse hier in Basel zu schicken: Schützengraben 45. Von Eindrücken kann noch gar keine Rede sein. Unzählige Besuche gemacht nach hießiger Sitte. Ich schreibe demnächst sobald ich orientirt bin einen Familienbrief an Sie, Erdmannsdörffer, Meyer etc. In Bonn sah ich Brandis, der sich, ohne daß ich die geringste Andeutung machte, sehr freundlich aussprach. Ich bitte sehr doch ja sobald Aushängebogen da sind, sie zu befördern an: Dr. Usener, Prof. der Philologie, Poppelsdorffer Allee zu Bonn. Ebenso den Druck nicht pausiren zu lassen, sondern jetzt mit den Anmerkungen zum ersten Buch vorzugehen. Es ist sehr wichtig für mich. Dem Setzer bitte ich das einliegende Blatt mitzutheilen.1 Soviel in großem Wirrwarr. Demnächst nähere Nachricht. Empfehlen Sie mich Ihrem Herrn Vater und behalten in gutem Andenken Ihren ergebensten Wilhelm Dilthey Schützengraben 45. Basel. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 21. 1 „Für die Druckerei. M[eine] Adresse: Schützengraben 45. Basel. 1. Sie haben doch das Manuscript bis S. 183 inclus[ive]? Ich bitte um ein Wort darüber. 2. Ich bitte auch das was Sie über den Bogen von Manuscript haben abzusetzen und mir im Abzug zu schicken, da ich gern am nächsten M[a]n[us]cr[ipt] bedeutend verkürzen möchte u. darum das Ganze vor mir haben, was noch bei Ihnen in der Druckerei ist. 3. Ich bitte gleich sobald Aushängebogen da sind sie verabredeter Maßen zu schicken: 1. an Frau Gräfin Schwerin. 1. an Dr. Usener, Prof. der Philologie zu Bonn, Poppelsdorffer Allee. 1 oder wo möglich 2 (im letzten Fall müßte 1 Exemplar v[on] Bog[en] 1 u. 2 mir nachgeliefert werden) an mich: Schützengraben 45 Basel. 4. Sobald als möglich die Probe des Satzes der Anmerkungen zu schicken, mit welchem vorgegangen werden muß.“

[235] Dilthey an Herman Grimm [Ende April 1867]1 Mit einem Wort wenigstens, lieber Freund, muß ich Ihnen für Ihren Roman2 danken und meine große Freude aussprechen. Als er kam hatte ich gar keine Zeit ihn zu lesen; aber das half mir wenig, ich ward in Einem Zug bis

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Dilthey an Herman Grimm

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zu Ende fortgezogen. Er hat bei dem weitesten Gesichtskreis eine wundervolle Einheit und Einfachheit. Dies ist doch immer was der Form Classicität giebt. (Inzwischen Gelzer3 zwei Stunden bei mir gesessen: ich muß mich förmlich erst fassen; er umspannt so ganz vergnüglich die gesammte Weltgeschichte). Mit Arthur4 allein bin ich nicht ganz einverstanden: das Elementare in seiner Natur, welches durch natürliche Züchtung einmal drinsitzt, tritt nicht nur für den äußerlich Betrachtenden zumeist hinter seinen Erscheinungsformen zurück: man muß sich jedesmal wann eine Eruption erfolgt förmlich umdenken. Also bei der nächsten Auflage ein paar Striche, welche den Zusammenhang aufrecht erhalten! Soviel aus meiner ersten nächtlichen Lektüre die zu rasch war und erst einsetzte wo Ihre Vorlesung aufgehört hatte. Sobald ich einen freien Tag vor mir sehe, will ich gründlich lesen – ja wahrscheinlich darüber schreiben.5 Gelzer meinte: in die Monatshefte? Was meinen Sie dazu? Jedenfalls ist das eine Gegend in der Sie sonst keinen Freund haben. Von Basel noch nichts. Ich habe meinen Vater so schwer leidend verlassen müssen daß mir noch zur Stunde alle Neigung zum Leben mit andren Menschen fehlt. Dazu mochte ich nirgend davon sagen um nicht bemitleidet zu werden: und Sie wissen doch daß ich zu Zeiten sehr nöthig habe mich auszusprechen. Burckhardt hat mir ungemein gefallen. Er sagte daß Ihre Holbeinarbeiten6 die Fragen bedeutend gefördert hätten, weil sie auf umfass[endem] Stud[ium] der literar[ischen] Quelle, besonders erasmisch[er] Briefe basirt seien, was man sonst b[ei] den Kunsthistorikern ganz vermisse. Wünschte sehr daß Sie die Holbeiniana weiter verfolgten. Nähres hörte ich nicht; er schlug mir vor den Abend mit ihm zus[ammen] zu sein, ich war aber so wenig gestimmt dazu. Soviel in großer Unruhe, da das Erwiedern meiner Besuche eben im Flor ist. Empfehlen Sie mich Ihrer Frau. Wenn Sie Erdm[annsdörffer] od[er] J. B. Meyer od[er] Scholz sehen tausend Grüße. Lassen Sie noch bevor ich zu ordentlichem Schreiben komme was Freundliches von sich hören. Über Ihren Roman schwirrt mir Tausenderlei durch den Kopf, doch will ist erst schreiben drüber wenn ich ihn noch einmal ganz im Zus[ammen]hang gelesen. Inzwischen ist schön zu denken daß doch in diesen unpoetischen Zeiten so etwas existirt. Ihr Wilhelm Dilthey Basel, Schützengraben 45.

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Dilthey an Herman Grimm

Dienstag fange ich an zu lesen. Vor mir liegt Helmholtz’ Optik7 und ich habe mich schon mit dem Physiker u. dem Physiologen hier in Rapport gesetzt. Das heißts Arbeiten! Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Brief 932. 1 Zur Datierung: Das Semester in Basel begann am Montag, 29. 4. 1867, und D.s erste Lehrveranstaltung fand am Dienstag, 30. 4. 1867, statt. Vermutlich wurde der Brief zwischen dem 24. 4. und 28. 4. geschrieben. 2 H. Grimm: Unüberwindliche Mächte. 3 Bde. Berlin 1867. 3 Heinrich Gelzer (1813–1889): Historiker; 1843–1850 Prof. der Geschichte in Berlin, lebte seit 1852 in Basel und war 1852–1870 Hg. der Protestantischen Monatsblätter für innere Zeitgeschichte. 4 Figur aus Grimms Roman. 5 Diese Absicht hat D. offenbar nicht realisiert. 6 H. Grimm: Holbein’s Geburtsjahr. Kritische Beleuchtung der von den neuesten Biographen Holbein’s gefundenen Resultate. Berlin 1867. 7 Hermann Ludwig Ferdinand von Helmholtz (1821–1894): 1849 Prof. der Physiologie in Königsberg, 1855 Prof. der Anatomie und Physiologie in Bonn, 1858 Prof. der Physiologie in Heidelberg, 1871 Prof. der Physik in Berlin. – Handbuch der physiologischen Optik. Leipzig 1867.

[236] Dilthey an Ernst Reimer [Ende April 1867]1 Verehrtester Freund, Eben erhalte ich Ihre Sendung die sich mit meinem Brief gekreuzt hat. Zuerst meinen herzlichen Glückwunsch Ihnen und Ihrer verehrtesten Frau zu dem Töchterchen. Möge es weiter so gut gehn. Ich hier laborire sehr stark an Heimweh, Besorgniß für meinen Vater, den ich schwer u. schmerzlich leidend verließ. So dankbar ich erkennen muß wie freundlich man mir hier entgegenkommt: so bin ich doch noch unter den Menschen wie in einem halben Traum, ganz so wie ich in Berlin in den aufgeregten Besorgnissen der letzten Wochen war. Es trägt sich viel leichter am Bett eines so schmerzhaft Leidenden zu sitzen als in so weiter Entfernung seine Athemzüge nachzuzählen. So weiß ich denn auch noch wenig wie mein Leben sich hier gestalten wird. An ausgezeichneten Menschen die freundlich entgegenkommen ist kein

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Mangel. So Hiß, der Physiologe der Universität, Burckhardt der Historiker. Das Manuscript bedarf ich für die Correktur wohl nicht für die nächsten Bogen des Textes; dagegen kann ich es für die Anmerkungen (dh. die ‚Denkmale‘)2 nicht entbehren, weil ich für diese die Citate hier nicht nachschlagen kann. Für das Manuscript das ich von hier schicke kann ich mir leicht helfen durch Notizen, die ich mir hier aus denselben mache. Die ‚Denkmale etc.‘ lesen sich leider, wie Sie auch bemerkt haben werden, zu schlecht in dem Petitdruck. Man muß die Augen sehr anstrengen und wird doch nicht durch anmuthige Sauberkeit des Drucks entschädigt, da die Buchstaben wie ich auch fortdauernd aus den Anmerkungen der Aushängebogen ersehe, (Eine Zwischenbemerkung: die beiden Aush[änge]bogen 3 u. 4 sind überhaupt in Bezug auf Geradlinigkeit nicht mehr so exakt, besonders die Überschriften schwanken) ganz unheilbar in der Linie differiren. Wir müssen also doch zu Ihrem ersten Vorschlag zurückgreifen: mit den Lettern des Textes compreß zu drucken. Nur daß hier die richtige Linie eingehalten wird, in welcher der zusammengedrängte Druck sich noch gut liest. Wollen Sie die Fürsorge hierfür übernehmen: so brauche ich keine Probe mehr und es kann gleich mit dem Druck der Anmerkungen vorgegangen werden. Besser wäre freilich, es gäbe Lettern irgend welcher Sorte, welche zwischen denen des Textes und dem Petit mitteninne stünden. Den Setzer bitte ich, mir doch den Rest von Manuscript des Textes den er hat gesetzt zu schicken wegen der Abkürzung des folgenden (ohne Manuscript mitzusenden). Hat er das Manusc[ript] bis S. 183 incl[usive] in Händen, so bedarf ich weiter keine Notiz; wenn nicht so bitte ich umgehend um eine solche wie weit er dasselbe hat. Endlich bitte ich noch um einen Abzug des 5ten Bogens vor dem Druck: in der Verwirrung der Abreise hat J. B. Meyer für mich die Revision vorgenommen. Wenn Sie Erdm[anns]d[örffer] sehen: daß ich ihm und J. B. Meyer demnächst einen Collectivbrief schreiben werde, mit tausend Grüßen. Empfehlen Sie mich Ihrem Vater u. d[en] Ihrigen. Ihr ergebenster Wilhelm Dilthey Schützengraben 45. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 19–20.

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1

Dem Original ist ein Blatt beigelegt mit der Aufschrift: „Dilthey Basel 67“. Gemeint ist der Anhang zu seinem Buch Leben Schleiermachers, in dem D. Texte aus Schleiermachers Nachlass zusammengestellt hat: Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers erläutert durch kritische Untersuchungen, S. 1–145. 2

[237] Dilthey an Wilhelm Scherer 12. 5. 18671 Liebster Scherer, Ich sitze hier auf einer Altan der Frohburg,2 die Alpenkette des Berner Oberlands vor Augen: wohin ich mich auf 2 Tage geflüchtet habe. Gedenke meiner Freunde. Hätte ich Sie doch nur Einen Tag hier: wie schön sollte er werden. Ich bin von Arbeitsleidenschaft für die Psychologie so besessen daß ich mich nur hüten muß, nicht drüber krank zu werden. Mit meinen Vorlesungen geht’s vortrefflich. Trotz d[em] daß Steffensen, einer der besten philos[ophischen] Docenten in D[eu]tschl[and] u. Schweiz, seine Gesch[ichte] d[er] Philos[ophie] 6 stündig fortsetzt, habe ich es gleich in d[ie]s[em] erst[en] Semester schon jetzt auf 25 in der Psychologie gebracht: Publika sehr gut. Sehr interessante Menschen hier. Besonders Steffensen, eine wundervolle Erscheinung; in ihrer Art unvergleichlich, dann Burckhardt. D[ie]se beiden drücken dann freilich schwer auf alle Fakultäten, ausgenommen die medicinische. W. Vischer, d[as] Haupt d[er] Philologie hier, neulich traurig: seine Forts[etzung] d[er] griech[ischen] Litt[eratur]gesch[ichte] garnicht z[u] Stand gek[ommen], d[ie] Student[en] 6 Stunden Steffensen, 4 Burckhardt, ein Theil noch 4–6 Stund[en] b[ei] mir – was wird da aus der Philologie? Wackernagel3 ist auch sehr beliebt mit s[einer] Litt[eratur]geschichte. Besuch hab ich ihm noch nicht gemacht. Erdm[anns]d[örffer] hat Ihnen wohl geschrieben daß wir noch in Berlin den Beschluß gefaßt haben, falls Sie jetzt damit einverstanden sind, d[ie] vielbespr[ochene] Zeitschrift nächste Ostern anfangen zu lassen.4 Liebster Scherer, viel zu thun haben wir alle, aber diese Angelegenheit scheint mir wichtiger als alles Einzelne, was einer von uns thun könnte. Ich weiß mir vor Arbeit nicht zu helfen. Aber wenn es zu Stand kommt, verpflichte ich mich mit Freuden, 1. einen einleitenden Auf[satz] üb[er] Philos[ophie] u[nd] Gesch[ichte], am liebst[en] mit Ihnen zus[ammen], jedenfalls mit allseitigen Beiträgen u. von uns vieren revidirt, sowie eine gründliche Untersuchung über

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die moralischen Erscheinungen, ihren geschichtl[ichen] Wechsel, das Stetige in ihm, den moral[ischen] Fortschritt usw. für den ersten Jahrgang zu liefern. Daß J[ürgen] B[ona] zugezogen, hat Sie wohl im ersten Augenblick gewundert. Er ist aber so vortrefflich ad extra, es ergeben sich so viele Geschäfte in Berlin bei dem Druck, bei dem sein guter Blick u. Wille sehr wesentlich sind, daß Sie gewiß zustimmen werd[en]. Dazu kommt daß wir ihm grad b[ei] m[einem] Weggang beide persönlich so sehr nahe getreten war[en], ihn wahrhaft lieb gewonnen haben, u. aus den Gesprächen in d[en] letzt[en] Tagen ergab sich so lentement der Gedanke, schon Ostern anzufangen d. h. wenn Sie wollen: denn dies habe ich als Bedingung aufgestellt, mit welcher der Termin z[u] Ost[ern] steht u. fällt und Erdm[anns]dörffer ist mir beigetreten. Von Erdm[anns]d[ör]ffer h[a]ben S[ie] wohl schon d[ie] provisor[ische] Mitarbeiterliste, engere u. weitere, erhalten, ebenso Nachricht über den ersten Modus des Vorangehns. Sie müssen z[u] d[e]rs[elben] noch Ihr Gutachten zufügen oder aus ihr streichen sowohl in Bezug auf engeren als weiteren Kreis u. die bezeichnen, an welche Sie sich brieflich wenden wollen. Hauptpunkt daß ein klares Programm da sei, welches unser gegenseitiges Einverständnis ausdrückt u. den ersten Operationen zu Grund gelegt werden kann. Mit diesem Brief zugleich schreibe ich nach Berlin u. schicke mit solches das ich hier heute früh entworfen als ersten Entwurf. Ist es dort mit Abänderungsvorschlägen versehen so geht es dann, an Sie, damit Sie über denselben urtheilen u. selbst abweichende zusetzen. Dies Programm w[ird] doch dann bei den Briefen an die Engeren zu Grunde gelegt doch mit völliger Freiheit nach den besonderen Zwecken und für die lithographirte Ankündigung im Herbst fortgebildet, die lithographirte Ankündigung und Einleitung an die weiteren Mitarbeiter würden wir dann auf unserem Berliner Congreß beschließen und von dort aus zusammen erlassen. Das Nächste: daß Sie in Einem Wort an mich Ihr Ja u. Amen aussprechen zu dem ganzen Plan, möglichst Ostern z[u] beginnen! wo möglich umgehend! Grimms Roman hat mir ungeheure Freude gemacht. Habe nur Eins auszusetzen. In dem Hauptcharakter ist die elementare Gewalt, mit welcher die natürl[iche] Züchtung e[iner] vielhundertjähr[i]g[en] Adelsfamilie wirks[am] ist, durchaus nicht wirklich anschaulich. Man sieht einzelne tolle Handlungen und G[e]d[an]kenwend[un]gen, wie in d[er] Horchscene u. dann als er an die Adeliche als künftige Frau denkt: aber d[ie] Motivation selber ist in Dunkel gehalten, nicht so deutlich in kleinen Zügen angelegt daß man nicht überrascht wäre. Es sieht wie Prägnanz aus, es fehlt aber doch wohl hier Realismus. Meinen Sie nicht? Aber das ist nur was mir fehlt. Was da ist, find ich eminent.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

Nun Liebster, lass[en] Sie einmal ein Wort von sich hören. Wenn Sie zustimmen, werden wohl die Berliner das Äußere mit Ihnen verhand[e]ln. Ergeben dann d[ie] Briefe an einige Hauptpersonen günstige Resultate: dann halten wir im Herbst in Berlin einen Convent und organisiren die beiden oder wo möglich drei ersten Vierteljahrshefte. Meine Wohung: Basel, Schützengraben 45. Von ganzem Herzen Ihr W. Dilthey Entschuldigen Sie diesmal den hastig[en] Brief. Der Bogen lag neben Helmholtz’ physiol[ogischer] Optik d[ie] ich hierher mitgenommen. [.|.|.] Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 7; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 7; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 119. 1

Im Original: nachträgliche Datierung von der Hand Scherers. Auf einem Höhenzug gelegene Burg in der nordwestlichen Schweiz. 3 Wilhelm Wackernagel (1806–1869): Germanist; seit 1835 o. Prof. der deutschen Literatur in Basel. – Geschichte der deutschen Literatur. Ein Handbuch. Basel 1848. 4 Das Zeitschriftenprojekt, das W. Scherer, B. Erdmannsdörffer, H. Grimm und D. planten, kam nicht zustande; vgl. hierzu T. Kindt/H.-H. Müller: Dilthey, Scherer, Erdmannsdörffer, Grimm – ein ‚positivistisches‘ Zeitschriftenprojekt in den 1860er Jahren, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 22 (1999), S. 180–188. 2

[238] Dilthey an Wilhelm Scherer [20. 5. 1867]1 Liebster Scherer, da sitzt jemand, nach anstrengenden Wochen, in glücklicher Einsamkeit, in welcher ihm einmal zu Theil wird, sich zu fühlen, in eine thätige Zukunft zu blicken; ein Tischchen, aus gebogenen Weiden roh zusammen gezimmert, steht vor ihm; und wie er, die Augen den Gebirgslinien, die zu verschwimmen beginnen, folgend, der Freunde gedenkt, schreibt er da, im Abenddunkel, und bei einem Talglicht dann, einem den er lieb hat in fliegender Eile. – Aber der das that schreibt ohnehin wohl die schlechteste Hand in Deutschland, ist auch seinen Stimmungen, auf und niedergehenden, mehr als billig unterthan; und so kommt eine Antwort: ein wenig Schelten: ein wenig viel Ironie – Schade!

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Dilthey an Wilhelm Scherer

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Zu den Sachen also. Unsere Verabredung war daß Erdmannsd[örffer] Ihnen baldigst schriebe. Kann sein daß dies unterblieb, weil mein Programmvorschlag immer nicht erschien, obwohl dieser Ihnen ja doch nichts Neues würde sagen können, also in keiner Beziehung zu der Mittheilung an Sie stand. Nun will ich nur selbst die Hauptdata geben über die äußerl[iche] Gestalt des Plans, der ja nach seiner innern Absicht so gut der Ihre als von uns beiden ist, demnach Ihnen ganz eben so bekannt. Es schien sich eine Vierteljahrsschrift zu empfehlen. Bestehend (außer problematischen Litt[eratur]üb[ersichten] oder Recens[ionen]) aus streng wissenschaftlichen Untersuchungen. Jede derselben eine Analyse irgendeiner Gruppe geistiger Erscheinungen, mit der Absicht damit einen Beitrag zur Erforschung des allgemeinen gesetzlichen Zusammenhangs sei es zwischen gewissen Bedingungen und den Erscheinungen, oder usw. usw. (ich bin zu eilig zu schreiben was Sie auf Ihre Weise auch wissen wie ich auf meine; erst später hierüber Austausch). An diese Untersuchungen würde der Anspruch gestellt daß sie einen wirklichen Fortschritt im Verständnis der betreffenden Gruppe enthielten. Durchaus aber sollten nicht sofort dabei die Zurückführungen auf die sogenannten psychologischen Gesetze stattfinden. Es handelt sich um einen vorsichtigen Fortgang. Nur indem Arbeiten aus verschiedenen Gebieten sich ergänzten, man auf einander sich beziehen könnte: träte endlich einmal ein allgemeines Studium der Geisteswissenschaften hervor, ungesondert durch Fakultätsunterschiede, es zeigte sich wie hier eigentlich die Untersuchungen ineinandergreifen. Wenn ich also scherzhaft von revolutionärem Convent u dgl. spreche: so soll das keinen Anspruch enthalten daß wir sofort eine Wissenschaft des Geistes nun gründen wollen. Sie wissen wie ich solche Ansprüche hasse. Andrerseits kann kein einzelner hoffen, in den nächsten 20 Jahren für sich eine solche Aufgabe zu lösen. Wohl aber kann ein ineinandergreifendes Zusammenarbeiten, wie es in den Naturwissenschaften besteht, endlich geschaffen werden. Das ist ein bescheidnes und doch sicher fruchtbares Vorhaben. Die Bedingung ist daß eine Anzahl näherer Mitarbeiter Untersuchungen in dies[em] Sinne für eine bestimmte Zeit zusagte. Ich schicke die Liste von J.B. Meyer mit: die mit X oder Buchstaben bezeichneten wären etwa zunächst aufzufordern. Vor Allem: Zeller,2 der Arbeiten so gut als fertig hat über die polit[ischen] Theorien etc., die Nationalökonomen Roscher,3 Knies4 u. A. Wagner,5 dann Lotze, von Historikern besonders Nitzsch und Laurent,6 von Philologen sind Usener u. mein Bruder sehr dafür interessirt u. würden wohl Jahn in Bewegung setzen, Drobisch7 gewiß bereit usw. Stellte sich so eine Zusicherung, die mindestens den ersten Jahrgang deckte, heraus: dann erst würden wir uns wirklich entscheiden u. mit einem Buchhändler contrahiren.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

Alsdann würde an eine Auswahl aus den Namen, die vorläuf[ig] auf der Liste zusammengestellt sind gedacht, ein Programm ihm zugeschickt usw. Die Redaktion bestünde aus uns 4. Wir beide v[on] Berlin Entfernten könnten nur die Beurtheilung von Untersuchungen auf gewissen Gebieten übernehmen. Im Fall der Absage zöge man sich hinter das Plenum zurück. Diese kurze Notiz soll nur 1. hindern, daß Sie sich mit einem Nein präoccupiren. Ich würde ohne Sie schlechterdings ebenfalls nicht anfangen u. dann lieber meine Arbeiten einzeln veröffentlichen. Aber, lieber Scherer! bedenken Sie wohl daß was wir so thäten sehr viel eingreifender wäre als was jeder einzeln thun könnte. Gerade weil wir nur einz[elne] Unters[uchungen] machen können, die doch auch so noch der Ergänzung bedürfen: braucht jeder von uns tüchtige Nebenmänner. Denken Sie an die Freude des Zusammenwirkens, an die seltene Art in welcher Erdm[anns]d[örffer] Sie u. ich uns ergänzen, daß wenn Sie diesen Plan durch Ihr Nein unmöglich machen, etwas zweifellos Fruchtbares und Tüchtiges unterbleibt. Ich schweige von all den Gründen die Sie wissen. Erdmannsdörffer wird Ihnen ja hoffentlich im Lauf der Jahre auch schreiben und Programmvorschlag wie seine Auffassung mittheilen. Soviel in größter Eile. Es wäre mir wahrhaft schmerzlich einen Plan vereitelt zu sehen an dem wir so lange gehangen. Denn ein Hinausschieben würde gewiß diese Folge haben. Und nicht weniger leid wäre mir, eine Möglichkeit jugendfreudigen Zusammenwirkens schwinden zu sehn, das so nur einmal kommt. Aber Ihnen sei es anheimgegeben. Von Herzen der Ihrige Wilhelm Dilthey Basel, Schützengraben 45. Auch für Erdmannsdörff[er] wäre es äußerlich u. innerlich, glaube ich, sehr wichtig, es gäbe ihm eine Position. U. mir, in meiner Einsamkeit, geben Sie damit einen Zusammenhang mit den Freunden die ich täglich entbehre. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 8; ein handschriftliches Transkript ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 8; Erstdruck mit einer Auslassung: JD, Nr. 120. 1

Im Original: nachträgliche Datierung von der Hand Scherers. Eduard Zeller (1814–1908): Theologe und Philosophiehistoriker; 1847 Prof. der Theologie in Bern, 1849 in Marburg, 1862 o. Prof. der Philosophie in Heidelberg, 1872–1895 als Nachfolger Trendelenburgs in Berlin. 2

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Dilthey an Wilhelm Scherer

3 Wilhelm Roscher (1817–1894): Historiker und Wirtschaftswissenschaftler; 1843 a. o., 1844 o. Prof. für Nationalökonomie in Göttingen, seit 1848 in Leipzig. 4 Karl Knies (1821–1898): Wirtschaftswissenschaftler; 1855 Prof. der Kameralwissenschaften in Freiburg, seit 1865 Prof. der Staatswissenschaften in Heidelberg. – Mitbegründer der historischen Schule der deutschen Volkswirtschaftslehre. 5 Adolf Wagner (1835–1917): Wirtschaftswissenschaftler; 1865 o. Prof. für Staatswissenschaften in Dorpat, 1868 in Freiburg, 1870 in Berlin. 6 Francois Laurent (1810–1887): belgischer Rechtswissenschaftler und Historiker; seit 1835 Prof. des Zivilrechts in Gent. 7 Moritz Wilhelm Drobisch (1802–1896): Philosoph und Mathematiker; 1826 a. o., 1842 o. Prof. der Philosophie in Leipzig und zugleich o. Prof. der Mathematik.

[239] Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch [Ende Mai 1867] Lieber Freund, ich gebe Ihnen Ihrem Wunsch gemäß weitere Nachr[icht] üb[er] d[en] Stand Ihrer Angelegenheit,1 die ohnehin jetzt in ein Stadium getreten ist in welchem ich weder einwirken noch auch nur sie controlliren kann. Hagenbach2 u. Schulz3 waren Ihnen günstig und ich hatte sehr gute Hoffnung, da man diese eigentlich um ihre Ansicht gefragt hatte, als der Dirigent des Berufungswesens Vischer-Merian, bei mir war u. ich Gelegenheit nahm von der Sache zu sprechen. Da erfuhr ich dann zu meinem Schrecken daß von Ihnen allerdings die Rede gewesen sei, aber das Urtheil eines Professors d[er] Theol[ogie] (mündlich kann ich Ihnen dies[en] einmal nennen; er ist weder hier noch in Berlin) habe ihn bestimmt, nicht wie er vorgehabt nach Berlin zu reisen u. bei Ihnen zu hospitiren, sondern von Ihrer Berufung abzusehen: ich vermuthe daß dabei von Ihr[er] Lehrwirksamkeit d[ie] Rede war. Nun heizte ich ihm natürlich furchtbar ein und er versprach: Sie sollten ordentlich in Erwägung gezogen werden. Ich nahm extra eine Einladung auf sein Landgut an um zu hören, was sich weiter begebe; unmittelb[ar] hörte ich weiter nichts, wohl aber hatte er mit and[eren] Mithgl[iedern] des Erzieh[un]gscollegs von meinen Mittheil[ungen] gesprochen u. der Philologe Vischer bat mich um ein Gespräch drüber. Danach ist dann gestern Sitzung gewesen u. man hat beschlossen, Sie ins Auge zu fassen, demgemäß nunmehr bestätigend u. ergänzend Erkundigungen zu meinen Mittheilungen einzuziehen. Der Haupttheil dieser Erkundig[un]gen wird sein, daß irgend jemand

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Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch

beauftragt wird bei Ihnen zu hospitiren: heut wenigstens ist extra jemand in Giess[en] gew[esen] Mangold4 z[u] hören, in Zürich um Knies z[u] hören und er hat dort d[ie] Unters[uchung] abgebrochen als man fand daß der Vortrag nicht der Art sei, um einen so groß[en] Gehalt als er verlange zu motivir[en]. Ebenso war jemand in Bern um Hebler5 zu hören u. dies hat gegen ihn entschieden. Wie sie’s bei mir gemacht, weiß ich nicht, wahrsch[einlich] werden die Mitglieder in m[einem] u. jetzt auch in Ihr[em] Fall Söhne dort haben und Verwandte von denen sie berichten lassen. – Der andre Punkt, der aber ganz sensitiv ist, wird den Grad Ihrer Freisinnigkeit betreffen, da man Versprechen gemacht hat dem Wunsch e[iner] Parthei darin Rechnung z[u] tragen, u. die Hauptprofessoren Vischer-Merian, Gierke6 u. a. sehr freisinnig sind. Ich hoffe aber bei diesen beiden dies[en] Punkt erledigt zu haben. In Bezug auf Vertrag aber werden sie gewiß Autopsie vornehmen und dies wird entscheiden: ich hoffe in dies[er] Beziehung klug u. zu Ihrem Vortheil gesprochen zu haben: aber sie sind drin sehr hartnäckig. Dies die genaue u. ganz offen mitgetheilte Lage der Sache. Ich schreibe in größter Hast, Sie müssen also entschuldigen. Ich arbeite wie toll. Mein einziger Wunsch nach Bonn zu kommen, um meinem Vater nahe zu sein. Aber ich fürchte dieser erste bestimmte Wunsch m[eines] Lebens, mich selber betreffend, wird mir nicht erfüllt werden. Meine Collegien sehr gut ja glänzend, Privatcoll[eg] 27 od[er] 28; publik[um] das größte Auditor[ium] ganz voll; sogar für die Übungen habe ich durch Annahme eines ganz klein[en] Auditor[iums] die Zahl auf 8 fixirt um aus diesen wirklich etwas zu machen u. hätte in der Hand gehabt weitere zu haben. Die Collegen und regierenden Herrn kommen uns alle wahrh[a]ft freundsch[aftlich] entgegen. Wenn Sie Prof. Trendelenburg sehen, wollen Sie ihm mittheilen daß ich sein Buch (nebst Brief)7 mit vielem Dank erhalten habe u. ihm selber dies aber erst aussprechen wolle sobald ich es ganz gelesen. Und nun empfehlen Sie mich den Ihrigen so ergebenst als herzlich u. bleiben Sie zugethan Ihrem Wilhelm Dilthey Schützengraben 45. Basel. Tausend Grüße an Hoffmann! [.|.|.] Original: Hs.; UB Kiel, Familie Nitzsch-NL, Fasz. A 7.6. Nr. 98.

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Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch

1 Der damalige PD Nitzsch hatte 1865 einen Ruf an die ev.-theol. Fakultät der Universität Wien erhalten, doch seine Ernennung kam aus politischen Gründen nicht zustande. Ebenso war 1866 eine Anstellung in Greifswald gescheitert. D. setzte sich daraufhin – erfolglos – für Nitzsch in Basel ein. Erst 1868 wurde Nitzsch als o. Prof. der systematischen Theologie nach Gießen berufen. 2 Karl Rudolf Hagenbach (1801–1874): protest. Theologe; seit 1828 o. Prof. in Basel. 3 Hermann Schultz (1836–1903): protest. Theologe; 1864 o. Prof. der Theologie in Basel, 1872 in Straßburg, 1874 in Heidelberg, 1876 in Göttingen. 4 Wilhelm Julius Mangold (1825–1890): protest. Theologe; 1857 a. o., 1863 o. Prof. in Marburg, seit 1864 Prof. in Gießen. 5 Rudolf Albrecht Karl Hebler (1821–1898): Philosoph; 1863 a. o., 1872 o. Prof. in Bern. 6 Nicht ermittelt. 7 A. Trendelenburg: Historische Beiträge zur Philosophie. 3. Bd., a. a. O. – Der Brief ist nicht überliefert.

[240] Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch [29. Mai 1867]1 Lieber Freund, Ein Wort nur, da in Ihre[r] Angelegenheit jetzt der modus inquirendi gefunden ist. Eben komme ich vom Spaziergang mit Schulz, welcher von der Unterrichtsbehörde den Auftrag erhalten hat, in den Ferien (welche gegen Mitte des Juli beginnen) in Jena, Göttingen, Berlin Rundschau zu halten, zu hospitiren und im besondern meine Erklärungen über Sie zu controlliren, da man Sie ganz entschieden in erster Linie in’s Auge gefaßt hat. Schulz kann natürlich im Voraus nichts sagen, meinte aber als wir drüber sprachen entschieden: es würde wohl bei Ihnen bleiben. Er und Hagenbach hatten Sie ja von vorn herein gewollt – nur die Regierung welche hier in der Wahl unbeschränkt ist war eingestimmt worden. Bis dahin also ruht die Sache. Sie sehn man nimmts gründlich u. läßt sichs was kosten! Ich zweifle nicht am Ausgang. Es ist selbstverständlich daß Sie wenn er kommt sich nichts anmerken lassen was Sie von mir wissen! überhaupt niemandem, möchte ich, außer Ihrer Familie davon sagen, andres als daß eben von Ihnen die Rede sei. [.|.|.] Ich bin nicht wohl. In meinen Vorlesungen gut: in der öffentlichen das größte Auditorium der Univ[ersität] ganz voll; in der Psychologie fehlt noch einer an dreißig! Empfehlen Sie mich den Ihren ganz ergebenst u. entschuld[igen] den kurzen Brief – unwohl u – mit Arbeit überladen – aber Sie sollten doch gleich genauern Bericht haben.

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Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch

Ihr getreuer Wilhelm Dilthey Basel Schützengraben. Abend vor Himmelfahrt. Denken Sie! in Bonn ist jetzt viel von Kuno Fischer die Rede. Übrigens scheint die Affaire ganz von Brandis abzuhängen, der sich selber seinen Nachfolger suchen soll.2 Original: Hs.; UB Kiel, Familie Nitzsch-NL, Fasz. A 7.6. Nr. 99. 1 Zur Datierung: Christi Himmelfahrt fiel 1867 auf den 30. Mai, und D. schrieb den Brief nach eigener Angabe am „Abend vor Himmelfahrt“. 2 Brandis starb am 21. Juli 1867; sein Nachfolger wurde im Frühjahr 1868 J.B. Meyer. – K. Fischer lehrte derzeit in Jena.

[241] Dilthey an seinen Vater (Basel, zum 4. Juni 1867) Tausend Wünsche für Deine Besserung und Genesung, theuerster Vater, zu Deinem Geburtstag. Du weißt daß ich mehr als je in Gedanken bei Dir sein werde. Es bleibt doch eine große Entfernung zwischen hier und Bibrich, und ich beneide die Bonner gar sehr, daß sie so an einem Sonntag herüberkommen können. Unterbrochen worden. His, der Physiologe der Universität, war da, nach meiner Gesundheit zu sehn, weil ich eine Einladung auf heut Abend bei ihm abgesagt. Wir haben uns neulich auf dem Sonntagsspatzirgang der Professoren nach Augst (den Römerruinen)1 zusammengefunden, und ich habe große Freude daran, ihn hier zu finden – obwohl man hier von ihm behauptet, daß er ebenso egoistisch in sich zurückgezogen als bedeutend sei. Er hat im letzten Winter sehr schöne Entdeckungen gemacht. Er und Hagenbach (Physiker)2 sind, während ich Psychologie lese, natürlich die, deren Interessen sich mit dem meinigen am meisten begegnen. Ich bin so ganz gegen alles andere abgeschlossen, daß ich z.B. Burckhardts Verkehr eben gar nicht suche, auf den ich mich eigentlich sehr gefreut hatte. Mit den Vorlesungen geht’s anhaltend gut, obwohl ichs manchmal in der Psychologie nicht zum Besten mache. Ein Glück daß dieser schwere Stein jetzt auch gewälzt wird. .|.|.

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Dilthey an seinen Vater

Lily danke ich sehr für ihre Nachrichten. So ärgerlich, ja abscheulich es ist daß Kuno Fischer in Bonn vorgeschlagen ist: so habe ich doch darüber lächeln müssen, daß mein einst von mir auf den Knien angebeteter großer Lehrer so meine Wege kreutzt. Aber es ist sehr fatal; eben ist ein sehr scharfer Angriff Trendelenburgs auf die wissenschaftlichen Leistungen Fischers erschienen;3 übrigens ist mir unbegreiflich daß Brandis für Kuno Fischer ist! Ich muß schließen. Tausend Grüße an alle Dein treuer Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 121. 1

Kleiner Ort in der Nähe von Rheinfelden (Schweiz). Eduard Hagenbach-Bischoff (1833–1910): Physiker; 1863–1906 o. Prof. in Basel. 3 Siehe A. Trendelenburg: Ueber eine Lücke in Kants Beweis von der ausschliessenden Subjectivität des Raumes und der Zeit, gelesen in der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, Sitzung der philos.-histor. Klasse vom 9. 7. 1866; veröffentlicht in: Ders.: Historische Beiträge zur Philosophie. 3. Bd., a. a. O., S. 215–276. – Trendelenburg reagiert in dieser Abhandlung auf die Kritik Kuno Fischers an seinen Logischen Untersuchungen, die 1862 in 2. erw. Aufl. erschienen waren. – K. Fischer: System der Logik und Metaphysik oder Wissenschaftslehre (1852), 2. Aufl. Heidelberg 1865. – Die Kontroverse zwischen Trendelenburg und Fischer setzte sich fort und zog weitere Kreise. 2

[242] Dilthey an seinen Vater Liebster Papa,

(Basel, Anfang Juli 1867)

Das war eine lange Pause in meinen Briefen, die Euch hoffentlich nicht unruhig gemacht hat. Zunächt war ich nicht sonderlich wohl, überarbeitet – ich kann nicht sagen daß ich es mit meinen Vorlesungen deshalb gut gemacht hätte; im Gegentheil, einige Fragen haben mich so beschäftigt, daß ich Tag und Nacht darüber gesessen, Collegien und alles vergessen habe – Schlafen und Essen. Dafür habe ich denn auch eine stattliche Reihe neuer Einsichten gewonnen. Wie ich denn recht gründlich herunter war: ward ich geplagt, meine Antrittsvorlesung endlich zu halten, um nächsten Donnerstag in die Regenz eingeführt werden zu können, wo dann der Gehalt des letzten Quartals einem wie eine Weihnachtsbescherung auf einem Tischchen aufgebaut wird. Das ist denn doch >immer angenehm, obwohl ich noch im Geld schwimme. Heut früh habe ich also diese Ceremonie erledigt. Trotz des strömenden Regens war der Saal der Aula sehr voll, und meine Vorlesung schien

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Dilthey an seinen Vater

sehr gefallen zu haben.1 Ein wenig habe ich es freilich wohl dadurch mit den Theologen verdorben. Aber es liegt nun einmal in meiner Art, mich frei bewegen zu müssen. Und der Tüchtigste von den hießigen, Professor Schulz, der die theologische Fakultät jetzt ganz beherrscht, ist sehr befreundet mit mir, ja hat sich schon als Zuhörer für ein Privatcolleg im Winter angekündigt. Im persönlichen Verkehr kann ich überdies leicht klug sein und auf die verschiedensten Façons die Leute selig werden lassen: nur wo es sich um wissenschaftliche Wahrheit handelt, gab es für mich nun einmal von meinem ersten Studentensemester ab keine Kompromisse. Nach den nächsten Arbeitstagen will ich nun Samstag auf den Rigi mit einem stillen feinen klugen, ein wenig melancholischen Collegen, Professor Hartmann. Ich werde ihn zum erstenmal sehen: wir sind ziemlich entschlossen, mag es Kießelsteine regnen, dem Vierwaldstättersee entgegenzufahren. In Luzern im Hotel Rigi am See können wir ja weiter sehen. Es ist nun entschieden daß Professor Kießling nach den Ferien zu mir zieht. Und zwar auf einem sonderbaren Fuß. Wir werden den ersten Stock des Hauses ganz nehmen, der aber nur aus drei Zimmern besteht. Sehr schöne große Zimmer, in dem mittleren werden wir versuchen beide zu schlafen. Da er reinlich, ein Bild von Gesundheit und Kraft und mir sympathisch ist: so glaube ich daß es ganz gut gehen wird. Ich möchte den höchst problematischen Winter hindurch nicht ganz allein sein. Er spielt gut Clavier, was mich beim Arbeiten sehr angenehm animirt. Heißt „der Wilde“ und ist hier als Typ norddeutscher Unbändigkeit sehr beliebt: ich werde wenigstens Hermann’s Unbändigkeit – nach welchem er sich, glaube ich, in Bonn und später gebildet hat, um mich haben; leider das andre Stück Hermann nicht. Der Umzug eine Treppe hinauf wird von meiner ganz vortrefflichen Wirtin während der Ferien gemacht, sodaß ich gar nichts davon spüre. Was aber aus mir selber in den Ferien wird, während so meine Habseligkeiten wandern, hängt von meinem Befinden ab. Eigentlich muß ich – schlechterdings nach Berlin, da zu arbeiten. Finde ich aber, daß meine Gesundheit ernsthaft dadurch in Gefahr kommt oder ich schlechterdings für sie sorgen muß, mit Drangabe der wichtigsten andren Interessen: dann denke ich auf den Rigi zu gehen – mit meinen Büchern. In Seelisberg am Vierwaldstättersee hat es mir auch ungemein gefallen: ich traf da angenehme Gesellschaft, einen hannoverschen Exminister zum Zanken und eine hübsche Tochter desselben zu friedlichen Gesprächen, einen Berliner Geheimen Rat – zum Vermeiden und dergl. .|.|. An Karl denke ich fast alle Tage: jetzt ihm so nahe. Wäre der fatale Schleiermacher nicht, so ginge ich auf 14 Tage zu ihm nach Florenz herüber. Schreibt, Ihr Liebsten Eurem Wilhelm

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Dilthey an seinen Vater

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Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 122. 1

D.s Basler Antrittsvorlesung Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770–1800.

[243] Dilthey an Ernst Reimer Sehr verehrter Freund, Mit einer Notiz an meinen Setzer will ich doch wenigstens einen Gruß an Sie mitgehn lassen. Ich hoffe etwa den 20ten auf ungefähr 3 Wochen in gloriam Schleiermacheri nach Berlin zu kommen dh. ich fürchte daß ich es im Interesse des Schl[eier]m[acher] nicht umgehn kann. Wie anders wäre es während deß auf dem Rigi zu sitzen! Wollen Sie gütigst dies Wehrenpf[ennig] u. Erdmannsd[örffer] sagen gelegentlich? Erdm[annsdörffer] laß ich dringendst bitten mir ein Wort über seine Reisepläne zu schreiben, aber sobald er kann, da ich nächsten Sonnabend in 8 Tagen schon von hier abreise – den 13ten Juli – zunächst z[u] meinem Vater. Er möchte sich einmal überwinden und umgehend eine Notiz senden – auch in Sachen Bibliothek. Wehr[enpfennig] theilen Sie es wohl auch gelegentlich freundlichst mit daß ich längst das Bedürfniß hatte ihm zu schreiben: aber ein Chaos von Arbeit für die Vorlesungen, nöthiger Besuche, unabweisbarer Einladungen, einer Antrittsvorlesung dazu hat mir Athem und Gedanken benommen, sodaß ich auf persönliches Wiedersehn Alles aufsparte. Auch der Setzer hatte schlimme Zeit mit den fatalen Bogen A–C, weil hier inzwischen durch Erscheinen eines Buches neue Anmerkungen nöthig geworden waren. Für ihn ist der beifolgende Zettel.1 Wenn A und B noch nicht gedruckt sind, so bitte ich ergebenst bis zur Rücksendung der neuen Abzüge zu warten. Ich hoffe also, Ihnen mündlich bald Näheres erzählen zu können. Empfehlen Sie mich Ihrem Herrn Vater und bleiben freundlich gewogen Ihrem ergebensten Wilhelm Dilthey Basel, Schützengraben 45 d[en] 1ten Juli [18]67.

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Dilthey an Ernst Reimer

Natürlich muß der Setzer für seine besondren Arbeiten an dies[en] drei Bogen A B C u. an Einem noch b[ei] mir liegenden Bogen des Textes eine Entschädigung haben. Ich bin natürlich dazu bereit, dieses kleine Extraordinarium zu tragen wenn Sie es wünschen. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 15–17. 1 „An den Herrn Setzer von: Leben Schleiermachers Bd. I. Verehrtester, ich komme mit der Correktur von Bogen C nicht zu Stande, ohne Abzüge der Bogen A u. B wie sie jetzt sind. Sollten nun diese beiden Bogen gedruckt sein, so bitte ich um die Aushängebogen. Lieber wäre mir, es wäre noch nicht der Fall; alsdann bitte ich um einen neuen Abzug der beiden Bogen: vielleicht entdecke ich alsdann bei der Benutzung noch Druckfehler, würde also bitten mit dem Druck bis zur Rücksendung aller 3 Bogen zu warten, welche spätestens 2 Tage nach Empfang der 2 Bogen erfolgt. Ein solches Kreutz als – durch inzw[ischen] erschienenes Buch – Correktur u. Satz dieser 3 Bogen war, wird nicht wieder vork[ommen]: damit tröste ich Sie und – mich selber. Ihr ergebenster Wilhelm Dilthey“.

[244] Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch [Anfang Juli 1867] Lieber Freund, Nur eine flüchtige Zeile daß die Sache recht gut steht. Ich habe mich zuerst überzeugt unter der Hand, daß noch gesucht wird, nachdem Mangold abgelehnt hat u. es dann diplomatisch an mich kommen lassen. Schulz und Hagenbach (mit dessen Sohn ich sehr freundschaftlich stehe) werden unbedingt für Sie sein. In diesen Tagen sehe ich auch die Andren; Morgen Abend bin ich bei Storbingers,1 wo doch wohl wieder die Rede darauf kommen wird. Entscheidend wird hoffentlich Hagenbach sein. Denn da die ganze Frage von dem [.|.|.] angeregt ist, dessen radicalen Velleitäten man die Spitze abbrechen will unter dem Anschein ihm zu willfahren: so werden die strenggläubigen Professoren ohne Einfluß für die Entscheidung sein. Sobald ich Weiteres höre, schreibe ich Ihnen. Ich selber würde mich hier sehr behaglich fühlen, wären nicht alle meine Gedanken bei meinem Vater der furchtbar leidet. Ich weiß nicht was ich darum gäbe in Bonn in seiner Nähe zu sein! Könnte ich doch als außerordentlicher Professor hingehn, ich besänne mich keinen Moment. Man kommt mir hier ungemein herzlich entgegen und Sie glauben nicht was für interessante Menschen hier sind. Mit meinen Vorlesungen wirds frei-

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Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch

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lich wohl kraus gehen; die Studenten hospitiren hier nicht, sondern nehmen alle an bevor sie das Auditorium betreten. Neugierig sind sie auch nicht, sodaß mir Steffensen erzählt, als er angefangen habe er, alleiniger Vertreter der Philosophie, nur ein paar Zuhörer gehabt. Soviel in Eile. Und nun bitte ich mich den Ihrigen zu empfehlen und mich einmal wissen zu lassen wie es Ihnen und so Ihrem Vater geht. Ihr Wilhelm Dilthey Basel, Schützengraben 45. Original: Hs.; UB Kiel, Familie Nitzsch-NL, Fasz. A 7.6. Nr. 101. 1

Nicht ermittelt.

[245] Dilthey an seinen Bruder Karl Liebster Karl

Bibrich Montag d[en] 29. Juli (1867)1

Früher als ich gedacht, erhältst Du von hier aus von mir einen Brief. Als ich Dir zuletzt schrieb, geschah es mit zerrissenem Herzen; daß Vater nicht mehr von der ganzen Complication quälender Uebel, welche ihm das Leben zur Last machte, befreit werden könne war entschieden. .|.|. Er selber wünschte, wenn das alte Gefühl der Kraft und freie Bewegung ihm versagt bleiben sollte, von diesem quälenden Leben befreit zu sein. Seine oft so leidenschaftlich und ergreifend geäußerten Wünsche sind erhört worden. Wie kämpfte er, ob er Dich nicht noch einmal sehen sollte! Aber er war doch ganz entschieden, es dürfe nicht sein. Eine leichte Erkältung und eintretende Appetitlosigkeit ließen seine Kräfte seit etwa heut vor 8 Tagen plötzlich rasch sinken. .|.|. Diese Abnahme war nunmehr einige Tage lang so rasch und augenscheinlich, daß er Dr. Mand zu dem Geständniß überraschte, er sei allerdings im höchsten Grade schwach usw. – Du kennst ja Mand’s trauriges Gesicht dazu – kurz Vater wußte sofort, wie es stand. Es war ein großer Fehlgriff. Er war hierauf sehr ruhig und wahrhaft gefaßt. Am Mittwoch war das gewesen. Am Donnerstag bestimmte er mit den seinen das heilige Abendmahl zu nehmen. Alles ordnete er selber an, damit es schicklich geschehe, und es that ihm leid, nicht außer dem Bette es thun zu können. Eibach2 kam aus Wiesbaden, es auszutheilen. Nachmittags geschah das, und an diesem Nachmittag ordnete er alles bis aufs Kleinste,

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Dilthey an seinen Bruder Karl

was ihm eigen war von kleinen Summen, wie es vertheilt werden sollte unter uns Kindern, verschiedene Andenken an diese und jene Person, sein Begräbnis bis auf das Einzelste. An dem Abend vorher war telegraphirt worden. Die Andern hatten es schon gethan, als er selber den Wunsch aussprach. Ich kam über die hessische Ludwigsbahn und Mainz tief in der Nacht auf den Freitag durch einen Wagen, um den ich nach Mainz telegraphirt hatte, bei Linchen an, bei der ich mir Nachtquartier bestellt hatte. Das Telegramm war so verzögert worden, daß ich nicht mehr in’s Haus konnte, sondern es in der Nacht umschleichen mußte, nach dem Licht im Krankenzimmer sehend, bis der Lärm der Hunde ringsum mich vertrieb. Andren Morgens fand ich ihn unsäglich schwach, doch seinen Geist noch ganz klar. Wir sprachen eine halbe Stunde allein, wie er eben einzelne Worte und Sätze sprechen konnte. Er sagte auch noch einmal seine Anordnungen. .|.|. Nun fragte ich ihn, ob er denn keine Aufträge habe für mich an Dich, kein Wort an Lily und Hermann. Er sprach zuerst von Dir. Er habe Dich unsäglich lieb gehabt; er wisse auch, wie lieb Du ihn gehabt habest. Das solle ich Dir sagen, solle Dich tausendmal grüßen, und nun begannen ihm die Thränen still, unaufhaltsam über die Backen zu rinnen. Dann nahm er von mir Abschied zuletzt; laß mich davon schweigen heute noch: es ist als ob jedes Wort entweihe, was wir dabei empfunden. .|.|. Es war nur die traurige Folge der unzeitigen Eröffnungen Mands, daß, so sehr ich auch in ihn sprach, kein andrer Gedanke Raum gewann, als was auf seinen Tod Bezug hatte; die Sehnsucht daß er nicht zu lange auf sich warten lasse. Er war wie jemand, den man bei Leben dem Leben entrückt hat. .|.|. Die Nacht von Samstag auf den Sonntag begannen Phantasiebilder ihn zu beschäftigen. Am Sonntag war es viel der Herzog. Er nahm von ihm mehrmals in Phantasiebildern Abschied. Von da ab war schwer, die Phantasiebilder zu verfolgen, da er die Worte zu suchen und zu vertauschen begann. .|.|. Erst in der Nacht von Sonntag auf Montag (den 29ten) begann er schwer zu leiden durch Aufregung und den gänzlich alterierten Herzschlag. Oefter mußten wir fühlen, nach seinem Wunsch, in der Nacht, wie gänzlich gesetzlos das Herz arbeitete. Seine Phantasieen wurden sehr unruhig. Mehrmals hatte ich ihn in den Armen, ihm Schutz zu geben gegen Traumideen, die er nicht verscheuchen konnte. Er forderte etwas von mir in einer Traumidee, die ganz constant blieb, und gab mir immer wieder seine Hand es [zu] thun: es war unmöglich zu enträtseln, was es sei, und so eine Beruhigung zu schaffen. .|.|. Er athmete ruhiger, ohne Klagelaut, in längeren Pausen – da ward eine Pause sehr lang – leise sagte ich Linchen, ob sie die andern rufen wolle, die im Nebenzimmer lauschten – keine gewaltsame Bewegung irgend einer Art –

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noch einige tiefe, aber ruhige Athemzüge, und er hatte ausgelitten. Sein Anblick war für die, welche diese letzten Tage miterlebt hatten, unendlich feierlich, das Gesicht war im Tode wahrhaft beruhigt und verklärt. Liebster Karl! Ich kann nicht sagen daß ich wahrhaft gewünscht hätte, Du wärest zugegen gewesen diese Tage. Nicht als hättest Du ihm viel Trost sein können. In diesem großen Proceß der Natur ist der Mensch nur mit sich beschäftigt – auch die geliebtesten Menschen rufen nur einen vorübergehenden wohltuenden Eindruck hervor – oft vergewisserte er sich daß wir da waren, daß er nicht allein war, aber er vermißte in keinem Augenblick jemanden aus einem Gemüthsbedürfnis; so tief sein Gemüth von dem Gedanken bewegt war, uns verlassen zu müssen, so hatte er andrerseits gar kein Bedürfniß, in diesen Agonien jemanden wiederzusehen, sozusagen aufgestört zu werden in ihnen zu neuen Lebenswünschen und neuen Gemüthsbewegungen, durch Lily’s, durch Deine Ankunft; auch als ich kam, sagte er daß es ihm eigentlich nicht lieb sei. Andrerseits hätte ich es Dir gewünscht. In diesen Tagen trat eine Gemüthstiefe, eine Liebe für uns, eine innere Fassung hervor, wie in seinen besten Tagen, bevor sein Nervensystem mit einem so schweren Druck auf seiner Seele lastete. Und das habe ich erlebt, daß einen Menschen, den man so liebt, sterben zu sehen, mächtig hinunterzieht in die tiefste religiöse Erwägung des Lebens. Gedanken, die mich nur spielend beschäftigten, sind mir sehr ernst befestigt worden. Er hat mir gesagt, wie er mich geliebt, werde er gewiß auch in irgend einer Art Theil nehmen an meinem künftigen Leben – er hat Dich mindestens eben so lieb gehabt; Du warst ihm doch immer der Liebling, um den zu sorgen ihm ein liebes Bedürfniß war. Es ist der andre Tag geworden mit Beendigung meines Briefs. Mutter geht es Gott sei Dank, nach den furchtbaren Anstrengungen und Gemüthserschütterungen der letzten Tage, heute leidlicher. Krank sind wir alle drei von Gemüthsbewegung und körperlicher Anstrengung. Ich habe Mutterchen zu mir heraufgenommen zum Schlafen, und sie muß sich auch immer wieder einmal ausruhen auf meinem Bett; so schwer es ihr fällt, schreibt sie eben auch an Dich. Ein Brief Mariechens wird bald folgen. Ich weiß nichts andres zu thun, als diesen Brief an Deine alte Adresse zu schicken. Gebe der Himmel daß er Dich in Florenz oder von Florenz aus irgendwo erreicht. Laß uns, liebster Junge, recht fest aneinanderhalten. Leb wohl und sei ja recht getröstet. Darüber brauche ich nichts zu schreiben daß irgend ein plötzlicher Entschluß, hierherzukommen, auch Mutter gar keine Freude machte – ich schreibe das auch nur, weil der Gang des Gefühls in einem solchen Augenblick unberechenbar ist – sei überzeugt, daß ich alles Gedenkbare thue, für Mutters Gesundheit zu sorgen. Sei auch getröstet: es ist furchtbar hart gewesen, daß unser geliebter Vater von der Krankheit gebrochen wurde vor der

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Dilthey an seinen Bruder Karl

Zeit; nachdem es geschehn, wie die Krankheit sich entwickelt, war der Tod eine Erlösung. Es scheint schließlich ein Herzleiden gewesen zu sein. Du kannst denken wie wir eine Antwort ersehnen. Telegraphire zunächst daß Du die Briefe erhalten. Dann nimm Dir zum Schreiben Zeit. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 123. 1 2

Todestag von D.s Vater. Pfarrer in Wiesbaden.

[246] Dilthey an Ernst Reimer [nach dem 29. Juli 1867]1 Lieber Freund, In der Nacht von Donnerstag auf den Freitag bin ich hier angekommen. Montag früh um 8 Uhr ist mein geliebter Vater gestorben. Ich bin noch nicht im Stande ein Wort darüber zu sagen. Mir hilft nur leidenschaftliche Arbeit. Morgen früh bringe ich meine Schwester von Bonn, welche ihrer Entbindung entgegengeht, sich aber nicht halten ließ sowie meine Mutter nach Bonn, wo wir in der Stille noch ein paar Tage zusammen verleben wollen. Einen großen Gefallen thun Sie mir, wenn Sie die 2 Bogen deren Revision ich hier zugleich sende nachdem die Correktur gemacht ist und Sie vielleicht auf deren richtige Ausführung an einigen kritischen Stellen einen kritischen Blick geworfen (da der Setzer hier und da sehr sonderbare Sachen macht) sofort drucken ließen und gleich die 2 Exemplare Abzüge nach Bonn sendeten. Es liegt mir sehr viel daran. Von meinem Bruder sind wir unwissend wie er unsren Brief erhält! Ihr Wilhelm Dilthey In Bonn Adresse: Prof. Herm[ann] Usener Poppelsdorffer Allee. Thun Sie mir den Gefallen nach Kräften zu beschleunigen. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 25–26. 1

Im Original: nachträgliche Datierung von fremder Hand: „1867 ohne Datum“; der Brief wurde nach dem Tode von D.s Vater geschrieben.

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Dilthey an Wilhelm Vischer-Bilfinger

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[247] Dilthey an Wilhelm Vischer-Bilfinger Hochverehrter Herr Professor, Ich habe Ihnen die schmerzliche Mittheilung zu machen daß ich meinen geliebten Vater in diesen Ferien verloren habe. Ich bin hierhergekommen, meine Vorlesungen zu beginnen. Aber bei der ernstesten Anstrengung mich zu ihnen zu sammeln, versagt noch meine Kraft. Nach den furchtbaren Gemüthsaufregungen der letzten Wochen sehe ich keinen andern Rath als irgendwo einige Tage mich zu fassen und zu kräftigen. So muß ich wohl diese erste Woche aussetzen und mit dem Beginn der nächsten erst meine Vorlesungen anfangen. Empfehlen Sie mich gütigst den Ihrigen. Ihr ergebenster Wilhelm Dilthey d[en] 12ten August [18]67. Original: Hs.; StA Basel-Stadt, PA 511 a 611-17-0588.

[248] Dilthey an Konstantin Rößler Ihren Brief 1 lieber Freund! erhielt ich erst gestern Abend als ich von einer kurzen Erholungsreise ins Berner Oberland zurückkehrte. Sie werden schon von Berlin aus vernommen haben daß ich meinen Vater vor mehreren Wochen verloren habe. Es hat mich furchtbar angegriffen und ich werde noch lange an diesem Schmerz zu verwinden haben. Wohl haben Sie Recht: das Leben lehrt Vieles. Nur belehrt es die Einen durch Glück; die andren durch Schmerzen – und Schmerzen – und Schmerzen. Manchmal bin ich’s herzlich satt so weiter mitzuspielen. Daß Sie Ihre Lessingstudien losschießen, macht mir große Freude u. ich bin unendlich begierig.2 Gerade bei der Seelenwanderungslehre wie überh[aupt] im philos[ophischen] Theil habe ich nur das gegeben was ich rein gesehen z[u] hab[en] gl[au]bte, da ich gern (was freilich nachh[er] nie möglich war) in Einem Heft das Ganze haben wollte. Dies war Zweierlei: Zuerst der positive Gedanke daß in ihr die Theodizee des determinist[ischen] Systems liege, vermöge deren die Individualität (als um ihrer selbst, um keines geschichtl[ichen] Ablaufs willen vorhanden) die stetige Entwicklung des Men-

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Dilthey an Konstantin Rößler

schengeschlechts als eine nothwendige, in sich vernünftige mitmache. Hierüber ließe sich natürlich noch viel sagen, doch zweifle ich ob man der §92 angedeuteten Gründe besser habhaft würde als in den üblichen Darstellungen schon geschehen. [.|.|.] Der zweite Punkt war dann daß die Less[ing]sche Seelenwander[ungs]hypothese der Erziehung (gedruckt schon Anf[an]g 1780) in dem ‚wie viel Sinne‘3 eine nachträgliche Ergänzung erhalte, daß diese Ergänzung später sei als die Erziehung, daß sie mit der Lektüre Bonnets (Sommer 1780) zusammenhänge: – eine Hypothese die ich nie als solche gegeben von der ich aber sicher glaube daß sie nicht umgestoßen werden kann. Gerade bei Ihnen bin ich strict ruhig daß keine bittersüße Polemik in Ihrer Abh[andlung] ist, welche zu einer gerügten gegenseitigen Polemik unter Freunden führte, die jetzt weniger als je früher nach meinem Sinne ist. Wäre aber in Ihrem Aufsatz irgend e[ine] Stelle, welche der Grimm der polemischen Kunst eingegeben hätte so streichen Sie dieselbe lieber. Ich möchte keine Frontstellung Ihnen gegenüber, sondern nur freudig erkennen [?] können worin Allein Sie die Frage gefördert. Wie man voranschreitet, zulernt, ab[er] auch älter wird möchte man sich nie [?] politiren u ernster an die Menschen anschließen mit denen man in der Hauptsache übereinstimmt u. keine störende Empfindung in dem Verhältniß sehen. Sie werden mich darin sehr verändert finden wenn Sie mich in Berlin wiedersehen! Denn ich komme gegen Ende September auf 6–7 Wochen dorthin, den Schleiermacher an dem langsam fortgedruckt wird womöglich im ersten Bande zu endigen. Er hat durch das Stud[ium] des ganzen A.W. Schlegelschen Nachlasses, der in Böckings Besitz ist u. den ich als der erste ganz zu Gesicht bekommen werde eine große Erweiterung erfahren. Jetzt kann es heißen: ‚aus Handschriften, mit Benutzung des vorh[andenen] gedruckten Materials‘. Diesen Somm[er] war ich ganz von Psychol[ogie] occupirt, die ich vor 2 Studenten (an d[ie]s[er] Univ[ersität] v[on] kaum 100 Stud[enten] etc.) gelesen habe – optische Experimente mit dem hieß[igen] Physiker4 – viel wissensch[aftlicher] Verkehr mit dem hieß[igen] bestimmenden Physiologen5 – ich habe sehr viel Neues gelernt. Das (bess[er] noch Anthropologie) ist ein Colleg auf welches man einen durchgreifenden Einfluß auf die Studenten gründen kann. Gehen Sie wo möglich in kein Bad sondern kommen nach Berlin. Empfehlen Sie mich Ihrer verehrten Frau u. leben Sie inzwischen wohl und behalten mich in gutem Andenken. Ihr Wilhelm Dilthey. Montag d[en] 19ten August. [18]67. Basel, Schützengrab[en] 45

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Dilthey an Konstantin Rößler

Original: Hs.; BA Berlin, K. Rößler-NL, N 2245, Nr. 64, 21–23. 1

Nicht überliefert. K. Rößler: Neue Lessingstudien. Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: PJ 20 (1867), S. 268–284; WA in: GS XXV, S. 495–505. – D. hat auf Rößlers Arbeit, die sich mit seinem Lessing-Aufsatz auseinandersetzt, mit der Schrift Zu Lessings Seelenwanderungslehre. Eine Erwiderung reagiert, in: PJ 20 (1867), S. 439–444; WA in: GS XXV, S. 505–508. 3 G.E. Lessings Fragment Daß mehr als fünf Sinne für den Menschen sein können. 4 Eduard Hagenbach-Bischoff. 5 Der Anatom und Physiologie Wilhelm His. 2

[249] Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch [nach dem 20. August 1867] In größter Eile, lieber Freund, gestern, an welchem Tag eigentlich die Sitzung sein sollte, war Wilhelm Vischer, von der Curatel, bei mir und sagte: da diese so unvollzählig, so habe man die Sitzung verschoben, wahrsch[einlich] bis in den October. Von dem Bericht von Schulz sagte er daß er Ihnen am günstigsten sei und er selber scheint für Sie entschieden disponirt. Sehr fatal daß sich nicht jetzt gleich, mit den bisherigen Ihnen so günstigen Ausspic[ien], die Sache entschieden hat. Die Sache wäre zweifellos gewesen. Doch rechne ich auch im Herbst mit zieml[licher] Sicherheit drauf. Ich habe auf Eine schnelle Beh[andlung] gedrängt; weiß aber nicht wie viel es hilft. Wollen Sie den Ihrigen meinen ergebensten Dank sagen für Ihre Teilnahme. Ich habe sie sehr nöthig. Ein paar Tage war ich in Bonn. Dann ein paar Tage im Gebirg. Jetzt lebe ich hier so fort ohne mich noch recht entschließen zu können mit Menschen zusammenzusein. Mein einz[iges] Interesse außer m[einen] Arbeiten ist ob sich die Möglichkeit aufthut mit den Meinigen in Bonn zusammenzuleben. Es wäre in mehrfacher Beziehung sehr wichtig für uns. Leben Sie wohl lieber Freund u. sagen den Ihrigen meine dankbar-ergebenen Grüße. Ihr Wilhelm Dilthey Schützengraben 45.

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Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch

L[ieber] Freund, ich ließ den Brief lieg[en], in der Absicht Genaueres zu hören. Schulz wie ich halten Ihre Wahl für ziemlich sicher, aber leider weg[en] d[er] betr[effenden] Unvollst[ändigkeit] der Curatel wol hinausgeschob[en]. Alles was wir zur Beschleunigung thun können: wird gewiß geschehn. Auch Rothe1 todt! [.|.|.] Original: Hs.; UB Kiel, Familie Nitzsch-NL, Fasz. A 7.6. Nr. 100. 1 Richard Rothe (1799–1867): protest. Theologe; Prof. in Heidelberg. – Rothe verstarb am 20. August des Jahres.

[250] Wilhelm Scherer an Dilthey Lieber Dilthey, Erdmannsdörffer schreibt mir, dass Sie Ihren Vater verloren haben. Sie sind nun gewiss in Arbeit verwühlt, und das ist das beste. Seien Sie meines warmen Anteils versichert. Wenn ich zu Ihnen könnte – noch gestern hab ich unsern Freunden die in die Schweiz reisten sehnsüchtig nachgeblickt – so müssten Sie mit mir hinaus und auf die Berge steigen und wir träumten unsre alten Träume von künftiger gemeinschaftlicher Wirksamkeit. Von Hermann Grimm hab ich heute einen Brief worin er mir anzeigt dass am 22. d[es] M[onats] in Eisenach seine Mutter gestorben ist, und mich bittet, es Ihnen mitzuteilen, da er Ihren gegenwärtigen Aufenthalt nicht kenne. Auf Erdm[annsdörffer]’s Gewähr hin schicke ich Ihnen den Brief nach Basel. Es wäre überflüssig viel zu schreiben, da wir uns im Oktober sehen. In Bezug auf die Zeitschrift beharre ich fest u. immer fester auf meinen früher geäusserten Ansichten aus den alten Gründen die mir keiner widerlegt hat. Mein Buch1 geht den Schneckengang vorwärts und ich darf von Glück reden, wenn ich nicht mehr als die Ferien noch daran setzen muss. Und was wirds schliesslich sein? Ein Buch woran andere wenig und ich keinen Spass haben werden. Und wie so eine lang hingezogene Geschichte deprimirt! Leben Sie recht wohl. Ihr Scherer 28. 8. [18]67 Grimms gehen nach Ostende.

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Wilhelm Scherer an Dilthey

Original: Hs.; ThULB Jena, Albert Leitzmann-NL, VI, 7, Bl.158; ein handschriftliches Transkript des Briefes mit einer Ergänzung von der Hand G. Mischs ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o. 1

W. Scherer: Zur Geschichte der deutschen Sprache. Berlin 1867.

[251] Friedrich Adolf Trendelenburg an Dilthey Loschwitz bei Dresden 29. Aug[ust] 1867 Lieber Freund. Als das Semester zu Ende ging, schied Boeckh von uns.1 Um dieselbe Zeit ging Ihr trefflicher Vater heim, und jetzt in Eisenach vor 8 Tagen die edle Frau Grimm,2 die eigenthümlich empfand und anschaulich sprach, wie wenige Frauen, die echte Gefährtin von Wilhelm u. Jacob Grimm. So ist der Herbst, der anbricht, ernst. Ich wollte Ihnen, als ich Ihren lieben, in ergriffener Stimmung geschriebenen Brief 3 empfing, sogleich unsere herzliche Theilnahme aussprechen, aber es ging etwas lebhaft in unserm Hause her, u. so hat mich der Gedanke, Ihnen zu schreiben, auf die Reise begleitet. Ich komme spät dazu. Aber ich fühle mit Ihnen Ihren Verlust. Es war ein Vorzug Ihres Lebens, daß Sie Ihren Vater so lange besaßen, sich seiner Theilnahme u. seiner Freude an Ihrer Thätigkeit freuten und sein Vertrauen um die Zukunft Ihres Lebens sahen. So weit ich sehen kann, war das Leben Ihres Vaters trotz der letzten leidenden Jahre reich u. nicht blos in seinen Kindern reich. Sein Andenken wird in mannigfaltigen Beziehungen gesegnet sein. Sie setzen Ihre Pläne mit innigen Gedanken an ihn in Zusammenhang, und aus Ihren Worten spricht ein treuer Sohn. Möge Ihnen Ihre theure Mutter lange erhalten bleiben! Hoffentlich führt Ihr Schleiermacher Sie bald wieder nach Berlin, wo Sie leider so rasch abbrechen mußten. Inzwischen erfreuen Sie sich an Ihren Sonntagsausflügen in die Schweiz, wo Sie in noch vollern Zügen die duftige würzige Luft atmen u. in noch größern Blicken die Gebirgsformen schauen mögen, als wir vor einigen Tagen auf einer Wanderung in die Miniaturschweiz Sachsens u. Böhmens. Ich bin nämlich seit 10 Tagen mit zweien meiner Töchter (Klara u. Emma)4 im Elbthal, jedoch um bald wieder nach Berlin heimzukehren; denn um die Zeit des 12 S[e]pt[ember] denkt Adler5 von Paris zurückzusein und dann unsere Tochter heimzuführen.

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Friedrich Adolf Trendelenburg an Dilthey

Mögen Sie in dem Entwurf Ihrer Psychologie volle Freude haben; ich klittere [?] auch hier an meinem Naturrecht.6 Gott befohlen! Grüßen Sie, bitte, Freunde und meinen Schwager,7 wenn Sie ihn sehen sollten. Auf Wiedersehn in Berlin. Herzlich A. Trendelenburg. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. Karl Dilthey, 141. 1

August Boeckh war am 3. August 1867 gestorben. Henriette Dorothea Grimm, geb. Wild (1795–1867): Gattin Wilhelm Grimms; sie starb am 22. August 1867. 3 Nicht überliefert. 4 Klara Trendelenburg wurde am 4. 4. 1847, ihre Schwester Emma am 27. 11. 1848 geboren. 5 Friedrich Adler (1827–1908): Architekt und Kunstschriftsteller; Prof. an der Bauakademie, Wirklicher Geheimer Oberbaurat in Berlin, Mitglied der Akademien von Berlin, Wien und St. Petersburg, heiratete Trendelenburgs Tochter Karoline Dorothea (1841–1907). 6 F.A. Trendelenburg: Naturrecht auf dem Grunde der Ethik, 2. ausgeführtere Aufl. Leipzig 1868. 7 Friedrich Becker (1815–1875): 1853–1878 Lehrer an der Gewerbeschule in Basel. 2

[252] Dilthey an Georg Ernst Reimer [Anfang Oktober 1867]1 Es wäre mir sehr wünschenswerth, könnte ich 1. einige Exemplare der ersten Lieferung 2. die Abzüge von meinem Aufsatz in d[en] preuß[ischen] Jahrbüchern, um welche ich gebeten, bis heute Nachmittag erhalten. Vor Allem aber wenn auch nur 2.3 Exemplare der Lieferung. Ihr ergebenster Dilthey Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, unpaginiert. Im Original über dem Brieftext von fremder Hand: „10/10. 5 Schleiermachers Leben 1te L[ie]f[erun]g“. 1

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Adolf Glaser an Dilthey

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[253] Adolf Glaser an Dilthey Braunschweig, 15. October 1867 Liebster Freund! Es ist sehr gut, daß Du gerade jetzt geschrieben hast, denn das Geld sollte Dir da Du gar nichts merken ließest, nach Basel geschickt werden. Ich hatte sehr oft den Wunsch, Dir zu schreiben und meine Theilnahme bei dem traurigen Ereignisse, welches Dich betraf, zu melden, aber ich wußte nicht, wo ich Dich traf. Wie kommst Du jetzt nach Berlin? Vielleicht des Schleiermacher wegen? Oder bleibst Du nicht in Basel? Von den Büchern, die Du wünschtest, ist nichts gekommen. Nur Bastian 5 Band1 und Julian Schmidt 3 Band2 liegen für Dich bereit. Schicke doch recht bald etwas. Vielleicht einige Biographien. Kannst Du nicht ein paar Philosophen – Kant – Hegel – Herbart o[der] A[ndere] für uns zubereiten? Man könnte die Portraits dazu geben, und alle Welt wäre darüber erfreut. Mir geht es gut. Ich war 14 Tage in Paris und habe viel dort gesehen. Hier habe ich mir ein kleines freundliches Haus mit Garten gekauft und wünschte sehr, Du kämest einmal zu mir. Ich werde wohl aus Braunschweig nicht mehr herauskommen.3 Meine holländischen Übersetzungen4 sind sehr gut aufgenommen. Von Holland selbst ist mir viel Freundliches in Schrift und Druck zugekommen. Herzliche Grüße an Bernhard5 und seine Frau. Dein A. Glaser Bitte dringend um baldige Einsendung neuer Beiträge. Vielleicht paßt es Dir einige Romantiker zu schildern? Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 257, Bl. 60–60 R. 1 Adolf Bastian (1826–1905): Ethnologe. – Die Voelker des oestlichen Asien. Studien und Reisen. 6 Bde. Leipzig (und Jena) 1866–1871. D. rezensierte den dritten und vierten Band (Ein Anthropolog und Ethnolog als Reisender) unter dem Pseudonym „Wilhelm Hoffner“ in: WM 24 (1868), S. 269–276; WA in: GS XI, S. 204–212. 2 J. Schmidt: Geschichte der deutschen Literatur seit Lessings Tod, 5. Aufl. 3 Bde. Leipzig 1865–1867. – Den ersten Band hatte D. bereits 1866 in einer Sammelbesprechung (Die neuesten literarhistorischen Arbeiten über das klassische Zeitalter unsrer Dichtung) in: WM 20, S. 482–491,

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Adolf Glaser an Dilthey

unter dem Pseudonym „Wilhelm Hoffner“ rezensiert; WA (gekürzt) in: GS XI, S. 195–204. – Eine Besprechung der Bände 2 und 3 erfolgte offenbar nicht. 3 Glaser blieb zunächst bis 1878 als Redakteur von WM in Braunschweig. 4 Glaser übersetzte und bearbeitete im Jahre 1867 zunächst die holländischen Werke Hänschen Siebenstern, nach Jacob van Lennep sowie Niederländische Novellen. Es folgten weitere Übersetzungen. – Voraus ging ein Brief A. Glasers an D., ohne Ort und ohne Datum, der hinterlegt ist in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 257, Bl. 16: „Könntest Du mir vielleicht den großen Gefallen erzeigen und zur Ergänzung eines Lexicon-Artikels mir angeben, ob sehr hervorragende historische oder sonst wissenschaftliche Werke in letzter Zeit in Holland erschienen sind? In der Belletristik weiß ich genau Bescheid, aber für die Wissenschaften muß ich mir durch Andre helfen. Ich würde für jede Titelangabe sehr dankbar sein. A G“. 5 Bernhard Scholz.

[254] Dilthey an Rudolf Haym [Mitte Oktober 1867]1 Lieber Freund, Das ist höchst komisch daß, nachdem wir so lange nichts von einander gehört, wir eben hier caramboliren auf den Bibliotheken. Ich bin von Basel hierhergekommen, habe mirs also viel Geld und Zeit kosten lassen, 1797. 1798. 1799 zu absolviren; ich bin nun fast 14 Tage noch hier: bitte also ganz ergebenst und unterthänigst mir nicht in die Parade zu fahren. Dafür sollen Sie auch aus m[einen] eignen Büchern Mnemosyne,2 Jungs Huldrin3 u dgl. was hießige Bibliotheken nicht haben erhalten. In den nächsten Tagen schon absolvire ich übrigens Einiges, was Sie gewünscht haben u. was ich eben selbst gebrauche. Also: Bitte, bitte. Von mir wäre so viel z[u] erzählen, daß ich jetzt nicht dazu komme überhaupt was zu sagen. Denn während mein erst[er] Band gedruckt wird, muß noch hinten dran geschrieben werden. Es haben sich soviel andre Interessen dazwischen geschoben! Selbst die rein gelehrte Seite unsrer Existenz ist schwer in einer zweckmäßigen Ordnung zu halten. Ich fühle wohl wie ich täglich weiterkomme; aber das Leben vergeht mit Lernen, während Andre was Ordentliches machen. Und wie gehts Ihnen? Wie wundervoll wäre es, wenn ich Sie in der Schweitz sähe! Ich würde mich dann Ihnen zu Liebe – d.h. mir zum Vergnügen – auf 5 Tage frei machen. Denn wir haben uns seit verschiedenen Jahren nicht mehr gesprochen: unsre hießigen Entrevuen,4 während Sie Landtagspflichten erfüllten,5 kann ich nicht rechnen, dazu war ich auch das letzte Mal so kränklich daß ich mir selber gänzlich zur Last war.

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Dilthey an Rudolf Haym

Also siniren Sie, wenn Sie einen Schweitz[er]reiseplan machen, wie Sie Basel berühren, wo Sie bei mir schön wohnen können, und mir einige Zeit widmen. Empfehlen Sie mich Ihrer verehrten Frau Ihr getreuer Wilhelm Dilthey Original: Hs.; ULB Sachsen-Anhalt, Halle, Haym-NL, Yi 23 IV D 4 p; Erstdruck: BDH, Nr. 16. 1

Die Datierung wurde vom Hg. von BDH vorgenommen. Mnemosyne. Eine Zeitschrift. Hg. von A.L. Hülsen. 2 Stücke. Altona 1800. 3 Nicht ermittelt. 4 Zusammenkünfte, Unterredungen. 5 R. Haym, seit 1860 Prof. für Literaturgeschichte in Halle und bis 1864 Leiter der PJ, war 1866/67 Mitglied im preuß. Landtag und Mitbegründer der nationalliberalen Partei. 2

[255] Dilthey an Konstantin Rößler Berlin, Mohrenstraße 6 3 Trepp[en]. (Ich bleibe bis Ende des Monats hier). [Oktober 1867] Sie haben schöne Begriffe, verehrtester Freund, von dem was ‚keine Polemik‘ ist. Ihr Aufsatz hat mir wirklich einige höchst unangenehme Stunden, ja verstimmte Tage gemacht, da ich jetzt unsäglich angegriffen bin und kaum Lebensheiterkeit genug habe so meinen drängenden Aufgaben zu genügen, geschweige denn für literarische Wettkämpfe. Ich wollte, Sie hätten sich, wie ich so dringend und ernst bat, des Eingehens auf mich enthalten können. Es hat nun nicht sein sollen und es ist mir sehr leid, daß [es] um einer so wenig zur Polemik zwingenden Frage willen [zu] Antwort und Gegenantwort unter Freunden gekommen ist. Denn das [.|.|.] war ich gezwungen zu sagen. Sie sind Diplomat und brauchen nicht d[ie] historische Banalheit Ihre Arbeiten zu vertheidigen. Das Zutrauen zu meinen jetzt erscheinenden Arbeiten, die eben historisch sind, beruht darauf daß man nicht ein auffallendes Übersehen [?] durch mein

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Dilthey an Konstantin Rößler

Schweigen für constatirt halte. Es ist mir sehr sauer angekommen, aber gänzlich Unpartheiische sprachen sich sehr entschieden in diesem Sinn aus. Ich sah Ihren Aufsatz zuerst mit Hebler zusammen, an dem Tag, da ich diesen kennen lernte. Und nun bitte ich von Neuem: ist es möglich, so lassen Sie den Kelch einer weiteren Polemik an uns vorübergehen. Ich habe mich ganz streng auf das zur Abwehr Nothwendige beschränkt. Ich habe Jul[ian] Schmidt u. Wehr[enpfennig] meinen Aufs[atz] vorher vorgelesen und sie haben ihn gänzlich in der Form, Jul[ian] Schm[idt] auch ganz nach dem Inhalt, Wehr[enpfennig] mit geringen Modifikationen gebilligt. (Selbst Ihre Freundin Frau Duncker war erstaunt daß Sie so schlimm mit mir umgegangen). Zur Sache hebe ich Ihnen noch hervor: 1. daß ich dies[e] Argumentation statt an Guhrauer1 auch an einer ganzen Reihe hätte machen können. 2) Ich begreife nicht wie Sie die Stelle S. 274 über Leibn[iz] u die Alte Theorie d[er] Seelenw[anderung] begründen wollen; Leibn[iz] spricht sich ja über den Unterschied klar aus, und daß mit erkennbarem Wichtigthun. In der wesentlichen beständigen Verknüpfung von Körpertheilchen mit Seelenmonaden, gegründet auf d[ie] physiol[ogische] Anthr[opologie] von Swammerdam2 etc. über Samentheilchen ist Metamorphose unterschieden von dem Hindurchgehen einer sozusagen ererbten Seele durch verschiedene Körper (durch Geister gleichsam: ein für den Zus[ammen]hang des Leibn[iz]schen Systems hochwichtiger Unterschied. 3 Ich habe meine Bücher nicht hier; aber irre ich nicht, so ist die jetzige philol[ogische Auffassung] von Enthymem eine andre als daß Aristot[eles] einfach jeden durch Auslassung E[iner] Prämisse verkürzten Schluß darunter verstanden habe. 4) Die anschauliche Einsicht in den S. 280 angeg[ebenen] Hegelschen Satz läßt sich bei den Historikern vor ihm aufzeigen; dieses bedurfte es allein, damit Lessing das v[on] Ihnen angeg[ebene] Schlußglied so nicht faßte: Sie scheinen mir dabei dort viel zu weit zu gehen. 5) Das Meiste und Wichtigste hätte ich gegen die Isolirung des von Ihnen hervorgeh[obenen] Motivs aus der Vergleichung aller einschlagenden Stellen zu sagen; ich muß es auf das mündliche Gespräch unter Vorsitz des [.|.|.] J[ulian] Schmidt in der [.|.|.] Stube bei ihm, bei einem späten Café versparen. 6. Ganz individuell und ein verwegener Schluß (aber Sie goutiren ja dgl wohl einmal) ist meine Ansicht: hätte Lessing das von Ihnen hervorgehobene Motiv ganz deutlich gesehen: so würde der Leser der Kirchenväter sich das Argument aus deren untren sittl[ichen] Zustand begründenden Präexistenzlehre der Alexandriner3 nicht haben entgehen lassen. (Eine andre Vermuth[ung] zu 2 daß die Lehre von Leibn[iz] der eine Punkt war von den zweien in welcher er eine Abweichung von der ältesten Lehre der Metamorphose ann[ehmen] zu müssen glaubte).

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Dilthey an Konstantin Rößler

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Aber bester Rößler, über den Styl mache ich Ihnen gradzu das höchste Compliment das in m[einem] Besitz ist und habe Sie überall dafür gepriesen. Ihre Auff[assung] war mir sonst in alter Erin[ne]r[ung], hat mich wieder auf die Klage geführt daß Sie aus der Wiss[en]sch[aft] heraus getreten sind; es ist so dringend was Sie am Anfang als Aufgabe hervorheben. Demgemäß im höchst[en] Vertrauen. Es könnte sein daß die Baseler bald einen neuen Prof[essor] der Philos[ophie] (mit Ihr[em] gegenw[ärtigen] Gehalt fix, es käme wohl auch auf etwas mehr nicht an) gebrauchten: wäre Ihnen angenehm dort vorgeschlagen zu werden? Das Eis wäre gebrochen. Übrigens erscheint in dieser Woche eine erste Lieferung des Schleierm[acher] von 11 Bogen, in etwa 8 Tagen das Ganze. Wollen Sie die Lieferung geschickt haben oder – was mir lieber ist – das Ganze abwarten? Machen Sie daß Sie auf einige Tage herkommen, ich habe Ihnen allerlei zu erzählen, und, um Himmels willen: Lassen Sie mit diesem ersten Gang des unglücksel[igen] Kampfspiels Ihr kampflustiges Gemüth befriedigt sein – unser freundsch[aftliches] Verhältniß ist mir zu werth u. ich hoffe zu viel noch davon, als daß ich es dem Feuergrabe eines zweiten zu leicht erhitzbaren Gangs ausgesetzt sehen möchte. Wir haben noch zu viel positive Dinge in der Welt zusammen zu thun. Ihr alter Wilh. Dilthey. Original: Hs.; BA Berlin, K. Rößler-NL, N 2245, 64, 29–31. 1 G.E. Guhrauer: Lessing’s Erziehung des Menschengeschlechts kritisch und philosophisch erörtert. Berlin 1841. – D. hat sich sowohl in seinem Lessing-Aufsatz als auch in seiner RößlerErwiderung auf diese Schrift bezogen. 2 Jan Swammerdam (1637–1680): niederl. Naturforscher und Mediziner. – Leibniz nimmt in seiner Theodizee Bezug auf ihn. 3 Alexandrinische Theologie, die ihren Mittelpunkt in der Katechetenschule von Alexandria besaß, zu der später auch Origines gehörte.

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Dilthey an Heinrich von Treitschke

[256] Dilthey an Heinrich von Treitschke [Oktober 1867]1 Verehrtester Freund, hier sende ich Ihnen die erste Lieferung meines Buchs;2 der ganze erste Band wird Ende dieses Jahres endlich fertig werden. Es wäre mir eine große Freude, wenn Sie von seinen Ergebnissen für einige Parthien Ihres viel umfassenderen Plans Gebrauch machen können. Zugleich aber komme ich, Sie mit einem Wunsch zu quälen. Ich wünsche sehr lebhaft von Basel wegzukommen, trotz der persönlich behaglichen Verhältnisse. Ganz abgesehen von der beständigen politischen Mißempfindung dort und dem Gefühl der Fremde, bin ich in meiner Wirksamkeit zu sehr beengt. Steffensen neben mir ist nicht nur einer der besten deutschen Docenten, ich bin ihm auch Dank und Rücksicht schuldig, welche ich nie verletzen werde. Ich habe in meinem Privatcolleg über Psychologie etwa 1/3 aller vorhandenen Studenten zu Zuhörern gehabt, in der öff[entlichen] Vorlesung noch mehrere; Steffensen hat sehr viel Zuhörer, die Baseler halten darauf daß jeder zwei größere Vorlesungen halte, außerdem habe ich Übungen, da ich auf diese besondren Werth lege: wie soll das an einer so kleinen Universität auf die Länge gehn? Ich selbst kann nicht wünschen, daß manche Studenten wie in dies[em] Semester geschah 14 Stunden Philosophie hören. Kurz ich sehne mich sehr nach einer freieren Thätigkeit, da das Lesen für mich das Erste ist, Schreiben das Zweite, wie das im Wesen ächter Philosophie liegt welche den Kopf durcharbeiten muß. Nun höre ich daß an mehreren Fakultäten von mir die Rede ist, darunter in Kiel. Ich habe nie persönl[iche] Verbindungen gesucht; weiß nicht einmal ob diese Lieferung, da sie nur auf feste Bestellung verkauft wird, ihren Weg dahin finden wird. Ich wünschte nichts, als daß einer Ihrer Freunde dort über mich au fait gesetzt werde, in thatsächlicher Mittheilung.3 Und zwar auch dies nur zu einem eingegränzten Zweck. Sollte man sich auf J. B. Meyer concentrieren können: so hat d[ie]s meinen ganzen Beifall und wird mir wahre Freude machen. Nur für den Fall daß dies nicht geschieht, daß entweder die Absicht auf Alleinnennung eines andren geht oder daß mehrere genannt werden: geschähe mir damit etwas Wichtiges, wenn ich unter diesen an guter Stelle wäre. Ich würde auch diesen Wunsch nicht aussprechen: wüßte ich nicht, daß wer mich persönlich kennt überzeugt sein wird, daß ich die Kraft gründlicher philosophischer Einwirkung, wie sie die Univers[ität] bedarf, auch wirklich besitze. Wenigstens ist selbstverständlich, daß mein Wunsch

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Dilthey an Heinrich von Treitschke

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nur unter der Bedingung ausgesprochen ist, daß Sie, Verehrtester, diese Überzeugung von mir haben. Unangenehm ist nur daß ich die Bitte für diesen Fall hinzufügen muß daß Sie so bald Sie eben können, ein Wort sagen. Denn ich fürchte, die Sitzung wird gleich am Anfang des Semesters sein. Sie haben jedenfalls jetzt Wichtigeres zu thun als Briefe zu schreiben. Heute wird hoffentlich das neue Heft mit Ihrem Aufsatz ausgegeben.4 Die Seelenwanderungssünde5 bitte ich mir nicht anzurechnen: es ist nicht mein Geschmack. Es scheint Rößler traut Lessing wirklich zu, er habe so was in sich gefühlt als ob er schon einmal als Jude irgendwo fromm und schlau geschachert habe. Wehrenpfennig’s Kleine ist wieder auf und ziemlich munter. Heitrer als je fand ich Duncker, auch Julian Schmidt sehr vergnügt, mit einem Buch über Herder beschäftigt. Erdmannsdörffer ist wegen Kiel in Spannung; wir hoffen alle daß wenn Baumgarten dorthin kommt, in Karlsruhe an ihn gedacht werde. Der Klubb der Selbstmörder wird während meiner Anwesenheit zweimal wöchentlich tagen, damit wir uns über die Leiden unsres Daseins deutlicher aussprechen können; Schneider6 ist zum Berichterstatter ernannt worden. Ich bleibe noch 4 Wochen hier, um den ersten Band zu beenden. Einige Wochen will ich mich dann mit dem Abschluß einer Untersuchung über die Epochen des sittlichen Bewußtseins erfrischen,7 an welcher auch Burckhardt in Basel viel Antheil nimmt und die Sie hoffentlich interessiren und zu einer besseren Ansicht von philosophischen Arbeiten bekehren helfen soll. Dann geht’s gleich an den zweiten Band. Empfehlen Sie mich unbekannter Weise Ihrer Frau Gemahlin u. behalten Sie in gutem Andenken Ihren herzlich ergebenen Wilhelm Dilthey Berlin, Mohrenstr. 6 3 Treppen. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Treitschke-NL, K 5, 129, 6–7. Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 125. 1

Im Original: nachträgliche Datierung von fremder Hand: „Oktob[er] 1862“. Erste Lieferung von D.s Leben Schleiermachers: Erstes Buch. Jugendjahre und erste Bildung. 1768–1796 (S. 1–152); nach Angabe von C. Misch auf dem Umschlag der 1. Lieferung der Vermerk: „Dieses Werk erscheint in zwei Bänden, von denen der erste noch in diesem Jahre ausgegeben werden soll“ (JD, S. 314, Anm. 122). Doch der gesamte erste Band wurde erst im März 1870 ausgeliefert, der zweite Band wurde nicht fertig gestellt. 2

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Dilthey an Heinrich von Treitschke

3 Treitschke war, nachdem er seine Freiburger Professur aufgegeben und anschließend die Schriftleitung der PJ in Berlin übernommen hatte, zwischen Oktober 1866 und Juni 1867 Prof. für Geschichte und Politik in Kiel, bevor er nach L. Häussers Tod im Juni 1867 einen Ruf nach Heidelberg annahm. 4 Treitschkes Aufsatz Der Bonapartismus II erschien in den PJ 20 (1867), S. 357–394. 5 D.s Aufsatz Zu Lessings Seelenwanderungslehre. Erwiderung (an Constantin Rößler), in: PJ 20 (1867), S. 439–444; WA in: GS XXV, S. 505–508. 6 Vermutlich der Biologe Anton Schneider, vgl. Brief 285. 7 Weitere Ausarbeitung des Themas seiner Habilitationsschrift.

[257] Dilthey an Curt Wachsmuth1 [Oktober 1867] Damit Sie, lieber Freund, wieder einmal ein Lebenszeichen von mir erhalten: schicke ich Ihnen diese erste Lieferung meines ersten Buchs, das nun rasch hintereinander erscheinen soll. Ich habe immer von Zeit zu Zeit gefragt, ob von Ihrem großen Plan über die Alexandriner nichts verlaute: aber Sie sind wahrscheinlich zu glücklich um schreibselig zu sein. Desto besser für Sie! Und das ist doch auch nichts Kleines. Nun bitte ich mir aber auch Gegenseitigkeit aus, und wenn etwas von Ihren Arbeiten zur Gesch[ichte] der Wissenschaften in dieser Zeit zum Vorschein kommt: lassen Sie mich gleich davon was haben. Denn ich habe mittelalterliche alte Studien, an die sich jetzt, wie ich dazu Zeit habe, Weiteres anschließt, für welche ein unsäglicher Vortheil wäre, Ihre Untersuchungen zur Grundlage zu haben. Es ist freilich nicht zu viel Zeit was Psychologie Logik u.s.w. übrig lassen, zumal ich viel lieber docire als schreibe – ja ich fürchte auch viel schlechter schreibe als docire. Wie geht’s Ihnen denn? mit Arbeiten, Leben etc? Sie könnten einmal eine Collektivnote an Kießling und mich erlassen (beide Schützengraben 45 der ehrsamen Stadt Basel). Im Augenblick bin ich hier auf einige Wochen, den ersten Band abzuschließen. Wollen Sie mich Langenbeck2 unbekannter Weise empfehlen? Ich schicke ihm ein Exemplar zu und wünsche daß es seinen Beifall haben möge, obwohl ich aus seiner Dissertation3 auf große Differenz der Richtung schließen muß. Es wäre mir sehr viel werth ihn einmal zu sprechen, da eine Verständigung von uns Jüngeren gar zu nothwendig ist und wir Zeitschriftenpläne hegen4 über welche ich seine Ansicht gern kennte.

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Dilthey an Curt Wachsmuth

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Empfehlen Sie mich Ihrer Frau unbekannter Weise u. lassen Sie einmal was von sich hören. Ihr herzlich e[r]g[e]ben[er] Wilhelm Dilthey Berlin, Mohrenstraße 6. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Wachsmuth-NL 171, Nr. 16, 1–2. 1 C. Wachsmuth war seit 1864 o. Prof für klass. Philologie und alte Geschichte in Marburg, ab 1868 in Göttingen. 2 Hermann Langenbeck (1836–1869): Philosoph, Schüler Lotzes; seit 1865 a. o. Prof. in Marburg. – Sein Buch Die theoretische Philosophie Herbart’s und seiner Schule, und die darauf bezügliche Kritik. Untersuchungen. Berlin 1867, war gerade erschienen. 3 Über Atom und Monade. Hannover 1858. 4 Zusammen mit mehreren Kollegen plante D. eine Zeitschrift zum „Allgemeinen Studium der Geisteswissenschaften“; vgl. Brief 237.

[258] Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer [Ende 1867/ Anfang 1868] Liebster, 1. Sendschreiben von Professor Rettig1 in Bern an Usener, welches ich Dich bitte umgehend mir zurückzusenden, da es Usener gleich wieder haben wollte. Nach dem Passus von der „gleichen Quellen“ darf ich nicht dran denken in Bern weiter nützen zu können – bitte aber Boretius2 einen Drücker drauf zu setzen vielleicht. 2. Gestern Abend bin ich sehr wohl hier angekommen und habe drei wunderschöne Tage in Heidelberg verlebt. Das Original hat mir gut gefallen und ich habe versprochen sie in Genf auf dem Landaufenthalt ihrer Schwester zu besuchen; doch geht dies Alles nicht über den Reiz einer eigenen fast poetischen aber passiven und durch ihre Erziehung in ein fast träges und .|.|. inneres Leben geleitete Natur hinaus. Sie ist schlank und groß. Wir haben in Morgenfrühe und abends auf den Bergen und in den Thälern in Natur, Blüthen und blauem Himmel uns gesonnt.

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer

Treitschke’s Frau ist sehr liebenswürdig.3 Er hat das schönste Kind das ich in meinem Leben gesehen. Der Ausgang seiner Kur ist noch fraglich; es ist von Seiten des Apothekers oder Doktors dabei ein verhängnißvolles Versehen gemacht worden. Auch mit Zeller4 habe ich spazieren gehend viel philosophiert und mich überraschend gut mit ihm verständigt. Sehr wohl fühle ich mich hier in meinen vier Wänden, so aufgelegt fleißig zu sein als kaum je in meinem Leben. Ein Brief 5 meiner alten französischen Flamme, den ich fand hier, hat mir auch größstes Plaisir gemacht und ich gehe vielleicht im Sommer einmal 8 Tage nach Paris, wo sie jetzt ist. Grüße alle Freunde vielmals[;] schicke gleich den Brief Rettigs an mich zurück. Wie es auch komme: ist es sehr hübsch für Dich daß wieder eine .|.|. sich für Dich erklärt hat. Sieh ob Boretius noch niemand reichen kann. Hab tausend Dank für Deine Treue an dem letzten Tag in meinem Gemüthsleid. Dein Wilhelm Dilthey Schützengraben 45. Original: nicht überliefert; eine handschriftliche lückenhafte Abschrift des Briefes von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Ritter-NL, Nr. 30, Fasz. 1, Bl.212–213. 1

Georg Ferdinand Rettig (1803–1897): Altphilologe; Prof. für klass. Philologie in Bern. Alfred Boretius (1836–1900): Jurist und Historiker; zwischen 1860 und 1868 Mitarbeiter an den Monumenta Germaniae Historica, zunächst in Halle und Bonn und seit 1862 in Berlin; ab 1868 o. Prof. für deutsches und öffentliches Recht in Zürich, 1871 in Berlin, 1874 in Halle. – Boretius war D. und Erdmannsdörffer aus dem „Club der Selbstmörder“ gut bekannt. 3 Emma Treitschke, geb. von und zu Bodman, war seit dem 18. März 1867 mit Treitschke verheiratet, der seit Juni 1867 eine Professur in Heidelberg inne hatte. 4 Eduard Zeller war 1862–1872 Prof. der Philosophie in Heidelberg. 5 Nicht überliefert. 2

[259] Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer [Ende 1867/ Anfang 1868] Liebster Erdmannsdörffer König1 hat uns schon in Burgdorf 2 in Empfang genommen, ich sagte heraus warum ich käme, er will thun was er kann Dich durchzusetzen. In der Regierung ist er selbst nicht, aber als Führer der Opposition als der einzige Gelehrte unter den politischen Leuten sehr einflußreich. Sehr günstig ist daß man Bernisch-Urkunden3 macht, König selbst 2 Bände übernommen hat

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer

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und ich nun den Nutzen den Du stiften könntest exemplifizieren konnte. Schicke sogleich die beiden Bände Urkunden und Aktstücke die von Dir sind:4 Bern, Herrn Fürsprech König;5 er wünschte sehr sie zu sehn und zu Deinen Gunsten in den Verhandlungen zu benutzen. Außerdem schlug ich den Weg ein sie selber auf Leute kommen zu lassen, welche über etwaige Besetzung Rath geben könnten und so ergaben sich: Max Duncker und Lazar[us]. Sollte Lazar[us] also auch selber nicht schreiben wollen, so habe ich dafür gesorgt daß er gefragt wird. Und dies würde wohl auch sonst geschehen sein. Endlich habe ich vorausgesagt: wenn man Sybel fragen würde, so würde er Noorden6 als seinen Schüler empfehlen, wenn Waitz7 Abel;8 wolle man ein unbefangenes Urtheil, so dürfe man diese beiden nicht fragen. Auch mit Hebler habe ich in diesem Sinne noch einmal alles durchgesprochen. Es wird sehr viel herumgefragt werden offenbar. Man will wie immer was ganz Unübertreffliches. Zunächst fragt sich ob einige Stunden Unterricht am hiesigen Gymnasium mit der Stelle verbunden bleiben. Wenn: dann muß sehr rasch verfahren werden und ich habe hierauf auch mitgedrungen, mit Greifswald etc.9 gedroht. Denn leider habe ich hierüber Nitzsch10 betreffend eine schmerzliche Erfahrung gemacht. Da durch Neubesetzung der Curatel die Berufung verschoben wurde, ist inzwischen (aber darüber in Nitzsch’s Interesse strenges Stillschweigen) ein Brief eines Studenten der im Winter bei ihm gehört hat und der sehr tüchtig sein soll eingelaufen, mit wahrhaft verzweifeltem Bericht. So sagt mir eben unser würdiger ‚Minister des Kultus‘ und fragt ob ich selber in die Curatelsitzung kommen wollte, um noch einmal meine Meinung auszusprechen. Natürlich sagte ich ja und wenn die andern nicht unerhört finden daß ein junger Professor mit in [die] Sitzung kommt, will ich noch einmal mein möglichstes thun. Es ist mir furchtbar verdrießlich: ich möchte Nitzsch auch nicht gern den Sachverhalt sagen. Daraus nimm Dir die Lehre: sehr schöne Vorlesungen in dieser Zeit zu halten, alter Freund – denn sehr leicht möglich schicken sie Dir jemand auf den Hals. Grüße Alles – mache J. B.11 zu schreiben – schreibe selber einmal genau was Du von Bonner Affairen hörst.12 In großer Eile Dein Dilthey Schützengraben13 45.

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer

Sehr lieb wäre mir, Du ließest den Bogen 12 (über Berlin) ehe Du ihn mir schickst einmal bei Bügel14 oder einem andern Competenten (ist es vielleicht Preuß15 drin?) Revue passieren wegen der Wachsthumsverhandlung von Berlin. Ich habe die Zahlen aus König und M[ie]la16 über Berlin. Es ist aber nicht leicht etwas darin als ganz sicher auszugeben, weil die Militärzahl welche eingerichtet wurde wechselte. Vielleicht haben sie auf dem statistischen Bureau etwas zur Controlle. Original: nicht überliefert; eine handschriftliche Abschrift des Briefes von unbekannter Hand ist hinterlegt in: BBAW, Ritter-NL, Nr. 30, Fasz. 1, Bl.206–208. 1

Karl Gustav König (1828–1892): schweiz. Jurist und Politiker; 1854 Rechtsanwalt (Fürsprech), 1871 o. Prof. in Bern, Mitglied des Berner Goßrates und des Ständerates. 2 Gemeinde im Kanton Bern. – In der Abschrift irrtümlich „Burgsdorf“. 3 Urkunden des Kantons und/oder der Stadt Bern. 4 Erdmannsdörffer lehrte seit 1862 als PD an der Berliner Universität und der dortigen Kriegsakademie. Seit 1861 schon arbeitete er zusammen mit G. Droysen und M. Duncker in Berlin an dem Editionsprojekt „Urkunden und Actenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg“. – D. setzte sich für eine Professur seines langjährigen Freundes in Bern ein – aber ohne Erfolg. 5 „Fürsprech König“ steht zweimal in der handschriftlichen Briefabschrift. 6 In der Briefabschrift: „Woorden“. – Karl von Noorden war seit 1868 o. Prof. in Greifswald. 7 Georg Waitz (1813–1886): Rechtshistoriker und Mediävist; Mithg. der Monumenta Germaniae Historica; 1842 o. Prof. der Geschichte in Kiel, seit 1848 in Göttingen. 8 S. Abel, Schüler von G. Waitz, wurde 1868 Prof. in Gießen. 9 Erdmannsdörffer hatte sich 1864 in Berlin habilitiert und bemühte sich seitdem um eine Professur. Erst 1871 wurde er o. Prof. für neuere Geschichte in Greifswald. 10 In dieser Briefabschrift durchgehend statt Nitzsch fälschlicherweise: „Witzsch“. 11 Jürgen Bona Meyer. 12 Der Nachfolger des am 21. Juli 1867 verstorbenen Brandis war noch nicht bestimmt. Erst im Dezember 1867 sandte die Bonner philosophische Fakultät eine Vorschlagsliste (I. E. Zeller, II. J.B. Meyer, III. D.) ans Ministerium. Der Philosoph und Theologe Franz Peter Knoodt (1811–1889), 1845 a. o. und seit 1847 o. Prof. in Bonn, reichte zusammen mit anderen ein Separatvotum beim Ministerium ein, das D. an erster Stelle vorsah, J.B. Meyer an zweiter und den Philosophen und Literaturwissenschaftler Arthur Richter (1837–1892) an dritter. Zudem setzte sich D.s Schwager H. Usener mit einem Gutachten über D. für dessen Berufung in Bonn ein (vgl. JD, S. 251–254). Doch dies schadete D. offenkundig mehr, als dass es ihm nutzte. Die Entscheidung fiel Anfang 1868 für J.B. Meyer aus. Am 10. März 1868 schreibt Knoodt an H. Grimm, der sich offenbar auch für D. eingesetzt hatte: „Die Entscheidung über den Nachfolger von Brandis ist rascher erfolgt, als ich gedacht hatte; Meyer ist schon hier, um sich ein Haus zu kaufen. Ich hoffe an ihm einen lieben Collegen zu gewinnen, obwohl Diltey Ihrer Schilderung nach deren Richtigkeit mir auch von anderer Seite her bestätigt wird, mir lieber gewesen wäre.“ (Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Brief 3514) – Vgl. hierzu auch den Brief Knoodts an Grimm vom 25. 2. 1868 (Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Brief 3513).

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer 13

In der Briefabschrift: „Schützengasse“. Nicht ermittelt. 15 Johann Daniel Erdmann Preuß (1785–1868): Historiker; Hg. der Akademie-Ausgabe der Werke Friedrichs des Großen. 16 Anton Balthasar König (1753–1814): Historiker. – Versuch einer historischen Schilderung der Hauptveränderungen der Religion, der Sitten, Gewohnheiten, Künste, Wissenschaften etc. der Residenzstadt Berlin seit den ältesten Zeiten bis zum Jahre 1786. 5 Bde. Berlin 1792–1799. – Wilhelm Miela (1764–1833): Historiker und Jurist. – Berlin oder Geschichte des Ursprungs der allmähligen Entwickelung und des jetzigen Zustandes dieser Hauptstadt in Hinsicht auf Oertlichkeit, Verfassung, wissenschaftliche Kultur, Kunst und Gewerbe, nach den bewährtesten Schriftstellern und eigenen Forschungen. Berlin und Stettin 1829. 14

[260] Dilthey an seine Mutter Beste Mama!

(Basel, Februar 1868)

.|.|. J.B. Meyer also jetzt in Bonn ernannt. In Berlin drüber großes Erstaunen. Daß die Bonner Fakultät diesen meinen wackeren Freund mir vorgezogen hat! wird ihr wohl bald selber lustig genug vorkommen. Es fällt mir schwer zu verschmerzen, wie wir dort hätten zusammen leben können. Von allem anderen abgesehen, bin ich nun doch einmal in der Familie das beruhigende Element. Ich war einen Tag in Straßburg, den Münster gesehn, Vorlesungen gehört, die Stadt betrachtet, sehr heiter gewesen. Es war, um dem Fastnachtslärm der guten Stadt Basel auszuweichen. .|.|. Mit tausend Grüßen Euer Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 127.

[261] Dilthey an Heinrich von Mühler1 Ew. Excellenz statte ich für das ehrenvolle Vertrauen, mit welchem dieselben mir einen Wirkungskreis in meinem Vaterlande eröffnen, meinen ehrerbietigsten Dank ab und erkläre mich gern bereit, die Professur der Philosophie in Kiel unter den angedeuteten Bedingungen zu übernehmen.2

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Dilthey an Heinrich von Mühler

An meine gegenwärtige Stellung bin ich durch schriftliche Verpflichtung über Ostern hinaus gebunden; obwohl nun die hiesige Behörde auf dieser Verpflichtung nicht bestehen will, so spricht sie doch den dringenden Wunsch aus, daß ich bis zum Herbst der hiesigen Universität angehöre, und die Art ihres Entgegenkommens während meiner kurzen Thätigkeit dahier macht mich zu ihrem Schuldner. Es wäre mir daher von hohem Werth, wenn Ew. Excellenz mir gestatten könnten meinen Amtsantritt in Kiel bis zum Herbst hinauszuschieben.3 Einer Entscheidung Ew. Excellenz, welche mich in den Stand setzen würde, der hiesigen Behörde über den Zeitpunkt meines Abgangs die von ihr sehr gewünschte definitive Anzeige zu machen, ehrerbietigst gewärtig zeichnet Ew. Excellenz gehorsamster W. Dilthey Basel, 14 Februar 1868. Original: Hs., StB PK Berlin, HA, Sammlung Darmstädter, 2 a 1870 (8): Dilthey, 58–59. 1

H. von Mühler war 1862–1872 preuß. Kultusminister. D. hatte den Ruf nach Kiel am 10. Februar 1868 erhalten. – Bereits im Dezember 1867 waren zweimal Erkundigungen deutscher Universitäten – vermutlich Bonn und Kiel – zu den Leistungen und der Lehrtätigkeit D.s in Basel eingeholt worden. Da die Universität Basel fürchtete, D. zu verlieren, war sein Gehalt zum 1. Januar 1868 von 3000 auf 4000 Franken aufgestockt worden (Schreiben der Curatel an das Erziehungscollegium vom 3. 12. 1867; Schreiben des Erziehungscollegiums des Kantons Basel-Stadt an den kleinen Rath vom 12. 12. 1867; Beschluß des kleinen Raths des Kantons Basel-Stadt vom 18. 12. 1867. – Originale: StA Basel-Stadt, PA 511 a 611-17-0588; Erstdruck mit Faksimile in: WD, Nr. 88–92). 3 Notiz auf dem Brief – wahrscheinlich von Minister von Mühler, D.s Bitte betreffend: „Wenn irgendwie möglich, wird die erbetene Frist bis Michaelis [29. September] d[es] J[ahres] zu gewähren sein. M. 17/2“. 2

[262] Heinrich von Mühler an Dilthey Berlin den 21. Februar 1868. Es ist mir sehr erfreulich gewesen, aus Ew. Wohlgeboren Zuschrift vom 14. d[es] M[ona]ts zu erfahren, daß Sie der Berufung an die Universität zu Kiel unter den Ihnen mitgetheilten Bedingungen Folge zu geben bereit sind.

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Heinrich von Mühler an Dilthey

Wenn es mir auch erwünscht gewesen wäre, daß Sie die dortige Professur der Philosophie schon zu Ostern d[es] J[ahres] übernommen hätten, erkläre ich mich doch mit Rücksicht auf die von Ihnen angeführten Umstände damit einverstanden, daß Sie Ihr künftiges Amt erst zu Michaelis d[es] J[ahre]s antreten und behalte mir vor, Ihnen zu seiner Zeit die Bestallung zugehen zu lassen. Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten. Mühler An den Herrn Professor Dr. Dilthey Wohlgeboren in Basel U. 5218. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 17, 3; Erstdruck mit Faksimile in: WD, Nr. 94.

[263] Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer Liebster,

[28. Februar 1868]

1. Hier die Bogen. Ich bitte Dich wegen des zweiten d.h. der Bevölkerungszahlen darin irgendwo Recherche einzuziehen. Von beiden muß ich noch eine Correktur haben. Muß in den Zahlen was [zu] corrigierendes näher bestimmt werden: so bitte ich, thu’s auf eigene Faust, sodaß ich’s dann in der Correktur schon fertig bekomme. 2. Die Berufung nach Kiel habe ich (mit 1440 r.) bekommen und auf den Herbst (da ich noch hier gebunden bin) angenommen. Ich habe das Meine gethan, den Traum,1 meiner Mutter ein heiteres Alter zu bereiten, zu realisiren: es ist nun vorbei damit. Es ist einer der größten Schmerzen meines Lebens, daß ich so von der Hoffnung der Vereinigung mit den Meinen definitiv geschieden bin für die nächsten Jahre. Ich, sofern ich nicht Familienglied bin, gehe sehr gern nach Kiel, wo mich höchst angenehme collegiale Verhältnisse, tüchtige Studenten, eine schöne Gegend erwarten. 3. Es ist erstaunlich verdrießlich daß Lagare2 wieder eigene Wege geht und seine besonderen Absichten verfolgt. Erste Frage wäre gewesen, wer der be-

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer

treffende ist: wir zerbrechen uns hier vergeblich den Kopf darüber. Von Greifswald übrigens die gute Nachricht (durch Bücheler)3 daß Abel dort keine Aussichten, da mehrere Berichte über seine Abgestandenheit umlaufen (wovon nicht zu reden.) Heute schreibt Kießling an Bücheler auch noch einmal deinetwegen, vielleicht lege ich eine Zeile bei, so flüchtig meine persönliche Bekanntschaft mit Bücheler ist. Daß Du Lagare nicht gewinnen konntest, wird Dir jedenfalls in Bern sehr schädlich sein, da man grade durch diesen als nichtofficielle Person über Mitglieder in partibus infidelibus nach Schweizergewohnheit die Nachrichten über Wirksamkeit an der Universität einziehen wird. Sieh was Du noch thun kannst. Hier hat man großen Werth darauf gelegt daß ich noch bis Herbst bliebe, auch bei der Neuberufung mitwirke, dabei mir freigestellt, im Sommer so viel oder wenig zu lesen als ich wolle – nachdem man heftig gearbeitet, mich zu bewegen, mit einer neuen bedeutenden Erhöhung meines Gehalts zu bleiben. Diese Lage zu benutzen, in Kiel ein höheres Gehalt zu bekommen, als der Minister anbot, liegt einmal nicht in meiner Natur. Theile doch J. B. Meyer, Julian Schmidt, Grimm die Sache mit, wenn Du sie siehst. An keinen schreibe ich selber. Genirt Dich’s nicht, wegen der Notiz Dich betreffend, so schicke J. Schmidt diesen Wisch. Hast Du sonst Lust zu Lagare zu gehen: so kannst Du’s ihm von mir mit meinen besten Grüßen vermelden. Irre ich nicht, so würde mein Schreiben eher schaden. In der 2. Hälfte März komme ich. Adieu Liebster Dein alter Wilhelm D. Nachträglich: Du kannst den Brief an Ernst4 lesen. Soll ich die 3 Wochen in Berlin wirklich nützen, so darf die Druckjagd dort nicht wieder angehn und auch jetzt mich nicht plagen. Sieh doch daß die Zahlen in „Berlin“ die aus König etc. sind zuverlässig durchgesehen werden. Sollte nicht Fugal5 darüber Notizen besitzen? Sonst kennt Ascherson auch Dr. Schwabe vom Berliner statistischen Büreau, kann ihn von mir grüßen und um die Revision bitten. Von Bern nichts. Ich erlaube mir gleich auch an J[ürgen] B[ona] einen Zettel beizulegen.6 Original: nicht überliefert; eine unvollständige handschriftliche Abschrift des Briefes von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, P. Ritter-NL, Nr. 30, Fasz. 1, Bl.209–211; Erstdruck (mit erheblichen Auslassungen): JD, Nr. 128.

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer

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Das Wort „Traum“, das in der Abschrift fehlt, wurde aus JD übernommen. Gemeint ist Paul Anton de Lagarde (1827–1891): Orientalist; 1851 Habilitation in Halle, 1854–1866 Lehrer an verschiedenen Berliner Schulen, 1866–1869 Privatier, ab 1869 Prof. der orientalischen Sprachen in Göttingen. 3 F. Bücheler war 1866–1870 Prof. der klass. Philologie in Greifswald. 4 Siehe den nachfolgenden Brief an Ernst Reimer vom 28. Februar 1868. 5 Nicht ermittelt. 6 Nicht überliefert. – Es folgen einige wenige Notizen, die Korrekturbögen betreffend. 2

[264] Dilthey an Ernst Reimer Verehrtester Herr und Freund, Hier kommen endlich nach einer fast vier monatlichen Pause 2 Correkturbogen, denen Sie ansehen werden, warum sie nicht längst absolvirt wurden. Es ist mir sehr schwer gefallen, das erste Capitel des zweiten Buches überhaupt abzuschließen. Ich kam hier in einem Zustand geistiger Erschlaffung im November an, der mir unmöglich machte, zwischen den Vorlesungen stätig fortzuarbeiten. Was für Qualen man dann mit immer neuem Versuchen und Mißglücken aussteht, ist unbeschreiblich. Erst seit Weihnachten bin ich wieder in Gang gekommen u. fange an wieder ordentlich lesen und schreiben zu können. In den letzten 14 Tagen bin ich aufs Neue gestört worden durch die unumgängliche Unruhe einer Berufung. Es wird jetzt auch in Berlin bekannt sein, daß ich nach Kiel berufen bin und angenommen habe. Nicht zuletzt des Schleiermacher wegen habe ich mir ausgewirkt erst im Herbst in meine dortige Stellung einzutreten. Ich erhalte so einen wenigstens halb freien und auf Schleiermacher (über den allein zu lesen ich mir ausbedungen habe) concentrirten Sommer. Dagegen verliere ich allerdings die Möglichkeit jetzt 2 Monate wie ich beabsichtigte mir Ferien zu machen. Ich kann hier nicht vor dem 20ten schließen; ja ich muß auch von der kurzen Ferienzeit einige Tage einem Besuch in Kiel opfern. So wäre mir allerdings sehr wichtig, die wenigen Wochen in Berlin, die für meine Arbeit so wichtig sind nicht durch den Druck gestört zu werden. So erschiene mir allerdings als das Beste, was auch mit Ihren Wünschen wie ich Erdmannsdörffer verstand, übereinstimmen würde: ich ließe Ihnen bei meiner Abreise von Berlin im Anfang Mai den Rest des Schleiermachermanuscripts da u. überließe dann Ihrer Drukkerei, so schnell oder langsam, als eben bequem ist, zu drucken. Denn vor September werden Sie den Band doch nicht ausgeben wollen. Wenn Sie es wünschen: sende ich zu Bogen 13 u. den begonnenen Bogen des Anhangs in

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Dilthey an Ernst Reimer

der Bälde Manuscript, damit auch diese beiden Bogen erledigt und die Typen ganz frei werden. Es werden dann noch etwa 11 Bogen, wie ich rechne, dem Bande fehlen. Sie hätten ein Recht so böse als möglich zu sein. Aber ich weiß, Sie ziehen in Rechnung, welche furchtbaren Aufregungen, neue Verhältnisse, neue Vorlesungen sich in diesem Jahr gekreuzt haben. Mein Bruder läßt sich Ihnen bestens empfehlen. Er schrieb1 u. schickte gestern, auch eine italienische Abhandlung dabei. Eben ist er in Rom, wird im Sommer nach Neapel, Pompeji und Florenz gehn, den folgenden Winter wohl noch nach Rom gehn: dann sich habilitiren. Mit seiner Gesundheit gehts gut, nur daß er behauptet vom vielen Schulmeistern in Berlin einen für alle Zeiten angegriffenen Hals davongetragen zu haben. Mein Wunsch nach Bonn zu kommen ist also vereitelt worden. Es ist mir sehr schmerzlich, meiner Mutter, der Meinigen wegen. Ich habe meine Pflicht gethan, Alles aufzubieten, meiner Mutter durch die Vereinigung mit allen Ihrigen in Bonn ein heitres Alter zu bereiten. Es ist damit vorbei und ich muß es nun zu vergessen suchen. Sie brauchen nur Erdmannsdörffer mit einem Wort Ihre Zustimmung zu sagen. Haben Sie Gründe zu wünschen daß der Druck jetzt beginne: so werde ich auch das durchzusetzen suchen. Empfehlen Sie mich Ihrem Herrn Vater und verbleiben so wohlgeneigt als einem so unglückseligen ersten Debutanten von Schriftsteller gegenüber eben möglich ist Ihrem ergebensten Wilhelm Dilthey. Natürlich kommen die Kosten der Korrektur auf mein Haupt! Basel Schützengraben 45. 28ten Febr[uar] [18]68. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 27–28. 1

Nicht überliefert.

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer

[265] Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer [Ende Februar 1868] Lieber Freund, Es wäre mir lieb, erhielte ich einen neuen Abzug von Bogen 11 und 12 damit ich meine Correkturen übertrage. Grimms und Deine Durchsicht, meine Correkturen dazu geben ein etwas verwirrendes Ensemble. Es wäre mir entsetzlich unangenehm wenn ich, nachdem ich durch furchtbare Anstrengung (nach meinem gegenwärtigen Können gemessen) soweit gelangt wäre den Druck ruhig abwarten lassen zu können: die Druckerei versagte. Aber das habe ich mir gelobt, unter diesen äußern Dingen das Buch selber nicht leiden zu lassen. Ich hoffe hieher in 14 Tagen Manuscript senden zu können, welches ich dann für den Zusammenhang entbehren kann und von da ab würde hieher keine Unterbrechung bis zum Schluß eintreten. Den 10ten März etwa schließe ich hier und komme auf 2 Monate nach Berlin, selber am Druckort und bei der Bibliothek zu sein. Wann Reimer dann das Buch ausgeben will, mag natürlich ganz nach seinem Interesse entschieden werden; ich habe nur zu viel schon gegen dieselben gesündigt; aber den Druck möchte ich sehr ungern in den Sommer sich ziehen sehen, da ich in demselben schlechterdings meiner geistigen Erneuerung und Vergnügung wegen wöchentlich 3 Tage im Oberland sein werde und nur die andern 4 hier in der Stadt, dann in den Sommerferien selber im Juli ebenfalls mich in Einöden vergraben will. Der Druck dagegen würde mich in Basel anbinden. Für den zweiten Band habe ich die Einrichtung getroffen, im Sommer Schleiermachers System zu lesen und dann dabei in dem betreffenden Winkel des Oberlandes die Darstellung seiner Weltanschauung zu schreiben. Für den historischen Theil muß ich dann im Herbst wieder in Berlin zusammenraffen, besonders auch, was aus Archiven zu gewinnen ist. Ich habe wichtige, meine Person nicht betreffende Gründe gehabt diese ganze Confusion anzurichten, wie von meiner Seite das Menschenmögliche zu thun nach Bonn zu kommen. Ich sowohl als die Druckerei leiden jetzt sehr gründlich drunter: nur das Buch sollte und durfte nicht leiden. Das bin ich der Sache schuldig. Denn das wäre nicht gut zu machen, während ich hoffen darf daß der Lauf der Zeit mir Gelegenheit gebe Reimer’s Aufopferungen die ich dankbarst erkenne wett zu machen. Deine Sendung erwarte ich heute. Mahne J[ürgen] B[ona] zum Schreiben: ich bin voll Ungeduld. Doch ich muß zur Arbeit zurück. Ich habe 2 Tage die Vorlesungen ausgesetzt um voranzukommen. Sie kosten grenzenlose Zeit da

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer

ich die ganze Wissenschaftslehre neu habe schreiben müssen. Nun wird sie wohl ein ganzes Leben vorhalten. Ich denke dran ein kurzes Compendium in Druck zu geben. Denn ich glaube viel Neues, das auch wahr ist gefunden zu haben und kann mein Bogen Grundriß nicht mehr wieder gebrauchen.1 Dein Dilthey. Original: nicht überliefert; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist aufbewahrt in: BBAW, Ritter-NL, Nr. 30, Fasz. 1, Bl. 203–205. 1 W. Dilthey: Grundriß der Logik und des Systems der philosophischen Wissenschaften. Für Vorlesungen. Berlin 1865; WA in: GS XX, S. 19–32. – Im Wintersemester 1867/68 las D. in Basel zum zweiten Mal über Logik und System der philosophischen Wissenschaften (3 std.); Abdruck einer Nachschrift dieser Vorlesung in: GS XX, S. 33–126.

[266] Dilthey an seinen Bruder Karl (Basel, [zum 18.] März 1868) Meine herzlichen Glückwünsche, liebster Karl, zu Deinem Geburtstag. Möchte ich diesen und einige andre Tage mit Dir in Rom herumwandern können, anstatt nun wieder die fatale Ferienarbeitszeit vor mir zu haben. Der Minister hat mir bewilligt, erst Herbst nach Kiel zu gehn; hier ist man einverstanden daß ich im Sommer nur 3 Stunden über Schleiermacher’s System lese und über die Ethik Schl[eiermacher]’s Uebungen halte: so daß ich die Hälfte des zweiten Bands, die systematisch ist, noch hier zu absolviren hoffe. Bleibt dann noch die höchst schwierige und interessante historische. Vorläufig bin ich noch tief im ersten Band, untersuchend und schreibend. Die Wissenschaftslehre, die ich nun erst, seit jenem verunglückten Versuch in Berlin,1 wo wir nachher den unvergeßlichen Trauerschoppen in der Jägerstraße tranken, zum zweiten Male gelesen, hat mich den ganzen Winter in Beschlag genommen, wie die zum ersten Mal gelesene Psychologie den Sommer. Ich bin so weit gekommen, daß ich wohl das nächste Mal schon an einen gedruckten größeren Grundriß denken kann; jedenfalls ist der wichtige Plan der Abhandlung über das Studium der Geisteswissenschaften2 bedeutend gefördert worden. Sonst habe ich viel Physiologie der Sinne mit meinem Freunde und Collegen, dem Physiologen His getrieben. Dabei ist denn auch die fundamentale ästhetische Abhandlung,3 über der ich brüte, weiter gekommen. Die über Genesis und Epochen des sittlichen Lebens ruht wieder.4 Sobald ich hinlänglich

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Dilthey an seinen Bruder Karl

weit bin mit diesen Variis, muß der Plan der Zeitschrift in’s Werk gesetzt werden. .|.|. Nicht überzeugt hast Du mich, was Deine Arbeiten anbetrifft. Ich hatte nicht ein Buch gemeint, mit dergleichen ich mich leider Gottes herumgeschleppt habe, sondern eine größere abzuschließende Untersuchung. Dies scheint mir für die betreffenden Jahre das Fruchtbarste. Ob man sie in 10 oder 20 Bogen darstellt, ist dann gleich, je condensirter desto besser. Nur schien mir, daß Du Deine literarhistorischen Arbeiten zu einer allgemeineren Untersuchung concentriren und diese abschließen müßtest. Deine Habilitation betreffend würde wohl außer Bonn nur Berlin in Frage kommen, wo man an der Quelle der Gnaden ist. Habilitirst Du Dich in Bonn: so wirst Du große efforts machen müssen, um Zuhörer zu bekommen. In Berlin findet man es selbstverständlich daß man keine kriegt. .|.|. Soviel in großer Arbeitseile. Laß bald wieder was von Dir hören und sei tausendmal gegrüßt von Deinem Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 129. 1 D.s Berliner Vorlesung Logik, mit besonderer Berücksichtigung der Geschichte und Methode der einzelnen Wissenschaften vom WS 1864/65. 2 D.s Abhandlung Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat erschien erst 1875 in den Philosophischen Monatsheften 11, S. 118–132 und S. 241–267; WA in: GS V, S. 31–73. 3 Die Abhandlung Das Schaffen des Dichters erschien erst 1887 in der Festschrift Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zum 70. Geburtstag gewidmet. Leipzig 1887, S. 304–482; WA unter dem Titel Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik in: GS VI, S. 103–241. 4 Dieses Projekt wurde nicht realisiert.

[267] Dilthey an Hermann Usener Liebster Hermann,

(Berlin März 1868)

Vorgestern hier in Berlin angekommen, will ich Euch doch wieder einmal ein Lebenszeichen geben. Unterwegs war ich bei Knapp,1 der jetzt ein 2jähriges Mädchen hat, Euch tausendmal grüßen läßt, die alte Unruhe in sich hat (im Herbst in New Yorck gewesen); sah eine schöne neue Entdeckung von Helmholtz;2 sprach mit Wundt3 über die Perceptionsmessungsversuche, die er damals schon angef[angen] hatte, aber noch nicht bewältigen kann; hatte

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Dilthey an Hermann Usener

mit Gervinus ein wunderliches Gespräch (welch[er] d[ie] Gesch[ichte] d[es] 19. Jahrh[underts] aufgiebt, neue Aufl[age] d[er] Litt[eratur]gesch[ichte] macht, üb[er] Musik geschr[ieben] hat,4 politisch so weit ist mit Frese5 zu verkehren); hatte am Morgen mit Treitschke einige sehr heitre Stunden (Alles von Nachm[ittags] 4 Uhr bis and[ern] Morgens 11 Uhr). Fuhr nach Fr[an]kfurth wo ich übernachtete um mit Baumann6 zu sprechen, den ich für meinen geeignet[en] Nachf[olger] halte u. gern aus dem Schulwesen herausbr[ingen] möchte; sehr liebensw[ürdige] Frau u. ausgelassner Abend. Dann and[ern] Morgens 6 Uhr 45 gen Erfurt wo ich bei Weber,7 dem Schwager Jolly’s8 die Nacht zubrachte, dessen Frau ich immer noch nicht kennen gelernt hatte; zum Schlafen kams nicht viel; Nachts 2 schmiedeten wir eine teleg[raphische] Depesche an Haym alle drei gen Halle zu fahren, wo sie mich dann entlassen wollten; da aber Frau Weber eben Ursache hat sich sehr zu schonen, erschien er Morgens 6 an m[einem] Bett konnte es doch nicht verantworten: so reiste ich allein nach Berlin, wo Erdm[anns]d[örffer] sich in dem alten Hause, in dem Karl, dann ich gewohnt (Wilhelmstraße 40 a III) ein Zimmer genommen hatte. Unendl[ich] komisch u. tragisch zugleich ist daß man Alles hier vor dem fertig[en] Faktum mit J[ürgen] B[ona] mit großem Reuegef[ühl] steht. Trendelenburg klagt sehr daß es so ge[kommen]; Olshaus[en]9 als ich hereink[am] (es war jemand da; ich ging zu den Frauenzimmern; selbst diese sofort: es sei Olsh[ausen] so schmerzl[ich] und ihnen allen daß ich nicht n[a]ch Bonn etc) Olsh[ausen] gleich, als ich sagte: zuerst wolle ich nur Dank sagen: gehen Sie zum Minister bedanken Sie sich bei dem, dessen Wille war es, wir Alle, Tr[endelenburg] ich wollten Sie nach Bonn haben. Droysens gradezu aufgeregt drüber; nun Versicherung ich möge ja nicht ihrem Onkel10 die Schuld beimess[en]; es sei von anders her disponirt worden. Nun finde Dich aus der ganzen Sache heraus! Es ist zum toll lachen oder – ärgern. Olsh[ausen] entscheidend sei gew[esen] daß ich in Kiel auch von der theol[ogischen] Fak[ultät] in e[iner] ausdr[ücklichen] Bitte a[n] d[en] Minister (das machte der vortreffl[iche] Lipsius11 was mich ungem[ein] freut) erbeten worden sei. Er habe dann gleich gesagt, ich soll da hin. Durchscheinend dag[egen] alle daß der Minister an m[einen] relig[iösen] Ansichten Anstoß für Bonn genommen. (nat[ürlich]: ganz unter uns. Dasselbe hatte schon Roggenbach gesagt u. soll auch Gräf[in] Schwerin, die ich noch nicht besucht geäußert haben). Auch hübsche Antithese. Nun Liebster laß uns klug sein. 1. Über dieses Alles unbed[ingt] schweigen 2. J[ürgen] B[ona] in seiner Absicht erhalten so bald möglich für mein nach Bonn kommen zu agitiren. Er hat das gleich Springer12 gesagt daß dies sein

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wichtigster Wunsch sei – worüber dies[er] ‚sehr erfreut gew[esen]‘!! Hier deuten zw[ar] Olsh[ausen] Tr[endelenburg] Dr[oysen] durch die Blume an es sei wahrsch[einlich] gut daß [es] so gek[ommen], Andres sei erwünschter etc. – ich hab aber meinen Kopf drauf gesetzt, selbst lieber als hier mit Euch zu leben u. zu sterben. Montag will ich zum Minister u. bin sehr begierig was er sag[en] wird. Nachd[em] d[ie] Besuche absolvirt: stürze ich mich heute in d[ie] Arbeit u. denke sehr fleißig zu sein. Zunächst habe ich mich denn dazu durch dies Sendschreiben an Euch, Ihr Liebsten, und die Bibricher (denn ich bitte, es dies[en] gleich schicken zu wollen) gestimmt. Laz[arus] war denn mit mir zugl[eich] in Kiel vorgeschl[agen] u. wäre gern hingegangen. Auch Überweg wünschte es sehr, hinzuk[ommen]. (wie hätte mich gefreut wenn der Papa erlebt hätte, daß ich alle meine Altersgenossen u. viel Ältere in der Philosophie überflügelt, trotz meines närrischen Lebenslaufs) Daß d[ie] Absicht nicht sei daß ich zu lange in Kiel bleib[en] solle, sagen Alle. Olsh[ausen] klagte sehr über die ihn Bestürmenden, bes[onders] Schaarschmidt,13 den sie viell[eicht] doch nach Marburg thun; andrerseits Langenbek bittet ihn doch da wegzuthun. Jedenfalls werde ich jetzt in den nächst[en] 3 Jahren so viel vor mich bringen daß s[ie] sich erstaunen sollen. Nun Ihr Liebst[en] laßt bald was von Euch hören. Grüßt die Kleine unbändig von mir u. denkt Eures Wilhelm Berlin Wilhelmstr. 40 a 3 Tr[eppen] Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL, S 2102, 3, 36; ein maschinenschriftliches Transkript ist aufbewahrt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 m; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 130. 1 Hermann Jakob Knapp (1832–1911): Augen- und Ohrenarzt; 1865 Prof. der Augenheilkunde in Heidelberg, 1868 Gründer des „Ophthalmic und Aural Institute“ in New York. 2 Um 1870 befasste sich Helmholtz mit Untersuchungen zur Elektrodynamik. 3 Wilhelm Maximilian Wundt (1832–1920): Physiologe, Psychologe und Philosoph; 1857 PD in Heidelberg, 1858–1863 Assistent von Helmholtz, 1864 a. o. Prof. der Physiologie in Heidelberg, 1874 o. Prof. für induktive Philosophie in Zürich, 1875 o. Prof. in Leipzig, dort (1879) Gründung eines Instituts für experimentelle Psychologie. 4 G.G. Gervinus: Geschichte des 19. Jahrhunderts seit den Wiener Verträgen. 8 Bde. Leipzig 1856–1866. – Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. 5 Bde. Leipzig 1835–1842. – Händel und Shakespeare. Zur Aesthetik der Tonkunst. Leipzig 1868.

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Julius Frese (1821–1883): Berliner Schriftsteller, Übersetzer und Politiker. Julius Baumann (1837–1916): Philosoph; derzeit Gymnasiallehrer, ab 1869 Prof. der Philosophie in Göttingen. 7 Max Weber sen. war zwischen 1862 und 1869 Stadtrat in Erfurt. 8 Julius Jolly (1823–1891): Rechtswissenschaftler und badischer Politiker; 1857 Prof. der Rechtswissenschaft in Heidelberg, 1861–1866 Rat im badischen Innenministerium, 1866 Innenminister, 1868–1876 Vorsitzender des Gesamtministeriums. 9 Justus von Olshausen (1800–1882): Orientalist; 1823 a. o., 1830 o. Prof. in Kiel, 1853 o. Prof. und Oberbibliothekar in Königsberg, 1858–1874 Vortragender Rat (Referent für alle preuß. Universitäten) im preuß. Kultusministerium. 10 Droysens zweite Ehefrau Emma (1829–1881), geb. Michaelis, die er 1849 geheiratet hatte, war eine Nichte von Olshausens Ehefrau Marie, geb. Michaelis. 11 Richard Lipsius (1830–1892): protest. Theologe; 1859 a. o. Prof. in Leipzig, 1861 o. Prof. in Wien und seit 1865 in Kiel, bevor er 1871 nach Jena wechselte. 12 Anton Springer (1825–1891): Historiker und Kunsthistoriker; 1859 Prof. der Kunstgeschichte in Bonn, 1872 Prof. für neuere Kunstgeschichte in Straßburg, 1873 in Leipzig. 13 Carl Schaarschmidt (1822–1908): Philologe, Philosoph und Bibliothekar; seit 1859 a. o. Prof. in Bonn. 6

[268] Dilthey an seine Mutter (Berlin, März 1868) .|.|. Beste Mama, laß nicht trübe Gedanken in Dir festsitzen, sich einwurzeln. Möchtest Du doch Deine alte Musik wieder zu Zeiten mit Mariechen hervornehmen, feste gesellige Verhältnisse zu pflegen wieder anfangen; ich hoffe bestimmt daß ich in wenigen Jahren nach Bonn komme, wer kann sagen wie bald; Hermann und J[ürgen] B[ona] Meyer müssen stätig und fest dahin wirken. .|.|. Also beste Mama lebe nach Kräften in der Gegenwart und denke Dir die Zukunft heiter. Du mußt noch einmal alle Deine Kinder in Bonn um Dich haben. Ich arbeite hier unter unendlichen Störungen. Allabendlich bis 2 mal eingeladen – oft Mittags – viel Besuch – ich habe die größte Mühe meinem Aufenthalt den rechten Ertrag abzugewinnen. .|.|. In diesen Tagen war ich auch bei dem Minister, der freundlich war, aber nichts von der ganzen Bonner Angelegenheit erwähnte. Meine Ernennung will er jetzt in der nächsten Woche dem König vorlegen. Es wird behauptet, meine religiösen Ansichten erregten ihm (dem Minister) einiges Bedenken gegen mich, doch glaube ich vorläufig nicht, daß er sich um diese irgend gekümmert hat bei einem Philosophen, der gar keine Neigung hat sich in kirchliche Aktionen zu mischen.

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Dilthey an seine Mutter

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.|.|. Es scheint fast, als würde ich über Frankfurt reisen und durch irgend ein Arrangement Euch sehen. Die Vergnügungstour wird wohl wieder fallen zugunsten 1. meiner Arbeit 2. meines Bedürfnisses, in Göttingen Lotze in der Vorlesung zu hören, in Heidelberg Treitschke, sowie verschiedene andere Nebenabsichten. Sorgt also hübsch, daß Ihr, wenn in 14 Tagen die Frühlingssonne scheint, gesund und mobil seid. Einsam, beste Mama, wie Du Dich in Biebrich fühlst, fühle ich mich auch ungeheuer mitten unter den hiesigen und den Baseler Freunden und Genossen. Man tauscht in der Welt Schranken der Existenz um neue Schranken ein. Dabei kann denn niemand auch nur zu einem erträglichen Glück kommen, der nicht durch innere Ruhe der Seele Widerstandskraft gewinnt. Leicht zu sagen, auch mir meist unmöglich zu thun! .|.|. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 131.

[269] Friedrich Ueberweg an Dilthey K[önig]sb[er]g in Ostpr[eußen] 20. April 1868 Verehrter Herr College! Da ich über meine Wünsche, und unerfüllt gebliebenen Hoffnungen in der Kieler Angelegenheit mich schon ausführlich in dem Briefe an unsern Freund Toeche,1 der dieses Ihnen mitgetheilt hat,2 ausgesprochen habe, so brauche ich jetzt, nach Empfang Ihres freundl[ichen] Briefes,3 nur weniges darüber hinzuzufügen. Unsere Wünsche wären recht wohl miteinander vereinbar. Ich habe mich hier, solange ich Extraordinarius war, wohl gefühlt.4 Ein Ordinariat hier zu erhalten, hat nie in meinen Wünschen gelegen, und ich war im höchsten Grade erfreut, als sich in Kiel eine Aussicht zu bieten schien, in andere, für mich allem Anschein nach in jedem Betracht günstigere Verhältnisse zu treten. Was mir fehlte, war rechtzeitige Instruction; hätte ich diese zu erlangen vermocht, so würde ich den vielleicht nicht aussichtslosen Versuch unternommen haben, den Minister für meine Combination zu gewinnen. An ein Weggehen aus Preußen habe ich aber doch nur in den ersten Tagen gedacht, als ich nach langem peinlichem Harren die Nachricht von der verlorenen Aussicht empfing; in ruhiger Stimmung denke ich nicht mehr daran. Und, insbesondere nicht an eine Uebersiedelung nach Basel, falls diese Möglichkeit sich etwa von neuem bieten sollte. Denn das einzige Colleg, welches

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Friedrich Ueberweg an Dilthey

ich zu einiger Befriedugung der Zuhörer (wodurch die meinige bedingt ist) halte, ist die Gesch[ichte] der Philos[ophie] und die ist ja gerade auch Steffensen’s Hauptcolleg. In Kiel aber vertritt Thaulow5 die philos[ophischen] Doctrinen und insbesondere auch mit größter Lust und Liebe die Pädagogik. Die geringe Zahl der Studierenden hätte mir volle6 Muße zu schriftstellerischen Arbeiten gewährt. Ich habe am Gymn[asium] unterrichtet, und gern mit voller Lust, in Sec[unda] u. Prima (Hebr[äisch], Homer u. Soph[okles], ph[i]l[o]so[phische] Propädeutik); ich liebe auch den mündl[ichen] Wechselverkehr mit Stud[ierenden] in ph[i]l[o]so[phischen] Ueb[un]gen; aber in dem fortlaufenden Kathedervortrag finde ich nur eine leidige Nothwendigkeit. So lange Rosenkranz7 noch seine volle Wirksamk[ei]t übte u. ich ihn nur in bestimmten Beziehungen zu ergänzen hatte, stand alles wohl. Aber jetzt ist er häufig leidend; in dem bevorst[ehenden] Sommersemester wird er, seines Augenübels wegen üb[er]h[aupt] nicht lesen, sondern auf’s Land gehen; um ihn zu ersetzen, bedarf es für eine Univ[ersität] von der Bedeutung wie K[öni]gsb[er]g eines Mannes, der auch als Docent auf dem Katheder von hervorragender Bedeutung ist, und das ist es leider gerade, was ich an mir am allerwenigsten rühmen kann. Nicht als ob es mir ganz an Erfolgen fehlte: Aber ich vermag nur Einzelne zu gewinnen, und seltsamerweise meist körperlich Leidende, die vorwiegend Philosophie treiben; für Andere sind meine Voträge zu langathmig und ermüdend. In Lehrbüchern die richtigen Fragen zu treffen, gelingt mir unvergleichlich mehr, als auf dem Katheder. Solche philos[ophischen] Studien, wie ich sie wünsche und zu erzielen suche, fordern Muße, und jetzt raubt ja die leidige Germanistik den nach dem neuen Prüf[un]gsreglement mit einem bunten Allerlei belasteten Philologen noch die wenige Muße, die sie früher wohl der Philosophie zuzuwenden pflegten. [Briefschluss fehlt.] Original: Hs.; das Brief-Fragment ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 258, Bl. 504 R–505. 1 Theodor Toeche (1837–1919): Historiker und Verleger; seit 1860 Mitinhaber des Verlages E.S. Mittler & Sohn in Berlin. 2 Nicht überliefert. 3 Nicht überliefert. 4 Ueberweg war seit 1862 a. o. Prof. in Königsberg und wurde dort 1868 zum o. Prof. ernannt. 5 Gustav Ferdinand Thaulow (1817–1883): 1846 a. o., 1854 o. Prof. der Philosophie, Pädagogik und philosophischen Naturwissenschaften in Kiel. 6 Im Original: „voller“.

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7 Johann Karl Friedrich Rosenkranz (1805–1879): Philosoph; 1831 o. Prof. in Halle, 1833 in Königsberg, 1848 Vortragender Rat im Berliner Kultusministerium, seit 1849 wieder Prof. in Königsberg.

[270] Dilthey an seine Mutter Liebste Mama! Vorgestern Abend bin ich denn wieder hier in Basel angelangt. Ich habe mich auf der Reise nur in Heidelberg aufgehalten wo ich Knapp Adieu sagte, der im Herbst nach New York geht, in Treitschke’s und Zeller’s Vorlesung war, mit beiden verschiedene Dinge besprach, die mir wichtig waren, und bei Treitschke einem Fräulein Hegewisch1 aus Kiel, welches seit vielen Jahren da sich größter Localkenntnis und großen Ansehns erfreut, meine Bedürfnisse, eine Wohnung betreffend, auseinandersetzte. Sie glaubt eine für mich passende Wohnung zu wissen, woran ich schon ganz zu zweifeln begann. Möge sie sich nicht täuschen. In Berlin war die Verbindung vieler Arbeit und massenhafter Freunde und Bekannten zuletzt etwas sinnverwirrend. Der Briefbote, welcher jeden Morgen 3–4 Briefe brachte, meinte schließlich, bei mir sei wohl jeden Tag Geburtstag. Den Eindruck betreffend, welchen ich dort über die Absichten mit mir in der Zukunft hatte, meint Hermann, vielleicht sehr mit Recht, ich sähe eben alles sehr optimistisch an; ich will also lieber drüber schweigen. .|.|. Seid alle tausendmal gegrüßt von Eurem treusten Wilhelm Schützengraben 45. 5. Mai 1868 Basel. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 132. 1 Charlotte Friederike Dorothea (gen. „Lotte“) Hegewisch (1822–1903): Gastgeberin eines Kieler Salons, Autorin und Herausgeberin, Nichte des Historikers und Politikers Friedrich Christoph Dahlmann und Freundin Treitschkes seit dessen Aufenthalt in Kiel.

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Dilthey an die hohe Curatel Basel

[271] Dilthey an die hohe Curatel Basel Nachdem ich über meine Berufung nach Kiel im Februar dieses Jahres dem Herrn Präsidenten der hohen Curatel Mittheilung gemacht und der Zeitpunkt des Austritts aus meinem hießigen Amtsverhältniß auf den kommenden Herbst [18]68 festgesetzt worden ist: zeige ich nunmehr einer hohen Curatel meine den 29 April erfolgte Ernennung in Kiel an und bitte gehorsamst um die formelle Entlassung aus meiner Stellung an der hießigen Universität zum Herbst dieses Jahres. Dabei drängt es mich, auszusprechen wie dankbar ich das Interesse der hohen Unterrichtsbehörde an meiner Thätigkeit empfunden habe. Auch in der Entfernung wird mir immer Bedürfniß sein, mich als der hießigen Universität fortangehörig betrachten zu dürfen. Einer hohen Curatel ganz gehorsamster Professor Wilhelm Dilthey den 5ten Mai 1868 Basel. Original: Hs.; StA Basel-Stadt, PA 511 a 611-17-0588; Erstdruck mit Faksimile in: WD, Nr. 96.

[272] Das Erziehungskollegium des Kantons Basel-Stadt an Dilthey Wir Präsident u. Mitglieder des Erziehungskollegiums des Kantons Basel-Stadt1 urkunden anmit Daß Herrn Dr. phil. W. Dilthey aus Biebrich, Königreich Preußen, in folge Berufung vom 22 December 1866 als ordentlicher Professor der Philosophie an der hiesigen Universität seit dem Anfang des Sommer Semesters 1867 wirksam gewesen ist und daß derselbe nunmehr einem Rufe an die Universität Kiel folge leistend, um seine Entlassung aus dem hiesigen Staatsdienste nachgesucht hat, welchem Ansuchen unsre h[ohe] Regierung durch Beschluß

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Das Erziehungskollegium des Kantons Basel-Stadt an Dilthey

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vom 27 Mai auf unsern Antrag entsprochen hat; sie entläßt den Herrn Professor W. Dilthey auf Ende laufenden Semesters aus seiner hiesigen Anstellung. Bei diesem Anlasse versichern wir dem Herrn Professor W. Dilthey unsrer vollen Anerkennung für seine erfolgreiche Thätigkeit an unsrer Universität. Zu Bezeugung dessen wird die gegenwärtige Urkunde ausgestellt Basel 27 Mai 1868. Im Namen des Erziehungskollegiums der Präsident: W.m Vischer d[es] R[aths] der Sekretär: Dr. Paul Speiher Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey 17,4. 1

Gedruckter Kopfbogen.

[273] Dilthey an seine Schwester Marie Liebstes Mariechen,

(Basel, um Pfingsten 1868)

Freilich wäre ich sehr gern bei dem Familiencongreß gewesen. Aber die Hitze ist hier eine Zeit lang so unerträglich gewesen, daß die Arbeit langsam vorrückte. So flüchtete ich gerade in den Pfingsttagen mit meiner Arbeit nach Selisberg am Vierwaldstätter See, wo ich denn ein paar Tage auf der Schwendyflüh im Wald mit meinen Büchern gelegen habe, nur wenn Fütterungszeit war, zu meiner Pension zurückkehrend. Jetzt athmet man endlich wieder auf, beginnt zu leben und zu arbeiten. Inzwischen liegt immer noch dies ganze Jahr hindurch ein Druck auf mir; ich bin nicht mehr der ich war. Es ist nicht körperlich. Ich habe an nichts rechte Freude. Leider auch an der Arbeit selten, und ich fürchte nur, man wird ihr eine Art von stumpfer Gleichgültigkeit der Seele ansehen. Ich habe Glück sehr nöthig, und Ihr habt sehr recht, wenn Ihr Euch umguckt, ob es in Eurer Nähe irgendwo für mich hereinspatziert. Diese letzten drei Jahre meines Lebens waren so leer und öde für mich, und meist noch schlimmer, schmerzhaft

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Dilthey an seine Schwester Marie

und traurig, so daß es so nicht mehr lange fortgehn kann. Sonderbar, so lange Vater gesund war, konnte ich, in der Fülle des Glücks lebend, ihm das Richtige, Geld zu verdienen, einen Namen in der Welt zu haben, nicht bieten. Seit er krank ward, setzte ich Himmel und Erde in Bewegung, es durchzusetzen. Nun er, dem es so viel Vergnügen gemacht hätte, nichts mehr davon haben kann, fängt es an, sich bei mir, dem es so gleichgiltig ist (soweit es über die Nothwendigkeit des Lebens geht) einzustellen. .|.|. Scholzens laß ich bestens grüßen, wenn sie inzwischen auf Schloß Langeweile1 angelangt sind. Karls Brief ist an Herrmann befördert. Ich fand all Eure Briefe2 erst, als ich von Selisberg zurückkehrte. An Italien ist kein Gedanke mehr; ich werde, nach Vollendung meiner 2 Bände, Winter in einem Jahr, in Kiel Urlaub bekommen zu einer italienischen Reise – hoffentlich mit meiner künftigen Frau. Macht nur Frl. K.3 hübsch fortdauernd die Cour und guckt Euch sonst nach einer Reisegefährtin um. .|.|. Nächstens könnt Ihr das Gegenstück meiner Photographie haben: mit einem Barte, der freilich erst 3 Wochen alt ist, aber von den Dimensionen, die Ihr an dem Hermann’s kennt, zu werden verspricht. Ihr könnt dann urtheilen, ob das Ungeheuer weitere Pflege verdient. Stimbes laß ich bestens grüßen und bei ihm anfragen, ob er eine von den gegenwärtigen zahmen Photographien haben will oder eine bärtige. Im letzten Fall muß er sich freilich noch 2 Monate gedulden, damit er auch nach was aussieht. Nun lebt wohl Ihr Liebsten und laßt bald und öfter von Euch hören. In den nächsten 3 Wochen muß ich furchtbar arbeiten; erwartet da also keinen Brief. Ich bin Euch ohnehin sehr voraus. Tausend Grüße Euer Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 133. 1 2 3

Gemeint ist die Hammermühle bei Biebrich, Besitztum der Familie Scholz. Nicht überliefert. Nicht zu ermitteln.

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Dilthey an Gustav Droysen

[274] Dilthey an Gustav Droysen1 Meinen herzlichen Glückwunsch, lieber Freund, zu Ihrer Verlobung. Ein wenig unverzeihlich finde ich, daß Sie nicht Ihren Freunden durch eine Photographie Ihrer verehrten Braut ein wenig die Phantasie unterstützt haben. Hätten Sie wenigstens ein paar Wochen früher sich verlobt, so hätte ich doch bei den Ihrigen in Berlin etwas dergleichen gesehen. Von mir ist nichts zu erzählen als daß ich recht fleißig bin und zum Schluß die Schweitz noch gründlich genieße. Nach Kiel gehe ich im October. Ich habe so eine Ahnung als ob wir uns doch noch einmal zusammenfänden. Inzwischen empfehlen Sie mich dem Wohlwollen Ihrer Fräulein Braut. Grüßen Sie Haym, Schmoller, Gosche, wenn Sie dieselben sehen. Und vergessen Sie in dem neuen über uns alle erhabenen „Puppenstand“ (seid wir Schumanns 2ten Theil des Faust2 hier in diesen Wochen gehört ist dies für uns der höchstpoetische Ausdruck des höchsten Vorbereitungszustands zu einem höhern) nicht ganz der alten Freunde. Ihr Dilthey Basel, Schützengraben 45. Mitte Juni [18]68. Original: Hs.; ULB Sachsen-Anhalt, Halle, Droysen-NL Yi 32 III D 19. 1 Gustav Droysen (1838–1908): Historiker, Sohn des Historikers Johann Gustav Droysen; 1864 Habilitation in Halle, 1869 Extraordinarius in Göttingen, ab 1872 o. Prof. in Halle. 2 Robert Schumann (1810–1856): Szenen aus Goethes Faust (1844–1853).

[275] Dilthey an Alfred Edwin Boretius1 [Basel, Juni 1868] Seit lange, lieber zartsinniger Boretius fühle ich ein dringendes Bedürfniß von Ihnen einmal wieder gründlich abgescheuert u. mit der bekannten angenehmen Lauge gereinigt zu werden. Aber abgesehen von diesem Bedürfniß meines höheren, der Askese pflichtmäßig zugewandten Selbst freue ich mich unbändig, einmal wieder mit Ihnen zu berolinisiren. Sie sind also am Sonntag herzlich willkommen. Zu sehn ist hier nichts als die Galerie, in die ich gern

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Dilthey an Alfred Edwin Boretius

mit Ihnen gehe. Alsdann werden wir zusammen an meinem gewöhnlichen Tisch in den drei Königen2 essen. Und wenn die erste Hitze vorüber gehen wir mit dem Pandektisten Hartmann3 u. m[it] Kießling nach dem wunderschönen Hallingen, einen kühlen Trunk zu thun. Wenn Sie hübsch bescheiden in Ihren Ansprüchen sein wollen, logiren Sie dann bei mir. Denn so bald werden Sie hier nicht fortgelassen. Schreiben oder telegraphiren Sie nur damit man Sie an der Bahn in Empfang nehmen kann. freundschaftlich der Ihrige Dilthey Basel, Schützengraben 45.4 Original: Hs.; StB PK Berlin; HA, Sammlung Darmstädter, 2a 1870 (8): Dilthey, 4. 1

A. Boretius war seit 1868 o. Prof. in Zürich. Gasthof in Basel. 3 G. Hartmann war o. Prof. für römisches Recht. – Pandektist: Zivilrechtler für römisches Recht. 4 Im Original darunter nachträglich von fremder Hand: „Juni 68“. 2

[276] Dilthey an Gustav Teichmüller Basel, Schützengraben 45 [Juni/Juli 1868] Lieber Freund! Ich wollte Ihnen kein Wort schreiben bevor ich Ihnen zur glücklichen Beendigung Ihrer Berufungsangelegenheit gratuliren könnte.1 Es freut mich herzlich, daß nun Alles geordnet ist. Der Berufung geht hier keine Befragung der Fakultät vorher, sondern die Regierung verständigt sich mit den Sachverständigen. Steffensen hatte keinen entschiedenen Wunsch, wünschte eine Berücksichtigung von Seydel,2 Hebler. Es war mir möglich gleich geltend zu machen daß schlechterdings nur von Ihnen und Baumann die Rede sein dürfe. Vischer hat ein so gutes Urtheil daß diese meine Überzeugung von ihm schon als ich im Winter meine Anfrage aus Berlin erhielt sofort acceptirt und festgehalten wurde. Ich hielt indes Sie zu nennen für bloße Formsache u. glaubte nicht daß Sie von Göttingen wegwollten. So blieb die Sache liegen bis ich aus den Ferien meine Ernen-

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Dilthey an Gustav Teichmüller

nung mitbrachte, sie also erledigt werden konnte. Ich kam noch mit der Überzeugung daß Baumann (den ich auf d[er] Durchreise besucht habe) mein Nachfolger werden würde. Da mir aber inzwischen ein Brief von Ziller3 zeigte daß man Hoffnung haben würde Sie hierherzubekommen u. andrerseits sich bei Baumann (auf Vischer’s Reise [?]) pecuniäre Schwierigkeiten herausgestellt hatten: war ich entschieden daß nun von Ihnen die Rede sein dürfe; Vischer, Steffensen u ich waren Alle einverstanden. Es war nicht einmal nöthig daß ich in die Sitzung der Curatel ging, in welche ich eingeladen war, da Alles über Sie einig war. So kommen Sie also, von Allen mit Freude begrüßt u. ich hoffe Sie werden sich hier sehr behaglich fühlen. Ich schreibe Ihnen nichts über die hießigen Verhältnisse, da Vischer Ihnen davon ausführlichen Bericht gegeben haben wird, aber ich werde gern jede Ihrer Fragen beantworten und wenn Sie sonst einen Wunsch hier haben zu Ihren Diensten sein. Sie finden hier vortreffliche collegialische Verhältnisse, fleißige Studenten u. die Nähe der schönsten Gegenden. Wer wie Sie mit Familie u. im Stande ein Haus zu machen hierherkommt, wird sich sicher auch sehr angenehme gesellige Verhältnisse hier schaffen. Hoffentlich kommen Sie früh genug daß ich Sie hier noch sehe. Es ist schön daß, nach unsrer glücklichen Jugendfreundschaft, unsre Existenz so wieder aneinanderrückt. Empfehlen Sie mich unbekannter Weise Ihrer Frau u. leben Sie wohl. Ihr Wilhelm Dilthey Original: Hs.; UB Basel, Teichmüller-NL, 716; Erstdruck: ASpPh, S. 408–409. 1

Teichmüller wurde 1868 der Nachfolger D.s in Basel. Rudolf Seydel (1835–1892): Philosoph und Theologe; 1867 a. o. Prof. der Philosophie in Leipzig, lehrte seit 1865 auch vergleichende Religionsgeschichte. 3 Nicht überliefert. – Tuiskon Ziller (1817–1882): Philosoph und Pädagoge; 1864 a. o. Prof. der Philosophie in Leipzig. 2

[277] Dilthey an seinen Bruder Karl Basel Schützengraben 45

7. Juli (1868)

Liebster Karl, Dein Nichtschreiben ist wirklich unverantwortlich. .|.|. Der erste Band des Schleiermacher ist immer noch ein gutes Stück vom Abschluß entfernt, da ich im vorigen Sommer gar nichts außer dem Druck, im folgenden Winter sehr wenig neben meinen Collegien thun konnte und erst in die-

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Dilthey an seinen Bruder Karl

sem Sommer mehr Zeit gewonnen habe. Ich bin auch am zweiten recht fleißig, da es unmöglich ist, ohne Vieles in ihm festgestellt zu haben, den ersten zu machen. Ob es mir gelingen wird, den zweiten in Jahresfrist abzuschließen, weiß ich nicht; gehe aber nöthigenfalls auch mit einem halben Abschluß desselben nach Italien, im Herbst in einem Jahr, wenn sich nicht meinem Urlaub inzwischen ein Hinderniß in den Weg stellt. .|.|. Als meinen Nachfolger hier habe ich, da Baumann aus finanziellen Gründen nicht festgehalten werden konnte, Teichmüller durchgedrückt, da ich hörte, daß er in Göttingen verzweifle und sich mit dem Gedanken trage, die Universitätscarriere aufzugeben. Er hat mir einen Brief 1 über sich und mich geschrieben, aus dem ich sehe daß er der alte sonderbare Heilige ist, der Allem gegenüber eine logische Positur einnimmt. Sehr schade ist daß Töppritz2 sich nicht habilitiren kann vorläufig. Er scheint ein feiner Kopf und ein edler Mensch. Mit seiner zeitlosen, von Freiheit erfüllten Welt hinter der, die uns gegeben ist, hat freilich mein Realismus keinen Verständigungspunkt; dieser einfache und reine Kantianismus würde aber auch bei ihm schwerlich vorhalten, wenn er durch Vorlesungen mit den einzelnen Aufgaben der Philosophie allseitig in Beziehung käme. Auch in diesem Semester höre ich eine physiologische Vorlesung und treibe Physiologie. In Kiel werde ich sobald als möglich Mathematik anfangen. Es ist nicht zu sagen, was das Anfangen ganz neuer Disciplinen zu fruchtbaren Gedanken disponirt. Wann werde ich Zeit haben, einmal zu ordnen, was ich jetzt so durchdenke und leider nur zu selten aufschreibe! Ohne mein Wollen und absichtliche Anstrengung bildet sich allmählich der Zusammenhang einer Weltansicht in meinem Kopf. .|.|. Erdmannsdörffers Schicksal3 liegt mir unsäglich am Herzen, da er selber den gegenwärtigen Zustand nicht mehr erträgt. Ich habe in Bern für ihn gewühlt und Hermann hat mich kräftigst unterstützt; es war keine Frage daß die Professur ihm zukam. .|.|. Trotzdem wird wahrscheinlich auch hier, wie überall in Universitätssachen, wo nicht große fertige Leistungen ins Spiel kommen, denen sich dann alles beugt, der persönliche Einfluß entscheiden, und dann würde wohl Lazarus durchdringen bei der ganz nichtsnutzigen Berner Demokratenregierung. .|.|. Nun also, Liebster, bald ein ordentlicher Brief. Dein Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 134. 1 2

Nicht überliefert. Ev.: Rudolf Zöppritz: Philosoph.

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Dilthey an seinen Bruder Karl

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3 Nach seiner Habilitation 1861 in Berlin hatte Erdmannsdörffer seit 1864 an der Berliner Kriegsakademie Geschichtsvorträge gehalten. Erst nach dem Erscheinen seines Buches Graf Georg Friedrich von Waldeck. Ein preußischer Staatsmann im 17. Jahrhundert im Sommer 1869 erhielt er einen Ruf an die deutsch-russische Universität Dorpat, den er jedoch ablehnte. Nach der sich hieran anschließenden Ernennung zum Extraordinarius in Berlin folgte er im Dezember 1870 einem Ruf nach Greifswald, wechselte 1872 nach Breslau und war ab 1874 Prof. der Geschichte in Heidelberg auf dem Lehrstuhl des nach Berlin berufenen Treitschke.

[278] Dilthey an Wilhelm Scherer Verehrtester Freund, Wie schade daß Sie nicht auch dieses Jahr noch einmal den Versuch machen wollen, auf dem Rigi täglich ein paar Stunden zu arbeiten u. die andre Zeit da zu verschleudern, wie man sich’s doch das Jahr über wirklich verdient. Ich habe von diesem Arbeiten auch keine excentrischen Vorstellungen; aber ich will nun einmal in einer der großen Alpenaussichten ein Dutzend Tage ruhig schwelgen, was ich mir bis heute noch nicht gegönnt habe. Das kann Davos mir nicht bieten. So habe ich denn beschlossen vom 20ten bis 30ten Juli in einem stillen Zimmer der seitab stehenden ersten Dependence von Rigikaltbad1 jeden Morgen ein paar Stunden zu arbeiten u. dann mich mit meinen Gedanken allein herumzutreiben. Die im Ganzen schlechte und lärmende Gesellschaft dort soll mich hoffentlich nicht stören: sonst gehe ich eben einfach wieder ab. Dann kehre ich nach Basel zurück, denke aber für Pontresina2 ein paar Tage zu gewinnen, um ohne Bücher, mit Alpenstock u. Tasche Gebirgstouren zu machen; dann will ich Sie in Davos aufsuchen u. wo möglich mitnehmen. Meine Ferien dauern bis zum 20ten August vom 18ten Juli ab. Ists Ihnen also des Schreibens nicht zu viel, so lassen Sie mir ein Wort zukommen, wie lange Sie in Davos, wie lange in der Schweiz überhaupt zu bleiben gedenken. Ich richte mich dann danach ein. Offenbaren Sie sich doch auch, wenn der Wunsch nicht indiscret ist, etwas näher über die ausgezeichneten Geister, die sich da um Sie versammeln. Übrigens sitzt man in Davos, wie ich höre, wenn man in einem der Gasthöfe wohnt, eben so dicht aufeinander als auf dem Kaltbad. Doch was hilft das! Ihr Entschluß scheint unwiderruflich. Daß Raphael und Lichterfelde3 wachsen u. beide den Neid aller Kunstgeschichte beflissenen erregen werden: ist ja ein beständiges Doppelvergnügen. Ich weiß nicht worüber sich die Kunstspargel mehr ärgern wird. Was mich betrifft, so gehts in beiden Theilen des Buchs langsam voran, wie’s eben das Professorenmetier mit sich bringt; doch so daß im Herbst der erste Band

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Dilthey an Wilhelm Scherer

ausgegeben werden wird und der Haupttheil des zweiten, die Darstellung der gesammten Lebens- und Weltanschauung Schleiermachers, bis dahin im Entwurf fertig wird. Außerdem höre ich Nervenphysiologie u. arbeite mich auch in dies Gebiet nach Kräften ein. Es ist ein wichtiger Schritt näher zu meiner Vorlesung über Anthropologie, die freilich immer ein Wagestück bleiben wird. Gelingt sie aber auch nur einigermaßen, dann sichert sie allein schon einen tiefgreifenden Einfluß auf die Studenten zu ihrem wahren Besten. Im übrigen machen wir viel Musik; treiben uns in der Welt um; studiren täglich in den drei Königen4 Physiognomik, manchmal mit recht viel Vergnügen; trinken mit Burckhardt spanische deutsche u. italienische Weine, bauen spät und früh Uns luftige Schlösser, hätten’s gern besser Statt immer schlimmer Und rathen immer – Und – treffen’s nie.5

Auf Wiedersehn im August also. Wollen Sie mich Ihrer Frau bestens empfehlen mich ein Wort von sich hören lassen. Ihr Wilhelm Dilthey Basel, Schützengraben 45, d[en] 13ten Juli [18]68. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 449. 1

Ort am Fuße des Rigi zwischen Zuger und Vierwaldstättersee (Schweiz). Ort im Oberengadin (Schweiz). 3 Nicht ermittelt. 4 Gasthof in Basel. 5 Ein Ausschnitt aus C.M. Wieland: Das Wintermärchen (1776). Erster Teil: Der Fischer und der Geist. 2

[279] Dilthey an Herman Grimm [Mitte Juli 1868] Verehrtester Freund, Nur ein Wort in großer Eile. Ich möchte m[eine] Ferien (18 Juli bis 22 August) theils auf dem Rigi (entweder Kaltbad oder Scheideck,1 mir gleichgültig) theils am Gießbach2 arbeitend zubringen. Wenn Sie nun auch nach S.

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Dilthey an Herman Grimm

Moritz gehen, so könnten Sie da doch ein wenig Station machen. Hätte ich nun ein Versprechen der Art von Ihnen, so würde ich mich danach einrichten, ev[entuell] für Sie auf Kaltbad die jetzt schon nöthige Bestellung von Zimmern übernehmen. Also, bitte, wo möglich umgehend ein bejahendes Wort. Alles Andre dann mündlich. Ich bemerke nur 1. daß Erdmannsdörffer’s Chancen nachd[em] er von der Fak[ultät] al pari, ev[entuell] in erster Linie vorgeschlagen mit Kugler3 (den Sie gesehn) jetzt weniger günstig bei der Regierung zu stehn scheinen. 2. Daß Sie die Wehmuthsanfälle, denen ich unter dem Eindruck der Metropole unterworfen war, augenblicklich bei mir nicht zu befürchten haben. Wollen Sie mich Ihrer Frau empfehlen u. lassen Sie ein günstiges Wort hören. Ihr Wilhelm Dilthey Basel, Schützengraben 45. Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Brief 933. 1

Scheidegg: Ort am Fuß des Rigi. Ort am Brienzer See (Schweiz). 3 Bernhard Kugler (1837–1898): Historiker; seit 1867 a. o. Prof. für Geschichte in Tübingen, ab 1874 dort o. Prof. 2

[280] Dilthey an Georg Ernst Reimer Hochverehrter Herr Reimer, In Begriff 14 Tage bis drei Wochen zu ganz nothwendiger Erholung auf Rigikaltbad zu gehen, sende ich zunächst bis auf einen kleinen Rest das Manuscript der Denkmale. Eine Correktur ist freilich nur hier, also erst nach meiner Rückkehr möglich, die sobald es meine Gesundheit erlaubt erfolgen wird, zweifellos aber bis zum 15ten August. Den 20ten August hoffe ich dann ein gutes Stück des Textes schicken zu können. Es werden außer dem hier Übersandten noch etwa 10 Bogen zu drucken sein, sodaß der erste Band etwa 30 Bogen beträgt.

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Dilthey an Georg Ernst Reimer

Der Druck dieser Denkmale ist ohnehin etwas verwickelt; nun habe ich aber schlechterdings keine Zeit gehabt das Ganze gleichmäßig abzuschreiben; die Hand von Jonas, von mir, von meinem Schreiber gehen etwas bunt durcheinander. Wollen Sie das gütigst entschuldigen und wenn der Setzer etwas mehr bekommt mir das notiren. Ich bin beständig nicht ganz wohl u. abgespannt. Ich kann die Aufregungen der letzten Jahre leider immer noch nicht verwinden. Sie sind wohl so freundlich und lassen mir mit einem Wort die richtige Ankunft 28.7. des Manuscripts gleich melden, da ich bis dahin immer etwas besorgt bin. Bei meiner Rückkunft werde ich dann gleich was ich von Correktur finde absolviren u. bis spätestens den 20ten neues Manuscript schicken. Von mir sage ich nichts. Angenehmes wüßte ich nichts zu schreiben. Und wenn man sich recht wenig heiter u. wohl fühlt, so trägt man das besser allein. Die Freunde sind ja wohl meist verreist. Von Erdmannsdörffer erwartete ich ein Wort das auch nicht eingetroffen ist. Mit bestem Gruß an Ihren Herrn Sohn u. Empfehlung an die Ihrigen Ihr ergebenster Wilhelm Dilthey Basel, Schützengraben 45. d[en] 24ten Juli [18]68. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 29–30.

[281] Dilthey an Ernst Reimer [Basel, ca. 20. August 1868] Werthester Freund,1 Hier so viel als zur Vervollständigung des beifolgenden Bogens von Manuscript nöthig. Ich bitte, so langsam als denkbar zu drucken. Ich bin nervös so angegriffen daß ich selber nur langsam weiterarbeite, also leicht sonst in’s Gedränge komme. Obgleich ich in Kaltbad nichts gethan, hat es mir doch wenig geholfen. Ich denke wenn ich vor dem 1ten September wieder Manuscript sende, wird es zureichen. Es werden etwa noch 9 Bogen zu drucken sein. Ich comprimire nach Kräften. Auch der zweite Band soll nicht viel stärker wer-

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den. Sobald ich fertig bin, kann dann beliebig schnell gedruckt werden. Jetzt wäre mir lieb, wenn der Setzer noch etwas Andres zu thun hätte und höchstens alle 10 Tage einen Bogen machte. Ich bleibe hier bis ich fertig bin u. bin dann, wenn irgend noch Zeit ist, selber bei dem Druck der letzten Bogen in Berlin. Hoffentlich finde ich in Kiel die alte Frische u. Gesundheit wieder. Grüßen Sie die Freunde u. empfehlen mich Ihrem Herrn Vater. Ihr ergebenster Dilthey Basel, Schützengraben 45. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 38. 1 Im Original über der Anrede: nachträgliche Datierung von fremder Hand: „1868 ohne Datum“.

[282] Dilthey an Ernst Reimer Verehrtester Freund, Ich bitte ergebenst um eine Zeile Antwort darüber daß das kleine Stück Manuscript des Textes, Capitel: Friedrich Schlegel Anfang, nebst der Umarbeitung des vorhergehenden Correkturbogens glücklich angelangt ist. Es ist in Leopoldshöhe1 aufgegeben u. ich habe keinen Schein darüber bekommen. So bin ich sehr unruhig. Mir geht es erträglicher u. ich bin so fleißig als irgend möglich. Ihr ergebenster Wilhelm Dilthey Basel, Schützengraben 45. d[en] 27ten Aug[ust] [18]68.2 Ein größeres Stück Manuscript geht in diesen Tagen ab. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 31. 1

Ort zwischen Basel und Lörrach. Im Original am linken Rand eine Notiz (wahrscheinlich vom Empfänger): „Beantw[ortet] 29/8“. 2

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer

[283] Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer [Ende August 1868] Bereite nur Reimer drauf vor daß ich vielleicht gänzlich mit meinen Kräften Banquerott mache! Ich will Liebster, Dir wenigstens gleich eine Zeile antworten. Ich bin unsäglich nervös herunter. Auf dem1 Rigi, wo ich mich sehr amüsiert habe, half nichts, da ich in der Hitze drunten sofort wieder Diar[r]hoe etc. hatte. Es ist [offen]bar daß ich etwas Durchgreifendes für meine Gesundheit thun müßte. Anstatt dessen grübele ich mit erschlafftem Körper und Geist über dem Schleiermacher. Während der Vorlesungen habe ich unsäglich wenig dran thun können, auf dem Rigi gar nichts, jetzt gehen die Vorlesungen wieder an – es ist zum rasend Werden. Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich in Folge dieser angenehmen Lage gar nicht nach Berlin kommen, sondern im letzten Augenblick direkt nach Kiel fahren, um da gleich nur so weiterzuarbeiten. Du siehst ich bin nicht auf Rosen gebettet. Von Bern höre ich gar nichts und schließe ähnlich wie Du. Übrigens verlautet daß nun auf einmal Oncken2 aus Heidelberg dort große Aussichten habe. Laz[arus] der in Interlaken war nicht gesehen. In Bern nicht gewesen. Dein Plan ist vortrefflich. Wenn Reimer Dich ordentlich bezahlt brauchst Du auch nicht einmal viel Geldschreiberei aufzuwenden. Schreibe doch in Tarbarg3 Deine Novelle, die Du mir schuldest. Meine drei Photographien bitte ich mir ja gelegentlich zu schicken. Sie sind sehr werthvoll, als aus meiner edleren Epoche stammend; gegenwärtig umwallt ein urwäldlicher Bart, so weit er eben Lust hat und wachsen will, mein Antlitz. Boretius4 begegnete mir neulich in Olten5 und hätte mich fast nicht wiedererkannt. Dieser Tage habe ich ihn auf der .|.|.burg besucht wo er hauset. Er war unwohl, hinkte und scheint sich in Davos gelangweilt zu haben, Alles in Allem. In diesen Tagen rückt er hier ein in den drei Königen wo ich esse. Dann soll lustig gelebt werden soweit unsere beiderseitigen Zähler reichen. Zum Leben gehts bei mir besser als zum Producieren. Grüß alle Freunde. Reimers Correkturen sende ich Morgen. Er soll ja ganz langsam drucken lassen; wenn der Setzer mir in die Nähe kommt, so gehen meine Nerven ganz zum Gukuck und es giebt eine Kathastrophe. Dein lebensmüder Freund Dilthey. Schützengraben 45, Basel.

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer

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Original: nicht überliefert; ein lückenhaftes Transkript des Briefes von unbekannter Hand ist hinterlegt in: BBAW, Ritter-NL, Nr. 30, Fasz. 1, Bl.215–217. 1

Im Transkript fälschlicherweise: „der“. Wilhelm Oncken (1838–1905): Historiker; seit 1866 a. o. Prof. der Geschichte in Heidelberg, 1870 o. Prof. in Gießen. 3 Tarbarz: Luftkurort im Thüringer Wald. 4 Im Transkript ist hier eine Lücke. – Boretius ging 1868 als o. Prof. für deutsches und öffentliches Recht nach Zürich. 5 Ort im Schweizer Kanton Solothurn. 2

[284] Dilthey an Wilhelm Scherer Liebster Scherer, Meinen herzlichen Glückwunsch zu der Wiener Professur.1 In die reine Freude darüber mischte sich nur die Furcht, diese werde längere Zeit eine so weite örtliche Trennung nun feststellen. Wie anders wäre gewesen, wenn Sie nach Berlin oder Leipzig oder Halle gekommen wären! Erdmannsdörffers Angelegenheit (dies auch für Grimm) steht also so: Kugler hat Ruf bekommen u. abgelehnt; es schwankt also nur noch zwischen ihm u. Oncken u. ich kann kaum denken daß letzterer, der sich reich in Heidelberg verlobt hat Lust haben wird seine Aussichten in Heidelberg aufzugeben. Es steht also ‚nach Umständen gut.‘ Ob ich nach Berlin komme oder nur durchreise hängt von der Beendigung meiner Arbeit ab. Körperlich scheint es, nach einem wirklich traurigen Sommer, eben jetzt anzufangen besser zu werden. Wann werden wir uns wiedersehn? Sind Sie im October noch in Berlin? Ihr treuer Wilhelm Dilthey Basel Schützengr[aben] 45. d[en] 1 Sept[ember] [18]68. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 9; eine Abschrift von fremder Hand mit handschriftlichen Korrekturen einer unbekannten Person ist aufbewahrt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 9. 1

Scherer war 1868 an der Wiener Universität zum o. Prof. für deutsche Sprache und Literatur berufen worden.

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Dilthey an Herman Grimm

[285] Dilthey an Herman Grimm [Ende September 1868] Lieber Freund, Hier B[urckhardt]’s Notizen,1 ich habe sie ihm jetzt extrahirt, da Kießl[ing] nicht nach Berlin geht2 u. ich jetzt ebenfalls weiß daß es mir unmöglich sein wird. Ich habe das größte Mißgeschick gehabt. Mein unvorsichtiges Baden bei 12 Grad hat mir eine so heftige Erkältung zugezogen, daß ich über 8 Tage meist im Bett sein mußte u. mehr als 14 Tage völlig verloren habe; es bessert sich jetzt erst langsam. Ich bin doch ein ganz ausgemachter Pechvogel; nächst Erdmannsdörffer habe ich nicht meines Gleichen. Selbst mit Schneider3 kann ich mich nicht vergleichen, seitdem doch wieder ein Zoologe gestorben ist. Daß schließlich ein höherer Frankfurter Bildungsschwindler von demokratischer Färbung die Berner Stelle bekommen hat, wird nun auch Erdm[anns]d[örffer] wissen. Leben Sie wohl; und wenn Sie im Stande sind dazu: so verschaffen Sie mir gutes Wetter; sonst kann ich trotz unsrer beiden Kliniker noch Verschiednes erleben. Ihr Wilhelm Dilthey Basel, Schützengr[aben] 45. Eben seh ich, daß B[urckhardt] in s[einem] Brief 4 an mich bemerkt, ich möge Ihnen zu wissen thun, die Notizen seien eben zusammengerafft u. Manches nur zu Parallele oder Contrast werthvoll, ohne gerade auf Raphaels Werke unmittelbar zu gehen. Ich bleibe hier bis Mitte October. Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Brief 934. 1 J. Burckhardt hatte intensiv über die Renaissance in Italien gearbeitet. – Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel 1860; Geschichte der Renaissance in Italien. Stuttgart und Esslingen 1868 –, und H. Grimm bereitete derzeit sein eigenes Buch Das Leben Raphaels von Urbino. Italiänischer Text von Vasari. Uebersetzung und Commentar von H. Grimm. Erster Theil vor, das 1872 in Berlin erschien. 2 A. Kießling, der seit 1863 o. Prof. für klass. Philologie in Basel war, lehrte ab 1869 am Johanneum in Hamburg. 3 Anton Schneider (1833–1890): Biologe; Prof. der Zoologie in Gießen und Breslau. 4 Nicht überliefert.

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Dilthey an Georg Ernst Reimer

[286] Dilthey an Georg Ernst Reimer Verehrtester Herr Reimer, Hier sende ich S.15 – S.113 des Manuscripts. Sobald es gesetzt ist, kann Weiteres folgen, das ich vorher nicht gern aus den Händen gebe. Ich habe leider eine heftige Attaque gehabt. Durch Rheinbäder bei der kalten Witterung (bis zu 12 Grad) habe ich mir eine so tiefeingewurzelte Erkältung des Unterleibs zugezogen, daß ich 8 Tage meist zu Bett war, drei Wochen oder mehr für meine Arbeit ganz verloren habe und erst jetzt langsam wieder beginne, froh nur noch so davonzukommen. Härter als alle Schmerzen war mir daß die Beendigung des Bandes dadurch verzögert wird und es hat mich manche schlaflose Nacht gequält. Ich habe keine ruhige Minute ehe ich ihn beendigt sehe. Hoffentlich unterbricht mich die Krankheit nicht weiter. Wenigstens sind unsre beiden Kliniker, nach genauer Untersuchung und Behandlung der festen Überzeugung, daß nichts als ein Rheumatismus vorliege, dessen Heftigkeit jetzt gebrochen sei. Nichts würde mehr zu meiner Genesung beitragen als zu wissen daß der Schaden nicht zu groß ist wenn der Band auch erst gleich nach dem Jubiläum,1 rechtzeitig vor Weihnachten, fertig würde. Doch mache ich selbstverständlich jede Anstrengung welche meine Gesundheit erträgt ein besseres Ergebniß zu erhalten. Unter diesen Umständen halte ich mich natürlich auf der Reise nicht auf, komme also nicht nach Berlin. Ich denke etwa den 20 October von hier abzureisen. Sobald das hier Übersandte gesetzt ist, können weitere hundert Manuscriptseiten folgen. Um ein Wort über Ankunft des Manuscripts bittet ergebenst Wilh. Dilthey Basel Schützengraben 45. d[en] 27. Sept[ember] [18]68. Ich öffne den Brief noch einmal nach einer längeren Überlegung. Liegt Ihnen viel dran daß das Buch zum Jubiläum fertig sei, so will ich den Versuch machen durchzukommen. Ich bitte dann, daß der beschleunigte Druck jetzt beginnt. Und zwar wünschte ich, in etwa 10 Tagen das hier Gedruckte im Abzug haben, da ich es alsdann für die Fortsetzung nöthig hätte; aber es wäre mir wichtig, bis zu Ende Alles was ich hier sende, in einem Abzug zu haben, wenn auch der letzte Bogen nur theilweise gefüllt wäre. In 6 Tagen, also

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Dilthey an Georg Ernst Reimer

gleich nach dem Erhalten der Mittheilung Ihres Wunsches würde ich weiteres Manuscript von hier absenden. Ich selber bleibe hier bis gegen Ende des October d. h. bis Sie den letzten Bogen in Händen hätten. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 32–33. 1

Schleiermachers 100. Geburtstag war am 21. November 1868.

[287] Dilthey an Georg Ernst Reimer Verehrtester Herr Reimer, Nur ein Wort in größter Eile. Ich habe bis heute keine Correktur von Bogen 14 usw. dh. dem Manuscript des Textes in den zwei letzten Sendungen erhalten. Ist vielleicht eine Correktur verloren gegangen? Die Anfrage bedarf keiner Antwort; ich wollte nur für den Fall dieser Möglichkeit Verzögerung verhüthen. Ich leide immer noch sehr unter den rheumatischen Schmerzen, muß einen Theil des Tages im Bette zubringen. Wann ich reisen darf weiß ich noch nicht. Manuscript liegt wieder bereit. In herzlicher Ergebenheit Wilh. Dilthey d[en] 13ten Octob[er] 1868. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 34.

[288] Georg Eichler 1 an Dilthey Herrn Dr. Dilthey in Kiel, wolgeb[oren] Durch Herrn Prediger Hassbath hier habe ich erfahren, daß Sie augenblicklich beschäftigt sind, eine Biographie Schleiermachers herauszugeben. Ohne Zweifel ist dasselbe berechnet um bei dem bevorstehenden Jubiläum von Schl[eiermachers] Geburtstage im Monat November zu erscheinen.

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Georg Eichler an Dilthey

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Da sich dies so verhält, möchte ich mir die ergebene Anfrage erlauben, ob Sie nicht geneigt wären, am Schlusse Ihrer Schrift ein kleines Verzeichniß seiner bildlichen Darstellungen anzulegen, wenn ich Ihnen das Material dazu lieferte, so daß Sie nicht die geringste Mühe darum hätten. Ich habe S[chleiermacher] persönlich gekannt, habe von 1824 bis zu seinem Tode ihn fast jeden Sonntag in der Dreifaltigkeitskirche predigen hören, bin auch mehrmals in Gesellschaft mit ihm zusammengetroffen und immer ein großer Verehrer des ausgezeichneten Mannes gewesen. Nun verhält [?] es sich eigen, daß während man, wenn man von Abbildungen eines Mannes spricht, man gewöhnlich an Kupferstiche, Lithographien, Holzschnitte[,] Oelbilder denkt, von S[chleiermacher] fast nur plastische Darstellungen vorhanden sind, diese aber in großer Vortrefflichkeit und Menge und – daß ich als Inhaber einer plastischen Kunstanstalt im Besitz aller dieser Darstellungen bin, welche ich in Gipsabgüssen vervielfältigen lasse. Wenn ich nun bei dem Bekanntmachen derselben durch ein Ihrer Biographie angehängtes Verzeichniß auch ein gewisses materielles Interesse habe, so glaube ich doch, daß mein Vorschlag, abgesehen von diesem, Ihnen den Dank der Leser Ihrer Schrift und des verehrten Schleiermachers einbringen würde, da mancher bei der jetzigen Erneuerung seines Andenkens sich ein Abbild von ihm anzusehen wünschen wird. Die Darstellungen bestehen in Büsten, Reliefs, Medaillen, Medaillons etc. in Güssen von 2 Fuß bis zu 2 Zoll herab. Von Lithographien sind mir nur 2 bekannt, und diese nicht einmal ausgezeichnet, so daß bei S[chleiermacher] die zeichnenden Künste ihr Terrain an die plastische abgetreten haben. Mein Verzeichniß würde eben 2 Seiten 8no im Druck füllen. Ich würde es in eben einem Tage aufzeichen und liefen können. Es fragt sich nun aber: 1, ob Sie geneigt sind, von einem solchen Verzeichniß Gebrauch zu machen, 2, bis wann Sie es zu haben wünschen. Ihrer gefälligen Antwort hierüber entgegensehend mit der vorzüglichsten Hochschätzung ganz ergebenst G. Eichler plastische Kunstanstalt und Gipsgießerei Berlin, d[en] 21 Oct[ober] u[nter] d[en] Eichen 27 1868 Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 103, Bl. 147–148. 1

Inhaber der plastischen Kunstanstalt und Gipsgießerei Georg Eichler in Berlin.

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Dilthey an Justus von Olshausen

[289] Dilthey an Justus von Olshausen Hochverehrter Herr Geheimrath, Eine Bitte die mir so schwer fiele als die gegenwärtige habe ich Ihnen hoffentlich nie wieder vorzutragen. Ich bin in einen unerträglichen Zustand von rheumatischem Schmerz, Schlaflosigkeit und Arbeitsunfähigkeit gerathen. Von Woche zu Woche verschob ich so meine Abreise nach Kiel; die Vorlesungen beginnen dort den 26 October und ich mußte schon vor acht Tagen an den Dekan der philosophischen Fakultät, Herrn Professor Ribbeck1 melden, daß meine Krankheit mich zwinge den Beginn der meinigen auf acht Tage hinauzuschieben. Nun verlangt Professor Liebermeister, mein Arzt, unbedingt, daß ich mich für eine Reihe von Wochen jeder Arbeit enthalte und wo möglich ein südliches Klima für diese Zeit aufsuche. Sie können denken, welche Kämpfe mich der Entschluß kostet, noch bevor ich meine Stellung angetreten um einen Urlaub für mehrere Wochen einzukommen. Seit mehreren Tagen kämpfe ich mit mir und muß mir doch schließlich sagen, daß wenn ich auch gegen den Willen des Arztes meine Gesundheit auf ’s Spiel setzte, doch das was ich gegenwärtig leisten könnte, meine Wirksamkeit nur beeinträchtigen und von vorn herein hemmen würde, anstatt sie zu begründen. Und so habe ich mich denn entschließen müssen, das Urlaubsgesuch an Se[ine] Excellenz den Herrn Minister, welches ich hier Ihrer gütigen Vermittlung übergebe, mit schwerem Herzen zu schreiben. Ich bin mir wohl bewußt, daß ich, indem ich es absende, eine Schuld gegen den Staat übernehme; aber ich darf hoffen sie nach wiederhergestellter Gesundheit durch doppelt angestrengte Thätigkeit einzulösen. Der Weg den dies Gesuch zu gehen hat war mir unbekannt, und so habe ich den direktesten gewählt, da der Arzt meine schleunige Abreise verlangt. Könnte eine vorläufige Entscheidung mir die Abreise ermöglichen, so würde in diesem Fall Dr. Erdmannsdörffer, welcher wohl darüber bei Ihnen nachfragen darf, mir dieselbe telegraphisch übermitteln. Bedarf es einer Zwischenverhandlung mit dem Herrn Curator Excellenz in Kiel, so wird Ihre Teilnahme für mich, deren ich mir dankbarst bewußt bin, vielleicht den Weg finden eine auf diese Weise zu befürchtende Verzögerung zu verhindern. Es ist ein Urlaub auf zwei Monate den ich erbitte, da der Arzt die Wiederherstellung meiner Arbeitsfähigkeit etwa in einer solchen Zeit erwartet. Ich hege die Hoffnung, noch vor dieser Zeit wieder arbeitsfähig zu werden und dann noch vor den Weihnachtsferien meine Vorlesungen in Kiel zu begin-

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Dilthey an Justus von Olshausen

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nen. Bis zu einem gewissen Grad wird es dann möglich sein durch Vermehrung der Stundenzahl das Versäumte nachzuholen. Entweder in Nizza oder, falls die Einsamkeit mir unerträglich würde, bei meinem Bruder in Rom denke ich meine Gesundheit rasch wiederzufinden und im letzteren Falle könnte ich aus dieser unglückseligen Zeit noch einigen Vortheil für meinen Beruf ziehen. Alsdann hoffe ich so bald als möglich, mit alter Gesundheit, und mit Aufbietung all meiner Kraft in meine Wirksamkeit zu Kiel einzutreten, auf die ich mich von ganzem Herzen freue. Ew. hochwohlgeboren dankbar ergebenster Wilhelm Dilthey Basel, Schützengraben 45. den 26 October 1868. Original: Hs.; GStA PK, VI. HA, FA u. NL, FA von Olshausen, B.I. Nr. 7 Lit. D, Bl.35–36 R. 1

O. Ribbeck war damals o. Prof. für klass. Philologie in Kiel.

[290] Dilthey an Georg Ernst Reimer Verehrtester Herr Reimer, Nun hat mich die Krankheit doch so übermannt daß ich seit den letzten Wochen nichts mehr zu arbeiten im Stande war. Der Arzt verlangt unbedingt mehrwöchentliche Enthaltung von jeder geistigen Arbeit und Aufenthalt in einem wärmeren Klima. Das Manuskript steht wo es vor mehreren Wochen stand. Es bedürfte noch kaum acht gesunde Tage es zu vollenden. Sobald ich also zurückkehre und in Kiel bin, genügen wenige Tage. Inzwischen liegen hier S.209-296 abgeschlossen bei Kießling und steht zu Diensten. Auch der Druck braucht keine Unterbrechung zu erleiden, wenn Sie nur 3 Exemplare der Correktur hierher schicken wollen (Herrn Professor Kießling, Basel, Schützengraben 45) da zwei Freunde dieselben übernehmen wollen und ich alsdann nur ihre Correktur durchzusehn und auf meinen Bogen zu übertragen hätte. Es wird in dieser

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Dilthey an Georg Ernst Reimer

unglückseligen Zeit eine Aufheiterung für mich sein, das Buch wenigstens ohne Unterbrechung seinem Abschluß sich nähern zu sehen. Ich gehe wohl zunächst nach Vevey,1 dann etwa nach Nizza wenn es nöthig ist. Wieviel Wochen ich unterwegs bleibe, weiß ich noch nicht, hoffentlich wenige. Jetzt da ich in Begriff bin zu gehen, schmeichle ich mir mit der Hoffnung daß 14 Tage genügen werden. Ihr ergebenster Wilhelm Dilthey Basel 26ten O[c]tob[er] 1868. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 36–37. 1

Ort am Genfer See.

[291] Dilthey an seine Mutter (Basel, Oktober 1868) Tausend Dank, liebste Mama, für Deinen gründlichen Brief.1 Heute nur eine Zeile mit der Photographie, an der nicht viel richtig ist als der Bart, wenigstens sehe ich nicht immer so finster aus. Obwohl mir’s in dieser Zeit nicht sonderlich gegangen. Ich habe mich in den Rheinbädern erkältet. .|.|. Leider kann ich nicht von den gehofften Progressen in meiner Arbeit und damit verknüpften Möglichkeit, durch Bonn zu kommen, schreiben. Ich habe fast 14 Tage durch das verwünschte Unwohlsein verloren. So ist denn alles noch im Ungewissen. Liebste Mama, Du hast über alles, was mich und Dich betrifft, so gut und edel geschrieben. Glaube, ich selber leide am meisten unter der Art meines Arbeitens, dem Nie Zeit haben und Nie fertigwerden, was doch mit dem Besten in mir wieder zusammenhängt. Bleibt mir gut, laßt bald ein Wort hören. Euer Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 135. 1

Nicht überliefert.

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Otto Ribbeck an Dilthey

[292] Otto Ribbeck an Dilthey Kiel, 1sten November [18]68 Verehrter Herr College! Das war ja eine Hiobspost, die Ihr letzter Brief 1 brachte. Was bleibt uns Erdenwürmern aber übrig als uns philosophisch in die Mißgeschicke des Lebens zu fügen! Vor Allem werden Sie gesund u. lassen Sich Zeit dazu! Wo denken Sie aber hin, wenn Sie nach Nizza sollen u. dessen ungeachtet in drei Wochen bereits hier sein wollen? So im Handumdrehen thut doch auch Italien nicht seine Schuldigkeit und was Sie etwa in der Eile an Besserung errafft hätten, würde Ihnen auf dem Wege an unsre Küste bei Sturm und Kälte bald genug wieder entschlüpfen, u. Sie müßten hier wieder von vorn anfangen. Also nur keine Überstürzung! Haben unsre Studenten sich bereits ein Jahr lang mit nur einem Philosophen beholfen, so wird es schlimmsten Falles auch noch ein Semester gehn. Sie müßten ja doch, wie Sie selbst bemerken, mit Zinsen wieder zurückzahlen, was Sie jetzt auf Kosten ihrer Gesundheit an Kraftanstrengung aufnehmen. Am liebsten zöge ich mit Ihnen gen Süden. Ohne jede Ferienerfrischung etwas flügellahm das Wintersemester betretend bin ich noch obendrein meinem alten Freunde dem Magenkatarrh in die Klauen gefallen, der mich vollends um mein bischen Arbeitsvermögen bringt. Aber es hilft Nichts. Ich muß auf meinem einsamen Posten ausharren u. wünsche nur, daß es mir gelingt mich den langen Winter leidlich durchzustümpern. Gehn Sie indessen statt meiner nach Rom u. schwelgen Sich satt. Hier im Norden braucht man gute ästhetische Fettvorräthe, um des Lebens Trockenheit u. Farblosigkeit zu verdauen. Also glückliche Reise! Baldige, aber gründliche Besserung! und Gemüthsruhe! Mit besten Grüßen Ihr aufrichtig ergebner Ribbeck Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. Karl Dilthey, 140. 1

Nicht überliefert.

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Dilthey an seine Schwester Marie

[293] Dilthey an seine Schwester Marie [Anfang November 1868] Liebstes Mariechen, .|.|. Trotz des schlechten Wetters geht mirs etwas leidlicher. Meine Abreise ist durch Karls Abwesenheit von Rom nun zuletzt noch einmal verschoben worden. Ich werde nun gegen Ende dieser Woche nach Marseille gehen, nächsten Mittwoch über 8 Tage zu Schiff, also den 18. November, Freitag drauf komme ich dann Civita Vecchia1 an, wo mich Karl in Empfang nimmt. Bis Mitte November bleibt er in Pompeji u. dorthin mochte ich nicht kommen, habe also vorgezogen eine Woche zu warten hier. Ohnehin ist das Wetter eben desperat. Leider ist es hier sehr theuer. .|.|. Von Marseille und Rom aus erhaltet Ihr wieder Nachrichten. Besorgt zu sein habt Ihr ja gar keine Ursache – des Schreibens aber zwischen der Correktur ist grenzenlos viel. Nun muss ich auch noch nach Basel einige artige Briefe2 schreiben wegen Kiesslings wahrscheinlichem Weggang u. Karls Wunsch nach Basel zu kommen. .|.|. Allen tausend Grüße Euer Wilhelm Vevey, Montmedy Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes (mit Auslassungen) mit handschriftlichen Korrekturen von G. Misch ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o. 1 2

Hafenstadt nördlich von Rom. Nicht überliefert.

[294] Dilthey an seinen Bruder Karl Liebster Karl,

(Vevey, Anfang Nov[ember] 1868)

Wenige Worte, da ich zugleich diese nach Pompeji Neapel Rom sende. Formell Urlaub bis Neujahr, thatsächlich für ganzen Winter zur Wiederherstellung meiner Gesundheit. .|.|.

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Dilthey an seinen Bruder Karl

Da Du nun nach Brief 1 spätestens Mitte November in Pompeji bist: so bitte ich Dich, in Rom gleich mir eine Wohnung zu besorgen; Erfordernisse: warm, gesund, nicht bei den Capitolinern,2 2 Zimmer, Ofen, Teppich, warme Bäder nicht zu entfernt. Dringender Wunsch: mit Dir zusammen .|.|.. Alles mündlich. Auf frohes Wiedersehn. Dein Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 136. 1 2

Nicht überliefert. Gruppe von Malern protestantischen Geistes, im Unterschied zu den katholischen Nazare-

nern.

[295] Dilthey an Wilhelm Vischer-Bilfinger Marseille 18 Novemb[er] 1868 Hochverehrter Herr Rathsherr, Mit einem Worte wenigstens will ich bevor ich auf das Schiff nach Rom gehe mich von Ihnen u. den Ihrigen schriftlich verabschieden. Auf den Tag an welchem ich Sie zuletzt sah folgten zwei so furchtbare Nächte daß ich den Plan, von dem ich Ihnen damals schon sprach ausführen mußte, mir eine Zeit lang Urlaub zu erbitten. Gleich auf der Reise aber beschloß ich dann, da es mir unangemessen erschien bevor ich noch in Dienst gewesen nachzusuchen um Urlaub, obwohl ich wußte daß er gern gewährt werden würde, und da ich das Bedenkliche davon übersah, mitten im Winter u. im Semester die lange kalte Reise, höchstens eben wiederhergestellt, zu machen: das Ministerium um Verschiebung meines Dienstantritts bis Ostern zu bitten. Dies habe ich telegraphisch von Vevey aus gethan u. die freundliche Antwort erhalten daß ich mich richtig mit Urlaub erholen möge. Leider gelingt mir das bis jetzt sehr schlecht. Ich hoffe nun daß Rom seine Wirkung nicht versagen wird. In der Aufregung u. Müdigkeit jener Tage war ich dann nicht im Stande meine Abschiedsbesuche zu vollenden u. hoffte auch nach wenigen Wochen zurückzukehren. Nun kann ich erst Ostern das Versäumte wieder gut machen. Ihre Frau Gemahlin u. Ihre Söhne werden mich freundlich bis dahin entschuldigen.

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Dilthey an Wilhelm Vischer-Bilfinger

Ihnen aber spreche ich noch einmal meinen Dank für Ihr freundliches Interesse an mir aus und bitte es mir bewahren zu wollen. Ihr dankbar ergebener Wilhelm Dilthey Original: Hs.; StA Basel-Stadt, PA 511 a 611-17-05 88.

[296] Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer Liebster Erdmannsdörffer, So bin ich denn seit etwa acht Tagen in Rom. Leider kam ich sehr unwohl hier an und so habe ich denn noch wenig gesehen für diese Zeit. Am Genfer See verbrachte ich fast 3 wirklich furchtbare Wochen, so gut als schlaflos; in einer so desperaten Stimmung daß Du Dir das schwer vorstellen kannst. Wie ein Schiffbrüchiger, der dort an den Strand geworfen und nicht weiß was anfangen. Nun täglich in den Zeitungen vom Schleiermacherjubiläum1 lesen, selber nicht arbeiten dürfen, nicht arbeiten können, nicht einen Correkturbogen durchzusehen im Stande – dabei sah ich denn Reimers2 leibhaftig vor mir – kurz als fixe Idee konnte man sich nichts Besseres wünschen. Auch hier geht mir’s leider noch nicht viel besser. Wenn nicht in Basel zwei Freunde und hier mein Bruder mir unter die Arme griffen, so würde keine Correktur fertig. Manuscript ist nur noch ein Bogen zu überarbeiten; das Andere liegt schon seit 5 Wochen fertig. Hoffentlich kommen bald einige günstige Tage, dann schicke ich Reimer den Rest. Ach Liebster! Die Stimmung für Rom3 muß noch kommen; jetzt regt mich Großes und Kleines so auf; ich habe aus Deutschland Alles was mich bedrückt richtig mitgebracht und bin nicht im Stande nur etwas davon abzuschütteln. Doch nun soll auch kein Wort der Klage mehr über meine Lippen. Mein Bruder war eben von Pompeji gekommen. Es fällt uns sehr schwer ein Logis zu bekommen wie meine Gesundheit es verlangt. Rom ist in diesem Winter von Fremden überfüllt wie nie früher. Wir bezahlten für 3 Zimmer gegen 40 Thaler (Mario de’ Fiori 66 am spanischen Platz). Nun sind wir nach großen Mühsalen recht behaglich eingerichtet. Meinem Bruder kam ich pecuniär sehr à propos; er war beträchtlich unter dem Nullgrad. So ist mir denn Olshausens gütiges Anerbieten höchst erwünscht, jetzt schon mir Geld anweisen

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer

zu lassen. Denke Dir, zugleich will das Mißgeschick, daß die einzige Schuld die ich habe, 125 Thaler bei der Frau meines verstorbenen Schneiders (Auguste Gebhardt, Mauerstraße 42, 2 Treppen) zu Neujahr bezahlt werden müssen und daß sie schon jetzt eindringlich um einen Theil der Schuld bittet. Daß man nicht einmal 125 Thaler Schulden soll haben können, ist denn doch arg. Meine Lasten für den Umzug von Büchern und Möbeln habe ich vorläufig an meine Mama anweisen müssen. In dieser Confusion wäre nun sehr schätzbar, wenn mir Olshausen die 300 Thaler Überzugsgeld jetzt, mein vierteljährliches Gehalt zu Neujahr könnte anweisen lassen. Alsdann würde ich Dich bitten der Frau jetzt 50 Thaler von den 300 Thalern, und dann von dem Gehalt so viel als eben nötig ist (denn vielleicht kann sie noch ein halbes Jahr warten mit einem Theil und Du kannst es mit ihr arrangieren) zu geben. Es ist so bequemer als wenn ich für die Überzugskosten an dich verwiese, für Frau Gebhard[t] aber an meine Mama. Sieh also, Liebster, wie du dies arrangierst. Und dann sage doch Olshausen meinen ergebensten Dank und frage an, ob ich ein neues Gesuch um Urlaub bis Ostern an ihn oder an den Minister richten solle oder ob mit Deiner Übermittelung die Angelegenheit erledigt sei. Doch es ist wohl besser, daß ich gleich eine Zeile an Olshausen mitsende. Ihm schreibe ich aber vom Gelde nichts, sondern überlasse das Deiner Geschicklichkeit. Ich darf wohl auf weitere Revisionen an Dich verweisen? Ist denn gar nichts in Bern geschehen? Nicht wahr du schreibst mir gleich eine Zeile. Nino vom Capitol wartet auf den Brief den ich also schließe mit tausend Grüßen von meinem Bruder und mir. Dein Wilhelm Dilthey. 27. November. Rom, Mario de’ Fiori [18]66. Original: nicht überliefert; ein handschriftliches Transkript des Briefes von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, P. Ritter-NL, Nr. 30, Fasz. 1, Bl.218–221; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 137. 1

Das Schleiermacher-Jubiläum in Berlin fand am 21. November 1868 statt. In der Briefabschrift: „Reimer’s“. – Es handelt sich aber sicherlich um Vater und Sohn, G.E. und E. Reimer. 3 In der Briefabschrift: „Como“. 2

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Dilthey an Justus von Olshausen

[297] Dilthey an Justus von Olshausen Hochverehrter Herr Geheimrath, Jetzt erst, da ich in Rom angelangt und, wie es mein Gesundheitszustand fordert, eingerichtet bin, spreche ich Ihnen meinen tiefgefühlten Dank für Ihre gütige Theilnahme aus, durch welche meine Verhältnisse diesen Winter hindurch in einer für mich so günstigen Weise geordnet sind. In der That ist Rom von Fremden so überfüllt, daß eine Lebensweise, wie sie mir angeordnet und nothwendig ist ohne diese gütige Ertheilung eines Urlaubs kaum durchzuführen gewesen sein würde. Und zugleich muß ich sehr um Entschuldigung bitten wegen der formlosen Art, in welcher ich mich von Vevey aus, nach einer Reihe von schlaflosen Nächten, in meiner Nervenaufregung mich an Sie gewandt habe in meinem Telegramm.1 Ich lebe nun sehr entschieden der Hoffnung daß der hießige Winteraufenthalt mir meine alte zuverlässige Gesundheit unverkürzt zurückgeben wird und ich sehe schon jetzt wie viel er mir auch für meine eignen Arbeiten werth sein wird. Darf ich Sie nun bitten, durch Erdmannsdörffer mir eine zurückbleibende Frage beantworten lassen zu wollen? Ist die Ertheilung meines Urlaubs bis Ostern auch formell erledigt oder habe ich darüber noch ein Gesuch an seine Excellenz den Herrn Kultusminister zu richten? – Und ist es schicklicher demselben jetzt meinen Dank auszusprechen oder bis zur Übersendung meines Buches im Lauf des Winters damit zu warten, falls nicht Ihre gütige Übermittlung desselben überhaupt richtiger erscheint? Leider ist der Druck meines Buches durch meine Krankheit auch sehr verzögert und unterbrochen worden. Mit nochmaligem Ausdruck meines Dankes für Ihre gütige Theilnahme Ihr in vorzüglicher Hochachtung ergebener Wilhelm Dilthey Rom, 27ten November 1868 Mario di’ Fiori 66. Original: Hs.; GStA PK VI. HA, FA u. NL, FA von Olshausen, B.I. Nr. 7 Lit. D, Bl.37–38 R. 1

Nicht überliefert.

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Dilthey an seine Mutter

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[298] Dilthey an seine Mutter Liebste Mama,

(Rom Anfang Dez[ember] 1868)

Tausend Dank für Eure Mühe und Aufopferung. Brief und Wechsel sind glücklich angelangt.1 Sehr nahe ist mir gegangen daß Du auch immer noch kränkelst. Liebste Mama, weißt Du daß ich glaube, einen recht dummen Streich gemacht zu haben? Ich hätte den Süden lassen sollen und bei Euch, mit Dir zusammen, mich recht ruhig und behaglich pflegen. Dann wäre der Schleiermacher jetzt wohl fertig, an dem ich so bis in den Januar noch corrigire und baue, unter den widerwärtigsten Empfindungen, die Du Dir kaum so vorstellen kannst; er ist ein nicht geringer Theil meiner Krankheit. Wir wären in der bequemsten Häuslichkeit beieinander gewesen, in der man sich schließlich doch leichter erholt unter den Seinigen, wo man sich täglich mit Behagen wiedersieht, als hier wo ich mich trotz der aufopfernsten Bemühungen Karls so fremd fühle. .|.|. Mitten unter den schönsten Eindrücken kommt oft eine grenzenlose Traurigkeit über mich, die Sehnsucht, unter Euch zu sitzen, mit irgend einem Buch in der Hand, plaudernd, nichts thuend, aber an Eurem Behagen und der Stille Eures Lebens teilnehmend. Eines steht mir fest. Sobald ich wieder gesund bin, soll mein einziger Gedanke sein, mir eine Häuslichkeit zu gründen, in der mein Leben einen Abschluß und mein Gemüth eine Befriedigung findet. Ich habe die letzten Jahre in fieberhaften Anstrengungen verbracht, ich hätte vielleicht durch eine zweckmäßigere Einschränkung meiner Aufgaben und Anstrengungen mehr erreicht als so. Und meine Gesundheit erträgt dies nicht mehr länger. Auch Euch wird es lieb sein, wenn ich mein künftiges Leben auf einem behaglicheren Fuße einrichte. Karl fand ich sehr fleißig und mit schönen Arbeiten beschäftigt. Sonst ist an Umgang für mich hier eigentlich nur Professor Justi2 von Marburg, der Biograph Winkelmanns, eine sehr sympathische und feine Natur. Sonst, wie mir scheint, werde ich mich hier kaum an jemanden anschließen. .|.|. Der Brief ist nun doch über den Tag liegen geblieben, da Karl und ich vergebens nach einer schicklichen Bibelstelle viele Stunden lang gesucht haben.3 Das Verzeichniß, das ich schließlich zusammengebracht, zeigt nur ganz bekannte oder wenig passende. So sind wir schließlich auf die Bibelstelle zurückgekommen, die der Grabrede zugrunde lag: „das Andenken der Gerechten bleibt im Segen“. Diese4 kann Euch das Citat geben. Es scheint unmöglich, eine schicklichere zu finden. Karl meint, daß doch die Buchstaben ja nicht vergoldet würden.

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Dilthey an seine Mutter

Von römischen Eindrücken schreibe ich Euch nichts – weil ich wirklich noch keine habe. Die Stimmung muß noch kommen, in der ich mich an irgend etwas wahrhaft erfreue. Vorläufig ist mir auch außer mir Alles zur Last. Ich gehe in die Galerie, aber denke meist ganz andre Dinge dabei. Denkt meiner freundlich, liebste Mama, halte Dich wohl. Allen tausend Grüße. .|.|. Euer Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 138. 1

Nicht überliefert. Carl Justi (1832–1912): Kunsthistoriker und Philosoph; 1866 a. o., 1869 o. Prof. in Marburg, 1871 Prof. für Philosophie in Kiel, 1873 Prof. der neueren Kunstgeschichte in Bonn. – Winckelmann. Sein Leben, seine Werke und Zeitgenossen. 2 Bde. Leipzig 1866–1872. 3 Für den Grabstein des Vaters wurde eine Bibelstelle gesucht. Das im Brief genannte Zitat stammt aus: Die Sprüche Salomos, 10,7: „Das Andenken des Gerechten bleibt im Segen“. – Auf dem Grabstein Maximilian D.s erscheint die Bibelstelle in leicht abgewandelter Form: „Das Gedächtniss des Gerechten bleibt im Segen“. 4 In JD: „Dieser“. 2

[299] Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer (Rom, Dezember 1868)1 Liebster Freund, Nur eine Zeile um von Dir eine große Gefälligkeit zu erbitten. Eben kommt vom Minister die Anweisung von Geld auf hiesige Gesandtschaft. Durch diese Anweisung kann ich die Witwe meines guten Schneiders (Auguste Gebhardt, Mauerstraße 42. 2 Treppen) nicht von dort aus bezahlen lassen und bis ich hier mich dem Gesandten vorgestellt, (da die Feiertage dies heut und Morgen unthunlich machen) Geld erhoben und Wechsel aufgetrieben ist, vergehen wohl noch 14 Tage. Ich möchte aber nicht, daß die gute Frau dadurch in Verlegenheit käme, da sie wohl selber Verbindlichkeiten hat. Willst Du also mir den großen Gefallen thun, mit ihr zu sprechen, ihr auseinanderzulegen, warum [s]ich die Erfüllung meines Versprechens den 1. Jan[uar] zu zahlen sich um einige Tage verzögert hat und wenn Du gerade überflüssig Geld haben solltest oder genug, sie gleich bezahlen. Ich adressiere den Wechsel doch an Dich. Das Ministerium war sehr edel

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer

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und hat mir 2 Vierteljahre Gehalt und die Umzugskosten zur Verfügung gestellt. Dein Brief 2 hätte mich erheitern können wenn mir danach zu Muthe wäre. So hat mir was du von Grimm und andern guten Freunden schreibst nur das Herz schwer gemacht, wie es jetzt alles thut, was zwei Seiten irgend hat. Ich habe den Entschluß, den ich gefaßt, nur mit dem klarsten Bewußtsein fassen können, daß wirklich meine Gesundheit dadurch gerettet werden müsse; bis heute habe ich keinen frohen Tag gehabt, unbezwingliche Schwermuth, Schmerzen und Schlaflosigkeit (von denen bis jetzt nur die letzte sich ordentlich zu bessern beginnt) verbittern mir das Leben. Niemand wäre seliger als ich, wenn ich mich eines Morgens gesund in meiner Arbeit in Kiel erwachend fände. So viel ich hier lerne, so muß der Tag noch kommen an dem ich mich über etwas freue mit voller Seele, was ich auffasse. Das ist leider der Tatbestand gegenüber den angenehmen Vermuthungen der guten Freunde. Diesen selber zu erschließen hätte nicht schwer fallen können, wenn man hätte erwägen wollen, daß ich mit diesem Urlaub die Verpflichtung übernommen habe, ruhig und ohne Ansprüche eine Reihe von Jahren in Kiel zu bleiben, also meiner Carriere einen sehr entschiedenen Stoß gegeben habe (das nächste war daß ich die Aussicht z.B. bald nach Bonn zu folgen, entsagen mußte): dann daß ich auf einen Urlaub bei voller Gesundheit, der mir bei den Kieler Verhältnissen ganz sicher war verzichten mußte. Kurz so viel Klugheit würde ich außer dem Pflichtgefühl auch noch aufgebracht haben, um nicht einen solchen Einfall zu bekommen, ohne absolute Nothwendigkeit den Entschluß zu fassen. Diese Dinge weiß Olshausen und wird darum niemals auf die Idee kommen von einem so thörichten Gerede sich beirren zu lassen. Mag es also ruhig fortdauern. Der neuen Ansicht über Grimm [schadet] es allerdings. Die Freiheit seiner Zunge auch über solche die ihm befreundet sind ist mir immer ein Gegenstand ruhigen und vergnüglichen Beobachtens gewesen; wenn sie aber, wie in diesem Fall geschieht, meine Ehre berührt so ändert sich das. Denn jedermann dem er dies vorredet wird nach unserm bisherigem Verhältniß denken, es beruhe entweder auf Kenntniß meines Charakters oder auf den diesmaligen besondern Umständen. Doch übergenug über dies Gerede. Daß Du immer noch keine Nachricht von Bern hast erstaunt mich, oder vielmehr daß auch jetzt noch dort alles schwebt. Aber wenn Du beliebter Redner in der Singakademie wirst, hast du dazu wohl schwerlich überhaupt noch Lust unter die Halbmenschen der Gebirge zu gehen. Karl (wie ich) bittet sehr wenn du die Rede drucken läßt sie nicht uns vorzuenthalten. Für Deine Maßregeln in Betreff von W. Hoffner3 danke ich Dir. Leider kommt noch 1 über Novalis, den ich nicht aufhalten kann. Sie waren alle um

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer

Ostern geschrieben (diese und noch ein großer über Moritz),4 wo ich zur Berliner Reise Geld brauchte und als ich krank wurde, war mir der Anblick der Bogen so verhaßt daß ich mich nicht zur Correktur entschließen konnte: in einer Art Hoffnung sie [würden] dann auch nicht gedruckt. Nun scheint es erscheinen sie in einem scheußlichen uncorrigierten Zustande, sodaß alle Zeilen von [Fehlern] wimmeln. Ich habe an [Glaser] der Correktur des Vorworts wegen geschrieben.5 Es wird aber zu spät sein, auch nur eine Correktur zu bekommen, geschweige den Druck zurückzuhalten. Sehr schwer liegt mir mein Buch6 auf der Seele. Ich muß in diesen Tagen an Reimer schreiben, daß ich weit entfernt bin, unsern Contrakt nunmehr noch als gültig zu betrachten. Was jetzt gedruckt wird, ist in einer unglückseligen Zeit in tiefster Übermüdung etc. geschrieben, dazu in der Hast fertig zu werden; so muß ich entsetzlich corrigiren. Andererseits wird der Absatz dadurch daß es so viel später erscheint ebenso leiden wie durch den theilweise so sehr abstrakten Charakter desselben. So überzeugt ich bin daß es gründlich und gewissenhaft gearbeitet und neu in einer un[gewöhnlichen] Masse von Ergebnissen ist, aus Wahrhaftigkeit hervorgegangen und ohne Vorurtheil: so wenig bin ich mit der Art zufrieden wie das schwierige Problem der Form gelöst ist. Wie anders sollte diese werden, wenn ich es jetzt überarbeiten dürfte. Aber wie nun Alles geworden ist, darf ich schwerlich an eine zweite Auflage denken und es wird wohl seine unvollkommene, mehr als unvollkommene Gestalt immer behalten – das ist ein härterer Gedanke als Du glaubst. Wenn ich denke wie ich mich in Basel überarbeitet habe, um neben den [Vorlesungen] damit zu Stande zu kommen, wie viel leichter ich eingreifende philosophische Untersuchungen beendigt hätte: so möchte ich verzweifeln. Vieles Andere über eine gewisse Kleinlichkeit des Nachempfindens und Subtili[sierens] darin, die so wenig in meiner ursprünglichen Natur liegt und mir schon jetzt so fremd vorkommt, verschweige ich und bemühe mich nur, hier einen neuen Menschen anzuziehen. Wenn mir dies gelingt, wieder unabhängig von äußern Schicksalen, frei von aller Jagd nach dem Glück, auf den Himmel im Verstande allein bedacht zu werden: so sollten auch diese traurigen Monate mir hochgepriesen sein. Es ist so schwer sich in Universitäts- und Schriftstellerlagen von Vereitelung und Veräußerlichung ganz frei zu halten, und ich habe in den langen Jahren, mitten in größter geistiger Anstrengung, doch meinen Tribut bezahlt. Du verstehst mich, Lieber, Getreuer. Mit dem Sehen bin ich noch nicht weit; die Antike macht mir vorläufig Alles Andere todt. Ich kann mich im Vatikan nicht satt sehen. In diesen Tagen machen wir die Ceremonien mit und ich komme eben aus der Sistina und will nachmittags in die Kinderpredigten. Noch wage ich nicht über diese Religionssachen zu urtheilen; ich habe in diesen Tagen mit [Justi] unter an-

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer

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dern lange Gespräche darüber gehabt, aber der Ekel an dem weibischen Spiel mit Gewändern und Verbeugungen etc. überwiegt vorläufig. Sonst muß man die Italiener lieb gewinnen; gerade unsere Hausleute sind treffliche Exemplare. Mein Bruder grüßt tausendmal.7 Ich breche ab. In Liebe und Treue Dein Wilhelm. Original: nicht überliefert; ein handschriftliches Transkript des Briefes von fremder Hand mit einigen nicht entzifferten Wörtern ist hinterlegt in: BBAW, P. Ritter-NL, Nr. 30, Fasz. 1, Bl. 222–229; Erstdruck (mit erheblichen Auslassungen): JD, Nr. 139. 1

In der Briefabschrift: „Rom 1869?“. Nicht überliefert. 3 Unter diesem Pseudonym, das D. seit 1864 verwendet, erschien in Bd. 25 von Westermanns Monatsheften im Oktober 1868: Die romantischen Dichter. I. Ludwig Tieck (S. 25–42) und im Dezember 1868: II. Novalis (S. 272–280); WA in: GS XV, S. 117–149. 4 Ein Aufsatz D.s über K.Ph. Moritz Selbstbekenntnisse eines Phantasiemenschen wurde unter dem Pseudonym „Georg Steven“ in: WM 28 (1870), S. 192–204 veröffentlicht; WA in: GS XV, S. 356–371. 5 Nicht überliefert. 6 In der Briefabschrift: „Brief“. 7 In der Briefabschrift: „Meine Brüder grüßen“. 2

[300] Dilthey an Georg Ernst Reimer Verehrtester Herr Reimer, Es ist mein erstes Geschäft, nachdem ich heute zuerst wieder ein paar Stunden aufgestanden, Sie mit einigen Worten zu benachrichtigen u. zu bitten, den Druck der letzten Bogen bis zu meiner Rückkehr nach Deutschland zu suspendiren. Nur kurze Zeit hatte es den Anschein, als wolle meine Gesundheit sich gründlich bessern; ich habe einen Rückfall gehabt, der wieder mit einem schmerzhaften Muskelrheumatismus begann, auf den 30 Stunden hindurch ununterbrochen andauernde kolikartige Schmerzen folgten. Noch verstehe ich den Zusammenhang nicht u. auch d[er] Arzt scheint ungewiß. Sobald ich ein wenig weiter bin, soll ich eine Kur mit Karlsbader Wasser anfangen.

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Dilthey an Georg Ernst Reimer

So bleiben zu meinem größten Leidwesen etwa 4 Bogen nach meiner Rückkehr zu setzen übrig, 2 aus dem in Ihrer Druckerei liegenden, 2 aus dem hierher mitgenommenen, zu revidirenden u. abzuschließenden Manuscript. Die Correktur des bereits Gesetzten werde ich mit Hilfe meines Bruders so bald als möglich erledigen. Ist dann das Ganze gedruckt, so stelle ich Ihnen selbstverständlich ganz anheim, zu welcher Zeit Sie den Band ausgeben wollen, dem Interesse des Absatzes entsprechend. Und ebenso muß es Ihrem Ermessen und den zu machenden Erfahrungen überlassen bleiben, wie bei den gehäuften Druckkosten und unter den ungünstigeren Absatzbedingungen die Honorarfrage neu zu regeln sein wird. In Ihrer Schuld bleibe ich auf jeden Fall. Sie haben mehr Verdruß von dem Druck des Buches gehabt, als der zu erwartende Erfolg gutmachen kann. Ich darf nicht weiter schreiben. Mein Bruder und ich empfehlen sich Ihnen und den Ihrigen aufs Beste. In herzlicher Ergebenheit der Ihrige Wilhelm Dilthey Rom, Mario de Fiori 66. d[en] 23ten Jan[uar] [18]69. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 40–41.

[301] Dilthey an Ernst Reimer Verehrtester Herr Reimer, Vielen Dank für Ihren Brief an meinen Bruder, der mir einige Steine von dem Herzen gewälzt hat. Gleichzeitig mit diesem Brief kommen nun 2 Bogen der Correktur; der zwischenliegende Viertelsbogen wird übermorgen von Neapel abgehen, wohin ich morgen früh gehe; der letzte Bogen bald drauf. Leider mußte ich an den ersten Bogen, der von allen der unseligste ist, noch einmal viel zusetzen, sodaß ich um eine neue Revision bitten muß.

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Dilthey an Ernst Reimer

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Ich bin mit meiner Gesundheit sehr zufrieden u. hoffe in Capri den Rest des Manuscripts in Ordnung zu bringen. Wenn gerade Lettern und Setzer nach beendeter Revision frei sind, wäre mir lieb, wenn der bei Ihnen befindliche Rest des Manuscripts ausgesetzt werden könnte, damit ich einen Abzug erhielte und wenn irgendmöglich noch hier in Italien die Correktur beenden könnte. Die hießige Adresse bleibt bis zum ersten April, an dem ich nach Deutschland zu mich zu bewegen wohl anfangen werde, instituto archeologico, Roma Al Campidoglio. Ein Exemplar der neuen zu setzenden Bogen bitte ich zu senden: Dr. Herm[ann] Schultz, Professor der Theologie zu Basel. Die Aushängebogen habe ich nur bis zum Ende des Capitels über Fri[e]drich Schlegel erhalten (Bogen 15 inclusive). Professor Sigwart1 in Tübingen schreibt mir, er sei mit einer Anzeige des ersten Heftes beschäftigt u. wünsche dazu die Aushängebogen der Denkmale, Bogen 1–4. Ich finde keinen Anstand sie ihm mitzutheilen und bin sehr erfreut, daß er bei dieser Gelegenheit auch über Schenkel2 offen reden will. Wenn Sie also einverstanden sind, würde ich bitten, Beilage A.B.C.D ihm zukommen zu lassen. Seine Anzeige wird gewiß vortrefflich und für das Buch wichtig werden. Mein Bruder grüßt und dankt vielmals. Ich hoffe, er wird mir bald nach Capri nachkommen. Wenn meine Abreise früh genug erfolgte, so würde ich auch Berlin berühren; doch mache ich noch keine Pläne. Hier füllt es sich sehr mit Fremden, in Neapel, wohin ich Morgen komme, soll es noch ärger sein; dafür werde ich in Capri wohl völlige Einsamkeit haben, wahrscheinlich bin ich dort der erste Pensionär. Sehr fatale S[ch]iroccozeiten hatten wir in der letzten Woche; die Nerven werden, je länger man hier ist, desto sensibler dagegen. Springer soll sich außerordentlich erholt haben; Mitte März kommt er hierher u. bleibt bis in den Mai, ebenso Delius3 aus Bonn. Mein Bruder wird Mitte Juni etwa nach Deutschland gehen; wohin, ist noch unbestimmt. Aber ich schreibe in großer Reisezerstreuung. Mein Bruder sieht Rechnungen durch u. vor mir steht der noch ungepackte Koffer. Ich empfehle mich Ihrem Herrn Vater und den Ihrigen. Ihr ergebener Wilhelm Dilthey. Rom, den 28 Febr[uar] [18]69. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, unpaginiert.

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1 Sigwarts Rezension von D.s Leben Schleiermachers erschien in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 57 (1870), S. 277–298 und 60 (1872), S. 39–77. 2 D. Schenkel: Friedrich Schleiermacher. Ein Lebens- und Charakterbild. Zur Erinnerung an den 21. November 1768 – für das deutsche Volk bearbeitet. Elberfeld 1868. 3 Nikolaus Delius (1813–1888): Literaturwissenschaftler; 1855 a. o., seit 1863 o. Prof. in Bonn.

[302] Dilthey an Carl Justi [2. März 1869] Lieber Freund, Morgen, Mittwoch, werde ich nach Neapel kommen, um Ihnen meinen Glückwunsch für den Ordinarius persönlich darzubringen1 u. dann von da nach Capri zu reisen. Ich komme allein, mein Bruder später, u. bleibe nur 1-2 Tage in Neapel. Mit dem Tagesschnellzug (halbelf von Rom abfahrend) reise ich u. erwarte im Washington oder Nova York Hotel unterzukommen, wenn die Bestellung heute richtig von Bekannten gemacht wird; doch ist das freilich sehr ungewiß. Da ich Ihnen nun keineswegs zumuthen will, mich am Bahnhof aufzufangen, so werde ich bei Dethen2 andern Morgens früh Ihre Adresse erfragen u. Sie zeitig aufsuchen. Also bis dahin auf Wiedersehn. Ihr Wilhelm Dilthey Dienstag früh. Original: Hs.; ULB Bonn, Korrespondenz-NL C. Justi, S 1703, 1, unpaginiert. 1 2

Justi war seit 1867 a. o. Prof. in Marburg, 1869 erfolgte die Beförderung zum Ordinarius. Nicht ermittelt.

[303] Dilthey an seinen Bruder Karl [6. März 1869]1 Liebster, eine Zeile! glücklich angekommen, doch hier stürmisch und unbeständig Wetter gefunden; dabei keine veduta del mare2 in den Gasthöfen, auf Wochen alles vorausbestellt, unbeschreibliches Fremdengewimmel. Justi in

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Dilthey an seinen Bruder Karl

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Pompeji – durch glücklichen Zufall am folgenden Nachmittag gleich, wo er mit dem Reisesack ankam, erwischt. .|.|. Er ist an den 2 Tagen mit mir herumgelaufen, der Bücher und des Logis wegen, er hat sich so gut und wahrhaft freundschaftlich gezeigt. .|.|. Mit dem Logis sind wir höchst glücklich gewesen. Vico di Pareta 2, in der Chiaja3 (nahe bei Justi), auf der Höhe, dabei 4 Treppen, sodaß die Meerluft voll einströmt; vor mir Vesuv etc. – drunten Orangenhaine, ganz still, abgesondert, wie auf dem Lande. So haben wir hier zusammen ein gutes Standquartier. Also mach daß Du fertig wirst. Ich fühle mich hier unbändig behaglich, bin mit den Büchern schon eingerichtet, und fühle, wie gut die Luft auf mich wirkt. Ich zweifle gar nicht, daß ich hier zugleich fertig und gesund werden kann und denke bestimmt bis zum letzten in dieser Gegend zu bleiben. .|.|. Sonsten hier wie in Abrahams Schoos. Lignana,4 wie er von meiner Freundschaft mit Steinthal hört, höchst herzlich und behaglich; heut Abend essen wir bei ihm. Justi führt mich ins Theater und macht den deutschen Commentar, lehrt mich die billigsten und besten Trattorien und Cafés, will mich vielleicht auch nach Capri begleiten auf ein paar Tage etc. Als ich in seiner Wohnung labyrinthische Gänge trat, sagte er schmunzelnd: ich sei der erste, der ihn überhaupt aufgefunden, das sei so ein Nebenvortheil – und Schliemanns5 mächtigen Filz sah er mit Wonne unter seinem Altan vorüber in die Villa verschwinden, als unbetheiligter Zuschauer. Addio! Komme! Dein Wilhelm 6ten Morgens. Am Tag nach meinem Einzug. Napoli, Vico di Pareta 2. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 140. 1

In JD irrtümlich: „Februar 1868“. Malerische Darstellung des Meeres. 3 Vorstadt Neapels. 4 Giacomo Lignana (1827–1891): ital. Philologe und Poet. 5 Heinrich Schliemann (1822–1890): zunächst Kaufmann und später Altertumsforscher. – 1868/1869 hielt sich Schliemann zeitweise in Neapel auf, bevor er seine Forschungen in Griechenland aufnahm. 2

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Dilthey an seine Mutter

[304] Dilthey an seine Mutter Liebste Mama!

(Ischia [Ende] März 1869)

Der Koffer steht gepackt neben mir; Morgen mit dem ersten Tageslicht fahre ich von Ischia über den Golf nach Neapel zurück. Ich bin hier in der paradiesischen Gegend 8 Tage gewesen auf der Insel; Freund Justi brachte mich her und blieb einen Tag; von da ab war ich fast ganz allein, habe gearbeitet und leider – recht viel gefroren. Heute regnet’s wieder so anhaltend, daß ich lieber in Neapel dem zusehen will als hier, wo’s wirklich einem trübe zu Muthe macht, durch den Regen so Stunde für Stunde nach den Bergen zu sehen. Besonders klug war es auch wieder nicht, hierher auf eine Insel im Golf im März zu gehen, aber ich verzichte überhaupt darauf, hier in Italien etwas Gescheites zu thun. Wenn ich über die deutsche Grenze komme, verläßt mich hoffentlich die dämonische Gesellschaft, die mich hier in Italien geneckt hat, Schwermuth in der Seele, nichts als verfehlte Einrichtungen nach außen. Es ist mir einmal bestimmt gewesen, in diesen letzten Jahren viel Leid, Aufregungen und Mühen zu durchleben. Ich habe eine schöne Zahl grauer Haare bekommen, und ich hatte oft das Gefühl daß mit einem Ruck Jugend, Glück, alles was mir bisher treu schien, von mir Abschied genommen. Vielleicht wäre mir’s in solchen Zeiten am besten gewesen, ich wäre bei Dir gewesen. Das hat nun mein Unverstand auch nicht haben wollen. Doch sind das Stimmungen eines Regentages, wenn man dazu einen gepackten Koffer neben sich stehen hat, was einen sentimental macht. Ich bin im ganzen mit meiner Gesundheit zufrieden. Dann bin ich hier recht fleißig gewesen, und bin so ziemlich sicher, da ich in Neapel noch einige Tage allein bleibe und dort auch im Freien wohne, die größere Hälfte meines Manuskripts fertig mitzubringen, die andere ziemlich weit gefördert. So werde ich doch in Kiel in den ersten Wochen neben der Vorlesung ohne zu große Anstrengung fertig. Aus den zwei noch zu schreibenden Kapiteln haben sich hier leider Gottes vier entwickelt, von denen die zwei letzten nun im Entwurf fertig werden. Sobald ich aber dann fertig bin, müssen wir auf Mittel sinnen, Sommer und Herbst soviel als möglich und der etwas sehr eingegangene Geldbeutel erlaubt, zusammen zu sein. .|.|. Ich rechne bis Ende März Neapel, 1-4 April Rom, 4-9 Florenz und Mailand, 10-13 über den Brenner nach München, 18. früh Ankunft in Kiel. Der zu sehenden Sachen und Menschen ist kein Ende. Und dazwischen muß viel an die Vorlesung gedacht werden, denn ich will mit möglichst freier Seele nach Kiel kommen, auch nach dieser Seite hin. Schon in Rom habe ich etwas für sie vorbereitet.

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Dilthey an seine Mutter

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Erster Ostertag [28. März]. Neapel. Gestern Morgen 5 Uhr bei Vollmond über den Golf gefahren, ein sehr schöner Morgen. Heut Nachmittag gehe ich nach Sorrent, dort das Kapitel, das vorgestern begonnen ist, fertig zu schreiben. .|.|. Doch ich schließe, um fleißig zu sein. Die Arbeit macht mir wieder das größte Vergnügen, tausend Grüße an alle Euer Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 141.

[305] Dilthey an Hermann Usener Düsternbrook, bei Kiel (bei der Badeanstalt) am ersten Feiertag [16. Mai 1869]1 Liebster Hermann, Gute Feiertage in Bibrich! Wie viel ist mir werth daß Du dort bist; sonst würde mich nichts abgehalten haben selbst dort nachzusehen u. zu handln;2 aber in Deinen Händen ist Alles besser als in meinen. Meine Ansicht wird Dir Mama mitgetheilt haben; ich füge hinzu: 1. gerade auf den Vormund lege ich, gegen der Frauen Meinung, Gewicht; was jetzt abzuwickeln ist u. später immer wieder mit F[irnhaber] zu verhandln sein wird sind Männersachen, ich hätte gewünscht daß Mama gar nicht in der Lage gewesen wäre mit Leisl[er] viel zu bereden oder gar mit Firnh[aber] was mich ärgert, da dieses schwatzhafte unmännliche Wesen unmöglich bei Leisler das Richtige erreicht. Alsdann auch weil Marichen auch in andren ernsten späteren Schicksalen, die niemand voraussehen kann, an Winter3 oder Scholz eine feste Stütze haben würde, da wir Profess[oren] doch wer weiß wohin zerstreut werden können u. so nicht immer zur Stelle sind. Endlich ist es das naturgemäße, daß die Frauen die Sache in die Hand eines fremd dastehenden rechts- oder geschäftskundigen, an Ort und Stelle befindlichen Mannes legen, der dann ganz kaltblütig für die Rechte des Kindes eintritt u. die Geldpunkte streng nimmt. 2. Die Klarlegung des Vermögens von Seiten des Gerichts, alsdann Sicherung des Pflichttheils, oder der Erziehung und Existenz des Kindes vor den Renten: dieser Punkt ist unser wesentliches Interesse, damit sind auch die Frauen einverstanden. Es gilt nur bei Leisler zu ermitteln ob hierfür eine zweifellos durchgreifende Formel gefunden werden kann. Ich dächte: des

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Dilthey an Hermann Usener

Kindes Interesse als die natürliche Erbin ist vom Gericht zu wahren. Demgemäß da ein Test[ament] vorliegt, den Vormund in Stand zu setzen, dieses Interesse nicht etwa willkührlich u. eigenmächtig zu verletzen durch die Annahme des von seinem Vater ihm üb[er]g[ebenen] Testaments, das dieses vielleicht von falschen Annahmen aus entwerte etc. Für diesen Gesichtspunkt muß sich eine rechtlich gesicherte Form finden. Und zwar, scheint mir, darf mit dieser Erklärung nicht gezögert werden, sonst kommt vom Gericht eine neue Aufforderung sich zu entscheiden – es hat ja auch gar keinen Zweck. Ist Dirs nicht zu mühsam, so lies Dich durch meinen ersten ausführlichen Brief. Das wäre diese unselige Angelegenheit, bei der das Schlimmste ist daß dieser so wahrscheinlich zu erwartende, bei der ganzen früheren Behandlung der Sache ja mit in Rechnung gezogene Ausgang die unsrigen wie etwas Unerwartetes aufregt. Nun, Liebster, Alter, kommt gleich Affaire 2. Karls Entscheidungen machen mir Sorge. Einen Plan den er, auf Usinger’s4 Zureden,5 faßte, sich hier zu habilitieren, habe ich natürlich höchst u. ausnehmend unpraktisch gefunden; im Übrigen schwankte ich zwischen Bonn u. Halle. Für Bonn sprach bei mir der einzige Umstand, daß er durch Deine Weise Arbeiten anzufassen und durchzuführen in eminentem Grade gefördert werden würde; dieser Umstand erscheint mir von größter Wichtigkeit. Für Halle daß er dort auf eine tüchtige Wirksamkeit rechnen dürfte. Ob nun Deine durchgreifende Einwirkung, deren ich täglich schmerzlichst selber entbehre, bei geringem zu erw[artendem] äußeren Erfolg oder eine tüchtige akad[emische] Wirksamkeit vorzuziehen (wobei letztes zugleich d[ie] extra große Wichtigkeit hätte): wage ich nicht zu entscheiden. So hatte ich dies ihm überlassen, aber ihn gedrängt, baldigst eine Entscheidung zu fassen u. sofort das Erforderliche zu thun. Nun kommt vor 3 Tagen ein Brief des guten Jungen mit dem Kieler Projekt. Er traf zusammen mit meinem hieß[igen] Plan. Ich wurde hier wirklich freundschaftlich von allen Seiten aufgenommen. Um die Ankommenden pflegt man sich ja an Universitäten etwas zu streiten. Nun sagte mir Ribbecks u. s[einer] Frau Wesen besonders zu; dazu kam daß er Euch kannte, was mir schon viel werth; wir attachirten uns also sehr aneinander. Es kam so daß ich ihm proponiren konnte, mit Forchhammer6 Karl hierh[er] als Extraordinarius vorzuschlagen. Darauf ging er lebhaft ein. Kann Forchhammer dafür gewonnen werden, so wird dies Gesuch sehr bald an’s Minist[erium] abgehn; freilich ist Forchh[ammer] sehr schwer zu behandln. Ich hoffe indeß noch. Nun schrieb Karl: durch Änderung seines Planes sei ihm wahrscheinlich Heydemann7 in Bonn zuvor gek[ommen]. Ich bin natürlich höchst verdrießlich, habe nun so geschrieb[en]: wenns mit Bonn vorüber, dann möge er doch gleich in Halle sich melden ohne einen Tag zu verlieren, damit nicht da auch was

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passirt; von Kiel denken als bestünde es nicht, wenn das Extraordinariat käme, so wäre es mir zeitig genug; stehen jetzt Schwierigkeiten im Wege, so machen wirs im nächsten Jahre; überwinden werden sie sich bei vorsichtiger Behandlung schon lassen.8 Es ist ein Unheil, daß so viele, besonders Ritschl selber Karl entgegenwirken. Und nun genug von all diesen Dingen! Tausend Dank liebster Hermann, für Deinen freundl[ichen] Empfang hier durch Deinen Brief.9 Und, liebe Lily, kannst Dus verantworten mir nicht ein Wort zu schreiben? Ich fahre fort keinen andern Wunsch zu haben als bei Euch zu leben u. zu sterben. Diese Ferien bleibe ich hier, endlich Corr[ektur] u. Manuscript zu fördern, sodaß doch wohl in 5–6 Wochen Alles gethan sein wird. In der Logik hier zu aller Erstaunen und nach hieß[igen] Verh[ältnissen und] mein[em] eignen etwa 20 Zuhörer. Nächstes Semester: Gesch[ichte] d[er] Phil[osophie] Theil I, wo’s hoffentlich noch besser kommt. Also an Material für die Einsicht daß ich ein guter Dozent laß ichs nicht fehlen. Springer und Frau grüßen doch von mir; ich habe in Rom einen sehr schönen Tag mit ihnen gehabt. Bona hat einen leeren armen Brief geschrieben,10 den ich diese Tage gleich beantworten werde. Kießling erwarte ich dieser Tage hier. Auch Vetter Baur will später etwas nach Kiel kommen. Die Hauptsache ist daß 1. Mama den Arzt frage11 ob sie Seebäder nehmen könnte mit gutem Erfolg, ob der etwas scharfe Ostwind ihr nicht schadet u. dann in dies Idyll hier (ich kann ihr die heiterste stillste Existenz mit Menschen schaffen, die sie nicht zu besuchen braucht, gar wie sie schreibt „sich vorstellen“ was sie nicht könne, sondern die zu ihr kommen, schaffen, besser als ich’s in Basel gekonnt hätte) im Juli und August kommt. 2) daß Du zum Philologencong[reß] hierher kommst. Pflegt nur Marichen ordentlich. Möge sie bedenken, daß ihr u. ihres Kindes Gesundheit ein unzertrennlicher Besitz ein unschätzbares Gut ist. Sie soll nur unsrer Kleinen körperliche Entwicklung recht fördern, und nächst dieser den Charakter derselben; drauf beruht das Lebensglück. Mama etc. sollen sich nicht wundern wenn ich nun wieder [ein] recht fauler Briefschreiber werde. Gerade Briefe strengen mich sehr viel mehr an als alle Arbeit. Es ist immer ein Attentat auf meine Gesundheit gew[esen] wenn ich in Rom einen schrieb (was Karl, der schlechteste praktische Psycholog den ich noch gesehn nie begreifen wollte). Und ich muß gew[iß] ganz ges[und] werd[en]. Lebt alle wohl und seid tausendmal gegrüßt u. geküßt. Euer Wilh[elm] Tante Marie bitte ich inständig, für Karl pecuniär das Möglichste zu thun, damit er in dieser bemitleidenden Zeit für ihn nicht durch Geldnoth gedrückt werde. Was sie jetzt an ihm thut, ist unschätzbar.

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Mariechen soll nur stets an meine innigste Theiln[ahme] glauben, ohne daß ich in den nächsten Monaten mehr als das Nöthigste schreibe. Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL, S 2102, 3, 2; ein maschinenschriftliches Transkript mit umfangreichen Auslassungen ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 17, 9; Erstdruck (mit großen Auslassungen): JD, Nr. 142. 1

In JD: „am ersten Ferientag (Pfingsten 1869)“. – Am oberen linken Rand von der Hand Useners: „Erh[alten] 2. Pfingsttag in Biebr[ich]. Beantw[ortet] 30. Mai 1869“. – Der Antwortbrief Useners ist nicht überliefert. 2 Nachfolgend nimmt D. ausführlich Stellung zu einer Familienangelegenheit: Vermutlich geht es um das Erbe und die Auslegung des Testaments von D.s Vater und in diesem Zusammenhang um die finanzielle Versorgung der noch minderjährigen Tochter von D.s Schwester Marie, die sich bald nach der Geburt des Kindes von ihrem Mann, Adolf Lade, getrennt hatte und seit 1858/59 wieder mit ihrem Kind im Elternhaus wohnte. Involviert in diese Sache waren der Wiesbadener Rechtsanwalt und Notar Franz Leisler sowie D.s ehemaliger Gymnasiallehrer und Schulreferent Prof. Firnhaber. – D.s „ausführlicher Brief“ zu dieser Angelegenheit, den er hier erwähnt, ist nicht überliefert. 3 Nicht ermittelt. 4 Rudolf Usinger (1835–1874): Historiker; 1865–1868 Ordinarius in Greifswald, ab 1868 als Nachfolger Treitschkes in Kiel. 5 Im Original: „zureden“. 6 Peter Wilhelm Forchhammer (1801–1894): Altertumsforscher und Politiker; 1836 a. o., 1843 o. Prof. der klass. Philologie in Kiel, 1868–1870 Mitglied des preuß. Landtags, 1871–1873 Mitglied des deutschen Reichstags, seit 1874 Mitglied des preuß. Herrenhauses. 7 Heinrich Heydemann (1842–1889): Archäologe; 1869 Habilitation in Berlin, 1874 Prof. in Halle. 8 Karl D. habilitierte sich im Oktober 1869 in Bonn. 9 Nicht überliefert. 10 Nicht überliefert. 11 Im Original: „fragen“.

[306] Dilthey an Georg Ernst Reimer [Ende Mai 1869] Verehrtester Herr u. Freund,1 Die Lektüre der inzwischen erschienen[en] Schleiermacheriana, die Nöthigung in Folge der [Veröffentlichungen] aus Schellings Nachlaß’ an Bogen 19 wesentlich zu ändern halten mich auf. Ich will nunmehr, sobald die Correcturen abgeschlossen, die letzten Capitel ganz umschreiben, damit die Correktur einfach abläuft. Daher bitte ich Sie, mir zu diesem Zweck was von neugesetz-

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tem Manuscript bei Ihnen liegt hersenden zu wollen (Kiel, Düsternbrook, im Schlodtfeld’schen Hause). Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, unpaginiert. 1 Darüber von fremder Hand: „2/ pag. 255–296 des Manuscripts genau collationirt über6 sandt.“

[307] Dilthey an Herman Grimm Ihr gutes Herz, lieber Grimm, das wohl einmal intermittirt, ohne daß deswegen gleich totale Stockung zu befürchten wäre, flößt Ihnen den edlen Wunsch ein, von meiner Existenz etc. nunmehr eine Kunde zu erhalten, nachdem es dem Schicksal gefallen dieselbe einmal ein wenig in Frage zu stellen. Und mein gutes Herz wird von dieser plötzlichen Unruhe so gerührt daß Sie in Folgendem bereits Befreiung von Ihren Sorgen erhalten. Im Ernst, seit wir uns im vor[igen] Herbst sahen, habe ich ein hübsches Sümmchen Schmerzen auszustehen gehabt. Und wenn man gelegentlich so weit gelangt gar nichts mehr als Eis u. ein paar tropfen Thé wochenlang bei sich zu behalten, bekommen Welt, Mensch[en], Rom etc. eine verzweifelt graue Färbung. Nun ist nur noch die verdrießl[iche] Erinnerung an die gute verlorene Zeit von diesen Miseren übrig geblieben. Ich wäre gesünder als vorher, wenn nicht das hießige verzweifelt kalte Klima mich aus einer Erkältung in die andre brächte. Wir haben bis heute stellenweise in der letzten Zeit geheizt. Ich riskire im Winter die schönsten Rückfälle. Davon abgesehen geht mirs hier sehr gut. Angenehme Geselligkeit, wunderschöne Wohnung vor der Stadt zwischen Wald und See; eine der besuchtesten, wenn nicht die besuchteste Privatvorlesung (denken Sie an eine große Ziffer, es sind – 23 (Gesammtzahl der Stud[en]t[en] c. 150 !!); all das wird freilich sehr gestört, wenn man die Hälfte der Zeit Rheumatismus oder Schnupfen u. Husten mit obligat[orischem] Kopfschmerz zum Tollwerden hat. Für holsteinische Ureinwohner mag das Klima hier sehr angenehm sein. Ein rheumatisch gewordener Süddeutscher wird von ihm aber langsam und sicher zu Tode gequält. Dafür hat man inzwischen Aussicht mit 3 wirklich schönen Monaten Juli, August, September, in denen man baden, in die weite See fahren, Touren machen kann. Es wäre hübsch, wenn Sie sich denn hier niederließen u. wir

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Dilthey an Herman Grimm

zusammen in das tückische Wasser gingen. Sie finden nahe bei eine wundervolle Pension, ja in meinem Hause selber (Balcon nach der See, wie ich auch habe; rückwärts die Bäume des Waldes mit Händen zu fassen; ¼ Stunde vor der Stadt), wenn Sie mir rechtzeitig Auftrag geben. Auch außer den Badegästen läßt sich Ihnen gute Gesellschaft versprechen. Mitte August verreise ich dann, wahrscheinlich in ein Nordseebad, darauf an den Rhein zu meiner Mama. Empfehlen Sie mich Ihrer Frau, grüßen Sie wen Sie von Freunden sehen und lassen einmal hören wie’s Ihnen geht und was Sie für Sommerpläne haben damit man sich begegnet. Ihr Wilhelm Dilthey Kiel 10 Juni [18]69. Auf die Excursion in die mittelalterliche Philosophie ungeheuer begierig. Ich bin aus vielen ästh[etisch]- kunsthistor[ischen] Liebhabereien, die mich in Rom über Wasser hielten, natürlich hier ganz heraus geworfen. Über Schelling soviel neues Material, über Schleiermacher’s philos[ophische] Grundansicht so viel Untersuchungen sehr Tüchtiger (Überweg, Sigwart, Lipsius etc.),1 daß ich wie schon vorigen Herbst, in den ‚Indifferenzpunkt‘ des ersten u. zweiten Bandes, (Verständniß und Beurtheilung der abgeschlossenen Weltansicht Schleiermachers) wieder zurückgeworfen bin. Wäre ich nur den verwünschten Stockschnupfen los! Was alles werden wir zu plaudern haben über Kunstgesch[ichte] bei Wiedersehn! Ich habe mich in Ital[ien] bes[onders] mit alter Kunst als Theil griech[isch]-röm[ischer] Kultur beschäftigt, nächst[es] Semester lese ich Geschichte der alten Philosophie; da müssen die Anschauungen Frucht bringen, kommen Sie nur hübsch daß wir plaudern können! Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Brief 924. 1 Anlässlich der Feier zu Schleiermachers 100. Geburtstag am 21. 11. 1868 waren viele Festschriften und Einzelbeiträge, so auch von den hier von D. erwähnten Kollegen erschienen: F. Ueberweg: Schleiermacher, in: Grundriß der Geschichte der Philosophie der Neuzeit von dem Aufblühen der Alterthumsstudien bis auf die Gegenwart. Berlin 1871, § 24, S. 274–286; Ch. Sigwart: Zum Gedächtnis Schleiermachers. Rede, in: Jahrbücher für deutsche Theologie (1869), WA in: Ders.: Kleine Schriften. Bd I: Zur Geschichte der Philosophie. Biographische Darstellungen. Freiburg i. Br. 1881, S. 221–255; R.A. Lipsius: Studien über Schleiermachers Dialektik, in: Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie 12 (1869), S. 1–62 und S. 113–154.

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Dilthey an Georg Ernst Reimer

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[308] Dilthey an Georg Ernst Reimer Hochverehrter Herr Reimer, Das Manuscript ist glücklich angelangt. Ich bin diesen Sommer mit nichts als Schleiermacher beschäftigt, da mich, nach den ersten 4 Wochen, die Vorlesungen nur sehr wenig Zeit kosten. Nach dem engen Zusammenhang dessen, was ich jetzt abschließe, mit dem zweiten Theil, fällt das Hauptergebniß meiner jetzigen Arbeit diesem zu, sodaß dessen Förderung dann hoffentlich keine zu große Schwierigkeit macht. Darf ich ergebenst um Übersendung der Aushänge-Bogen ABCD Denkmale bitten?1 Ich habe für einen Zweck der Untersuchung mein Exemplar zerschnitten u. es will sich nicht mehr zusammenfügen lassen. Ich hoffe sicher daß in einigen Wochen die Beendigung des Drucks sicher u. rasch vor sich gehen kann. Ich selber lege den höchsten Werth drauf daß im Lauf des August auch der Druck beendet ist, damit ich als dann für ein Seebad oder eine andre Reise frei werde. Ganz ergebenst der Ihre Wilhelm Dilthey Kiel den 24 Juni 1869. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 45. 1

Darunter von fremder Hand (vermutlich vom Verlag): „29/6 Proben übersandt“.

[309] Christoph Sigwart an Dilthey Verehrtester Freund! Beste Glückwünsche zur Wiederherstellung Ihrer Gesundheit u. zum glücklichen Eintritt in Ihre Kieler Wirksamkeit! Hätte ich gewußt, daß Sie schon seit Anfang des Semesters zurück sind, so hätte ich Ihnen längst für die Zusendung der Bogen der Denkmale gedankt, die ich mit größtem Interesse durchstudirt habe. Meine Anzeige Ihrer ersten Lieferung ist vor einigen Wo-

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Christoph Sigwart an Dilthey

chen an die Redaction abgegangen; ich habe noch nichts darüber erfahren, hoffe aber daß sie im 3[.] Hefte dieses Jahrgangs noch erscheinen wird. Sie sollen die Correkturbogen sofort erhalten. Einstweilen will ich Ihnen kurz den Punkt bezeichnen, in Beziehung auf welchen ich meine Differenz allein ausgesprochen habe. Er gilt der bestimmten Auffassung von Schl[eiermachers] Verhältniß zur Kritik d[er] r[einen] V[ernunft]. Zu sagen er habe ihre Resultate unbesehen angenommen u. sei ganz u. gar auf ihrem Standpunkte, habe dagegen die ethischen Anschauungen Kants allein kritisiert, während andre wie Fichte; beide Schulze1 u.s.w. das Verhältniß von Erscheinung und Ding an sich weiter verfolgt haben, das habe ich beanstandet. Ich gab Ihnen Recht, daß Ausgangspunkt der Vernuftkritik unser Wissen, überhaupt der Inhalt unsres Geistes ist zunächst subjectives Faktum – analytische Methode desselben u. hauptsächlich diese Analysis, Duplicität des intell[ektuellen] u. organ[ischen] Factors, u. darum Wissen nur im Gebiet der Erfahrung, Unmöglichkeit einer Metaphysik alten Styls – daß alles das den Boden bildet auf dem Schleiermacher gestanden; aber ich bezweifle, ob er im strengen Sinne je die ganze Erkenntnistheorie Kants sich aneignete. Denn der Aufsatz über das spinozistische System zeigt niemals, daß er doch auch in den erkenntnistheor[etischen] Problemen weitergebohrt u. sich mit dem Ding an sich beschäftigt habe; er giebt sich Rechenschaft wie man das Ding an sich denken dürfe vom Kant’schen Standpunkt aus, u. ist darin strenger als Kant, indem er alle jene unter der Hand hinzugedachten Voraussetzungen abschneidet. Hat er aber diese Erkenntnis gehabt: so kann ich mir seine späten Theorien nur so erklären, daß er die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung im ursprünglich Kant’schen Sinne überhaupt aufgab – wahrscheinlich nie sich angeeignet hat – vielmehr die Idee des Wissens aufhebt, um die dem gerade entgegengesetzte Uebereinstimmung von Denken u. Sein von der Idee des Wissens aus zu postulieren. Während also Kant das Subject mit seinem Wissen als den neuen Factor nimmt, u. das Ding an sich dazu voraussetzt, weil er sonst die Kategorien der Sinnlichkeit nicht erklären kann, aber durch seine Theorie von Raum u. Zeit nun alles Wissen des Subjects auf Erscheinungen einschränkt – hat Schl[eiermacher] nach meiner Meinung diese Art der Betrachtung sich gar nie angeeignet, jedenfalls nicht von hier aus weiter gebraucht, sondern eingesehen daß man mit gleichem Recht eine Voraussetzung für das einzelne Subject braucht, das Kant ohne weiteres in einem intelligibelen Subject als Individuum gefunden hatte. Und nun nutzt er die Kantische Anschauungsweise so: Allerdings ist unser Wissen immer ein Product aus organ[ischen] Affectionen u. intellekt[uellen] Thätigkeiten [.|.|.]; aber nur ein Wissen über (Dial[ektik] §134)2 muß annehmen daß ihm ein Sein entspreche, sowohl der Wahrnehmung als dem Denken.

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Christoph Sigwart an Dilthey

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Der Inhalt unseres Wissens also ist das Wahre [?] selbst. Was vorausgesetzt werden muß, ist das was die Möglichkeit des Wissens erklärt, die Voraussetzung sowohl des Subjects als des Objects, hat also eine andre Stellung als das Ding an sich, obgleich es ihm darin ähnlich ist daß es nur in einer leeren Formel ange[deutet] aber nicht gewußt werden kann. So denke ich mir das Verhältniß u. das habe ich, besonders gegenüber von S.106-108 Ihrer Schrift zu begründen versucht. Im Uebrigen aber spreche ich ausdrücklich aus, daß ich mit Ihrer Ansicht über die Entwicklung Schl[eiermachers] aus Kant heraus in der Hauptsache vollkommen einverstanden bin, darin eine vollkommene Bestätigung meiner früher geäußerten Meinung finde. Diesen Aufsatz von 18573 habe ich erst in letzter Zeit wieder einmal näher angesehen, als ich die Arbeit Ihres Collegen Lipsius in Hilgenf[elds] Zeitschrift4 las. Manches daran ist mir fremd geworden; was ich zb. S. 301, 302 gewollt habe verstehe ich selbst nicht mehr recht; manches ist einseitig gesehen; es war eben ein Versuch von irgend einer Seite her in die Begriffssprache der Dialektik einzudringen u. seine Fäden bloß zu legen. In der Hauptsache aber bin ich auch nach wiederholtem Studium überzeugt daß ich Recht habe u. daß jeder Versuch bei Schelling anzufangen statt bei Kant um die Dialektik zu verstehen, die Sache auf den Kopf stellt. Es wird allerdings mit den Begriffen die in der Dialektik gefunden sind, nachher, in der Ethik u.s.w. weiter gerechnet u. nicht jedes Mal erinnert, was sie bedeuten u. woher sie stammen; u. so sieht es manchmal aus, als sei man mitten im Identitätssystem; aber man muß immer daran erinnern worauf dann das Recht dieser Ansicht ruht, u. da kommt man immer darauf zurück, den analytischen Gang der Dialektik für das Wesentliche zu halten u. zu sagen, es ist alles ein Erklärungsversuch für das fundamentale Factum des Selbstbewußtseins in seiner Einheit u. Vielheit, u. will nichts anderes sein; die Dogmatik aber ist eine Concession an die Theologie; um ihrer [.|.|.] willen giebt sie ihr eine Lehre von Gott u.s.w., wenn sie aber die Clauseln nicht sehe u. nicht verstehe, so ist das ihre Sache. Ich glaube nach Ihren gelegentlichen Andeutungen daß ich darin ziemlich genau wie Sie denke u. ich bin darum auf den weiteren Gang Ihrer Darstellung außerordentlich begierig. Die Arbeit von Lipsius, soviel Freude u. Güte daran ist, hat mir noch nicht zu einem übereinstimmenden Ganzen zusammengehen wollen. Ueber Einzelnes werde ich Gelegenheit nehmen mich mit ihm näher auseinanderzusetzen; ich glaube er ist nicht so weit von mir entfernt als er denkt. Wenn Sie ihn sehen sagen Sie ihm einstweilen bereits besten Dank für die Ehre die er mir durch seine eingesandte Auseinandersetzung erwiesen hat. Beiläufig als Beiträge zu Ihrem Druckfehlerverzeichniß, wenn Sie es nicht selbst schon gemacht: S. 22 1. Linie 18jährig statt 16j[ährig] S. 87 Z[eile] 13

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Christoph Sigwart an Dilthey

v[on] o[ben] primären Eigenschaften statt precären S.88 etwas unterhalb der Mitte Läugnung statt Leugnung S. 90 Z[eile] 5 v[on] o[ben] die statt dies. Das ist alles was ich angestrichen. Meine Pläne für den Herbst sind noch nicht gemacht. Wir lesen hier, übermäßig solider Weise, bis zum 22. oder 24 August; bis jetzt habe ich nichts im Sinn als mich ein paar Wochen an irgend einem Punkte der Schweiz nicht zu weit vom Bodensee niederzulassen u. die Ruhe zu pflegen. Das beste wäre, wenn Sie nach unserem [.|.|.] reisen, Sie träfen so zeitig auf, um noch während unseres Semesters hierher zu kommen; Sie könnten dann das Werk noch im Ganzen sehen. Jedenfalls werde ich Sie nicht verfehlen [?] wenn Sie mir mit ein paar Worten Ihre Reisepläne seiner Zeit mittheilen; ich bin durch nichts gebunden u. kann auch ausreißen wenn ich will. Inzwischen bis ich die Freude haben werde, Sie zu sehen, wünsche ich meiner kleinen Arbeit, die wohl besser aber nicht aufrichtiger sein könnte Ihre freundliche Aufnahme. Ihnen richtigen Fortgang an Ihrer Arbeit. Ihr C. Sigwart Tübingen 26. Juni 1869. Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 102/1, Bl.105–108 R. 1

Gottlob Ernst (Aenesidemus-) Schulze (1761–1833): Philosoph; 1788 Prof. der Philosophie in Helmstedt, 1810 in Göttingen; Kritiker der Kantischen Philosophie. – Johannes Schulze oder Schultz (1789–1869): Hofprediger und Prof. der Mathematik in Königsberg; erster Anhänger Kants und Erläuterer seiner Vernunftkritik. 2 F.D.E. Schleiermacher: Dialektik. Aus Schleiermachers Nachlasse. Hg. von L. Jonas. Berlin 1839, § 134, S. 76 f. 3 Ch. Sigwart: Schleiermacher’s Erkenntnißtheorie und ihre Bedeutung für die Grundbegriffe der Glaubenslehre, in: Jahrbücher für Deutsche Theologie 2 (1857), S. 267–327; Ders.: Schleiermachers psychologische Voraussetzungen, insbesondere die Begriffe des Gefühls und der Individualität, ebd. S. 829–864. 4 R.A. Lipsius: Studien über Schleiermacher’s Dialektik, in: Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie, gegründet von A. Hilgenfeld 12 (1869), S. 1–62 und S. 113–154.

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Dilthey an seine Mutter

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[310] Dilthey an seine Mutter Liebste Mama, es geht wohl bei Euch mit dem Baden in Weilbach1 allmählich zu Ende? Bleibet nur hübsch lange dort bei dem wundervollen Wetter. Wie oft habe ich gewünscht, Du hättest Dich entschließen können, hierherzukommen. Die Gegend hier bei schönem Wetter ist so schön als eine in Deutschland, und ich begreife daß Treitschke sie selbst über die von Heidelberg in solchen Tagen stellt. Dabei herrscht hier eine gänzlich tolle Vergnügungsjagd, der ich in Anbetracht meiner Gesundheit diesen Sommer die Zügel lasse. Das fängt mit einer Hamburger Familie an, die hier 10 Minuten von mir eine Villa, Park und Gut hat und jede Woche größere, aus Kiel sorgfältig ausgewählte Gesellschaft bei sich sieht. Dort wird nun fast jede Woche Comödie gespielt – meine ganze Indolenz gesellschaftlichen Pflichten gegenüber war nöthig, allen Anforderungen und Bitten, mitzuspielen, zu widerstehen – nun ist auch bei Ribbecks2 der Spiel- und Lustbarkeitsteufel eingezogen, Freitag wird dort auch eine Comödie zu seinem Geburtstag gegeben – vor ein paar Tagen gaben sie in Schrevenborn3 im Walde über der See ein großes Essen – das Schönste ist, bei gutem Wind der offnen See auf leichtem Boot entgegenzusegeln. Nun haben wir das gründlich genossen, und da ich am Wasser wohne, so habe ich neulich sogar Damengesellschaft auf dem Boot mit Bowle etc gegeben. .|.|. Ich bade täglich regelmäßig. Die Vorlesung macht mäßige Arbeit. Auch einen Anfall, tüchtig nebenher zu arbeiten, hatte ich, war die Hälfte der Zeit, seit ich zurück bin, recht fleißig, manchmal viel zu sehr, – und heute fange ich mit diesem Brief eine nun ruhigere Lebensordnung wieder an. Es ist nur so schwer durchzuführen. Bei Ribbecks ist seit einigen Wochen ihre Schwester, die andere Tochter des Generals Beyer,4 ein noch sehr hübsches Mädchen, verwöhnt, geistreich, sehr vergnügungsaufgelegt – sie sind so freundlich gegen mich, daß sie mich wahrhaft beschämen – so kann ich mich den immer neuen Plänen, die dort ausgesonnen werden, sich zu amüsiren, nicht entziehen – und habe auch die neuen Freunde so lieb daß es mir Überwindung kostet, mich von was Lustigem auszuschließen. Aus dieser Historia, meine liebste Mama, siehst Du daß wir allmählich wirklich wieder gesund und vernünftig werden. Dazu gedenke ich aber auch, von heute ab, nach dem mehrwöchentlichen unverantwortlichen Treiben, wieder fleißig zu werden. Denn davon hängt ab, an welchem Tage ich den Bündel schnüren kann. In 14 Tagen wird geschlossen. Dann erst darf ich

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Dilthey an seine Mutter

drauf rechnen, ununterbrochen von den Vorlesungen, meine Arbeit abzuschließen. Mitte August hoffe ich fertig zu sein – dann gilt es, Pläne zu machen, denkt also mir jetzt schon dran. Karls Aussichten hierher sind vorläufig von dem großen Sparsamkeitssystem, das eingeführt ist in Preußen bis zur Deckung des Defizits, getrübt. .|.|. In Hamburg war ich neulich zwei Tage wieder bei Baur5 – sehr vergnügt – er ist dort überall über Beschreibung gern gesehen und begehrt. Es ist für jede Gesellschaft ein besonderer Reiz, wenn man ihn haben kann. Sein Familienleben ist eines der schönsten, die ich je gesehen – vortreffliche Kinder – die schönste Harmonie und Freiheit dabei, welche man sich denken kann. .|.|. Nun lebt wohl – seid Alle tausendmal gegrüßt von Eurem Wilhelm Düsternbrook bei Kiel (Schloth[f]eld’sches Haus) d[en] 19. Juli [18]69. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 143. 1

Badeort im Landkreis Wiesbaden, am südlichen Abhang des Taunus. O. Ribbeck war 1862 einem Ruf nach Kiel gefolgt. 3 Kleiner Ort an der Kieler Förde. 4 Gustav Friedrich von Beyer (1812–1889): preuß. General der Infanterie. – Ribbecks Ehefrau Emma war eine geb. von Beyer. 5 Gustav Baur (1816–1889): protest. Theologe; 1847 a. o., 1849 o. Prof. in Gießen, 1861 Hauptpastor an der St. Jakobi-Kirche in Hamburg, ab 1870 o. Prof. in Leipzig. – 1860 hatte D. eine Publikation Baurs rezensiert: G. Baur: Festrede zur Säcularfeier des Geburtsfestes Schiller’s am 10. November 1859 im Namen der Ludwigs-Universität gehalten. Gießen 1859, in: Deutsche Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben. N.F. 3 (Berlin 1860), Nr. 6 vom 11. 2. 1860, S. 45–46. 2

[311] Dilthey an Carl Justi Liebster Freund, Mir ist der ehrenvolle Auftrag geworden, Sie im Auftrag hießigen Comite’s für die Philologenversammlung (als welche an unsrem schönen Gestade vom 27ten bis 30 September dieses Jahres tagen wird) aufzufordern, zu beschwören, zu überreden – uns durch einen Vortrag zu erfreuen. Allerliebster, es wäre wundervoll, wollten Sie ein Bild von Winckelmann in Rom geben; was für heitere Tage würden wir haben; die Gegend hier ist so schön als nur irgend Heidelberg oder Bonn; gute Gesellschaft sollen Sie auch finden; bei mir nach Kräften angenehm wohnen, da ich eine sehr hübsche

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Dilthey an Carl Justi

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Wohnung (kleiner Kiel, bei Ackermann) dann haben werde. Für Ihren Wunsch von Marburg wegzukommen,1 möchte ein solcher Vortrag höchst wirksam sein. Zu lang braucht er ja nicht zu sein, es wird sogar gewünscht daß die Vorträge keinen Falls 3/4 Stunden überschreiten. Daß Sie ordentlich placirt werden, dafür wollen wir schon sorgen. Ribbeck würde sich das Vergnügen gemacht haben Ihnen selber zu schreiben, glaubte er nicht – wer weiß ob mit Recht! – meine Bitten u. meine Handschrift würden vielleicht, als eine Erinnerung an die römischen Zeiten,2 Sie angenehm willfährig stimmen. Von mir Alles mündlich, wenn Sie hier sind. Nur so viel daß meine Gesundheit sich sehr gemacht hat, das Colleg nach Verhältnissen recht günstig verlaufen ist, das Buch immer noch unabgeschlossen. Bis Sie kommen muß es beendet sein. Dann wollen wir frohe Tage haben, ist’s auch nicht Teatro San Carlo – noch Ischia – noch endlich Villa Albani; endlich u. doch zuerst – denn – sonderbarster Weise – ich habe nach nichts in Italien Heimweh als nach Rom, wo ich so unglücklich war. Lassen Sie so bald Ihnen möglich (damit man sich einrichten kann) ein einwilligendes Wort vernehmen (Dilthey Kiel Düsternbrook Schlottfeld) u. seien Sie tausendmal gegrüßt von dem alten Reisegefährten der sich sehnt von Vergangenem zu plaudern u. künftige schönere Reisepläne mit Ihnen zu bereden. Ihr Dilthey Kiel den 28ten Juli 1869 Düsternbrook, bei Schlodtfeld Original: Hs.; ULB Bonn, Korrespondenz-NL C. Justi, S 1703,1, 8. 1

Justi lehrte seit 1866 – zunächst als a. o., seit 1869 als o. Prof. – in Marburg. 1871 kam er als Nachfolger D.s für ein Jahr nach Kiel. 2 D. war während seiner Italienreise (November 1868 – März 1869) häufig mit Justi in Rom, Neapel und Ischia zusammen gewesen.

[312] Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer Liebster Freund, Zunächst meine Bewunderung für Dein Buch. Zu allem Guten was ich voraus wusste kommt ein einfacher unbefangener anschaulicher Styl des Ganzen. Du bist mit diesem Buch auf einmal unter die besten lebenden Histori-

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer

ker Deutschlands getreten. Ich bin unbändig begierig, wie man sich benehmen wird. Daß Du noch ganz andere Sachen machen kannst wenn Du erst über Italien oder dergl. schreibst, wissen wir Deine Freunde außerdem privatim. Aber dies muss zureichen, um Deinen Anspruch auf eine gute deutsche Professur zu begründen. Daher will mir Dorpat wenig in den Sinn.1 Ich wollte eben, wir sähen uns. Warum willst Du nicht einmal hierherkommen? Oder noch besser nicht Scherer allein, auch ich will auf 8–14 Tage nach Helgoland. Zeit wann, kann einigermassen von Dir abhängen. Nur nicht vor dem 15. August. Denke Dir wie wundervoll wir da leben könnten! .|.|. Also ich bleibe in Kiel wo’s jetzt über alle Begriffe schön ist, ein anmuthiger, lebendiger Badeort – mit Ausnahme 1. Einer Tour nach Helgoland – 8 bis 14 Tage – vom 15. August ab bis etwa 25. – 2. Ende September ist Philolog[en-]Versammlung hier, wozu Du natürlich ergebenst von mir eingeladen bist. 3. Im Oktober gehe ich an den Rhein, von da zum Schluß einige Tage nach Berlin. Ich ginge auch in die Schweiz – wie der Arzt haben will – wäre nicht Schleiermacher –, von dem das Letztgeschriebene als in Krankheit gemacht umgeschrieben und der Schluß gemacht werden muß. Bis jetzt habe ich mit d[er] Vorlesung u. dem definitiven Verständnis des Systems (wegen des nothwendigen strengeren Zusammenhangs) zu thun gehabt. Wann wird einmal von dieser Lebensplage nicht mehr die Rede sein. Ein wundervoller Plan des großen Buches ist in Italien und hier festgestellt. Es bedarf nur, daß dieses Platz mache. Patienza!2 Alles andere mündlich. Mache Deine Dispositionen. Alsdann will ich das Menschenmögliche thun, Wirklichkeit draus zu machen. Nun 1. Sybel ist bei mir in trefflicher Sicherheit u. kann gleich mitgenommen werden wenn Du kommst[.]3 2. Usinger ist hier leidlich wohl u. lange schon in Erwartung Deines Buchs (jetzt über die Ursache dass er es noch nicht erhalten hat aufgeklärt). Lebe wohl. Mach einen schönen Plan. Dein Dilthey. Letzter Juli 1869 Kiel, Düsternbrook (Schlottfeld). Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript des vermutlich zunächst für JD vorgesehenen, aber doch nicht dort aufgenommenen Briefes mit Korrekturen und Ergänzungen von der Hand G. Mischs ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey 13 o.

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer

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1 Aufgrund seines Buches über Graf Waldeck, das 1869 erschien, erhielt Erdmannsdörffer sogleich einen Ruf an die deutsch-russische Universität Dorpat. Er lehnte ab, wurde zunächst in Berlin zum Extraordinarius ernannt und folgte im Dezember 1870 einem Ruf als o. Prof. für Geschichte nach Greifswald. 2 Geduld, Nachsicht. 3 Um welches Buch H. von Sybels es sich handelt, ist nicht mehr zu ermitteln.

[313] Dilthey an Wilhelm Scherer Lieber Freund, Auf die Gefahr daß Sie böse werden: ich kann jetzt Reimer gar nichts zumuthen, weder das schon Ausgegebene noch die gedruckten Bogen. Die Vollendung steht vor d[er] Thür. Ich werde dann Prof. Zimmermann1 gern mit einem Exemplar aufwarten, wenn er sich für Schleiermacher so eingehend interessirt u. ich hoffen darf, daß nicht der Gesichtspunkt so mancher Herbartianer, Schleiermacher mit neuem Material des Spinozismus überweisen2 zu wollen, auch bei ihm die Freude an unbefangener historischer Anschauung verdrängt. Also sagen Sie ihm meinen herzlichen Dank für seine Theilnahme, kündigen ihm an daß ich hoffe ihm bald das Buch selber schikken zu3 wollen – in dem ganzen Umfang seiner 40 Bogen. Die Doktordissertation4 ist durch die Untersuchung des Buchs selber antiquirt. Ich wünsche daher nicht daß sie überhaupt fortexistire und gebe sie demgemäß an Niemanden mehr. Meine Gesundheit befriedigend. Die furchtbare Arbeitsstrebung drückt auf mir bis ich wenigstens Bd. 1 u. zwei immer inzwisch[en] geförderte Abhandl[ungen] – alte Bekannte mit neuem Gesicht – werde abgestoßen haben. Dazu muß ich jetzt mit Baden meine Zeit verschwenden. Ich höre von Erdm[annsdörffer] daß Sie nach Helgoland gehn werden. Dies bestärkt mich in dem Gedanken 8-14 Tage auch dorthin zu gehn. Lassen Sie mich also nur die Zeit wissen auf irgend einem Zettel. Dann können wir uns einmal ordentlich ausreden, wonach ich mich von Herzen sehne. Eben habe ich an Erdm[annsdörffer] geschrieben, ihn zu animiren, auch zu kommen, thun Sie das gleiche. Also hoffentlich auf baldiges Wiedersehn. Nochmals an Zimmermann mein[en] Gruß, meine Freude daß er in der f[reien] Pr[esse] meinen Band anzuzeigen eine so wohlwollende Absicht äußert5 u. die Bitte mich zu ent-

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Dilthey an Wilhelm Scherer

schuldigen daß ich dem Verleger nicht Zumuthungen mache die ich ihm nicht verantworten kann. Von Herzen in alter Treue d[er] Ihre W. Dilthey Kiel, Düsternbrook (Schlodtfeldsches Haus) d[en] letzt[en] Juli 1869. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 10; ein handschriftliches Transkipt des Briefes ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 10. 1 Robert von Zimmermann (1824–1898): Philosoph; 1850 a. o. Prof. in Olmütz, 1852 o. Prof. in Prag, seit 1861 in Wien; Herbartianer. 2 Im Sinne von überzeugen. 3 Im Original fälschlicherweise: „sie“. 4 D.s Dissertation De principiis ethices Schleiermacheri. Berlin 1864. 5 R. v. Zimmermann: Anzeige von D.s Leben Schleiermachers, in: Neue Freie Presse (Wien): nicht nachgewiesen.

[314] Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch [Sommer 1869] Liebster Freund, Auf diese Weise hört man doch wieder einmal etwas von Ihnen! Ich freue mich sehr daß es Ihnen so wohl in Gießen behagt.1 Was macht denn der arme Abel? Sie erwähnen seiner gar nicht. Die Nachricht daß Prof. Dillmann2 wahrsch[einlich] nach Berlin gehen werde, hat hier in Kiel großes Vergnügen erregt; gleichzeitig war sie von Heidelberg aus eingelaufen. Über den Plan Schultz3 zu seinem Nachfolger zu bestimmen, habe ich natürlich nur mit Lipsius gesprochen. Dieser war mit mir ganz einstimmig, daß es die glücklichste Wahl sei, die man treffen könne u. läßt Ihnen das mit seinen Grüßen melden. Schultz hat auch in Basel sich fast ausschließlich mit orientalischen Studien beschäftigt. Von seiner alttestamentl[ichen] Religionsgeschichte ist der erste Band im Erscheinen begriffen.4 Ich weiß daß er sich auch mit syrisch u. arabisch beschäftigt hat; in welchem Umfang, das wird niemand beurtheilen können, bis er Etwas in dieser Richtung veröffentlicht hat. In Basel bestimmte ihn das Bedürfniß der Univ[ersität], neben diesen seinen Hauptcollegien über A[ltes] T[estament] auch Dogmatik zu lesen. Da er eine sehr gute philo-

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Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch

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s[ophische] Bildung besitzt, war ihm möglich, diese Lücke ohne zu große Anstrengung auszufüllen. Die Studenten schwärmten förmlich für ihn. Noch vor Kurzem erhielt ich von einem der begabtesten Jung-Theologen einen Brief mit Bericht, wie er an zwei großen berühmten Universitäten vergeblich nach einer gleichen Einwirkung gesucht habe, wie S[chultz] sie auf ihn u. seine Mitschüler geübt habe. Gründlichkeit, ein edler sehr ernster Charakter, religiöser Sinn, große Gabe der Darstellung und Rede wirken bei ihm zusammen. So ist er auch ein vorzüglicher Prediger. Ich habe von unseren Studenten gehört, daß seine Vorlesungen sie wieder zur Theologie zurückgeführt haben. Er gehört zu den geborenen Dozenten, die nicht nur anregen u begeistern, sondern deren Vorlesungen eine zusammenhängende gründliche Schule für die Studenten sind. Sie wissen daß ich sein Freund bin. Doch glaube ich im Vorstehenden nichts gesagt zu haben, das Sie nicht genau u. ganz bestätigt finden würden, wenn Sie irgend anders Erkundigungen einziehen. Nur müßten Sie ein wenig vorsichtig sein; die Zwietracht der theol[ogischen] Fak[ultät] in Basel hängt an S[chultz]’s Person, und so wird natürlich bei der Nachricht daß man ihn verlieren könne Alles in Bewegung gesetzt werden, da Vischer, derzeitlich ein Dirigent des Universitätswesens, seinen Werth voll erkennt. Hieraus schon sehen Sie daß die Frage, ob er kommen würde, nicht leicht zu beantworten ist. In erster Linie kommt hier sein dringender Wunsch wieder in Deutschland zu leben zu Hilfe. Es kann sehr leicht sein, daß dieser gegenüber allem Entgegenstehenden den Ausschlag giebt. Ich habe nun, da Sie im Fall ich schwankend sei Anfrage in Basel wünschten, zugleich an Herrn Staatsrath Gelzer geschrieben, da dieser Schultz nahe, u außerhalb der Univers[itäts]kreise steht. Dieser, falls er anwesend ist (sonst Prof. Hartmann) wird sich bei Schultz vorsichtig erkundigen wie er über die Sache denkt u. Sie sollen dann Nachricht sofort haben. Ich würde vielleicht für richtiger halten, Sie wandten sich, wenn erst die Nominierung entschieden ist, an ihn, am besten jemand persönlich, und bevor Gegenwirkungen von Seiten der Stadt u Univ[ersität] möglich sind, gewinnen Sie ihn durch rasche Verhandlung. Soviel. Ich komme im October nach Berlin u hoffe Sie dann wiederzusehn. Bin sehr eilig. Ihr Dilthey Original: Hs.; UB Kiel, Familie Nitzsch-NL, Fasz. A 7. 6. Nr. 97. 1

Nitzsch war seit Mai 1868 o. Prof. der protest. Theologie in Gießen. Christian Friedrich August Dillmann (1823–1894): Orientalist und Theologe; 1853 a. o. Prof. in Tübingen, 1854 in Kiel, 1860 o. Prof. in Kiel, 1864 in Gießen, ab 1869 in Berlin. 2

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Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch Hermann Schultz war damals noch Prof. in Basel; 1872 folgte er einem Ruf nach Straß-

burg. 4 H. Schultz: Alttestamentliche Theologie. Die Offenbarungsreligion auf ihrer vorchristlichen Entwicklungsstufe. 2 Bde. Göttingen 1869/70.

[315] Dilthey an Hermann Usener [Sommer 1869] Liebster Hermann, tiefstens im Schreiben, sonst hätte ich längst was von mir hören lassen. Es ist die Durcharb[ei]t[ung] der ganzen Entwickl[ung] bis zum Abschluß was mich so furchtbar aufhält: mit ihr ist aber auch für den zweiten Band das Schwierigste gethan. Ich fasse die Hoffnung ohne Pause, in einem Zusammenhang diesen gleich nach der in 4-5 Wochen bevorstehenden Beendigung des ersten auszuarbeiten. Und ich freue mich, wie viel doch dabei für die Gesammtansicht herauskommen wird, nicht nur für S[chleiermacher]. Wie literatenhaft war Haym’s Fragment über die Lucinde.1 Mit meiner Gesundheit ist durch Helgoland wirklich ein großer Ruck geschehn. Ich kann endlich wieder frei drauf los arbeiten. Den Göttern sei Dank! Wie hart mir ist, daß wir uns so nicht sehen, daß ich mir u. Mama diese große Freude versagen muß, Euch alle ein halb Jahr länger entbehren soll, denkt Ihr kaum. Aber es konnte nur die Wahl zwischen einem ernsthaften Versuch für d[ie] Nerven etwas zu thun u. dieser fatiguanten2 Reise, bei der dazu immer wegen der unsel[igen] Lösung der Philos[ophen]frage in Bonn, angesichts J[ürgen] B[ona] M[eyer]’s mir gründliche Nervenverstimmungen nicht ausbleiben, sein u. Ihr Alle müßt mir Recht geben. Nun aber was mir auf der Seele liegt – und selbstverständlich nur als Referat. J[ürgen] B[ona] M[eyer] hat hier mehrfach ausgesprochen sie dächten an einen zweiten neben Michaelis, nämlich Bücheler. Es hat nun Ribbek auf’s Schmerzlichste berührt, nicht daß J[ürgen] B[ona] M[eyer] oder sonst jemand solche Ideen haben könnte, sondern daß sie von Dir ausgehen könnten. Er kam gestern und begann (wozu bei seiner vornehmen Zurückhalt[ung] in Allem, was ihn betrifft sehr viel gehört) geradezu davon: es würde die tiefste Kränkung für ihn sein, wenn bei der Frage eines Zweiten, falls dieser in der Richtung Bücheler gesucht würde, Er, als der Ältere, mit geschlossenen Leistungen übergangen würde.

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Dies wird Dir, falls Du in Bezug auf s[eine] bisher[igen] wissensch[aftlichen] Arbeiten dies Gefühl nicht berechtigt finden solltest, aus seiner Persönlichkeit erklärlich sein. Er hat nunmehr eine Reihe von Jahren hindurch die gesammte Philologie hier vertreten müssen. Jedermann erkennt an, daß er die Stud[en]t[en] in treffl[ichem] Zug erhält. Die Schuld dieser Lage war es, daß Arbeiten, welche seinem ästhetischen Sinne u. Interesse gemäß gewesen wären (denn er ist ja in dem Kugler, Burkhardt, Heglerschen Kreise3 aufgewachsen), ein wundervoller Vorleser etc., wie besonders eine Geschichte der griech[ischen] Tragödie mit der er sich trägt, gar nicht vorankommen. Man kann ihn nicht neben Bücheler sehen, ohne zu fühlen daß R[ibbeck] der sehr viel tiefere u. im Gemüthsleben originalere Mensch ist. Dies Alles wirst Du ja auch bei kurzem Zus[ammensein] mit ihm gefühlt haben; u. darin liegt der Grund, warum bei dem Gedanken, daß bei einer solchen Gelegenheit nicht dran gedacht würde ihn aus seiner hießigen wirklich nutzlos aufreibenden Lage herauszubringen, falls zwischen B[ücheler] und ihm einmal zu wählen sei, er sehr in Bewegung kommt. Dies glaubte ich verbunden zu sein Dir als Notiz seiner Empfindung und ihrer Gründe zu schreiben. Ich verstehe von der Sache ja gar nichts. Daß er ein ächter, liebenswürdiger Mensch, ein treuer Freund ist: das weiß ich aus Erfahrung, das hat aber mit Berufungssachen nicht zu thun. Ich habe ihm leicht bemerken können, daß dieser ganze Vorschlag in Bonn circulire, während Du abwesend gewesen seist, daß er also von Dir vorläufig nicht ausgehen könne. Es ist keine Kleinigkeit, liebst[er] Herm[ann], wieder an einer Univers[ität] zu sitzen, auf der jeder Tag für Tag rechnet wann sein Ruderdienst auf der durchlöcherten Barke zu Ende sei. Es giebt kein Mittel, in diesem Holstenlande den Studenten zu ermöglichen für einen civilen Preis zu leben. Eine Familie, die einen Stud[en]ten aufnimmt, rechnet drauf ein mit Rothwein und Rostbeaf geschmücktes Dasein fortan aus seiner Tasche bestreiten zu können. Die Natur thuts ja zum Glück hier nicht theurer als sonst wo; aber wo ein Kieler Bürger seine Hand zum „Arbeiten“ in Bewegung setzt: glaubt er für dies Opfer außerordentliche Vergütungen erwarten zu müssen. Und dies gerade läßt die Studenten (seitdem sie nicht mehr zwangsweise hier sind), obwohl gewiß die hieß[ige] philosoph[ische] Fak[ultät] z.B. (infolge der guten Bezahlung) besser als die z.B. von Halle od[er] Breslau ist, die Flucht ergreifen. Die Juristen sind beinahe ausgestorben (8-10!). Außer den in den Kliniken thätigen Medic[inern] haben wir kaum 90 Studenten! Ich bin offen u. entschieden für die Aufhebung der nutzlosen Anstalt. Gutschmidt,4 ein höchst bedeutender Mensch, hat sich in der Anstrengung ein anständiges Kolleg zus[ammen] z[u] haben u. den wissensch[aftlichen] Geist oben zu hal-

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ten, so krank gearbeitet, daß er vorläufig arbeitsunfähig ist. Ribbek trägt resignirt die unsinnige Last von Collegien über Stoffe griech[ischer] und röm[ischer] Litteratur. Die ganze Sache fängt an, ein nationalökonomisches Curiosum zu werden, so viel entwickelte bedeutende geistige Kraft u. Capitalien dafür zu vergeuden daß 90 Holsten (denn d[ie] medicin[ischen] Anstalten könnten ja hier bleiben) anstatt anderswo dieselben u. bessere Lehrer dazu billiger zu hören, sie hier gerade ausnutzen. Doch wozu das Klagen! – ich bin dabei, seit ich gesund mich wieder fühle recht heiter. Die Arbeit für die Collegia werde ich jetzt auf ein Minim[um] beschränken – auf den Pflichtteil der Univ[ersität]. Bücheler habe ich viel und gern gesehn. Er läßt grüßen. Kießling träumt von irgend einer durch B[ücheler]’s oder R[ibbeck]’s Versetzung herausspringenden Professur. Sein Vortrag hier war zu keck, zu wenig inhaltlich ernsth[aft] durchgearb[ei]t[et], Schätzung der Evidenz seiner Gründe ist nicht seine stärkste Seite, u. zeigte ihn leider vorher nur Bücheler, der nicht zu dem rieth was noch von Veränderung thunlich gewesen wäre. Doch hat er meist guten Effekt gemacht, [.|.|.] kein Maßstab. Addio Theuerster. Da hast Du doch im Ganzen einen getreuen Bericht meiner Stimmungen etc. Laß gelegentlich aus der Arbeit heraus ein Wörtchen vernehmen. Dein, Lilly’s, des Bäbi allergetreuster Wilhelm Kiel, am kleinen Kiel, im Ackermann’schen Hause. Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL, S 2102, 3, 37; ein unvollständiges maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 17, 10; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 144. 1

R. Haym: Friedrich Schlegel und die Lucinde, in: PJ 24 (1869), S. 261–295. Fatigant: langweilig, lästig. 3 Franz Theodor Kugler (1808–1858): Historiker, Kunsthistoriker, Schriftsteller; 1835 o. Prof. an der Berliner Akademie der Künste, 1843 Kunstreferent im preuß. Kultusministerium. – Hegler: nicht ermittelt. 4 Alfred von Gutschmid (1835–1887): Historiker; 1863 a. o., 1866 o. Prof. der Geschichte in Kiel, 1873 in Königsberg, 1876 in Jena, 1877 in Tübingen. 2

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Adolf Bastian an Dilthey

[316] Adolf Bastian1 an Dilthey Adolf Bastian an Dilthey Lieber Herr Professor. Ihre freundliche Einladung2 ruft mir in das Gedächtniß zurück, daß Sie Berlin jetzt bereits in zwei Ferienzeiten mit Ihrem gewohnten Besuche übergangen haben. Ihnen liegt es also als nächste Pflicht auf, dieses Versäumniß nachzuholen und ich hoffe um so mehr darauf rechnen zu dürfen, da es mir meinerseits leider nicht möglich sein wird, nach Kiel zu kommen. Ich bedaure dies besonders, weil es schon lange mein Wunsch war, M[ax] Müller3 persönlich kennen zu lernen. Sollte der Plan seiner Reise nicht auch einen Besuch Berlin’s einschließen? Wie wäre es, wenn Sie nach dem Schluß der Versammlung zusammen noch her kämen? Am Sonnabend, den 2 October, werden die Sitzungen der geogr[aphischen] Ges[ellschaft] nach der FerienUnterbrechung wieder eröffnet, und ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie sehr es mich freuen würde, wenn Sie anwesend sein könnten. Herzlichsten Gruß Ihr A. Bastian Berlin, Sept[ember] [1869] Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 k. 1

Adolf Bastian, Gründungsdirektor des Museums für Völkerkunde in Berlin (1873); zusammen mit R. Virchow und C. Vogt gründete Bastian in Berlin die „Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Frühgeschichte“. 2 Nicht überliefert. 3 Friedrich Max Müller (1823–1900): deutscher Religionswissenschaftler, Sprachforscher und Begründer der Sanskrit-Forschung; 1854 Prof. der Philosophie in Oxford, 1868 erhielt er dort den ersten Lehrstuhl für vergleichende Religionswissenschaft. – Müller hielt auf der Philologenversammlung in Kiel am 28. September 1869 einen Vortrag Ueber den Buddhistischen Nihilismus.

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Dilthey an Georg Ernst Reimer

[317] Dilthey an Georg Ernst Reimer Hochverehrter Herr Reimer, Ascherson meldet sich mit der Aufgabe, sich zu erkundigen und mich zu mahnen.1 Ich habe nicht geschrieben, weil mir unangenehm war, zu berichten ohne sofort Correcturen u. neues Manuscript zu senden. Die Hauptschwierigkeit lag aber gerade in einer Parthie eines der Bogen. Seit c. 10 Tagen bin ich aus dem Bade zurückgekehrt. Mein Arzt und Freund Prof. Barthels2 hätte gewünscht daß ich noch nach der Schweitz gegangen wäre: ich muß aber dem Abschluß des ersten Bandes diese Rücksicht hintansetzen da ich im Ganzen mit meinen Nerven zufrieden sein darf. Ich werde erst Anfang November, mit Abschluß meines Manuscripts, meine Vorlesungen beginnen. Die Hauptschwierigkeiten haben sich mir erst durch eine neue Durcharbeitung des Systems in diesem Sommer gehoben. Durch diese werde ich in den Stand gesetzt, mit weit mäßigerer Anstrengung den zweiten Band auszuarbeiten. Dazu habe ich mich, obwohl schweren Herzens, zu einer Abänderung meines Verfahrens bei meinen Vorlesungen entschlossen. Ich habe bisher jedesmal ein neues Heft ausgearbeitet, werde aber nunmehr, bis zur Vollendung des zweiten Bands, um an diesem arbeiten zu können, mich, so weit irgend thunlich, mit meinen bisherigen Heften begnügen, welche ich dann nur wo es nöthig ist erweitere u. umarbeite. Meine Sehnsucht das Werk abgeschlossen zu sehen ist noch dadurch gesteigert, daß sich mir nunmehr der Plan zu einem historischen Werk definitiv gebildet hat, welches – wenn es glückt! geradezu in das geistige Leben der Nation eingreifen kann, wie Gervinus’ Litt[eratur]gesch[ichte] u. ähnliche Arbeiten thaten. Möge mir das Schicksal gewähren, den Schleiermacher mit solcher Steigerung in Gehalt u. Form, als ich seit diesem Sommer hoffe, zu arbeiten u. dann das neue Werk zu vollenden. Wollen Sie mir also Ihre freundliche Gesinnung u. Nachsicht so lange bewahren, bis der vollendete erste Band u. darnach der andre Ihnen u. andren werthen Theilnehmenden zeigen, daß unter den Umständen der letzten Jahre, meinen neuen Aufgaben des Amtes, persönlichen Schicksalen, Krankheit, das Mögliche von mir geleistet worden. In hochachtungsvoller Ergebenheit d[er] Ihrige Wilhelm Dilthey Kiel d[en] 2 Oct[ober] [18]69

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Dilthey an Georg Ernst Reimer

Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 47–48. 1

Das Schreiben Aschersons ist nicht überliefert. Karl Heinrich Christian Bartels (1822–1878): Arzt; seit 1859 o. Prof. der Pathologie und Direktor der medizinischen Klinik in Kiel. 2

[318] Dilthey an Georg Ernst Reimer [nach 2. Oktober 1869]1 Hochverehrter Herr Reimer, Endlich bin ich im Stande die absolvirten Correcturbogen nebst ihrer nothwendigen Ergänzung, die mich so lange aufgehalten, zu senden. Ich denke in 14 Tagen den letzten Theil des Manuscript’s senden zu können. Der größere Theil steht sofort, sobald er gewünscht wird, zu Gebote. So hoffe ich, daß der Band doch noch Haym’s paralleler Gesch[ichte] der Romantik zuvorkommen wird,2 was sicher für den Vertrieb sehr wichtig ist. Haym, von derselben unsäglichen Schwierigkeit der Aufgabe zurückgehalten hat nun auch schon seit über einem Jahr den Druck abwechselnd sistiren müssen. Ich habe auch von H[errn] Prof. Waitz neue Beiträge erhalten.3 Ich schließe, das Paket zu besorgen, an dem eine so gränzlose Mühe haftet und dann in die Vorlesung zu eilen. Ihr ganz ergebener Wilh. Dilthey Ich darf wohl um Notiz der glücklichen Ankunft ergebenst bitten. Kiel, Lorenzdamm, im Ackermannschen Hause. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 49. 1

Im Original über der Anrede nachträglich von fremder Hand: „zwischen 2. Okt. u. 29. Nov. 1869“. 2 Hayms Buch Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes erschien 1870 in Berlin, D.s 2. Lieferung des Leben Schleiermachers kurz zuvor im März 1870. In seinem Vorwort von Ostern 1870 (17./18. April) schreibt Haym hierzu: „Eben, indem ich von dem fertigen Buche die Hand abziehen wollte, kam mir die zweite, den Ersten Band abschließende Lieferung von Dilthey’s Leben Schleiermacher’s zu. Wie viel hätte ich daraus lernen, wie oft mich darauf beziehen können!“

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Dilthey an Georg Ernst Reimer

3 Georg Waitz, der mit Schellings Tochter Clara seit 1842 verheiratet war, verwaltete den handschriftlichen Nachlass Karoline Schlegel-Schellings, der früheren Ehefrau Schlegels. – Waitz plante damals eine Herausgabe des Briefwechsels von Karoline Schlegel.

[319] Dilthey an seinen Bruder Karl Dein Brief würde mich bestimmen, zu kommen, um Dich etwas aufzumuntern, wenn auch nur eine Möglichkeit wäre. Aber Zeit, Geld, Gemüthsruhe: alles fehlt. Ich sitze mitten in der Arbeit, von der ich nunmehr glaube daß ich sie auch für den zweiten Band nicht werde abbrechen lassen, um in Einem Zug, wenn auch mit Vernachlässigung meiner Vorlesungen, dies Schicksal abzuschütteln. Die Philologenversammlung hat mich natürlich doch etwas gestört. Herm[an] Grimm, J[ürgen] B[ona] Meyer waren gekommen; dann sollte ich mit Max Müller öfter zusammen sein etc.; Buecheler und Kießling bei Ribbeck.1 So hatte sich eine sehr anständige Gesellschaft zusammengefunden. So wenig ich dazu Lust hatte, mußte ich ein und das andre Mal das Experiment machen, ob ich nach Helgoland wieder im Stande bin, 2 Flaschen ordentlichen Rheinwein zu trinken und andren Morgens ruhig zu arbeiten, als ob gar nichts geschehn wäre – was befriedigend gelang. .|.|. Kießling’s Vortrag hat übrigens nicht mißfallen, sondern allgemein mit am meisten interessirt, wenn auch die Aufstellung zu keck war. L[eopold] Schmidt,2 eine der lächerlichsten Figuren, die mir lebenslang begegnet ist (er wohnte bei Lotte Hegewisch, wo gerade eine sehr lustige Oldenburger Hofdame zu Besuch war,3 und so haben wir den ersinnlichsten Unsinn mit und über ihn aufgestellt) ist von Kießling selber total geschlagen worden, und zwar womit? – mit der Autorität Deiner Arbeiten. .|.|. Bücheler sehr angenehm; eigentlich hat man bei ihm mehr den Eindruck eines fixen, scharfen, klaren Kopfes als eines bedeutenden Menschen. Für Literaturgeschichte wäre er sicher nicht befähigt, dagegen wohl sehr für die Geschichte der Sprache. .|.|. Daß es nicht leicht ist, an die ruhige mühsame Arbeit unter deutschem Himmel nach mehrjährigem italiänischen Aufenthalt sich wieder zu gewöhnen: haben wir oft genug besprochen. Laß uns nur ein, zwei Jährchen fleißig sein: dann geht’s mit Urlaub nach Italia, wo die schönsten Arbeiten gemacht werden sollen. Wäre die Aussicht auf eine Erweiterung meiner Existenz und Realisirung meiner wissenschaftlichen Projekte nicht: so könnte mir das Leben jeden Tag gestohlen bleiben, ohne daß ich nur den Kopf nach dem Dieb umwendete.

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Dilthey an seinen Bruder Karl

Und nun, Liebster, muß ich zu meiner Arbeit. Laß Dir’s gut gehn. Ich grüße Hermann tausendmal. Es gehört mit zum Unseligen meiner jetzigen Existenz, daß wir uns so lange nicht sehn. Seid Alle, alle tausendmal gegrüßt von Eurem Wilhelm Kiel, am kleinen Kiel 5. Okt[ober] 1869. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 145. 1

Ribbeck war Leiter der Philologenversammlung. Leopold Schmidt (1824–1892): Altphilologe; seit 1863 o. Prof. in Marburg. 3 Marianne von Witzleben (1846–1924): Cousine von Lotte Hegewisch; spätere Verlobte D.s. – Seit dem 7. September 1869 wohnte M. von Witzleben bei L. Hegewisch. 2

[320] Dilthey an Justus von Olshausen Hochzuverehrender Herr Geheimrath, Verzeihen Sie gütigst, wenn ich mich mit einer unbedeutenden Anfrage an Sie wende, durch welche ich Sie in den Tagen, die Sie uns hier schenkten, nicht behelligen wollte und welche ich doch nicht wohl durch amtliches Gesuch abmachen kann. Als ich einen Einschuß von 156 Thalern in die zwei hießigen Witwencassen zu leisten hatte, ward mir bemerkt, daß auch meine beiden letzt hinzugetretenen Collegen, Prof. Hinschius1 und Cohnheim,2 diese Summe zurückerstattet erhalten hätten; von verschiedenen Seiten faßte man es als die Regel auf, daß ein Gesuch um Rückerstattung eingereicht und bewilligt würde. Ich erinnerte mich dabei einer Bemerkung, die Sie zu machen die Güte hatten, deren Fassung ich aber, bei meinem geringen Sinn für Geldangelegenheiten, mir nicht mehr zurückrufen kann. Auf jeden Fall möchte ich, nachdem das hohe Kultusministerium mit einer Liberalität, welcher ich mich dankbarst verpflichtet fühle, zur Herstellung meiner Gesundheit mir Urlaub bewilligt hat, ein solches Gesuch nur dann vorlegen, wenn Sie, hochzuverehrender Herr Regierungsrath, die Bewilligung desselben nicht als eine besondere Vergünstigung ansehen, welche ich weit entfernt bin zu wünschen, sondern als die Regel in meinen Verhältnissen, und wenn demgemäß das Vorlegen desselben auch den Beifall Ihrer Empfindung hat. Darf ich dann, bei dieser Gelegenheit, eine Sache berühren, die mir viel mehr als Geldfragen am Herzen liegt. Sie werden, hochverehrter Herr Ge-

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Dilthey an Justus von Olshausen

heimrath, unseren Fakultätsentwurf der Trennung von Promotion und Habilitation erhalten haben. Unser Dekan Herr von Gutschmid, wird Ihnen auch ausgesprochen haben, daß uns von großer Wichtigkeit wäre, wenn wir sofort provisorisch diesem Statut gemäß verfahren dürften. Für meine amtliche Thätigkeit wäre es nun ganz besonders werthvoll, sollte sich als thunlich erweisen, daß unsere Fakultät diese Erlaubniß mit dem bevorstehenden Beginn des Wintersemesters auf direktem Wege erhielte. Mehrere Meldungen zu Promotionen für Philosophie stehen vor der Thür. Nun wäre einerseits das Schwanken des Maßstabs zwischen dem des alten u. dem des neuen Statuts in der Zwischenzeit höchst störend. Andrerseits aber müßte ich sehr beklagen, wenn wir so noch im letzten Augenblick in neuen Fällen die Doktorwürde mit dem Rechte sofort zu lesen, auf Grund von dazu nicht zureichenden Leistungen, ertheilen müßten – ein Fall der ja an allen andren preuß[ischen] Universitäten ohne Analogie ist, an keiner aber so nachtheilige Folgen haben kann als an dieser weitaus kleinsten. Erfahrungsmäßig haben die bisherigen Bestimmungen eine Reihe von Existenzen geschaffen, welche der Universität eben so schädlich als in sich unselig sind. Die Leichtigkeit, ohne wissenschaftliche Leistung sich auf dem Katheder zu sehen verführt dazu, sich mit dem Einüben der Studenten zum Examen zu beschäftigen, Scheinerfolge zu erzielen u. so die Zeit für eigene wissenschaftliche Ausbildung u. Leistung zu vergeuden. Die Zahl unserer Studenten, wenn man die in den Kliniken beschäftigten abzählt, sinkt immer tiefer unter die hundert. Obwohl an keiner Prüfungscommission theilnehmend, glaube ich doch, nach der Erfahrung des ersten Semesters, im Stande zu sein, ernstes philosophisches Streben bei einer verhältnißmäßig großen Zahl der kleinen Schaar aufrechtzuerhalten, freilich mit unverhältnißmäßigem Aufwand von Kraft u. Arbeit. Ich würde mich freuen, einen durch solide wissenschaftliche Leistung wohl vorbereiteten Privatdocenten, noch neben den andren schon vorhandenen Lehrkräften, an meiner Seite thätig zu sehen u. ihn auf alle Weise unterstützen. Sollten aber neben mir Versuche auftauchen, etwa die Theologen durch eine in den engsten Raum gepreßte und banausische Einübung zum Examen vorzubereiten (wie solche Versuche auf andren Gebieten zum größten Schaden der Universität vorliegen): so würde ich mir in meinem so engen Wirkungskreis mein gegenwärtiges freudiges Interesse nicht erhalten können. Und so müßte es für meine hießige Thätigkeit verhängnißvoll werden, falls im Laufe der nächsten Wochen, zwischen dem Vorschlag der Fakultät u. der Bestätigung durch das hohe Kultusministerium noch rasch solche Berechtigungen entstünden und alsdann etwa zum Schaden der Universität gemißbraucht würden. Ich habe es gewagt, Sie, hochzuverehrender Herr Geheimrath, ein wenig lang mit verhältnißmäßig so kleinen Angelegenheiten zu stören, in dem mir

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unschätzbaren Bewußtsein, daß Sie an meiner Universitätsthätigkeit gütigen Antheil von Beginn ab genommen haben. Ich erlaube mir hinzuzufügen, da ich Ihr Interesse für Herrn von Gutschmid kenne, daß leider weder sein Augenleiden noch sein angegriffener Gesammtzustand bis jetzt rechte Besserung zeigen. Es stellt sich heraus daß auch die Netzhaut des einen Auges nicht unverletzt ist. So geht er wohl einer ziemlich langwierigen Kur entgegen, wenn auch gar keine Gefahr da zu sein scheint. In dankbarer Verehrung Ihr ganz ergebener Wilhelm Dilthey Kiel, am kleinen Kiel 20. d[en] 7ten October 1869.3 Original: Hs.; GStA PK VI. HA, FA u. NL, FA von Olshausen, B.I. Nr. 7 Lit. D, 39–41. 1

Paul Hinschius (1835–1898): Kirchenrechtler; 1863 a. o. Prof in Halle, 1865 in Berlin, seit 1868 o. Prof. in Kiel. 2 Julius Friedrich Cohnheim (1839–1884): Mediziner; 1868 o. Prof. der pathologischen Anatomie in Kiel, 1872 in Breslau, 1876 Prof. der allgemeinen Pathologie und Direktor des pathologischen Instituts in Leipzig. 3 Im Original auf der ersten Seite des Briefes vermutlich von der Hand des Empfängers: „9/10“.

[321] Dilthey an Georg Ernst Reimer Hochverehrter Herr Reimer.1 Sie werden die Sendung von Correkturbogen und eingefügtem Manuscript hoffentlich sicher erhalten haben. Da ich in meinen Übungen Schleiermachers philos[ophische] Ethik lese mit den Studenten: so wünschte ich sehr (falls dies von den Maximen Ihres Geschäfts nicht ausgeschlossen wird), direkt von Ihnen für dies Semester 6 Exemplare derselben in der kleinen Twesten’schen Ausgabe2 zu erhalten, am liebsten gleich geheftet oder in sonst einem provisorischen zureichenden Einband, da die Studenten darauf warten, mit Notiz des Preises. Entschuldigen Sie daß ich Sie damit behellige. Ist aber dies Arrangement möglich: alsdann darf ich künftig überhaupt für solche Zwecke bei Ihnen im Geschäft Exem-

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Dilthey an Georg Ernst Reimer

plare bestellen. Der bei den Buchhändlern zu zahlende Preis ist eben für Studenten zu hoch, besonders würde das bei der Dialektik3 später der Fall sein. Ich bin mit meinen Vorlesungen ungemein zufrieden und habe mich, in Erwägung der hießigen Lage, die doch darin wenig zu erreichen möglich macht, mit denselben auf einen Fuß gesetzt, daß sie meine schriftstellerische Arbeit nicht sehr beeinträchtigen. Zu Weihnachten, nach vollendetem Band, gedenke ich nach Berlin zu kommen. In mannichfach dankbarer Ergebenheit der Ihre Dilthey Kiel Lorenzendamm 20 d[en] 29 Nov[ember] [18]69. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 51. 1 Darüber von fremder Hand (vermutlich vom Empfänger): „Antw[ort] 1/ 12. 69. EmpfangsAnzeige. Direkt an Stud. oder Prof. liefere ich nicht.“ 2 F.D.E. Schleiermacher: Grundriß der philosophischen Ethik (Grundlinien der Sittenlehre). Hg. von A. Twesten. Berlin 1841. 3 F.D.E. Schleiermacher: Dialektik. Aus Schleiermachers philosophischem Nachlasse. Hg. von L. Jonas. Berlin 1839.

[322] Dilthey an Georg Ernst Reimer Hochverehrter Herr Reimer, In Begriff abzureisen, finde ich daß in meine zum Umhängen bestimmte Tasche die „Reden“1 nicht gehen. Da ich sie meinem Koffer nicht anvertraue, sende ich sie durch versichertes Paket u. erlaube mir einige zur Benutzung in Berlin bestimmte Papiere, welche auch nicht mehr in die Manuscripttasche gehen beizulegen. Heute gehe ich nach Hamburg. Morgen Abends komme ich nach Berlin. Hoffentlich kreuzt sich keine Correktur mit meiner Reise. In Hoffnung Sie bald zu sehen dankbar ergeben der Ihre Dilthey Kiel Dienstags. d[en] 21ten Dec[ember] [1869]

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Dilthey an Georg Ernst Reimer

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Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 53. 1

F.D.E. Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Berlin 1799, 4. Aufl. 1831.

[323] Dilthey an seine Mutter [Kiel, vor Weihnachten 1869] Liebste Mama,

1

aus Karls Brief 2 seh ich daß Du in Bonn bist u. dort Weihnachten feiern wirst, freue mich Euch dort zusammen zu denken. Mein Geschick wird wohl sein, hier oder in Berlin das Manuscript zu schließen u. für den Druck zu corrigiren. Am liebsten bliebe ich hier. Doch wäre wichtig, Mühler endlich meinen nachträglichen Dank zu sagen, was nun nur mündlich geschehen kann. Zugleich möchte ich hören, ob ein Urlaub von künftigen Weihnachten d.h. übers Jahr ab möglich sein wird u. dort drauf vorbereiten, daß ich ihn brauche, kurz ich muß meine Bedürfnisse dort aussprechen: man soll nicht denken daß ich Lust habe mich für die Kieler Universität zu sakrifizieren. Wie ich arbeite und dann durch Feld und Dörfer, die mit den zur Erde gehenden Dächern in Schnee, dazwischen bis vor 14 Tagen hier u. da noch blühende letzte Rosen (denn das Klima ist mild u. feucht) seltsam aussehen, mit mir lieben Menschen schweife, beharrlichst eingeladen werde u. ebenso beharrlichst zu Hause bleibe, mit den Collegen gut stehe, von den Studenten gern gehabt werde, mit den Nerven mich so durchschlage in einer Zeit so angespannter Arbeit, nach der Meinung der Kieler verschiedentlich verlobt bin, selber aber weiß daß ich nach Niemand Sehnsucht habe als nach meiner lieben Mama u. dem was drum u. dran hängt: davon schreibe ich Dir nächstens mehr, denn mein Kaffee kocht, es geht auf 7 Uhr und ich habe schon eine ganze halbe Arbeitsstunde verschrieben. In diesem Sommer, den ich schon nahe fühle, bestehe ich drauf daß Du nach Kiel kommst, Seeluft zu genießen. Sei tausendmal gegrüßt u. geküßt von Deinem Wilhelm Nun sinds nur noch 3 Monate bis wir uns gründlich wieder sehen. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist ebenfalls hier deponiert; Erstdruck (Auszug) mit Faksimile der ersten Seite des Briefs in: WD, Nr. 34.

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Dilthey an seine Mutter

1 Am oberen rechten Rand des Briefes: „In diesem Winter bitte ich Hermann noch einmal inständigst, ein paar Zeilen an Ribbek oder an mich zu seiner Information zu senden. Ich für mich beanspruche in so bedrängter Zeit gewiß keinen Brief.“ 2 Nicht überliefert.

[324] Dilthey an seinen Bruder Karl (Kiel, vor Weihnachten 1869) Liebster Karl, ich eile Dir zu antworten. Noch habe ich nicht fertig geschrieben, darf aber nicht zweifeln vor den Ferien oder in den ersten Tagen derselben abzuschließen. Correkturbogen kriege ich gar keine. Reimer scheint mich abstrafen zu wollen, und hat wirklich unhöflich meine M[anu]scriptsendung u. einen Wunsch für meine Übungen, Exemplare der Ethik S[chleiermacher]’s etc. direkt durch ihn beziehen zu können, durch seinen Geschäftsführer beantworten lassen.1 Morgen sende ich neues Manuscript u. das soll ihn2 hoffentlich heiß machen. Der Grund der Verzögerung lag in der großen Schwierigkeit des centralen Verständnisses des Systems selber, welches durchaus Vorbedingung war. Das Capitel ‚die philosophische Bewegung‘ mit Fichte, Jakobi etc. (von Rom her Dir nur zu wohl bekannt) wirst Du kaum wiedererkennen; es ist jetzt da die ganze Stellung und Bedeutung seiner Weltansicht entwickelt. Und zwar ist mir die Sache schließlich nur dadurch geglückt, daß ich selber über die Probleme zu eigenen Resultaten gekommen bin. Soweit ich überhaupt Metaphysik anerkenne, u. in dem Sinn in welchem ich es thue, glaube ich nunmehr den Grund gelegt zu haben in den letzten Monaten. Gegen meinen Willen, der ich Systemen nicht Werth zuschreibe heute, entsteht etwas was einem System leider sehr ähnlich sieht. Es kann wenigstens den Hintergrund meiner Untersuchungen bilden. Die Vorlesungen vernachlässige ich wahrhaft grauenhaft, obwohl ich in der Geschichte der alten Philosophie – 29 Zuhörer habe, die größte Vorlesung an d[er] Univ[ersität] außer den Medicinern u. einer Vorlesung von Lipsius. Einen der tüchtigsten hieß[igen] Studenten, Stolz von Ribbeck, habe ich in die platon[ischen] Untersuchungen gebracht u. bin begierig was er leisten wird. Die Geschichte der Philos[ophie] seit Kant wird glaube ich durch den 2ten Band ein sehr neues Gesicht bekommen, da nun erst die Hegelei aus ihr ausgetrieben wird.

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Dilthey an seinen Bruder Karl

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Meine Gesundheit hat sich merkwürdig gut gehalten für die Umstände. Ich sitze Morgens nach 6 Uhr schon bei der Arbeit, gehe Abends (bis seit einigen Tagen) nie in Gesellschaft. Die Vorlesungen sind denn auch ein etwas angreifendes Intermezzo der Arbeit. Aber freilich gebührt den hießigen Freunden das Hauptverdienst. Ribbecks nehmen sich meiner in Allem wie eines Bruders an; komme ich übermüdet zu Tisch (den sie meinethalben auf nach m[eine] Vorles[ung] 5 Uhr geschoben haben): so muntert mich das fröhliche Zusammensitzen wieder auf. Die Hauptsache ist Lotte3 und die anmuthige Hofdame Fr[äu]l[ein] v[on] W[itzleben], ihre Verwandte, die bei ihr ist. Diese gehen mit mir durch Schnee und Regen ins Land weit hinaus, wenn ich die Zeit erübrigen kann. Dann gehn wir oft 3 Stunden, kehren in Bauernhäusern, die das Andenken an Lottens Vater uns öffnet, in Dorfkneipen ein – ein paar mal sind wir in solchem Zustand zurückgekommen, daß nichts trocken geblieben war. Und Abends kann ich von Fr[äu]l[ein] v[on] W[itzleben] wieder Clavier gespielt bekommen, wie ehedem in Basel u. in Berlin u. dabei über meine Arbeit träumen. Sie hat von hier aus etwas Schweres mit festem Willen durchgesetzt und, ohne daß sie es ahnte oder ahnt, konnte ich durch Lotte dabei Rath geben der sich erprobt hat. Ich bin nur sehr besorgt; ich habe vorgestern die beiden zu einem recht unsinnigen späten Abendspaziergang in der feuchten Seeluft beredet, dann hat sie lange Clavier gespielt, u. ist nun seit gestern fiebernd, da hier jetzt Diphteritis u. Scharlach grassiren. Hoffentlich ists heute besser. Habe ich denn Scharlach gehabt? Ich bitte Mama, mir auf e[inem] Zettel eingehend die Frage zu beantworten. Es ist toll, wie hier jetzt Scharlach von Haus zu Haus geht. Da könnt Ihr Euch denn so denken wie ich lebe. Vor Weihn[achten] drängt sich mir Alles zus[ammen], da ich auch in die Commission Unterrichtsgesetz betreffend gewählt bin, die sehr rasch wird arbeiten müssen. An Kießl[ing] geschrieben, aber er hat vorläufig nur mit 2 Telegrammen geantwortet.4 Er wird gewiß das Nöthige thun. Auf den neuen Aufsatz ungeheuer gespannt. Herm[ann] bitte ich noch einmal um e[inen] Brief u. zwar der an Ribbeck ostensibel wäre. Es geht Ribbeck furchtbar nahe, daß seiner nicht gedacht ist, der doch wirkliche große Arbeiten hinter sich hat. Es wäre mir so leid, wenn es eine Mißempfindung in sein Verhältniß zu Hermann brächte, was doch durch einen Brief an ihn oder mich leicht vermieden werden kann. Ribb[eck] ist ein Mensch von höchster Noblesse u. wahrer innerer Vornehmheit der Natur, den man sehr lieb haben muß. Das Schicksal hat ihn von verschiedenen Seiten hart gebettet. Guthschmid ist immer noch augenleidend. Er hat sich für diese Holstenuniversität geopfert. Ich bin begierig ob nicht für We-

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Dilthey an seinen Bruder Karl

stermann5 in Leipzig an ihn gedacht wird. Wir wären dann in Philosophie gänzlich reducirt. Wenn wenigstens [.|.|.] nicht wiederkäme! Er entspräche damit einem allseitigen Wunsch. Ich umarme Alle vielmals, grüße von mir J[ürgen] B[ona] Meyer und Frau ja aufs beste. Auf des letztren Buch sehr gespannt. Mit Treitschke doch nur theilweise zufrieden bei diesem Band;6 ein Mensch der Alles könnte, u sich willkührlich in einer untergeordnet[en] Form beschränkt. Treitschke arbeitet übrigens furchtbar, ist aber auch zu Weihn[achten] nicht fertig geworden. Mit Lotten correspondirt er sehr eifrig u. daher höre ich oft von ihm.7 Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL, S 2102, 3, 53; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 146. 1

Nicht überliefert. Im Original: „ihm“. 3 Lotte Hegewisch. 4 Nicht überliefert. 5 Anton Westermann (1806–1869): Philologe, Bruder des Braunschweiger Verlegers George (ursprünglich: Georg) Westermann (1810–1879), der 1838 die Verlagsbuchhandlung Westermann begründete. 1833 a. o. Prof., ab 1834 o. Prof. in Leipzig. – A. Westermann war am 24. November 1869 gestorben. 6 H. v. Treitschke: Historische und politische Aufsätze. Vornehmlich zur neuesten deutschen Geschichte. N. F. 2 Theile. Leipzig 1870. 7 H. v. Treitschke hatte nach seiner ca. einjährigen Lehrtätigkeit in Kiel seit 1867 eine Professur in Heidelberg. 2

[325] Dilthey an Gisela Grimm [1869] Verehrteste Frau, Mit einem Wort wenigstens will ich Ihnen Dank sagen für sovieles Freundliche was Ihr Brief 1 enthält und schreiben daß Ihr Pennal2 hier treulichst besorgt werden soll. Aber das war nicht edel daß ich von Ihrem Lustspiel3 jetzt erst ein Wort höre wo es außerhalb Schußweite ist! Zur Rache dafür will ich auch ein kleines Lustspiel schreiben, betitelt: ‚Der Patreist wider Willen.‘4 Darin wird man einen Thoren sehen der sich schlechterdings wehrt sein ‚geheimnißvolles Innere‘ (mit Onkel Bräsig5 zu reden) ärztlich untersuchen zu lassen, angeblich weil er keine Schmerzen hat und dies ihm wehe thut – aus dessen geheimnißvollem Inneren dann aber, während seines hef-

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Dilthey an Gisela Grimm

tigsten Sträubens ganz wunderbare Organismen herausgezogen werden von denen er nie vermuthete daß er dergleichen beherberge. Ich bin nach Kräften fleißig. Zuweilen ist mir jetzt als ob die furchtbare nervöse Anspannung u. tiefe Verstimmung, die seit körperlichen u. psychischen Anstrengungen vor zwei Jahren wie sie weit über die Kräfte eines geistig arbeitenden Menschen gehn, und dann durch den Verlust meines Vaters über mir liegt, nachlassen wollte; förmlich als begönne ich zu gesunden. Darum bin ich jetzt für jedes theilnehmende Verständniß, das mich meiner Existenz froh macht so grenzenlos dankbar. So sage ich noch einmal Ihnen und Grimm herzlichen Dank für so manche heitere Stunde. Lassen Sie es sich bis zum Wiedersehen wohl gehn. In herzlicher Ergebenheit Wilhelm Dilthey Ich bin so frei an Scherer den beifolgenden Zettel einzulegen.6 Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Brief 917. 1

Nicht überliefert. Federbüchse. 3 G. Grimm: Das Licht. Festspiel zum Geburtstag des Weisen. Berlin 1870. 4 Evtl.: Vollbringer (von lat: patro). – Diesen Plan hat D. nicht realisiert. 5 Figur bei Fritz Reuter. 6 Dieser „Zettel“ fehlt. Er ist nach Auskunft des HStA Marburg auch in dem 1988 erschienenen Findbuch zum Archivbestand 340 Grimm nicht verzeichnet. 2

[326] Dilthey an Richard Adalbert Lipsius [Kiel, Anfang 1870] Der Nordost, lieber Freund, bläst so scharf, daß heute nicht dran zu denken, auch nur bei offner Balconthüre des Abends zu sitzen. Lassen Sie uns also unser Zusammensein auf den ersten schönen Nachmittag verschieben; ich werde mich dann gleich melden. Sprechen wir bald einmal die Schleiermacheriana durch? Es gehören aber mehrere Spaziergänge dazu, wenn es nach Würden geschehen soll. Vielleicht paßt es Ihnen heute mich nach der Vorlesung um 5 Uhr im Sprechzimmer abzuholen? Nur daß wir die Ungeweihten, Empirischen, sonstiger grenzenloser Hochachtung unbeschadet, dabei fern halten müssen.

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Dilthey an Richard Adalbert Lipsius

Original: nicht überliefert; Erstdruck: Von Kieler Professoren. Briefe aus drei Jahrhunderten zur Geschichte der Universität Kiel. Hg. von M. Liepmann. Stuttgart/Berlin 1916, S. 381f.

[327] Dilthey an Wilhelm Scherer Liebster Freund, ich hoffte wenn ich Ihnen schreibe, sofort über die Baseler Situation Näheres melden zu können.1 Ich habe natürlich sogleich nach Basel geschrieben,2 nach Berathung mit Erd[mannsdörffer], ich denke in kluger Weise, an den mir nächstbefreundeten Theologen Schultz, der dort den allergrößten Einfluß hat, da man ihn nicht entbehren kann u ohne ihn die Univ[ersität] an Frequenz sänke, der aber zugleich gewiß die Sache als die seine betreiben wird. Noch habe ich keine Nachricht. Erstaunt hat mich natürlich Ihr Gedanke, besonders daß Sie denken, man habe in Basel Geld. Eben dieses hat man nicht! Zu einem Ordinariat zu gelangen, ist der Ort gut. Aber mehr als 3-4000 Franken geben sie kaum. Ihre Regel ist mit 3000 Fr[anken] anfangen zu lassen. Collegiengelder sind, bei der Einrichtung nicht zu stunden, sondern zu befreien, u. zwar bei der Armuth der Studenten gar nicht zu rechnen, weder sofort noch später. Im Übrigen ist es dort nicht auszuhalten. So sehr leid uns that Sie nicht in Berlin zu haben: es war Unruhe u. wenig behaglicher Verkehr in den paar Tagen meiner Anwesenheit. Mit Erdmannsdörffer hatte ich schöne Kaffeestunden, mit Trendelenburg habe ich vieles durchgesprochen, bei Frau Franz Duncker war es all das Behagen, der schöne Weltverstand u. das gütige Interesse, das Sie kennen. Hier stecke ich wieder in den Vorlesungen – ich lese u. a. Gesch[ichte] der alten Philos[ophie] – daneben in der Arbeit. Möge ich Ihnen bald das Ungeheuer von c. 40 Bogen senden können. Davon, wie weit andre Pläne gediehen sind, wird sich doch nur mündlich reden lassen. Ist denn zu Ostern keine Aussicht? Ich denke die ganzen Osterferien zu reisen, zu den Meinigen, nach Berlin für den zweiten Band etc. Besinnen Sie sich u. richten sich ein. Sobald von Basel ein Wort herkommt, bekommen Sie Bericht. Was bis jetzt geschehn dort, davon habe ich keine Ahnung. Weinhold3 ginge natürlich nicht hin, da der hießige Gehalt dort für den Germanisten schlechterdings nicht zu haben ist: auch Wackernagel hatte nur 5000 Franken im höchsten Falle, und nur in der letzten Zeit.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

Und Bartsch!4 Es wäre doch komisch, wenn diese sonderbare Pflanze Ihre Wege kreuzte! Von Herzen der Ihre Dilthey Kiel den 10ten Jan[uar] 1870 Wünschen Sie Weiteres in Basel, so lassen Sie es mich nur wissen. Sehr gut wäre, Sie ließen durch Ihre Kanäle auch dahin gelangen, daß die pekuniären u. vielleicht5 polit[ischen] Verh[ältnisse] Ihnen wünschbar machten, Wien zu verlassen, damit man dort wisse, daß Sie sich eventuell wirklich opfern wollen, was ja so niemand denken kann. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 11; eine Abschrift von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 11. 1

Der Philologe Wilhelm Wackernagel, der seit 1835 eine Professur für deutsche Literatur in Basel inne gehabt hatte, war am 21. Dezember 1869 verstorben. – Scherer, der seit 1868 Ordinarius für deutsche Philologie in Wien war, wollte sich vermutlich verändern. 2 Nicht überliefert. 3 Karl Gotthelf Jakob Weinhold (1823–1901): Philologe; 1849 a. o. Prof. in Breslau, 1851 o. Prof. in Graz; seit 1861 o. Prof. in Kiel. 4 Karl Friedrich Bartsch (1832–1888): Philologe; seit 1858 Prof. für Germanistik und Romanistik in Rostock, wo er im Juni 1858 das erste germanistische Institut Deutschlands gründete; ab 1871 Prof. in Heidelberg. 5 Im Original: „vielleicht?“.

[328] Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer Liebster, Du tätest mir einen großen Gefallen, wenn Du über Trendelenburgs Befinden genaues mitteilen könntest. Ich komme garnicht aus schmerzlicher Aufregung, bis ich weiß, daß auch garnichts von üblen Folgen zurückgeblieben ist.1 Das memento mori ist schon übel genug. An Frau Trendelenburg jetzt schreiben, mag ich nicht, und darf ihr auch nicht zumuten, mir Nachricht zugehen zu lassen. So bin ich ganz ratlos. Ich schreibe an den letzten Blättern des letzten Kapitels. Das ist eine angenehme Empfindung. .|.|.

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer

Ich bin unbändig und unglaublich fleißig. Habe mich wieder tief in Aristoteles begeben müssen für die Vorlesung, da das Heft unbrauchbar war. Von überall kommen bei der Vorlesung für das große Thema neue Gesichtspunkte. Ausgehen tue ich wieder garnicht mehr. Das Gemüt ist suspendiert in solchen Zeiten. Sobald ich fertig, will ich in die Welt wieder hineinsehen. Treitschke schickt seine Aufsätze, von denen der über konstitutionelles Königtum außerordentlich schön ist.2 Stürmische Sitzungen des Senats – schwere Vorlesung – es ist eine bunte Wirtschaft. Nun sei mir tausendmal gegrüßt. Ich denke eigentlich alle Tage bei meinen Arbeiten an Dich. .|.|. Laß bald von Dir hören, Liebster, und gedenke Deines Wilhelm Dilthey Kiel 2. Februar 1870. Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 147. 1 F.A. Trendelenburg hatte am 21. Januar 1870 einen schweren Schlaganfall erlitten (vgl. F. Trendelenburg: Ein Lebensbild aus ihren Aufzeichnungen und Briefen zusammengestellt für ihre Enkel und Urenkel. Als Manuskript gedruckt. Halle/Saale 1896, S. 266). 2 H. v. Treitschke: Das constitutionelle Königthum in Deutschland, in: Historische und politische Aufsätze. N.F. 2 Theile, Theil 2, a. a. O., S. 747–858.

[329] Dilthey an Theodor Storm [Anfang März 1870] Hier verehrtester Herr Storm die Notiz: ‚Schelling, die letzten Worte des Pfarrers zu Drottning in Seeland, eine wahre Geschichte‘ – zuerst gedruckt in: W. Schlegels und Tiecks Musenalmanach für 1802, unter dem Namen Bonaventura,1 dann vielfach bei Schwab2 etc. Aus Schellings Leben 1, 2933 ist die von Steffens4 mitgebrachte Erzählung, wie sie in Schellings Nachlaß sich vorfand wörtlich mitgeteilt: ‚In Seeland, an der Küste von Dänemark lag ein Dorf. Dieses Dorf hatte eine Kirche, die aber eine halbe Meile davon ganz einsam im Felde lag u. deren Prediger in dem Dorfe selbst wohnte. Eines Sonnabend Abends um Mit-

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Dilthey an Theodor Storm

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ternacht, als der Pfarrer noch aufsitzt u. auf seine morgende Predigt studirt, kommen zwei fremde Leute zu ihm herein u. sagen ihm, indem sie eine Menge Ducaten u. eine geladene Pistole vorzeigen, er möchte gleich mit ihnen nach der Kirche gehn u. da ein Paar trauen, so sollte er die Ducaten haben, wenn er es aber nicht thäte, so würden sie ihn auf der Stelle erschießen. Der Prediger bedenkt sich nicht lange u sagt, er wolle mitgehn u. so führen ihn die beiden Fremden nach der Kirche. Wie er dahin kommt, findet er die ganze Kirche erleuchtet u. mit Menschen angefüllt, die aber alle eine fremde Sprache sprechen; auf der einen Seite der Kirche sieht er ein frisches Grab aufgeworfen. Man führt ihn zum Altar, wo ein schöner reich gekleideter junger Herr u. ein schönes Mädchen, das aber bleich und verstört aussieht, erwarten von ihm getraut zu werden. Er thut es, man giebt ihm sein Geld u. sagt ihm, er solle nun wieder gehn. Er thut auch als ginge er, versteckt sich aber in einem ihm wohlbekannten dunklen Gang, um den Ausgang abzuwarten. Erst ist alles still, aber eine Weile darauf hört er auf einmal ein lautes Gemurmel u. einen Pistolenschuß, gleich darauf wird alles still, die Lichter werden alle ausgelöscht, die Leute gehen alle heraus. Da es in der Nacht war, konnte er nichts sehn; er entschloß sich also nach Hause zu gehn u. den andern Morgen gleich wieder zu kommen, um zu sehn, ob er eine Spur entdecken könne von dem was vorgefallen sei. Er kommt des Morgens wieder, findet die Kirche leer, alles in Ordnung, u. das frisch aufgeworfene Grab zugeworfen; er öffnet es u. es liegt das schöne Mädchen, das er gestern getraut, todt darin.‘ So die Worte. Falls Sie weitere Notiz v[om] E[inen] oder Andren wünschen, so habe ich in Berlin dergleichen bequem zur Hand. Wollen Sie dann nur Fräulein von Witzleben Ihren Wunsch mittheilen, welche ich in Berlin zu sehn die Ehre haben werde. Der Ihre Dilthey Original: Hs.; SHLB Kiel, Storm-NL, Cb 50. 56, 1. 1

Ernst August Friedrich Klingemann, Pseudonym: Bonaventura (1777–1831): Schriftsteller und Theaterregisseur. – Die letzten Worte des Pfarres zu Drottning in Seeland (Eine wahre Geschichte.), in: Musen-Almanach für das Jahr 1802. Hg. von A.W. Schlegel und L. Tieck. Tübingen 1802, S. 118–128. – Als Autor dieser pseudonym erschienenen Schrift wird auch F.W.J. Schelling vermutet. Aufgenommen in Gedichtform in: Th. Storm: Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius. Eine kritische Anthologie. Leipzig 1875, S. 72–78. 2 Gustav Schwab (1792–1850): Pfarrer und Schriftsteller, zählte zur „Schwäbischen Dichterschule.“ – Fünf Bücher deutscher Lieder und Gedichte. Leipzig 1848, S. 418–423. 3 Aus Schellings Leben. In Briefen. Hg. von G.L. Plitt. 3 Bde. Leipzig 1869–1870, Bd. I, S. 293 f. 4 Heinrich (Henrik) Steffens (1773–1845): norweg. Philosoph, Naturforscher und Dichter.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

[330] Dilthey an Wilhelm Scherer [Anfang März 1870] Lieber Freund, ich antworte Ihnen1 sofort das Nöthigste, mitten aus allerhand Geschäften heraus. Ich habe entschiedene Ursache, daran zu denken aus Preußen zu gehn und habe dies vorgestern Olshausen gesagt. In Kiel kann ich nicht bleiben, es sind da jetzt etwa 150-160 Studenten, wovon fast 60 Mediciner die dort die klinischen Anstalten besuchen. Das ist eine lächerliche Existenz. Nun habe ich hier nur erst mit Olshausen gesprochen: er hat Weihnachten und jetzt stets hervorgehoben man habe die Maxime ein paar Jahre wenigstens an den kleinen Universitäten die Docenten zu lassen, um diese Universitäten nicht zu schädigen. Ich aber kann unmöglich etwa noch Jahre in Kiel in einer so armseligen Wirksamkeit bleiben; denn ich bin einmal zum Sprechen und nicht zum Schreiben angelegt; ich möchte in die Lage kommen zu Arbeiten in meiner Richtung anzuregen. Es kommt also nur darauf an daß man mir wirklich günstige Umstände anbietet: dann bin ich garnicht abgeneigt Preußen zu verlassen. Denn auf ferne Zukunft rechne ich nicht sondern thue das den Umständen Angemessene. Sie zu sehen und zu sprechen, was mir ohnehin so dringendes Bedürfniß ist, werde ich nächsten Sonntag an dem Sie ja da sein wollten hier bleiben. Nun halten Sie aber auch hübsch Wort; denn jeder meiner Tage ist berechnet und gezählt und es fällt mir nicht leicht so lange hier zu bleiben. Also auf baldiges fröhliches Wiedersehn, liebster Freund. An Herrn Prof. Zimmermann, der sich so freundlich für das Buch interessiert, sende ich den ersten Band heute oder Morgen. Sie finden ihr Exemplar hier. Kommen Sie baldigst. Von Herzen der Ihre Dilthey Mittwoch früh. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, 313, 12; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261,12. 1

Der vorausgegangene Brief Scherers ist nicht überliefert.

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Dilthey an seine Mutter

[331] Dilthey an seine Mutter (Berlin, [März] 1870)1 Liebste Mama! Ich bin ganz unselig, aber hier ist alles so schief u. krumm als möglich gegangen. Reimer zauderte mit der Ausgabe, nun erst bin ich über die Papiere seit einigen Tagen gekommen. U. zwar ist die Gräfin Schwerin durch das, was sie vom ersten Band gelesen, bestimmt worden, mir ohne Hinterhalt das ganze Briefmaterial zur Einsicht zu geben. Nur ist ihre Pflicht, gleichzeitig demnächst bei ihrem Bruder, Herrn von Willich, anzufragen, ob dieser, der eigentliche Testamentsvollstrecker, einverstanden sei. Sie weiß so gut als ich, daß dieser Beschränkungen fordern wird. Daher ist für mich von einer für den ganzen zweiten Band entscheidenden Wichtigkeit, daß ich das Material auf das Trockne bringe. In den letzten Tagen des Monats muß ich in Kiel sein. Ich ziehe mich also seit einigen Tagen ganz aus jedem Verkehr zurück, wo möglich mache ich mich ganz unsichtbar, u. suche die Aufgabe zu absolviren. Es ist ein neues Opfer, daß ich dieser Biogr[aphie] bringe, nicht das kleinste hoffentlich aber das letzte. Immer hege ich noch einige Hoffnung auf ein paar Tage zu kommen. Ist das wirklich nicht realisirbar, so verschiebt sich ja damit unser Zusammensein nur auf 4 Monate. Aus der schmerzlichen Empfindung, mit der ich dies schreibe, weiß ich am besten, daß auch Dich es schmerzen wird, Dich, Tante, Mariechen, die Bonner. Ich handle wie ich muß. Und so macht mir, Ihr Liebsten, meinen Entschluß nicht schwer. Wie gern führe ich zu Euch in den Frühling hinein. In einigen Tagen schreibe ich Weiteres. Lebt inzwischen wohl. Mein Buch habt Ihr doch erhalten?2 Möge seine Lektüre Euch Vergnügen machen. Scherer ist hier u. wir haben gesprochen. Es ist ziemliche Hoffnung, daß ich einen Ruf nach Wien erhalten werde.3 Alsdann wird sich entscheiden, was das hiesige Ministerium für mich zu thun geneigt ist. Mühler war gegen mich geradezu herzlich; doch weiß ich nicht ob gerade dies nicht Bedenken mit Achtung gemischt ausdrückt. Trendelenburg ist nach der Schweiz, wo er den Sommer seine Gesundheit wieder herzustellen versuchen wird. Mit tausend Grüßen der Eure Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 b ; Erstdruck: JD, Nr. 148.

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Dilthey an seine Mutter

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Im Original von fremder Hand: „März 70“. Der 1. Band von D.s Leben Schleiermachers war im März erschienen. 3 Der Philosoph Franz Karl Lott (1807–1874), der zunächst 1848 als a. o. Prof. in Göttingen und ab 1849 als a. o. und ab 1858 als o. Prof. in Wien gelehrt hatte, ging 1870 in den Ruhestand. Über die anstehende Neubesetzung seines Lehrstuhls wird Scherer seinen Freund D. informiert haben. 2

[332] Dilthey an seine Mutter (Berlin, [Anfang] April 1870)1 Liebste Mama, tausend Dank für Deinen Brief.2 Die Zeit ist grenzenlos rasch vergangen. In 4. 5 Tagen muß ich wieder in Kiel sein, denn den 26. oder 27. lese ich schon wieder, und zwar ein ganz neues Colleg,3 an das ich erst in den letzten Tagen ein wenig habe denken können. Ich erschrecke wenn ich bedenke, wie ich wieder mit halber Pflichtvergessenheit in die Vorlesungen eintrete – drei Collegia! und keine Vorbereitung! Ich kann Dir nicht aussprechen, wie schwer ich die Vereitelung unsrer Wünsche trage. Zwischen schwacher Gesundheit und wissenschaftlichen Forderungen, die ich meiner Natur nach an mich machen muß, nach der jetzigen Lage meiner Wissenschaft nicht abweisen kann, bin ich eingekeilt und wie an beiden Händen gefesselt. Was muß ich nicht im Stillen seit 5 Jahren für Anstrengungen machen, meine reguläre Laufbahn, die Lücken der Kenntniß und logischen Übung, die von ihr stammen, auszugleichen. Als ich meine Vorlesungen begann, habe ich vielfach mit den Elementen anheben müssen – u. muß es immer wieder. Eben so schwer habe ich an dieser von früheren Jahren überkommenen Aufgabe zu tragen, die an sich beneidenswerth schön ist, aber mit meiner Universitätsthätigkeit so gut als gar keinen Berührungspunkt hat. Ich muß immer zugleich Kulturhistoriker für mein Buch und Logiker, Philosoph etc. für meine Vorlesungen sein. Ich habe nun den Plan so gemacht, daß ich die Pfingsttage bei Euch zubringe. Später anfangen als gesetzlich, hat große Schwierigkeiten; dagegen kann ich leicht die Pfingstferien etwas erweitern. Und im August gehn wir dann zusammen jedenfalls in irgend einen hübschen Winkel, uns von der Sonne bescheinen zu lassen. Inzwischen war ich bei meinem „hohen Vorgesetzten“. Ich ging in der Hoffnung, daß Mühler mir die Archive versagen werde und damit meine Arbeit sich vereinfache. Denn es sind meist Akten, die noch im Ministerium

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selbst liegen, Union, geheime Verbindungen, Entlassung De Wettes, Verhältnisse zu der Universität, Kirchenverfassung – Mühler war persönlich herzlich, human, freisinnig – sodaß ich mich schwer zurechtfand; über die Papiere erklärte er kurzweg, daß ich ausnahmslos alles haben solle, auch was er im Ministerium habe. Die Schlüsse, die ich zog stimmten ganz mit der Auff[assung] der Gräf[in] Schwerin überein, mit der ich offen über ihren nahen Verwandten rede. – Im Übrigen hat Lehnerdt der Unterstaatssekr[etär] mir zugeführt, wenn ich in der nächsten Zeit nicht von Kiel wegkomme, solle ich Urlaub u. Geld zu einer wissenschaftlichen Reise haben. Die Wiener Angelegenheit steht so, daß sich Zimmermann interessirt, Lott, in dessen Stelle ich treten soll, nicht abgeneigt ist, sehr lebhaft aber der Historiker, den ich hier kennen gelernt, für mich ist. Das sind so die nächsten Aspekten. Inzwischen denke ich wirklich nur in seltenen Momenten an diese Dinge. Ich habe keinen Wunsch, als gut auskömmlich für alle Möglichkeiten, meinen wissenschaftlichen Arbeiten zu leben: da der Eine, in Eurer Nähe es zu thun, mir wie es scheint, völlig versagt ist. Wir wollen dann wenigstens in diesem Sommer und Herbst recht viel zusammen leben. Von meinem Buch höre ich ja sehr viel Gutes u. eigentlich nichts Tadelndes. Eine Anzeige war, glaube ich, erst in der protestantischen Kirchenzeitung.4 Der gute Dorner war neulich bei mir, brachte mir seine Gesch[ichte] der neuen Theologie5 und redete mir ins Gemüth, in den relig[iösen] Dingen dem Glauben mehr Recht anzuthun. Das ist wirklich der wunde Punkt. Ich bin eben keine religiöse Natur. Wie weit ruhige historische Objektivität, nach meiner Überzeugung das einzige gesunde Verhältniß zu der späteren rel[igiösen] Entwicklung Schleiermachers, den Wünschen u. Gemüthsbedürfnissen der entgegengesetzten Partheien genugthun werden, für den Moment – denn für die Dauer thun sie es sicher allein, nichts sonst, da diese relig[iösen] Gegensätze noch lange dauern werden u. dann erst recht das Bedürfniß hist[orischen] Gesichtspunktes da sein wird – das muß ich in Geduld erwarten. Daß für Schleierm[acher] der Historiker, nicht der Theolog[e], der richtige Darsteller ist, kann natürlich v[on] Theologen nicht zugegeben werden. Diese ahnen gar nicht, wie eben die allerliberalsten unter ihnen wieder am meisten bornirt sind in ihrem Horizont u. die Welt eben nehmen, als gäbe es in ihr nur Eine zu lösende Frage, die religiöse. Daher bin ich denn auf mancherlei Mißverständnisse nach dieser Seite hin gefaßt. An Firnhaber ist e[in] Exemplar abgegangen oder wenigstens bei Reimer für ihn bestimmt u. geht ab. Ebenso an Böcking, dem ich demnächst schreibe. Die Fürstin braucht da sie die erste Lieferung hat wie mir scheint kein ganzes Exemplar.

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Und so also, liebste Mama, nur auf wenig Wochen – ich habe mit wahrem Schmerz auf das augenblickliche Wiedersehn verzichtet – vielleicht dann unter Umständen, die Dich erfreuen – ich kämpfe in mir wunderlich – meine Lebensaufgabe ist so verwickelt geworden, daß sie voll und ganz nur durchgeführt werden kann, wenn ich meinen Weg allein gehe – doch stehe ich neuerdings nicht mehr dafür, daß was weislich wäre, wirklich bliebe. Und nun Ade, liebste beste Mama, ich bin jetzt wenigstens nicht mehr so im Gedränge, daß ich Euch nicht alle 14 Tage wieder ordentlich wie vor alten Zeiten schreiben könnte. Tausend Grüße an Euch alle – verzeiht was Nothwendigkeit ist – bleibt mir gut – Auf Wiedersehn. Dein treuster Wilhelm. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 b; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 149. 1

Darüber: „Meine Bekannten wissen gar nicht daß ich noch hier bin – das Durcheinander war unglaublich.“ 2 Nicht überliefert. 3 D. hat für das Sommersemester 1870 erstmals angekündigt: Geschichte der älteren und mittleren Philosophie im Grundriss für die in den Kursus neu Eintretenden (2 std. privatim) und Geschichte der neueren Philosophie vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart (4 std.). 4 Anzeige von Paul Wilhelm Schmidt in: Protestantische Kirchenzeitung, 17. Jg. (Berlin 1870), Nr. 15 vom 9. April 1870, Sp. 321–325. 5 I.A. Dorner: Geschichte der protestantischen Theologie, besonders in Deutschland. München 1867.

[333] Dilthey an seine Mutter Liebste Mama!

(Kiel, April 1870)

Vergeblich warte ich auf Nachricht von Dir. Seit einigen Tagen von Berlin zurück. Olshausen hatte mir im Auftrag des Ministers geschrieben1 .|.|. Morgen fange ich einen zweijährigen Kursus der höheren Mathematik an, der mich täglich mehrere Stunden kostet, um tiefere Grundlagen für meine Arbeiten zu legen. Du siehst: ich laß mir’s sauer werden. In Berlin alles mögliche durcheinander in zwei Tagen: Jesuitendebatte2 gehört, dann mit Lasker zu Mittag gegessen. In Baracken und Höhlen vor der Stadt mehrere Stunden gewesen, dann mit Grimm gegessen. Alle möglichen

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Dilthey an seine Mutter

Freunde gesehen. Alles in allem der Eindruck: bestünde nicht an den anderen Universitäten ein Gegengewicht dank unserer herrlichen deutschen Einrichtung: so wäre die deutsche intellektuelle Kultur verloren. In Berlin hält nichts mehr Stich vor dem Drängen und Schieben mit Ellenbogen, einem zuvorzurennen in Carriere und Name. Alles arbeitet und denkt für den Moment. Nur wer fertig von einem anderen Ort dorthin kommt: hat das Kapital, standzuhalten. Ich preise Karls Schicksal, das ihn bewahrt hat, dort auch seine Ellenbogen brauchen zu müssen. Sende doch Karl diese Zeilen. Ich bin in unglaublicher Zeitbedrängnis in diesen Tagen. Nun schreibe, liebste Mama, antworte auf meine 2 Briefe und diesen Zettel, vor allem sei wohl, heiter, behaglich, in Dir und Deinen Kindern glücklich. Dein Wilhelm Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 150. 1

Nicht überliefert. Vor dem Hintergrund des aufziehenden Kulturkampfes: Debatte um Niederlassungen des Jesuitenordens im Deutschen Kaiserreich; diese wurden später mit dem „Jesuitengesetz“ vom 4. Juli 1872 verboten. 2

[334] Alexander von Oettingen1 an Dilthey Dorpat, den 4/10 April 1870 Hochgeehrter Herr College. Entschuldigen Sie, daß ich unbekannter Weise aber mich stützend auf unsere gemeinsame Arbeit auf dem Felde der Wissenschaft, mich mit einer Bitte an Sie wende, welche unser College Kupfher2 im Einzelnen Ihnen näher wird motiviren können. Es handelt sich um die Besetzung der hießigen ordentlichen Professur der Philosophie. Innerhalb der Facultät sowohl, als in den übrigen Kreisen unserer Hochschule ist Ihr Name genannt worden. Wir hegen alle die Zuversicht, daß Sie sich in jeder Hinsicht für dieses Amt eignen und zweifeln nur, auf Grund einer Äußerung, die Sie einst gegen Schwabe3 in Rom gethan haben sollen, an Ihrer Bereitwilligkeit zu kommen. Erlauben Sie mir deshalb in wenigen Worten die Sachlage Ihnen zu schildern.

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Alexander von Oettingen an Dilthey

Professor Strümpell4 hat bisher diese Professur bekleidet, geht aber jetzt seiner Emeritur entgegen. Wir haben auf unserer Universität gegenwärtig 700 immatrikulirte Studenten, von denen die Mehrzahl philosophische Vorlesungen zu hören Anlaß und Bedürfniß hat. Sie können also auf einen bedeutenden Zuhörerkreis rechnen. – Die äußeren Verhältnisse anlangend, ist der feste Gehalt eines prof[essoris] ordin[arii] 2400 Rub[el], wozu die für dieses Fach nicht unbedeutenden Collegiengelder (circa 600 Rub[el] jährlich) hinzukommen. Die Pensionsverhältniße sind, wenn auch nicht mehr so günstig, wie in alten guten Zeiten, doch immer noch viel vortheilhafter, als irgendwo in Deutschland; denn nach 20 Jahren academ[ischer] Thätigkeit erhalten Sie die halbe, nach 25 Jahren bereits die volle Pension (1500 Rub[el]). Dazu kommt, daß das Leben hier bedeutend wohlfeiler ist, als z.B. in Kiel. Der schwierigste Punkt sind unsre gegenwärtigen, gewiß auch Ihnen bekannten politischen Verhältniße. Der Druck von „Oben“ ist wegen der unverkennbar rußificirenden Tendenz schwer zu ertragen. Aber bisher hat man unsrem Deutschthum und unsrer freien wissenschaftlichen Forschung und ihrer Bezeugung nach außen keinen irgendwie erfolgreichen Damm entgegenstellen können. Und andrerseits bewirkt die Preßur von außen ein um so festeres patriotisches Zusammenwirken nach innen. Sie werden kaum irgendwo in Deutschland so günstige collegialische Verhältniße finden. Wir haben hier eine specifisch deutsche Mission und an ihr mitzuarbeiten, dürfte zwar für Sie nicht ohne Opfer möglich und ausführbar sein, scheint mir aber doch bei vorausgesetzter Hingabe an die Sache nicht ohne Aussicht auf Erfolg zu sein und trägt seinen Lohn in sich selbst. Helfen Sie uns, die Culturzeugen deutscher Wissenschaft und Philosophie weiter ausbreiten und unsre colonisatorische Existenz gegen drohende Angriffe von außen fester begründen. Freilich haben wir kein Recht, Zumuthungen an Ihre Opferwilligkeit zu stellen für ein Gebiet, das Ihnen oder Ihrem Interesse vielleicht mehr oder weniger fern liegt. Aber wenn sich, wie wir hoffen, in diesem Fall die Interessen, die Ihrigen und die Unsrigen, berühren, so würden wir eine zusagende Antwort von Ihnen als einen neuen Strahl der Hoffnung begrüßen, daß Deutschland uns nicht verlassen will auf unsrem wichtigen Posten in ultima Thule.5 Ich möchte Ihnen daher in meinem und vieler Collegen Namen diese Sache warm ans Herz legen und Sie freundlichst bitten, mir baldmöglichst – direct oder durch Coll[egen] Kupfher, eine Antwort drüber zukommen zu laßen, ob Sie einem eventuellen Ruf als prof[essor] ordin[arius] der Philos[ophie] an die hiesige Universität Folge leisten würden. Selbstverständlich muß diese ganze Sache, als eine officiell noch nicht nominirte, discret behandelt werden, weshalb ich Sie ersuche nicht eher von derselben gegen andere sich zu äußern, als bis die officielle Anfrage von hier an Sie gelangt. Nur

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Alexander von Oettingen an Dilthey

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müßten wir, um Sie präsentiren zu können, im Allgemeinen die Aussicht haben, keine Fehlbitte zu thun. Im Fall Ihrer Geneigtheit würde ich Sie noch bitten, durch Kupfher mir ein kurzes curriculum vitae und ein genaues Verzeichniß Ihrer Schriften zuzusenden. In Hoffnung auf eine baldige geneigte Antwort, zeichnet mit vollkommener Hochachtung als Ihr aufrichtig ergebener Dr. A. v. Oettingen Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 k. 1

Alexander von Oettingen (1824–1905): Theologe; 1856 a. o., 1857–1891 o. Prof. in Dor-

pat. 2 Karl Kupffer (1829–1902): Anatom; 1867 o. Prof. der Anatomie in Kiel, 1876 in Königsberg, 1880 in München. 3 Ludwig von Schwabe (1835–1908): klass. Philologe; 1863 a. o. Prof. in Gießen, seit 1864 o. Prof. in Dorpat, 1872 in Tübingen. 4 Ludwig Strümpell (1812–1899): Philosoph und Pädagoge; 1844 a. o., seit 1849 o. Prof. der Philosophie in Dorpat, ab 1871 Honorarprof. der Philosophie in Leipzig. 5 Nördlichster Landpunkt der Erde.

[335] Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer [April 1870] Liebster, ich bin nun wieder in meinen Vorlesungen drin.|.|.. Und Du, was machst Du? Ich träume stehend, gehend, liegend von unserer grossen Reise.|.|. Von meinem Fratello ein verzweifelter Brief.1 Er hätte ernstlich Lust, da nun Kekule2 berufen, stehenden Fusses nach Rom zurück zu kehren. Ich habe ihm geantwortet, er könne von mir Geld haben, so viel er wolle – in Bonn zu bleiben und in denkbarster Muße und Heiterkeit zu arbeiten. Lotte noch nicht zurück, kommt erst in 8 Tagen. Aus Wien ein Brief,3 in dem sie bloß in[,] für und mit einem p.p. Weinhold,4 Bruder des hiesigen, schwärmt, mit ausdrücklicher Erklärung, daß alle hiesigen vergessen würden. Sie soll es büßen, wenn mir der Himmel die Kräfte verleiht. Sonsten hier alles stille, kühl wie immer. Sehr viele Studenten sind weg, und da ich die Fortsetzung meiner Vorlesung vom vorigen Semester lese,

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Dilthey an Bernhard Erdmannsdörffer

scheine ich ein schlechtes Kolleg zu bekommen. Auch mag wirken, daß ich im vorigen Semester so ganz Alles schließlich über dem Buch vergaß. Da muß man sich denn ein Semester so durchstümpern. Wien gewinnt in meiner Vorstellung mit jedem Tage. Es ist hier so ein müdes Wesen in dem alten schlechten Collegienhause mit den paar Studenten. Mit wahrer Wonne stecke ich in der Geschichte der neueren Philosophie. Und zwar will ich rasch der deutschen Entwicklung entgegeneilen; dann erhalte ich den ganzen philosophischen Hintergrund des zweiten Bandes. Meine anderen Gedanken werden doch noch nicht recht vortragsreif. Was macht die schw. Schw.5 das Gemüth und das Leben? Laß bald ein Wort von Dir hören u. hab tausend Dank von Deinem Kiel im Ackermannschen Hause Wilhelm Original: nicht überliefert; ein unvollständiges maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o. 1

Dieser Brief von D.s Bruder ist nicht überliefert. Heinrich Friedrich Reinhard Kekulé von Stradonitz (1839–1911): Archäologe; seit 1870 a. o., ab 1873 o. Prof. in Bonn, 1889 in Berlin. 3 Nicht überliefert. 4 Bruder des Germanisten Karl Gotthelf Jakob Weinhold, der seit 1861 Prof. in Kiel war. 5 Nicht zu ermitteln. 2

[336] Dilthey an Herman Grimm [Kiel, April/Mai 1870] Lieber Freund, Wenn Sie wirklich Ihren edlen Plan der Anzeige ausführen, wollte ich Sie bitten, doch einen Punkt in den Vordergrund zu stellen, welchen die Anzeige von H. S.1 gar nicht berührt hat, obwohl er die Absicht des Buches erst aufklärt. Es handelt sich um die Aufgabe genetisch aus den Bedingungen der Kultur u. der vorhergegangenen und gleichzeitigen Wissenschaft ein philosophisches System zu erklären; diese Aufgabe zu lösen, habe ich eine ungeordnete Masse von Manuscripten in chronologische Ordnung durch kritische Untersuchungen (wobei ich besonders auf die über die Fragmente verweise) gebracht. Ich habe alsdann die in Frage kommenden wissenschaftlichen und geschichtlichen Erscheinungen analysirt. Und so habe ich eine Entwicklungs-

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Dilthey an Herman Grimm

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geschichte dieses Philosophen da durch exakte Forschung hergestellt, wo vorher ein Nichts war. Diese Entwicklungsgeschichte klärt dann rückwärts einen Grundzug der Zeitkultur auf. Mein Verhältniß zu dem ganzen Stoff war das objektive des Historikers, genau das war mir wichtig, was in Schleiermachers innerem Leben eine hervorragende Stelle hatte. Mit diesem Allem versuchte ich die Aufgabe des Geschichtsschreibers der Philosophie in einer Weise zu lösen, in der sie bisher nicht gefaßt war: genetische Erklärung aus allen Elementen auf strenger exakter kritischer Grundlage. Verzeihen Sie daß ich in einem Gefühl meiner Unsicherheit, ob man denn dem Buche gar nicht ansehe, welche methodische Arbeit sein Gerüst bildet, Ihnen schreibe, was Sie selber schon wissen, u wenn Sie die Anzeige geschrieben wol schon gesagt haben.2 Ich muß aber den ernstesten Wunsch haben, daß es jetzt einmal ausgesprochen werde. Und verzeihen Sie mir auch, daß ich nicht lange über meine Nicht-Rückkehr mich entschuldigt u. Ihnen schriftlich Adieu gesagt. Es erscheint so überflüssig, wenn man doch in ein paar Monaten sich wiedersieht. Und ich arbeite wieder mit der größten Anstrengung. Sagen Sie gelegentlich in der Kölner Zeitung einige Worte wie Sie vorhatten?3 Und was macht Ihr Buch. Ich erwarte es jede Woche. Einen großen Schreck machte mir die Alarmnachricht über Diszip[linierung] gegen Scherer.4 Offenbar war sie aber ganz aus der Luft gegriffen. Groth ‚schafft‘ unaufhörlich u. ein ganzes Bändchen metrischer Erzählungen u. Gedichte soll nun gedruckt werden.5 Im Übrigen beginnen wir hier unter der rabies6 theologica zu leiden, da die Synodalwahlen den verdrießlichsten Staub aufwühlen. In meiner wunderschönen Wohnung, bei Spinoza Hobbes u. Leibnitz die ich eben für die Vorlesungen wieder lese höre u. sehe ich wenig davon. Empfehlen Sie mich Ihrer verehrten Frau. Von Herzen der Ihrige Dilthey. Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm. Brief 922. 1 Evtl.: Herrn Schmidt. – P.W. Schmidt hatte eine Anzeige von D.s Buch in der Protestantischen Kirchenzeitung veröffentlicht. 2 H. Grimm: Rezension von Leben Schleiermachers, in: Die Grenzboten, 29. Jg. 2. Semester, 1. Bd. Leipzig 1870, 3. Vierteljahr, S. 1–8. 3 Nicht nachgewiesen. 4 W. Scherer geriet durch seine unverholene propreußische Haltung mehrfach in die Kritik. 1872 wechselte er von Wien an die neu gegründete Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg.

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5 Klaus Groth (1890–1899): niederdeutscher Lyriker und Schriftsteller, der seit 1857 in Kiel lebte; Groth zählt zum Bekanntenkreis D.s. – Quickborn. 2. Theil: Volksleben in plattdeutscher Dichtung ditmarscher Mundart. Leipzig 1871. – Der erste Teil dieser Gedichtsammlung war bereits 1853 erschienen. 6 Wut.

[337] Dilthey an Wilhelm Scherer Kiel, am kleinen Kiel d[en] 2ten Mai 1870. Lieber Freund! Es thut mir wahrhaft weh, daß unser längeres Zusammensein vereitelt worden ist. Diesmal fällt auf mich die Schuld, da Sie so freundlich Ihre Reise beeilt hatten. Doch rechne ich sicher auf den Herbst, da ich nach Tyrol zu gehn gedenke. Für die Frage einer etwaigen Berufung nach Wien ist wohl nichts verloren.1 Ich denke, wir haben uns ausgesprochen. Der Gedanke bewegt mich sehr ernsthaft. Von einer Zulage lasse ich mich nicht halten. Denn was ich bedarf ist ein Wirkungskreis. Unsere Studentenzahl hier scheint auch diesen Sommer wieder etwas zu sinken. Etwas über anderthalbhundert Studenten, darunter etwa 60 Mediciner, die der prakt[ischen] Anstalten wegen da sind, von denen keiner einen Vorles[ungs]saal der philos[ophischen] Facultät je sieht! Dagegen wäre viel über Arbeiten zu sprechen gewesen. Ich bin jetzt an einem Entwurf der Gesch[ichte] der Philosophie seit der Renaissance, in der Absicht den wirklichen Zusammenhang (an der Stelle der bisherigen Fiktionen) zu finden, für den Sie gewiß auch großes Interesse gehabt hätten. Seit ich in Ital[ien] war, beschäftigt mich unablässig der Kulturzus[ammen]hang seit der Renaissance in einzelnen seiner Theile. Alle meine systemat[ischen] Untersuchungen sind dadurch gewachsen. Was werden Sie über den Band urtheilen?2 Ich bin ausnehmend begierig auf ein Wort von Ihnen. Die Dummheit notire ich, daß das über Tieck in Italien corrigirt ist, und so ist bei einer Ihrem Grimm3 entnommenen Stelle diese Ihre Biographie nicht citirt, da sie natürlich da nicht zur Hand war und im Concept das genaue Citat fehlte. An Zimmermann u. Lott sind Exemplare abgegangen. An Z[immermann] schreibe ich heute oder morgen noch eine Zeile, ihm für die gute Absicht in der N[euen] F[reien] Presse [zu] danken. Erlustirt hat mich die erste Rec[en-

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Dilthey an Wilhelm Scherer

sion], in der prot[estantischen] Kirch[en]z[ei]t[un]g (Organ des Prot[estanten]vereins), ungeheuer gelobt, schließlich: in der Zwischenzeit bis zum 2. Band würde ich hoffent[lich] Theologe werden, das sei für diesen ganz nöthig. Das ist so liberale Theologie – Theologie muß es eben immer sein – wie werden sie sich erst entsetzen über den „vornehmen historischen Standpunkt“ der betr[effenden] Parthien im 2 Band! Zuletzt aber wird man doch fühlen daß gerade diese Person nur von Jemandem dargestellt werden konnte, der nur als Geschichtschreiber urtheilt, während der Gesichtspunkt der theol[ogischen] Partheien alle 5 Jahre wechselt. Wollten Sie gern noch ein od[er] das andere Ex[emplar] hier oder dorthin geben, so lassen Sie mich’s nur wissen, damit ich es sende. Inzwischen leben Sie wol und gedenken freundlich Ihres Wilhelm Dilthey. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 13; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o sowie ein handschriftliches von fremder Hand im Dilthey-NL der BBAW, Fasz. 261, 13. 1 In Wien wurde ein Nachfolger auf dem Lehrstuhl des Philosophen F.K. Lott gesucht. Dies geschah bereits 1870 – zwei Jahre bevor Lott aus dem Amt ausschied. Bei den Nachfolgeverhandlungen, die sich vier Jahre hinzogen, setzte sich Scherer von Anfang an für D. ein, allerdings erfolglos. 2 Scherers Beitrag Friedrich Schleiermacher erschien in: Die Presse, 3. September (1870), Nr. 243; WA in: Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich. Wien 1874, S. 373 ff. 3 W. Scherer: Jacob Grimm. Berlin 1865.

[338] Ferdinand Friedrich Zyro 1 an Dilthey Herrn Prof. Dilthei in Kiel.

Wabern b/Bern 13 Mai [18]70

G[ee]hr[ter] Herr! Sie arbeiten an einem Leben des sel[igen] Schleiermacher – zu dessen I[.] vollendetem Teil ich Ihnen (gefolge der Anzeige d[er] A[llgemeinen] Augsb[urger] Z[eitung]) Glück wünschen darf.

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Ferdinand Friedrich Zyro an Dilthey

Ich denke, es könne Ihnen jede auch noch so geringe Notiz erwünscht für Ihren Zweck sein. Deshalb melde ich Ihnen, daß auch ich das Glück hatte, Schleiermacher nicht nur zu hören, sondern persönlich kennen zu lernen – empfohlen von meinem sel[i]g[en] Freunde L. Usteri.2 Ich hörte 1826 u. [18]27 bei ihm, und kam ihm so nahe ans Herz, daß er, als ich von ihm Abschied nahm, weinte wie ein Vater, der s[einen] Sohn verabschiedet. Ich hatte ihm allerdings mehr als Ein Zeichen meiner besondern pro´sklisiß3 gegeben – ihm zB Beiträge für seine Vorlesung über kirchl[iche] Statistik geliefert etc. In mein „Stammbüchlein“ schrieb er mir auf ein Blättchen die Gedenkworte: alvheu´ein en aga´pU.4 Ich habe das Blättchen noch. Das Eine kann Ihnen zeigen, wie gemütlich er sein konnte; der Spruch aber sagt noch etwas mehr. Hochschätzend Ihr Ferdinand Fr. Zyro prof. emer[itus] Sagen Sie Ihrem j[ungen] Collegen Schmidt,5 wenn er mir sein Buch über die Paulin[ische] Christologie sende, so wolle ich trachten darüber zu referieren. Z. Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 103, Bl. 125–126 R. 1

Ferdinand Friedrich Zyro (1802–1874): schweiz. Theologe, Pfarrer und Schriftsteller. Leonard Usteri (1799–1833): schweiz. Theologe, Pfarrer; ab 1820 in Berlin als Schüler Schleiermachers, 1823 Gymnasiallehrer in Zürich. 3 Zuneigung. 4 Wahrhaftig sein in der Liebe (vgl. Eph. 4, 15). 5 Paul Wilhelm Schmidt (1845–1917): Theologe; seit 1869 PD in Berlin, ab 1875 Ordinarius für Neues Testament in Basel; 1870 Redakteur der Protestantischen Kirchenzeitung. – Die paulinische Christologie in ihrem Zusammenhange mit der Heilslehre des Apostels. Göttingen 1870. 2

[339] Martin Samuel Funk 1an Dilthey den 15 Mai 1870 Hochgeehrter Herr Professor. Verzeihen Sie, wenn ich mir die Freiheit nehme, mich mit einer Anfrage und Bitte an Sie zu wenden.

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Martin Samuel Funk an Dilthey

Mein sel[iger] Vater, der frühere Kön[iglich] preuß[ische] Divisionsprediger Funk, später Pastor hieselbst, hat, nachdem er wegen Widerspruchs gegen die neue Agende 18222 seine Militärpredigerstelle verloren hatte, während der folgenden Jahre in Berlin in persönlichem Verkehr und seit seiner Uebersiedlung nach Hamburg 1828 in Briefwechsel mit Schleiermacher gestanden. (Schleiermacher erwähnt jenen z.B. in dem „Gespräch zweier selbst überlegenden Christen etc.“ S. 6,3 in einem Briefe an Gans in[:] Aus Schleiermachers Leben IV S.386.)4 Es würde mir nun sehr erwünscht sein zu wissen, ob unter Schleiermachers Nachlaß sich vielleicht noch Briefe von ihm aus dem Jahre 1828 befänden, und mir derer Einsicht möglich werden könnte, namentlich liegt mir an einem Briefe datiert: Hamburg den 17 Nov[em]ber 1828, welcher in Beantwortung einer Frage Schleiermachers Mittheilungen über Hamburger kirchliche Zustände und Personen enthalten muß. H[er]r stud Jonas5 in Berlin hat mir nun einen Brief aus dem Jahre 1829 mitgetheilt, und mich darauf aufmerksam gemacht, daß ein Theil der Papiere aus Schleiermacher’s Nachlaß sich zur Zeit in Ihren Händen befinde. Sie würden mich zu großem Danke verpflichten, wenn Sie die Freundlichkeit hätten mir mitzutheilen, ob sich darunter der erwähnte Brief befindet, und mir die Einsicht desselben auf kurze Zeit zu verstatten. Mit Hochachtung ergebenst Funk6 o

addr[esse] Braunstr. N. 147. Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 103, Bl. 182–183. 1

Martin Samuel Funk (1835–1922): Rechtsanwalt in Lübeck; Sohn von Johann Ägidius Ludwig Funk (1792–1867): 1815 Militärgeistlicher in der preuß. Armee, ab 1829 Pastor in Lübeck. 2 König Friedrich Wilhelm III. versuchte seit 1821 eine für Lutheraner und Reformierte gleiche kirchliche Liturgie durchzusetzen und stieß dabei auf den Widerstand von Theologen und Pfarrern, z. B. Schleiermachers und Funks. 3 Gespräch zweier selbstüberlegender evangelischer Christen über die Schrift. Luther in Bezug auf die neue preußische Agende. Ein letztes Wort oder ein erstes. Leipzig 1827. 4 Brief Schleiermachers – nicht an Gans, sondern an Gaß vom 21. Juli [1827], in: Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. Bd. 4. Hg. von W. D. Berlin 1863, S. 385–387, hier S. 386. 5 Ein Sohn des verstorbenen Ludwig Jonas’, des Nachlassverwalters Schleiermachers. 6 Unterschrift: „Funker“.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

[340] Dilthey an Wilhelm Scherer (Kiel, Mai 1870) Heut erst, liebster Freund, nachdem mir die Vorlesungen diese Woche nur eben zum Essen Zeit ließen, komme ich dazu, Ihnen die Notizen zu senden die Sie wünschen,1 ohne daß Sie dabei dran denken, welche ‚ungeheuren Schmerzen‘ Sie erneuern,2 mich zwingend zu erwägen, was Alles ich angefangen u. halb durchgeführt, wie wenig bis heute fertig gebracht. Daher erklären Sie sich meine Kürze. Die Jahreszahlen aber kann ich gar nicht wieder zusammenbringen: ich habe für meine eigene Vergangenheit absolut kein Interesse, sofern es nicht reell Erlebtes betrifft. Ich bin d[en] 19. November 18333 in Bibrich am Rhein im Nassauischen geboren. Da mein Vater Hofprediger war u. man bei uns nur enge Verhältnisse kannte, bezog ich die Universität in der Absicht Theologie zu studiren, um Beschäftigungen die mich auf dem Gymnasium ganz hingenommen hatten fortzusetzen. Kants Logik hatte mich als Secundaner eigentlich zuerst geweckt, da ich sie zufällig unter meines Vaters Büchern fand. Dazu kam Lessings Antigötze, die ich besonders auf die logischen Operationen ansah, dann die Schriften von Gervinus, deren Neigung zu geschichtlichen Analogien mir die Möglichkeit aufgehen ließ, zwischen Kulturgeschichte und philosophischem Denken ein Band zu finden. So kam ich auf die Universität u. hier stellte sich sehr bald mein Plan fest, Kirchen- u. Dogmengeschichte zum Studium der Geschichte der christlichen Weltanschauung im Abendlande zu verknüpfen und eine Universitätscarriere einzuschlagen. Ich fing also getrost mit dem Alexandrinismus u. dem Urchristenthum an (als ich die Univ[ersität] bezog war ich 18 Jahre,4 und nach anderthalbjährigem Studium hatte sich das so festgestellt) u. arbeitete alle Hauptwerke der Tübinger Schule u. ihrer Gegner durch – zugleich studirte ich Plato u. Aristoteles, ersteren mit philologischen Freunden (was wir, Hoffmann[,] Usener etc. eine Reihe von Jahren fortgesetzt haben), den Aristoteles in Trendelenburgs Seminar, dessen Schule ich mit thätigem Antheil u. großer Begeisterung durchmachte. Bei Böckh hörte ich philologische Vorlesungen. Nachdem der theol[ogische] Cursus durchgemacht, wünschte mein Vater, bevor ich meinen eigenen Weg einschlüge, möge ich, der Sicherheit wegen, besonders aber des Anstandes halber, den schon seine Stellung forderte, nicht ohne Examen Abschied nehmen von m[einer] Heimath. Ich machte mit N.o 1 mein theolog[isches] Examen u. ging nach Berlin zurück, wo ich bald drauf das philologische machte und nun am Joachimsthal’schen Gym-

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nasium, als der besten pädagog[ischen] Schule, die man in Preußen außer Schulpforta haben kann (es ist auch ein Alumneum in großem Styl) als Adjunkt eintrat, wie meine Freunde Usener, Baumann, mit denen ich da zugleich war. Meine Absicht war, die Zeit bis zu meiner Habilitation in einer mich fördernden u. mein äußeres Leben sichernden Stellung zuzubringen. Hier schrieb ich in den ersten Wochen mit meinem Freund Nitzsch um die Wette, etwas leichtsinnig, die Artikel die unter L. bei Herzog zusammenstehen, Lerinum, Llorente, Loen, Lütkemann, dann Marcion, ich citire sie nur nach dem Gedächtniß.5 Ich war damals wol 23 Jahre. Die Artikel wurden uns so schlecht bezahlt, daß wir die folgenden ausschlugen. Ich ging nun zum Studium der alexandrin[ischen] Schule über; besonders die Schrift des Origines pe`ri arcw˜n als erstes System christlicher Weltanschauung beschäftigte mich. Durch Jonas’ zufällige Anregung, der einige Data von mir wünschte, kam ich drauf mit ihm in den Nachlaß Schleiermachers einzugehn. Ich begriff sofort u. besprach das mit Usener, mit welchem ich Alles theilte, wie wichtig für meine Arbeiten eine moderne Analogie sein müsse; hier könnte doch allein aus zureichenden Quellen durchschaut werden, was man in der ältern Zeit diviniren müsse. Als daher Jonas starb übernahm ich zugleich die Herausgabe der von ihm begonnenen Briefe u. die Lösung einer Preisfrage der Schleiermacher-Siftung: Verh[ältniß] der Hermeneutik Schleiermachers zur Geschichte der Auslegung in Philos[ophie] u. Theol[ogie].6 Hierdurch erhielt ich die äußeren Mittel, das Gymnas[ium] zu verlassen u. so zu leben. Denn obwol meine Eltern vermögend waren, hätte ich doch nicht mir abgewonnen, ins Ungewisse nur von ihren Zuschüssen zu leben. 1860 erhielt ich ‚in Anerkennung des umfassenden Studiums u. der Gründlichkeit der Untersuchung‘ den doppelten Preis,7 ich hatte mit wahrer Begeisterung den Einfluß der Schule Wolf[f]s, Baumgartens,8 dann der Göttinger, als eine Übertragung der englisch-französ[ischen] Methoden auf Deutschland untersucht. Ich sollte drucken lassen nach Wunsch der Commission, weigerte mich aber u. noch heute drängt Twesten,9 so oft er mich sieht auf den Druck der sehr weitschichtigen Untersuchung. 1861 habe ich dann den dritten Theil des Briefwechsels erscheinen lassen, in verstümmelter Gestalt, da die Familie den Abdruck meiner Einleitung über Schleiermacher u. Friedrich Schlegel nicht wollte. Im vierten kam dazu das Ergebniß meiner Nachforschungen über seine Recensionen, welches die Ausgabe seiner Werke vervollständigte. Das Verdienst des dritten Bandes zu würdigen, muß man bedenken, daß ich Koberstein noch nicht vor mir hatte, sondern unabhängig von seiner ‚vierten Ausgabe‘ arbeiten mußte.10 Die bloße Anordnung der Briefe Fr[iedrich] Schlegels, welche zum groß[en] Theil undatiert durcheinander lagen, war ein entsetzlich mühsames Geschäft. Von Anzeigen weiß

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ich mir nur noch die in d[er] damal[igen] Sternzeitung als näher eingehend zu erinnern. Aus der Abh[andlung], die damals nicht gedruckt ward, entsprang die Absicht eines Lebens von Schleierm[acher]. Aber in erster Linie nahm mich nun mittelalterliches Studium in Anspruch. Ich war zugleich bei Ranke in seinem Seminar, um seine Methode kennen zu lernen. Überhaupt ging ich nun sehr in die polit[ische] Gesch[ichte] ein, las die drei großen griechischen Historiker etc. und stand nun zwischen Geschichte (denn daß Kirchengeschichte eine Verschiebung des wahren historischen Gesichtspunktes sei, war mir nun ganz deutlich) u. Philosophie. Für Philos[ophie] entschied die Erwägung meiner eigentlichen Anlage, obwol meine bisher[igen] Studien mehr mit dem geschichtl[ichen] Stoff zu thun gehabt hatten, zugleich der Fortschritt welchen mein ursprünglicher Plan, Gesch[ichte] u. Philos[ophie] zu verbinden, mit den Jahren gemacht hatte. Ich hatte die große Freude, daß Trendelenburg, in Erinnerung m[einer] Betheiligung an s[einem] aristot[elischen] Seminar, lebhaft auf m[eine] Gedanken einging. So ging ich an eine Habilitationsschrift über den ältern Nominalismus. Die Nöthigung daneben, viele Handschriften zum 4ten Band zu lesen kam zu der Anstrengung. Ein Augenleiden zwang mich, ein halbes Jahr so gut als ganz auf Lesen u. Schreiben zu verzichten. In dieser traurigen Lage beschloß ich mich mit d[er] Promotion durch eine sehr oberflächliche Abhandlung über Schleiermachers Ethik abzufinden u. promovirte so in Berlin, alsdann diktirte ich die Untersuch[ung] über die Grundlagen der Ethik welche Sie kennen u. habilitierte mich damit 1864 oder 1865.11 Ich las dort12 Logik u. Geschichte der Philosophie. Als ich eben die ersten Kapitel des Schleierm[acher] geschrieben hatte kam die Berufung nach Basel, im vierten Semester meiner Univ[ersitäts]thätigkeit. – Dort in Basel begann ich mit Anthropol[ogie] u. Psychologie u. erhielt dadurch einen ganz neuen Anstoß. Joh[annes] Müller13 u. Helmholtz faßten mich völlig; ich hörte 1 Jahr durch die physiologischen Vorlesungen meines Freundes His und erhielt von ihm Anleitung im Präpariren. Erst im dritten Baseler Semester, schon nach Kiel berufen, gewann ich über mich, zu dem Schleierm[acher] zurückzukehren u. schrieb nun den größeren Theil des Bandes in einer ersten Fassung, gerieth aber in der leidenschaftlichen Absicht, diese Arbeit zu endigen in einen solchen Zustand, daß ich nach Italien geschickt wurde. Dort habe ich durch Studium der alten Kunst u. der Kultur der Renaissance meine Pläne zu fördern gesucht. Hier las ich dann zunächst wieder Wissenschaftslehre, alsdann die einzelnen Theile der Geschichte der Philosophie. Gelesen habe ich überhaupt: Logik als Wissenschaftslehre, Anthropol[ogie] u. Psychol[ogie], die verschiedenen Theile der Gesch[ichte] der Philosophie,

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dann eine sonderbare Vorlesung, von Schl[eier]m[acher]s System aus comparativ die andern Systeme zu erörtern – kleine Vorlesungen: Spinoza, Lessing, Schleiermacher etc. – mit besondrer Vorliebe habe ich immer philos[ophische] Übungen gehalten, weil Methode in diesen am besten mittheilbar ist. Beschäftigung mit Theorie der Musik erinnern Sie sich richtig. Ich habe ordentlich Generalbaß u. Compositionslehre studirt. Zahl der Zuhörer: in Basel hatte ich zwischen 1/3 u. 1/4 aller Studenten in meinen 2 großen Vorlesungen. Hier ist die Gesamtzahl der Immatrikulirten im Durchschnitt 160. Davon gehen 60 fast ganz ab, welche als Mediciner nur in den klinischen Anstalten leben, da sie in den letzten Semestern als Medic[iner] hier sind. Die philos[ophische] Fak[ultät] zählte zwischen 34 u. 38 Studir[ende]. Ich hatte in m[einen] großen Privatvorlesungen zwischen 33. 29. u. 20 Zuhörer fluktuirend. Ich glaube nicht daß irgend ein Dozent d[er] Philos[ophie] in Deutschland, Kuno Fischer etwa ausgenommen,14 eine größere Prozentzahl der Studirenden zu Zuhörern hat. U. zw[ar] z.B. jetzt habe ich in den Übungen u. a. 2 Physiker, einer der Assistent des Physikers etc. U. drauf lege ich auch allein Werth, daß ich bemerke, ich werde im Stande sein, meine Methode auf weiterforschende Schüler zu übertragen, wie ich hier schon beginne. Recensionen sind mir nur 2 größere vorgekommen. Ich sende sie unter Kreuzband15 und bitte zu berücksichtigen, daß ich nur diese Exemplare habe, sie mir also zurückzuschicken. Das wäre wol liebster Freund was auf Ihre Fragen zu antworten wäre. Meine mittelalter[lichen] Arb[ei]ten liegen ungenutzt übereinandergeschichtet: nichts davon ist erschienen. Die 2 Theorien, welche ich aus m[einen] physiol[ogischen] Studien mitgebracht habe sind noch unfertig und nichts davon je gesagt. Mit meinen Manuscripten wäre vielleicht Staat zu machen, mit dem was druckreif u. gedruckt worden leider nicht. – Gott sei Dank daß dies Sündenbekenntnis überstanden. Ich grüße Sie tausendmal. Wie oft wünsche ich Sie eben, da ich über den Philos[ophen] des 17. Jahrh[underts] brüte her. Große Freude macht mir, daß Sigwart, der Tübinger Prof[essor] d[er] Philos[ophie], den ich nie gesehn, meine Absichten versteht, mir schreibt, daß ich ein Vorbild der Gesch[ichts]behandlung der neueren Philos[ophie] geliefert – meine Methode völlig einsieht u billigt. Er hat an die philos[ophische] Zeitschrift von Ulrici, wie er mir kund thut, eine ausführl[iche] Anzeige geschickt, auf die ich sehr begierig. Tausend Grüße Ihr Dilthey

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Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 15; ein handschriftliches Transkript des Briefes von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 15; Erstdruck: JD, Nr. 151. 1 Scherer hatte vermutlich, um ihn der philosophischen Fakultät vorschlagen zu können, ein curriculum vitae D.s angefordert. 2 In JD: „eruieren“. 3 Im Original: „1834“. 4 Im Original: „17“. 5 In der von J.J. Herzog hg. Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche. Bd. 8 (Gotha 1857) publizierte D. die Artikel Lapsi (S. 200–201), Lerinum (S. 333–335), Llorente (S. 443–447), Leon (S. 452–454) und Lütkemann (S. 536–538). In Bd. 9 (Gotha 1858) erschien sein Artikel Marcion, Gnostiker und seine Schule (S. 25–39); WA (unter dem Titel Die Gnosis. Marcion und seine Schule) in: GS XV, S. 279–296. 6 Das Thema der Preisaufgabe der Schleiermacherschen Stiftung lautete im Jahr 1859: „Das eigentümliche Verdienst von Schleiermachers Hermeneutik ist durch Vergleichung mit älteren Bearbeitungen dieser Wissenschaft, namentlich von Ernesti und Keil ins Licht zu setzen“ (Original: Hs.; Evangelisches Zentralarchiv in Berlin, ZA 5134/09; Sign.: EZA 23/8). 7 Den Preis der Schleiermacher-Stiftung. 8 Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762): Philosoph, Schüler Wolffs. 9 A.D.Ch. Twesten war 1859/60 Mitglied des Kuratoriums der Schleiermacher-Stiftung. 10 K.A. Koberstein: Grundriß der Geschichte der deutschen Nationalliteratur. Leipzig 1827, 4. Aufl. 3 Bde. Leipzig 1847–1866. 11 D.s Habilitation war in Juni 1864. 12 In Berlin. 13 Johannes Peter Müller (1801–1858): Physiologe; 1826 a. o., 1830 o. Prof. in Bonn, 1833 in Berlin. 14 Kuno Fischer trugen seine Originalität und sein ausgeprägtes Selbstgefühl schon zu seinen Lebzeiten fast legendären Ruhm ein. 15 Postversand von Drucksachen zu ermäßigten Gebühren.

[341] Dilthey an Wilhelm Scherer Liebster Freund, Eine Zeile nur in großer Eile. Provociren Sie bei Prof. Lott getrost auf Drobisch’s1 Urtheil. Ich habe übrigens, in Beantwortung eines wahrhaft herzlichen Briefs,2 an ihn geschrieben und ihm die Sache dargelegt. Eine Verzögerung ist jetzt dadurch eingetreten, daß er mir inzwischen vorher noch einmal schrieb um zu wissen ob ich auch an Wien ernstlich dächte. Eben erst antworte ich ihm; in dem Ihnen bekannten Sinn, daß ich entschlossen bin mich durch eine einfache Gehaltsaufbesserung hier nicht halten zu lassen. Da nun also sein Brief an Lott sich wahrscheinlich etwas hinauszieht, zeigt sich wol als

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das Gerathenste daß Sie einfach bei Herrn Prof. Lott auf sein Urtheil über mich provociren, das dieser ja selbst extrahiren kann. Was sagen Sie zu Julian Schmidts Expektoration,3 welche (den einzigen Punkt mit Herder betreffend ausgenommen) nur sein ganz ungegründetes Urtheil gegen meine Darstellung stellt, der ohne Ahnung von Composition objektiver Werke, an falschen Stellen von mir Urtheil verlangt, dagegen meine Methode ein philos[ophisches] System genetisch mit allen Mitteln der Kulturgesch[ichte] u. handschr[iftlichen] Überlief[erung] zu erklären auch gar nicht berührt! Noch soll ich auf den ersten verwandten u. verstehenden Laut warten, der mir antwortet. Mit tausend Grüßen. Ich lese eben die englisch[en] Philos[ophen] in Einer Serie. Wenn ich Sie doch dabei hätte! Von Herzen

Ihr Dilthey

Kiel 20 Mai 1870. Drobisch schreibt, das Minister[ium] in Wien denke an Kuno Fischer. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 14; ein handschriftliches Transkript des Briefes von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 14; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 152. 1

Moritz Wilhelm Drobisch (1802–1896): Philosoph und Mathematiker; 1826 a. o., 1842 o. Prof. für Philosophie und Mathematik in Leipzig. – Lott und Drobisch waren beide Anhänger der Lehre Herbarts. 2 Dieser und die im Folgenden erwähnten Briefe sind nicht überliefert. 3 Vermutlich eine Rezension J. Schmidts von D.s Leben Schleiermachers, die nicht nachgewiesen wurde.

[342] Johann Gustav Droysen an Dilthey Berlin, 29. Mai [18]70 Verehrter Freund. Meinen herzlichsten Dank für Ihren Schleiermacher; vorerst nicht mehr als Dank da ich noch [nicht] dazu gekommen bin ihn zu lesen, aber zugleich den Glückwunsch, daß Sie die große Arbeit so bald haben weiter führen können. Ich hatte, und nicht bloß um dieser Arbeit Willen, Besorgniß als Sie in ihren Kieler Anfängen mit ernstlichem Leiden unterbrochen wurden; nun ist

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der Beweis da daß Sie in alter Frische und Lust sich regen u. tummeln können. Wie sehr thun unsern Universitäten solche Kräfte und Gaben noth, viel viel mehr als wir daran haben. Trendelenburgs Erkranken hat auch unserer Universität1 eine Mahnung seyn müssen, daß sie nichts weniger als auf lange hin ausgesorgt hat. Und wenigstens in During2 wächst uns nicht eben eine große Hoffnung zu, es müßte denn die Aufgabe Ihrer Wissenschaft sein sich mit aller Manier platt an die Erde zu legen oder lieber noch sich selber den Hals abzuschneiden. Leider ist hier unverkennbar eine gewisse Neigung unter den Studirenden, solche allermodernste und allerbequemste Einsicht utiliter zu acceptiren. Sollten Sie Usinger sehen, so grüßen Sie ihn und danken Sie ihm für das Programm das er mir zugesandt. Sie aber wollen fortfahren mich in freundlicher Erinnerung zu behalten, wie ich mit voller Herzlichkeit bin und bleibe Ihr ergebner Joh Gust Droysen Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 k. 1

J.G. Droysen lehrte seit 1859 als Ordinarius in Berlin. Eugen Karl Dühring (1833–1921): Philosoph, Jurist und Nationalökonom und wie D. ein Schüler Trendelenburgs; 1864 Habilitation in Berlin. Bis ihm 1877 „wegen zu heftiger Angriffe auf berliner Professoren“ (F. Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie der Neuzeit. Hg. von M. Heinze, 8. Aufl. Berlin 1888, S. 497) die venia legendi entzogen wurde, fristete der fast gänzlich erblindete Dühring 13 Jahre lang sein Dasein als unbesoldeter Privatdozent in Berlin. 2

[343] Dilthey an Wilhelm Scherer Kiel, d[en] 2ten Juni 1870 Liebster Freund, Umgehend spreche ich Ihnen meinen innigsten Dank für das aus, was Sie mir schreiben. Es ist wunderbar, aber Ihr Brief,1 der für mich eine Niederlage enthält, macht mir einen frohen Tag. Denn ich kann nach meiner Denkart die Gesinnung von Menschen, denen gegenüber ich so empfinde, wie gegenüber Ihnen, nie anders als weit über jede äußere Lebenslage stellen. Dazu bin ich fest überzeugt, daß Zeller nicht von Heidelberg weggeht: Sie verhelfen ihm eben nur zu einer Zulage. Halten Sie also nur fest, daß nicht durch Einmischung irgend einer gegens[eitigen] Mißstimmung man sich bewogen fin-

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det einen dritten dazwischenzuschieben: alsdann bin ich durchaus nicht hoffnungslos. Des nachdrücklichsten Interesses von Drobisch bin ich gewiß. Diese[s] können Sie ruhig in Ihre Rechnung aufnehmen. Daß Sie mein Buch anzeigen wollen, freut mich unbändig.2 Es thut ihm sehr Noth, daß jemand sage, was meine objektive Enthaltsamkeit sich versagt hat, daß sein Plan ist einen Denker aus einer wesentlichen Richtung einer Kulturepoche durch exakte Erforschung der genetischen Reihen zu erklären, daß die andre Seite dieses Plans sein muß, schließlich den Werth seiner Lebensu. Weltansicht einerseits scientitisch zu prüfen, andrerseits aber durch Bestimmung der Stellung, welche die Willens- u. Gemüthsrichtung dieser Kultur in dem Ganzen der europäischen Entwicklung einnimmt: davon merkt keiner dieser Kritiker (von denen aber nur J. Schm[idt] abspricht) irgend etwas. Erkläre ich erst Welt- u. Lebensansicht wirklich aus dem Innenleben von Kulturrichtungen, alsdann muß ich natürlich auch mit meiner Bestimmung ihres Werthes kritisch zu diesen aufrücken u. so die wissensch[aftliche] Kritik ergänzen. Daher wird die große u. mühsame Objektivität, in der ich Allem gerade den Werth beilegte in Schl[eiermacher]’s Leben, den er u. die Mitempfindenden darin sahen, so leicht mißkannt; nur meine Freunde wissen, daß ich Hume morgen dieselbe gönnen würde u. daß die schließliche Werthbestimmung nur das Ergebniß sein kann. Übrigens bin ich eben an einer Arbeit, die dies gut illustriren kann. Ich untersuche die Stellung, welche die Affektentheorie in dem 17 Jahrhundert eingenommen hat, ihre verschiedenen Formen bis zum Abschluß in Spinoza (wobei schöne neue Funde, die auf Spinoza’s Entw[icklung] Licht werfen), ihre Stellung zu der polit[ischen] Theorie, Praxis etc. der Zeit, ihren Werth als des wahren Anfangs, Naturgesetze des Geistes in größerem Styl, angeregt von der Durchführung der Mechanik in den Naturerscheinungen, durchzuführen. Sagen Sie ja Niemandem etwas davon: ich hoffe in einem Vierteljahr die Abhandlung gedruckt zu sehen3 u. so diese Methode an andr[en] Beisp[ielen] zu zeigen. Es ist höchst instruktiv, wie ihr dann die Einführung der Theorie des Mitgefühls folgt, welche gleichzeitig mit dem sentimentalen Roman u. Drama u. mit der sentimentalen Philosophie ist. Auch die Theorie der Ethik überlege ich täglich. Ich bin eben in einer wahrhaft innerlich rastlos arbeitenden Zeit, da ich von der Leine der weitschichtigen Arbeit einige Monate losgelassen bin. Erdmannsdörff[er] wird Sonntag kommen, bei mir u. Lotte die Ferien zuzubringen. Er wird ordentlich mit seiner Kenntnis des 17 Jahrh[un]derts herhalten müssen.4 Die Differenzen zwischen uns rücksichtlich der Rel[igions]theorie werden sich wahrscheinlich im zweiten Bande, durch dessen Ausführungen, wesent-

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lich mindern. Die Ehefrage kann ich nicht anders als im Zusammenhang mit dem Werthe fester Sitten des Familienlebens für gesunde Staaten betrachten, bin aber sehr begierig, wie Sie das Übergewicht einer andren Maxime begründen werden. Hätten Schl[eiermacher] u. El[eonore] G[runow] beide die höhere Maxime nicht gehabt u. aus Feigheit etc. die Scheidung gemieden, so hätten Sie aus ihrer Zeit heraus unsittlich gehandelt. Aber Eleonore besaß dieselbe, obwohl in einer unklaren relig[iösen] Anschauung.5 Doch ich komme ins Plaudern. Noch einmal danke ich Ihnen tausendmal für das, was Sie gethan u. geschrieben. Von Herzen der Ihre Wilh. Dilthey Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 16; ein handschriftliches Transkript des Briefes von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 16; Erstdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 153. 1

Nicht überliefert. Eine Rezension Scherers von D.s Leben Schleiermachers erschien am 3. September 1870 in: Die Presse, Nr. 243. 3 D.s Arbeit über die Affektenlehre erschien erst 1904 im Zusammenhang einer größeren Abhandlung über Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts 1904 in den Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der Wissenschaften, S. 2–12 und S. 316–347; WA in: GS II, S. 416–492. 4 Im Sommer 1869 war gerade Erdmannsdörffers Buch Graf Georg Friedrich von Waldeck. Ein preußischer Staatsmann im 17. Jahrhundert erschienen, welches ihm nach Meinung Treitschkes „einen festen Platz unter unseren Historikern verschafft“ hatte (zitiert in: H. Lilienfein: Biographisches Geleitwort zu B. Erdmannsdörffer: Kleine historische Schriften. Hg. von H. Lilienfein. Bd. 1. Großenwörden/Nieder-Elbe 1912, S. XI). 5 Eleonore Christiane Grunow (1769 oder 1770–1837), die mit einem Berliner Prediger unglücklich verheiratet war, war Schleiermachers große Liebe. Er riet ihr, sich von dem ungeliebten Ehegatten scheiden zu lassen. Doch da Eleonore es für unsittlich hielt, ihre vor Gott geschlossene Ehe aufzulösen, litt und zauderte sie jahrelang und ließ Schleiermacher im Ungewissen. Letzendlich entschloss sie sich, doch in ihrer Ehe auszuharren. – In den im Jahre 1800 anonym erschienenen Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels ‚Lucinde‘ setzt sich Schleiermacher mit seinem und Eleonores damaligem persönlichen Schicksal auseinander. – D. schreibt darüber im 1. Band des Leben Schleiermachers, bes. 2. Buch, Kap. 12, S. 468 ff.; WA in: GS XIII/1, bes. S. 480 ff. 2

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[344] Heinrich von Treitschke an Dilthey Heidelberg 12. 6. [18]70. Geehrter Freund, Nur1 kurze Anfrage mit der Bitte um sofortige Antwort. Als ich auf der Heimreise Haym in Halle traf, riet er mir, Lucä in Marburg zu litterarhistorischen Aufsätzen für die Jahrbücher aufzufordern, vielleicht könne L[ucä] auch Hayms Romantik für uns besprechen.2 Ich folgte dem Rate, hab’3 aber noch keine Antwort. Nun schickt mir Haym, der jene Sache inzwischen vergessen zu haben scheint, soeben sein Buch und bemerkt dazu, Sie würden wahrscheinlich einen Essay darüber in die Jahrbücher schreiben. Selbstverständlich wäre mir dies lieber als ein Aufsatz von Lucä; ich bitte Sie aber, mir sofort zu schreiben, ob Sie wirklich diese menschenfreundliche Absicht haben, damit ich Lucä noch rechtzeitig benachrichtigen kann.4 – Ich habe bewegte Tage hinter mir. Meine arme Frau war sehr krank, aber nach einigen Tagen, die das Schlimmste fürchten liessen, trat plötzlich die Genesung ein, die jetzt sehr rasch fortschreitet. Auch mein kleiner Kronprinz, der all dies Unheil verschuldet hat, ist leidlich wohl.5 Erzählen Sie das Fr[äu]l[ein] Lotte und sagen Sie ihr, ich könne ihr nicht gram sein, denn schon ihr Oheim Dahlmann habe das Wort gesprochen: „Niemand ist verpflichtet ein grosser Mann zu sein“. Sie hat mir nämlich in Berlin die Mittheilung eines verhängnißvollen Aktenstücks versprochen (lassen Sie sich die Geschichte von ihr selbst erzählen). Ich war damals, ehrlich gestanden, selbst überrascht über die Kühnheit dieses Versprechens und wundere mich nicht, daß schließlich das Weib in ihr doch stärker ist als der Patriot.6 In der neuesten Jahrb[ü]che[r] Nr. steht ein Brief, der dringend um Nachsicht bittet.7 Ein unglaublich konfuser Kerl (Gott weiss wer es sein mag) hat mich durch alberne Briefe in der Weserzeitung in die peinliche Lage gebracht wie die Katze um den Brei herumzulaufen. Natürlich würde ich den Augenblick mit Jubel begrüssen, wo es möglich sein wird Laskers Leben8 und Genossen mit einem Fusstritt zu den Fortschrittlern hinüberzuwerfen;9 aber da diese ersehnte Stunde frühestens im Herbst schlagen kann, so darf ich meine frommen Wünsche doch nicht schon jetzt an die grosse Glocke hängen. Vielen Dank an Usinger und Ribbeck für ihre akademischen Schriften. Mit bestem Gruß Ihr Treitschke

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Original: nicht überliefert; ein handschriftliches Transkript dieses Briefes von fremder Hand mit Ergänzungen von der Hand G. Mischs ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o; zwei Typoskripte mit hiervon und untereinander abweichender Schreibweise sind hinterlegt in: StB PK Berlin, HA, Treitschke-NL, K 15, Nr. 26, 1–3. 1

In den beiden Berliner Typoskripten statt „Nur“: „eine“. Karl Lucae (1833–1888): Germanist; seit 1868 o. Prof. in Marburg. – R. Hayms Die romantische Schule war gerade in Berlin erschienen. 3 In den beiden Berliner Transkripten: „Rath, habe“ bzw. „Rathe, habe“. 4 Eine Besprechung D.s von Hayms Buch kam nicht zustande. 5 Treitschkes Sohn Otto war am 11. Mai 1870 geboren worden. 6 In der Göttinger Briefabschrift ist von den beiden letzten Sätzen der erste durchgestrichen worden, der zweite fehlt. 7 H. v. Treitschke: Nochmals die Briefe der Weser-Zeitung, in: PJ 26 (30. Juni 1870), S. 104–107. – Bereits PJ 25 (5. Juni 1870), S. 691–696, enthält einen thematisch gleichen Beitrag Treitschkes An den Briefschreiber der Weser-Zeitung. 8 In den beiden Berliner Transkripten: „Laskerleben“. 9 Der liberal-konservative Treitschke stand E. Lasker, der zum linken Flügel der Nationalliberalen Partei gehörte, feindlich gegenüber. 2

[345] Dilthey an Heinrich von Treitschke Klein Elmeloo [nach 12. Juni 1870] Lieber Freund, Ich habe mich vor meinen beänstigenden Folianten auf ein paar Stunden, bis meine vortrefflichen Holstenknaben zu den philos[ophischen] Übungen kommen, hierher gerettet. Fräul[ein] Hegewisch ist verreist. Ich erfreue mich hier an dem menschenhassenden Hobbes, einem meiner Lieblingsschriftsteller u. nutze einen Moment Ihnen zu antworten. Hayms Buch will ich also übernehmen. Daß er das meine bespricht,1 haben die Jahrbücher gegen meinen ausdrücklichen Wunsch angeordnet. Ich bin Haym sehr dankbar für das lebhafte u. anerkennende Interesse welches er meinem Buch entgegenbringt. Aber ich fürchtete – u. nicht ganz ist meine Befürchtung geschwunden – daß eine Besprechung seinerseits mich in eine Diskussion verwickelt, welche mir äußerst fatal ist. Einmal bin ich ohnehin froh endlich die Wilh[elm] Schlegels, Novalis u. die ganze Gesellschaft los zu sein u. hoffte, es sollte auf Lebenszeit sein. Dann aber ist das Leben zu kurz, über Abweichungen zu streiten, deren ausführliche Entwicklungen ja nebeneinan-

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derstehn. Die Befürchtung minderte sich, da ich die überwiegende Übereinstimmung unsrer Ergebnisse sah. Ganz geschwunden ist sie freilich nicht; ich habe Haym offen meine Wünsche geschrieben.2 Verleihe der Himmel daß sein kampfgerüstetes Herz mir meine selige Beschäftigung mit den geliebten Philos[ophen] des 17 Jahrunderts – ich schließe eben eine Untersuchung über Spinoza ab – u. dann mit dem 2ten Theil nicht verkürze, und sich also der Polemik entschlage. Dagegen zeige ich außerordentlich gern sein Buch an. Denn es ist eine vortreffliche Leistung, welche die Erkenntniß der Epoche sehr wesentlich fördert; die meisten Ergebnisse sind mit meinen einstimmig; eine Reihe anderer Punkte besonders der ausgezeichnete lange Abschnitt, gehören erst der Aufgabe meines nächsten Bandes an u. erweitern das Material sehr schön. Ich hätte also das Buch doch für den 2ten Band durcharbeiten müssen, mich wird freuen das Ergebniß davon Haym dadurch zugleich nützlich zu machen, indem ich sein Buch dem Publikum der Jahrbücher vermittle auf eine gründliche u. objektive Weise. Ich habe seit meiner Zurückkunft, der ewigen Schleierm[acher]manuscripte müde, eine Untersuchung plötzlich begonnen, die mich mit Ihnen in die angenehmste Berührung setzt. Sie betrifft eine gewisse Grundlage der polit[ischen] Theorien des 17 Jahrhunderts, besonders bei Spinoza. Wenn noch einige Funde glücken, wird sie bald fertig sein. Sie soll zugleich meine Methode des ersten Bandes erläutern: denn während freilich meine Freunde wie Scherer usw. sich durch die objektive Versenkung in eine Kulturrichtung nicht zu voreiligen Schlüssen verleiten lassen: habe ich den Spaß u. den Ärger, daß alle Welt glaubt, ich trüge sämmtliche Schmerzen Schleiermachers auch in meiner weichgeschaffenen Seele. Diese Arbeit hier ist mir nun sehr durch Ihren Aufsatz über die Niederlande3 gefördert worden. Ich habe Ihnen, glaube ich, überhaupt noch nicht meinen Dank für diese Bände4 ausgesprochen, wie ich ihn empfinde. Sie haben vor allen Historikern der unsrigen, wie d[er] etwas älteren Generation, Kraft des Anschauens u. allseitiges selbständiges positives Nachdenken und Wissen – in Staatswissenschaften und Literatur – voraus. Sie sind von der Beschäftigung mit den Sachen, nicht von der mit der Behandlung der Quellen ausgegangen. Diese Richtung bestimmt Sie auch, überall Land u. Menschen zu sehen – u. dann zu schreiben. Hierdurch sind Sie mir der liebste unter allen Historikern seit Ranke, u. ich lebe auch d[er] Hoffnung daß Sie Alle übertreffen werden seit diesem. Diese Ihre eigentliche Basis wird in allen öffentl[ichen] Äußerungen übersehen u. ich erspähe nur die Gelegenheit (da ich über polit[ische] Geschichte als solche zu sprechen kein Recht habe) dies einmal gründlich zu sagen. Von hier ab ist in Ihren Ausführungen gemischt, was mir höchst werth u. lehrreich u. was mit meiner wissen-

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schaftlichen Art schwer zusammengeht. In ihrer Form ist nächst der Naturgabe großer Anschaulichkeit die Kunst der Verdichtung des Stoffs bis zu großer Prägnanz u. die Aufnahme Allen Stoffes und seiner Gruppierung durch einen bewegten u. starken Willen, sodaß Alles von Affekt durchdrungen u. gesteigert ist. – Diese Form entspringt aus Ihrer historischen Grundansicht. – Über diese müßte ich einmal ausführlich mit Ihnen sprechen können. Ich will nur die Richtung meiner Gedanken andeuten. Der Kampf der politischen Partheien ist eine Mechanik von Kräften, deren jede in der breiten Grundlage eines Bedürfniskreises seine Macht u. sein Recht hat. Zunächst ist gefährlich hier die Gesinnung zu viel einzumischen. Ich liebe zB. die Oranier; mein Geschlecht hat Jahrhunderte lang ihre Schicksale getheilt, Abkömmlinge desselben sind mit ihnen nach England in Waffen gezogen, als hartgesottene Reformirte, als Juristen u. Prediger haben dann meine Vorväter im Lahnthal gelebt. Aber ich glaube nicht, daß man Staatsgesinnung oder etwas dem Gegentheil Ähnliches zwischen die Niederländ[ischen] Partheien vertheilen darf, sondern die Vertreter des höchsten Bedürfnisses der Staatsvertheidigung zeigen die ähnlichen Mischungen von Machtbedürfniß und Beweggründen, die das Ganze im Auge haben, welche die Parthei der materiellen u. geistigen Kultur zeigt. – Auch glaube ich nicht daß blos die letztre zu kurzsichtig war – die erstere wird stets zu weitsichtig sein, d.h. das Interesse der Kultur vertagen auf die goldne Zeit wann das der Vertheidigung ganz gesättigt ist. – Daher scheint mir nicht historisch, die Interessenten der Versammlung aller Kräfte in dem einheitlichen Zwecke der Staatsvertheidigung überall für die Patrioten, die weise Ausschauenden, die ächten Politiker zu erklären. Man kann nur gegenüber den Friedens- Handels- und Wissenschaftsaposteln sagen, daß sie nothwendig waren zu jeder Zeit etc. Aber der Historiker kann sich auch nicht mit ihnen identificiren: denn sie würden die Staaten zu waffenstarrenden Burgen gemacht haben in gegenseitiger Steigerung. – Mir scheint die Wahrheit so einfach, daß der verhältnißmäßig gute Zustand erhalten, der bessere herbeigeführt wird durch eine Mechanik, in welcher die Interessen der verschiedenen Kultursysteme sich gegenseitig einschränken. – Was folgt daraus für das polit[ische] Urtheil? In jeder Lage dieses Kampfes der Kräfte wird 1) jede, welche wirklich ein berechtigtes Interesse vertritt, als solche anerkannt werden müssen. Würden wir ohne die Demokratie eine Verfassung haben? Glauben Sie daß das Königthum je vor den Mittelpartheien auch nur Achtung hätte, stünde nicht die Parthei des Acheronta movebo5 dahinter? Das ist für uns als Politiker zu beachten nicht nothwendig; aber der Historiker muß es anerkennen. – Würden die herrschenden Oranier den milden für Europa wichtigen Arminianismus, den Fortgang der europäisch[en] Wissenschaft und Denkfreiheit, um dessenwillen die Niederl[ande] doch auch ein wesentli-

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ches Glied europ[äischer] Gesch[ichte] sind, bewirkt haben? Es ist kein Zufall daß die großen Schriftsteller des Landes zu der republik[anischen] Parthei standen. 2) Das geschichtliche Urtheil wird, diese Mechanik der Kräfte anerkennend, erst tadelnd eingreifen dürfen, wo eine Parthei das wahre Interesse eines Systems in der Kultur fälscht – oder wo sie mit ihrem berechtigten Bedürfniß, mit den aus ihm nothwendig folgenden Mitteln der Selbsterhaltung gar nicht streitende, von der Zeit als nothwendig verstandene Interessen andrer Kultursysteme frevelhaft angreift. – Hierzu bemerke ich, daß der Satz falsch ist, das Verteidigungssystem, als Ausdruck der Selbsterhaltung, habe das Recht bis es den Sättigungspunkt erreicht habe jedes andre System der Kultur zu verletzen. Dieser Gedanke, in die Geschichte eingeführt, würde ihr Verständniß aufheben. Von geschichtlichem Urtheil scheide ich völlig die politische Beurtheilung der Gegenwart. Diese beruht ja auf der hinzutretenden Erwägung wie man selber in das gegenwärtige Verhältniß der Kräfte eingreifen wolle, es zu reguliren. Da glaube auch ich, daß Preußen Militärstaat bleiben soll, mit starker monarchischer Einheit, u. daß es mit dem Segen auch alles Unheil einer solchen Lage eben tragen muß. Ihr Aufsatz über das Königthum6 ist mir daher als politischer Willensausdruck ganz conform. In diesem Sinn auch das über den Krieg d. h. er ist uns nöthig. Als allg[emeine] Wahrheit gedacht, unterliegen diese Sätze der Schwierigkeit daß es frevelhaft erscheint, ein so ungeheures Quantum furchtbarer Schmerzen, die andre aushalten sollen, für nothwendig zur moral[ischen] Entwicklung des Menschengeschlechts zu erklären. Aber Ihre Sätze sind eben auch agw´nisma.7 – So bin ich ins Plaudern gerathen. Möge vor Allem Ihre verehrte Frau bald ganz gesund sein. Empfehlen Sie mich ihr bestens. Wenn Sie Zeller sehen, so grüßen Sie ihn; ich danke ihm sehr für seinen freundlichen Brief 8 u. hoffe ihn im Herbst zu sehen. In herzl[icher] Neigung Ihr Dilthey Original: Hs., StB PK Berlin, HA, Treitschke-NL, K 5, Nr. 129, 8–10; Erstdruck: JD, Nr. 154. 1

R. Haym: Die Dilthey’sche Biographie Schleiermachers, in: PJ 26 (1870), S. 556–604. Nicht überliefert. 3 Die Republik der vereinigten Niederlande, in: PJ 24 (1869), S. 43–101 und S. 191–255; aufgenommen in: Historische und politische Aufsätze. N.F. 2 Theile. 2. Theil, a. a. O., S. 495–634. 4 Für Treitschkes Historische und politische Aufsätze. N.F. 2. Theile, a. a. O. 5 Vergil: Aeneis VII, 312: „Flectere si nequeo superos; Acheronta movebo.“ (Kann ich die höheren Mächte nicht beugen, bewege ich doch die Unterwelt.) 2

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Dilthey an Heinrich von Treitschke

6 Das constitutionelle Königthum in Deutschland, in: Historische und politische Aufsätze. N.F. 2 Theile. 2. Theil, a. a. O., S. 747–858. 7 Kampf. 8 Nicht überliefert.

[346] Dilthey an Herman Grimm [Kiel, Ende Juni 1870] Lieber Freund, Ihr Kranksein erschreckt mich. Fügen Sie sich um’s Himmelwillen nicht, sondern thun Alles was dienen kann, Sie wieder völlig herzustellen. Anfängen ständiger Leiden gegenüber muß man glaube ich Alles thun sie auszurotten. Für Ihre Anzeige1 haben Sie meinen besten Dank; sie wird nicht nur gut wirken, sondern ich habe sie auch mit großem Vergnügen u. zu meiner Belehrung gelesen, was einem selten genug passirt. Merkwürdig war mir, da Sie selber im M[ichelangelo]2 den Zusammenhang der Gesellsch[aft] mit der bildenden Kunst zuerst an einem hervorragenden Fall zu voller Darstellung gebracht, daß mein methodisches Verfahren die Faktoren der Gesellschaft etc. und andrerseits der Philos[ophie] zu verknüpfen Sie nicht zu einer Erörterung gereizt hat: gerade hierüber hätte ich so gern von Ihnen etwas vernommen und die Renaissance hat die interessanteste Analogie. Über die Köln[ische] Z[eitung] schreiben Sie gar nichts; es läge mir sehr am Herzen daß dort eine ordentliche Besprechung erschiene;3 wenn sich Ihnen dazu Gelegenheit bietet es zu vermitteln wäre mir’s sehr erwünscht. Ich brüte noch über der weitschichtigen Litt[eratur] der Philos[ophie] 17 und 18 Jahrh[undert]. – Der Gang meiner großen Arbeit ist mir in diesem Sommer aus den Quellen ganz klar geworden; käme sie zu Stande wie sie mir vorschwebt! Sie könnte für das Stud[ium] der neueren europ[äischen] Geschichte ein Eckstein werden. Aber was ich bedarf, eine große Bibl[iothek] u. eine Einnahme die große Reisen ermöglicht, weigert mir vielleicht das Schicksal in meinen besten Jahren, nachher kann es mir gestohlen werden. Im Übrigen bin ich mit meinen Studenten hier ganz behaglich. Der Sommer ist eben erst erschienen u. ich bin entschlossen, nachdem ich die letzte Zeit sehr fleißig gewesen ihn zu genießen. Mancherlei Veränd[erungen] stehn übrigens hier wol bevor. Weinhold kommt doch vermuthlich nach Heidelberg.4 Usinger wird auch bei den bevorst[ehenden] Veränderungen sei es nach Halle oder sonstwohin wol kommen.5 Von mir heißt es, ich sei in Breslau vorgeschlagen neben Überweg u. Haym; ich kenne dort niemand, habe

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daher keine Silbe davon gehört. In Wien sind in alphabet[ischer] Ordnung, ohne Verschiedenheit der Betonung, Baumann in Gött[ingen], Zeller in Heidelb[erg] u. meine werthe Person vorgeschlagen.6 Wäre nicht Scherer, dessen freundschaftliche Gesinnung mehr Freude gemacht hat als jeder Vorschlag der dortigen Fakult[ät] könnte: so ließe der Gedanke einer neuen provisorischen Lage mich gänzlich kühl u. indifferent. Lotte Hegew[isch] u. Frl. v. W[itzleben] lassen Sie schönstens grüßen u. sich Ihrer Frau empfehlen. Groth ebenso; er ist jetzt im Druck mit seinem neuen Band Erzähl[ungen] u. Gedichten.7 Unter uns: denken Sie, die Familie der Frau hat in diesem Winter Unglück gehabt u. so sieht er sich – auf seinen Gehalt von 800 r. (Pension, nicht Professur) reducirt!8 Dieser Gehalt wird aus e[inem] Schl[eswig] Holst[einischen] Fond bezahlt. Könnte nicht die Königin oder Kronprinzessin etwas thun mit e[iner] Pension? Es würde doch auch guten Eindruck machen, wenn der Dichter des neuen Landestheils,9 der so volksthümlich ist, u. damit der Landestheil selbst einen Beweis von näherem Interesse erhielten. So kann er nicht leben. Er ist außerordentlich gedrückt; er u. seine Frau leidend. Selbst Geld zu verdienen hat er gar keine Gabe. Die hochdeutsche Prosa leicht u. glänzend zu handhaben fehlen ihm die Vorbedingungen. Erwägen Sie das Angegebene in Ihrem edlen Gemüthe. Erdm[annsdörffer]’s Sache beschäftigt mich ungeheuer wie Sie denken können. Wäre doch Usingers Weggang irgend sicherer, so müßte er auf Kiel fallen. Die Prof[essoren] sollen in Gr[ei]fsw[ald] zu scheußlich sein. Usinger wird ihm über Gr[ei]fsw[ald] schreib[en] oder geschr[ieben] haben.10 Sagen Sie ihm doch: Usinger erwartet von Waitz in den nächsten Tagen einen Brief über den ganzen Vorgang. Ergiebt er das Geringste mehr Sichere, so schreibe ich sofort. Leben Sie wol lieber Freund – und verschwinden Sie auf keinen Fall aus Friedrichsfelde,11 ohne eine Route Ihrer Reisen im August u. September zu hinterlassen. Wer weiß wie man sich begegnen könnte! Vergessen Sie weder dies noch Ihren Freund Wilhelm Dilthey Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Brief 921. 1 H. Grimms Rezension von D.s Leben Schleiermachers, in: Die Grenzboten 29, 2. Jg., 2. Semester, 1. Bd. (Leipzig 1870), 3. Vierteljahr, S. 1–8. 2 H. Grimm: Michelangelo. Sein Leben in Geschichte und Kultur seiner Zeit, der Blütezeit der Kunst in Florenz und Rom. Berlin 1867. 3 Eine Rezension in der Kölnischen Zeitung kam offenbar nicht zustande. 4 Der Germanist K. Weinhold ging nicht nach Heidelberg. 5 R. Usinger blieb in Kiel.

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6 Das Professorenkollegium der philosophischen Fakultät der Universität Wien schlug am 2. Juli 1870 für die Neubesetzung des Lottschen Lehrstuhls vor: an erster Stelle E. Zeller, damals in Heidelberg, und an nächster Stelle gleichwertig J. Baumann (Göttingen) und D. – Die Verhandlungen mit Zeller blieben erfolglos. Das Wiener Ordinariat blieb für weitere eineinhalb Jahre vakant (AUW: UA 61/1309–02). 7 K. Groths Quickborn. 2. Theil: Volksleben in plattdeutscher Dichtung ditmarscher Mundart erschien 1871 in Leipzig. 8 1866 war Groth der Professorentitel für deutsche Sprache und Literatur verliehen worden. Sein Jahresgehalt betrug 600 Taler, wurde aber 1871 auf 1200 Taler erhöht. 9 Schleswig-Holstein war nach dem preußisch-österreichischem Krieg 1866 zu einer preuß. Provinz geworden, nachdem zuvor seit dem Ende des deutsch-dänischen Krieges Schleswig unter preußischer und Holstein unter österreichischer Verwaltung gestanden hatten. 10 B. Erdmannsdörffer erhielt im Dezember 1870 einen Ruf als o. Prof. der Geschichte nach Greifswald. – Usinger hatte dort von 1865 bis 1868 gelehrt, bevor er 1868 einem Ruf nach Kiel gefolgt war. 11 Ortsteil von Berlin.

[347] Dilthey an Hermann Usener [Ende Juni 1870] Liebster Hermann, hier 2 Briefe Scherers.1 Wie denkst Du über die Sache? Es heißt hier, ich sei auch unter den in Breslau Vorgeschlagenen, ich selbst habe gar keine Kunde von dem was dort vorging da ich dort keine Seele kenne. Wäre es der Fall, so würde sich wol dann die Möglichkeit ergeben, bei der Regierung Breslau [Auskunft] erlangen. Aber mich zieht gar nichts dorthin u., einmal da, würde ich wol da mindestens 1/2 Dutzend Jahre verfilzen müssen, wahrscheinlich da bleiben. Wogegen Wien der Weg ist, meine wirkl[ichen] Wünsche, deren eigentlichster Bonn ist u. bleibt, durchzusetzen. Die letzte Chance ausgenommen, lassen mich Berufungsangelegenheiten gänzlich auf eine mir selbst unbegreifliche Weise kalt. Ich bin in einer sehr schönen Arbeit über Spinoza; leider occupiren mich die Vorlesungen nun wieder seit Wochen ganz u. gar. Schleierm[acher] scheint buchhändlerisch gut zu gehen, sodaß es mit großer Wahrscheinlichkeit in einigen Jahren zu einer neuen Auflage kommt, welche dann Gelegenheit geben wird, aus dem Ganzen noch gedrungener u. doch unvergleichlich klarer zu gestalten. Im Übrigen lebe u webe ich in dem großen geschichtlichen Plan, zu dem der Spinoza eine höchst interessante Vorarbeit würde in der ethischen Untersuchung. Das Wichtigste wäre, die Berufungssachen brächten einen Urlaub von 2 Wintern, Einen um in Berlin in Archiv und Bibliothek mit Einem Ruck den 2ten Band zu machen; Einen um in Italien den

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Dilthey an Hermann Usener

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Grund zu einem gewissen ersten Band zu legen, der schöner wird als Du imaginiren kannst. Ich denke zwischen 7 u. 10ten zu kommen. Sage doch Bona (aber vergiß es nicht) ich schlöße den 6ten u. hätte eigentlich vor den 7ten zu reisen. Könne er den 1ten von Bonn weg, so sei das für unser Zusammentreffen das Einzige, was ein längeres Zusammensein garantire. Tausend Grüße an Lili[,] Marie[,] Stimbes, die Kleine Dein Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 m. 1

Die zwei erwähnten Briefe Scherers liegen dem Original nicht bei.

[348] Dilthey an Wilhelm Scherer Tausend Dank lieber Freund für die Nachrichten vom Verlauf der Begebenheiten1 u. die Bitte: Lassen Sie um des Himmels willen Alles einfach bei dem Commissionsbeschluß. Ich möchte um keinen Preis, daß Sie um meinetwillen sich im Plenum ärgerten. Ich habe erleben müssen, daß als Usener die Überzeugung in Bonn leidenschaftlich geltend machte, ich würde dort mehr wirken als Bona Meyer, die halbe Universität glaubte, dies seien Intriguen eines Freunds u. Verwandten u. daß er unter diesen Vorgängen tief gelitten hat. Ich möchte nicht daß um meinetwillen ein Freund auch nur einen bittren Tag hätte u. es ist mir leid genug, daß Sie so schon Ärger von einem Vorschlag hatten, der aus Ihrer Überzeugung entsprang.2 Den Beschluß finde ich billig u. recht. Zeller kommt eine Genugthuung zu, welche nur die Abneigung der Ministerien gegen seinen theologischen Standpunkt ihm bisher vorenthielt. Er wird so entweder einen größeren Wirkungskreis oder einen bedeutend höheren Gehalt erhalten. Mit Baumann, den ich achte u. liebe, rechte ich nicht um Leistungen, die bei uns beiden noch in der Zukunft liegen.3 In Bonn war allerdings durch Calkers4 Tod eine freie Stelle; da aber schon vorher durch Einschiebung des katholischen Philosophen Neuhäuser5 seitens der Regierung die Zahl der Ordinarien auf 3 gebracht war: sieht man vorläufig, so lange Knoodt6 noch thätig ist, von einer weiteren Berufung ab. Wissen Sie denn daß Jaffeé7 in Bonn vorgeschlagen u. seine Berufung in ein Ordinariat zu erlangen war, ja diese Thatsache ihm bekannt war, als er seinem Leben ein Ende machte? Sagen Sie doch Herrn Prof. O[ttokar] L[orenz] Dank für

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Dilthey an Wilhelm Scherer

Übersendung des schönen Nachrufs,8 der so wahrhaftig nach allen Seiten ist. In Einem Punkte glaubt Usinger berichtigen zu können, über die Berliner Ernennungsangelegenheit. – Also Bonn ist nicht in Frage. – Ein Gerücht geht hier, ich sei in Breslau mitvorgeschlagen; da ich dort keine Seele kenne u. die Regierung die Maxime hat, nicht einmal von der Thatsache zu benachrichtigen, weiß ich davon nichts. Breslau hat keinen Reiz für mich. Dagegen muß ich gegen den Reiz mit Ihnen zusammen zu sein mühsam die Ansicht der Sache festhalten, welche ich Ihnen in Berlin aussprach u. brieflich wiederholte, daß mich Geld nicht hier hält, daß ich aber erwarten muß ob nicht die Regierung in andrer Weise mich festhält. Es ist keineswegs sehr wahrscheinlich. Doch warum über ungelegte Eier sich den Kopf zerbrechen! Das Eine glauben Sie: die Hoffnung mit Ihnen zu philosophieren u. zu arbeiten ist für mich ein Faktor meiner Entschlüsse, den ich selber Mühe habe in richtigen Grenzen zu halten. Ich schließe, im Gedränge der Arbeit. – Mit tausend Grüßen Ihr Wilhelm Dilthey Kiel 4 Juli 1870 Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 17; ein handschriftliches Transkript des Briefes von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 17; Auszüge aus diesem Brief sind mitgeteilt in JD, S. 315, Anm. 125. 1

Scherers Brief an D. ist nicht überliefert. Usener hatte sich 1867 vergeblich dafür eingesetzt, dass D. das philosophische Ordinariat in Bonn bekäme (vgl. hierzu JD, Nr. 126); nun hatte sich auch Scherers Einsatz für D. in Wien als erfolglos erwiesen. 3 Die Verhandlungen der Universität Wien mit E. Zeller, der an erster Stelle zur Neubesetzung der Professur stand, scheiterten. Daraufhin ruhte der Prozess der Wiederbesetzung des Lehrstuhls von Lott für eineinhalb Jahre. 4 Der Philosoph Friedrich Calker (1790–1870), der seit 1818 als a. o., seit 1826 als o. Prof. in Bonn gelehrt hatte, war am 5. Januar 1870 gestorben. 5 Joseph Neuhäuser (1826–1900): Philosoph. 6 Franz Peter Knoodt (1811–1889): Philosoph und kath. Priester; 1845 a. o., seit 1847 o. Prof. der Philosophie in Bonn. 7 Philipp Jaffé (1819–1870): Historiker und Philologe; 1862 a. o. Prof. der historischen Hilfswissenschaften in Berlin. Aufgrund seiner jüdischen Abstammung war ihm trotz des Übertritts zum Christentum (1868) eine weitere akademische Karriere verwehrt; Jaffeé beging am 3. April 1870 Selbstmord. 8 O. Lorenz: Zur Erinnerung an Philipp Jaffé, in: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien, Heft 4, Wien 1870. 2

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Heinrich von Treitschke an Dilthey

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[349] Heinrich von Treitschke an Dilthey Heidelberg, 11./7. [18]70 Lieber Freund, Ihr gehaltreicher und freundlicher Brief war mir eine rechte Freude. Leider hab ich, von Briefen aller Art überflutet, längst verlernt ausführlich zu schreiben. Ihnen gegenüber ist das auch nicht nötig. Über die Grundsätze, die das historische Urteil bestimmen sollen, bin ich nämlich vollständig mit Ihnen einverstanden. Wollen Sie auf S. 554 ff. und namentlich S. 560 1 nachschlagen, so werden Sie vielleicht finden, daß ich das relativ gleiche Recht der beiden Parteien vollkommen anerkenne.2 Wenn ich in der Ausführung jenen Grundsätzen zuweilen untreu geworden bin, so liegt die Schuld zum Teil in der Kürze der Darstellung, die ein wiederholtes genaues Abwägen von Recht und Unrecht fast unmöglich machte – zum andern Teil in meinem Temperament. Daß ich nicht zu den fischblütigen Naturen gehöre, ist Ihnen nichts Neues;3 diese Leidenschaftlichkeit ist aber viel stärker, als die meisten meiner Freunde wissen. Trotz langer Übung in der Selbstbeherrschung vergeht doch kaum ein Tag, da mir dies heiße Blut nicht zu schaffen machte. Wenn mich ein Gedanke gefangen nimmt, so geht er leicht mit mir durch; ich kann zuweilen über und gegen meine liebsten Freunde ganz ungerecht sein, obgleich ich eigentlich viel Pietät im Leibe habe und den ehrlichen Willen, alles Gute anzuerkennen. Ich bin nicht im Stande zu schreiben, so lange mich der Stoff nicht leidenschaftlich bewegt; da mag es wohl geschehen, daß ich zuweilen über den Strang schlage. Wenn4 ich einmal in längerem Zuge erzähle, was ja von selbst zu ruhigem Urteile zwingt, dann gelingt mir’s vielleicht diesen Fehler zu überwinden – soweit wir über unseren Schatten springen können. Der Haymsche Aufsatz ist zwischen H[aym] und W[ehren]pf[enni]g ohne mein Wissen verabredet worden.5 H[aym] wünscht aber wie Sie dringend, jeden Streit zu vermeiden; ich hoffe also, bei einiger Zurückhaltung beiderseits soll das Wagniß gut ablaufen. Nach vielen Erwägungen hab ich mich endlich entschlossen, jetzt nicht in den Reichstag zu treten.6 Reden im Plenum entscheiden nichts; in der Fraktion aber kann ich mit meiner Taubheit wenig nützen und nur meine schriftstellerische Unabhängigkeit verlieren. Von unseren Freunden ist nur Julian dafür; er meint’s herzlich gut, würdigt aber zu wenig den Terrorismus parlamentarischer Fraktionen: die Leute haben es ja in der Hand mich zu isolieren, wenn ich ihnen zu selbständig werde. Es war ein sehr schwerer Entschluß; ich will hoffen, daß ich ihn nicht bereue. –

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Heinrich von Treitschke an Dilthey

In meinem Hause geht es noch immer recht schlecht. Zwar der kleine Übeltäter ist sehr vergnügt und zeigt eine unheimliche Energie, aber seine Mutter hat seit 2 Monaten kaum einen guten Tag gehabt. Jetzt leidet sie an einer Art rheumatischem Fieber; ich weiß noch garnicht wie das Alles enden wird. Mit herzlichen Grüßen an die Normalfreunde, Männlein und Weiblein, Ihr Treitschke Original: nicht überliefert; eine Abschrift des Briefes von fremder Hand sowie ein Typoskript, das von dieser in der Rechtschreibung leicht abweicht, ist hinterlegt in: StB PK Berlin, HA, Treitschke-NL, K 15, Nr. 26, 4–6. – Erstdruck (mit größeren Auslassungen): Heinrich von Treitschkes Briefe. Hg. von M. Cornicelius. Bd.3. Leipzig 1920, S.279; Nachdruck (mit Auslassungen): JD, Nr. 155. 1

In JD: „566“. Treitschke bezieht sich hier auf seinen Aufsatz Die Republik der vereinigten Niederlande, in: Historische und politische Aufsätze. N.F. 2. Theil, a. a. O., S. 495–634, in dem er sich auf den von ihm genannten Seiten auf die Staaten- sowie die Stadthalterpartei bezieht. 3 In JD: „neues“. 4 In JD: „wenn“. 5 R. Hayms Besprechung von D.s Leben Schleiermachers. 6 H. von Treitschke wurde 1871 Mitglied des Reichstags. 2

[350] Dilthey an Herman Grimm [Kiel, Ende Juli 1870] Lieber Freund, haben Sie Dank daß Sie ein Wort vernehmen ließen, dessen man jetzt von den Freunden so sehr bedarf. Wohl wünschte ich bei Ihnen in Berlin zu sein. Doch hat die Existenz hier den Vorzug, daß man in bestimmte Lebensstellung eingreifen u. nutzen kann: überflüssig fühlt sich schließlich freilich doch jeder, der nicht Soldat ist. Wir haben von Stadt und Univ[ersität] Adressen an den König erlassen u. die Stimmung ist vortrefflich. Gestern habe ich nach der Vorlesung von den mir liebsten u. nächststehenden Schülern Abschied genommen: sie haben sich alle gemeldet.1 Von Kießl[ing] kam ein Abschiedsbrief: er geht als Krankenträger (da er nicht einexerciert ist) mit in den Krieg. Mein Bruder drängt

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Dilthey an Herman Grimm

auch drauf; doch würde es meiner kranken Mutter wahrscheinlich das Leben kosten u. so habe ich einen Versuch gemacht ihn zurückzuhalten, wenn es irgend möglich ist. In einigen Tagen erwarten wir hier die Franzosen u. es wird dann wol genug zu thun geben. Sollte es hier ruhig bleiben, so suche ich mich zu meiner Mutter an den Rhein durchzuarbeiten, die ohne Schutz unter den Wällen von Mainz lebt. Doch muß ich zunächst auf meinem Posten bleiben. Grüßen Sie die Freunde. Was die Recens[ion] betrifft, die Wehrenpfennig über mich als Folie Hayms abgefaßt:2 mögen sie nur immerhin über mich schlechte Recensionen schreiben, wenn sie nur sonst was Braves thun u. nicht, wie ich von Jul[ian] leibhaftig vor mir sehe, durch politisches Geschwätz sich als höhere sittliche Persönlichkeiten die im Staate aufgehn auszuweisen die bequeme Idee haben. Und wenn Sie können, lassen Sie von sich ein Wort wieder hören. Es ist nöthig daß man von seinen Freunden zu weilen in diesen Tagen wisse, wie es mit ihnen steht. In herzlicher Freundschaft Ihr Dilthey Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Brief 920. 1 Der deutsch-französische Krieg war ausgebrochen; die preuß. Mobilisierung war am 16./17. Juli 1870 erfolgt. 2 W. Wehrenpfennig: Die romantische Schule von R. Haym und das Leben Schleiermachers (1. Bd.) von W. Dilthey, in: PJ 26 (1870), S. 121–123.

[351] Dilthey an seine Mutter [Kiel, Ende Juli 1870]1 Liebste Mama! Mein gestern fortgehender Brief 2 ist antiquirt. Ich rechne fest darauf, daß er Euch in Biebrich nicht mehr getroffen. Ihr habt ja an Hermann und Karl beste Berater, die Euch sicher rechtzeitig wegspedirt haben. Unter den Wällen von Mainz dürft Ihr nicht bleiben. Ich bin in größter Aufregung bis ich Euch sicher weiß. Gebe Gott, daß Ihr es schon seid! Hier erwarten wir in wenigen Tagen den Besuch der Franzosen u. Dänen. Die junge Marine wird wohl vernichtet werden. Außer den verdrießlichen Einquartirungen etc. ist nichts zu besorgen, gerade weil hier nichts zum

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Dilthey an seine Mutter

Kampfe gerüstet ist. Schreib mir sofort! Auch ich werde so lange auf die Posten zu rechnen ist, es versuchen wobei Ihr dann freilich nicht unruhig werden dürft, wenn Briefe ausbleiben. Im übrigen, über die momentane Überrumpelung weg, bin ich getrost und zuversichtlich. Wird die Universität vorher geschlossen, so müssen wir versuchen uns zu vereinigen. In Bonn ist sie ja sicher heute schon geschlossen. Mit tausend Grüßen und Umarmungen Euer Wilhelm. Original: nicht überliefert; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o. – Der Brief wurde offensichtlich im Vorfeld der Edition von JD transkribiert, aber nicht in den Band aufgenommen. Das bestätigt auch eine handschriftliche Notiz von G. Misch auf dem Transkript: „fortgelassen“. 1

Die Hg. von JD datiert den Brief nachträglich auf „Juli 1870“. – Da Frankreich am 19. Juli 1870 Preußen den Krieg erklärt hatte, ist der Brief wahrscheinlich Ende Juli geschrieben worden. 2 Nicht überliefert.

[352] Dilthey an seine Schwester Lily [Anfang August 1870]1 Liebste Lily, Wie freue ich mich, Euch nun vereint u. in verhältnißmäßig sicherer Lage zu wissen. Auch ich, nachdem ich in diesen Tagen, am Tage vor der Einkleidung der Freiwilligen, als einer der letzten meine Vorlesung geschlossen, würde sofort kommen, empfänden wir Professoren es nicht Alle als eine Pflicht gegenüber der panique durch unser vorläufiges Hierbleiben zu zeigen, daß wir einen Versuch der Franzosen durch den Hafen zu brechen ruhig entgegensehen. In 14 Tagen bis 3 Wochen rechne ich dann sicher darauf zu kommen. Frau Möbius2 hat Euch gar nicht gesehn, sodaß da nichts zu hören war. In den ersten Tagen war möglich, gegenüber der früheren antipreuß[ischen] Parthei durch rasche Initiative wirklich zu nutzen. Nun geht hier Alles vortrefflich. Und man fühlt sich als Schriftsteller, will man nicht den ohnehin et-

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Dilthey an seine Schwester Lily

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was tollen Lärm in den Zeitungen vermehren recht als fünftes Rad am Wagen. Seid alle tausendmal gegrüßt. Auf Wiedersehn Euer Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 f; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes mit der Notiz G. Mischs „fortlassen“ ist hinterlegt ebd., 13 o. 1

Der Brief, von fremder Hand auf „Ende Juli 70“ datiert, wurde wahrscheinlich erst Anfang August 1870 geschrieben. 2 Es könnte sich um die Ehefrau eines Kieler Kollegen D.s handeln: Theodor Möbius (1821–1890): Philologe; 1859–1865 a. o. Prof. in Leipzig, seit 1865 o. Prof. für nordische Philologie in Kiel. – Möglicherweise ist aber auch die Gattin des Zoologen Karl August Möbius (1825–1908) gemeint, der seit 1868 einen Lehrstuhl in Kiel hatte und Schwager J.B. Meyers war.

[353] Dilthey an Hermann Usener Liebster Hermann, Laß Dir zunächst noch, Dir u. Lily ein Wort des Dankes sagen. Möge ich Euch bald im eignen Hause bewirthen können.1 Alsdann zur Nachricht ganz vorläufig, daß wir gedenken, in Zermatt in der Schweiz uns häuslich einzurichten u von da Parthien zu machen. Karls Nachricht daß Du vielleicht nachkommst hat mich mit den schönsten Hoffnungen erfüllt, daß wir dort gemeinsam schöne Tage haben.2 Wir werden also etwa vom Zug aus Dir von Neuem schreiben. Bis dahin seit tausendmal gegrüßt. Mama u. die andren nehmen wir hoffentlich morgen mit nach Heidelberg. Dein Wilhelm den 14 September 1870. Bibrich Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 m. 1 2

D. trug sich mit dem Gedanken, M. von Witzleben zu heiraten. Karl D.s Brief ist nicht überliefert.

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Dilthey an seine Mutter

[354] Dilthey an seine Mutter [ca. 20. Oktober 1870] Liebste Mama, ich bin angekommen u. habe die ersten Einrichtungen getroffen, fühle mich in meiner Haut äußerst behaglich, u. in meiner Studirstube: so kann ich Dir denn vernünftig schreiben. In Leipzig kam ich in tiefer Nacht an, gegen 1 Uhr – es war eine abscheuliche Fahrt. Andren Morgens ging ich zu Baur:1 er war gar nicht erstaunt mich zu sehn; denn es lag schon ein Brief für mich von Lotte Hegewisch2 da, ein andrer, der mir von Werth für Leipzig gewesen wäre, von Ribbeck,3 war auch dahin adressirt, scheint aber verloren gegangen zu sein. Wie wir eben plaudern von Drobisch, kommt dieser als ludens in fabula sehr feierlich, seine erste Visite bei Baur zu machen. Nach Tisch machte ich mit Drobisch einen schönen Spaziergang. Dann ging ich mit Baur zu Leuckart4 dem berühmten Zoologen, ihn u. seine Familie zu holen; wir blieben aber kneipend bei ihm hängen; dann gingen diese mit u. erst in tiefer Nacht kam ich in mein Hôtel zurück, sodaß es schien als wäre gar nicht einzudringen. Leuckart kam noch einmal als er mein Poltern hörte zurück mich mit sich zu nehmen, aber der Hausknecht erwachte endlich. Andren Morgens brachte ich auf der Bibliothek bei meiner Spinozaarbeit zu. Nachmittags war ich bei Drobisch, Abends waren wir in der Comödie die Irrungen,5 andren Morgens reiste ich nach Halle. Dort hatte mich Haym auf Grund eines mißverst[ändlichen] Tel[egramms] schon Abends vorher erwartet u. Gesellsch[aft] auf mich gebeten, des Abends war ich bei Gosche,6 Böhmer7 u.a. so schließlich bei Haym Gesellschaft. Da zu Tage kam daß verschiedene Spinozasachen da seien blieb ich da u. arbeitete den ganzen folgenden Tag auf der Bibliothek. Höchst komische Szene; nur 2 Bibl[iotheks]studenten; ich sage daß mir das nicht zureiche, zu Haym, wir wollten zu Bernhardy (Oberbibl[iothekar]) gehn; das Schlimmste sei daß er uns beide [wegen] der unerhörten Forderung zu öffnen u[nd] Bibl[iotheks]diener mitzugeben herauswerfe, Bibliothekar Böhmer sehr ernsthaft: um Gottes willen möchten wir ihn dabei aus dem Spiel lassen, kommen hin, Bernh[ardy] glaubt zuerst ich sei mein Bruder u. macht ein etwas verzücktes Gesicht; ich reinige mich schleunigst von diesem Vorwurf – hierauf glaubt er, ich käme ihn kennen zu lernen – neues Geschwätz – endlich reißt Haym die Geduld, Bernhardy gerieth über den Vorschlag in Verzweiflung – endlich thut ers – nun kommt auch Böhmer hin – eine Stunde drauf schleicht Bernh[ardy] plötzlich selber an, ob mir nichts fehle – mit Mittagessensunterbrechung arbeitete ich weit über die Schlußstunde noch fort u. schließlich war Bernhardy so von mir gerührt daß er mich bis

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Dilthey an seine Mutter

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an die Treppe unter Händeschütteln begleitete. Dieser alte schmutzige Jude, der vornehm sein möchte, hat mir das größte Vergnügen gemacht. Abends war ich in Gesellschaft bei Schmollers,8 nächsten Morgen (Sonntag) reiste ich ab, der Zug verspätete sich, sodaß ich in Hamb[urg] den Kieler Zug verfehlte u. erst Montag 5 Uhr Nachm[ittags] hier ankam. Hier haben wir denn mein Leben für den Winter so eingerichtet: ich lese 4 mal in der Woche von 3-4 Uhr u. Ribbeks verlegen ihre Eßstunde auf 4 Uhr, wo wir dann wieder wie im vorigen Winter feierlich u. lustig zusammen tafeln wollen. Meine eine Vorles[ung] habe ich nun gestern schon im Ganzen disponirt. Ich werde doch für die Vorles[ung] wie ich sehe nicht wenig Zeit brauchen. Den 25ten Oct[ober] dh nächsten Dienstag fange ich an. In Halle habe ich denn authentisch gehört. In Breslau sind vorgeschlagen: Haym in erster Linie, ich in zweiter – was ich von den lieben Herren in dieser Ordnung recht ungezogen finde. Haym der in Halle die Familie seiner Frau hat u. in deren schöner Gartenwohnung trohnt scheint keine recht Lust zu haben hinzugehn; er möchte wol nur sein Gehalt dabei aufbessern. Ich fühle mich nun eigentlich ganz in derselben Stimmung. Auch zweifle ich nicht daß bei Ministerialanfrage die hieß[ige] Fakultät, wenn ich es nicht hindre, den dringenden Wunsch aussprechen wird, mich vorläufig hier zu belassen. Ich richte nun an Hermann u. Karl die Bitte dieses Verhältniß erwägen u. nach ihrer Kenntniß solcher Verhältnisse mir recht bald ihren Rath zukommen lassen zu wollen. In Leipzig steht die Sache so daß wenn das Ministerium wieder anregt, ich Aussicht zu haben scheine. Drobisch wird mich dann jedenfalls in erster Linie vorschlagen. Um diese Anregung hat der treffliche Baur sich bemüth, indem er gleich in seinem ersten Gespräch mit dem Minister Falkenstein9 die Sache aufs Tapet brachte u er will nicht ruhen, im Interesse seiner eignen Wirksamkeit, welche ordentl[ichen] Unter[richt] in Gesch[ichte] d[er] Philos[ophie] voraussetzt, bis die Sache in Fluß kommt. Das will also abgewartet werden u Ihr habt ja gesehn daß ich ad ultra nichts weniger als ungeduldig, sondern ganz behaglich u zufrieden bin. Von Wien kein Wort angelangt. Über die Prof[essur] der Psychologie hörte ich wenig in Leipzig. Drob[isch] u. Leuck[art] beobachten [mit] Vorsicht. In dies[en] Tagen d[ie] Sitzung. Ribbek wird mitvorgeschlagen werden. In erster Linie jemand der die Alterthumskunde mitvertritt (ist das Sauppe10 oder Lange11 oder Urlichs?12 Nissen13). Nun, liebste Mama, laß recht bald ein Wort vernehmen. Der Brief ist wie Ihr wol gesehn habt zugleich für Herm[ann] u. Karl. Lebt alle tausendmal wol u. behaltet mich lieb. Euer Wilhelm

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Dilthey an seine Mutter

Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 b. 1

Gustav Baur war seit 1870 o. Prof. in Leipzig. Nicht überliefert. 3 Nicht überliefert. 4 Rudolf Leuckart (1822–1898): Zoologe; 1850 a. o., 1855 o. Prof. in Gießen, seit 1869 Prof. der Zoologie und Zootomie in Leipzig. 5 W. Shakespeare: Die Komödie der Irrungen. 6 Der Literarhistoriker und Orientalist R. Gosche lehrte seit 1863 als o. Prof. der morgenländischen Philologie in Halle. 7 Eduard Böhmer (1827–1906): Romanist und Theologe; 1866 a. o., 1868 o. Prof. für romanische Philologie in Halle, 1872–1879 in Straßburg. 8 G. Schmoller war seit 1864 a. o. und seit 1865 o. Prof. für Staatswissenschaften in Halle. 9 Johann Paul von Falkenstein (1801–1882): 1844–1848 sächsischer Minister des Inneren, 1853–1871 Minister des Kultus und öffentlichen Unterrichts. 10 Hermann Sauppe (1809–1893): klass. Philologe und Pädagoge; Gymnasiallehrer, ab 1855 Ordinarius in Göttingen. 11 Ludwig Lange (1825–1885): Philologe; 1853 a. o., 1855 o. Prof. der klass. Philologie in Prag, 1859 in Gießen, ab 1871 in Leipzig. 12 Ludwig Urlichs (1813–1889): Philologe; 1844 a. o. Prof. in Bonn, 1847 o. Prof. in Greifswald, 1855 in Würzburg. 13 Heinrich Nissen (1839–1912): Archäologe; 1869 a. o., 1870 o. Prof. in Marburg, 1877 in Göttingen, 1878 in Straßburg, 1884 in Bonn. 2

[355] Dilthey an Herman Grimm Liebster Freund, Meinen herzlichen Glückwunsch zu dem glücklichen Anfang Ihres akadem[ischen] Auftretens, von dem Ihre Habilit[ations]einladung u. Jürgen Bona’s Erzählung (der hier u. in Hamburg in schöner Muße weilt, während wir niedere Classe vor den kleinuniversitätlichen Tagesarbeitern lesen) Nachricht gaben. Sie werden den Weg, den wir anderen allmählig aufwärts geklettert sind, im Sturm nehmen!1 Von mir nur das Nothdürftigste, da ich Sie zu Weihnachten zu sehen hoffe. Ich stecke – im zweiten Bande u. zwar in seinem ethisch-politischen Theile. Außerdem denke ich nach Weihnachten mit einer Untersuchung über Spinoza fertig zu werden, die Ihnen Spaß machen soll u. Trendelenburg auch. An meinen Vorlesungen (Gesch[ichte] d[er] Phil[osophie] seit Kant; Psychologie; Übungen) habe ich großes Vergnügen. In der ersteren sind von den c. 90 Stud[enten] die hier sind zwischen 1/3 u. ½; auch die anderen sind gut be-

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Dilthey an Herman Grimm

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setzt; ich sehe daß ich, ohne je zur Rhetorik zuflucht zu nehmen, ohne von meinen strengen Forderungen abzulassen, in meinem Einfluß auf Denkweise u. Methode der Studenten stetig wachse. Beschert mir der Himmel den gehörigen Ort zur Wirksamkeit, so soll sie sich sehen lassen können. Wien steht mit Zeller in Unterhandlung;2 es freut mich sehr, da das Zeller eine ordentl[iche] Zulage einbringen wird. Ist das ordentlich besorgt, vielleicht auch bei Freund Baumann: so wird wol schließlich auch bei meiner Wenigkeit angefragt werden. Durch dritte Hand habe ich auch vernommen daß ich außer Haym in Breslau vorgeschlagen bin. Inzwischen bin ich recht kühl, allen Fragen äußerer Existenz gegenüber, die nur wieder ein neues Provisorium betreffen. Senden Sie doch von Erdmannsdörffer eine Nachricht, wie’s ihm auf dem Kriegspfade geht.3 Empfehlen Sie mich Ihrer verehrten Frau, Joachim, Tobler4 u wen Sie etwa sonst noch sehn, d[er] an mir Antheil nimmt. In den Ferien war ich bei den Meinen u. ein paar Tage in der Schweitz, in Bibrich längere Zeit täglich in dem dortigen großen Lazareth, sonst auf der Reise auf einem halben Duzend Bibliotheken. Von hier bekommen Sie Grüße von L[otte] Heg[ewisch] u Frl. v. W[itzleben] u. Groth’s – die sich alle Ihrer neuen Thätigkeit erfreuen. Was man sonst in solchen Zeiten denkt, lieber Freund, läßt sich eben nur mündlich sagen. Von Herzen der Ihre Wilhelm Dilthey Kiel, letz[ter] October [18]70. Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Brief 927. 1

Herman Grimm hatte sich gerade 1870 in Berlin habilitiert. Die Berufungsverhandlungen scheiterten; Zeller blieb in Heidelberg und der Wiener Lehrstuhl bis auf Weiteres vakant. 3 Erdmannsdörffer nahm als Sanitäter am deutsch-franz. Krieg teil. 4 Adolf Tobler (1835–1910): schweiz. Romanist; seit 1867 o. Prof. in Berlin. 2

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Dilthey an Wilhelm Scherer

[356] Dilthey an Wilhelm Scherer Meine Verlobung mit dem Fräul. Marianne von Witzleben zeige ich hiermit Freunden und Bekannten ergebenst an. Dr. Dilthey Professor der Philosophie in Kiel. Kiel, d[en] 21. Nov[em]b[e]r. 1870.1

Hier präsentiert sich Ihnen, liebster Freund die Thatsache selber. H[e]rzl[ichen] Dank für Ihren vorläufigen Glückwunsch. Ebenso für die Anzeigen.2 Daß mich der Verlauf der Wiener Geschichte doch sehr ärgert können Sie denken. Ich bin mit Haym in Breslau vorgeschlagen; aus andren Gründen wird das preuß[ische] Ministerium wol zu demselben Resultat kommen u. einen dritten nehmen. Tausend herzliche Grüße mit der Hoffnung frohen Wiedersehns Ihr Dilthey Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 18; ein handschriftliches Transkript des Briefes von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 18. 1 Eine weitere Verlobungsanzeige ging an H. Grimm mit folgendem Begleittext von D.s Hand: „Mit tausend Grüßen, in der Hoffnung daß Sie nun bald auch einmal an meinem Thétisch sitzen. Ihrer verehrten Frau unsre besten Empfehlungen. Der Ihre Dilthey“. (Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Brief 926.) – Zudem ist eine Verlobungsanzeige ohne begleitenden Text erhalten, die an Johann Friedrich August von Esmarch (1823–1908), Prof. der Chirurgie an der Universität Kiel, geschickt wurde (Original: ULB Kiel, Esmarch-NL, Fasz. 69). – Eine weitere Verlobungsanzeige, die aufgefunden wurde in der StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 15 c, war vermutlich an einen engen Freund (evtl. Erdmannsdörffer) gerichtet. Sie hat folgenden Zusatz von D.s Hand: „Hier, Liebster, hast Du die schöne Auflösung eines Räthsels, das Dir schon seit einiger Zeit keins mehr war. Mach daß Du Weihnachten herkommst u. es mit eigenen Augen siehst. Marianne u Frl. Hegewisch grüßen tausendmal. Nächste Tage mehr. Dein Wilhelm D[i]l[the]y.“ 2 Nicht überliefert.

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Dilthey an seine Mutter

[357] Dilthey an seine Mutter [22. November 1870] Liebste Mama, Ich bin zum ersten Male seit ich Dir aus den Armen gewachsen bin ganz u. schrankenlos glücklich: gestern Abend habe ich mich mit Mariane von Witzleben verlobt. Als wir gestern mit verschränkten Armen im Zimmer auf u. nieder gingen: stieg mit plötzlich das alte Bild wieder in der Seele auf, wie oft ich so mit Dir in der Abenddämmerung auf u. niedergegangen bin. Segne uns, liebe Mutter, sie ist so gut u. fest u. treu wie Du u. mir sind alle Wünsche meines Lebens in den Einen zusammengetragen, die kleine Mariane ganz glücklich zu machen. Damit Ihr sie Euch gut vorstellen könnt, bekommt Ihr die Euch bekannte Photographie; auch wird sie sich Euch selbst im Verlauf dieses Blattes vorstellen. Beschreiben kann ich sie nicht, da mir eben Alles an ihr einfach ausnehmend hübsch vorkommt, selbst ihr Mund auf den sie nicht gut zu sprechen ist, ja dieser ganz besonders. Dafür solltest Du sie im Sommer gründlich kennen lernen, wo wir Dich bei uns haben müssen – flüchtig hoffentlich eine gute Zeit vorher schon. Denn wenn ich nach den zehn Stunden schließen soll, die ich jetzt ohne sie verbringen d.h. Stunde für Stunde abzählen müßte: so wird es nicht lange zu ertragen sein, daß der kleine Kiel1 zwischen uns liegt, was beinahe drei Minuten Entfernung macht. Aber ich schwatze u. habe Dir noch nichts von den nächsten Verhältnissen erzählt. Die Eltern sind beide todt; sie war mit ihrer Schwester Julie Hofdame am Oldenburger Hofe, ihr einziger Bruder steht als neunzehnjähriger Dragoneroffizier bei Paris. Ihre (und meine) nächste Verwandte (im Geiste) ist Lotte, bei der sie nun über ein Jahr gewesen ist, die uns bemuttert (nur daß Mariane etwas eifersüchtig auf sie ist). Diese, wenn sie sich unsrer erbarmt, da wir jetzt doch von einer kläglichen Gedankenlosigkeit sind, kann Dir am besten erzählen. Von mir aber sei tausendmal gegrüßt u. geküßt u. umarmt, liebstes Mütterchen, Du u. Tante u. groß u. klein Marie – Linchen das kleine Volk – Luischen – in Wiesbaden Dein Wilhelm2 Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 15 c. 1

Eine Straße in Kiel, in der auch D. kurzfristig im Mai 1870 wohnte. Es folgt ein handschriftlicher Brief Marianne von Witzlebens an D.s Mutter, der hier nicht aufgenommen ist. 2

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Herman Grimm an Dilthey

[358] Herman Grimm an Dilthey Lieber Dilthey, Ich habe Ihren Schleiermacher heute morgen durchstudiert und mich daraus vielfach belehrt. Sie haben ein Element unbesprochen gelassen, wie ja auch wohl nothwendig war, das mir bei ihm immer etwas als ein mir nicht zusagendes entgegengetreten ist: die Gabe, Schwierigkeiten nicht zu überwinden, sondern zu überbrücken. Er hat seine Schüler nicht zur Selbständigkeit, sondern zu freiwilliger Abhängigkeit erzogen. Er stellte sie nicht ins Leben hinein, sondern hielt sie innerhalb eines ungeheuren Kreises, den er mit einer Mauer umgeben hatte. Ich drücke mich vielleicht nicht ganz klar aus. Vielleicht aber verfährt jeder bedeutende Mann nicht anders. Ich wünsche Ihnen vergnügtes Fest und werde mich zur rechten Zeit einstellen. Des Morgens H. Gr[imm] 24.12. [18]70 Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 103, Bl. 116–116 R.

[359] Dilthey an Heinrich von Treitschke Kiel, 4. Januar [1871]1 Was ich Ihnen heute schreibe, lieber Freund, bitte ich als ausschließlich an Sie gerichtet ansehen zu wollen. Sie hatten mir die Freundschaft erzeigt mir Ihre Überzeugungen auszusprechen. Auch das Wenige, welches ich meinen Grundsätzen gemäß mir auszusprechen erlaube, ist im höchsten Vertrauen Ihnen ausgesprochen. Gleich nach Empfang Ihres Briefs,2 dessen freundschaftliche Gesinnung ich jetzt ohne leidenschaftliches Mißgefühl dankbar erkennen darf, nachdem ich sehe, wie Ihr mir ganz unbegreifliches Urtheil aus völliger Unkenntniß des Thatbestandes entsprang, – gleich nach Empfang beauftragte ich Frl. Hegewisch, falls sie nicht Ihnen meinen sofortigen anfragenden Brief an sie (dh. Frl. Hegewisch)3 mittheile, vorläufig in meinem Namen Ihnen zu erklären daß hier ein mir unbegreifliches Mißverständniß obwalte. Dies Mißverständ-

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Dilthey an Heinrich von Treitschke

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niß hat sich jetzt aufgeklärt. Die kurzen Andeutungen von Frl. Hegewisch haben, wie ich aus der genauen Antwort von Frl. Hegewisch ersehe, weder die Thatsachen, um welche es sich handelt noch die Beweggründe, aus welchen mein Antheil an unsren Entschließungen entsprang, enthalten. Diese Erklärung bin ich, nachdem einmal Frl. Hegewisch in der Aufregung zu dem nicht erwogenen Schritt in ganz ungenügenden Andeutungen zu sprechen sich hinreißen ließ, meinem Charakter und meiner Ehre schuldig. Denn so wie meine Handlungsweise jetzt vor Ihrer Kenntniß liegt, wäre sie die eines Elenden oder eines Narren. Ich lebe der wohlgegründeten Überzeugung, daß in den Beweggründen meiner Handlungsweise4 gar nichts Partikulares ist. Ich habe, als es die Entscheidung galt (in welcher nur Frl. M[arianne]’s Schicksal mit in die Wagschale fiel, das meinige schlechterdings gar nicht) auf das ernsteste gestrebt, von Allem was in meinen Überzeugungen subjektive Zuthat sein möchte, mich zu befreien, ich zweifle schlechterdings nicht daß die deren Denkart mir am meisten das ganz Objektive des Sittlichen rein auszuprägen scheint, völlig ebenso würden gehandelt haben. Als ich mit Frl. Hegewisch über die Entscheidung sprach fragte ich sie, ob sie nicht auch der festen Überzeugung sei daß z.B. Dahlmann und Sie ganz ebenso handeln würden, und sie konnte nicht widersprechen. Derselben Überzeugung lebe ich noch heute. Für das hier Ausgesprochene bürge ich Ihnen mit meinem Worte u. meiner Person. Bleibt Ihnen etwas, was Ihr Urtheil stören oder verwirren könnte, so verpflichte ich Sie, es mir offen auszusprechen. Ich komme zu der Gestaltung der Zukunft. Auch hier enthält Ihr Brief Annahmen von Beweggründen, welche mich so tief verletzen, daß sie auszuschreiben mir nicht in die Feder will. Mißverständnisse aus verschiedenen Ursprüngen müssen hier zusammen geflossen sein. Unser erster Entschluß berührt das Heiligste u. Zarteste in unsrem Verhältniß. Nach außen, im Bewußtsein Dritter, schien es dadurch im ersten Moment uns möglich, daß von Frl. Hegewisch selber an mich der Vorschlag zu demselben ausgegangen war. Ich gedachte Mariannen jede Hoffnung eines künftigen Familienlebens zum Opfer zu bringen, was bei einer so realistischen Natur als ich (sicher gegen Ihr Vermuthen) durchaus bin, Aufgabe jeder normalen Lebensgestaltung heißt. Ich war zugleich entschlossen, sobald sich die Möglichkeit einer inneren Beruhigung in Mariannen zeige, ihr Leben in eine normale Bahn zurückzulenken. Wie gesagt: das Heilige und Zarte kann nicht ausgesprochen werden, was inmitten solcher Erwägungen mich den Weg acceptiren ließ, welcher eingeschlagen werden sollte. Ich muß gestehen, daß Unkenntniß dessen was in der Welt in solchen Fällen als Regel u. zulässig gilt mir hier zur Last fällt, vielleicht selbst ein psycho-

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logischer Irrthum. Schon die ersten Gespräche mit den nächsten Freunden mußten mich aufklären. Sowenig ich damals in der Lage war, etwas [was] Mariannen in den ersten Stürmen ganz nothwendig erschien, sofort in Frage stellen zu dürfen – vielmehr mußte ich für meine Aufgabe erachten, sie zu beruhigen –: so ergriff ich doch sofort meine Maßregeln. Ich sprach an M[arianne] und Frl. Hegewisch den Wunsch aus, Mar[ianne] möge bis Ostern von Kiel fern bleiben. Noch hielt ich ein kurzes Wiedersehen dazwischen als Übergang für möglich u. beruhigend. Alsdann würde ich verreisen. Ich wandte mich nach Berlin um Auskunft über die Möglichkeiten zu erlangen, zu Ostern Kiel zu verlassen. Unter verschiedenen Eventualitäten stellte sich nach Trendelenburg’s Ansicht als allein stichhaltig die eines Urlaubs, zunächst für den Sommer, dar. Diesen Urlaub werde ich einfach wie schon seit langem die Absicht bestand zum Zweck der Archivarbeiten u.s.w. zum zweiten Band fordern. ‚Inzwischen‘ schreibt Trend[elenburg],5 würde sich, was sonst etwa in Aussicht steht, ‚entwickeln oder entscheiden‘. Ich habe mich erboten nach Berl[in] zur Verh[an]dl[un]g zu kommen, indeß hielt Tr[endelenburg] auch so den Urlaub für gesichert. So hat sich nun in den letzten Tagen die Sache geordnet u. womöglich heute geht mein Gesuch ab, welches dann Trend[elenburg] persönlich dringend unterstützen will. In dem Zusammenhang dieser Maßregeln werden Sie selber nun aber nothwendig finden, daß Frl. Marianne erst dann hierher zurückkehrt, wann ich meine Vorlesungen schließen kann. Ich habe ihr neulich geschrieben,6 daß ich kein Recht hätte, Ihnen den Wunsch auszusprechen, daß sie bis zu dieser Zeit in Ihrem Hause verweilen könne, daß aber Frau Ribbeck diesen Wunsch auszusprechen übernommen. Für mich würde diese Einrichtung der erste Lichtstrahl sein. Sollte dies nicht geschehen können, so müßte ein anderer Ausweg versucht werden. Denn der Plan welchen mir eben Frl. Hegewisch mittheilt erscheint nach innen wie nach außen bedenklich. Von Ende Januar bis zu meiner Abreise sollten Frl. M[arianne] u. ich im engsten Raume dieser Stadt, wenige Schritte voneinander wohnen. Wird es beschlossen, so muß ich es ertragen, wie ganz unsäglich schwer es jetzt auch vor mir steht. Aber täuscht sich nicht auch Frl. Marianne darüber, daß ihr dies bis zum Unerträglichen schmerzhaft u. peinlich sein muß? Auch nach außen finde ich den Plan bedenklich. Frl. Hegewisch hat in den ersten Tagen den Freunden geschrieben von dem Plan freundschaftlichen Fortlebens. Nun laufen Briefe ein, welche ein andres Gefühl aussprechen. Ist es zart, anstatt nun, was sich bietet, ein Zusammentreffen zu vermeiden, diesem Entschluß den jetzigen schroff gegenüberzustellen? In welche Lage werden wir alle, werden die Freunde, die wir gemeinsam haben, gebracht, wenn sie so zwischen Anwesenden, rathlos u. ein Zus[ammen-]

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Dilthey an Heinrich von Treitschke

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treffen fürchtend stehn. Wir müßten ja beiderseits als hätten wir das Licht zu scheuen, das Zimmer hüten. Ich erkenne vollkommen an, ich fühle tief nach, wieviel Frl. Marianne, wieviel Frl. Hegewisch opfern, indem sie sich trennen. Andrerseits kann Niemand Frl. Hegewisch zumuthen, daß sie bis zu meiner Rückkehr verreist bleibe u. sich so in alle ihre Verhältnisse eingreifen lasse. Aber ist dies letztere einmal feststehend, daß sie dies nicht kann, so sehe ich doch nach meinem Gefühl keinen andren Ausweg, als daß das kleinere doch sehr vorübergehende Übel gewählt werde. Ich werde Morgen in diesem Sinne an Frl. Hegewisch u. Frl. Marianne schreiben. Wollten sie ohnehin erst Ende Januar zurückkehren, so handelt es sich nur um höchstens 5 Wochen; denn ich kann durch verstärkte Zahl der Vorlesungen den Schluß derselben beschleunigen. Ich werde zugleich beiden mittheilen, daß ich in demselben Sinn an Sie geschrieben, damit dem jetzt regen Gefühl gegenseitigen Bedürfens gegenüber auch andre Gesichtspunkte möchten zur Geltung gebracht werden. Ich selbst? Das Leben ist mir verekelt durch das was ich erlebt. Nie wird mich der Schmerz verlassen, daß ich die schuldlose und gewissermaßen blinde Ursache für ein großes Unglück geworden bin, das Mariannen widerfahren. Und nie wird ein Freund die wichtigste und auffallendste Handlung meines Lebens aus ihren Beweggründen verstehen dürfen, sodaß in diesem Punkte mein Charakter für alle Zeit unverstanden bleiben muß. Leben Sie wohl und empfehlen mich Ihrer verehrten Frau. in treuster Gesinnung der Ihrige Dilthey Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Treitschke-NL, K 5, 129, 12–14. 1

D. schreibt: „1870“. Nicht überliefert. 3 Nicht überliefert. 4 D. hatte ca. Mitte Dezember 1870 seine kurz zuvor vollzogene Verlobung mit M. von Witzleben gelöst. H. von Treitschke war, als enger Freund L. Hegewischs, in den Vorgang involviert. 5 Nicht überliefert. 6 Nicht überliefert. 2

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Dilthey an Hermann Usener

[360] Dilthey an Hermann Usener [Anfang Januar 1871] Liebster Hermann, Eben erhalte ich Deinen u. Karls Brief.1 Die Voraussetzung als handle ich in unruhiger Hast, ist entschieden irrthümlich. Ein Anderes ist, daß wir unter verschiedenem Gesichtspunkt diese Reise beurtheilen. Und obwol ich an dem meinigen so fest halte als an meinen festesten Grundsätzen: wäre mir doch Eure Anwesenheit zu Allem eine neue Gewissensbeunruhigung, falls Ihr nicht ganz in meine Gesichtspunkte einginget. Anstatt einer Zusammenkunft in Hannover würde ich ja natürlich eine Reise nach Bonn vorziehen, falls ich mir von letzterem ein Ergebniß verspräche. Es hätte sich für mich gehandelt um eine objektive Untersuchung der Frage, ob unter den vorliegenden Bedingungen die Grundlagen einer Ehe gegeben sind.2 Diese Untersuchung war mir Bedürfniß und Recht, sobald Frl. Hegewisch die Frage neu eröffnete, Marianne selber, mir ihre Zweifel aussprach und so offenbar zu einer neuen Untersuchung aufforderte, beide mit Angabe des Bedenkens, daß ich mög’ subjektiv denken; dazu aber Tr[eitschke]s Urtheil in Bewegung gesetzt würde. Die Lage der Verhältnisse machte schlechterdings unmöglich zu einem Endurtheil zu gelangen, ohne Ribbeck’s – nicht von mir aus in’s Vertrauen zu ziehen, wol aber sie Kenntniß des Verlaufs im letzten Jahr, welche sie besitzen mir geben zu lassen. Sie gaben sie in innigster Freundschaft, selber mit mir nach Erklärungen suchend, sie erhoben keinen Anspruch auf meine Mittheilungen, die ich ja in keiner Weise auch nur andeutend geben konnte; und nie wird aus ihrem Munde ein Wort über unsre Gespräche kommen. Daß Du ebenfalls, als Gast bei R[ibbeck]’s wohnend, mit ihnen gesprochen hättest, hätte nach keiner Seite ein Unrechtes enthalten. Ich weiß nicht ob Du je den Standpunkt aus welchem ich Euer Kommen wünschte billigen wirst. Doch entspringt er in keiner Weise aus meiner Unruhe, aus dem Bedürfniß eigene Kämpfe durch andre beendigt zu sehen. Er entsprang aus dem festen Willen mein persönliches Glück dem Mariannens unterzuordnen, falls die nächsten Familienangehörigen diese Ehe für sittlich möglich hielten. Als dann würde auch die Thatsache, daß meine Zweifel u. mein Ringen nach Klarheit von andren erblickt worden wäre, mich in meinem festen Willen M[arianne] glücklich zu machen gar nicht gehindert haben. Klatsch in Kiel wiegt mir mit M[arianne]’s Lebensschicksal und meiner Pflicht diesem gegenüber möglicherweise gar nichts. Ich nehme eben die Ver-

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pflichtung des Verlöbnisses in einer Striktheit, welche mir, sofern sie in Frage kommt, ein Verfahren möglich macht, das Euch wahrscheinlich nicht mehr möglich erscheint. Bin ich auf mein eigenes sittliches Urtheil zurückgewiesen, so erkläre ich ohne jeden Skrupel daß dieses mir diese Ehe verbietet. Der andre Skrupel wird in mir haften bleiben, ob nicht dieser Urtheil subjektive Momente enthält, welche möglicherweise eine umsichtige Prüfung unbefangen Eintretender in Frage gestellt hätte[n] u. welche alsdann entfernt möglicher Weise eine strenge Untersuchung von mir als subjektiven Zug hätten erkennen lassen, welchen gar nicht zu beachten ich die Pflicht hätte. Vorläufig fällt natürlich der Plan dieser Reise zu Boden. Mein innerstes Gefühl würde mir nicht gestatten, etwas von Euch anzunehmen, was mit Skrupel geboten wird. Ich kenne, fühle, danke Eure ganze Liebe; ich bin noch überzeugt, meine bis zum äußersten Denkbaren gehende strenge Pflichterfüllung hätte Euer Kommen gefordert – oder ich will sagen forderte daß ich Euer Kommen heischte. Wollte aber Eure Liebe nun gegen Eure Überzeugung dies Opfer bringen, so vermöchte ich nicht es anzunehmen, da eben Eure ganz skrupellose Überzeugung, mit welcher Ihr in mein Verfahren einginget, die Bedingung jedes Erfolges wäre. Ich habe nicht die Pflicht über die Gränzen des Möglichen in der Erprobung meines sittlichen Urtheils, damit Subjektives in ihm rücksichtslos unterdrückt werde, zu gehen. Daß ich fest u. unbeirrt gesucht habe, bis zu dem was Euch vielleicht Phantastik des Pflichtgefühls erscheint (denn ich für mich konnte an meinem Urtheil nichts abändern) nach Möglichkeiten zu spähen mein Urtheil zu erproben, wird Karl in einer ruhigeren Zeit vielleicht anders ansehn als er es heute ansieht. Möge Gott Euch davor bewahren daß je eine so schwere Entscheidung auf Euer Gewissen gelegt werde. Nach Trendelenburgs Ansicht soll ich auf Versetzung gar nicht dringen. Auch ich selber hatte bei ruhigerer Überlegung sofort feste Gränzen gezogen, welche meine Würde steckt. Er hält für ganz unbedenklich u. zweifellos daß ich, ohne jede Berührung des Persönlichen, für den Schleiermacher im Sommer Urlaub erlange. Er selber hat den dringenden Wunsch, daß die Umstände wenigstens die Frucht einer Förderung dieser Arbeit hätten. ‚So wären Sie‘, schreibt er, ,ein halbes Jahr frei und schafften, wie es Sie treibt, auch Ihrer Seits freien Raum. Inzwischen würde sich, was sonst etwa in Aussicht steht, entwickeln oder entscheiden. Für Ihren Schleiermacher ist diese Aussicht das Beste was ihm geschehen kann. Wer sich für Ihr Buch interessirt – und es sind ihrer Viele – fürchtet daß es ins Stocken kommt. Sie müssen im Zusammenhang dieser Arbeit bleiben.’ Eine Reise nach Berlin zur Erwirkung des Urlaubs, die ich für nöthig hielt, findet er nach seiner Übersicht der Sachlage

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zu sparen. Morgen wird nun wol schon mein Gesuch abgehen. Er will dann gleichzeitig eingreifen. Doch bitte ich darüber zu schweigen. Ein Furchtbares droht. Nach dem Marianne u. ich auf den Rath alter Freunde darauf verzichtet haben, uns persönlich in den nächsten Jahren wiederzusehen, wahrscheinlich auch die briefliche Verbindung abbrechen werden: will Frl. Hegewisch nicht davon abstehn, schon ganz bald nach Kiel mit ihr zurückzukehren, während ich noch hier bin. Mein Wunsch daß M[arianne] bei Treitschke’s bleibe ist von Frl. H[egewisch] zurückgewiesen.3 Ich habe sofort an Treitschke geschrieben, wo möglich von uns beiden diese furchtbare, peinigendste, nach außen schiefste Zwischenzeit abzuwenden. Aber ich darf diesen nicht in die Beweggründe von Frl. Hegewisch einweihen. So bin ich auch hier fast waffenlos gegenüber ihren Plänen, welche gewiß vor Allem auf eine neue Pression hinzielen. Unendlich schwer wird auch meinem Gemüth das Opfer, das ich doch M[arianne] zu bringen keinen Augenblick noch zweifelte oder je zweifeln werde, den halben u. ganzen Unwahrheiten von L[otte] H[egewisch], dem System von Andeutungen: sie könne nicht billigen wie ich handle, müsse es aber achten etc. welche sie nach Kiel gelangen läßt, der Intrigue bei Tr[eitschke] in H[eidelberg], von welchem dann wieder Urtheile ausgehen, strenge Zurückhaltung gegenüberzusetzen. Nicht als zweifelte ich was ich zu thun habe. Aber ich leide unsäglich. Ich habe in Abgründe gesehn, welche mir das Leben verekelt haben. Ich trage auf meinem Gewissen das Schicksal eines theuren Mädchens, meines sittlichen Urtheils, der Nothwendigkeit, meiner unbedingten Schuldlosigkeit (selbst Vorwurf der Unvorsichtigkeit eingeschlossen) ganz gewiß: aber ich erfahre daß die Schuld im Sinne der Alten, willenlose Ursache zu sein, eine tragische Wahrheit ist. Eine entscheidende Handlung meines Lebens kann nie in ihrer Pflichtgemäßheit auch nur den nächsten Freunden aufgeschlossen werden. So gehe ich in das neue Jahr. Seid alle herzlich von mir gegrüßt. Euer Wilhelm Mein letzter ausführlicher Brief ist nun natürlich zwecklos.4 Er war darauf berechnet, Enthaltung von eignem Urtheilsabschluß Euch vorläufig in den Prozeß des zu fällenden sittlichen Urtheils hineinzuführen. Lily danke ich für die Mittheilung von Herzen. Sehr schmerzhaft ist mir daß Karl, was ich nach seinem mir mitgetheilten Plan nicht vermuthen konnte, noch in Bibrich war und so gewiß auch dort neue Aufregungen entstanden.

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Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 m. 1

Nicht überliefert. M. von Witzleben war zuvor bereits „mit einem Leutnant“ (siehe L. Hegewisch: Erinnerungen früherer Stunden für letzte Stunden. Als Manuskript gedruckt. Kiel 1902, S. 210) verlobt gewesen. In einem Brief an D. vom 28. Dezember 1870 schreibt L. Hegewisch; „Von Julie [Schwester Mariannes] hatten wir einen Brief, die ganz außer sich, entsetzt ist, wie Ihnen jetzt plötzlich einfallen könne, nicht zu überwinden, daß früher ein Verhältniß gewesen, das so gar keine Bedeutung mehr habe, u. was Sie gewusst hätten; sie könne es nicht verstehen noch glauben.“ (Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 15 c) 3 Lotte Hegewisch reiste mit ihrer Cousine Marianne nach der Entlobung am 20. Dezember 1870 nach Heidelberg zu Treitschkes. 4 Dieser und der nachfolgend erwähnte Brief ist nicht überliefert. 2

[361] Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch Kiel, d[en] 14ten Febr[uar] [18]71. Lorenzdamm Lieber Freund, Einige Tücke des Schicksals hat uns seit Sie in Gießen1 nirgend begegnen lasssen. Unter solchen Umständen wäre schwer, vom Leben selber sich gegenseitig eine Vorstellung zu geben. Ich komme daher gleich auf ein mir sehr wichtiges Anliegen, das mich heute Ihnen zu schreiben bestimmt. Als die Lange’sche Professur in Gießen frei wurde, zweifelte ich nicht, daß auch mein Bruder in Frage kommen würde.2 Sie wissen, wie wer in Univ[ersitäts]sachen lange Zeit zu thun hat, Scheu bekommt, Andren Auswirkungen anzumuthen, auch bei der besten Überzeugung, daß sie im Interesse der Sache sind. Darum habe ich vermieden, so sehr mir der Verlauf wichtig war, Ihnen zu schreiben. Nun taucht bald der bald jener Name auf ohne daß ich den meines Bruders darunter vernähme. Es scheint zu geschehen was ich nicht glaubte u. doch zuweilen befürchtete. Mein Bruder hat das große Mißgeschick das heute in dieser schulenbeflissenen Philologie ein Philologe haben kann: er gehört zu keiner Schule. Werden heute Autoritäten gefragt, so ist ein Verzeichniß ihrer Schüler schon für alle Fälle daliegend. Vielleicht ist nun die Sache ohnehin schon hierdurch entschieden. Ist sie das noch nicht, so möchte ich Sie freundschaftlich bitten, wenn ein Weg Ihnen dazu offen steht, dahin zu wirken daß ein Urtheil über ihn festgestellt werde. Er hat gleich als Student mit zwei literarhistorischen griech[isch]-röm[ischen] Arbeiten begonnen, von denen mir

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Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch

selbst Haupt,3 zu dem er nie im Verhältniß gestanden, mit höchster Achtung sprach. Dann war er in Italien u. schrieb von da aus im Bulletino etc. eine Anzahl archäolog[ischer] Arbeiten, über welche ich wieder stets mit wahrem Respekt als über wirkliche methodische Forschungen [?] sprechen hörte. Seitdem docirt er in Bonn mit entschiedenem Erfolg unter den schwierigsten Verhältnissen. Über den Werth seiner wissensch[aftlichen] Arbeiten wird am Ende nur Haupt urtheilen können u. ich habe so hohe Achtung vor dessen Charakter, daß ich nicht zweifle, sein Urtheil wird durch seinen Streit mit meinem Schwager Usener gänzlich unbeeinflußt sein. Über die archäol[ogische] kann wol Kekulé u. der auf gleichem Feld arbeitende Helbig4 in Rom urtheilen – über seine Docententhätigkeit Bücheler u. Kekulé neben denen er thätig ist. Niemand, ich weiß es, wird so für ihn eintreten, wie eben man für getreue Schüler wol in dieser Welt eintritt. Andrerseits wird, auch wo der Wunsch obwaltet, gegen ihn für andre ein Resultat zu erzielen, doch niemand anders als mit höchster Achtung von seinen Leistungen u. seinem Charakter sprechen. Diese Thatsache, verglichen mit der andren, daß sonst leicht Lob u. Tadel in scharfer Gestalt sich gegenüberstehen wirkt vielleicht doch. Verzeihen Sie, mein lieber Freund, diesen direkten Eingriff. Ich bin so tief überzeugt, daß mein Bruder mehr leisten wird als mir je vergönnt sein wird, daß mich für ihn aufs Tiefste schmerzt ja beinahe in seiner Seele kränkt wie er bei mehreren Gegebenheiten unberücksichtigt geblieben. Wie auch die Lage sei, so wollen Sie diesen Brief als im höchsten Vertrauen der Freundschaft geschrieben betrachten u. daher ihn mir für sich selbst Anlaß werden lassen, was Sie können anzuregen, ohne ihn zu erwähnen. Ich selber arbeite am zweiten Band u. Untersuchungen zur theoret[ischen] u. prakt[ischen] Philosophie. Eben schreibe ich eine Abhandlung über Spinoza, die im Frühjahr erscheinen soll. Meine Vorlesungen sind fordernd und meine beste Lebensfreude. Ich habe aber nicht nur die größten Collegien a[n] d[er] Univ[ersität], sondern auch mir sehr liebe Schüler, die etwas zu werden versprechen. Damit ist auch das Beste gesagt. Im Übrigen trage ich am Leben schwer als an einer Last, die mir zuweilen fast zu drückend wird. Mit welcher Sehnsucht gedenke ich der Zeiten, da wir noch nichts geschrieben hatten u. keine Professoren waren u. am Tische Ihres herrlichen Vaters saßen. Leben Sie wohl lieber Freund lassen Sie sichs wohl gehn. In alter Freundschaft Ihr Dilthey Original: Hs.; ULB Kiel, Familie Nitzsch-NL, Fasz. A 7.6. Nr. 102.

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Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch

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Nitzsch war seit 1868 o. Prof. der Theologie in Gießen. L. Langes Gießener Professur war neu zu besetzen, da er 1871 nach Leipzig wechselte. – D.s jüngerer Bruder Karl, für den sich D. zeitlebens verantwortlich fühlte, war klass. Philologe und Archäologe. Erst 1872 wurde er o. Prof. in Zürich und lehrte später von 1877–1907 in Göttingen. 3 M. Haupt war seit 1853 o. Prof. für klass. Philologie in Berlin. 4 Wolfgang Helbig (1839–1915): klass. Archäologe; seit 1865 zweiter Sekretär des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom. 2

[362] Dilthey an Hermann Usener [Ende Februar 1871] Hier, lieber Hermann, Nitzsch’s Antwort.1 Wolle bestimmen, was ich ihm nach Lage der philos[ophischen] Situation erwiedere u. das gewünschte Verzeichniß seiner Arbeiten senden. Auch für den Fall, daß wie eigentlich in meiner Empfindung liegt Vorschlag zu Extraordinariat secundo loco gar nicht von uns gewünscht wird, muß doch um der angedeuteten Chance und Nitzsch’s guten Willens willen dieses Verzeichniß ihm gesandt werden. Wie deutlich blickt durch den Brief die vornehme Weise dieses Herrn Lange über Karl sich auszusprechen durch! Aber Karl wird seiner Zeit diese Vornehmheit schon schweigen machen. Der Urlaub für meine wissenschaftlichen Zwecke ist eingetroffen,2 – gestern Abend. Es wird von der Sachlage bei der Prüf[ungs]commiss[ion] abhängen, ob ich den 5. oder 6. meine Sachen nach Berlin bringen u. dort die Schritte für Eröffnung der Archive thun kann, oder bis Mitte des Monats hier in „Aidu“ [?]3 wohnen muß. Was ich denn zunächst thue, muß von meiner Gesundheit abhängen, die wieder recht schlecht ist – ich schleppe mich nur mit Mühe in die Vorlesung. Abends habe ich starken Frost. Ist irgend möglich so erzwinge ich baldige Abreise. – Auch nicht meinetwegen allein. L[otte] H[egewisch] ist schwer krank gewesen u. soll noch in dem traurigsten Nervenzustand sein: sie sei um mehr als 10 Jahre gealtert. Auch M[arianne] beginnt körperlich zu leiden. Es sind die furchtbaren Consequenzen des heillosen Entschlusses hierher zurückzukehren. Es wird mich freuen wenn Lily an M[arianne] einen recht schwesterlichen Brief schreibt. Daß ich es doch dürfte! Ich habe ein so grenzenloses Verlangen dem geliebten Kinde etwas zu sein, daß ich mehrmals nur mit innerem Kampf mich von unverantwortlichen Augenblickshandlungen zurückgehalten habe.

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Dilthey an Hermann Usener

Nach Kräften arbeite ich. Doch vermag mich nichts zu reizen als eigne Ideenentwicklung, die mir manchmal glückliche Stunden, ja halbe Tage verschafft. Laßt bald etwas von Euch hören Ihr Liebsten. Ihr ahnt nicht wie es mir jetzt Wohlthat, ja Bedürfniß ist. Dein Wilhelm Dienstag Abends. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45. 1

Nicht überliefert. D. hatte beim Ministerium um Urlaub gebeten, um Archiv-Arbeiten für den zweiten Band des Leben Schleiermachers in Berlin vornehmen zu können. Der Antrag wurde genehmigt, und D. hielt sich von Ende März bis zum 1. August 1871 in Berlin auf. 3 Kleiner Ort in Estland: evtl. sinnbildlich für Einöde. 2

[363] Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch [Anfang März 1871] Haben Sie, lieber Freund, für die gründliche Nachricht1 und das freundschaftliche Interesse das Sie zeigen herzlichen Dank. Für das was Ihnen nach Ihrer Überzeugung u. den Umständen in Gießen zu thun möglich sein wird, bin ich Ihnen außerordentlich verbunden. Für einen tüchtigen Menschen, der etwas geleistet hat ist das Privatdocententhum ein elender Zustand. Nun was ich von meines Bruders Schriften, ohne ihn selber zu befragen weiß: 1. C. Dilthey, de Callimachi Cydippa2 – doch ich schreibe das, näher erwogen, Ihnen lieber auf einem besondern Blatt. In diesen Tagen gehe ich nach Berlin, wahrscheinlich Dienstag. Ich habe mich um [an] dem Schleiermacher auf der Bibliothek dort weiterzuarbeiten um Urlaub gemeldet u. diesen jetzt für den Sommer erhalten, zumal doch die Zahl der Studenten dann eine sehr sperliche sein wird. Es wird für mich eine große Anstrengung sein, aus dem Arbeitskreis meiner Vorlesungen u. Ideen mich jetzt in das Studium der polit[ischen] Ansch[auung] u. rel[igiösen] Verhältnisse dieses Jahrhunderts in Preußen zu werfen, welches doch allein eine richtige Abschätzung u. Durchdringung der polit[ischen] Ansch[auung] – und d.h. Reformideen Schl[eier]m[acher]s er-

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Dilthey an Friedrich August Berthold Nitzsch

möglicht. Ich hoffe im Sommer diesen ganzen wichtigsten Theil gleich zu schreiben – für den andren ist sehr viel vorgearbeitet. – Lipsius habe ich gehörig gemahnt. Er vertröstet auf die Ferien, in denen das Centralblatt mit einer Serie bedacht werden soll, zuerst jedoch Paulinische Arbeiten. Wir leiden gemeinsam an aufgenöthigter Zersplitterung durch die Vorlesungen. Muß ich doch das ganze System u. die ganze Geschichte der Philosophie hier durcharbeiten. An letzterm lese ich nun 3 Semester, neben den Systemvorl[esungen] u. bin doch noch nicht zu Ende, sondern erst bis in den Schelling gekommen. Leben Sie wohl lieber Freund u. haben Sie nochmals Dank für Ihre treue Theilnahme an meinem Bruder u. an m[einer] Wenigkeit, die wie zu einer wissensch[aftlichen] Maschine von zweifelhafter Kraft zusammengeschrumpft ist Der Ihre Dilthey3 Original: Hs.; ULB Kiel, Familie Nitzsch-NL, Fasz. A 7. 6. Nr. 96. 1 2 3

Nicht überliefert. K. Dilthey: De Callimachi Cydippa. Leipzig 1863. Auf zwei beigelegten Blättern folgen bibliographische Angaben zu Arbeiten Karl D.s.

[364] Dilthey an Hermann Usener [Ende März 1871] Liebster Hermann, Eben komme ich von Olshausen der mich bittet, ich möge mit mir zu Rathe gehn; wenn Geld da ist damit Haym in Halle bleibt, würde wahrscheinlich (ja schwerlich zu zweifeln) die Anfrage an mich gelangen mit 1500 Thalern Gehalt sofort nach Breslau zu gehn.1 Zweierlei habe ich zunächst eingewandt. Meinen Urlaub bedarf ich für meine Arbeit. Alsdann habe ich mir confidentiell die Gehaltslisten vorlegen lassen – in der philos[ophischen] Fakultät wäre dieser Gehalt der höchste, – doch würden wol 1600 r. etwa zu erlangen sein. Meine Antwort habe ich vorbehalten. Sobald diese Frage vom Minister an mich gelangen sollte: komme ich zu Euch, um Alles gründlich zu besprechen.2

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Dilthey an Hermann Usener

Von Mariannen erhielt ich heute früh einen Brief 3 von einer einfachen Hoheit der Gesinnung, die mich unsäglich ergreift. In den Kämpfen dieser Monate ist ihr Charakter zu dem gereift was ich stets in ihr vorausschaute. Mir ist fromm zu Muthe, wenn ich nur an sie denke. O Ihr Liebsten, seid Alle tausendmal gegrüßt. Wieviel Herzeleid macht Euch das Irrsal, welches über mein Leben gekommen ist – aus einer Liebe heraus, die so ganz auf Gesinnung u. Innerlichkeit ruhte u. ruht, die Verheißung unsäglichen Glücks dadurch in sich zu tragen schien. So werden wir uns wol wahrscheinlich schon in 8 Tagen wiedersehn. Laßt es geschehn ohne zu große Gemüthsbewegung. Auch ich darf mir wenig zumuthen. Gestern wurde ich beinahe nach einem Gang in meinem Zimmer ohnmächtig. Aber vor Allem sorge ich dabei um Lily. Also wol auf baldiges Wiedersehn. Dein Wilhelm Es wird mir lieb sein, vorher von Euch noch ein Wort zu haben. Olshausen thut als könnte jeden Tag die Entscheidung dasein – inzwischen wird nichts so heiß gekocht usw. Die Chance mit Straßburg, wohin ich lieber ginge liegt noch in weitem Felde. Olsh[ausen] spricht von Jahren die bis zur wirkl[ichen] Besetzung vergehn würden. Noch ist kein Ressort da. Sonntags. Matthäikirchstraße 19 per Adr[esse] Dr. Erdmannsdörffer, Professor an Univ[ersität] u. Kriegsakademie. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45. 1 Schon seit Juni 1870 hatte D. immer wieder Gerüchte gehört, er sei in Breslau vorgeschlagen (vgl. hierzu die Briefe an H. Grimm von Ende Juni 1870, an W. Scherer vom 4. Juli 1870 sowie an seine Mutter vom ca. 20. Oktober 1870). 2 Mit einem kurz darauf folgenden Schreiben Minister Mühlers vom 31. 3. 1871 wird D. die Professur in Breslau angeboten („Bei Ew. Hochwohlgeboren frage ich hiermit an, ob Sie geneigt sind, zu Michaelis des Jahres eine ordentliche Professur der Philosophie an der Universität zu Breslau mit einer Besoldung von jährlich 1500 rthn. zu übernehmen. Ihre Antwort wollen Sie möglichst beschleunigen. Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten. v. Mühler“ (Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 17, 6). – Am 6. 4. 1871 erklärt sich D. bereit, die Breslauer Professur anzunehmen: „Hochgebietender Herr Staatsminister! Ew. Excellenz erklärt sich der gehorsamst Unterzeichnete auf die Anfrage vom 31. März d[es] J[ahres] bereit, die ordentliche Professur der Philosophie an der Universität Breslau zu übernehmen. Zugleich möge demselben gestattet sein, den Wunsch auszusprechen, daß seiner Zeit,

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wenn die Umstände es thunlich machen, Ew. Excellenz ihm eine Erhöhung seines Gehalts von fünfzehnhundert Thalern bewilligen möchten. Ew. Excellenz gehorsamster Wilhelm Dilthey, o. Professor an der Universität Kiel. Berlin, d[en] 6 April 1871.“ (Original: Hs.; GStA PK, I. HA. Rep. 76 V a. Sekt. 2. Tit. IV. Nr. 47, Bd. 18) – Ein Schreiben H. von Mühlers vom 25. 4. 1871, das die näheren Modalitäten der Übersiedelung nach Breslau regelt, schließt den Vorgang ab: „Berlin, den 25. April 1871. U. 8.193. Ew. Hochwohlgeboren will ich mit Bezug auf Ihre Erklärung vom 6. d[es] M[ona]ts hiedurch von Michaelis d[es] J[ahre]s ab als ordentlichen Professor in die philosophische Fakultät der Universität zu Breslau mit einer Besoldung von Eintausendfünfhundert Thalern jährlich versetzen. Ich habe dies den Herren Curatoren der Universitäten zu Kiel und Breslau behufs weiterer Mittheilung an die akademischen Behörden bekannt gemacht, auch Letzteren beauftragt, Ihnen Ihre Besoldung in Breslau vom 1. Oktober ab zahlen zu lassen. Sie wollen Sich hinsichtlich Ihrer Uebersiedlung so einrichten, daß Sie Ihr neues Lehramt rechtzeitig antreten können, auch demnächst die Anzeige der von Ihnen im kommenden Wintersemester beabsichtigten Vorlesungen an den Decan der philosophischen Fakultät in Breslau einsenden. Ich erwarte seiner Zeit von Ew. Hochwohlgeboren die Einreichung der Liquidation der Ihnen reglementsmäßig zustehenden Umzugs- und Reisekosten und behalte mir vor, Ihnen dazu nach Bedürfniß noch einen außerordentlichen Zuschuß zu gewähren. Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten. v. Mühler“ (Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 17, 7; Erstdruck mit Faksimile in: WD, Nr. 105). 3 Nicht überliefert.

[365] Dilthey an Hermann Usener Liebster Hermann, Ich schreibe noch einmal, da ich nicht weiß ob mein voriger Brief 1 in Eure Hände gelangt oder verloren. Ich habe eine hübsche Wohnung u. Pension, für meine Bedürfnisse höchst geeignet, gefunden. Königsgrätzer Straße 54. 3 Treppen,2 bei Frau Dr. Landmann – nur etwas theuer. Ich erhalte Café, 2. Frühstück, gutes Mittagessen, Abends wieder Fleisch und Thé – Bedienung. 2 schöne Zimmer, das Eine nach dem Garten heraus mit einem Balkon – muß aber auch monatlich 50 r. bezahlen. Da ich doch wie ich gleich sah für 20 r. hätte wohnen u. für 15 r. schlecht essen müssen, wäre es so noch theurer gekommen als nun. Ich habe mich ganz in die Arbeit geworfen u. bin sonderbar glücklich dabei. Nicht wenig trägt gewiß bei daß ich Euch gesehn, daß ich bei Euch wieder das Gefühl bekommen habe daß ich doch noch zu etwas auf der Welt bin. U. so muß ein guter u. klarer Wille doch schließlich sich in mir gestalten. Justi fand ich nicht [.|.|.]. Doch scheint Justi’s Lage so daß er wol annehmen wird.3 Mit [.|.|.] in Basel ist ja reizend. Trend[elenburg] selbst giebt zu daß das Programm philos[ophisch] nicht genügt u. das Hereinziehn des Christenthums nicht paßt. Doch ist ja sein Gedanke, d[aß] er, 2mal den Aristoteles

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Dilthey an Hermann Usener

gelesen komme ihm sicherlich wenigstens noch nachträglich der philos[ophische] Verstand. Ich eile den Brief noch fortzubringen damit falls der andre wirklich verloren (in welchem glücklicherweise weiter auch nichts stand) Ihr doch diesen erhaltet. Also Königsgrätzer Straße 54. 3 Tr[eppen]. Tausend Grüße Euer Wilhelm 26 April [18]71. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45. 1

Nicht überliefert. In Berlin, Königgrätzer Straße 54 wohnte D. von Ende März bis zum 1. August 1871. 3 Justi lehrte seit 1869 als o. Prof. in Marburg und wechselte, nachdem D. sich entschlossen hatte, nach Breslau zu gehen, 1871 für ein Jahr nach Kiel; ab 1872 lehrte er dann in Bonn. – Vor seiner Berlin-Reise war D. offenbar in Marburg gewesen, um mit Justi zu sprechen. 2

[366] Heinrich von Treitschke an Dilthey B[erlin] 30. 4.[18]71 Lieber Dilthey, ich hoffe Sie bald zu sehen und bitte Sie zwischenzeitlich mir eine kleine Notlüge zu verzeihen. Ich kam heute Mittag bei W[ehren]pf[enni]g unanständig spät und entschuldigte mich – ruchlos genug – damit, Sie hätten mich besucht!!! Besucht hatten Sie mich ja wirklich! Seien Sie kein Spielverderber, wenn Sie morgen W[ehren]pf[enni]g und mich bei Grimm sehen sollten. Ihr Treitschke Original: nicht überliefert; ein Typoskript des Briefes ist hinterlegt in: StB PK Berlin, HA, Treitschke-NL, K 15, Nr. 26, 7.

[367] Dilthey an Carl Justi Verzeihen Sie, liebster Freund, daß Sie nicht früher als heute erst ein Wort vernehmen; nervöse Kopfschmerzen, Zahnschmerzen haben mich diese Tage

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Dilthey an Carl Justi

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denkunfähig gemacht. Freilich war mir sehr leid Sie nicht zu finden da ich Ihretwegen allein in Marburg geblieben war. Was Kiel betrifft ist zweierlei zu unterscheiden, der Gang den die Sache nehmen wird u. wie sie Sie sich dazu stellen werden. Meine Ansicht stand sofort fest, Überweg u. Sie sind die zwei in Frage kommenden Personen. Dieselbe Ansicht habe ich sofort zufällig hier anwesenden Kieler Freunden ausgesprochen als die Entscheidung Berlins betreffend von mir, schweren Herzens, Sie können sich gar nicht vorstellen wie schweren Herzens, mein theurer Freund! getroffen war. Dieselbe Ansicht haben Trendelenburg und der vor Kurzem zurückgekehrte Harms,1 mein Vorgänger in Kiel. Die Freunde die ich hier gesprochen sind auch ganz überzeugt. Es hat also wol große Wahrscheinlichkeit, daß die Sache diesen Weg nehmen wird. Und im Ministerium wird man, glaube ich, mehr für Sie als für Überweg sein. Ihre Arbeiten sind so gar nicht miteinander vergleichbar daß ich der Ansicht bin, Sie müßten ohne Rangordnung nebeneinander charakterisirt werden. Überweg war als ich nach Kiel kam in erster Linie vorgeschlagen u. Sie selber dürfen, glaube ich, nicht wünschen daß jetzt, Allem Gebrauch entgegen, über ihn bei den Fakultätsvorschlägen weggegangen werde. Dies Alles schreibe ich Ihnen als meinem Freunde im engsten Vertrauen. Niemandem gegenüber bitte ich Mittheilung davon zu machen, daß von Ihnen in Kiel die Rede sein wird ist selbstverständlich kein Geheimniß. Welchen Antheil die einzelnen Personen aber dabei haben, das bitte ich als Geheimniß betrachten zu wollen. Käme die andre u. zweite Frage. Diese würde einen ausführlichen Brief fordern, welcher in meinem jetzigen Zustand sehr angreifend für mich wäre, der aber auch vorzeitig wäre. Sobald an Sie irgend eine Anfrage kommt u. Sie noch den Wunsch haben ehrliche u. genaue u. wie ich denke ganz objektive Darlegung von mir zu haben, fordern Sie sie nur ruhig von Ihrem Freunde u. Sie sollen sie mit der nächsten Post haben. Ich selber arbeite am 2ten Band, sinne über psychologischen Problemen, leider viel. Ich habe eine rechte Sehnsucht Sie einmal wieder zu sehen. Lassen Sie mich wenigstens wieder einmal ein ausführliches Wort von sich vernehmen. Von Herzen der Ihre Wilhelm Dilthey Königgrätzer Straße 54 III Trepp[en] Berlin 13 Mai [18]71.

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Dilthey an Carl Justi

Original: Hs.; ULB Bonn, Korrespondenz – NL C. Justi, S 1703, 1, 9. 1 Friedrich Joachim Simon Harms (1819–1880): Philosoph; 1842 a. o., 1858 o. Prof. in Kiel, seit 1867 in Berlin.

[368] Dilthey an Carl Justi [Berlin, 14. Mai 1871] Einen kleinen Nachtrag liebster Freund zu meinem gestrigen Brief. Ich habe Einen Fall nicht berührt, welcher noch zur Debatte gelangen könnte – eben weil er höchst unwahrscheinlich ist. Es war davon die Rede ob nicht Lipsius bewogen werden könne in die philos[ophische] Fak[ultät] überzutreten.1 Dieser würde natürlich dort Allen am nächsten liegen. Doch hat er auf das entschiedenste bis jetzt dies abgelehnt u. aus sehr gewichtigen Gründen die in seinem Beruf wie er ihn auffaßt liegen. Doch dies ganz unter uns. Mir fiel doch ein daß Unrecht wäre eine auch nur so entfernte Möglichkeit ja kaum Möglichkeit zu nennen, eines wirklichen Nebenbuhlers, für den Fall auch Ihrer entschiedensten Erklärung Ihnen nicht vorzuenthalten. Es ist für mich eine Sache der Gewissenhaftigkeit u. darf auf Ihren Entschluß nicht wirken. Falls Sie aber nicht sich entschießen könnten, würden freilich unsre andren Concurrenten nicht zu beseitigen sein. Eiligst, freundschaftlichst Ihr Dilthey Original: Hs.; ULB Bonn, Korrespondenz – NL C. Justi, 1703, 1, 6. 1 Der Theologe R.A. Lipsius ging auf diesen Vorschlag nicht ein, und er wechselte noch im selben Jahr an die Universität Jena.

[369] Heinrich von Treitschke an Dilthey Berlin 21/5 [18]71 Lieber Dilthey, hätten Sie wohl Lust, zu Pfingsten den unglücklichen Bandito in seinem pommerschen Tusculum aufzusuchen? Ich habe ihn eben gefragt, ob er da ist. Ich denke, da man in diesem scheußlichen Frühjahr doch nicht in die Berge

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Heinrich von Treitschke an Dilthey

gehen kann, am Sonnabend Greifswald, Tags darauf Stralsund und dann noch einige Nester mir anzusehen.1 Zu diesem Raffinement werden Sie sich zwar nicht aufschwingen, aber nach Greifswald zu gehen macht Ihnen doch vielleicht Freude? Ihr Treitschke Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45. 1 Treitschke, der seit 1867 Prof. der Geschichte in Heidelberg war, weilte in Berlin in seiner Funktion eines (nationalliberalen) Mitglieds des Reichstags und reiste Pfingsten 1871 nach Stralsund (vgl. Heinrich von Treitschkes Briefe. Hg. von M. Cornicelius. 3. Bd. Leipzig 1920, S. 305 f.). – Diesem Brief geht eine Mitteilung Treitschkes an D. vom 16. Mai 1871 (Berlin) mit folgendem Wortlaut voraus: „Lieber Dilthey, mein Halskatarrh ist recht bösartig; seit Sonnabend Abend hab’ ich keinen Bissen essen können. Ich werde froh sein, wenn ich am Donnerstag wieder ausgehen darf. Die Hoffnung auf Ungarwein morgen Abend ist also ebenso nichtig wie die auf ein baldiges Ende des Reichstags. Mit bestem Gruß Ihr Treitschke“ (Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45).

[370] Dilthey an Carl Justi [Berlin, Juni 1871] Sie finden von Unverheiratheten einen sehr angenehmen Genossen an dem Anatomen Cohnheim, sehr angenehmes geselliges Leben bei Weinhold Ribbeck und anderen Collegen. Das Beste, lieber Freund, Ihre Sache zu fördern wäre: Sie könnten mir sofort schreiben daß Sie zu kommen entschlossen seien u. sich nicht in Marburg durch Gehaltszulage würden halten lassen. Alsdann könnte auf das kräftigste für Ihre ausschließliche Denomination vorgegangen werden, die sonst wol nicht durchsetzbar ist. Aber Sie selber müssen ja wissen was Ihnen wichtiger ist: die Chancen als Betreff Marburgs in Händen zu behalten bei großer Unsicherheit des Ausgangs in Kiel – oder sich für Kiel zu entscheiden u. dadurch Ihren Freunden das beste Mittel in die Hand zu geben für Sie einzutreten. Erwägen Sie, thun das in Ihrer Lage Richtige – an uns ist dann dem entsprechend zu verfahren. Haben Sie noch Fragen: so bin ich zu jeder Auskunft bereit, Normalgehalt wie ges[agt] das auch ich hatte 1440 r. wozu kommt daß man das Haus in

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Dilthey an Carl Justi

dem man wohnt steuerfrei macht u. für Sie wahrscheinlich 100 r. Prüfungscommission (wofür so gut als nichts zu thun). Können Sie sich nicht so entschieden erklären als ich es wünsche: so ist der Ausgang der Sache höchst ungewiß. Können Sie es: dann zweifle ich nicht an dem guten Erfolg, da dann ich, Trendelenburg, Harms hier und die Freunde dort voll u. aufs entschiedenste für Sie einzutreten bereit sind. So in großer Eile. Ihr treuer Freund Dilthey Berlin Königgrätzer Straße 54. 3 Trepp[en] Original: Hs.; ULB Bonn, Korrespondenz – NL C. Justi, S 1703, 1, 7.

[371] Dilthey an Carl Justi [nach 9. Juni 1871] Nun wird es allerdings Ernst liebster Freund. Sie werden vernommen haben von Überwegs Tod u. miterschüttert sein.1 Sie nach Kiel zu bekommen ist jetzt mein einziger Wunsch, und ich glaube daß es in Fakultät u. Ministerium erreichbar ist. Aber es in der Fakultät durchzusetzen: dazu bedarf es allerdings daß Sie sich entscheiden. Wollen Sie wirklich nach Kiel, sind auch nicht geneigt durch eine von Marburg aus für Sie nachgesuchte pecuniäre Verbesserung sich halten zu lassen: dann können wir alle Segel aufspannen. Aber da dies nun der zweite Vorschlag ist, (der erste gegen meinen Willen Überweg allein, ich hatte Sie beide ohne Rangfolge gewollt) so ist die Fakultät natürlich sehr besorgt durch nachträgliche Absage Ihrerseits das Heft aus der Hand zu verlieren. Sie würde daher alsdann mehrere vorschlagen, wenn Sie ungeneigt sind sich zu binden. Das Richtige wäre Sie könnten sich binden u. würden alsdann allein vorgeschlagen. Im Ministerium hat es keine Schwierigkeit. So komme ich denn zu meiner ganz objektiven Darlegung der Kieler Verhältnisse. Von der Gegend kann ich nicht in zu hohem Tone reden; jetzt wieder (ich war eben dort)2 hat sie mich so ergriffen daß selbst Bonn u. Heidelberg

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für mich entschieden dagegen zurücktreten. Dabei keine übergroße Kälte im Winter durch die See, im Sommer nie drückende Hitze – Bäder (Kiel ist zugleich gern gebrauchtes Seebad) welche nicht idealer gedacht werden können, Wasserfahrten mit vollen Segeln in die weite See. Handelte es sich nur um Natur so würde ich die Existenz in Kiel der in jeder andern Universität vorziehen. Ich verdanke der Kieler Seeluft die Wiederherstellung meiner Nerven. Folgt die Geselligkeit. Großer Ort von ca. 30.000 Einwohnern, also schon eine größere Geselligkeit. Freilich sind es nicht viele Häuser von Nichtuniversitätsmitgliedern in denen man verkehrt, doch aber einige, u. in diesen außerordentlich angenehm. Daß die Universität außergewöhnlich gut in Folge der Gehaltsverhältnisse (das Normalgehalt 1450 Thaler) besetzt ist, wissen Sie wohl. Es sind einige ganz verschiedenartige Kreise von denen Jeder seine Vorzüge hat. Für wissenschaftlichen Verkehr sind Gutschmid (alte Gesch[ichte]) Ribbeck (Philologie) Usinger (Geschichte) Lipsius (Theologie) ganz ungewöhnlich; Sie würden an jedem von diesen den angenehmsten wissensch[aftlichen] Verkehr haben. Persönlich können Sie als Unverheiratheter sich vorziehen lassen wo Sie wollen. Folgt die schwächste Seite der Univ[ersität] – ich sage nicht die Wirksamkeit aber die Zahl der Studenten. Diese ist momentan sehr gesunken. Doch sind 3 Umstände, welche dies für den Philosophen nicht gefährlich machen 1.) Sie sind Alleinherrscher. Thaulow3 ist eine totale Null, von meinem zweiten Semester an hat er keine Privatvorlesung mehr zu Stande gebracht. 2. Sie haben eine theolog[ische] Fakultät von c 60 Stundenten, in Lipsius einen Lehrer welcher sie unaufhörlich auf Philosophie hinweist. Ebenso weist sie Ribbeck, der sich sehr auf Sie freuen würde, streng auf die Philosophie hin. 3. Ich darf sagen ohne unbescheiden zu sein: Harms, lange Zeit, dann ich so lange ich da war haben eine Tradition geschaffen wie sie wohl an keiner andren deutschen Universität so ist. Ich hatte jedes Semester zwischen 26 u. 36 Studenten im Privatcolleg, im Publicum viel mehr, so selbst in der Kriegszeit. Und wenn man Studenten nicht zählen sondern wägen soll: so vertausche ich selbst die extensiv so bedeutende Berl[iner] Thätigkeit nicht ohne Bedauern mit der Kieler. Die Studenten fassen an. Sie arbeiten selber. Die hervorragende Leistungsfähigkeit der Holsteiner ist ja bekannt u. die Professoren machen Ansprüche an Sie. [Briefschluss fehlt] [Nachträglich auf der ersten Seite des Originals ergänzt:] NB: ich bin zu diesem Brief nicht beauftragt, sondern Harms[,] Trendel[enburg], ich u dortige Freunde haben das Interesse, Ihre Entscheidung zu hören. Wollen Sie also von dem Brief nicht sprechen. Von der Sache daß von Ihnen dort die Rede ist können Sie es immerhin.

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Dilthey an Carl Justi

Original: Hs.; ULB Bonn, Korrespondenz – NL C. Justi, S 1703, 1, unpaginiert. 1 F. Ueberweg starb am 9. Juni 1871 im Alter von 45 Jahren in Königsberg an einer Blutvergiftung. – Ein Nachruf D.s Zum Andenken an Friedrich Ueberweg erschien in: PJ 28 (1871), S. 309–322; WA in: GS XV, S. 150–160. 2 D. hatte seinen Berlin-Aufenthalt etwa am 9. Juli 1871 durch eine kurze Reise nach Kiel unterbrochen. 3 G.F. Thaulow war seit 1854 o. Prof. der Philosophie, der Pädagogik und der philosophischen Naturwissenschaften in Kiel.

[372] Dilthey an Georg Ernst Reimer [vor 14. Juni 1871] Hochverehrter Herr Reimer, Collegialische Rücksicht auf Prof. Elvenich1 zwingt mir einen Vorläufer meines kleinen Buchs, eine Abhandlung über Spinoza’s Theorie der Affekte, deren Widmungsblatt ihm den 23 März übergeben werden soll, an dem die Univ[ersität] sein Doktorjubiläum feiert, ab. Ich kann gar nicht beurtheilen, ob Sie dabei (etwa 3 Bogen, Großoktav mit lateinischen Lettern u. anständigem Druck) irgend auf Ihre Druckkosten kommen können. Vielleicht wäre günstig dafür, daß ich hier über Spinoza lese, also successive in Breslau eine große Anzahl von benennbaren Abnehmern finden könnte. Glauben Sie keinen Schaden dabei zu haben, so würde mich freuen, wenn Sie es druckten. Ist es Ihnen recht, so möchte ich ergebenst bitten, den auf dem folgenden Blatte gedruckten Widmungstitel in lateinischen Lettern Großoktav geschmackvoll setzen u. auf 2. 3 Blättern abziehen, alsdann den 20ten März von Berlin nach Breslau, Adresse Herrn Geh[eimen] Rath Dr. Elvenich, Neue Sand-Straße 3 senden zu lassen. Im entgegenstehenden Falle haben Sie wohl die große Güte, diese Zeilen Herrn Dr. Töche2 mit der Bitte von mir, die Seite drucken u. Geh[eimem] R[ath] Elvenich in der angegebenen Art senden zu wollen zu senden. Ich komme selber im Lauf der nächsten Woche nach Berlin, wahrscheinlich nächsten Mittwoch schon, u. das den Druck der Abhandlung selber Betreffende kann ja dann leicht besprochen werden. Das kleine Buch wird auf diese Weise von gelehrtem Ballast flott u. das wird ihm hoffentlich zu Gute kommen.

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Dilthey an Georg Ernst Reimer

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Verzeihen Sie, daß ich Sie mit dieser Quisquilie behellige. Aber die Thatsache des Jubiläums hat sich jetzt eben erst herausgestellt, u. da ist guter Rath theuer, der Sache eine anständige Form zu geben, sowie collegiale Gefühle würdigst auszudrücken. In der Hoffnung Sie nächster Tage zu sehn Ihr dankbar ergebener Wilhelm Dilthey Die Schleiermacherpapiere glücklich angekommen u. habe ich sehr zu danken. Spinoza über die Affekte Seinem hochverehrten Amtsgenossen Herrn Dr. Peter Joseph Elvenich zum 23. März 1872 dargebracht von Dr. Wilhelm Dilthey Georg Reimer 18723

1. Großes Oktav. 2. lateinische Lettern. 3. Peter Joseph Elvenich als Mittelpunkt des Ganzen hervorleuchtend. 4. Correktur der Seite etwa zur Durchsicht an Herrn Dr. Ascherson mit der ergebensten Bitte von mir, dies Blatt zu vergleichen u. Sorge zu tragen, daß nicht irgend Caesur vorkomme. 5. 3 Abdrücke dieses Titels alsdann den 21 März, möglichst gut conservirt, auf die Post zu geben unter Adresse: Geh[eimen] Rath Prof. Elvenich, neue Sandstraße 3. Es soll den 22 ten März ankommen. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 61–62. 1 Peter Joseph Elvenich (1796–1886): kath. Theologe und Philosoph; 1826 a. o. Prof. in Bonn, seit 1829 o. Prof. in Breslau. 2 Theodor Toeche (1837–1919): Historiker, Dr. phil., seit 1870 Inhaber des Verlages seines Großvaters „Ernst Siegfried Mittler & Sohn“ in Berlin. 3 Die Abhandlung wurde nicht publiziert.

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Dilthey an Hermann Usener

[373] Dilthey an Hermann Usener Liebster Hermann, Ueberweg todt, in denselben Tagen gestorben an denen ich in Kiel von einem zum andren ging, um ganz sicher zu haben daß man an seiner Wahl festhielte (nachdem er einmal allein zur Wahl gekommen) u. auch nicht scheuen dürfe daß er etwa den Winter mit Urlaub in Italien zubringe – zurückkommend fand ich von Cohen1 2 Briefe nebst Erwähnung eines von Czolbe2 für mich, der aber in Circulation zu sein scheint.3 Er ist schließlich an Blutvergiftung gestorben: Ich bin auf ’s tiefste erschüttert. Da ich selber glaubte ich würde mein tragisches Schicksal nicht überleben, u. nur mein starker Körper u. die Liebe der Nächsten mich diese Stürme hat überleben lassen: ist Er an der gemeinen Gelehrtentragödie erlegen – Gewohnheiten engen Lebens, die er nicht aufgeben konnte auch in besserer Lage – diese Lage immer noch gedrückt – aufreibender Fleiß. – Zugleich fand ich von Erdm[anns]d[örffer] einige Zeilen,4 die erst wenn er Morgen kommt ergänzt werden können. Die Verhandlungen in Greifsw[ald] verlaufen für Karl ungünstig – von den Philologen keiner irgendwie auch nur für ihn – Erdmannsdörffer der sehr gut mit Studem[und]5 war ist auf gespanntem Fuß mit ihm, weil seine redliche Seele [ihn] durchschaut, und er, der glaubte entschieden Einfluß auf Stud[emund] zu haben nun wahrscheinlich sieht daß Studen eine Provinz hat wo Gründe und die Sache selber nicht hindringen. Ach liebster Hermann, welcher Ekel überkommt einen immer neu vor der Gelehrtenwirthschaft. Es geht mir schrecklich nah für Karl, weniger noch dies einzelne Mißlingen als daß es wieder die allgemeine Regel bestätigt, wie gerade das was ihm fehlt, behagliche Lebensverbindungen, die Universitätscarriere intregiert. Erdm[anns]dörffer kommt Morgen Abends zum Einzug; dann höre ich Näheres u. schreibe an Karl. Ich habe sehr wehmüthige, aber innig ruhige Tage in Kiel gehabt. Ich bin in mir selber so ganz klar aber, so friedlich in der Einsicht dessen was M[arianne]’s u. mein Schicksal entscheiden muß daß ich das Ergebniß still erwarte, ohne auch nur in meiner Arbeit irgend gestört zu sein. Denn ungestüme Wünsche über mein eignes Schicksal sind bei mir in der großen Krisis dieser Zeiten ganz untergegangen. Doch würde mich auf das innigste und tiefste freuen, wenn M[arianne] die Meine würde. Jedenfalls entscheidet es sich erst in längerer Zeit. Wolle also heiter-ruhig an mich denken. M[arianne] war mit Lotte verreist, damit sie mich während der Kieler Tage nicht genirten u. mein bloßes Vorübergehen vor dem Hause wieder die Empfindungsgabe der

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Dilthey an Hermann Usener

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ganzen Stadt in Bewegung setze. Sie lebten – wie ich höre – wieder draußen im Garten, M[arianne], wie ich mir dachte – sie besucht keine Gesellschaft, läßt L[otte] überallhin allein gehen, und kein Wort ist von ihr zu gewinnen wie ihr zu Muthe sei; geschweige ein vertrauteres inmitten der zärtlichen Liebe so Vieler die sie umgiebt. Mit Archiv gehts langsam aus langweilig zu schreibenden Gründen. Ich bin aber außerordentlich fleißig, so wie ich es nie stärker war. Verkehre viel in Trendelenburgs Familie, mit Harms6 u Grimms – sonst mit Niemand da mich außerhalb d[er] Wissenschaft alle persönl[ichen] Relationen die über die nächsten hinausgehen kalt lassen. Seid tausendmal gegrüßt Euer Wilhelm Königgrätzer Straße 54 14. Juni [18]71. Könnte ich Lily herzaubern an unsre Fenster für diese Tage! Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45. 1 Hermann Cohen (1842–1918) war neben Paul Natorp Mitbegründer der Marburger Schule des Neukantianismus und neben Natorp und Ernst Cassirer einer der wichtigsten Vertreter dieser philosophischen Richtung. Cohen war, nachdem er 1865 in Halle promoviert hatte, 1871 noch nicht habilitiert. (Zwei Versuche waren in Berlin gescheitert.) Erst nachdem Friedrich Albert Lange (1828–1875), der 1872 die Professur in Marburg erhalten und sich für ihn, den Juden, eingesetzt hatte, konnte sich Cohen 1873 hier habilitieren. 1875 wurde er in Marburg Extraordinarius und übernahm 1876 nach Langes Tod dessen Ordinariat. 2 Heinrich Czolbe (1819–1873) war Freund und Arzt von F. Ueberweg. Als Vertreter eines sensualistischen Naturalismus hatte er einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die philosophischen Anschauungen Ueberwegs. 3 Nicht überliefert. – Ein weiterer Brief war nach Meinung F.A. Langes am 19. 4. 1871 von Ueberweg an D. geschrieben worden. Doch er war nicht an D. gerichtet, sondern an H. Cohen; vgl. hierzu: F.A. Lange: Friedrich Ueberweg. Berlin 1871, S. 37, sowie Ders.: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Zweites Buch: Geschichte des Materialismus seit Kant (1875), 9. Aufl. Leipzig 1915, S. 538 f.: „Der dort erwähnte Brief Ueberwegs ‚an Prof. Dilthey‘ (S. 37), mit specieller Beziehung auf Ueberwegs Verhältnis zu Kant, ist in der Tat nicht an Dilthey gerichtet, sondern an Dr. Hermann Cohen, den Verfasser von ‚Kants Theorie der Erfahrung‘. Dieser Brief war von Cohen an Prof. Dilthey, von diesem an Ueberweg’s Verleger, Dr. Toeche, und von diesem ohne Couvert und nähere Bezeichnung nebst anderem Material an mich gesandt worden.“ 4 Nicht überliefert. 5 Evtl.: Wilhelm Adolf Friedrich Studemund (1843–1889): klass. Philologe; 1860 Studium in Berlin und Halle, 1868 a. o., 1869 o. Prof. in Würzburg, 1870 o. Prof. in Greifswald, 1872 in Straßburg, 1885 in Breslau. 6 Friedrich Harms lehrte seit 1867 in Berlin.

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Dilthey an Richard Adalbert Lipsius

[374] Dilthey an Richard Adalbert Lipsius Berlin, 15. Juni 1871. Lassen Sie mich, lieber Freund, noch einmal auf die Frage, ob Sie nicht in die philosophische Professur (sic) eintreten sollten, zurückkommen.1 Sie kennen ja meine Eigenheit, Gründe zuerst in ihrem vollen Gewicht in mich aufzunehmen u. später doch zu reagiren. Twesten hatte in Kiel seiner Zeit zugleich eine theologische und philosophische Professur.2 Inzwischen könnte eine solche Einrichtung als Notheinrichtung zwar gedacht werden, auf die Dauer aber würde sie wol nicht gerathen sein. Ein andres wäre ob Sie nicht wie Schl[eiermacher] der Philosophie daneben beibehielt, so theol[ogische] Vorlesungen beibehalten könnten. Dies würde stimmen mit den folgenden Gedanken. Ich weiß wol daß ich indem ich ihn hinsetze, unsre alte Differenz – oder die Eine vielmehr, denn eigentlich haben wir zwei fundamentale Differenzen, die in unser ganzes Wesen hineinreichen – wieder anrühre. Ich würde für wichtiger halten, den Aufbau der neuen Theologie, der nothwendig und eins unserer hervorragendsten Bedürfnisse ist, auf breitem Grunde, ganz von der halb der Praxis hingewandten Stellung des Theologen fern, mitzuunternehmen, als innerhalb der Theologie Vorkämpfer zu sein. Sie haben Kenntnisse für die wissensch[aftliche] Grundlegung der Religionsphilosophie wie kein zweiter. Würden Sie mit diesen die ganze Breite der Probleme vornehmen, in die Beschäftigung auch mit den anderen Religionen hineinzugehen die Muße finden, in der durchgearbeiteten Psychologie Ethik etc. überall Mittel der Bearbeitung finden; so wären Sie der Mann, Religionswissenschaft um einen wichtigen Schritt weiterzufördern. Dann stünde Ihnen immerhin frei, die Consequenzen für die Dogmatik selber zu ziehen. Ja Sie könnten unter veränderten Verhältnissen in die theologische Fakultät zurückkehren. Für die Philosophie würde so eine wichtige Kraft gewonnen, die eines ihrer fruchtbarsten Gebiete produktiv bearbeiten würde. Ich habe mich nur verpflichtet gefühlt, da einmal nach meiner Denkart dies mir als das wünschenswürdigere erscheint und ich neulich von Ihren Einwendungen irre gemacht war, noch einmal Ihnen was ich denke auszusprechen. Noch immer ist was in Ihren Einwendungen lag wie Sie sehen für mich nicht da – es ist keine Fahnenflucht. Was aber den äußern Schein betrifft, so

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Dilthey an Richard Adalbert Lipsius

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bin ich weit entfernt ihn für gleichgültig zu halten, aber bei wesentlichen Lebensentschlüssen darf er nicht bestimmen. Soviel meine Seele zu retten und vielleicht doch noch einmal Sie diese mir sehr am Herzen liegende Frage durchdenken zu lassen. Welchen mir lieberen Erben könnte ich haben! Überwegs Tod hat mich tief erschüttert. Es ist eine rechte deutsche armselige Gelehrtentragödie – Armuth, Gewöhnungen dürftigen und die Gesundheit nicht achtenden Lebens –, die dann selbst bei bessren Verhältnissen tragisch in den Lebensgang eingreifen. Mich freut daß er durch meine Vermittlung noch in den letzten Tagen von hier aus verschiedene Zeichen, wie erregt wir alle an ihm theilnehmen empfing; besonders scheint ein Brief Trendelenburgs, mit welchem er verschiedene Differenzen gehabt hatte, ihm eine große Freude noch gewesen zu sein. Beneke,3 Waitz,4 Überweg – eine Reihe tragischer Fälle die zu denken giebt. Original: nicht überliefert; Erstdruck: Von Kieler Professoren. Briefe aus drei Jahrhunderten zur Geschichte der Universität Kiel. Hg. von M. Liepmann. Stuttgart/Berlin 1916, S. 380f. 1 Lipsius war seit 1865 o. Prof. der Theologie in Kiel. Auf D.s Vorschlag, in die philosophische Fakultät einzutreten, ging er nicht ein und wechselte noch in demselben Jahr an die Universität Jena. 2 A.D. Twesten hatte, bevor er 1834 als Nachfolger Schleiermachers nach Berlin berufen wurde, zwischen 1814 und 1834 eine a. o. Professur für Theologie und zugleich für Philosophie inne. 3 Friedrich Eduard Beneke (1798–1854): Philosoph; 1832–1854 Extraordinarius in Berlin. – Beneke wurde ein Jahr nach der Habilitation in Berlin mit Zustimmung Hegels die venia legendi wegen seiner Schrift Grundlegung zur Physik der Sitten (1822) wieder entzogen. Das Scheitern seiner Karriere war damit vorprogrammiert. Beneke kam unter ungeklärten Umständen durch Mord oder Selbstmord zu Tode. 4 Theodor Waitz, der – seit 1848 als a. o. Prof. in Marburg tätig – dort erst 1862 o. Prof. wurde, war im Alter von nur 43 Jahren an Typhus gestorben.

[375] Dilthey an Carl Justi Liebster Freund, Ich bin nun von der Fakultät feierlich beauftragt, Ihnen ein entschiedenes Ja zu erpressen. Zugleich ist an Lazarus geschrieben ob er kommen wolle.1 Sie beide sind Concurrenten. Es wäre daher für Ihre Berufung von der größ-

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Dilthey an Carl Justi

ten Wichtigkeit, könnten Sie sich rundweg bereit erklären dem Ruf zu folgen. Und wie sollten Sie nicht? Sie haben doch meinen ausführlichen etwa vor 8 Tagen abgesandten Brief empfangen der Ihnen die Kieler Lage schildert?2 So klein die Universität ist, für die Strebsamkeit des Philosophen ist sie ausnehmend günstig – dabei ganz andre pecuniäre Verhältnisse, eine größere Stadt von sehr mannigfaltigem Leben, und die schönste Gegend. Was die pec[uniären] Verhältnisse betrifft so kennen Sie das Gesetz welchem gemäß über Gehalt von Fakultäten aus keine Mittheilung gemacht werden darf. Doch steht nichts entgegen daß ich sage, ich habe 1440 Thaler gehabt, wozu Steuerfreiheit des Hauses in dem Sie wohnen u. vermuthlich Bezahl[un]g für Prüfungscommission kommen. Haben Sie noch ein Bedenken so bitte ich es mir umgehend zu schreiben. Ich glaube in dem vor c 8 Tagen abgesandten Brief Alles berührt zu haben. Man wartet in Kiel sehnsüchtig auf Ihre Antwort. Senden Sie sie also am besten unmittelbar dorthin an: Usinger, Professor der Geschichte u. zeitigen Dekan der philos[ophischen] Fakultät. Kiel. Mir brauchen Sie dann erst drauf die Benachrichtigung zukommen zu lassen damit ich orientirt bin. Sie gehen sicher in Kiel einem schönen neuen Leben entgegen; ich sehe Sie da im Geiste verheirathet, glücklich, lebensfroh – Alles was mir nicht vergönnt war. Ihr treuer Freund Wilhelm Dilthey Berlin Königgrätzer Straße 54 3 Treppe[n] 19 Juni [18]71. Original: Hs.; ULB Bonn, Korrespondenz – NL C. Justi, S 1703, 1, 11. 1 Moritz Lazarus lehrte zu dieser Zeit an der Berliner Kriegsakademie. – Nachfolger D.s wurde Carl Justi. 2 Vgl. dazu Brief 371.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

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[376] Dilthey an Wilhelm Scherer Liebster Freund, Es ist lange daß Sie kein Wort von mir vernommen u. auch heut ist nicht meine Absicht mich auszusprechen, da ich Mitte August in das bair[ische] Gebirg u. Tyrol komme, also Sie zu sehen hoffe. Vielmehr habe ich heute nur eine Bitte an Sie in gemeinschaftlichen Zwecken. Auch über Ihr Buch kann ich weggehen, von dem ich sonst sehr voll bin; aber Sie werden das in diesen Tagen in der Nationalzeitung lesen.1 Das Folgende vertraulich. Heut früh war ich bei Unterstaatssekr[etär] Schmidt u. er lenkte das Gespräch auf Straßburg.2 Ich bemerkte 1. Jede neue Univ[ersität] müsse ein Eigenthümliches haben was sie besonders leistungsfähig mache. 2. Die naturwissensch[aftlich] specialisirte Besetzung mit Anw[endung] auf Medicin in Berlin, Heidelberg, Leipzig, Wien könne Straßburg nicht überbieten wollen. 3. Dagegen könne es die erste deutsche Univ[ersität] sein welche die volle specialisirte Organisation der Geisteswissenschaften einmal durchführe, während an d[en] alten Univ[ersitäten] zufällige Einschieb[un]g[e]n nur stattfinden. 4. daher zu fordern a) größere Specialisirung der kritisch empir[ischen] Wissenschaften b) weitere Durchführung der auf größerer Generalisation ruhenden vergleichenden Wissenschaften z.B. vergleichende Religionsgesch[ichte], vergleich[ende] Litt[eratur]gesch[ichte] c) näherer Anschluß philos[ophischer] Dozenten an die Aufgabe allg[emein]ster Generalisationen in den Geisteswissenschaften. Er ging sehr lebhaft in diese Ideen ein u. bat, ganz unvermuthet, um eine schriftliche Darlegung mit Angabe der vorhandenen Einzelkräfte für solche Aufgaben; er wolle sie dann Delbrück u. Bismarck3 vorlegen. Ich versprach das unter der Bedingung, daß mein Name dabei schlechterdings nicht genannt werde.4 Nun, liebster Freund, thun Sie mir die Liebe u. schreiben mir Ihre Gedanken über das Ganze, sowie Ihre thatsächlichen Bemerkungen über vergleich[ende] Sprachwiss[enschaft] sowie die welche Professuren für Sprachgruppen Ihnen nothw[endig] scheinen, auch was Sie von Personalien zu bemerken haben würden, in der ersten müßigen Stunde die Sie finden. Dieses in größter Eile. Ich bin sehr fleißig. Sehe außer Trendel[en]b[urg] Harms u. Grimm kaum Jemanden. Gehe schon Anfang August nach Kiel, dort mich zu verabschieden.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

Also opfern Sie sich für diese wirklich außerordentlich wichtige Sache, für die Sie noch ein besonderes Interesse haben müss[en], da Sie ohne Zweifel nach Straß[burg] kommen. Herzlich der Ihre Dilthey Selbstverständlich wollen Sie mit Niemanden von diesem Ganzen reden. Königgrätzer Straße 54. 3 Treppe[n] d[en] 14 Juli [18]71. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 19; ein handschriftliches Transkript des Briefes von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 19. 1

W. Scherer: Geschichte des Elsasses von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Bilder aus dem politischen und geistigen Leben der deutschen Westmark. In zusammenhängender Erzählung. 2 Halbbände. Berlin 1871. – Eine Rezension D.s in der Nationalzeitung ist nicht nachgewiesen. 2 Die 1871/72 gegründete Reichsuniversität Straßburg sollte zum „Ausgangspunkt der deutschen Universitätsreform“ werden – eine Hoffnung, die sich nicht erfüllte (vgl. Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister, Beamte, Ratgeber. Hg. von W. Treue/K. Gründer. Berlin 1987, S. 202). 3 Rudolph von Delbrück (1817–1903): Politiker; 1849 leitender Beamter im preuß. Handelsministerium, seit 1871 Präsident des Reichskanzleramts. – Otto von Bismarck war damals Reichskanzler und Ministerpräsident. 4 Vgl. hierzu D.: Entwurf zu einem Gutachten über die Gründung der Universität Straßburg. Aus dem handschriftlichen Nachlaß mitgeteilt, in: Die Erziehung 16 (1941), S. 81–85.

[377] Dilthey an Carl Justi [Berlin, Juli 1871] Voraussetzend, theurer Freund, daß Ihre u. unsre Angelegenheit nunmehr in Ordnung nach dem was ich von Kiel u. v[on] Olsh[ausen] der ja nun bei Ihnen gewesen sein wird hörte – 2 eilige Fragen: 1. ich habe in Kiel entschieden die schönste Wohnung gehabt, die sogen[annte] Professorenwohnung 5 Zimmer, ganz möblirt, 160 r. p[er] Jahr. Gestern kommt Bruder eines Seeofficiers, der sie mir von jetzt ab, da ich bis

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1 Oct[ober] unterwegs, abmiethen will. Ich habe ihn vertröstet, wann ich den 2. Aug[ust] nach Kiel käme mit ihm drüber sprechen zu wollen. Wollen Sie nun dieselbe, so schreiben Sie bis 2. August ein kurzes Wort. Sonst zieht der dann gleich ein. 2. Mitte August bin ich in München-Salzburg. Wie wärs wenn wir uns in München träfen u. von da nach Salzb[urg] gingen u. gemeinsam philosophando einige Tage in den Bergen flanirten? Ich bleibe wol bis Mitte October in den Bergen wo ich vielleicht bis zum Gardasee vordringe. Eiligst, in unsäglicher Arbeit der Ihrige Dilthey Königgrätzer Straße 54 z.Z. Berlin – bis zum 1 August Von da: Kiel Lorenzdamm bei Ackermann. Original: Hs.; ULB Bonn, Korrespondenz – NL C. Justi, S 1703, 1, 1.

[378] Dilthey an Carl Justi Nur eiligst lieber Freund, 1. wenden Sie sich Kiel Ackermann Lorenzendamm (Hofgerichtssekretär der Titel des Mannes) und miethen von ihm meine Wohnung mit dens[elben] Bedingungen die ich hatte. 2. sie ist ganz möblirt u. recht gut. Ich bin auf der Reise u. werfe dies nur in den Kasten. Gestern war ich auf dem Piz Languard1 – Morgen haben wir Gletschertour – von da nach Chur zurück. Beste Grüße Ihr Dilthey Pontresina 4 Sept[ember] [18]71. Original: Hs.; ULB Bonn, Korrespondenz – Nl C. Justi, S 1703, 1, 12. 1

Berg im Oberengadin, Graubünden/Schweiz, nahe des Ortes Pontresina.

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Dilthey an Ernst Reimer

[379] Dilthey an Ernst Reimer Darf ich, verehrtester Freund, Sie damit behelligen falls noch Ex[emplare] des Überweg1 da sind zu senden: 1. Herrn Prof. Drobisch, Professor der Philosophie zu Leipzig, Universitätsstraße. 1. Herrn Prof. Usinger, Prof. der Geschichte zu Kiel. Ich habe viel Freude an dem Aufsatz, von nicht wenigen Seiten höre ich daß er seinem Zweck ganz entsprochen u. außerdem gefallen hat. Die Mühe haben Sie wieder gehabt. In München habe ich die ganze Gesellschaft d[er] Historiker gesehn, auch in Leipzig viele Professoren. Hier bin ich noch mit Auspacken beschäftigt2 u. da ich mir einen großen Schreibtisch nach m[einen] besondren Bedürfnissen bauen lasse, bitte ich die Übersendung des Köfferchens noch ausstehen zu lassen bis der Schreibtisch da ist – wenn ich es nicht selber zu Weihnachten abhole. Für Spinoza wieder Mancherlei aus Bibliotheken. Er wird nun nicht nur für philosophisch-Interessirte sondern auch für Historiker u. Literarhistoriker etc., sodaß ich denke er wird guten Absatz haben. Und da ich ungeheuren Arbeitseifer mitgebracht habe, hoffe ich, er soll in diesem Winter fertig und gedruckt werden. Sinnen Sie nur immerhin auf ein recht schönes Format: denn diesmal wollen wir durch Schönheit des Druckes glänzen.3 Besuche mache ich hier erst, wenn ich mit Büchern u. Papieren in einiger Ordnung bin, habe daher noch Niemanden gesehn. Empfehlen Sie mich den Ihren u. grüßen wen Sie von gemeins[amen] Freunden sehn. M[it] ergebenstem Gruß d[er] Ihre Dilthey Breslau, Klosterstraße 85 b. d[en] 7 Oct[ober] [18]71. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 55. 1

D.s Nachruf auf F. Ueberweg, in: PJ 28 (1871), S. 309–322. D. war Anfang Oktober nach Breslau gezogen. 3 D.s lange währende Arbeit an einem Spinoza-Buch sollte vorbereitet werden durch eine Arbeit mit dem Titel Spinoza über die Affekte, die „Seinem hochverehrten Amtsgenossen Herrn Dr. 2

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Dilthey an Ernst Reimer

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Peter Joseph Elvenich zum 23. März 1872“ gewidmet war und von G.E. Reimer verlegt werden sollte (vgl. Brief 372). – Die Fertigstellung des Buches kam nicht zustande.

[380] Dilthey an Herman Grimm Vielen Dank, liebster Freund, für das erfreuliche Lebenszeichen von Ihnen. Ich war auch in Dresden und finde meinen Eindruck von Ihnen auf das Erfreulichste weiter aufgeklärt. Ich glaubte eine Zeichnung Holbeins u. seine eigene Arbeit an der Madonna als sicher betrachten zu dürfen.1 – Ihre Gründe darüber hinauszugehen, hergenommen aus dem Verhältniß der betreff[enden] Köpfe zu den Handzeichnungen u. dem verschiedenen Lebensstadium der Darstellung haben da ich lese etwas sehr Einleuchtendes u. ich bedaure sehr den Aufs[atz] nicht vor der Untersuchung zur Hand gehabt zu haben.2 Zu Seite 10 erlaube ich nur mir die Bemerkung ad ‚ganz andere Auffassung‘ wobei Sie voraussetzen das Doppelkinn sei auf dem Darmst[ädter] Exemplar nicht gewesen: mit derselben Deutlichkeit mit der man die von zwei von Ihnen bezeichneten Übermalungen von Holbeins eigner Hand nicht die Beschaffenheit der bemalten Leinwand durcherkennt (ja bei dem Haar des Mädchens ist ein Riß zu erkennen), habe ich das Doppelkinn auf dem Darmstädt[er] Exemplar mit der unbedingtesten Klarheit hindurchgesehen, von der rechten Seite gegen das Licht hin den Spiegel des Gemäldes drehend, gemeinsam mit Prof. Richard Schöne3 aus Halle, der ja selber Maler gewesen ist. Hier müssen Sie also in irgend einem Nachtrag, nachdem Sie sich der Thats[ache] versichert haben, baldigst eine Berichtigung geben, damit man Ihnen nicht zuvorkomme. Denn der Punkt ist sehr wichtig, weil draus evident hervorgeht, daß das übermalte Orig[inal] der Darmst[ädter] Madonna dem Dresd[ner] Typus nahe stand u. dann nur einem italien[ischen] Typus zum Opfer fiel. Hierbei merke ich an: höchst interessant die von Fechner4 provocirten Urtheile. Meist findet Publicum den Kopf der Darmst[ädter] Madonna schöner! zum Beweis wie stets der des italien[ischen] Typus den Sieg behält für den simplen Betrachter.5 Daß wir uns in Tyrol verfehlt, war das einzige Mißlingen unsrer schönen Reise. In München bin ich unter die Historik[er] ge[gangen], in Leipzig unter die Prof[essoren], in Dresden unter die Kunstkenner; hier, in dem alten Nest, kommen liebenswürdige, interess[ante] Collegen u. ihre ditto Frauen mir freundschaftlichst entgegen u. so gedenke ich einen guten behaglichen Winter zu verleben. Näheres nächstens. Wollen Sie mich Ihrer Frau Gemahlin be-

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Dilthey an Herman Grimm

stens empfehlen u. die Freunde grüßen. Sie selber aber lassen wohl einmal ein Wort von sich vernehmen, wenn Sie in Wohlthäterstimmung sind. Herzlich der Ihre Dilthey Klosterstraße 85b Breslau d[en] 17 Oct[ober] [18]71. Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Brief 928. 1 Im Herbst 1871 fand – zeitgleich mit einer Holbein-Ausstellung – eine Tagung von Kunstgelehrten in Dresden statt, auf der es um die Authentizität zweier angeblicher Gemälde von Hans Holbein dem Jüngeren ging: die Dresdner und die Darmstädter Madonna mit der Familie des Bürgermeister Meyers. Entgegen der bis dahin geläufigen Meinung entschieden damals die Kunsthistoriker, dass es sich bei der Darmstädter Madonna um das Original von 1526, bei der Dresdner dagegen um eine Kopie aus dem frühen 17. Jahrhundert handele. Damit wurde ein Gelehrtenstreit, der bereits Jahrzehnte angehalten hatte, endgültig beigelegt. 2 Vgl. H. Grimm: Die Holbein’sche Madonna, in: PJ 28 (1871), S. 418–431. 3 Richard Schöne (1840–1922): klass. Philologe und Philosoph; seit 1869 a. o. Prof. für Archäologie in Halle, ab 1872 Referent für Kunstangelegenheiten im preuß. Kultusministerium, 1880 Generaldirektor der Staatlichen Museen in Berlin. 4 G.Th. Fechner: Ueber die Aechtheitsfrage der Holbein’schen Madonna. Discussion und Acten. Leipzig 1871. 5 Die Dresdner Madonna galt bis dahin als das deutsche Gegenstück zu Raphaels Sixtinischer Madonna von 1512/13, wohingegen die Darmstädter Ähnlichkeiten mit dieser aufweist.

[381] Dilthey an Wilhelm Scherer Liebster Scherer, Ich schreibe um Sie an Ihr Versprechen zu mahnen mir aus Berlin einen Bericht üb[er] Straßburg zu senden, nebst App[ell] wie es bei Dunckers etc. geht. Also aus frevelhaftem Egoismus. Ich bin hier gleich den 2. Tag da ich mit Neumann1 im Freien Café getrunken hatte unwohl geworden u. fast war mir willkommen mich erst wieder in m[eine] Arbeiten zurechtzusetzen ehe ich in das Treiben das eine neue gesellige Lage mit sich bringt hineingeriethe. Neubegier die Menschen kennen zu lernen, unter denen ich leben werde, habe ich sträflicher Weise nur sehr wenig. Doch haben mir die welche ich bisher kennen gelernt, besonders der Jurist Stobbe,2 der Geologe Römer,3 der Physiologe Heydenhain4 ungemein

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Dilthey an Wilhelm Scherer

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gut gefallen u. ich werde hier sehr behagliche gesellschaftliche Verhältnisse finden. Alles kommt mir herzlich u. einfach entgegen. Dagegen erfüllen mich Klima u. Lage Breslaus mit Entsetzen, wenn ich denke daß ich hier einen Theil meines Lebens zubringen sollte. Für einen Menschen der wie ich mehr mit d[er] Natur als in Gesellschaft zu leben Neigung hat u. für einen am Rhein geborenen ist der Gedanke gar nicht auszudenken. Ordentlich kennen gelernt habe ich bis jetzt hier nur die Bibliothek und ihre – Lücken. Auch hier mußte ich schon mehrmals ein Buch kaufen, um es überhaupt zu haben, und ich habe an Toeche geschrieben, ob ich nicht aus Überwegs Bibl[iothek] etwa für 200 Thaler Bücher haben kann, um mich an einigen Punkten besonders für alte Philos[ophie] mehr zu arrondiren. Es war doch schön, lieber Freund, daß wir uns wieder einmal ordentlich gesprochen haben u. wenn ich nur ein paar Tage herauszuschlagen wüßte käme ich nach Berlin, um Sie und Erdm[annsdörffer] u. Grimm u. Treitschke wieder zu sprechen. Aber wenn der Spinoza im Winter fertig werden soll neben den Vorlesungen, so ist kein Tag zu verlieren. Denn die Anthropologie muß ich ganz neu schreiben. Es ist hart. Braniß5 ist erstaunlich gelehrt. Er würde Sie auch sehr interessiren. Ihm fehlt um produktiv zu sein nur Methode. Soviel, liebster Freund, recht eilig. Grüßen Sie die Freunde herzlich u. lassen bald etwas von sich hören. Herzlich der Ihre Dilthey Breslau, Klosterstraße 85.b d[en] 20 Oct[ober] [18]71. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 20; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 20. 1 Karl Neumann (1823–1880): Historiker und Geograph; 1860 a. o., seit 1865 o. Prof. der alten Geschichte und Geographie in Breslau. 2 Johann Ernst Otto Stobbe (1831–1887): Jurist; 1856 a. o. und seit 1859 o. Prof. für deutsches Recht in Breslau, ab 1872 in Leipzig. 3 Ferdinand Römer (1818–1891): Geologe; seit 1855 o. Prof. für Mineralogie in Breslau. 4 Rudolf Heidenhain (1834–1897): Physiologe; seit 1859 o. Prof. für Physiologie und Histologie in Breslau. 5 Ch.J. Braniß war seit 1833 o. Prof. in Breslau. – D. war Nachfolger auf Braniß’ Lehrstuhl.

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Theodor Toeche an Dilthey

[382] Theodor Toeche1 an DiltheyTheodor Toeche an Dilthey Lieber Freund! Endlich finde ich eine Stunde, die Zeilen, die ich längst auf dem Herzen habe, Ihnen zu schreiben. Ich reibe mich fast auf in elendem Tagesdienst der G[e]schäfte, allab[en]dlich spät sitze ich noch, des Haufens Herr zu werden und alles Labsal freundschaftlichen Austausches, b[e]haglichen G[e]dankengenusses wird mir genommen. Lange darf es wirklich nicht mit mir so bleiben. Wie viel hab ich Sie auf der Reise verfolgt, von der Erdm[annsdörffer] mir erzählte. Ich habe nicht Einen Tag in diesem prachtvollen Sommer die Mauern verlassen können. Das ist Sünde geg[en] den heilig[en] Geist. Eben jetzt bin ich dabei, einige Zeil[en] des G[e]dächtnisses an Überweg für die Vorrede der neu[en] Auflage von Band III zu schreiben.2 So bin ich also g[an]z im G[e]d[an]kenzusammenhang mit Ihnen u. Lange3 (den Ihnen Reicke4 send[en] wollte. Der Sicherheit weg[en] sende aber auch ich Ihnen ein Exemplar beigehend). Sie haben, wenn man so sagen könnte, die Sache ernstlicher, g[e]d[an]kenschwerer als Lange genommen, der zwar ein lebenswahres u. scharfes Bild von Üb[erweg] giebt – ich vermisse kaum einen Zug s[eine]s Wesens darin – aber, wenngleich dasselbe Ziel sich stellend, doch nicht so weit umsieht danach, wie Sie. Ihre Üb[erweg] entferntere Stellung hat diesem gleichsam den Vortheil gegeben, ihn im Ganzen u. objektiver b[e]trachten, seine Stellung im großen Zusammenhange der Forschung fester u weiter b[e]gründ[en] zu können als Lange, der s[ein]e persönliche B[e]zieh[un]g u Anschauung vorwalten läßt. Ich schreib Ihnen, wenn ich m[ein]e Zeil[en] fertig habe, noch ein paar abschließende Worte über d[ie]se uns so werthe Sache. Kaum war Ihr erster Brief 5 g[e]kommen, als Reicke mir mittheilte, die Buchh[an]dl[un]g v[on] Hübner und Matz habe für 115 Th[a]l[e]r (!) die g[an]ze Üb[erweg]sche Bibl[iothek] g[e]kauft,6 nachdem er die Kantiana für sich habe nehmen dürf[en], „ein Preis, mit dem man wohl zufried[en] sein kann; ich hatte gemeinsam mit Dr Czolbe noch ein paar Thaler weniger taxirt. Sie bestand großtheils aus Programmen, Dissertationen, Ausschnitt[en].“ Ich bin danach überzeugt, daß Ihre Wünsche – die übrig[en]s den Herren b[e]kannt waren – dort keine B[e]friedig[un]g g[e]fund[en] hätten. Reicke hat übrigens schon 2mal um 1 Exemplar Ihrer Characteristik gebet[en],7 die ich immer an Reimer zur Berücksichtig[un]g gegeben habe. Steinthals Aufsatz8 werde ich auch mir zu Gute kommen lassen; halten Sie mich nicht für gewiss[en]los. Könnt ich noch eine Bitte senden, schriebe ich heut schon am Aufsatz über Ihr W[er]k. Die Hauptsache ist, daß es mir so werth

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ist, daß eine schriftliche Auseinandersetz[un]g mit ihm mir unerläßlich ist; u. jednächster stille Abend ist – leider schon zu lange – dafür vor[ge]seh[en]. Und Sie an einer neuen Arbeit? Was das dümmste ist, ich kann das Wort Ihres Briefes nicht lesen: Spinozas Affektentheorie – was ist denn das? Ich denke aus Schleiermacher es zu v[er]steh[en], finde aber keine Bezieh[un]g. – Sag[en] Sie mirs g[e]leg[en]tlich. Wie ich zu Ihren aufmerksamsten u. nachdenklichsten Lesern immer g[e]höre, wissen Sie. Eine Ang[e]leg[en]heit, die ich nicht grade sehr vertrauensvoll aufnehme, weist mich – wirklich unerläßlich – an Ihren Rath. Eine schnelle Lektüre der beid[en] einlieg[en]d[en] Briefe setzt Sie davon in K[enn]t[ni]ß.9 Soll man der Sache trauen??? Ich hab dem Mann g[e]schrieben, daß weder ein Excerpt aus Überw[e]g noch eine rasche kecke Eselsbrücke sein Plan sein dürfe – im Ganzen aber bin ich nicht von vorn herein verneinend, weil ich mir wohl denk[en] kann, daß Überw[e]g stark verkürzt auch nützlich sein könnte (ich meine ein selbständiges, originales, kürzeres Werk) nur müßte es nicht für Candid[aten] der Philosophie – wer von denen nicht einmal bis zu Üb[erweg] steigt, ist doch keinen Galgenstrick werth – sondern mehr für Philolog[en] und Theolog[en] berechnet sein. Mich b[e]sticht etwas, daß er Thilo10 zu Rathe zieh[en] will. Könnt[en] Sie 2 Augenblicke der Sache widmen u mit Placet, Non liquet p.p. kurz beantwort[en]? Sie erwiesen mir wirklich einen Dienst. So ganz hatte ich Sie in Breslau kaum wohnlich g[e]glaubt. Mit d[em] guten g[e]selligen Verkehr ist all[er]di[n]gs sehr viel gewonnen. Das Klima – sollte es einem Kieler nicht erträglich sein. Ich kenne die Stadt nicht, u. würde sie flieh[en] müss[en], wenn etwa der Ostwind (wahrscheinlich) dort herrschte. Auf baldiges Wiederseh[en] im Brief! Getreulichst Ihr Th. Toeche 18/10 [18]71. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 k. 1

Darüber gedruckter Briefkopf: „E. S. Mittler & Sohn. Koenigliche Hofbuchhandlung und Buchdruckerei. Koch-Str. 69. Berlin.“ – Dieser Brief geht dem vorigen zeitlich voran. 2 F. Ueberwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie. Dritter Theil: Die Neuzeit erschien in der dritten, verbesserten und ergänzten Aufl. kurz nach Ueberwegs Tod im Jahre 1872 in Berlin. Th. Toeche, Freund Ueberwegs, hat ihm einen Nachruf auf den Autor vorangestellt (ebd., S. VII–XIII: Zur Erinnerung an den Verfasser).

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Theodor Toeche an Dilthey

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F.A. Lange: Friedrich Ueberweg. Berlin 1871. Rudolph Reicke (1825–1905): Kant-Forscher; er bearbeitete Ueberwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie neu. 5 Nicht überliefert. 6 D. wollte Bücher aus dem Nachlass Ueberwegs erwerben. 7 D.s Ueberweg-Nachruf. 8 Es ist unklar, welchen Aufsatz Steinthals Toeche hier meint. 9 Die zwei genannten Briefe liegen dem Brief Toeches nicht bei. 10 Christfried Albert Thilo (1813–1894): Philosoph, Herbart-Anhänger; Oberkonsistorialrat in Hannover. 4

[383] Otto Frick 1 an Dilthey Rinteln 23/10 [18]71. (a[n] d[er] Weser) Sehr geehrter u. lieber Herr Professor, Inliegende Abschrift eines Briefes W. v. Humboldts an Schleiermacher,2 (deren Rücksendung nicht nöthig ist) wollte ich in der Meinung, daß er ungedruckt ist, mit einigen Erklärungen für den Druck zurecht machen, (Preuß[ische] Jahrbücher); die Ges[ammelten] Werke W. v. Humboldts enthalten den Brief nicht; ob aber die Schleiermacher betreffenden Publicationen (Briefwechsel, v[on] Jonas u.s.w.) ihn schon haben, kann ich hier nicht entscheiden, da mir die Bücher fehlen. Sie als erste Autorität in Sachen der Schleiermacherschen Correspondenz[,] Sie werden mir das sicherlich sofort sagen können, (eine Correspondenzkarte genügte ja) u. werden es um der Sache willen u. in Erinnerung an unsere frühern freundschaftlich-collegialischen Beziehungen gewiß gern thun wollen. Ich möchte Sie also freundlichst darum ersuchen. Mit aufrichtiger u. herzlicher Theilnahme habe ich Ihre Laufbahn verfolgt u. Ihrer Erfolge gestaunt. – Ich habe mir, um aus der Misere eines städtischen Gymnasiums heraus an ein königliches zu kommen, diese Idylle in Rinteln im schönen Weserthal ausgebeten, freilich auch in der Hoffnung, das Leben meiner herzlieben Frau durch diesen Ortswechsel länger fristen zu können. [.|.|.]; am 5. März ist sie mir entrissen, jetzt von langem u. schwerem Leide erlöst, mir selbst zu unsäglicher Vereinsamung, um in der idyllischen Ruhe dieser Gegend, der Muße des Amtes, u. der Möglichkeit, meinen 4 Kindern (13–6 Jahre) leben zu können, (die in Potsdam fast [.|.|.] Trost u. Beruhigung bietet.) –

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Otto Frick an Dilthey

Führt Ihr Herz Sie einmal in meine Nähe, so vergessen Sie nicht, daß hier Jemand wohnt, der sich von Herzen freuen wird, Ihnen wieder einmal auf dem Lebensweg zu begegnen. Herzl[ichen] Gruß. der Ihrige O. Frick. Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 116/2, Bl.169–172 R. 1 Otto Frick (1832–1892): Pädagoge; 1855 Dr. phil., Hauslehrer der Söhne des preuß. Gesandten Ludwig von Wildenbruch in Konstantinopel (1803–1874), Gymnasiallehrer, zuletzt in Potsdam und Rinteln, 1878 Leiter der Franckeschen Stiftungen in Halle. 2 Die drei folgenden Blätter enthalten die Abschrift eines Briefes W. v. Humboldts an Schleiermacher aus Rom vom 12. März 1808.

[384] Dilthey an Wilhelm Scherer Lieber Scherer, Ich habe e[inen] großen Schrecken über Ihren Brief 1 bekommen. Nicht drüber daß Herr von R[oggenbach]2 etwas gegen mich hat (was aller Wahrsch[einlich]k[eit] nach auf Prof. Schaarschmidt3 zurückgeht, weil ich die Festigkeit habe, in Beruf[ungs]fragen m[ein] Urtheil über ihn, welches übrigens nicht nur das meinige ist, nicht über meine persönl[iche] Theilnahme für ihn das Übergewicht gewinnen zu lassen). Es würde mich locken, mit Ihnen, Treitschke usw. zus[ammen]zuwirken. Aber höher steht mir daß nicht der leiseste Anschein auf mich falle als bewürbe ich mich bei Herrn von R[oggenbach] um eine Stelle in Straßburg auf mittelbare Weise. Wenn Sie Geh[eimen] R[ath] Vincke demnächst nicht mehr sehn sollten, so sagen Sie es wenigstens Treitschke damit dieser ihm sagt, er möge lieber nicht mit Herrn von R[oggenbach] über mich sprechen. Ich bin nicht im geringsten geneigt unter den Bewerbern um Straßburg zu figuriren. Der Gedanke bringt mich in die peinlichste Verlegenheit. Verzeihen Sie mir daß ich Sie so belästige – aber Sie glauben nicht wie mich der Gedanke quälen würde daß auf diese Weise ein Schritt geschähe den man auch nur als von mir ausgehend deuten könnte, von dem ich wüßte ohne ernstlichst ihn zu verhindern.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

Ich beginne den 30ten meine Vorlesungen. M[an] sagt mir daß im Anfang nur auf sehr geringe Theiln[ahme] zu rechnen u. ich bin gewappnet die über mich ergehen zu lassen. Grüßen Sie die Freunde vielmals u. lassen aus Wien bald etwas von sich vernehmen. Von Herzen der Ihrige Dilthey Breslau, Klosterstraße 85b 25. Oct[ober] [18]71. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 21; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 21. 1

Nicht überliefert. F. Freiherr von Roggenbach war – wider seinen Willen – von Bismarck als Kommissar für die Neugründung der Reichsuniversität Straßburg eingesetzt worden, die im Mai 1872 eröffnet wurde. 3 C. Schaarschmidt war seit 1859 a. o. Prof. in Bonn. 2

[385] Dilthey an Carl Justi Seien Sie mir herzlich willkommen, liebster Freund, in meiner alten Wohnung.1 Möge alles Selige u. Freudige das ich da empfand Ihnen dort beschieden sein ohne das Leid das für mich damit verkettet war. Wollen Sie mir ein Gutes thun, so setzen Sie meine freundschaftliche Nachbarschaft mit Ribbeks fort. Bald werden Sie fühlen wie beide selten edle Menschen sind. Nich wahr, Sie thun es? Muß ich auf Ihre Besetzungsanfrage2 kurz antworten, so denke ich folgendes. 1. Laas3 hat seit seiner Dissertation nichts Philosophisches geleistet u. lange Schulthätigkeit ist für mich auch etwas Bedenkliches. Er käme nie in Frage, wenn nicht Trend[elenburg] ihn beständig empfähle, gemäß seiner Zuneigung für solche, die sich mit Aristot[eles] beschäftigt haben. Von ihm würde ich rathen abzusehn. 2. Seydel4 wird Ihnen, wenn Sie seine Arbeiten gelesen haben, ebenfalls nicht als der richtige Mann vorkommen. Seine Arb[eit] über jon[ische] Philos[ophie] u. d[ie] logische sind höchst unreif, etwas besser seine K[ritik] v[on] Schopenhauer. Aber es steht kaum von ihm je eine tüchtige u. reife Leistung zu erwarten.

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3. Rößler5 halte ich nach Kenntniß seiner Schrift über Gesch[ichte] d[er] Rechtsphilosophie sowie seiner Person für sehr tüchtig. Urtheilen Sie selber indem Sie sich die Schrift verschaffen. Dies über die von Ihnen genannten Personen. In Frage könnten außer ihnen noch kommen der sehr tüchtige E. Bratuschek,6 der sich eben in Berlin habilitirt hat, u. Schaarschmidt in Bonn. Jedenfalls würde diesen Eventualitäten gegenüber, objektiv genommen, von Laas gänzlich, und doch wol auch von Seydel abzusehen sein. Die Berufung von Laas könnte man ja gar nicht verantworten, anges[ichts] der Thats[ache] daß er ein Gymnasiallehrer ist der einmal eine aristotel[ische] Dissertation geschrieben hat. Dies höchst vertraulich. Rößler’s Schrift: Staatslehre. Band I müßten Sie sich doch erst verschaffen und sie lesen, ehe Sie einen definitiven Entschluß fassen. Wollen Sie mehr wissen, so stehe ich gern zu Diensten. Ich glaube, es würde sich dann um den von Ihnen herausgehobenen Rößler, der in Jena bereits Extraordinarius der Philosophie war, um Bratuschek u. Schaarschmidt handeln u. wenn Ihnen hier Züge zur Berath[ung] fehlen, so bezeichnen Sie dieselben mir, ich stehe gern zu Gebote. Daß ich unter denen welche ich für geeignet halte wieder einen einzelnen herausgreife, dürfen Sie mir freilich nicht zumuthen. Grüßen Sie die Hausbewohner u. lassen sich’s wohl sein, mein theurer Freund, lassen auch bald ein Wörtchen vernehmen. Ihr Dilthey Ich habe eine solche Sehnsucht nach Kiel daß ich am liebsten hier auf u. davon liefe. Klosterstraße 85b Breslau, 27ten Oct[ober] [18]71. Original: Hs.; ULB Bonn, Korrespondenz – NL C. Justi, S 1703, 1, 11. 1

Justi, der als Nachfolger D.s nach Kiel gegangen war, hatte dessen letzte dortige Wohnung (Lorenzdamm, bei Ackermann) übernommen. 2 Nicht überliefert. 3 Ernst Laas (1837–1885): Theologe und Philosoph, Schüler Trendelenburgs; 1860–1872 Gymnasiallehrer; ab 1872 o. Prof. der Philosophie in Straßburg. – eudaimo´nia Aristoteles in ethices principium quid velit et valeat. Berlin 1859. 4 Rudolf Seydel (1835–1892): Philosoph und Theologe; 1867 a. o. Prof. der Philosophie in Leipzig. – Der Fortschritt der Metaphysik unter den ältesten ionischen Philosophen. Eine ge-

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schichtsphilosophische Studie. Leipzig 1861; Schopenhauers philosophisches System. Dargestellt und beurtheilt. Leipzig 1857; Logik oder Wissenschaft vom Wissen mit Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Philosophie und Theologie im Umrisse dargestellt. Leipzig 1866. 5 K. Rößler: System der Staatslehre. A: Allgemeine Staatslehre. Leipzig 1857. Darin behandelt Rößler auch die Geschichte der Lehre vom Staat (Schleiermacher, Hegel etc.). 6 Ernst Bratuschek (1837–1888): Philosoph; Schüler Trendelenburgs; 1871 Habilitation und anschließend PD in Berlin, ab 1874 o. Prof. der Philosophie und Pädagogik in Gießen.

[386] Dilthey an Lily und Hermann Usener Solltet Ihr Liebsten auch finden daß ich zum Schelten kein Recht habe: so fange ich doch damit an. Hermann steckt natürlich tiefst in s[einer] Arbeit, ich sehe seinen Kopf sich zwischen einer halben Bibliothek auf s[einem] Schreibtisch umherbewegen. Aber warum Lily u. Marie mir nicht ein Wort zu m[einem] Geburtstag schrieben bleibt mir unerfindlich. Wenn ich an solchen Tage nicht schreibe hat es diesen Grund der bei jedem andren und vielen andren Gelehrten eben auch obwalten würde: ich denke nicht daran, das ist schlimm, ist aber wirklich kein Gemüthsfehler. Zur Strafe von m[einen] Zuständen nur das Nothdürftigste u. dieses nur für Hermann, dem ich dergleichen durchaus nicht übel nehme. Also liebster Hermann, von vielerlei Melancholie u. schlechter Einwirkung des Klimas auf m[eine] Gesundheit abgesehen, geht mir’s hier ganz gut. Die geselligen Verhältnisse lassen sich höchst behaglich an. Herz1 ist au fond bei aller Geistreichthuerei langweilig, aber gut u. zuverlässig. Roßbach2 capricirt sich von Karl mit Begeisterung zu sprechen. Mit Reiffersch[eid]3 habe ich keine Relation. Sehr vortrefflich ist Neumann,4 welcher hier großen Einfluß auf die Studenten hat. Die Juristen: Schulze5 der eine Milek zur Frau hat Stobbe, Göppert,6 Bar,7 alle reich oder sehr vermögend und höchst behaglich, gefallen mir sehr wohl u. mit ihnen verkehre ich eigentlich am meisten. Dann ist der Physiologe Heidenhaym8 mir sehr werthvoll u. auch ich scheine ihm zu gefallen, sodaß ich wol im Verlauf viel von ihm lernen werde. Hobrecht, der Oberbürgerm[eister]9 den ich von Berl[in] her kenne ist wahrhaft zärtlich zu mir. Überhaupt kriege ich recht gründlich die Kur gemacht. Meine Anthropologie, das Privatcoleg10 ist so voll daß im größten Auditorium die Bänke u. Stühle herausgestellt werden müssen. Ich arbeite ganz neu den Stoff durch u. stecke noch tief im physiologischen Theil. Anatom[ische] Tafeln, Henles eben erschienene Nervenlehre,11 Ludwig12 etc. sind mein täglich Brod.

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Spinoza war wol ein falscher Huth. Immerhin dient er dazu mich dies System wieder in s[einem] ganzen Umfang durcharbeiten zu lassen, zumal die Übungen dazu kommen.13 Diese sind noch sehr unförmlich, ungefähr 30 Theilnehmer, von denen die meisten noch gänzlich rudis14 sind. Ich muß erst sie kennen lernen, ehe ich sie mit tüchtigen Anforderungen anfassen kann. Alles in Allem: hätte ich 50.000 Thaler, so gäbe ich die ganze Univ[ersitäts]wirthschaft andren Tages auf u. läse nur alle 2 Jahre einmal. Ich habe keinen Ehrgeiz u. wünsche nichts als in Ruhe meine Arbeiten zu machen, während ich so ewig von den Vorles[ungen] zerrissen werde. Heut v[on] Grimm: Roggenb[ach] bleibt Winter in Berlin. Haupts[ächlich] mit pecuniärer Seite v[on] Straßb[urg] noch beschäftigt. – Übrigens ist ein Ruf von ihm an Botaniker De Barry15 nach Halle ergangen, er möge selber seine Bedingungen stellen: so dessen Schwager Spiegelberg16 hier. Im Übrigen laß bald ein Wort von Dir vernehmen. ‚Ach, ich bin des Treibens müde.‘ Hätte ich doch so viel bei Euch zu leben u. zu sterben. Zugleich fühle ich tief, wie was sonst von äußeren Dingen Reiz für mich hatte, nun allen verloren hat. Ich bin anders geworden. Besser u. tiefer, das fühle ich wohl, aber auch müder. Ich habe eine unsägliche Sehnsucht nach Euch. Laß bald ein Wörtchen von Dir hören u. theile Karl dem ich herzlich danke diese Zeilen mit. Nächstens an ihn Näheres. Allen tausend Grüße Dein Wilhelm 23 Nov[ember] [18]71. Breslau Klosterstr 85b. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 m. 1 Martin Julius Hertz (1818–1895): klass. Philologe; 1855 o. Prof. in Greifswald, seit 1862 in Breslau. 2 August Roßbach (1823–1898): Philologe und Archäologe; 1854 a. o. Prof. in Tübingen, seit 1856 o. Prof. der Philologie und Archäologie in Breslau. 3 August Reifferscheid (1835–1887): Philologe; 1867 a. o. Prof. in Bonn, seit 1868 o. Prof. der klass. Philologie in Breslau, ab 1885 in Straßburg. 4 K. Neumann lehrte seit 1862 in Breslau. 5 Hermann von Schulze-Gävernitz (1824–1888): Staatsrechtler; 1850 a. o. Prof. in Jena, seit 1857 o. Prof. in Breslau, ab 1878 in Heidelberg. 6 Heinrich Robert Göppert (1838–1882): Jurist, preuß. Ministerialbeamter; 1865 a. o., 1868 o. Prof. in Breslau, ab 1874 Vortragender Rat für Universitätsangelegenheiten im Kultusministerium. 7 Carl Ludwig Bar (1836–1913): Straf- und Völkerrechtler; 1863 als Dr. phil. Ruf nach Halle, 1866 Ordinarius für Kriminalrecht in Rostock, seit 1868 o. Prof. in Breslau, ab 1879 in Göttingen.

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D. meint den Physiologen R. Heidenhain. Arthur Hobrecht war 1863–1872 Oberbürgermeister von Breslau. 10 D. las im Wintersemester 1871/72 Anthropologie und Psychologie (3 std.). 11 Friedrich Gustav Jacob Henle (1809–1885): Mediziner; 1840 Prof. der Anatomie in Zürich, 1844 in Heidelberg, seit 1852 in Göttingen. – Handbuch der systematischen Anatomie des Menschen. 3 Bde. Braunschweig 1855–1879. 12 Karl Friedrich Wilhelm Ludwig (1816–1895): Physiologe; 1846 a. o. Prof. der vergleichenden Anatomie in Marburg, 1849 Prof. der Anatomie und Physiologie in Zürich, 1855 Prof. der Physiologie und Physik in Wien, seit 1865 Prof. der Physiologie in Leipzig. – Lehrbuch der Physiologie des Menschen. 2 Bde. Heidelberg 1852–1856, 2. Aufl. Leipzig 1858–1861. 13 D.s Vorlesung Über Spinoza und seinen Einfluß auf Lessing und Goethe (1 std.) und Übungen über Spinozas Ethik (2 std.). 14 Unerfahren, ungebildet. 15 Heinrich Anton de Bary (1831–1888): Mediziner und Botaniker; 1855 a. o., 1859 o. Prof. in Freiburg, 1867 in Halle, ab 1872 in Straßburg. 16 Otto Spiegelberg (1830–1881): Mediziner; 1861 o. Prof. der Geburtshilfe und Gynäkologie in Freiburg, 1864 in Königsberg, seit 1865 in Breslau. – Spiegelberg war seit 1862 mit einer Schwester de Barys verheiratet. 9

[387] Dilthey an Hermann Usener [Dezember 1871] Liebster Hermann, Weihnachtsmysterien! Wünschte einen Zettel, auf dem 1. was etwa Carlo1 Vergnügen machte 2. Lily 3. dem Familienverzügchen möchte ich nichts von Spielsachen kaufen sondern etwas was es auf seinem kleinen spaßhaften Leibe tragen könne. Als dann lasse Dir von Lily sagen, was ich für Bibrich kaufen könne, für Mama was recht Hübsches, den andren Kleinigkeiten. Und selbigen Zettel sende mir umgehend damit ich mit Frau Stobbe2 oder sonst einer Dame noch rechtzeitig einkaufen kann. Lebe höchst unruhig. Ich werde Weihnachten hier bleiben u. höchstens gegen Neujahr einige Tage nach Berlin gehn, auch das schwerlich, da mirs bei meiner Arbeit gar wohl zu Muthe ist. Zuhörer im Privatcolleg Anthrop[ologie] – 107 – was sagst Du dazu? Wie anders freilich, brächte ich mit Dir zus[ammen] die Studenten in Bonn in Bewegung! Colleg[iale] Verh[ältnisse] höchst angenehm. Definitives ad Straßb[urg] 1. Ihering3 Brief an Stobbe: er habe halb u. halb angen[ommen] gehabt, nach Straßburg gereist und dort Alles so gef[unden], daß er definitiv ablehnte. 2. De Barry in Halle an s[einen] Schwager Spiegel-

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berg hier (der auch von Rogg[enbach] gefr[agt] worden war, aber keine Lust hatte) daß Rogg[enbach] ihm geschr[ieben], er we[rde] demn[ächst] offic[iellen] Ruf bekommen u. möge sich vorbereiten. Scheint trotz Auss[icht] Botan[ischen] Garten etc. dort ganz nach s[einen] Wünschen einrichten zu dürfen, keine rechte Lust zu haben. Gesamteindruck überhaupt: wie Roggen[bach] d[ie] Sache verschleppt, sinkt das Interesse u. auch das der nordd[eutschen] Studenten wird kaum noch lebhaft genug sein, sie hinzuziehn. Was hieltest Du davon wenn ich m[ich] erkundige ob R[oggenbach] m[eine] Bemerk[un]gen erhält und falls nicht, das Allg[emeine] davon in d[en] preuß[ischen] Jahrb[üchern] drucken ließe? Für Stobbe wahrsch[einlich] Gierke.4 Mit Uebergehung divers[er] älterer Autoritäten, ers wol nun machen wird. Sovieles im Moment. Heut in 8 Tagen schon Ferien, deren ich wirklich bedarf. Ich habe mich doch sehr angestrengt u. will mich dann täglich auf dem Eis erholen, was hier faschionables Vergnügen ist, aber dabei ungeheuer gesund. Allen Tausend Grüße Dein Wilhelm Breslau Klosterstraße 85b 3 Tr[eppen] Was Lily und Kinder betrifft, dürfen sie nichts wissen, daß sie was kriegen. Lily aber kann Dir sagen was etwa in Bibrich Vergnügen machen würde. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 m. 1

Gemeint ist wahrscheinlich D.s Bruder Karl. Ehefrau des Breslauer Prof. für deutsches Recht, Otto Stobbe. 3 Rudolf von Jhering (1818–1892): Jurist; 1845 o. Prof. in Basel, 1846 in Rostock, 1849 in Kiel, 1852 in Gießen, 1868 in Wien, ab 1872 in Göttingen. 4 Otto Friedrich Gierke (1841–1921): Jurist; 1871 a. o. Prof. in Berlin, 1872 o. Prof. für deutsches Recht in Breslau, 1884 in Heidelberg, 1887 in Berlin. – Stobbe ging im Frühjahr 1872 nach Leipzig. 2

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Dilthey an Eduard Zeller

[388] Dilthey an Eduard Zeller Längst, hochverehrter Herr Professor, hatte ich das Bedürfniß, für Ihre gütige Anzeige des ersten Bandes meines Buches1 Ihnen meinen Dank zu sagen. Daß Sie, der Meister in der Geschichtschreibung der Philosophie, sich zu der Anzeige entschlossen u. daß Sie in der Hauptsache dem Verfahren und den Ergebnissen Ihre Billigung ausgesprochen: ist mir eine große Freude gewesen. Möchten Sie mir weiter Ihren Antheil an meinen Arbeiten bewahren. Es gehört zu dem Werthesten was meine äußere Existenz ausmacht. Sie haben doch meine Worte über Überweg empfangen? Es ist in der Versendung der Einzelabdrucke eine Verwirrung entstanden; im Falle die Versendung an Sie davon mitbetroffen wäre u. ein Exemplar Ihnen angenehm ist: steht es Ihnen gleich zu Diensten. Hier beginne ich nun mich einzuleben; es wird mir sehr schwer. Ich habe diese Übersiedelung als eine unter mehreren schweren Pflichten betrachtet. Als ich zuerst vernahm daß ich hier vorgeschlagen sei, habe ich damals nicht einen Augenblick mir vorgestellt, daß ich den Ruf annehmen würde. Verschiedene Gründe machen mir meine Stellung hier wenig meinen eigenen Bedürfnissen gemäß. Vor Allem hatte ich stets gewünscht mit einem Ortswechsel eine Beschränkung meiner Vorlesungen entweder auf das Systematische oder auf das Historische erreichen zu können. Ich bin mit meinen eigenen Untersuchungen von den Problemen der Geschichte ausgegangen und werde so in denselben stets nach beiden Seiten arbeiten müssen. Aber ein zweijähriger Cursus der Philosophie durch alle Fächer hindurch ist so zeitraubend, daß ich für die Vorlesungen mir stets eine Einschränkung dringend gewünscht habe, gleichviel auf welche von beiden Seiten. Ich empfinde das eben wieder mit doppelter Härte. Ich lese Anthropologie und die physiologische Seite macht mir wieder furchtbar zu schaffen. Komme ich dann zur Geschichte der alten Philosophie, so soll ich mich wieder in einen ganz anderen Kreis von Untersuchungen einspinnen. Dieser ewige Wechsel, den ich so vor mir sehe, macht mich wirbelig bei der bloßen Vorstellung. Wie sollen auf diese Weise die eigenen Arbeiten zum Abschluß kommen? – Nicht minder schwer wiegt bei mir, daß ich nun einmal des Umgangs mit der Natur und der inneren Stille mehr bedarf als der Geselligkeit. Meine Bestimmung wäre, im eigenen kleinen Hause unter meinen Büchern u. Papieren von Bäumen umgeben zu leben u. zu sterben. Ich bedarf wissenschaftlichen Austausch; dagegen so viel ich unter Menschen gelebt habe, so wenig ist mir Geselligkeit als solche irgend Bedürfniß. Und hier kann ich mich doch der Gesellschaft gar nicht entziehen, andrerseits ist die Natur so unbeschreiblich öde, das Klima so ungünstig, daß mir vor dem Sommer graut.

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Von solchem Gefühl abgesehen, daß meine hießige Lage nie meinen Bedürfnissen entsprechen werde – was ich ja von vornherein höchst deutlich wußte –, habe ich allen Grund mich zufrieden zu fühlen. Mein Verhältniß zu den Studenten hat sich überraschend schnell u. günstig gemacht; ich habe in der Privatvorl[esung] Anthropologie über 100 Zuhörer. Freilich verhehle ich mir nicht, daß ich ihnen viel zu tief in die Untersuchungen eingehe. Der Umfang, in welchem ich die Physiologie zu Grunde lege, kommt als besondre Schwierigkeit für sie hinzu. Lese ich dann im nächsten Sommer Wissenschaftslehre, so werden diese Schwierigkeiten sich, wie ich fürchte noch steigern. Ich konnte mich selbst den Studirenden in Kiel, die doch so viel weiter waren, nicht so accomodiren, wie ich gewünscht hätte. Erst wann ich meine Grundansichten veröffentlicht habe, darf ich hoffen daß darin Lektüre und Vorlesungen ineinander greifen. – Der collegialische Verkehr hier ist mir sehr angenehm; gesellschaftlich u. persönlich ist hier unter der großen Mehrheit eine höchst wohltuende Harmonie; dazu kommt, daß Hobrecht und Röpell2 mich seit Jahren kennen, sodaß ich doch das Gefühl einigen Zusammenhangs mit meinem früheren Leben habe, das dem so sehr angenehm ist, der wieder unter ganz neuen Menschen lebt. – Sehr werth ist mir der Verkehr mit Braniß. Ohne mich irgend zu kennen, ohne jede Beziehung zu mir, hat er seinerzeit einer Deputation der Fakultät an ihn bei seinem Rücktritt erklärt, daß er mich zu seinem Nachfolger in erster Linie wünsche, und ich finde mich überall von ihm harmonisch berührt. Seine Kenntnisse sind ihrer Ausdehnung nach ebenso außerordentlich als seine noch immer in jugendlichem Feuer kräftige Beredsamkeit. Möchte bald Ihre Geschichte der neueren Philosophie erscheinen;3 als ich im Herbst Professor Waitz4 in München kennen lernte, erzählte er schon von weit vorgeschrittenem Druck. Ich kann Ihnen nicht sagen wie begierig ich bin. Wollen Sie Treitschke wenn Sie ihn sehen von mir herzlich grüßen. Und sie selber mögen frohe Feiertage haben u. meiner gütig gedenken. Der Ihrige Wilhelm Dilthey Breslau, Klosterstraße 85b d[en] 10 December [18]71. Original: Hs.; UB Tübingen, Zeller-NL, Md 747–145. 1

E. Zeller: Schleiermacher in der ersten Hälfte seines Lebens, in: HZ 25 (1871), S. 49–65. Richard Röpell war seit 1854 o. Prof in Breslau und seit 1861 Mitglied des preuß. Landtags. – D. kannte Röpell seit 1862 aus Berlin. 2

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Dilthey an Eduard Zeller

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Zellers Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz erschien 1872 in München. Vermutlich G. Waitz, der in Göttingen lehrte, sich aber als führendes Mitglied der historischen Kommission der Akademie der Wissenschaften häufig in München aufhielt. 4

[389] Dilthey an Lily und Hermann Usener [Breslau, zu Weihnachten 1871] Nur einige eilige Worte, Ihr Liebsten, zur Begleitung des Beifolgenden das hoffentlich Freude machen wird. Das Kleid ist für Lily. Wie die 2 Stoffe gegeneinander zu setzen darüber liegt ein Probeblatt bei. Es ist das Allermodernste u. ich finde es ganz ausnehmend vornehm ruhig hübsch. Das Andre ist für Didi ihren kleinen Kopf Hals und Pfoten zu schützen. Beides hat meine verehrte kleine Freundin, Frau Professor Stobbe gestern mit großem Plaisir mit mir herausgesucht, auch Er hat sich lebhaft betheiligt, und sie sind beide höchst begierig zu hören daß die Sachen Beifall finden. Kl[ein] Mariech[en] hat einen sehr vornehmen Muff bekommen, Mariechen hat Buch u. Tante eine Spitze. An dem für Mama habe ich mich aber mit 1/3 betheiligt. Frohe Weihn[achten], Ihr Liebsten. Euer Paket liegt da u. wird Weihnachten geöffnet werden. Kommt Meiniges nicht rechtzeitig an, so ist Hermann dran schuld. Was Rapp – Bern betrifft,1 gewiß richtig, liebster Hermann. Auch ich bin wol proscribirt; ich darf wol sagen daß jede Fak[ultät] mich mit den 2 dort[igen] Philosophen mitvorgeschlagen hätte; wenn sich aber jemand von – Schaarschmidt berathen läßt: treten freilich neue Fälle ein, die niemand berechnen kann. Übrigens hat niemand mehr Zutrauen auf die ganze ‚Schöpfung‘,2 soweit hat es Herr von R[oggenbach] glücklich gebracht, und es war nicht leicht es so weit zu bringen. Taus[en]d Grüße Ihr Liebsten v[on] Eurem Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 m. 1 Evtl.: Karl Moritz Rapp (1803–1883): Philologe; 1832 Dozent für ausländische Sprachen und Literatur in Tübingen, 1852 a. o. Prof. ebd. – oder: Julius Rupp (1809–1884): protest. Theologe; 1842 Pfarrer und Honorarprof. in Königsberg. 2 Die Neugründung der Straßburger Universität.

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Dilthey an seine Mutter

[390] Dilthey an seine Mutter [Januar 1872] .|.|. Übrigens ist sonderbar wie völlig mir jeder äußere Ehrgeiz in dem Wunsch meine großen Arbeiten zustande zu bringen geschwunden ist. Die große Krisis der Wissenschaften und der europäischen Kultur in der wir leben nimmt mein Gemüth so tief und ganz gefangen, daß in ihr von Nutzen zu sein jeden äusseren persönlichen Ehrgeiz getilgt hat. Und das ist nöthig genug. Denn wie auch die Ministerien wechseln mögen: mein Radikalismus wird schon in meiner nächsten Arbeit einen gründlichen Schrecken verbreiten und im zweiten Bande des Schleiermachers werde ich den Kampf mit der gesamten auch liberalen Theologie so führen müssen, daß ich’s mit aller Welt verderbe. Da mir inzwischen dabei in meiner Haut sehr wohl ist und so Gott will bleiben wird, so hat das nichts zu sagen. Nun liebste Mama, laß bald wieder ein Wörtchen von Dir vernehmen. Ostern werden wir uns kaum sehen. Ich muß die Göttinger und Berliner Bibliothek benutzen. Doch steht noch alles im Ungewissen. Du weißt daß ich doch erst Abends wenn der Koffer zu packen gern einen Entschluß fasse. Tausend Grüße Allen von Eurem treusten Wilhelm. Klosterstr. 85b Original: nicht überliefert; ein unvollständiges maschinenschriftliches Transkript des Briefes (der Briefanfang fehlt) ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 o.

[391] Dilthey an seinen Bruder Karl [nach dem 24. Januar 1872] .|.|. Was ich über Berlin denke? Mir ist Trendelenburgs Tod ernst und tief nahe gegangen.1 Ich habe ihn lieb gehabt. Außer dieser Empfindung finde ich in mir gar keine. Ja ich gestehe Dir daß ich mich über mich geärgert habe, daß gar kein Wunsch sich in mir erheben wollte. Ich glaube wirklich, das Leben hat meinen Charakter gänzlich philosophisch gemacht. Ich hatte und habe nur den einen Wunsch – mit Dir, Herrmann und Lily zusammen zu le-

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Dilthey an seinen Bruder Karl

ben. Der nach Wirksamkeit ist mir hier erfüllt. Der Berliner Lage ist gegenwärtig, zumal seit Helmholtz da ist,2 niemand gewachsen. Jeder Griff ist ein Mißgriff. Ich glaube, in ein halb Dutzend Jahren werde ich vielleicht lebhaft wünschen, meine Gedanken dort darzulegen. Aber es ist kindisch, die Zukunft habgierig mitzuumfassen in seinen Gedanken, und wenn dies je bei mir der Fall war, so ist gegenwärtig nichts davon in meiner Seele. Mich dünkt, wenn meine nächsten Arbeiten gedruckt sein werden: werde ich einen gewissen Anspruch haben, die Verhältnisse nach meinen Wünschen zu lenken – und diese gingen dann doch immer nur auf Bonn. .|.|. Original: nicht überliefert; Teilabdruck des Briefes in: JD, S.315 f., Anm. 135. 1

D.s Berliner Lehrer und Förderer F.A. Trendelenburg starb am 24. Januar 1872. – D.s Bruder Karl hatte wohl in einem dem vorliegenden, vorausgegangenen, nicht überlieferten Brief die Möglichkeit nahegelegt, dass D. den Lehrstuhl seines verstorbenen Lehrers in Berlin nun besetzen könnte. 2 Hermann von Helmholtz (1821–1894): Physiologie und Physiker; 1848 o. Prof. der Physiologie in Berlin, 1851 in Bonn, 1858 in Heidelberg, seit 1871 Prof. der Physik in Berlin.

[392] Dilthey an Georg Ernst Reimer Hochverehrter Herr Reimer, Endlich bin ich mit meinen Vorlesungen dahin gelangt, für ein Jahr wenigstens ziemlich viel freie Zeit vor mir zu sehen. So soll nun der zweite Band wieder in Angriff genommen werden. Darf ich Sie also ergebenst bitten, den kleinen Koffer mit den Manuscripten, versichert mit 1000 Thalern, mir zusenden zu wollen. Unter dem neuen Ministerium1 wird man hoffentlich auch die letzten Barrieren in Bezug auf Ausnutzung des archivalischen Materials im Kultusministerium fallen lassen. Osterferien werde ich auf der Göttinger u. Berliner Bibliothek wahrscheinlich (nachdem ich starke Anfechtungen nach Rom zu gehen überstanden habe) zubringen. Das Manuscript, welches nun wahrscheinlich den Titel führen wird: Untersuchungen zur Förderung einer generellen Wissenschaft des Menschen u. der Geschichte. Erstes Heft: Spinoza u. die Theorie von der Gesetzmäßigkeit in den Leidenschaften und Handlungen der Menschen – soll hoffentlich Ende April druckfertig sein.2 Ich fühle mich sehr glücklich in meiner hießigen Wirksamkeit, die doch endlich verlohnt, daß man seine beste Kraft an sie setze. Auch alle andren

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Dilthey an Georg Ernst Reimer

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Verhältnisse sind mir behaglich, ausgenommen Klima u. Umgebung. Nun bekommen wir auch Gierke her u. einen sehr hervorragenden u. mir lieben Kieler Freund, den Anatomen Cohnheim,3 der Frl. Lewald heirathet – ich hoffe wenigstens daß er in unsren ausgeworfenen Netzen hängen bleibt. Hobrecht wird hoffentlich nicht seine hieß[ige] angenehme Stellung mit der dornenvollen Berliner vertauschen.4 Ich würde viel an ihm verlieren. Und er gehörte zu den paar Personen, welche der ganzen Stadt Physiognomie und Haltung gaben, ja war unter diesen entschieden die hervorragendste, Breslau würde, wenn er ginge ein anderes sein. Sie können denken wie schwer ich an dem Verlust Trendelenburgs trage. Seit meines Vaters Tode hat mich kein Todesfall so persönlich tief getroffen. Leben Sie wohl und empfehlen mich den Ihrigen u. grüßen die Freunde. Ganz ergebenst und dankbar wie immer der Ihre Dilthey Breslau, Klosterstraße 85.b 2 Febr[uar] [18]72. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 57–58. 1 Seit dem 22. Januar 1872 war Adalbert Falk (1827–1900) Minister für geistliche-, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten, nachdem Heinrich von Mühler am 12. Januar des Jahres von seinem Amt auf eigenen Wunsch zurückgetreten war, das er seit März 1862 inne gehabt hatte. 2 Dieser Publikationsplan wurde nicht realisiert. – Im Jahre 1875 veröffentlichte D. eine Abhandlung Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat, in: Philosophische Monatshefte 11 (1875), S. 118–132 und S. 241–267; WA in: GS V, S. 31–73. – Einen – wie er schreibt – für das „Erste Heft“ vorgesehenen Text über Spinoza hatte D. schon 1871 druckfertig machen wollen. Diese Abhandlung kam nicht zustande. 3 Julius Cohnheim kam 1872 als Prof. für allgemeine Pathologie nach Breslau, ebenso Otto Gierke als Prof. für deutsches Recht. 4 A. Hobrecht wurde 1872 Oberbürgermeister von Berlin.

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Dilthey an Hermann Usener

[393] Dilthey an Hermann Usener [15. Februar 1872]1 Liebster Hermann, beantworte mir auf einem Zettel (da ich das Unglück habe Mitglied zweier Commissionen für neuere Staatswissensch[afts-] u. Romanist[ik]professur zu sein): 1. Wie stellt sich das Urtheil der Universität zum Nat[ional]ökon[om]en Held?2 2. Weißt Du einen für Französ[ische] u. Engl[ische] Sprache? Der sonst sehr empfohlene Brink3 in Marburg gehört zu den fanatischen Altkatholiken, u. was das heißt erfahre ich hier in der Prüfungscommission, die Elvenich systemat[isch] seit 10 Jahren zur Degravation der Studierenden benutzt hat. O über die Miseren nicht der Universitäten blos, sondern der gewöhnlichen Menschennaturen. Wenigstens zeige ich nun den Andren in der Prüfung, wie sie hätten studieren müssen. Ich bekomme nach den Ex[amina] Dankbesuche und Dankbriefe von ihnen, sie hätten durch meine Fragen erst gelernt, wie sie hätten Philos[ophie] studieren müssen u. würden nun neu anfangen. Von Würzburg eine Anfrage Wegele’s, als Correferenten, ob ich etwa, wenn ein guter Gehalt von der Regierung zu erlangen wäre, geneigt sei dahin überzusiedeln.4 Nach der ungezogenen Art, wie Mühler die Geldfrage bei m[einer] Hierherkunft behandelt, werde ich es nicht ganz von der Hand weisen. Üb[er] die Absichten des Referenten weiß er nichts. Will auch sonst Vorschläge. Sprich natürlich nicht drüber. Mir sind nachgerade alle Fragen, die mich betreffen, absolut gleichgültig. Berlin betr[effend] habe ich schlechterdings nicht den Wunsch jetzt hinzukommen. Die Stellung ist so ungeheuer schwierig, daß meine Lebenspläne, für die ich hier die beste Muße habe sämtlich in den Brunnen fielen. Ich will wenn ich nicht nach Bonn kommen kann, nichts als möglichst hohen Gehalt und bald einen großen Urlaub. Mein dies[en] Winter anwährendes Ringen um die generelle psychol[ogische] Grundlage, zuweilen Wochen hindurch mit allen Zerstreuungen mit intensivster Anstrengung, hat noch immer nicht zu einem befriedigenden Ergebniß geführt, aber ich bin sehr gefordert. Bis zum Herbst habe ich nun sehr viel Muße vor mir u. werde sicher fertig werden. Nach außen wird in dieser Zeit das üb[er] Spinoza u. die Theorie der praktischen Menschennatur erscheinen. Ich denke als erstes Heft von Beiträgen zu Förderung einer generellen Wissenschaft des Menschen u. der Geschichte. Alsdann bin ich reif den zweiten Band des Schl[eier]m[ach]er so zu schreiben, daß er mit einer tiefgreifenden Analyse u. Kritik des ganzen Kulturkreises u. seiner Leistungen ab-

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schließt. Wie mir das Buch vorschwebt, muß es leitend in der ganzen gegenwärtigen erk[enntnis]kritischen wiss[en]sch[aftlichen] Bewegung werden. Nie war ich in Leb[en] u. Arbeiten so guten Muthes als jetzt. Und ich folge nur m[einem] Wesen, wenn ich für mich nur 2 Lebensfragen anerkenne: Raum für meine Arbeiten u. glückliche Häuslichkeit. Möge mir der Himmel dies beides zu Theil werden lassen: dann schenke ich ihm mit Behagen alles Übrige, was etwa für mich erreichbar wäre. Grüß Alle tausendmal Dein Wilhelm. Antworte auf die ersteren Fragen so bald Du im Stande bist, da wir Eile haben, damit der elende Tellkampf 5 uns nicht in die Quere kommt. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45. 1

Über der Anrede die Notiz des Empfängers: „Antw. 20 Febr. 71“, d. h. der Brief wird etwa am 15. Februar geschrieben worden sein, allerdings nicht im Jahre 1871, sondern 1872, denn D. war bereits in Breslau Kommissionsmitglied. 2 Adolf Held (1844–1880): Nationalökonom; 1868 a. o., 1872 o. Prof. in Bonn, 1880 in Berlin. 3 Bernhard ten Brink (1841–1892): Anglist; seit 1870 o. Prof. der neueren Sprachen und Literaturen in Marburg, 1873 Prof. für englische Philologie in Straßburg, 4 Franz Xaver Wegele (1823–1897): Historiker; 1851 Prof. in Jena, seit 1857 in Würzburg. – Die Bayerische Universität wollte einen zweiten Lehrstuhl für Philosophie einrichten. 5 Johann Ludwig (Louis) Tellkampf (1808–1876): Nationalökonom und Politiker; 1838– 1846 Prof. für Staatswissenschaften in New York, 1846 o. Prof. für Nationalökonomie in Breslau, 1855 Vertreter der Universität im preuß. Herrenhaus, 1871 Mitglied des Reichstags.

[394] Otto Ribbeck an Dilthey Kiel, 29. April 1872. Lieber Freund! Der Frühling ist fürwahr eine schöne Zeit: vere natus orbis est, wie es im pervigilium Veneris heißt,1 und diesmal unter andrem erfreulicherweise auch ein Brief 2 von Ihnen – nach der langen strengen Fastenzeit eine wahre Erquikkung! Wollte man nun was unterdessen sich an Mitteilungsstoff angesammelt hat, austauschen, um reinen Tisch zu machen, so müßte man vor allem selbst viel mehr Zeit haben, sich zu sammeln, als selbst in tiefem Kieler Idyll dem

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Otto Ribbeck an Dilthey

sterblichen Professor vergönnt ist. Ihre Mitteilungen hat der zurückgekehrte Cohnheim zum Teil noch ergänzt. Die Hauptergänzung, auf die ich am meisten gespannt bin, Ihre beiden Schriften nämlich, hat er freilich nicht mitgebracht. – Aber kennen Sie denn schon des Baseler Nietzsche „Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“ und was sagen Sie dazu?3 Ein kunstphilosophischer Dithyrambus in Schopenhauer-Wagnerschem Geist. Etwas holder Wahnsinn und gärender Most, aber doch in der Hauptsache (die freilich im Grunde nicht eben ganz neu ist) treffend und durchaus interessant. Wir können diese Art ingenium in unsrer verknöcherten Philologie recht wohl zur Erfrischung gebrauchen, zumal die solidesten Studien zu Grunde liegen, u.s.w. Original: nicht überliefert; Erstdruck: Otto Ribbeck. Ein Bild seines Lebens aus seinen Briefen 1846–1898. Hg. von E. Ribbeck. Stuttgart 1901, Brief 190. 1 Pervigilium Veneris („Nachtfeier der Venus“): spätantikes lateinisches Gedicht, das ohne Verfassernamen in der Anthologia Latina überliefert wurde. Es beschreibt die Wiederkehr des Frühlings mit der Belebung der Natur. – Vere natus orbis est: [Der Frühling] ist wahrhaft die Geburt des Erdkreises. 2 Nicht überliefert. 3 F. Nietzsches – in der Philologen-Zunft zumeist als Ärgernis empfundene – Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik war Anfang 1872 erschienen.

[395] Dilthey an Wilhelm Scherer Hier, mein lieber Freund, die Exemplare, welche nun freilich, da ich so wieder den Grundriß zur Hand bekomme, ein seltsames Gesicht machen. Fände ich doch nur die Zeit jetzt einen Grundriß von 2. 3 Bogen beim Lesen zu machen! Jedenfalls dürfen Sie Niemanden die Ex[emplare] geben ohne die Erläuterung, daß der Grundriß gemacht wurde während des ersten halben Jahres meines Docirens. 1 Mit den Vorles[ungen] gehts wieder vortrefflich, nur daß ich selber mich schwer wieder hineinfinde, den Kopf von der andren Arbeit voll. Ich habe noch nicht über die musi[kali]sche Frage geschrieben, weil 1. wir für Musik hier einen Angestellten u. Dozirenden haben, der freilich ungenügend, v[on] dess[en] Stell[un]g zu Studenten ich aber noch nichts in Erfahrung gebracht 2) ich wegen des Gymnasiums erst Morgen in der Prüfungscommission mich erkundigen kann. Also drüber nächstens.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

Ob ich damals als ich Sie sprach nicht über M[ommsen]s Gesinnung gegen m[einen] Bruder eine ganz falsche Vermuthung ausgesprochen: ist mir fraglich; ja ich glaube daß ich mich irrte. Ol[shausen] betreffend irrte ich mich sicher nicht. Von Herzen der Ihrige Dilthey Breslau d[en] 2ten Mai [18]72. In großer Eile Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 22; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 22. 1

D.s Grundriß der Logik und des Systems der philosophischen Wissenschaften wurde als Kompendium zu seiner Berliner Vorlesung, die er im Wintersemester 1865/66 zum zweiten Mal gehalten hatte, gedruckt; WA in: GS XX, S. 19–32.

[396] Heinrich von Treitschke an Dilthey Heidelberg 11/5 [18]72 Lieber Dilthey, ich stehe auf dem Sprunge zum Reichstage und kann Ihnen nur in aller Eile – gar nichts sagen. Die Sache schwebt noch; noch ist nicht einmal eine Commission ernannt; es wird noch eine Weile währen, bis die Ansichten sich klären. Vorderhand ist nur von Ihnen, Haym und Kuno die Rede.1 Vor Kuno graut den Meisten; einen Stänkerer können wir in unserem schon ganz zerrütteten, unbeschreiblich vergifteten collegialischen Leben am Allerwenigsten brauchen. Sobald ich mehr weiß, schreib’ ich wieder. Inzwischen nehmen Sie Sich die Sache nicht zu Herzen. Schenkel dominirt jetzt hier, für vernünftige Leute ist es kaum zum Aushalten. Mir sollt’ es freilich lieb sein, wenn uns die Furcht vor Kuno’s Unverträglichkeit noch zu Ihnen verhülfe. Mit herzlichem Gruß Ihr Treitschke Original: nicht überliefert; zwei Typoskripte des Briefes, die in der Rechtschreibung leicht voneinander abweichen, sind hinterlegt in: StB PK Berlin, HA, Treitschke-NL, K 15, Nr. 26, 8–9.

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Heinrich von Treitschke an Dilthey

1 R. Haym blieb in Halle, wo er seit 1868 als o. Prof. für deutsche Literatur lehrte; K. Fischer kehrte 1872 nach Heidelberg zurück, wo man ihm 1853 wegen des Vorwurfs des Pantheismus die venia legendi entzogen hatte.

[397] Dilthey an Adalbert Falk1 Breslau den 28. Mai 1872 Klosterstraße 85.b Gehorsamstes Gesuch des ordentlichen Professors der Philosophie Wilhelm Dilthey in Breslau, einen Ruf nach Würzburg betreffend. Anliegend: Berufungsakten von s[einer] Excellenz dem bairischen Herrn Staatsminister von Lutz.2 Hochgebietender Herr Staatsminister, Ew. Excellenz erlaubt sich der ergebenst Unterzeichnete den beiliegenden Ruf an die Universität Würzburg gehorsamst vorzulegen.3 Die sich in Würzburg bietende Lage ist der hießigen vielfach überlegen. Die Zahl meiner Zuhörer würde kaum in Würzburg sinken, denn die geringere Frequenz der Universität wird durch die dortige Einrichtung eines philosophischen d.h. allgemein-wissenschaftlichen Kursus zum Beginn der Universitätsstudien ausgeglichen: diesem Kursus allein pflegen über 100 Studirende anzugehören. Die äußere Lage wäre meiner gegenwärtigen ganz erheblich überlegen. Und die Aussicht, in einer gesunden anmuthigen Gegend im Herzen Deutschlands, unter einfachen Verhältnissen zu leben, darf wol den Breslauer Gelehrte locken. Für mein Verbleiben spricht bei mir meine dankbare Anhänglichkeit an den preußischen Staat und an eine erst seit 3/4 Jahren begonnene höchst glückliche Wirksamkeit, welche mir einen nachhaltigen Einfluß auf den ganzen intellektuell-sittlichen Geist von zwei bedeutenden Provinzen der Monarchie verspricht, zwei Provinzen, in welchen von der Universität her protestantischdeutschen, ächt wissenschaftlichen Geist mitzutheilen eine Aufgabe ersten Ranges ist. Und mir giebt die Zahl der Studirenden in meinen Privatvorlesungen (eine Zahl welche wol, relativ zur Größe der Universität genommen, gegenwärtig von keinem Dozenten der Philosophie in Preußen außer Lotze erreicht wird), sowie der Erfolg meiner philosophischen Übungen das freudige Gefühl des Gelingens.

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Aber unabweisbar drängen sich mir diesmal die Erwägungen über meine äußere Lage und ihr Verhältniß zu meiner wissenschaftlichen Aufgabe auf. Es ist nun in nicht sechs Jahren das sechste Mal daß eine Fakultät mir die Ehre erweist, mich für ein Ordinariat in ihrer Mitte vorzuschlagen.4 Ich habe seiner Zeit, als eine Anfrage des Dekans der Dorpater Fakultät an mich erging, mit Zusicherung der Wahl und eines meinen gegenwärtigen bedeutend übersteigenden Gehalts, einfach abgelehnt und von dieser Ablehnung keine Mittheilung gemacht. Jetzt, bei meiner vierten Berufung habe ich denselben Gehalt, der mir bereits in Basel, in meinem ersten Wirkungskreis erreichbar gewesen wäre. So bin ich wol sehr sicher vor dem Verdacht des Eigennutzes oder der Überhebung, wenn ich nunmehr meiner Lage entsprechend meinen wissenschaftlichen Bedürfnissen und auf dem Fuß der mir in Würzburg sich bietenden Situation geregelt zu sehen wünsche. Betrachte ich das Anerbieten eines Gehalts von 3000 Gulden seitens s[einer] Excellenz des bairischen Staatsministers als ein definitives (was doch kaum der Sinn des gehorsamst beigefügten Schreibens ist): so tritt zu diesem Gehalt nach den dortigen Verhältnissen für einen eingreifenden Professor der Philosophie ein ansehnliches Collegienhonorar. Und diesem Einkommen in Würzburg wäre nur ein erheblich höheres in Breslau gleichwerthig: einen Maßstab bietet daß der Wohnungspreis zu Breslau den zu Würzburg um mehr als ein Drittel übersteigt. Mein hießiger Gehalt beträgt 1500 Thaler. In Bezug auf Collegiengelder finden in der hießigen philosophischen Fakultät Ausnahmsverhältnisse statt, durch welche sich die Lage eines Mitglieds derselben, welches einen größeren Kreis von Studirenden um sich zu sammeln im Fall ist, von der entsprechenden an irgend einer anderen mittleren Universität auf das nachtheiligste unterscheidet. Die Armuth der in der hießigen philosophischen Fakultät Studirenden hat unabweisbar und ganz unabänderlich ein System von Stundungen gefordert, welches ihre Lehrer auf eine lange Reihe von Jahren (den Lehrer der Philosophie, welcher die Zuhörer aus den ersten Semestern empfängt: durchschnittlich auf etwa 10 Jahre) beinahe von dem ganzen d. h. durchschnittlich, wie mir mitgetheilt wird, von etwa 4/5 Ertrag seiner Arbeit ausschließt, und ihm dann denselben nur sehr langsam und in einem eingeschränkten Theile zukommen läßt. Die Ziffer der andren Fakultätseinnahmen, welche ich in diesen Dreivierteljahren empfangen, schäme ich mich niederzuschreiben. So muß leider mein Einkommen für eine lange Reihe von Jahren so gut als gänzlich nach meinem besten Gehalt bemessen werden und nur eine sehr bedeutende Erhöhung meines Gehalts kann meine hießige Lage auf den Fuß derjenigen setzen, welche mich in Würzburg erwartet. Wenn ich solchergestalt mein Verbleiben in einer mir werthen und bedeu-

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tenden Wirksamkeit von einer so beträchtlichen Verbesserung meiner äußeren Lage abhängig sehe, so geschieht dies wahrlich nicht aus kleinlichen Beweggründen: diese äußere Lage entscheidet einfach über den Ertrag meines wissenschaftlichen Lebens. Mich ermuthigt über dies Verhältniß zu sprechen das Vertrauen auf Ew. Excellenz warmes Interesse für jede ernste Bemühung innerhalb der so sichtlich sinkenden historisch-philosophischen Wissenschaften. Liegt doch selbst für die allmählige Lösung des großen Problems einer neuen Festigung des religiösen Lebens die erste Bedingung darin, daß das verlorene Gleichgewicht zwischen den Leistungen auf dem Gebiet der Naturforschung und denen auf diesen idealen Gebieten allmählig wiederhergestellt werde, daß so der ihrer Natur nach materialistischer Erklärung zugeneigten Naturwissenschaft eine reife historisch-philosophische Wissenschaft gleichberechtigt gegenübertrete. Mit edler Freigebigkeit hat der Staat die Naturforschung durch bedeutende Mittel gefördert, mehr als gewöhnlich angenommen wird drückt die Enge der Arbeitsbedingungen auf die historisch-philosophischen Studien. Der vornehmste Plan meines Lebens, sobald die Biographie Schleiermachers ihren Abschluß gefunden, ist eine Geschichte der abendländischen Philosophie in ihrer Wechselwirkung mit den positiven Wissenschaften und dem Fortgang der europäischen Kultur, seit der Wiederherstellung der Wissenschaften. Von meinem zwanzigsten Lebensjahr ab habe ich im Zusammenhang dieser Geschichte gesammelt. Aber was dem Naturforscher Anstalten und Assistenten, sind dem Arbeiter auf diesem Gebiet die Bibliotheken der verschiedenen Länder und der lebendige Verkehr mit ihrer Sprache und ihrer Kultur auf Reisen. Schon habe ich einen Theil meines kleinen Privatvermögens meiner wissenschaftlichen Laufbahn geopfert und ich habe die Verpflichtung, mir den Rest zu erhalten. So muß leider mein Einkommen nicht nur die Mittel für meine Existenz, sondern zugleich die gewissermaßen für die Instrumente meiner Forschung, eigene bedeutende Bibliothek und jährlich wiederholte Reisen enthalten. Hiernach liegt klar vor Ew. Excellenz, wie es sich gegenwärtig für mich um die Frage handelt, ob ich den in der Arbeit vieler Jahre genährten Plan meines Lebens soll durchführen dürfen, damit dies Leben an seinem Theil in das Allgemeine wirke. Das Interesse Ew. Excellenz an der Förderung unserer Universität hat meinem Freunde Cohnheim, welcher mit mir in ganz gleicher Lage war, unter denselben Bedingungen wie ich in Kiel wirkte und wie ich einen Ruf nach Würzburg empfing, durch das ihm verliehene mit sehr bedeutendem Nebeneinkommen verbundene Fixum eine Lage geschaffen, in welcher er sorgenlos seinem Beruf und seinen wissenschaftlichen Arbeiten leben kann. Im ruhigen Vertrauen darauf, daß die Stellung des protestantischen Philosophen an der

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Universität Breslau in Bezug auf Bedeutung sowohl als Schwierigkeit hinter keiner anderen an dieser Universität, hinter nicht vielen an anderen Universitäten zurücksteht, übergebe ich dem Wohlwollen Ew. Excellenz meine gehorsamste Bitte, meine Lage der in Würzburg gebotenen für die hiesigen Verhältnisse entsprechend machen und mir dadurch das Verbleiben in meinem hießigen Wirkungskreis ermöglichen zu wollen. Genöthigt, s[einer] Excellenz dem bairischen Herrn Staatsminister eine baldige Entscheidung zu geben, damit auf keinen Fall die Besetzung der Professur in Würzburg Verzögerung erleide, würde ich als eine besondere Gunst eines hohen Staatsministeriums ansehn, wenn dasselbe diese meine Verpflichtung geneigtest berücksichtigen wollte. Ew. Excellenz ganz gehorsamster Wilhelm Dilthey Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Sammlung Darmstädter 2a 1870 (8): Dilthey, 60–61. 1

Adalbert Falk war 1872–1879 preuß. Kultusminister. Johann Freiherr von Lutz (1826–1890): bayerischer Kultusminister seit 1867. – Die von D. genannten Berufungsakten liegen dem Schreiben nicht bei. 3 Bereits im Februar 1872 war eine diesbezügliche inoffizielle Anfrage an D. ergangen (vgl. den Brief D.s an H. Usener vom 15. Februar 1872), nachdem der Senat der Universität Würzburg die philosophische Fakultät am 8. Februar 1872 aufgefordert hatte, eine zweite ordentliche Professur für Philosophie einzurichten. – Vorgesehen für diese Stelle war zunächst der katholische Philosoph und Priester Jacob Frohschammer (1821–1893), der seit 1855 als o. Prof. in München gelehrt hatte, da man eine „inländische Lehrkraft“ bevorzugte. Doch wegen eines sich ständig verschlimmernden Augenleidens nahm man von seiner Berufung Abstand. – Die Professoren der philosophischen Fakultät reichten am 14. März 1872 einen Besetzungsvorschlag beim Senat ein. An erster Stelle war D. genannt, an zweiter Christoph Sigwart (Tübingen) und an dritter Carl Schaarschmidt (Bonn). Das abschließende Votum der Fakultät lautete: „in Erwägung, daß das oben geschilderte Werk des Professors Dilthey [Leben Schleiermachers] eine hervorragende Erscheinung ist, die am Meisten Originalität des Geistes verräth und noch Größeres erwarten läßt, daß Professor Dilthey’s Lehrgabe am Glänzendsten hervortritt, daß die Fülle der ihm inwohnenden zur männlichen Reife gediehenen Jugendkraft die sicherste Hoffnung einer bedeutenden Zukunft in Lehre und Schriftstellerthätigkeit gewährt, daß Professor Sigwart in Rücksicht der Originalität des Geistes und der Lehrwirksamkeit Professor Dilthey um Einiges nachsteht, während er in beiden Rücksichten Professor Schaarschmidt voranzustellen ist, konnte die philosophische Fakultät nur zu dem Ergebniß gelangen: primo loco Professor D.r Wilhelm Dilthey, secundo loco Professor D.r Christoph Sigwart, tertio loco Professor D.r Carl Schaarschmidt zur Berufung zu beantragen.“ (Original: Hs.; UA Würzburg, ARS 1596). – Der Ruf erging vor dem 19./20. Mai 1872 (Pfingsten) an D. 4 D. erhielt zwischen 1866 und 1872 einen Ruf: erstens im Dezember 1866 an die Universität Basel, zweitens im Februar 1868 an die Universität Kiel, drittens im März 1871 nach Bres2

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Dilthey an Adalbert Falk

lau und im Mai 1872 nach Würzburg. – 1870 stand D. an zweiter Stelle gleichwertig neben J. Baumann auf der Dreierliste der Universität Wien. Nachdem die Berufungsverhandlungen mit E. Zeller, dem gewünschten Kandidaten, gescheitert waren, stellte die Universität Wien im Januar 1872 erneut einen Besetzungsvorschlag auf, in dem Ludwig Strümpell (Leipzig) und wiederum Julius Baumann (Göttingen) und D. – diesmal alle drei gleichrangig – genannt waren. Die Gründe, aus denen D. ablehnte, sind nicht dokumentiert. Nachdem das Verfahren abermals scheiterte, wurde im Juni 1873 zum dritten Mal eine Besetzungsliste aufgestellt, die den Namen D.s aber nicht mehr enthält. Der Wiener Lehrstuhl wurde mit Franz Brentano (Würzburg) besetzt (UA Wien 61/1309–2: Kommissionsbericht der Professoren Zimmermann, Heinzel und Stefan betreffend Wiederbesetzung der 2. Philosophischen Lehrkanzel vom 12. Juni 1889, UA Wien, PH Sonderreihe 34.19 „Lehrkanzelbesetzungen Philosophie“; Sitzungsprotokolle des Philosophischen Professorenkollegiums 16. März 1872 und 15. Juni 1873, UA Wien, PH 31.6, fol. 29r, 29v, 98v, 994). – Darüber hinaus war im Frühjahr 1870 eine inoffizielle Anfrage aus Dorpat an D. ergangen, die o. Professur L. Strümpells, dessen Emeritierung bevorstand, zu übernehmen (vgl. den Brief A. von Oettingens an D. vom 4/10 April 1870).

[398] Dilthey an Justus von Olshausen Hochzuverehrender Herr Geheimrath. In diesen Tagen wird wol, nachdem ich von meiner Berufung nach Würzburg sofort s[einer] Excellenz dem Herrn Curator Mittheilung gemacht, durch Vermittlung desselben mein Gesuch selber in Ihre Hand gelangen. Ich habe mich so offen u. umständlich in demselben ausgesprochen, daß mir nur die ergebenste Bitte an Sie, es freundlich befürworten zu wollen, übrig bleibt. Nach dem Maßstab meiner Vorlesungen in Basel, Kiel, Breslau habe ich wol in Würzburg ein Einkommen von zweitausend-einigen hundert Thalern zu erwarten. Und welch erheblicher Unterschied ist zwischen dem Lebensaufwand dort u. hier. Cohnheim muß jetzt eine Wohnung für sich u. seine Frau mit 500 Thalern bezahlen, u. wir stehen hier erst am Beginn der hießigen Miethsteigerung. Unter so schwierigen Umständen hoffe ich doch noch daß mir eine Unterbrechung meiner hießigen Wirksamkeit erspart bleibt, im Vertrauen darauf, daß die Stellung des protestantischen Philosophen in Breslau, wie gegenwärtig die Verhältnisse in Schlesien u. Posen liegen, an Bedeutung u. Schwierigkeit hinter keiner Universitätsstellung außerhalb Berlins zurücksteht. Zu seinem Vergnügen lebt leider Niemand hier in Breslau, aber ich will, nicht leichten Herzens, den Blick vom sonnigen Süden abwenden, wenn mir wenigstens durch ein ganz entsprechendes Äquivalent zu meiner Lage in Würzburg, hier meinen wissenschaftlichen Lebensplan zu verwirklichen, möglich gemacht werden kann. Bewahre ich doch das Gute, welches mir

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Dilthey an Justus von Olshausen

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durch die Leitung der preußischen Universitäten unter Ihrer gütigen Befürwortung ehedem erwiesen worden, in treustem Gedächtniß. Selbstverständlich würde ich sehr geringen Werth darauf legen, ob ich eventuell in den Genuß meines ganzen Gehalts jetzt oder zum Termin eines späteren Budgets gelangte. Ich bedarf nur, meinen wissenschaftlichen Plan gesichert zu sehn. Mich peinigt nur, daß ich zur raschesten Beantwortung der an mich gerichteten Anfrage verpflichtet bin. Mehrere Tage gingen dadurch verloren, daß die Anfrage hier lag, während ich auf einem Pfingstausflug begriffen war, dann wieder mehrere dadurch, daß mir der Entschluß sehr schwer wurde. Darf ich also mir auszusprechen erlauben: sobald auf mein Gesuch Beschluß gefaßt ist, genügt die kürzeste formloseste Mittheilung für meine sofortige Entscheidung. Ist es doch auch für die hießige Universität von größter Wichtigkeit, daß eventuell hier keine Unterbrechung eintrete, sondern eine Neuberufung für den Herbst möglich werde. Ew. Hochwohlgeboren ganz ergebenster Wilhelm Dilthey Breslau, Klosterstraße 85b 29 Mai 1872. Original: Hs.; GStA PK VI. HA, FA u. NL, FA von Olshausen, B.I. Nr. 7 Lit. D, Nr. 42–43.

[399] Dilthey an Wilhelm Scherer Mein lieber Freund, Die Angelegenheit des hießigen Gymnasiums ist, wie mir Hobrecht sagt, jetzt in regulärer Bahn. Professor Müller vom Joachimsthal (der latein[ische] Grammatiker) ist zum Direktor desselben ernannt. An diesen also hätte sich entweder Ihr Candidat zu wenden, oder Sie sprächen etwa Mommsen oder einem andren Ihren Wunsch aus. (Übrigens war Mommsen bei dem Maneuvre mit m[einem] Bruder nicht betheiligt, nur O[lshausen].) Ich habe inzwischen einen Ruf nach Würzburg unter guten Bedingungen erhalten. Noch bin ich in hundert Zweifeln. Die hieß[ige] Fakultät hat sich zu der ganz extraordinären Maßregel entschlossen, in Berlin meine Unent-

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Dilthey an Wilhelm Scherer

behrlichkeit an der hieß[igen] Univ[ersität] bei dem Ministerium auszusprechen. Ich habe wieder in der Logik etwa 120 Zuhörer. Meine Übungen habe ich getheilt, u. in der Abtheilung derer, die sich in diesem Sommer gründlich mit Philos[ophie] beschäftigen, habe ich so viele als eben in mein Zimmer gehn. Sonsten fleißig, zufrieden u. contemplativ. Tausend Grüße Ihr Dilthey Breslau Klosterstraße 85b. 1 Juni [18]72. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 23; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 23.

[400] Heinrich von Treitschke an Dilthey Heidelberg 9/6. [18]72. Jetzt endlich, lieber Freund, kann ich Ihnen mit annähernder Sicherheit Auskunft geben; ich bitte Sie aber um strenge Discretion. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden wir Bücheler, Ribbeck und Hertz vorschlagen und dann wird die Regierung sich vermutlich zuerst an Bücheler wenden. Ich halte, Alles in Allem, Bücheler wohl für noch bedeutender als Ribbeck, und wir brauchen hier Einen, der sich wesentlich mit Latein befaßt, während Ribbeck’s Studien doch überwiegend auf das Griechische gerichtet sind. Ob Bücheler annähme, ist freilich zweifelhaft. Lehnt er ab, so hoffe ich, daß wir Ribbeck bekommen. Ich stehe mit Beiden gut und hätte am Liebsten Beide zu Collegen – wenn uns nur Jemand die Liebe thäte, uns diesen traurigen Schwätzer Köchly1 abzunehmen. Meine Frau würde sich auch herzlich freuen die Familie hier zu haben, und mir ist es längst leid, Ribbeck in dem traurigen Kiel verkommen zu sehen. Die Sache ist schwierig, da Köchly am Liebsten einen unbedeutenden Collegen hätte; die Facultät wird aber sicher ihre Schuldigkeit thun und namhafte Kräfte vorschlagen. – Auch Sie, lieber Dilthey, werden noch eine Weile auf sichere Nachricht warten müssen. Erst gestern sind wir aufgefordert worden, Vorschläge zu machen. Da Haym, wie ich aus seinem eigenen Munde weiß, höchstwahrscheinlich nicht käme, und den Collegen vor Kuno’s Charakter graust, so haben Sie

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Heinrich von Treitschke an Dilthey

einige Aussicht. Vorderhand liegt noch alles im Dunkel der akademischen Klatscherei, die ich mit steigendem Ekel kennen lerne. – Ich sitze noch in einigen Specialuntersuchungen für meine deutsche Geschichte2 und versuche soeben, aus 2 – 3000 Depeschen und einer starken Literatur die Anfänge des Zollvereins darzustellen. Ich mache dabei andere Erfahrungen, als die historische Zunft behauptet. Ich finde, solche Quellenarbeiten nehmen das Sitzfleisch und den kritischen Scharfsinn weit mehr in Anspruch als umfassende Übersichten über ganze Zeiträume. Aber die edleren Kräfte des Geistes kommen doch mehr in Thätigkeit bei einer prägnanten Darstellung, wie die Abhandlung über die Niederlande war. Jene Arbeiten sind so zeitraubend, daß ich diesmal nur acht Tage lang dem Reichstage beiwohnen konnte. Ich gehe auch schwerlich wieder hin. Die Plenarverhandlungen sind heuer gar zu geistlos; und an dem Jesuitengesetze hab’ ich keine Freude, wenngleich ich seine Nothwendigkeit einsehe. Mit herzlichem Gruß Ihr Treitschke Original: nicht überliefert; zwei Typoskripte des Briefes, die in der Rechtschreibung leicht voneinander abweichen, sind hinterlegt in: StB PK Berlin, HA, Treitschke-NL, K 15, Nr. 26, 10–11. 1

Hermann August Theodor Köchly (1815–1876): deutscher Philologe; 1851 Prof. für klass. Philologie in Zürich, ab 1864 in Heidelberg. 2 Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert (Staatengeschichte der neuesten Zeit. Bd. 24–28). 5 Bde. Leipzig 1879–1894.

[401] Heinrich von Treitschke an Dilthey Heidelberg 30./6. [18]72. Lieber Dilthey, ich bin Ihnen eine Mittheilung schuldig; ein Unwohlsein hat sie um einige Tage verzögert. Meine Annahme, Ribbeck sei vorwiegend Gräcist, war falsch, wie ich sofort sah, als ich mich in seinen Schriften orientierte; ich glaube, ich hatte ihn mit einem Namensgenossen, der wohl sein Bruder ist, zusammengeworfen. Dies Bedenken war also beseitigt. In der Facultät kam es anders als ich dachte. Köchly hielt schließlich1 doch für zeitgemäß, nicht durch Begünstigung eines unbedeutenden jungen Mannes sich ganz bloßzustellen, er trat

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Heinrich von Treitschke an Dilthey

lebhaft für Ribbeck auf. Da unsere Philologen über die Reihenfolge der drei Candidaten sich nicht einigen konnten, so beschlossen wir, alle drei in eine Linie zu stellen. Die Folge wird wohl sein, daß Bücheler her kommt; er steht noch von seiner Freiburger Zeit her in Carlsruhe in großem Ansehen, der Großherzog wünschte von vornherein ihn zu gewinnen. Es sollte mich herzlich freuen wenn dadurch die Stelle in Bonn für Ribbeck frei würde. Unsere beiden Philosophen haben endlich alle persönlichen Bedenken überwunden und mit großem Nachdruck Kuno2 an erster Stelle vorgeschlagen. Dagegen läßt sich nichts sagen. Das Katheder geht vor; für unser sehr jugendliches Studentenpublicum wäre Kuno ein trefflicher Lehrer. Ob er Unfrieden stiften würde, ist nicht sicher, auch ziemlich gleichgiltig, da die collegialischen Verhältnisse hier kaum schlechter werden können. Sollte er ablehnen (es heißt, er verhandele mit Leipzig), oder sollte die Regierung sich vor der unangenehmen Persönlichkeit fürchten, so hätten Sie die beste Aussicht. Denn Haym, den Zeller an zweiter Stelle vorschlug, kommt sicher nicht, wie wir Alle wissen. Und unter den an dritter Stelle Genannten (außer Ihnen noch Sigwart und Lange) müßten Sie selbstverständlich den Vortritt haben.3 Wie es mit Kuno steht, weiß ich nicht. Ich vermuthe aber, er ist bereit; es muß seiner Eitelkeit wohlthun, grade hier, wo er einst vertrieben wurde, seine joyeuse entrée4 zu halten. Daß ich für meine Person mich dieses Ausgangs nicht freue, brauche ich Ihnen nicht zu versichern; ich glaube aber, die Facultät durfte Kuno nicht umgehen. Er hat bewiesen, was er in den hiesigen Verhältnissen zu leisten vermag, und neben dem biederen „Reichlin auf dem Holzweg“5 brauchen wir eine glänzende Lehrkraft. Mit herzlichem Gruß Ihr Treitschke. Original: nicht überliefert; zwei Typoskripte des Briefes, die in der Rechtsschreibung leicht voneinander abweichen, sind hinterlegt in: StB PK Berlin, HA, Treitschke-NL, K 15, Nr. 26, 13–15. 1

Im anderen Typoskript durchgängig statt „ß“: „ss“. Gemeint ist Kuno Fischer. 3 In der Sitzung der philosophischen Fakultät Heidelberg vom 20. Juli 1872 wurde folgende Liste für die Besetzung des philosophischen Lehrstuhls beschlossen: 1. K. Fischer (Jena), 2. R. Haym (Halle), 3. „als gleich in Betracht kommend“ D. (Breslau), F.A. Lange (Marburg) und Ch. Sigwart (Tübingen) (Original: Hs.; UA Heidelberg: Tgb. Nr. 967/10, 101/b, 550). 4 Fröhlicher Einzug. 5 Karl Alexander Freiherr von Reichlin-Meldegg (1801–1877): kath. Theologe, Priester und Philosoph; 1822 PD in Freiburg, danach ebd. zunächst a. o., später o. Prof. der kath. Theologie, nach seinem Bruch mit der kath. Kirche und dem Übertritt zum protest. Glauben 1839 a. o., 1840 o. Prof. in der philosophischen Fakultät in Heidelberg. 2

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Dilthey an Herman Grimm

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[402] Dilthey an Herman Grimm [Juni 1872] Lieber Grimm,

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Seitdem ich Ihr Buch hier vorgefunden,2 habe ich mit größtem Plaisir gelesen, raphaelische Bilder verglichen u. überall von dem Ereigniß gesprochen – von dem Rest von Widerspruch der sich in Folge dieser freundschaftlichen Thätigkeit bei mir gegen Ihr Buch gesammelt hat, habe ich nur einen ganz unschuldigen einzelnen Punkt herausgenommen, die erste freundschaftliche Anzeige3 damit zu pfeffern, die andren sind für die folgenden Anzeigen vorbehalten, von denen ich Ihnen für alle Arten von Blättern welche zur Verfügung stelle. Ich kann nicht sagen wie ich bedaure daß Sie der Berliner Philologenraçe ein solches Zugeständniß gemacht haben, als diese dem Stoff fremde Form eines Textes Übers[etzung] nebst Commentar ist. Die Freude, einen so großartigen Stoff aus dem Vollen in breiten Dimensionen zu formen haben Sie sich unwiederbringlich damit zerstört. Ach lieber Freund, das Leben ist so kurz, wie konnten Sie sich darum bringen, diesen Stoff in dem großen Styl zu behandeln, der ihm angemessen ist. Sonst habe ich großes Behagen an dem Buch gehabt. Raphael, wie ich ihn mir vorstelle ist es nicht. Das Können, der Papst der Kunst werden wollen: das ist nicht das Kennzeichen des wahren Genie’s, sondern der Berliner Macher. Ja ich trage kein Bedenken zu sagen, daß die Anschauung Passavants von ihm4 ein nothwendiges Ingredienz des wahren Raphael ist. Nie haben die Bilder der Phantasie die Macht Herzen zu zwingen, wo sie nicht mit dem Gemüth verschmolzen sind. Es ist eine sehr schwere Aufgabe das inhaltliche Wesen dieser großen naiven Künstlernatur aufzufassen; aber mit der Naturkraft des Könnens erklärt man nicht einmal einen Rubens geschweige einen Raphael. Aber ich sehe Sie im Geist in Italien, die Tage im Vatikan verdämmern, abends die Dichter u. Philosophen jener Zeit lesen, die [Sie] schon vermöge der blos gesellschaftlichen Wechselwirkungen Raphaels ganz durchdringen mußten: alsdann werden Sie mit Ihrem Vermögen individuellen Auffassens einen Raphael hinstellen, wie jetzt außer Burkhardt u. Ihnen es niemand kann. Fiat. Ich lebe friedlich u. in der totalen Beschaulichkeit, die das Bedürfniß meiner Natur ist. Die Studenten thun mir laut ihre Freude kund, daß ich bleibe.5 Der Empirismus, mit welchem ich die ehrsamen Fakultäten in Schrecken zu setzen gedenke, wächst beinahe ohne daß ich mich bemühe. Ich bin gehörig

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Dilthey an Herman Grimm

fleißig in meinem 2jährigen mathematischen Kursus. Und so denke ich daß die Zeit nicht zu fern ist, in welcher ich Ihnen verschiedene Gegengeschenke darbringen kann, darunter einen zweiten Band des Schleiermacher, der die ganze letzte Epoche der deutschen Philosophie so anschaulich machen soll daß man mit Händen sie greifen kann. In 4 Wochen gedenke ich wieder die übliche Berg u. Gletscherkletterei in der Schweitz zu beginnen. Was haben denn Sie für Pläne? Seien Sie tausendmal gegrüßt u. für das Vergnügen das mir Ihr Buch gemacht bedankt. Empfehlen Sie mich Ihrer verehrten Frau. U. lassen Sie ein Wort von sich hören. Ihr Wilhelm Dilthey Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Brief 931. 1 Darüber als Postskiptum: „Das Chaos von Druckfehlern bitte ich mit der Entfernung des Verf[assers] vom Orte der Correktur entschuldigen zu wollen.“ 2 H. Grimms Das Leben Raphaels war im Frühjahr 1872 erschienen. 3 D. rezensierte H. Grimms Buch in: Schlesische Zeitung (Breslau), Morgenausg. Nr. 302 vom 2. 7. 1872 unter dem Titel Herman Grimm, Das Leben des Raphael von Urbino. Theil 1. Berlin, 1872. Ferd. Dümmler, gez. mit W.D.; WA in: GS XVI, S. 268–278. 4 Johann David Passavant (1787–1861): Kunsthistoriker. – Raphael von Urbino und sein Vater Giovanni Santi. 2 Theile. Leipzig 1839. 5 K. Fischer war dem Ruf nach Heidelberg gefolgt.

[403] Dilthey an Wilhelm Scherer [Juni 1872] Lieber Scherer, Unheimliche Gerüchte erfüllen die Luft, es werde auf den Lehrstuhl Trendelenburg’s Kuno Fischer berufen werden.1 Ich kann es mir nicht vorstellen. Außer Sigwart ist doch auch ein Gelehrter wie Wundt da. Schreiben Sie mir doch, bitte, Eine Zeile, sobald die Fakultät ihren Entschluß gefaßt hat. Ich verreise von hier erst im September, u. nur nach Bibrich. Treulichst Ihr Dilthey Wallstraße 8.2 Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 43; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist aufbewahrt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 43.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

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Als Nachfolger Trendelenburgs wurde im Juli 1872 E. Zeller ernannt. Evtl. wurde der Brief erst im Juni 1882 geschrieben, denn D. gibt „Wallstraße 8“ an; andererseits wurde die Wiederbesetzung des Trendelenburg-Lehrstuhls im Juni 1872 entschieden. 2

[404] Herman Grimm an Dilthey .|.|. meine eventuelle Ernennung könne sich bis zum nächsten Sommer hinausziehen. Ich fürchte, sie werden dann inne werden, daß ich da selber bereits lange hinausgezogen bin und meine hiesigen Fata mir nur noch als Träume hier und da vorschweben. Am Ende wird mir noch, wie in China, eine Professur nach meinem Tode in Aussicht gestellt.1 Es beschleicht mich eine alte Jugendahnung bei dem Gedanken, einmal wieder Alles hinter mir zuzuschliessen und als freier Mann meine Schiffe verbrannt zu haben. Hier ist es sehr still. Julian [Schmidt] mit seiner Gattin ist auf die Sommerfrische gezogen, Wehrenpf[ennig] und Boretius stehen am Vorabend furchtbaren gegenseitigen Anfalls und Zerfleischung, deren Vorboten heftige discrete und indiscrete Ausbrüche der beiden feindlichen Zwillingszeitungen sind.2 Ich dagegen will mich eben aufmachen, um zu sehen, wie weit die allgemeine Austrocknung der Berliner Umgegend auf meinen Garten gewirkt habe. Der Ihrige Herman Grimm. Freitag 5 Juli [18]72. Original: Hs.; das Brief-Fragment ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45. 1 H. Grimm hatte erst im Alter von 40 Jahren 1868 in Leipzig promoviert und habilitierte sich 1870 in Berlin. 1873 erhielt er einen Ruf als Prof. für Kunstgeschichte an die Universität Berlin. 2 W. Wehrenpfennig war damals Mithg. und Redakteur der PJ sowie 1872–1873 Chefredakteur der Spenerschen Zeitung. – A. Boretius war 1871–1873 Mitarbeiter der liberalen NationalZeitung, in welche später (1874) die Spenersche Zeitung einging.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

[405] Dilthey an Wilhelm Scherer Lieber Freund, Da Dr. Rosanes, hier Privatdocent der Mathematik,1 einige Tage in Geschäften nach Wien reist: ist mir lieb, wenn Sie seine Bekanntschaft machen. Sie werden selbst sofort den Eindruck seiner hohen Begabung haben, wie er denn hier vorzüglich auf die Studenten wirkt, u ein Gespräch mit ihm wird Sie sehr interessiren. Zugleich wünschte ich ihm, Sie interessirten sich für ihn; vielleicht daß dann diese Wiener Reise ihm einen Anknüpfungspunkt für eine österreich[ische] Berufung böte. Denn seine Verhältnisse machen eine rasche Carriere für ihn sehr wünschenswerth. Ist es richtig daß Sie nach Straßburg gehen?2 Meinen herzlichen Glückwunsch, wenn die Sache in einer Ihnen erwünschten Weise zu Ende gediehen. Ihre Berufung u. die von Schmoller3 verstärken ja wesentlich die Hoffnung daß die Anziehungskraft der dortigen Univ[ersität] wachse. Ich habe in Karlsbad täglich u. höchst eingehend mit Roscher verkehrt u. sehr viel Nutzen davon gehabt. Nächstens mehr, lieber Freund. So viel nur eilig, den Dr. R[osanes] bei Ihnen einzuführen. Mit herzl[ichem] Gruß Ihr Wilh. Dilthey 4 Oct[ober] [18]72 Breslau Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 24; ein handschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 24. 1 Jacob Rosanes (1842–1922): Mathematiker; 1865 Promotion in Breslau, ab 1876 Prof. in Breslau. 2 Scherer nahm 1872 den Ruf an die neu gegründete Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg an. 3 G. Schmoller, seit 1865 o. Prof. für Staatswissenschaften in Halle, wechselte 1872 nach Straßburg.

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Dilthey an Ernst Reimer

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[406] Dilthey an Ernst Reimer Hochverehrter Freund,1 Ich hätte die Bitte an Sie, für den Weihnachtsvertrieb hier in der Breslauer u. der schlesischen Zeitung gleichzeitig Schl[eier]m[acher] Bd I in einfacher Annonce inseriren zu lassen. Der thätigen Firma Morgenstern2 würde sehr erwünscht sein, dies Inserat zu übernehmen; sie will dann gleichzeitig ein paar Zeilen im Blatt besorgen. Ich lege großen Werth auf die Abminderung Ihrer Exemplare, da mit dem zweiten Band unmittelbar die Umarbeitung des ersten auf dem Fuß folgen könne, welcher mir auf dem jetzt erarbeiteten Standpunkte gar nicht mehr genügt. Vor Allem fehlt ihm Simplicität u. einfache zwingende Verständlichkeit, aber auch große histor[ische] Perspektive. Ich arbeite immer an dem zweiten Bande wenn auch noch nicht im Zusammenhang. Die Univ[ersitäts]thätigkeit liegt auf mir als eine schwere und ich gestehe Ihnen, mich bedrückende Verpflichtung. Sähe ich doch irgend einen Weg meinen Arbeiten ausschließlich zu leben! In dies[em] Winter habe ich wieder in 5stündig[er] Privatvorles[ung] über alte Geschichte der Philosophie bereits 120 angemeldete Zuhörer zu denen wol noch eine ganze Anzahl kommt, da das größte Auditor[ium] der Univers[ität] nicht für mich zureichte. U. so habe ich das Gefühl, schwere Verpflichtungen gegen die guten Jungen, die so an mir hängen, zu haben, andrerseits aber das eben so lebendige, daß es viel wichtiger wäre die allmählich in mir gereiften Überzeugungen schriftstellerisch darzustellen, als sie einem immer wechselnden Auditorium vorzutragen. Das andere kleine projectirte Buch wächst ebenfalls: es wird etwa heißen: die Ausbildung der Theorie des Egoismus und der Begründung von Gesellschaft, Recht u. Staat auf dieselbe im Abendlande, nebst ihrer philosophischen Prüfung.3 Ich will die Feinde in ihrer eigenen Höhle aufsuchen. Zu Weihnachten hoffe ich einige Tage in Berlin zu sein. Das wahrhaft lächerliche Buch von Staudt, in welchem dieser von den Theorien von Laplace u. Kant etc redet4 als sei dergleichen sein Mittag- und Abendbrot, da ihm doch jede Vorbildung fehlt, solche Arbeiten auch nur zu lesen, macht hier großen Lärm. Ich enthalte mich aller Lektüre aus solchen Gebieten u. treibe seit etwa 3/4 Jahren unter Anleitung eines bedeutenden hießigen Mathematikers ruhig meine Mathematik, rechne u. löse Aufgaben, um allmählig im Stande zu sein, die neuere Physik zu verstehen.

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Dilthey an Ernst Reimer

Wollen Sie mich Ihrem verehrten Vater bestens empfehlen u. Freunde herzlich grüßen. Wie immer dankbarst der Ihrige Dilthey den 1ten Dec[ember] [18]72. Klosterstr. 85b. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 59–60. 1 Darüber, vermutlich von der Hand des Empfängers: „3/12 geantwortet und 1 Inserat an Morgenstern geschickt“. 2 Buchhandlung in Breslau. 3 Das Buch kam nicht zustande. – Ein handschriftlicher Entwurf D.s mit der Überschrift Einleitung in die Geschichte der egoistischen Theorien vom Menschen, der Gesellschaft, dem Staat und der Geschichte in dem 16. u. 17. Jahrhundert, allerdings von D. datiert mit: „angefangen den 9ten Mai 1874 Mentone“, ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 146, Bl. 154–174; Teilabdruck (von Bl. 159–162) in: GS XVIII, S. 38–40 und S. 186–192. – Der Entwurf ist systematisch einzuordnen in den Umkreis von D.s späterer Abhandlung Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat, in: Philosophische Monatshefte 9 (1875), S. 118–132 und S. 241–267; WA in: GS V, S. 31–73, sowie in den Zusammenhang seiner Akademie-Abhandlung aus dem Jahre 1904 Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Sitzungsberichte der Preuß. Akademie der Wissenschaften (1904), S. 2–32 und S. 316–347; WA in: GS II, S. 416–492. 4 Vermutlich ein Sohn von Karl Georg Christian von Staudt (1798–1867): Mathematiker, 1835–1867 o. Prof. in Erlangen.

[407] Dilthey an Lily und Hermann Usener [zu Weihnachten 1872]1 Meine theuren Geschwister, Diesmal sind alle Weihnachtsgedanken der Familie Dilthey in Bonn, des Ankömmlings in warmen u. treuen Wünschen harrend.2 Gebe uns allen Gott ein frohes Fest! Einige Kleinigkeiten habe ich Euch in einem kleinen Paket gesandt, daß sie Euch vergegenwärtigen wie ich täglich Euer Aller in Liebe gedenke. Auf das kleine Kreuz für Marichen, in Gold gefaßt, bin ich sehr stolz; es wird an schwarzem Bande getragen, das hinten in einen Schleifen geknüpft ist und ich sichere meiner kleinen stolzen Nieçe zu daß das jetzt die neueste Mode ist

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Dilthey an Lily und Hermann Usener

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u. der denkbar beste Geschmack. Könnte ich sie nur auch einmal darin sehen. Der Parfüm des Traubenbaumes aus China ist mir von Frau Scholz als besonders vornehm u. exquisit empfohlen: Das Beste muß er selber thun. Der Band Uhland möge Hermann, als ihn nahe angehend, Freude machen. Und so wollet meiner b[ei] Eurem Weihnachtsfest gedenken, in alten Lieben u. Treuen. Daß Marichen bei Euch [ist], sah ich jetzt erst aus Mamas Brief 3 u. so ist kein Zeichen meiner Liebe für sie dabei. Denn ich habe sonst nur an Marichen u. Mama noch etwas gesandt, Marichen ein treffliches Buch, eine deutsche Geschichte, und ein etwas größeres sonst ganz gleiches Korallenkreuzchen, was dem braunen Backfisch wahrscheinlich ausnehmend stehen wird. Ich selbst kann mich von der Arbeit nicht wohl trennen u. werde daher erst nach Weihnachten nach Berlin gehn dort irgendwie die Urlaubsfrage zu ordnen. Alles was in den nächsten Jahren zu leisten ist, steht mir so deutlich vor Augen daß ich nur wünschen will es möge gelingen es auch nur halb so durchzuführen wie es vor mir steht. Dies Buch und der Schleiermacher, wenn erst der erste Band in 2ter ganz umgearbeiteter Ausgabe neben dem zweiten da sein wird enthalten dann – meine Ansicht der Entwicklung europ[äischer] Kultur seit der Renaissance in 2 großen, wie ich hoffe mit der Zeit auch auf die Gemüther praktisch wirkenden Büchern. Was sagst Du nun, lieber Hermann, zu einer solchen Flachheit wie in Springers zweitem Bande,4 dazu die in Zellers deutsch[er] Philos[ophie],5 in Strauß’ altem und neuem Glauben6 – In m[einer] Vorlesung 5stündig alte Geschichte der Philosophie habe ich zwisch[en] 140 u. 150 Zuhörer, was sagst Du zu einem solchen Effekt? U. nun lebt wohl, u laßt bald eine frohe Weihnachtsbotschaft vernehmen,7 täglich u. stündlich gedenke ich Deiner, meine liebe theure liebste Lily. Frau Scholz hat sich von ihren Zwillingen gänzlich erholt,8 sie schreien abwechselnd, u. sie selber denkt schon wieder an Ausgehn. Euer treuster Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45. 1

Im Original: nachträgliche Datierung von der Hand G. Mischs: „Zu Weihn. 1872“. Lily und Hermann Useners Sohn Hans wurde am 31. Dezember 1872 geboren. 3 Nicht überliefert. 4 A. Springer: Friedrich Christoph Dahlmann. 2 Theile. Leipzig 1870–1872. 5 E. Zellers Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz (München 1873) war vermutlich gerade erschienen. 6 D.F. Strauß: Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß. Leipzig 1872. 7 Im Original: „vernehmlich“. 8 Die Zwillinge Bernhard und Luise Scholz wurden am 28. November 1872 geboren. 2

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Dilthey an Rudolf Haym

[408] Dilthey an Rudolf Haym Anfang Januar 1873 Mein lieber Freund, Es ist mir Bedürfniß die Vorlesungsstille um die Wende des Jahres, in der man doch gern der Genossen gedenkt, zu nutzen, Ihnen ein Zeichen meiner Existenz zu senden u. eins von der Ihrigen zu entlocken. Ein Wiedersehn kann das freilich nicht ersetzen, das nach so schicksal- und arbeitsvollen Jahren doppelt erwünscht wäre. Schriftstellerisch schweigen wir beide uns ja gründlich aus; hoffentlich sind Sie dem Abschluß einer Arbeit näher als ich. Denn mich hat vorherrschend beschäftigt, zu einiger erträglichen Reife mit meinen systematischen Gedanken zu gelangen. Das ist denn wol bis zu einem gewissen Grade gelungen, so weit wenigstens daß ich von hier aus angesehen nun den 2ten Band des Schleierm[acher] zu welchem ich vieles vorgearbeitet habe definitiv schreiben könnte. Doch hat sich mir eine histor[isch] philos[ophische] Arbeit zwischeneingedrängt, welche den historischen Zusammenhang, in welchen unsre Philos[ophie] seit Kant eintritt, mir aufschließen sollte und an der ich nun zu schreiben begonnen habe. Ich habe nunmehr begonnen, meine Vorlesungen mehr zurücktreten zu lassen, und hoffe in 2jähriger Arbeit das kleine in Frage stehende Buch1 u. den Schleiermacher zu vollenden. Aus diesem Grunde habe ich auch, so wenig mir das östliche Klima u. die elende Gegend von Breslau zusagt, schließlich nach beträchtlichem inneren Kampfe abgelehnt, unter höchst günstigen Bedingungen nach Würzburg zu gehen. Ich bin hier in einer mich in hohem Grade befriedigenden Thätigkeit, welche auf den Geist von zwei Provinzen, die in kathol[isch] polnischem Wesen versunken sind, einwirkt; es sind meine Kriegsjahre; denn leicht ist es wahrhaftig nicht, mit der katholisirenden Versumpfung zu kämpfen die hier so weit reicht daß selbst auf die protest[antischen] Studenten der unheilvollste Einfluß zur Zerstörung aller Männlichkeit des Charakters stattfand. Neumann den Sie ja auch kennen steht mir mit seiner ostpreuß[ischen] Schneidigkeit stets kampfbereit u. von eingreifendem Einfluß auf die Studenten, zur Seite. Denken Sie daß ich in 5stündiger Darst[ellung] d[er] Philosophie Theil I zwischen 140 u 150 Zuhörer habe! So sind wir denn frisch und munter genug, aber freilich für den Geschmack der meisten Collegen ein wenig zu schneidig und ungestüm. Aber während wir auf den Kriegspfad gehen bleibt im Herzen die Sehnsucht in einem milderen Lande u. unter freundlicheren Umständen einstens beschaulich zu leben.

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Dilthey an Rudolf Haym

Und Sie, mein lieber Freund? Lassen Sie einmal ein wenn auch nur kurzes Wort von sich hören, damit ich mir Sie wieder einigermaßen vorstellen kann. Empfehlen Sie mich Ihrer Frau u. bewahren Ihre gute Gesinnung Ihr[em] Dilthey Breslau Klosterstr. 85.b Original: Hs.; ULB Sachsen-Anhalt, Halle, Haym – NL, Yi 23 IV D 4 q; Erstdruck: BDH, Nr. 17. 1

Vgl. hierzu den Brief D.s an Ernst Reimer vom 1. Dezember 1872.

[409] Dilthey an Carl Justi [Breslau, Januar 1873] Gestern noch, mein lieber Freund dessen ich stets mit dem innigen Behagen einer ächten inneren Sympathie gedenke, habe ich gründlich auf Sie gescholten, daß Sie mich nicht einmal grüßen ließen. Und daneben mit ausnehmendem Vergnügen in Ihrem Buch gelesen.1 So starke Reiselust ist dabei in mir erwacht, daß ich sinne, wie ich es Ihnen nachzuthun vermöchte, indem ich in den Szenen u. Figuren Ihres Buches schwelge, für mich Alles der Nacherinnerungen voll. Sie wollen nun aber, daß ich statt solchen angenehmen Träumen mich hinzugeben, über Philosophen Ihnen meine Ansicht ausspreche. Dies kann ich freilich nur in vertraulicher Weise. Wenn gegenwärtig der Tüchtigste u. Verdienteste gesucht werden soll:2 so ist es Wundt. Dieser hervorragende Forscher hat an der Ausbildung der herrschenden physiologischen Optik neben einem Helmholtz nicht unwesentlichen Antheil. Es ist eine Ehrensache jeder philos[ophischen] Fakultät, ihn regelmäßig vorzuschlagen, bis die Regierung einmal auf ihn eingeht. Er ist ein guter Dozent. Er besitzt umfassende strenge mathem[atisch] naturwissensch[aftliche] Studien, darin ganz mit Lotze zu vergleichen, nur daß er experimentell produktiv ist, was Lotze nie war. Wenn seine Leistungen nicht alle auf derselben Höhe stehen, so ist dies die Schuld einer Lage, welche ihn zwang bei seinen Büchern den Ertrag mit in Rechnung zu ziehen u. es ist bei

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Dilthey an Carl Justi

einem Gelehrten seiner Schärfe, Gelehrsamkeit u. großen Zuges nicht zu erwarten, daß er, in einer erträglichen Lage, je künftig Anderes als streng Durchgearbeitetes publiciren werde. Ich appellire in dieser Beziehung auch an das Urtheil von Lange3 (welchem ich mich bestens zu empfehlen bitte; ich habe ihn leider, diesmal zum zweiten Male in Zürich verfehlt, u. hätte doch so sehr gewünscht s[eine] Bek[anntschaft] zu mach[en]). Überblicke ich die Reihe der in Vorschlag Gebrachten, so ist keiner, der an wirklicher Tüchtigkeit der Leistung irgend neben W[undt] genannt werden könnte. Betreffs Hebler4 bin ich schon früher mit m[einem] Freunde Ribb[eck] in Differenz gewesen; er ist ein schlechter Dozent u. erscheint mir daneben als unproduktiv, ja als halber Popularphilosoph (die übelste Sorte). Pfleiderers Leibnizsche Entdeckungen5 haben sich in Dunst aufgelöst; darin liegt kein Urtheil über seine Leistungsfähigkeit, aber man wird abwarten müssen daß er etwas mache, das Stand halte. Dühring wünsche ich dringend eine Stellung: bei totaler Blindheit hat er auf verschiedenen Gebieten große Stoffmassen in seiner Art verarbeitet; Er neigt wohl mehr zu nationalökono[mischen] Vorlesungen u. hier trotzdem hat er auch auf diesem Gebiete es nach den Sachkennern nicht über kecken Dilettantismus gebracht. Innerhalb der Philosophie erscheint er gerade für Kiel nicht geeignet aus zwei entsch[eidenden] Gründen. Die Hauptvorles[ung] ist dort Gesch[ichte] d[er] Philos[ophie] für Theolog[en] u. Philol[ogen]; nun ist aber Dührings allg[emeine] Gesch[ichte] der Philos[ophie]6 ein Entsetzen erregendes Dokument von Ignoranz auf dies[em] Gebiet, Fehler fast auf jeder Seite, gänzliche Unfähigkeit (freilich d[urch] s[eine] Blindheit entschuldbar) das Material irgend durchzuarbeiten u. eine gränzenlose Anmaßung darin, es keck zu beurtheilen; vergleichen Sie seine Verdikte gegen Aristoteles u Leibniz, die man belachen müßte, hätte man nicht mit seiner Verbitterung Mitempfindung. Alsdann aber ist sein Urtheil über alles Theologische (vergleichen Sie in besagtem Buch über Schl[eier]m[acher] u. sonst), so heftig u. leidenschaftlich, daß er die in Kiel vornehmste Aufgabe, auf die Theologen zu wirken, ganz außer Stande ist zu erfüllen. Quäbicker7 endlich nach welchem Sie fragen, läßt sich ganz gut an, aber er müßte doch um neben Wundt u. Bratuschek genannt zu werden, erst etwas Eigenes machen, ich wenigstens kann auf das Critisiren anderer Philosophen keinen Werth legen, welches bisher allein von ihm herausgetreten ist. Anders steht es nun aber mit Schaarschmidt. Wenn ich besonders seine Arbeit über Philolaos erwäge, dazu den Platon:8 finde ich, daß ihm Unrecht geschieht. Er hat thatsächlich die Wissenschaft gefördert; das Oberflächliche u. Irrige, das in s[einer] Arb[eit] mitsteckt, wird ja nicht bleiben. Hauptsache ist

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doch daß ein Mensch wirklich leiste u. fördere, u. das hat er gethan. U. dabei ist er ein guter Dozent. Daß die Fak[ultät] auf Bratuschek nicht eingehen will, erstaunt mich. Sähe man nicht in erster Linie auf die wissensch[aftliche] Leistung, welche Wundt schlechterdings in erste Linie stellt, alsdann wäre wol Bratuschek der am meisten zu Empfehlende. Seine Arbeiten sind philologisch sauber u. dabei von umfassenden Gesichtspunkten; für den nächsten Zweck in Kiel, eingreifende Darstellung der Gesch[ichte] der Philosophie ist er schlechthin u. unbedingt die geeignete Person. Hat er im Enthusiasmus für Plato sich der Log[ik] bedient, auf seine Ausl[egung] wolle er Phil[osophie] d[er] Gegenw[art] gründen: so wissen Sie wohl, mein lieb[er] Freund, wie ich das ewige Wiederkäuen von Plato u. Aristoteles u. die Bevorzugung ihrer Auslegung auf Univ[ersitäten] anstatt des Kant als einen fundamentalen Irrthum jederzeit bekämpft habe; aber Bratuschek, d[er] damals wol in der Mauserung aus der Philologie heraus begriffen war wird wol, wie ich denke, solche Velleitäten, die in sich mit Unfruchtbarkeit geschlagen, längst losgeworden sein. Hierfür sind seine zwei letzten Abhandlungen Beweis, welche ein philologisch genaues u. doch fruchtbares Studium von Kant u. Spinoza zeigen.9 Das wäre was ich Ihnen vertraulichst (dh. so daß Sie den Brief nur für sich nutzen dürfen, ausgenommen das über Wundt, Bratuschek u. Schaarschmidt Gesagte) mitzutheilen wüßte. Diese drei, u. in der eben gegebenen Ordnung Wundt, Bratuschek, Schaarschmidt erscheinen mir als allein empfehlenswerth; das Beste aber wäre erst zu versuchen, ob nicht Wundt für sich allein durchzubringen wäre. Je tiefer ich das Unrecht fühle das Überweg geschehn ist, ja empfinde daß ich selber ihm ohne es zu wollen u. ohne s[eine] Arbeit recht zu kennen einmal den Weg gekreuzt habe: desto entschiedener wünsche ich daß wir uns nicht Wundt betreffend denselben ernsten u. schmerzlichen Vorwurf einst zu machen haben mögen. Soviel eiligst. Übrigens en attendre10 Ihres Buches, das ich mir wol durch solche anstrengende philos[ophische] Eröffnungen verdient habe, abgesehen davon daß ich die schönsten Absichten habe es anzuzeigen.11 Mögen gute Sterne Sie geleiten u. vergessen Sie nicht Ihren W. Dilthey Original: Hs.; ULB Bonn, Korrespondenz-NL C. Justi, S 1703, 1, 4. 1 C. Justi: Winckelmann. Sein Leben, seine Werke und Zeitgenossen. 2 Bde. In 3 Theilen. Leipzig 1866–1872. 2 Carl Justi ging 1872 nach Bonn; sein dortiger Vorgänger A. Springer wechselte zunächst nach Straßburg und nahm anschließend 1873 den neu eingerichteten Lehrstuhl für Geschichte

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der Mittleren und Neueren Kunst in Leipzig ein. Ein Kieler Nachfolger für Justi wurde gesucht. 3 F.A. Lange hatte seit 1870 als Erster eine Professur für induktive Philosophie in Zürich inne. 4 R.A.K. Hebler, seit 1863 o. Prof. in Bern. 5 Edmund Pfleiderer (1842–1902): Philosoph; ab 1873 o. Prof. in Kiel, 1878 in Tübingen. – Leibniz als Verfasser von zwölf anonymen meist deutsch-politischen Flugschriften nachgewiesen. Leipzig 1870; Gottfried Wilhelm Leibniz als Patriot, Staatsmann und Bildungsträger. Leipzig 1870. 6 E. Dühring: Kritische Geschichte der Philosophie von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin 1869. 7 Richard Quäbicker (1847–1882): Philosoph; 1866 Promotion, Dozent in Königsberg. 8 D. bezieht sich auf C. Schaarschmidts Schriften Die angeblichen Schriften des Philolaos und die Bruchstücke der ihnen zugeschriebenen Bücher. Bonn 1864 und Die Sammlung der Platonischen Schriften zur Scheidung der echten von den unechten. Bonn 1866. 9 E. Bratuscheck: Kuno Fischer und Trendelenburg, in: Philosophische Monatshefte 5 (1870), S. 279–323; Ders.: Worin bestehen die unzähligen Attribute der Substanz bei Spinoza?, in: Philosophische Monatshefte 7 (1871/72), S. 193–214. 10 In Erwartung. 11 Diese Rezension kam nicht zustande.

[410] Dilthey an Carl Justi [Breslau, Januar 1873] Lieber Freund, Einen ausf[ührlichen] Brief habe ich eben in d[er] Verwirrung m[eines] Geistes unter Ihrer Adresse nach Gießen gesendet. Ich recapitulire die Hauptsache. Hebler ist ein unbrauchbarer Dozent u. eine philosophisch ganz unproduktive Natur. Pfleiderer hat mit seinem Buch Fiasko gemacht, da seine Vermuthungen sich als höchst unwahrscheinlich herausgestellt haben u. wird erst sich durch eine Leistung die Stand hält oder durch erfolgreiche Dozententhätigkeit ausweisen müssen. Die Regierung hatte sehr recht, ihn abzulehnen. Etwas anders steht es mit Schaarschmidt. Seine Arbeiten über Philolaos u. Plato sind theilweise ungründlich u. unhaltbar; aber sie haben doch einen bedeutenden Anstoß hervorgebracht u. die Philolaosarbeit hat wahrscheinlich gegen Bökh das Richtige herausgestellt.1 Dabei ist Schaarschmidt ein guter Dozent.

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Aber freilich würde ich zwei Personen Schaarschmidt voraufstellen. Jede philos[ophische] Fak[ultät] die Vorschläge zu machen hat muß jetzt Wundt in erster Linie vorschlagen, welcher immer noch in Heidelberg a. o. Prof. der Philos[ophie] u. Physiologie ist. Wenn Theorie der Sinne u. Wahrn[ehmung] gegenw[ärtig] der am meisten entwickelte Theil sowohl der Psychologie als selbst der Physiologie ist, so hat Wundt daran einen hervorragenden Antheil.2 Neben einem Weber3 Fechner u. Helmholtz ist er Mitbegründer der empirist[ischen] Theorie u. hat besonders um die Lehre von den unbewußten Schlüssen u. dem Einfluß der Reflexbewegungen des Auges auf Ausbildung räumlicher Vorstellungen ein hervorragendes Verdienst. Seine ‚Mensch- u. Thierseele‘4 zeigt ihn überall fähig sich der philos[ophischen] Thatsachen zur Fortbildung der Theorie zu bedienen: wozu mehr gehört als zum bloßen Doziren von Philosophie. Seine neuere Schrift über die Axiome ist ein sehr schätzbarer Beitrag, einer der seltenen schätzbaren Beiträge zur Begründung einer Wissenschaftslehre.5 Er ist in Bezug auf Mitbeherrschung mathem[atischer] u. naturwissensch[aftlicher] Studien nur mit Lotze zu vergleichen, diesem aber überlegen durch Talent zu psychophysischem Experiment, wenn er ihm auch in universeller philos[ophischer] Forschung freilich bedeutend nachsteht. Dabei ist er ein guter Dozent, wie ich ausdrücklich bezeugen kann, da ich bei ihm in Heid[elberg] hospitirt habe. Möchte d[ie] K[ieler] Fak[ultät] sich das hervorrag[ende] Verdienst erwerben, e[inen] Mann zu berufen der bisher eben nur den Philos[ophen] zu sehr physiologisch tüchtig, den Physiologen zu sehr philosophisch tüchtig war. Nach ihm scheint mir doch unser Bratuschek als der am meisten für die Kiel[er] Verh[ältnisse] geeignete. Wenn er einmal in Erneuerung vom Platonismus gesündigt hat: so geschah das in jugendh[aftem] Enthusiasmus u. seine neueren Arb[ei]t[en] üb[er] Kant u. Spinoza zeigen daß er von s[einen] philol[ogischen] Studien das Methodische sich bewahrt, die Einseitigkeit abgestreift hat. Wenn Kiel vor Allem eines Historikers d[er] Philos[ophie] für d[ie] Theolog[en] u. Philologen bedarf, dann in weiterem Sinne eines kräftig anregenden Dozenten, so ist er wie geschaffen für diese Stellung. Dühring hat bei totaler Blindheit umfassende Kenntnisse u. Arbeiten bewältigt. Doch ist sein Abriß einer Gesch[ichte] der Philosophie so voll der gröbsten Fehler auf fast jeder Seite (entschuldbar bei seiner Blindheit, aber hindernd für jede getreue Überlieferung) daß bedenklich erschiene ihm solche Vorles[ungen] zu übertragen. Dabei vergleichen Sie die verbitterte Anmaßung, mit der er von einem Aristoteles u Leibnitz spricht – Philosophie ihnen absprechend, während er sie gar nicht wirklich kennt –, die Heftigkeit gegen alles Theologische, z.B. der Ton gegen einen Schl[eier]m[acher], um zu sehen daß auch in dieser Rücksicht seine Wahl ganz unthunlich wäre. Dazu vermuthe

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ich, daß er vorherrsch[ende] Neigung für nationalökonom[ische] Vorles[un]gen haben würde. Quaebicker hier läßt sich ordentlich an, müßte aber doch erst anstatt seiner Kritiken selbst irgendetwas leisten, um infrage zu kommen. Soviel eilig mein lieber Freund. Ich ginge auch gern lieber mit Ihnen nach Spanien als 5stündig alte Philos[ophie] zu lesen. Reisen Sie heiter, Sie Glücklicher. Cohnheims die sich behaglich eingerichtet grüßen vielmals Ihr Dilthey Original: Hs.; ULB Bonn, Korrespondenz – NL C. Justi, S 1703, 1, 3. 1 Vgl. hierzu F. Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Theil 1: Das Alterthum. 4. verb. Aufl. Berlin 1871, S. 45: „Die früher mitunter bezweifelte, seit Boeckh’s Fragmentensammlung aber fast allgemein für echt gehaltene Schrift des Philolaus hat neuerdings [.|.|.] Carl Schaarschmidt (s. u.) als unecht zu erweisen unternommen; [.|.|.] C. Schaarschmidt, die angebliche Schriftstellerei des Philolaus und die Bruchstücke der ihm zugeschriebenen Bücher, Bonn 1864“. 2 1862 hatte Wundt bereits seine Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung veröffentlicht (Leipzig/Heidelberg). 3 Ernst Heinrich Weber (1795–1878): Physiologe und Anatom, von Wundt als „Vater der experimentellen Psychologie“ bezeichnet; 1818 a. o. Prof. der vergleichenden Anatomie, 1821 o. Prof. der Anatomie in Leipzig, ab 1840 zudem o. Prof. der Physiologie in Leipzig. 4 W. Wundt: Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele. 2 Bde. Leipzig 1863. 5 W. Wundt: Die physikalischen Axiome und ihre Beziehung zum Causalprinzip. Ein Capitel aus einer Philosophie der Naturwissenschaften. Erlangen 1866.

[411] Carl Justi an Dilthey Gießen 20ten Jan[uar][18]73. Lieber Freund! Ich halte dafür daß nun der Zeitpunkt gekommen ist, sie von dem Stand unsrer Philosophenangelegenheit zu unterrichten. Unser Mitglied der philosophischen Facultät welcher als Referent bestellt war, er hält sich selbst f[ür] einen Philosophen: Lutterbeck1 hat gesprochen u. es liegt nun an mir, dem Correferenten mein Votum abzufassen. Lutterbeck hat vorgeschlagen 1. Karron,2 2. von Kern,3 3. Heinze-Eucken4 4. Quaebicker.5 1 u. 2 denke ich mit Sicherheit zum Fall bringen zu können. 3. Heinze-Eucken sind offenbar liebe gute Leute die man vielleicht tertio loco fällen kann. Was ist Quaebicker? Ich vermuthe in ihm einen arg der Orthodoxie u. Dunkelheit zuneigenden Mann für den wie sie bemerken mein schwieriger College – altkatholisches Kirchenrecht – große Neigung hat. Können sie mir nicht helfen ihn zu beseitigen.

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Oder vielleicht sind sie im Stande ihn fortzuloben? Nun zu ihren Vorschlägen. Ich kenne ihre große Nachsicht aber ich muß sie diesmal besonders in Anspruch nehmen. Wundt ist glaube ich unmöglich durchzubringen. Ich selbst habe offen Bedenken dagegen. Sie beneiden Wundt um seine physiologischen Kenntniße u. glauben wenn sie dieselben besäßen würden sie in d[er] Philosophie damit etwas anfangen. Aber Wundt hätte wahrscheinlich Grund sie um ihre litterarisch philosophischen Kenntniße zu beneiden. Zum Philosophiren sind sicher Kenntniße in den Naturwissenschaften sehr nützlich, sie führen zu neuen Ideen. Aber die Philosophie hat eine Vergangenheit, und einen großen culturhistorischen Einfluß. Diesen zu erkennen und nachzuweisen halte ich für die Hauptaufgabe eines Dozenten der Philosophie, dies ist der positive Theil seines Wissens. Daß er damit die Philosophie fördern wird glaube ich nicht. Er kann nebenbei auch philosophiren aber ich muß ihnen gestehen daß ein Dozent möglichst wenig von seinen eignen Ideen dazu geben soll. Bedenken Sie wie wenig ein Naturforscher von seinen eignen Untersuchungen in d[en] Vorlesungen bringen kann. Wundt hat ein sehr hübsches Lehrbuch der Physiologie geschrieben, es ist meines Erachtens bedauerlich daß er noch nicht eine Professur derselben bekommt.6 Aber für die Darstellung von Begriffen, von den religiösen und philosophischen Ideen dazu fehlt ihm die Gewandtheit. Seine Menschen u. Thierseele wird man in dem rein naturwissenschaftlichen Theil mit Interesse lesen aber so wie er auf andres kommt merkt man daß ihm die Schärfe fehlt, ja auch jener poetische Schwung der einem Vortrag solcher Dinge doch nicht ganz fehlen darf. Halten Sie es möglich und denkbar daß Wundt noch Geschichte der Philosophie vortragen kann und will? [Briefschluss fehlt] Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 k. 1 Anton Bernhard Lutterbeck (1812–1882): kath. Theologe und Priester; 1842 a. o. Prof., seit 1844 o. Prof in Gießen. 2 Nicht ermittelt. 3 Evtl.: Franz Georg Gustav Kern (1830–1894): klass. Philologe; Gymnasiallehrer; Bekannter von M. Heinze. 4 Max Heinze (1835–1909): Philosophiehistoriker; 1872 PD in Leipzig, 1874 o. Prof. in Basel, 1875 in Königsberg, ab 1875 in Leipzig. – Rudolf Christoph Eucken (1846–1926): Philosoph; 1871 o. Prof. in Basel, 1874 in Jena. 5 Im Original immer: „Quäbiger“. 6 W. Wundt: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Erlangen 1864. – Wundt war seit 1864 a. o. Prof. für Anthropologie und medizinische Psychologie in Heidelberg.

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Adolf Fick an Dilthey

[412] Adolf Fick1 an Dilthey Würzburg 2. II. [18]73. Hochverehrter Herr College! Als Senatsreferent über die Berufung eines Professors der Philosophie hatte ich kürzlich Gelegenheit einen Brief von Ihnen an meinen Collegen F. Hoffmann2 zu lesen. Darin fand ich zu meiner grossen Freude eine Stelle, in welcher Sie sich sehr anerkennend über die philosophischen Leistungen des Prof. Wundt in Heidelberg äussern. Ich für meinen Theil hatte mir schon seit längerer Zeit Mühe gegeben, die Aufmerksamkeit meiner Collegen von der philosophischen Fakultät auf diesen Mann zu richten. Dieser Gedanke drängt sich mir jetzt um so mehr von Neuem auf, als die Erwerbung Sigwart’s uns nicht gelungen ist.3 Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie mir einen Brief schrieben, worin [Sie] die von Ihnen an Hofman nur gelegentlich geäusserte Ansicht ausführlicher begründeten, dass Wundt eine für eine philosophische Professur geeignete Persönlichkeit ist. Seiner Berufung stehen, wie Sie sich wohl denken können, Bedenken entgegen, die ich indessen nur als Vorurtheile bezeichnen kann, und die nur durch Äusserungen von anerkannten Fachgelehrten bekämpft werden können. Gerade für unsere Universität scheint mir ein Philosoph, der von naturwissenschaftlichen Studien ausgegangen ist, sehr passend. Die Hälfte unserer Studirenden sind Mediciner und solche für philosophische Studien zu interessiren wird nur dem gelingen, der sie an naturwissenschaftliche Betrachtungen anzuknüpfen vermag. Da Sie einer deutschen Hochschule möglicherweise dadurch einen grossen Dienst leisten können, so zweifle ich nicht, dass Sie meine Bitte gewähren werden. Mit der größten Hochachtung bin ich Ihr ganz ergebener A. Fick Professor d. Physiologie. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 k. 1 Adolf Fick (1829–1901): Mediziner; 1862 Prof. der Physiologie in Zürich, seit 1868 in Würzburg. 2 Franz Hoffmann (1804–1881): Philosoph; seit 1835 o. Prof. in Würzburg. – D.s Brief an F. Hoffmann ist nicht überliefert.

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Adolf Fick an Dilthey

3 Im Frühjahr 1872 war zur Besetzung einer zweiten Professur für Philosophie in Würzburg nach D. an zweiter Stelle Ch. Sigwart von der Fakultät gewünscht worden, welcher aber abgelehnt hatte. – W. Wundt ging 1874 als Nachfolger F.A. Langes, der nach Marburg wechselte, an die Universität Zürich.

[413] Dilthey an Hermann Usener [Frühjahr 1873] Ja, mein liebster Hermann, eben darum – deßhalb – Eben weil ich das Gefühl mit nichts fertig zu werden nicht mehr ertrage, und wenn ich wieder die begonnene Arbeit abbreche, eben wieder auf lange hin nichts fertig wird: widerstehe ich allen Lockungen des Frühlings u. der dringenderen Mama u. Euch wiederzusehen. Ich war diesen Winter so schön im Zuge wenigstens die historische Arbeit u. eine kleine philos[ophische] Abh[andlung] waren zu schreiben begonnen – da kam Krankheit, danach ganz überhäufte Amtsgeschäfte, sodaß ich erst seit 8 Tagen, nachdem ich lange hinaus u. mit zugesetzter Stunde hatte lesen müssen, zuletzt von Examinitis u. e[inem] halb Dutzend besuchenden Studenten täglich (als Minimalzahl) geplagt war, aufathme, meine Papiere wieder geordnet habe, zu schreiben beginne. Es ist d[ie] histor[ische] Abh[andlung] über Entstehung von Affektentheorie u. Naturrecht [im] 16. 17. Jahrh[undert]. Noch, bin ich voll von der fleißigen [?] Lektüre der alten Philos[ophie] welche Grundlage, lasse ich das wieder schwinden: so finde ich mich wieder zurückgeworfen. Sie muß bis zu [den] Sommerferien fertig werden, in irgend einer Art druckfertig. – Andrerseits bin ich in m[einem] mathemat[ischen] Kursus diesen Winter durch die unsinnige Arbeit unterbrochen worden, habe ihn eben wieder aufgenommen; auch sie muß bis zu den Sommerferien continuierlich bleiben. Ja, ich könnte etwa 10 Tage zu Euch kommen! Aber es sind ja fast 3 Tage zu reisen zu Euch u. Mama, u. die Anstrengung der Reise nimmt die beste Wirkung der Erholung schließlich mit sich fort, zu alledem. Ich muß eben sehn daß ich mich fortschreibe. Jedenfalls sehen wie uns in den Sommerferien gründlich. Ich muß eben, wenn ich meine Arbeiten machen will, da die Collegia mich so viel Zeit kosten, diesmal wirklich die Ferien nutzen: denn ich habe nicht die Gesundheit, nur so drauflos arbeiten zu können in infinitum, wenn ich etwa zurückkehrte. Schwere Sorgen macht mir Karl. Zudem höre ich gar kein offenes Wort mehr von ihm. Es muß irgend etwas während des Aufenthaltes zu Hause vorgekommen sein, was ihn mir gegenüber verdrießlich gemacht hat. So bin ich

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Dilthey an Hermann Usener

im wichtigsten Augenblick für ihn rathlos u. ohne Einfluß ihm gegenüber: ich weiß gar nichts mehr von ihm. Den Internisten in Heidelb[erg] zu consultiren hatte ich ihn bestimmt: da er, mit mir durchreisend ihn nicht traf, ist mir die Chance geschwunden. Wenn wir im Sommer zusammentreffen, gehe ich mit ihm nach Heidelberg: ich kenne ja zudem Friederich1 in Heidelb[erg] u. dessen Frau ganz gut, sodaß er gewiß mit Interesse in s[einen] Gesundheitszustand eingehen wird. Inzwischen spreche ich wie der Blinde v[on] der Farbe: ich weiß eben jetzt gar nichts von ihm u. habe auch k[eine] Aussicht wie ihm zu Muthe ist gründlich z[u] erfahren. Über Deine Arbeitspläne freue ich mich sehr, u. mir leuchtet natürlich ganz ein daß Du d[ie] Z[eit]schr[ift] hinter ein massives Buch zurückschiebst. Heidelb[erg] betr[effend], war Kunos2 Hinkommen schon ausgemacht zwisch[en] ihm u. Zeller, seit diversen Jahren. Jetzt ist wol richtig was Du schreibst, aber durch Treitschkes Fortgang nach Berlin3 ist für Kuno der Grund weggefallen, um dessetwillen er bereit war H[eidelberg] z[u] verlassen. Wie sehne ich mich danach, Mamachen wiederzusehn, Lily Dich Euer kleines Volk; laß nur inzwischen noch 4 Monate uns gedulden: dann kann ich hoffentlich ruhiger Euch alle genießen. Wenn ich wieder die Arbeit verließe, käme fiebernde Ungeduld, die mich ohnehin quält, noch stärker über mich. Nächstens mehr, Ihr Liebsten, ich antworte gleich, Morgens, doch mitten aus der Arbeit heraus, die nicht unterbrochen sein will. Euer treuster Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 m. 1 2 3

Vermutlich ein Arzt. Gemeint ist Kuno Fischer. H. von Treitschke wurde 1873 Nachfolger L. von Rankes in Berlin.

[414] Dilthey an Hermann Usener [27. oder 28. April 1873] Liebster Hermann1 Ich habe eine eilige Bitte, wenn Sie Dir nicht zu unbequem. Ich möchte zur Sitzung am nächsten Sonnabend die Zahl der Zuhörer von Varrentrapp2 1 in Privatcolleg 2 in Übungen aus den 2 oder 3 letzten Semestern. Es scheint

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Dilthey an Hermann Usener

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Olsh[ausen]’s Wunsch durch ihn Erdmannsdörff[er] herauszudrängen.3 Du kannst ja leicht ohne daß er u. Sybel4 etwas davon bemerken dies unter irgend einem Grunde auf der Quästur5 einsehn. Höchst eilig. Nächstens mehr. überarbeitet, aber wohl. Dein Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45. 1

Darüber von der Hand H. Useners: „Antw. 30. Apr. 73“. Konrad Varrentrapp (1844–1911): Historiker; 1873 a. o. Prof. in Bonn, ab 1874 o. Prof. in Marburg, 1890 in Straßburg. – Varrentrapp kam nicht nach Greifswald. 3 B. Erdmannsdörffer, derzeit als o. Prof für neuere Geschichte an der Universität in Greifswald tätig, lehrte ab Herbst 1873 in Breslau, bevor er 1874 einem Ruf nach Heidelberg auf den Lehrstuhl des nach Berlin berufenen Treitschke wechselte. 4 Der Historiker H. von Sybel lehrte seit 1861 an der Universität Bonn. 5 Universitätskasse, welche die Studiengebühren einzieht. 2

[415] Dilthey an Rudolf Haym [Juli 1873]1 Haben Sie tausend Dank, mein lieber Freund, für die Weise, wie Sie meiner in den preuß[ischen] Jahrbüchern neulich gedacht haben; wenn so von e[iner] älteren Arbeit die Rede, ist einem erst immer als wäre von einem ganz Anderen oder Abgeschiedenen die Rede. Nun scheint mir nachdem ich das Einschlagende verglichen Novalis ganz klar zu sein.2 Notizen über Einzelnes, die ich gemacht, habe ich hier nicht zur Hand, wo ich, im Breslau nahen Scheitniz,3 in einem großen Garten ein kleines Zimmer habe u. manchmal wenn die Vorlesungen es gestatten, 2 Tage Niemanden außer meiner Aufwartung sehe, wenige Bücher nur dabei um mich habe. Also Sie arbeiten jetzt Herderiana?4 Sie können denken, wie gespannt ich darauf bin; sympathisch kann dieser sonderbare Mensch Niemandem sein, von dem ich allerdings glaubte, daß die Theologie u. die Bedingungen welche sie ihm auflegte, eine mächtige Natur in einer intellektuell und sozial degagirten5 Zeit im Mittelmaß des Lebens zu erhalten, sein Unglück war; so stürmische Naturen, wenn sie nicht in der Freiheit von innen zur Sänftigung u. Klarheit gelangen, bleiben trübe im Denken u. Fühlen, ein Most, der in der Gärung verdirbt. So ist schließlich seine Humanität theol[ogisches] Mittel-

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Dilthey an Rudolf Haym

maß, nur in der Geschichte fährt er fort große Aperçus zu haben, ohne doch mit ihnen was machen zu können, in der Lebensansicht ist er neidisch, bitter; Göthe u. Schil[l]er haben grenzenlos auf ihm gelastet mit dem großen u freien Styl sich zur Welt zu stellen, der ihm als Hofprediger verschlossen war. Oder denken Sie anders über dies Alles? Ich suche jetzt aus meinen Untersuchungen einige Hauptpunkte schreibend in einem gewissen Zusammenhang herauszulösen, damit ein paar Freunde wie Sie u. wol auch ein paar in ähnlichen Wegen forschende, die ich nicht bisher kenne, einmal wieder sehen, wie ich mich plage größere geschichtliche Causalzusammenhänge an der intell[ektuellen] Entwicklung aus genauen Detailstudien festzustellen. Ist dies geschrieben u. 2 system[atische] Abhandl[un]gen, e[ine] erk[enntnis]theoret[ische] u. e[ine] zur Ästhetik der Musik (von der letztern aber ist erst der Anfang der Untersuchungsreihe da):6 dann will ich den Schleierm[acher] fertig schreiben. Gerade jetzt schreibe ich wieder b[ei] Beschäftig[un]g mit Plato vieles Einzelne zu Bd. II ‚quod Di‘7 etc. Olshaus[en] hat natürlich uns hier, die wieder fern von großer Politik leben sehr überrascht. Hier hat er uns leider im letzten Jahr durch seine Abhängigkeit v[on] den Wünschen einiger Berliner großen Schaden gethan,8 u ich sah mich vor 2 Monaten genöthigt, darauf in der Fakult[ät] anzutragen, Jemanden der die Stellung dazu besaß u. vor vielen Jahren schon andre Fälle miterlebt hatte direkt an den Minister nach Berlin zu senden. Er ward v[on] der Fak[ultät] angenommen, aber auf unsere Anfrage wann der Minister ihn empfangen könne, haben wir erst in diesen Tagen Antwort erhalten. Daß auch an Sie in Berlin gedacht werde werden Sie wissen; ich zweifle nicht, daß Sie abgelehnt hätten. Soviel denn für heute, da die Hauptsache ist Sie zu bitten, Ende des Monats Ihren Reiseplan mir mitzutheilen, ob wir uns vielleicht dann im September in der Schweitz irgendwo finden. Herzl[iche] Grüße an Ihre verehrte Frau u. leben Sie heiter wozu e[in] in Besitz ordentlicher Hefte9 befindliche[r] Professor in der günstigsten Lage ist. Ihr Dilthey Original: Hs.; ULB Sachsen-Anhalt, Halle, Haym-NL, Yi 23 IV D 4 r; Erstdruck: BDH, Nr. 18. 1

Die Datierung wurde vom Hg. vorgenommen. R. Haym: Eine Nachlese zu Novalis’ Leben und Schriften, in: PJ 31 (1873), S. 563–576. – Haym hat hier Bezug genommen auf D.s Novalis-Aufsatz, der 1865 in den PJ 15, S. 596–650 erschienen war. 2

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Dilthey an Rudolf Haym 3

Schweidnitz: kleiner Ort nahe Oppeln in Schlesien. Der erste Band von Hayms Buch Herder nach seinem Leben und seinen Schriften erschien erst 1880 in Berlin, der zweite Band 1885. 5 Zwanglos, frei. 6 Diese Arbeiten wurden nicht fertiggestellt. 7 Quod Di dant, fero (Plautus): Was die Götter geben, ertrage ich. 8 Möglicherweise meint D. die Einrichtung eines Extraordinariats für mittlere und neuere Geschichte in Breslau, das zur Entlastung des Historiker Richard Roepell nötig war, der sich als Parlamentarier meist in Berlin aufhielt (vgl. BDH, S. 35, Anm. 4). – Zum Herbst 1873 kam für kurze Zeit B. Erdmannsdörffer nach Breslau. 9 Vorlesungsmanuskripte. 4

[416] Dilthey an Katharina Püttmann1 [Ende September 1873] Elster, am Tag nach Deiner Abreise Guten Morgen, mein Käthchen. Als ich heut mir die Sonne ins Zimmer scheinen sah, sprang ich auf und meinte, Ihr könntet nicht fort sein. Nach dem Café ging ich dann auf den Badeplatz: er lag hell in der Sonne und ganz einsam, selbst die Musik ist mit Dir fortgegangen; zwischen dem Nadelholz der dunklen Bergwand gegenüber leuchtete die blaue Luft. Und so ging ich denn auf und nieder, wie wir es Tag um Tag gethan, glaubte Deine Nähe neben mir zu fühlen; lange stand ich an dem Baum, an dem ich Dich zuerst sah, wie Du angelehnt träumerisch der Musik zuhörtest; ich war kindisch genug mich an ihn zu lehnen, als fühlte ich so noch lebendiger als im Auf- und Niedergehen Deine Gegenwart. Ein gränzenloses Gefühl meines Glücks durchdrang mich ganz, ich überschaute es gewissermaßen nun mit Einem Blick u. zum ersten Male empfand ich, wie ich auch in Deiner Abwesenheit mit Dir lebe, verkehre, rede, nur mit Dir zusammen empfinde u. denke. Mein Käthchen! Ich bin dann den Weg gegangen, den Du weißt. Und an der Stelle, an der Du Dich mir geschenkt hast, habe ich – wie soll ich sagen – gelobt, in tiefster Seele als den Inhalt, als die Seligkeit meines Lebens empfunden – das ist ja Alles dasselbe – soweit Menschenmacht reicht alle Deine Tage mit Sonnenschein von Liebe und Glück zu erfüllen, so hell und strahlend als er um mich erglänzte, in mir war. Und ich habe Gott gebeten über das hinaus was wir Menschen vermögen uns beide als seine guten dankbaren Kinder in seinen Schirm zu nehmen. Ja wir wollen der Welt zeigen, was eine vollendete Ehe

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Dilthey an Katharina Püttmann

ist. Du weißt wie ich Dir von John Stuart Mills Gattin2 erzählte, von ihrem Grab in Avignon, das sie nun beide umschließt u. an dem in langen Zeiten jeder Engländer der Avignon durchwandert mit einem Gefühl von Andacht darüber, wie hier Gedanke und Liebe verbunden waren, stehen wird – mein Käthchen, mir kommen die Thränen in die Augen und eine gränzenlose Sehnsucht ergreift mich, mit meinen Armen Dich zu umschließen, Dir zu sagen und wieder zu sagen, durch meine Augen, durch meine Worte, daß ich nur in Dir noch lebe athme: ja, schon jetzt schaue ich die Welt nur durch Dich, ich finde staunend, wie die Liebe mich verwandelt hat, untrennbar wird in Allem was ich sagen und schreiben werde sein, was Dein u. was mein ist. Das ist eine neue u. die herrlichste Gemeinschaft der Güter. Am 2ten Morgen nach Deiner Abreise. Gestern wollte ich noch keinen Brief absenden, weil ich Dir durchaus zugleich schreiben wollte – wie heißt doch der Vers? Nun höre, wie gründlich er wahr geworden. Ich schäme mich zu schreiben daß es gegen 5 Uhr war als ich auf dem Sopha einschlief, das Mädchen kam mehrmals, um den Café wegzunehmen u. fand mich immer fest schlafend, und so ist es gegangen – bis heute morgen – so um 14 Stunden hintereinander habe ich geschlafen: Es war ein fauler Schäfer, Ein rechter Siebenschläfer, Ihn kümmerte kein Schaf u.s.w.3

Nun sitze ich, schreibe an Dich; ich habe die Thür zum Salon geöffnet, um mich weht der Blumenduft u. die Poesie von vorgestern Abend: Dein strahlender Übermuth, in dem Dein Glück so laut u. beseligend zu mir sprach, Deine glänzenden Augen und Wangen, Deine tiefe Zärtlichkeit, und nun Dein Wesen selbst, wie es in seiner Lebensfülle vor mir steht, von dem ich mich aber wohl hüten werde Dir etwas zu sagen – Denn, mein Käthchen, selbst Du sollst nicht einmal wissen was Du Alles bist, damit ich ganz allein in der ganzen Welt es weiß u. auch vor Dir noch etwas voraus habe. Ist das nicht ein ‚Erdenrest‘4 von Egoismus in mir? Und morgen früh – denn heute Nachmittag werden erst einige der Photographien von uns 3 fertig, u. ohne eine solche kann ich nicht abreisen – Morgen früh fahre ich dann der Heimath, meinem Mütterchen, dem ersten Brief von Dir entgegen. Übermorgen Nachmittags komme ich in Bibrich an. Ich bliebe wol ein wenig in dem Mainthal von Bamberg bis Würzburg, reiste ich eben nicht einem gewissen Brief entgegen. Nicht wahr, Du antwortest auch auf diesen gleich? Dann trifft Deine Antwort, wie wenige Zeilen es auch seien, zugleich mit mir selber in Bibrich ein. Nun ist mir auch eingefallen, wie Du am schnellsten mein Buch bekommst: ich lege eine Zeile an

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Dilthey an Katharina Püttmann

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meinen Verleger, Georg Reimer Anhalter Straße (ich denke no 12) bei, in der ich bitte, dem Überbringer ein Exemplar mitzugeben; für wen es sei, braucht ja auch Reimer nicht zu wissen. An mein eigenes Exemplar in Breslau sind viele Blätter für den 2ten Band u. die 2te Auflage angebunden. Und dann, wenn Du zu lesen beginnst, laß mich Deine Gedanken über Alles wissen, auch das wirst Du fühlen, wie anders, wie tiefer werden wird was ich künftig schreibe. Denn mich hat das Schicksal einen Weg geleitet, als wolle es mich Alles im menschlichen Herzen kennen u. begreifen lehren, vom Schmerzlichsten bis zum Erhabensten, Idealsten, Beseligenden, das mir nun in der Liebe zu Dir aufgegangen ist, um niemals unterzugehen, und so werde ich nun erst, von der Liebe getragen, vom Glanz Deiner theuren Augen umgeben, ein Künstler in der Darstellung vergangener Menschen und Schicksale werden. Und nun küsse ich Deine Hände, Deine Augen, Deinen Mund. Ich bin ganz allein u. fern von Dir und doch unsäglich reich. In Gedanken begleite ich Dich, wie Du heute alte Freunde wiedersiehst, wieder nachdenklich sitzest, zu Deinen Zeichnungen zurückkehrst, Alles Dich fremd u. neu anmuthet, nachdenklich u. doch innerlich glückselig stimmt; ich bin mehr bei Dir in meinem Inneren als bei mir selber. Grüße Deinen Bruder tausendmal von mir, Du selber aber – was soll ich sagen? fühle es daß ich kein Leben mehr habe als in Dir. Dein Wilhelm Weißt Du Käthchen, ich habe eben wieder einen so unsinnigen Augenblick, in dem ich ganz überzeugt bin, daß noch nie ein Menschenkind so geliebt worden ist wie Du. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 g. 1 Martha Ludwiga Katharina Püttmann (1854–1932): Tochter des Berliner Rechtsanwalts und Justizrats Friedrich August Ludwig Püttmann (1817–1863) und seiner Ehefrau Clara Elise Charlotte, geb. Krause (1829–1915). – D. und Katharina hatten sich auf einer Reise in Bad Elster, einem Kurort im Sächsischen Voigtland, im September 1873 kennen gelernt. Katharina war dort in Begleitung ihrer verwitweten Mutter und vermutlich ihres Bruders, des späteren Berliner Magistratsbaurats Walther Püttmann. – Nach Abreise der Familie Püttmann fuhr D. zu seinen Verwandten nach Biebrich und kehrte am 29. Oktober 1873 nach Breslau zurück. 2 Harriet Taylor Mill (1807–1858): engl. Frauenrechtlerin und Autorin. 3 Goethes Gedicht Der Schäfer. 4 Goethe: Faust II, V 11954 ff.

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Dilthey an Ernst Reimer

[417] Dilthey an Ernst Reimer 26 Sept[ember] [18]73 Verehrtester Freund, Herzlichen Dank für die neuliche Sendung; Sie werden inzwischen bemerkt haben, daß der Brief selber, den mir der Herr in Bezug auf Schleiermacher Bd I übermitteln wollte bei Ihnen liegen geblieben ist, wenn er nicht selber ihn beizulegen vergessen hat. Darf ich Sie bitten, dem Überbringer dieses 1 Exemplar Schleiermacher Bd I auf meine Rechnung aushändigen lassen zu wollen? Wenn Sie es hätten, ein gebundenes. Im October sehe ich Sie in Berlin, jetzt werde ich mehrere Wochen in Bibrich bei meiner Mutter verweilen. Daß Usener nach Italien geht werden Sie gehört haben. Karl geht es gut u. ihn hoffe ich in Bibrich noch zu treffen, vielleicht auch Usener. Empfehlen Sie mich Ihrem verehrten Vater u. seien herzlich gegrüßt von Ihrem ergebensten Wilhelm Dilthey Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter) R 1: Dilthey, 63.

[418] Dilthey an Katharina Püttmann [Biebrich, Anfang Oktober 1873]1 Hier, mein Käthchen, sendet meine Mama der Deinen, Deinem Walther und dem Unband was der Rhein zu bieten vermag. Freilich was die Sonne dieses Jahres den Trauben verweigert vermochten auch die heißesten Gefühle nicht zu ersetzen. Könnte jemand sie mit Euch verzehren, der sie jetzt nur einpacken darf u. bei jeder an Jemanden denkt. Mein Buch fand ich hier so behaglich eingebunden, daß ich es lieber gleich fortschickte, damit Du nicht Seiten aufzuschneiden nöthig hast; ich habe einen Roman zugelegt über den wir in Elster gesprochen u. der Dir darum werth sein wird. Im Übrigen fahre ich fort an nichts als an Dich zu denken, gänzlich unzurechnungsfähig zu sein und mich überhaupt so zu gebehrden wie die Geschichte von keinem Professor überliefert u. wie selbst Freytag in der verlore-

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nen Handschrift einen solchen vorzustellen nicht gewagt hat. Denn da das Publikum Dich nicht kennt, würde es ihm auch doch Niemand geglaubt haben. Und nun geht das Packen los; denn in einer Stunde soll schon der Korb seine Reise antreten. Mama ruft mir eben zu ich soll Dir schreiben, in jeder Traube stände von ihr ein Gruß und ein liebes Wort; nun setze Dir den Brief daraus zusammen, den sie Dir geschrieben hätte wenn die Post nicht so eilig wäre. Wie unsäglich würde sie ein Brief von Dir erfreuen! Tausend Grüße von Allen; und von mir? Wo ich auch sei, gehört Dir jeder meiner Athemzüge, träumend, wachend, mein Käthchen, mein Unband, meine Seele. Dein Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 g. 1 Auf dem Original am oberen rechten Rand ist handschriftlich von C. Misch die nachträgliche Datierung vermerkt: „Biebrich, Herbst 73“.

[419] Dilthey an Clara Püttmann [Mitte Oktober 1873] Meine liebe theure Mama, Sonntag Nachmittag.1 Nun wird Käthchen in Schlesien sein,2 Sie einsamer als sonst in Berlin und so will ich denn den Nachmittag benutzen, nachdem ich heute Morgen die Umgegend durchschweift, Ihnen ein wenig Gesellschaft zu leisten. Lassen Sie mich zunächst Ihnen danken für die mich tief bewegende Liebe und Güte in Ihrem Brief.3 Ich hatte die plötzlich über meine Gesundheit neu aufgestiegene Sorge allein tragen wollen, in der sehr großen Hoffnung daß sie in wenig[en] Wochen sich zertheilen würde. Die Forderung meines Gewissens, daß bei unserer öffentlichen Verlobung gar keine Besorgniß über dieselbe mehr walten dürfe brachte mich in die furchtbarste innere Aufregung. Nicht als ob ich ernste Sorge hätte gehabt, es könne sich ein schweres Leiden entwickeln. Aber ich, der sonst so kerngesund ist, kann auch leichteres andauerndes Kränkeln Käthchen nicht in die Ehe bringen. Alles sonst an meinem Körper verspricht lange gesunde Kraft, und ich für mich allein hätte mir keinen Augenblick Sorge gemacht. Aber ich sinne ja jetzt nur, wie ich in mir alle Bedingungen vereinigen möchte Käthchen so unbegränzt glücklich zu machen als sie es

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verdient, als meine Liebe für sie es fordert. Ich sehe ja wohl um mich wie wir doch schließlich überall in den Händen des Schicksals mit unserem Glück sind u. wie überall Gränzen plötzlich erstehen für das was ohne Gränzen scheint; ich sehe, daß inmitten dieser Thatsachen edler Charakter u. tiefe Liebe allein gänzlich zuverlässig sind. Ich bin stolz genug zu wissen, und die unwandelbare Liebe edler innerlich vornehmer Menschen die mir überall geworden, bestätigt es mir äußerlich, wie ich die Menschen, die mit mir zusammenleben wahrhaft glücklich zu machen vermag; Sie sollen ja noch liebe Mama erfahren, wie keine Laune, kein Egoismus und kein kleinlicher Zug in mir sind. Und Sie haben Recht, teuerste Mama, äußerlich wie innerlich ist Alles dazu angethan, uns beiden das schönste glücklichste Loos mit Gottes Hilfe zu gewähren. Nicht wahr, Sie fühlen es, wie gerade unter solchen Umständen ein Schatten beunruhigt? Wo Menschen sich eine mittelmäßige Existenz zurechtzimmern: rechnen sie wol eins ins andere, einen erträglichen Durchschnitt zu gewinnen. Wie ich mir unser Leben denke, kann ich um Käthchens willen so nicht empfinden. Ich habe ihr nun, auch für Sie, geschrieben, wie es sich mit meinen Sorgen verhält. Mein Plan war ja mißlungen, ohne Sie zu beunruhigen, erst die Garantie meiner Gesundung durch den Verlauf der nächsten Wochen mir zu schaffen. Nun verzeihen Sie mir nur, Theuerste, die ich schon ganz wie die nächsten Meinigen liebe, daß ich Ihnen so viel Sorgen mache. Ich bin ja für mich felsenfest überzeugt, daß ich gänzlich gesund werde u. in späteren Jahren am Ende eine impertinente Gesundheit entwickeln werde; aber ich darf doch nicht diese Überzeugung zum Maßstab meines Handelns machen, und eine äußere völlige Sicherheit ist so schwer in dieser Zeit, in der ich so tief bewegt bin zu erlangen nachdem ein solcher Rückfall eingetreten ist. Nun Sie in meine Sorge mit hineingezogen sind: ist ja die äußere Anordnung sehr einfach. Ich komme doch erst zu Käthchens Geburtstag,4 und bis dahin geht ja noch mancher Brief herüber u. hinüber. Und nun wollen wir die Wolke hinter uns lassen, die sich mit Gottes Hilfe zertheilen wird, und lassen Sie mich mit Ihnen plaudern, Sie zerstreuen. Heute sind von den Italienfahrern5 Nachrichten angelangt u. bei jeder Zeile denke ich an unsere künftige italienische Reise – Sie, Käthchen u. ich, wie werden wir die Welt genießen. Dann denke ich wieder, wie wir uns in Breslau einrichten werden, obwol mir eine innere Ahnung sagt, daß ich, wenn erst das jetzt begonnene Buch veröffentlicht sein wird, nicht zu lange da bleiben werde. Nun wird freilich wol ein Jahr vergehen, bevor ich in ruhigem Zusammenhang werde fortschreiben können. Die Vorlesungen machen mir so lange ich in Breslau sein werde keine sonderliche Arbeit mehr, u. concencrirter als vorher will ich nun an schriftstellerische Leistungen denken. Ich weiß wenn

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Käthes Augen darüber wachen, wird Alles leichter von Statten gehen. Und dann werden Sie bei uns sein, wie manches Capitel, meine liebe, liebe junge Mama, werde ich Ihnen diktiren in behaglicher Abendstunde. Auch der Gedanke an Käthchens Malerei beschäftigt mich viel; auch inmitten des Familienlebens muß sie Raum dafür behalten u. ich will mit allen Kräften in diese ihre Interessen eingehen; mir schwebt schon ein Plan vor wie wir das Studium von Portraits u. Figurenbildern gemeinsam vornehmen u. dabei voneinander alle Tage lernen, miteinander alle Tage genießen wollen. – Lily schwelgt nun den ganzen Tag in dem Gedanken wie es sein würde, wenn wir nach Bonn kämen, sie sind eben damit beschäftigt, ihr Haus zu verkaufen u. ein größeres mit Garten, mit Veranda, Balcon nach dem Siebengebirge lockt sie; jetzt wo sie denkt uns Ostern in Bonn zu sehen haben alle diese Projekte neues Leben gewonnen. Dann wollen wir Ostern in Bonn Allen so gut gefallen, daß sie uns wenn der gute alte Knoodt6 abstirbt (wo dann wahrscheinlich das Prinzip einen Katholiken zu nehmen aufgegeben wird) dorthin nehmen müssen. Der dortige Philosoph, mein guter treuer Freund7 hat ja auch keinen anderen Wunsch. Ich amüsire meine Mama außerordentlich durch mein plötzliches Interesse für die Fragen, was der Mensch braucht behaglich zu leben. Daß wir zunächst soviel haben als wir brauchen, sehe ich sehr deutlich: Mama spart auch jährlich; obwohl sie bis vor einem Jahr auch für meines Bruders ganze Existenz zu sorgen hatte und sehr bahaglich lebt. Ach könnten Sie nur Einen Tag hier bei dem herrlichen Sonnenschein bei uns sein; Mamas Güte, die herrlichen Kinder Lilys: wie hätten Sie an dem Allem Ihre Freude. Schöner freilich wird es sein, wenn Sie Ostern zugleich Hermann u. Karl hier sehen; Hermann wird dann etwas früher aus Italien kommen als er vorhatte, u. Lily hat gleich den Plan, die zwei letzten Monate nach Italien zu ihm zu gehn aufgegeben, weil sie nur träumt, plaudert u. phantasirt von meinem Glück, von Käthe. Sie durchlebt mit mir all ihre eigene Glückseligkeit des ersten Jahres, die Schatten die darüberhingingen u. sich zertheilten, u. die Ähnlichkeit meines Empfindens mit dem Hermanns giebt uns immer neuen Stoff zu Scherz u. Ernst. Vor meiner kleinen eben 17j[ährigen] Nieçe legte ich eine eben gemachte Photographie bei; ich finde sie aber nicht, und alle sind bei einer Cousine zum Café – ich allein sitze, an sie schreibend, im Freien. Nun an Walther tausend Grüße, ich schreibe nächste Tage wieder. Denn Käthe braucht ja nun in dem Tumult mich doch nicht so oder vielmehr kann mich doch nicht gebrauchen. Ihr treuer Sohn Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 b.

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1 Darüber von der Hand C. Mischs die handschriftliche Bemerkung: „Herbst 73? Merkwürdiger Brief. Handschrift – Augenkrank?“. 2 K. Püttman hielt sich zur Erholung in Maiwaldau, einem kleinen Ort Nahe Hirschberg in Schlesien bei Verwandten auf. 3 Nicht überliefert. 4 K. Püttmann hatte am 25. Oktober Geburtstag. 5 Karl D. und H. Usener. 6 Der Philosoph und kath. Theologe Peter Knoodt lehrte seit 1847 als o. Prof. in Bonn. 7 Gemeint ist J.B. Meyer.

[420] Dilthey an Katharina Püttmann [Biebrich, vor 25. Oktober 1873] Mein Käthchen, mein Unband, Du meine Seele. Nun wirst Du schon aus meinen flüchtigen Zeilen gesehn haben, welche unsägliche Geduldsprobe uns beiden ungestümen Menschen bevorsteht. Ich werde fern sein wenn Du Deinen Geburtstag feierst, und Wochen danach, gebe der Himmel, nicht viele. Meine flüchtigen Worte setzten voraus, daß Deine gute Mama Dir schon ihre Ansicht mitgetheilt habe. Sie muß für uns entscheidend sein. Und sie ist so einstimmig leider mit meiner eigenen gewissenhaften Überlegung, daß ich ihr nur dankbar für die klare Güte sein kann, in der sie sich mir hierin ausgesprochen. Und nicht wahr, mein Einziges, Du Inbegriff all meiner Sorgen u. meiner Träume zu Tag u. Nacht, wir wollen nicht krank werden vor Sehnsucht, wir wollen tapfer den Kopf oben halten, in dem klaren Gefühl daß wir einander zu eigen gehören, so ohne Gränzen, so ohne Rest, so ohne Ende, als hättest auch Du die geheimnisvolle Myrthe und den Schleier getragen u. der Segen Gottes wäre gesprochen über unser Band. Ja nimm mich hin, aber u. abermals zu Deinem Eigen, und wenn Gott schweres Leid über mich verhängte, wenn ich Dir entsagen müßte: ich würde in tiefster Einsamkeit mich verzehren, die Hand, welche die Deine umschlossen würde nie wieder auch nur zu einem Händedruck u. einer Begrüßung eine weibliche Hand berühren, Dein Bild auf meinen Knien würde ich sterben. Ich habe keinen Gedanken mehr als Dich u. Dein Wesen, keine Hoffnung als Deine Arme, jede Erinnerung an die Zeit ehe diese Arme mich umschlossen ist wie getilgt. So laß uns heiteren Muthes die Verlängerung unsrer Trennung tragen, mein tapferes Käthchen; wollen wir uns doch kräftig zusammen durch die Welt kämpfen. Mir ist als stünde uns noch mancher Kampf bevor. Wenn Du meinen Brief genau liesest u. den Plan Deiner Mama von dem 2jährigen

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Brautstand, der nun durch ihre Besorgriß neue Nahrung erhalten, damit vergleichst: so siehst Du wol, welche Schwierigkeiten gerade auch für meine Gesundheit u. dadurch mittelbar für unser Glück daraus entstehen. Unter solchen Umständen kann ich nur hoffen, bis Weihn[achten] ganz über meine Gesundheit beruhigt zu werden, wenn ich auch noch nicht gänzlich gesund sein sollte: dann darf ich ihr klar darlegen, wie meine Arbeiten u. meine Gesundheit durch diesen Plan auf das ernsthafteste gefährdet sein würden. Käme ich jetzt, unsicher über meine Gesundheit, wie dürfte ich das! Und bin ich nach gewissenhaftester Prüfung meiner Gesundheit ganz sicher: dann sind ja auch Erörterungen über dieselbe unnöthig, durch welche Besorgnisse so naturgemäß gesteigert werden. Schreibe mir nur gelegentlich, ob Deine Gesundheit wirklich eine so lange Zögerung irgend wünschenswerth macht. Und nun laß Dir tausend u. tausendmal danken, meine Einzige, für die Art wie Du in den Tagen der Hochzeit in M[ai] W[aldau] meiner gedacht. Ja, meine geliebte Braut, ich wußte es, daß Dir am Polterabend wie im Traum zu Muthe sein würde, daß Du in Trähnen ausbrechen würdest wenn Du Gretchen im Brautschleier erblicktest, ich wußte – sehe ich doch auch durch Alles hindurch wie durch einen leichten Schleier Dich, Deine Augen, u. Deinen Mund. Du kannst denken wie ich darüber nachsinne, ob Du nun in M[ai] W[aldau] bleiben wirst zu Deinem Geburtstag, wie Deine Mama schreibt. Wie sonderbar wird uns dann zu Muthe sein, wenn ich Ende October in Breslau eintreffe und dann nur wenige Meilen von Dir entfernt bin, wir beide dicht beieinander in unserer neuen Heimath, u. doch durch die armen Regeln dieser Welt gehindert uns wiederzusehen u. auszusprechen. Ich gedenke, etwa den 29ten in Breslau einzutreffen: und noch kann ich mir gar nicht vorstellen was für ein Leben ich da führen werde. Das Schlimme ist daß sich dies auch durch die Veröffentlichung unserer Verlobung gar nicht, aber auch gar nicht ändern wird. Meine ganze Seele wird immer bei Dir sein. Das Eine nur werde ich gewinnen, daß ich aus allen Gesellschaften wegbleiben kann, ohne für einen Narren erklärt zu werden, was jetzt nicht möglich sein würde. Und Du hast keine Rundtänze getanzt, mein theurer Unband, ganz beschämt hast Du mich durch dies anmuthige Betragen, da Dein Versprechen doch durch Trauens1 Erklärung erloschen war. Und auch sonst warst Du nur mäßig unbändig, u. Niemand hat Dir gefallen: Du kannst Dir gar nicht denken wie ich solche Worte begierig einfange, wie sie mich in Schlaf u. Wachen begleiten. Ich sitze hier immer wieder, Deine drei Bilder vor mir; u. da begegnet mir u. Lily etwas Erstaunliches. Außer dem letzten Bilde (das wir natürlich unter einem Vergrößerungsglase uns lebendig machen) lieben wir besonders das älteste, in dem der Rechtsanwalt Dich gar nicht erkannt hat u. das ich jetzt ganz außerordentlich liebe: Da bist Du das hinreißendste

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Schulkind, das je eine Mappe unter dem Arm in Berlin umhergetragen u. dabei mit Freundinnen sich in schwärmenden Gedanken ergangen hat. Besonders studiren wir immer wieder Deinen Mund darauf. Höre, wie ich jetzt überhaupt Dich viel genauer kenne, als da ich Dich in meinen Armen hatte, u. noch immer immer, tagtäglich lieber habe: geht es Dir denn auch nur ein klein, klein wenig ebenso? Wenn ich dann obendrein [Briefschluss fehlt]. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 h. 1

Nicht ermittelt.

[421] Dilthey an Katharina Püttmann [Biebrich, vor 25. Oktober 1873] – So weit hatte ich heute früh geschrieben; da kommt Dein Brief an meine Mama. Lily las ihn vor, meine Mama brach in Freundenthränen aus u. schließlich haben wir glaube ich alle zusammen geweint. Daß wir Dich hier in unsren Armen hätten, meine geliebte Braut, das war unser Aller einmüthiger sehnsüchtiger Wunsch. Ich küsse Deine theuren Hände, u. Deine Augen Dir den Ausdruck Deiner Liebe zu meinem Mütterchen zu danken. Die Meinigen schreiben Dir baldigst und dann werden sie auch was von Photographien da ist mitsenden. Von meiner Mama giebt es gar keine erträgliche; die mußt Du eben selber sehen. Nun aber sollen diese Zeilen fort, denn ich habe mir natürlich selbst den gehörigen Verweis gegeben, Dir Unruhe gemacht zu haben. Aber Deine Briefe nehmen mich zuerst stundenlang so ganz hin – dann sitze ich, Dein Bild u. sie vor mir u. denke kaum an Schreiben. Deiner Mama nächste Tage näher über den Plan unsres Wiedersehens; wir brauchen ja nicht zu eilig zu sein, uns fest zu entscheiden. Sprich für ihn meine Käthe, er ist so unvernünftig vernünftig. Die Hauptschattenseite ist daß ich dann Walther erst Weihnachten sehe. .|.|.1 bei der Veröffentlichung unserer Verlobung die Menschen, die Du lieb hast, uns behaglich sehen, ruhig sich unsres Glückes erfreuen könnten. Das ließe sich Weihnachten vorzüglich ausführen, wo ich die ganzen Ferien in Berlin sein kann, jetzt dagegen, wo wir ohnehin beide noch so erregt, ja körperlich angegriffen sind, in den wenigen (etwa 4) Tagen meines Aufenthalts würde das unruhige Treiben uns alle unbehaglich machen, uns selbst

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würden wir nicht genießen, den anderen nicht in unsrem Glück klar erscheinen. Da will mich denn ein Plan sehr bezaubern, den ich Dir u. Deiner Mama getreulichst vorlege. Deine Mama holte Dich nach der Hochzeit u. in der herrlichen Einsamkeit des Hirschberger Thals2 sähen wir uns wieder und genössen ohne Neugierige unser Glück. Ich glaube, so thäten wir uns selbst u. thäten dann nachher den Weltanforderungen am schönsten Genüge. Ach mein Käthchen, unterstütze bei Deiner Mama diesen wundervollen Plan, an dem nicht das Schlechteste ist, daß wir uns dann mehrere Tage früher sähen. Nun falle ich Dir um den Hals, küsse Dich mit dem Ungestüm das Dir so ängstlich ist u. bitte Dich mich nur halb so lieb zu haben als Dich hat Dein Wilhelm Original: Hs.; das Brief-Fragment ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 h. 1 2

Hier ist das Original lückenhaft. Großer Talkessel in Schlesien, auf der Nordseite der Westsudeten.

[422] Dilthey an Katharina Püttmann [29. Oktober 1873] Samstag Nachts Mein theures einziges Käthchen. Eben bin ich in meine Zimmer zurückgekehrt, mit wie wunderbaren Empfindungen, mit tiefstem Dank gegen die Vorsehung die uns zusammenführte, gegen Dich – ich fasse in Gedanken Dein theures Haupt zwischen meine beiden Hände u. küsse Deine Augen. Nur flüchtig habe ich die Berge, die auf meinem Schreibtisch in meiner Anwesenheit sich gesammelt gemustert, Deinen u. Walthers Briefe1 aufgemacht u. wie ein Meer von Gedanken u. Gefühlen fluthete über mich herein, Mitternacht ist herangekommen u. der Vollmond blickt zu mir in’s Fenster. Ich grüße Dich zum ersten Mal aus diesem Zimmer, das so oft um diese Stunde mich bei der einsamen Lampe in abstrakten Gedanken sah, heute zum ersten Male in gränzenloser Sehnsucht. Mögest Du um diese Stunde ruhig schlummern. Montag Nachmittag

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Das ist denn der erste Tag, in dem ich mich nach diesen Wochen, die mir wie ein einziger Gedanke, ein einziges Gefühl erscheinen, wieder im realen Leben finde. Und es liegt auch darin ein Segen; ich verknüpfe unwillkührlich Dich mit jedem Menschen u. jedem Verhältniß das mir entgegentritt: ruhigeren Blickes sehe ich unser künftiges Leben und fühle ohne jede Überspannung daß wir zu den von Gott Begnadigten gehören. Des Morgens ging ich wie Du denken kannst zuerst zu Erdmannsdörffer, u. Du kannst Dir seine Freude, seine Neubegier nicht groß genug denken; wie ich ihm nun so von Dir erzählte u. daß Dich eigentlich kein Mensch verdiene: that es mir doch recht gut wie er mir so gründlich u. herzlich ausprach, daß ich ganz dazu geschaffen sei, die beste Frau recht in der Tiefe der Seele glücklich zu machen. – Dann aß ich mit ihm, Neumann u. Brentano2 u. nun sah ich mich denn gleich wieder recht im wirklichen Leben mit seinen schönen Aufgaben. Brentano kam eben von der Eisenacher socialen Conferenz,3 deren Richtung ich ja auch angehöre. Neumann ist wieder mitten im Krieg; es sind wieder nichtsnutzige Intriguen gespielt worden zwischen Olshausen u. dem hießigen Physiker, seinem Vetter u. man hat uns einen angeblichen Experimentalphysiker aufgeredet, der nun gar keine Experimentalphysik liest, sondern mathematische; wir werden also Mittwoch wieder eine sehr stürmische Sitzung haben. Ich höre auch daß ich zu den Vieren gehöre, welche die sämmtlichen Professoren vor einigen Tagen zu Senatoren der Universität gewählt haben: Du hast nun also eine neue Würde. Ehe ich in die Vorlesung eben gehe, habe ich ein paar Briefe und Zettel zusammengerafft, welche Dir Hermann u. Karl, Grimm, Treitschke[,] Trendelenburg vorstellen. Eine vernünftige Auswahl zu treffen, war ich heute nicht im Stande, da die Thür beständig in Bewegung ist. Morgen schreibe ich ausführlicher; dann erst kann ich auch Dir ordentlich für Deinen theuren Brief aus M[ai] W[aldau]4 danken, an dem ich nun zehre, bis Morgen hoffentlich einige Zeilen von Dir erscheinen. Auch Deiner Mama will ich dann noch einmal schriftlich meinen Dank sagen für die mütterliche Zärtlichkeit der vergangenen Tage. Dein im Leben wie im Tode, in allen Gedanken u. allen Gefühlen, ohne Rest. Dein Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 g. 1

Nicht überliefert. Lujo Brentano (1844–1931): Nationalökonom; 1872 a. o., 1873 o. Prof. der Staatswissenschaften in Breslau, 1882 in Straßburg, 1888 in Wien, 1889 in Leipzig, 1891 in München. 3 Eisenacher Tagung des Vereins für Socialpolitik, dessen Mitbegründer Brentano war. 4 Nicht überliefert. 2

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[423] Dilthey an Katharina Püttmann [Anfang November 1873] Mein geliebtes Käthchen, wie soll ich Dir für Deinen Brief 1 danken, den ich von der Morgenfrühe ab umherwandelnd in meinem Zimmer, mit Dir allein beschäftigt, so sehnsüchtig erwartete. Ach ich halte es ja kaum aus von Dir abwesend zu sein. Ich habe nun alle meine Vorlesungen auf Donnerstag Freitag Sonnabend gelegt, kann also eigentlich jede Woche kommen, wenn nicht eine besonders wichtige Hinderung durch Senat oder Fakultät stattfindet, die anderen Tage bei Dir sein. Wenn ich, zur Zeit meines Geburtstags, mir für die 3 Tage Urlaub nehme kann ich über 8 Tage in Berlin sein. Und wenn ich heute hier bin, ists eigentlich nur weil ich mich vor Deiner Mama schäme, schon wieder in Berlin zu sein. Sage ihr nur mir sei wie einem Kinde in der Fremde, das ein gränzenloses Heimweh nach der Mama, ihrer Pflege u. allen Gewöhnungen oder vielmehr Verwöhnungen des mütterlichen Hauses hat. Habe noch einmal Dank für Deinen Brief aus M[ai] Waldau: er ist ganz wie Du eben bist, und nur Du allein. Und mich in Dein Wesen wie es mir immer tiefer und klarer sich öffnet, zu versenken: dies geht eigentlich neben u. zwischen allen Arbeiten jetzt her, je tiefer ich Dich durchschaue desto gränzenloser ist meine Hingabe an Dich, ein Leben in Deinem Leben. Das war heut wieder ein unruhiger Tag. Gestern Abend nachdem ich an Dich geschrieben, ging ich hinüber zu Scholz, nur ein paar Häuser von mir2 wo ich mit großem Jubel empfangen ward und mir ein wenig vorspielen ließ, träumerisch mit allen Gedanken zu Dir wandernd. Oder vielmehr erst in die erste Zusammenkunft der Studenten für die Übungen: es scheint sich sehr gut zu machen: zwei junge Doktoren, die schon die Universitätszeit u. den Kursus bei mir hinter sich haben, die anderen ältere Studenten; ich habe die Zahl auf acht festgestellt u. lasse sie nun Freitag Abend zu mir kommen; mehr als 8 kann ich nicht bequem um meinen Tisch unterbringen. Freitag wird dann ein harter Tag jedesmal. Erst Vorlesung, Nachmittags mehrere Stunden Prüfungscommission, Abends die Übungen. Die Studenten wünschen Spinoza. Wie werde ich dich dann herbeiwünschen; der unsägliche Friede, der in einer rein objektiven Betrachtung der Welt u. der menschlichen Zustände liegt, hat nie einen ergreifenderen Ausdruck gefunden als in diesem einsamen Menschen, der in einer elenden Dachwohnung, vom Schleifen optischer Gläser lebend mit einem todkranken Körper kämpfend, sein kurzes Leben verbrachte. Es ist ein Bericht, daß er Einmal geliebt habe, ein hochbegabtes Mädchen, die Tochter eines Arztes, seines Lehrers, u. um seiner Ar-

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muth willen, wol auch als ein mißachteter Jude, verschmäht worden sei. Was ist das Leben des Menschen: An einem wunderbaren Hause bauen wir langsam, das die Götter bewohnen sollen, u. an seinem Thore lehnen rechts das Schicksal u. links der Tod. Wäre das nicht der Stoff eines mächtigen Bildes? während noch die Zimmerleute rüstig arbeiten, auf dem Giebel anspornend der Herr, stehen die beiden unbeweglich. Ja laß uns, meine Käthe, kräftigen Sinnes uns ein schönes Leben gestalten und unser Haus bauen: wie Du es sagst heiterglückliche, übermüthige, glückstrahlende Kinder werden wir sein mit Gottes Hilfe. Hier hält meine Feder an, in Deinen Händen ruhen meine Augen, Gott segne Dich Käthe, im Leben u. Tod habe ich keinen Wunsch als Dein Glück. Grüße tausendmal Walther u. Deine Mama. Wir haben übrigens neulich vergessen die Papiere zu notiren, schreibe mir doch welches neben der Baubank das andere war? Wahrscheinlich höre ich hier schon von dem mir befreundetem ersten Banquier, Franck, Präsidenten der Handelskammer, das Nähere. In der andern Frage, über die Winckels keinen Rath wußten auch Niemanden gesprochen, aber Briefe geschrieben. Lebe wohl, mein Ideal, mein wunderbares Käthchen. Dein W[ilhelm] Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 g; ein maschinenschriftliches Teiltranskript des Briefes ist ebenfalls dort hinterlegt. Es enthält einen handschriftlichen Zusatz von Clara Misch: „Nr.1 Dann habe ich zur Vorbereitung der Übungen ein Buch der Ethik Spinozas durchgearbeitet, des wunderbaren Buches, in dessen Studium Lessing und Goethe Stille und Ruhe des Gemütes u. eine große Weltansicht sich gewannen.“ (Vgl. hierzu den nachfolgenden Brief.) 1

Nicht überliefert. B. Scholz lebte seit Herbst 1871 mit seiner Familie in Breslau. Er war hier als Leiter des Orchestervereins bis zum Frühjahr 1883 tätig. 2

[424] Dilthey an Katharina Püttmann [Anfang November 1873] Du liebe, liebe Käthe, der Arbeitstisch ist freigemacht, u. ich sitze zwischen den leeren Stühlen meine Studenten zu den Übungen zu erwarten, die heut schon um 4 Uhr kommen, weil sie Abends Ball haben. Morgens früh habe

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ich 2 Stunden hintereinander gelesen u. m[eine] Freude daran gehabt, wie aufmerksam sie ausgehalten haben, dann habe ich zur Vorbereitung der Übungen ein Buch der Ethik Spinozas durchgearbeitet, des wunderbaren Buches, an dessen Studium Lessing u. Goethe Stille u. Ruhe des Gemüths u. eine große Weltansicht sich gewannen. Nun ist Alles abgethan, u. während draußen der Schnee wirbelt u. an die Fenster schlägt, als erinnere er mich an die selige fröhliche Weihnachtszeit, die wir beide zum ersten Mal zusammen verleben sollen, welch ein wunderbar beglückender Gedanke !: sitze ich u. will Dir aussprechen, wie gränzenlos meine Liebe ist u. meine Sehnsucht. Ist das nicht Ironie des Schicksals das mich tückisch verfolgt? Deine Briefe wollen meinen Vorlesungen aus dem Weg gehn, u. nun kamen die Studenten u. noch immer kein Brief. Mitten in einer schwierigen Stelle lief ich hinaus: ist noch ein Brief da? – wieder eine halbe Stunde, verwickelte Lehrsätze: da wird Dein Brief 1 hereingebracht. Die Studenten sehen mich an, so ahnungsvoll so mitempfindend; ich aber lege ihn mit Aufbietung meiner ganzen männlichen Würde kühl zur Seite. War das nicht heroisch? Nun sind sie fort, u. ich habe ihn gelesen u. mich sehr daran ergötzt, wie die Liebe auch Dir in die Perspektivstunden geräth. Ja, liebe Käthe, vor der Versenkung in das ideale Glück unseres Lebens wird noch manchmal Aufmerksamkeit, Fassungsvermögen etc Alles, Alles schwinden. Auch Du wirst bald fühlen, daß Du, getrennt von mir, nicht mehr arbeiten kannst wie vordem. Für uns beide giebt es nur Ein Heilmittel, ein unsäglich süßes; alle Freude am Schaffen wird uns verdoppelt zurückkehren, wenn wir es Tag für Tag miteinander theilen. Siehst Du nun wie recht ich hatte daß Du besser keine Weihnachtsarbeiten machst u. den Unterricht in der Perspektive recht ausnutzest? Nun halte auch mir Wort u. stelle mir Deine Zeichnungen um den Weihnachtsbaum; nur Dein Bild für meine Mama darf eine Ausnahme machen. Und beschäme mir die gute Fr[äu]l[ein] E.2 die meint, Du könntest nicht unsäglich thöricht vor Liebe u. Sehnsucht sein u. doch mit dem Rest Deines Verstandes noch Perspektive so gut als die Anderen u. besser begreifen. Muß ich doch mit einem viel kleineren Rest wirthschaften. Denn daß ich der Thörichtere sei, wirst Du mir doch nicht abstreiten wollen. Daß Du zu Fr[äu]l[ein] Trend[elenburg] gehst freut mich sehr; grüße mir ihre Mama vielmals von mir, wenn Sie dabei sichtbar wird. Welche Freude wirst Du an diesen vorzüglichen Menschen haben, u. wie spaßhaft wird schließlich die Auseinandersetzung über Dein übermüthiges Entrée bei ihnen, Du mein Unband, sein. Der Sinn für bildende Kunst ist von dem herrlichen Vater her in der Familie. Laß Dir gelegentlich einmal die Köpfe von Tischbein3 zeigen, dem Freund Göthes, an denen ich mich, wenn ich mich recht erinnere, mit Trendelenburg einmal erfreut habe.

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Und nun lasse ich alle Gedanken untergehen in dem Einen, daß ich Dich liebe ohne Maß. Was in traumhafter Herrlichkeit mir erschien, ist nun süßeste Gewöhnung geworden; wann ich erwache, muß ich staunen von Dir getrennt zu sein, u. diese 14 Tage sind mir wie eine Ausnahmezustand. Sonderbarer Weise sehe ich gar nicht was für eine lange Zeit von Trennungen hinter der Weihnachtszeit liegt: mir ist als käme ich Weihnachten zu Dir um Dich nie wieder zu verlassen, als könne es nicht anders sein, als müsse dann dies Wandern in der Fremde ein Ende nehmen u. Du nähmest mich in Deine Arme, die meine Heimath sind, keinen Tag des Lebens mich wieder aus ihnen zu lassen. Es ist ein neuer Klang in den Accorden meines Herzens u. meiner Liebe, wie jedesmal wenn ich von Dir zurückkehre; wirft die Weihnachtszeit schon ihr fröhliches Licht vorauf oder ist es das Gedächtniß sonniger Stunden (sonderbar genug vor Allem einiger Momente während des Gesprächs am letzten Morgen über die Zeit unserer Verbindung mit Mama, wo Du so unbeschreiblich liebenswürdig warst u. ich es selbst indem Du meine Wünsche vorsagtest tiefst empfand): mir ist eben als käme ich Dich nie wieder zu verlassen; mein Herz vermag nicht wieder neuer Trennungen zu gedenken: ich fühle uns wie Eine Familie, die nun wiedervereinigt wird in wenigen Tagen. Meine goldene Käthe, ich küsse, ich umhalse Dich tausendmal, Waldmensch Deiniges, Eigenthum Deiniges, Dein Wilhelm. Tausend Grüße an Mama u. Walther. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 g. 1 2 3

Nicht überliefert. Valeska Erbreich (1851–1918): spätere Ehefrau L. Brentanos. Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751–1829): Maler.

[425] Dilthey an Katharina Püttmann [Breslau, 8.11. 1873] Schon nach 6 Uhr früh habe ich bei der Lampe gesessen neue Bücher durchzuarbeiten, die über die Gegenstände der heutigen Vorlesung Untersuchungen enthielten. Dann Vorlesung, dann Student nach Student, alte und neue Zuhörer, einer mit einer grüßenden Karte von Treitschke, bis ich dann mich zu meinem ersten Besuch entschließen mußte. Die Gräfin Schwerin ist hier,

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Schleiermachers Tochter, Frau des verstorbenen Ministers und hatte mir geschrieben, daß sie da sei. Ich fand sie krank und beinahe lebensmüde; sie erzählte mir, was sie in den 2 letzten Jahren gelitten, Tod und Krankheit in einer nicht abreißenden Kette. Natürlich kam mir lebhaft und dringend in den Sinn die Vorarbeiten zum zweiten Bande zu überschlagen und mich zu fragen, wieviel Zeit ich noch zu ihm bedürfen würde; denn ihr Gedächtnis und ihre Erzählungen werden mir vielfach unentbehrlich sein, ebenso die bei ihr befindlichen Bilder der Familienmitglieder, ja es ist die Frage, ob nach ihrem Tode alle Briefe mir so offen bleiben würden, wie sie es heute sind. Original: nicht überliefert; das Brief-Fragment ist als Typoskipt hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 i; handschriftlich darunter gesetzt ist von D.s Tochter Clara: „Aus einem Brief W. Diltheys aus Breslau vom 8.11. 73. Kopiert 23. 8.62 Clara Misch“.

[426] Dilthey an Katharina Püttmann [16. 11. 1873]1 In dieser fünften Stunde, mein geliebtes Käthchen, in 3 Tagen schließe ich Dich wieder in meine Arme u. die Sehnsucht dieser armen Zwischenzeit ist wieder gestillt. Meine Braut vor Gott u. den Menschen! Mit welcher Ehrfurcht habe ich gestern Abends noch die Anzeige in der guten alten Tante Voß2 gelesen, dann nahm ich vor [dem] Schlafengehen noch die Veilchen heraus die Du mir aus der Schale gesandt in der die heiligen Ringe lagen u. lange, lange saß ich, sie u. Dein Bild vor mir, und Bilder unseres künftigen Glükkes gingen vor mir vorüber, bis die schlafselige Müdigkeit, die den ganzen Nachmittag auf mir gelegen, mich übermannte. Ist nichts durch Deine Träume gewandelt von den frommen u. reinen Wünschen u. d[er] Sehnsucht, in der ich bei Dir war? So recht klar u. tief sah ich wie durch Dich u. Deine Liebe Alles was ich erworben erst seinen Werth empfing. Selbst die Freunde liebe ich nun ganz anders, seit an den Mittelpunkt unseres Familienlebens die Beziehung zu ihnen sich anschließt. Und die Herbheit, mit der ich sonst oft durchgriff und bis aufs Blut verletzte, in sachlicher Absicht, aber mit mehr Härte als die Absicht forderte ist mir nun geschwunden, u. Deine unbefangene Güte gegen die ganze Welt wird mir ja auch die Unversöhnlichsten ver-

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söhnen. Doch ich komme in Gefahr Dir wieder u. wieder zu sagen was ich vorgestern Dir schon aus übervollem Herzen schrieb. Welch ein Zauber! Kein Vierteljahr ist vergangen seitdem ich noch keine Ahnung davon hatte daß Du existirest (noch dazu mir so nahe!), und heute würde mir der Tod eher möglich sein als ein Leben ohne Dich. Wie sehe ich den Weg nach Grün3 vor mir, wo die erste Empfindung hiervon in meiner Seele aufblitzte: wir gingen über eine Wiesenfläche in frischem Windzug. Es war wie am frühen Morgen ein erster Lichtstreif aufblitzt wenn die Sonne erscheinen will. Unsere Verlobungsanzeige stand durch eine Laune des Geschicks auf einem Blatt mit der einer jungen Dame, für die ich mich einmal ein paar Tage am Vierwaldstädter See interessirt hatte, ein wenig, nicht gerade mehr, vor einem Jahr. Es war eine wunderliche Gesellschaft, ein Fräulein Ginsberg, mit 2 Geschwistern, ein jüngerer Bruder geistig krank, ein älterer auch nicht begabt u. etwas überspannt: die drei in Besitz eines ungeheuren Vermögens da die Eltern todt waren u. mit Gouvernante u. Hauslehrer: das ganz liebenswürdige junge Mädchen hatte nun für die beiden Geschwister die Verantwortlichkeit. Wir machten eine sehr heitere Bergparthie auf die Frohnalp,4 ich versprach sie in Berlin zu besuchen u. ich wurde dann hier wieder einmal später sehr wegen der Lebhaftigkeit geneckt, mit der sie sich nach mir erkundigt hatte. Wie danke ich dem guten Genius in mir, der bei so mancher Begegnung, bei dem so lebhaften Gefühl daß jeder tüchtige Mann allein in der Hingabe an eine Frau, für die er wäre, was er wäre, zur Vollendung gelange, doch den Gedanken an eine ächte, große Liebe in mir lebendig erhielt, bis Du kamst. Ich wußte ja nicht was Liebe war. Ich zweifelte wohl manchmal ob ich ihrer überhaupt fähig sei, erfüllt von meinen Arbeiten wie ich war. Mit einer Art von innerem Staunen habe ich dann von der ersten leisen Empfindung ab eine Welt von Gefühlen durchlebt, in immer neuen Wandlungen, die mich in jedem Zug als ein neues Wunder ergriff. Ach Käthchen, ich lege meinen Kopf an den Deinen, und eine Dankbarkeit ohne Gränzen ist in mir, daß ich durch Dich die höchste Seligkeit dieses menschlichen Lebens erfahren habe. Und schlummerte ich nun ein, schliefe wie die mythischen Schläfer ein Jahrtausend u. vor meiner Seele stünde der wesentliche Gehalt meines Lebens: nichts wäre es als diese Wochen mit ihren Hoffnungen, ihrem Bangen, ihrer unaussprechlichen Seligkeit, ihrer tiefen Nachdenklichkeit u. ihrem Übermuth. – ich bin mehrmals unterbrochen worden; es ist Zeit den Brief fortzutragen. Da ich gestern Abend sah daß Ihr meine Anzeige nicht gleich mit der Eurigen erscheinen ließet: habe ich sie sofort bei Mosse5 abgegeben damit sie auch in der Vossischen erscheine; untereinander wäre freilich schicklicher gewesen. Morgen oder übermorgen kommt sie dann. Diverse Briefe geschrie-

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ben. Tausend Grüße an Mama u. Walther. Dich aber umarmt u. küßt unzählige Male in Liebe u. Treue und Hingebung ohne Ende Dein Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 f. 1

Im Original: oben rechts von fremder Hand die Datierung: „30. (29.) Sept. 1873“. In der Vossischen Zeitung erschien die Anzeige der Verlobung D.s mit Katharina Püttmann, aufgegeben von D.s Schwiegermutter in spe: „Die Verlobung meiner Tochter Katharina mit Herrn Dr. Wilhelm Dilthey, Ord[entlicher] Professor der Philosophie an der Universität Breslau, beehre ich mich hiermit ergebenst anzuzeigen. Berlin, d[en] 19. November 1873. Clara Püttmann.“ 3 Ort bei Lengenfeld im Voigtland. 4 Fronalp: Berg im Kanton Schwyz am Vierwaldstätter See. 5 Rudolf Mosse (1843–1920): Zeitungsverleger und Inhaber eines Annoncenbüros; 1872 Begründer des Berliner Tageblatt, der Berliner Morgen-Zeitung (1889) und der Berliner Volks-Zeitung (1904). 2

[427] Dilthey an Katharina Püttmann [vor dem 19. November 1873] Mein liebes, liebes Käthchen, also wann Du diese Zeilen liesest, bin ich auf dem Weg zu Dir. Gestern als um halbelf die Studenten fortgingen, erwog ich noch einmal, ob ich nicht alle Nöthigungen heute noch hier zu bleiben durchschneiden könne. Aber ich mußte mir sagen daß ich viel eher förmlichen Urlaub hätte nehmen können als dies thun. Ich hätte aus der ersten Sitzung der Stundungscommission fortbleiben müssen, in der ich schlechterdings nicht fehlen darf. Ich hätte die Gräfin Schwerin, die mich auf heute zu sich bitten ließ, verletzen müssen, während sie eben um meinetwillen sich das Opfer auferlegt, bei der Ordnung ihrer Papiere was ich besitze zu entbehren. Durch sie, die Mitglieder der Commission wäre meine Reise sofort bekannt geworden, u. da man ihren Zweck nicht kannte, so kurz nach meiner verspäteten Zurückkunft bekrithelt worden. Und so hätte ich mir, was mir ein Hauptpunkt, endlich auch viel schwieriger gemacht, nach Veröffentlichung unserer Verlobung wieder nach Berlin zu kommen, um die nothwendigsten Besuche mit Dir zu machen, was mir doch als das Schicklichste erscheinen will: meinst Du nicht auch? Bis dahin wird ja M.1 jedenfalls nicht mehr bei

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Dilthey an Katharina Püttmann

Euch sein. Auch Eb[stein] mit dem ich ausführlich gesprochen ist ungefähr aus den von mir Deiner Mama entwickelten Gründen für e[ine] A[nstalt]. Er empfiehlt zur Prüfung: Schweitzerhof bei Potsdam, Sanitätsrath Lehr, nur für Damen, Privatanstalt;2 sollte in dieser gar kein Raum mehr sein, andere Privatanstalt in Pankow. In die schlesische setze ich heute eine Annonce u. sende eine gleichlautende an die Kölnische. – Die Auskunft von Banquier Franck für Mama lege ich außerdem bei, auch einen gestern erhaltenen Brief 3 von Frau Cohnheim, der Dir eine andere künftige Freundin vorstellt. – Und nun eile ich zu telegraphiren u. dann zu der Gräfin Schwerin zu gehen. Abends 5 Uhr. Ich sitze in der Stundungscommission u. schreibe Dir nur rasch noch daß ich also Morgen Nachmittag gegen 5 Uhr in Berlin sein werde. Es ist hier so nüchtern, daß ich gar nicht wage Dir zu schreiben wie mir dabei zu Muthe ist, mit welcher gränzenlosen Sehnsucht ich die Stunden zähle, bis ich mein Glück wieder in Armen halte. Eins bitte ich4 Dich um Deiner Gesundheit willen: Hole mich nicht auf dem Bahnhof ab da ich fürchte, Du hast Dir neulich dabei aufs Neue erkältet. Käthe, meine Käthe, ich umarme Dich tausendmal in Gedanken u. bringe kaum den Verstand zusammen etwas anderes zu denken als Dich. Tausend Grüße an Mama u. Walther. Auf Wiedersehn endlich. Dein, ganz Dein Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 g. 1

Vermutlich ist Clara Püttmann, D.s spätere Schwiegermutter, gemeint. Die Nervenheilanstalt „Schweizerhof“ in Berlin-Schönow wurde geleitet von dem Arzt und Psychiater Heinrich Laehr (1820–1905), der sie 1853 gegründet hatte. 3 Nicht überliefert. 4 Das Wort „ich“ ist nachfolgend wiederholt. 2

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Dilthey an Wilhelm Scherer

[428] Dilthey an Wilhelm Scherer Meine Verlobung mit Fräulein Katharina Püttmann Tochter der Frau Rechtsanwalt Püttmann in Berlin beehre ich mich hiermit ergebenst anzuzeigen. Berlin, den 19ten November 1873. Prof. Wilhelm Dilthey.1

Mein lieber Freund, es ist geschehn was ich nie geglaubt daß die selbstloseste allmächtige Liebe, die gern stürbe für die Geliebte, über mich gekommen ist, mit einer Fülle von Seligkeit die ich nur aus Dichtern kannte u. beinahe für eine poetische Figur hielt. Nun ist das Alles für mich Wahrheit geworden in diesen Monaten u. ich habe erlebt was den Kern des Lebens ausmacht. Mit doppelter Liebe, wie Glück das Herz öffnet, denke ich der Freunde, Ihrer als einer der nächsten. Ihr W. Dilthey Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 25; ein handschriftliches Transkript des Briefes von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 25. 1 Gedruckte Anzeige. – Weitere überlieferte Verlobungsanzeigen erhielten C. Justi (ULB Bonn, Korrespondenz-NL C. Justi, S. 1703, 1) sowie G.E. Reimer mit dem begleitenden Text: „Hier, hochverehrter Herr Reimer die Worte, die ich in meinem Leben mit den am meisten seligen Empfindungen niedergeschrieben u. zur Vervielfältigung gesandt habe. Mit vielen ergebenen Grüßen der Ihrige. WDy“ (Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42, VA de Gruyter, R 1: Dilthey, 64).

[429] Dilthey an Katharina Püttmann [nach dem 19.11. 1873]1 Meine liebe, liebe, liebe Käthe, meine Braut! Mit welcher Seligkeit spreche ich seit heute früh dies Wort aus, wenn von Dir die Rede ist, welch ein Zauber von neuer sich aufbauender Heimath, von Familientraulichkeit u. Liebesglück klingt in diesem Wort, sodaß ich immer u. immer wieder Käthe u. Braut mir vorsage. Denke Dir wie höchst komisch das heute ging. Ich ging ahnungslos in mein Colleg, unter der Rocktasche die

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Dilthey an Katharina Püttmann

Anzeige von Mama, in Gedanken keine Spur von Vorstellung eines Weiteren, da bei mir noch keine Karten erschienen waren. So sitze ich denn nach der Vorlesung auf dem Sopha des Sprechzimmers u. rede mit meinem Collegen, der mir von einer Geschichte der Aufklärung im Mittelalter die er schreibt recht gelehrten Vortrag hält. Kommt Hertz herein; blind wie er ist rennt er gegen alle Tische des Sprechzimmers bis er mich sieht, gerührt lächelt, 5 Minuten die Hand schüttelt – ich werde ängstlich daß ihm etwas zugestoßen sei – er aber zieht eine Photographie von Dir heraus, eine Anzeige, ist wieder gerührt – nun halte ich ihm den Mund zu da ich vermuthe er sei auf Schleichwegen dazu gelangt – neue Erklärung, allgemeines erfreut-gerührtes Händeschütteln mit dem ganzen Sprechzimmer. U. nun kommen nicht nur Collegen zum gratuliren: sie haben Dich auch schon gesehn, Hertz hat in den Vorlesungspausen immer die Photographie gezeigt: kennen Sie die Dame? sprachloses Erstaunen. Diltheys Braut. Gerührtes Erstaunen. U. die Anzeigen sind immer noch nicht da, weiß der Himmel wo sie stecken zwischen Berlin u. hier; um 1 Uhr habe ich an Mama telegraphirt; jetzt habe ich meine Hoffnung auf die 5te Stunde gesetzt, zumal gewiß auch von Dir ein Brief in ihrer Gesellschaft ist, ein Brief dem ich heute thörichter, gränzenlos thörichter als je mich entgegenfreue. Ich aber wäre heute, wo mir junge u. altgewohnte Ehemänner gerührt die Hände schütteln u. mich zu den ihrigen zählen jeder Tollheit fähig, am meisten der, Morgen früh mich auf die Eisenbahn zu setzen. Wäre nicht mein ungeheurer Respekt vor Mamas ernstem Gesicht: nichts wäre sicherer als daß ich es thäte. Denn nun bin ich unglaublich neugierig Dich als öffentlich erklärte Braut zu sehn, ob Du Dich verändert hast, ob Du Dir würdiger vorkommst, ob Du älter geworden bist, ob Du mich noch lieber gewonnen hast – es ist fabelhaft viel was ich an Dir zu sehen hätte. Meine Käthe! wie freut man sich doch über die herzliche gute Gesinnung, die bei solchem Anlaß hervortritt. Ich habe mir jederzeit, wie einmal meine Art ist zuzugreifen, gründliche u. tüchtige Feinde gemacht; aber auch ehrliche gute Freundschaft u. das Gefühl daß ich es ernst u. tüchtig meine überall erworben. Das Lustigste wird, wenn ich jetzt in die Prüfungscommission komme, Neumann, der gänzlich ahnungslos ist u. der nun plötzlich die Anzeige vor die Augen bekommt. Denke Dir, eine Enttäuschung. Harrach2 bringt nicht die Winter ganz hier zu, da er an den Hof in Berlin gefesselt ist; nur zu kürzeren Besuchen kommt er hierher; so wenigstens sagt mir Frau Scholz, die Dich tausendmal grüßen läßt. Unter den anderen Malern sind gute Techniker hier, aber kein bedeutender Künstler. Ein solcher kommt erst, wie der Bau des Museums voranschreitet. Es hat mich gestern Abend ganz verstimmt gemacht für Dich. Inzwischen kann sich ja diese augenblickliche Lage jeden Tag ändern.

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Ungeheuer pflegt das Staunen zu sein, wenn ich von 1 Jahr Verlobung spreche. Man glaubt es mir einfach nicht, Gierke, der letztverheirathete, der mir eben nachlief um zu gratuliren schilderte mir auch ganz herzbrechend, wie fabelhaft lange u. schmerzhaft die Zeit vom Herbst (er hatte auch seine Braut in den Ferien kennen gelernt) bis Ostern ihm geworden sei. Wie geht es Walther, wie geht es Mama? Meine einzige Käthe, ich sitze hier u. bin heute so ganz abwesend, sehe Dich Besuche empfangen, erzählen, plaudern, immer u. immer blicke ich in Gedanken in Deine Augen, aus denen Deine Seele zu mir redet; daß ich nur Eine Viertelstunde, während ein Besuch gegangen u. ehe ein neuer erscheint, zu Deinen Füßen sitzen könnte u. in diese Augen voll u. tief blicken, während Du Dich über mich beugest u. Deine Arme mich umschlingen. Dort allein, in den drei Stuben, ist ja meine Heimath u. die ganze Summe meines Glücks u. sie stehn vor meiner Seele licht u. warm u. traulich, Mama u. Walther gehn dazwischen auf u. nieder, sie sind wie ein Haus im Walde, rings von Winterschnee umgeben. Wie fremd waren sie mir als ich sie vor Wochen zuerst betrat: nun ist jeder Winkel mir traulich u. ich fühle mich ganz als Mamas ältester Sohn, der da zu Hause ist. Habe ich doch durch Dich auch Mama u. Walther gefunden, Mutter u. Bruder zu den Meinen, u. wir wollen Eine treue in Liebe verbundene Familie sein, in Bibrich, in Berlin, wie es wenige treu-glückliche geben soll. Ein tiefes Gefühl inniger Familienzugehörigkeit ist an jenem Abend, da Mama so liebevoll mich in dem letzten Zimmer empfing u. wir die beiden Ringe aus der Schaale nahmen in meine Seele gekommen; noch schwebt über mir eine tiefe Empfindung von der ernsten seligen Heiligkeit jener Mitternachtsstunde. Ich sende Dir ein paar Briefe wieder, 3 sehr schöne von Trendelenburg u. Treitschke u. Frau J[ulian] Schmidt fallen mir in die Hände, ich lege dazu 1 Zettel von Cohnheim 1 Brief von dem verstorbenen großdenkenden Philosophen Überweg, der mein Freund war, 1 Brief von Scherer3 – U. nun eile ich in die Prüfungscommission; wenn ich zurückkomme, finde ich hoffentlich die Anzeigen, die ich dann noch in der Nacht couvertiren werde. Ich schließe Dich in meine Arme, Du Inbegriff alles menschlichen Glücks, ohne die mein Leben verlöschen würde, meine Käthe, meine Braut Dein Wilhelm. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 f. 1 2 3

Im Original: nachträgliche Datierung von fremder Hand: „20. 10. 1873“. Ferdinand Graf von Harrach (1832–1915): Landschafts-, Historien- und Portraitmaler. Diese Briefe sind nicht beigelegt.

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Dilthey an Katharina Püttmann

[430] Dilthey an Katharina Püttmann [nach dem 20. November 1873] Meine geliebte Käthe, in dem Wirrwarr von Besorgungen Besuchen, ankommenden Karten habe ich mich heute immer wieder zu Deinem Brief 1 geflüchtet, wie die Liebe ja immer weltflüchtig ist u. wenn sie nicht anschauen darf wenigstens in Gedanken vorzustellen strebt u. von der Welt nur gestört wird. Geht es doch eigen: dem Gefühl das ich in mir trage entsprechen nur wenige von den glückwünschenden Worten, die ich vernehme, so herzlich u. treu sie gemeint sind. Es lautet als sollte unser Elsterer Rechtsanwalt über eine Sinfonie von Beethoven reden. Dann fühlt man wohl wie selten ächte Liebe in der Welt ist, wie Wenige aus wirklichem Erlebniß darüber reden. Frauen viel, viel öfter, Männer doch in gar viel selteneren Fällen. Da ist eben Sommerbrodt2 den ich von Kiel her kenne, u. der jetzt von dort hierher versetzt ist, Falcks Schwager, dagewesen, u. hat für seine Frau 3 Photographien zum Ansehen fortgeschleppt. Ich war so erschrocken über das Attentat daß ich zuerst gar nicht antworten konnte; da meinte er denn, er sehe wohl ich nähme sie ihm am liebsten gleich wieder ab, u. traute ihm wol auch die halbe Stunde nicht, die er sie behalten wollte. Ich konnt’s nicht läugnen; er nahm aber auf meine Reue nicht die geringste Rücksicht u. nun ist mir zu Muthe als fehlte mir etwas gänzlich Unentbehrliches. Er schien mir übrigens verhältnißmäßig fein für das Verständniß wirklicher Liebe organisirt: sonst hätte ich sie ihm doch auch nicht in den Fingern gelassen; jedenfalls habe ich sie eingepackt, damit er sie nicht so anfaßt. Frl. Raabes Brief 3 hat mich unsäglich amüsirt; das über Deine näheren und entfernteren Aussichten, über meine Einverleibung in die Familie, nun einen ansehnlichen Gelehrten darin zu haben, ist unbezahlbar. Aber wen mag sie denn nun in ihr weites Herz definitiv einlogirt haben u. an ihren Busen drücken? Denn daß ich die Verlobungsanzeigen in der Schlesischen zu meiner Erholung lesen würde: ist eine von ihren abentheuerlichsten Vermuthungen; eher hätte ich mich noch in sie verliebt. Aber Weihnachten! Ach Käthe wie imponirt mir ihr resolutes Wesen; sie ist doch ein Charakter, wenn auch Officiersdame. Die Jungens waren gestern Abend sehr nett; sie fahren fort, wie ich, sich mehr für meinen goldenen Ring, als für meine Philosophie zu interessiren. Nach den Photographien schielten sie so, als sie um meinen Tisch saßen, daß ich anfing für die Augen des einen u. andren besorgt zu werden.

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Heut Mittag bin ich nun in der ersten Gesellschaft seit meiner Verlobungspublikation, da ich vorgestern u. gestern absagte. Bei Eberty4, einem sehr reichen alten Collegen, der mich für seine jüngste Tochter, die den bekannten Verstand u. Lebhaftigkeit ihrer Raçe hat u. die Dich noch viel amüsiren wird, sehr gern zum Schwiegersohn gehabt hätte: pikant genug wird es also werden. Aber liebe Käthe, interessirt wollen wir doch beide bleiben, nicht wahr? Ich schon dadurch daß ich für Niemanden als meine Frau mehr ein Auge habe u. dabei doch ausgesucht artig sein werde: das macht bei rechten Frauen einen Mann immer sehr interessant. Und dann werde ich hier für Dich u. nebenbei auch für das andere indifferente Publikum öffentliche Vorlesungen [Briefschluss fehlt]. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 h. 1

Nicht überliefert. Julius Sommerbrodt (1813–1903): klass. Philologe; 1868 Provinzschulrat in Kiel, ab 1873 in Breslau. 3 Nicht überliefert. 4 Felix Eberty (1812–1884): Jurist und Schriftsteller, zunächst Richter; 1854 a. o. Prof. in Breslau. 2

[431] Herman Grimm an Dilthey 28. Nov[ember] [18]73 Berlin, Thiergartenhôtel Lieber Dilthey, wir sind nun in Besitz Ihrer Briefe1 und es leidet keinen Zweifel, daß Sie ein glücklicher Bräutigam sind. Unsere herzlichsten Glückwünsche; hoffentlich erfreuen Sie uns nun recht bald mit einer Heiratsanzeige und geben uns Gelegenheit, Sie und Ihre liebe Frau zum Essen einzuladen. Man tritt allmählig in das Alter, wo Glück, Freundschaft und Gemütlichkeit Begriffe werden, die sich nicht gut mehr trennen lassen. Wenn man ins Leben eintritt, meint man, einziger Genuß sei, im Carrière hindurch zu reiten; allmählig erscheint es angemessener, lieber sich still zu verhalten während die Welt im Carrière vorüberzieht. Wir stehen wohl beide auf der Stelle, wo die beiden Extreme gerade ihren Scheidepunkt finden. Möge Ihnen und Ihrer Frau für das zu erwartende Leben nun immer eine Loge des ersten Ranges vom Schicksale zur Verfügung gestellt werden.

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Herman Grimm an Dilthey

Brunner2 hat sich ja auch verlobt. Will denn Erdmannsdörffer uns nicht auch in mäßiges Erstaunen setzen durch die Nachricht, daß er unendlich glücklich sei? Meine Frau trägt mir die schönsten Grüße und Glückwünsche noch einmal auf. Ihr Herman Grimm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45. 1

Nicht überliefert. Heinrich Brunner (1840–1915): österr. Rechtshistoriker; 1866 a. o., 1868 o. Prof. in Lemberg, 1870 in Prag, 1872 in Straßburg, 1873 in Berlin. – Brunner heiratete allerdings erst im Juni 1876. 2

[432] Dilthey an Katharina Püttmann [Ende November 1873] Meine Käthe, mein Stern, Heute hat doch der Tag ruhige Stunden für mich; nach dem gestrigen hastigen Brief kann ich heute früh ehe Besuche erscheinen ruhig Dein Bild anschauen als blickte ich in Deine Augen u. Dir schreiben wie ich Dich liebe. So tumultarisch ging es die letzten Tage zu daß ich des Abends zu müde war zu schreiben u. mich begnügen mußte in Gedanken an Dich einzuschlafen. Warum ich nur gar nicht von Dir träume? Ich glaube weil ich den lieben langen Tag von Dir träume: so haben die Vorstellungen Deiner nur in der Nacht ein paar Stunden Ruhe vor meiner Sehnsucht. Wenn ich dann früh erwache – früher als ich sonst pflegte – das beginnende Tageslicht zu mir hereinkommt: sehe ich Dich vor mir mit einem unaussprechlichen Gefühl von Dankbarkeit u. Freude; ich küsse den Ring an meinem Finger, das goldene Zeichen unserer Liebe u. jener völligsten Gemeinschaft die das schönste u. tiefste Geheimnis den Menschenlebens ist. Und ich denke dann (gerade vorgestern u. gestern, stand es so anschaulich vor mir), wie ich die tiefsten Schmerzen u. die völligste Hoffnungslosigkeit habe erfahren müssen, die ein Mensch erfahren kann, wie ich langsam genesen, wie ich doch in Gefahr war, härter, verschlossener zu werden, als recht ist, und in der Welt nur einen Schauplatz männlicher Pflichten u. Thatkraft zu sehen. Wie Du mir dann er-

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schienen, mein Stern u. wie nun die fröhlichste unbefangenste Lebensfreudigkeit mir wieder ganz zurückgekehrt ist, nur tiefer u. gedankenvoller. Ich habe Dich in Armen. Jubelnd sage ich mir und in Rührung: jenes höchste Glück, das gleich einem Märchenbilde über die Häupter der Menschen zieht, nur hier u. da einen Scheitel berührend, es hat auch mein Haupt berührt u. Deines. Alles begegnet sich in uns: Güte die wirklich (nicht in äußeren Schein) ganz für den Anderen leben kann, unbändige Fröhlichkeit, sinnendes Anschauen u. Nachdenken. Und so empfinden wir beide nun erst den ganzen Reichthum unserer Naturen, da Alles in uns anklingt was von Einem zum Anderen kommt. Wenn ich Deine Bilder zeige, fällt immer auf daß jedes eine andere Person darzustellen scheint: so reich ist Dein Wesen. Dies ist was uns beiden so wenig Hoffnung ließ ohne Einbuße unseres Wesens in einem Anderen aufzugehen. Nun haben sich die wie gewaltsam getrennten Naturen gefunden u. was für ein reiches Leben wird es sein, das wir ineinander führen werden. Diese Tage fügen immer neue Züge dem Bild unseres künftigen Lebens hinzu. Als ich gestern, wo natürlich Champagner auf Deine Gesundheit floß, Gierke der seit 3/4 Jahren verheirathet, immer verklärt zu seiner Frau am andren Ende der Tafel hinüberblicken sah, kam so recht das Gefühl über mich, wie selbst die Freude an der Geselligkeit erst durch die Liebe voll u. ganz wird. Ich sehe jetzt mit innerer Bewegung glücklich verheirathete Freunde, verstehe ihre Mienen, stelle mir nun wirklich ihr gemeinsames Leben vor, während ich an dem Allem sonst kühl vorüberging. Im wörtlichsten Verstande darf ich es sagen: ich verstehe die Welt erst durch Dich u. meine gränzenlose Liebe zu Dir. Ruhiges schönes Familiengefühl, das einzige wahrhaft Adelige was ich anerkenne, umspannt nun auch Eure Zimmer zu denen in Bibrich u. Bonn. Eine ganz besondere Sehnsucht habe ich, Lily möchte ein paar Tage bei mir sein zumal wenn ich in Berlin bin, da Karl jetzt doch nicht zu erreichen ist. Auch Frau Julian Schmidt habe ich geschrieben,1 sie möge sich bei Empfang dieser Anzeige am besten gleich in eine Droschke setzen und zu Dir hinfahren. Habe ich nicht recht gethan? Draußen regnet und tobt es u. so möchte ein vernünftiger Mensch sich am liebsten den ganzen Tag am Engelufer2 einschließen lassen u. von Mama gefüttert werden. Ich fahre fort zu träumen, daß mit dem hervorbrechenden Frühling am schönsten auch unser neues Leben beginne. – Wer doch die Zeit bis zum nächsten Sonnabend verschlafen dürfte, wie Du den ersten Tag nach meiner Abreise. Wie gern denke ich Dich so, im Sessel zurückgebogen, das zurückgebogene Haupt mit den geschlossenen Augen, die Arme herabgesunken, langsam athmend, wie die im Schlaf Verzauberte, die durch nordische und deutsche Mythen geht u. im Märchen Dornröschen heißt. Denkst Du des Tages, da wir märchenhaft durch den Wald gingen? Und wenn ein Jahr um, wie schöner u. seliger wer-

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den wir dann, so Gott will, Hand in Hand wandern, Du mein Märchen und mein Ideal. Wie viel tiefer noch wirst Du dann meine Liebe empfinden, wie viel tiefer ich die Deine: da jeder einzelne Tag für zwei Menschen, die Einer nur für den anderen sorgen, eine Welt von jenen kleinen Zeichen der Liebe enthält, die das gemeinsame Leben so theuer machen. Du weißt es, daß ich freudigen Herzens für Dich sterben könnte, daß ich nicht athmen kann ohne Dich. Aber was Du nicht weißt ist wie ich vermag mit Liebe und Zärtlichkeit Dich Tag für Tag zu umgeben u. in Dir mich ganz zu vergessen. Sieh, meine goldene Käthe, da habe ich wieder nur mich ausgeschrieben, meinem Herzen Worte gegeben, u. ist doch immer nur die alte ewige Liebe darin, die Du kennst. Ich aber könnte nicht anders als dasselbe Dir tagtäglich sagen, wie ich von Dir nichts Andres zu vernehmen begehre. Für das Gemüth giebt es nichts Eintöniges; stätige Treue, in gewaltigster Leidenschaft Ruhe heiteren Besitzes, dasselbe Glück ein langes Leben, dasselbe theure Angesicht viele Jahre dem Seligen über die Schulter blickend; das ist was es allein begehrt. Treue: was für ein süßer Klang ist in diesem Wort, Treue des Herzens bis zum Tode. Es ist ja kein Verdienst so zu lieben, sondern nur ein Glück; aber mich dünkt doch, für das adelige Wesen einer Seele das schönste Zeichen; daß sie so fest u. einfach u. tief, abgewandt dem oberflächlichen Spiel des Lebens, in dem flache Naturen sich verlieren, nur Einem hingegeben ist, in Leben u. Tod, das ist die vornehme Größe die in der ächten großen Liebe ist, durch die sie der Genialität im Denken, dem großen Charakter im Leben verwandt ist. Nichts ist mir jetzt heiliger geworden als diese Treue, die über dem Schicksal u. dem Tod steht. Und schelte mich nicht: es ist nicht krankhaft: es ist ein solches Bedürfnis in mir, Dir ein großes Opfer zu bringen, damit Du meine selbstlose Liebe darin anschauest. Gälte es doch, Dich zu vertheidigen durch das Wagniß meines Lebens. Aber Eines darf ich: jede Spur von eigenem Interesse Dir opfern, u. ich habe es mir gelobt als ich in jener wunderbaren Nacht den Ring, der Deinen Namen trägt, an meinem Finger empfing. Ich bin nun nicht mehr mein, sondern Dein. Und weißt Du, meine goldne Käthe, ein paar Pflichten übernehme ich, die mir gar nicht leicht sind, nicht so leicht als Dich immer u. immer unbändig lieb zu haben. Besonders muß ich viel fleißiger werden, viel intensiver bei der Arbeit; denn ich will doch für Dich leben und zugleich viel mehr leisten als bisher. Der Sonnenschein Deiner Augen thut ja dabei unsäglich viel; aber alles Zeitverschleudern werde ich mir methodisch abgewöhnen müssen; das Fertigmachen, Ganz fertig machen ohne viel Umsehen muß nun meiner zu immer neuem Umarbeiten geneigten Natur abgenöthigt werden. Ich war ja in der Stille recht weit gekommen mit meinen einzelnen Arbeiten, und durfte die Hoffnung haben, nun endlich Resultat auf Resultat zu veröffentlichen.

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Aber wenn Du im andren Zimmer sitzest u. ich weiß für wen ich nun schreibe u. drucken lasse – denn für sich selber reicht jederzeit aus zu denken, etwa aufzuzeichnen, ohne Abschluß – : wie anders wird Alles kräftig angefaßt werden. Ja, meine Muse, die begonnenen Arbeiten, wie sie sich in mir regen, haben nun alle viel fröhlichere Gestalt u. über alle wird die Heiterkeit meiner Seele ausgegossen sein, die Dein Geschenk ist; in allen wird unter Deinen Augen, im Gespräch mit Dir das Ächt-Menschliche, das Ergreifende sicherer u. kühner heraustreten. Man hat mir oft gesagt, daß ich zu einem ächten auf die Nation wirkenden Schriftsteller geboren sei: nun weiß ich daß mein Glück meine Rede beflügeln wird u. ich ganz zu werden vermag, wozu ich bestimmt bin. Die theuren Laute Deines Vornamens, den ich so liebe, werden in unsichtbaren Zügen vor jeder meiner Arbeiten stehn; unsichtbar nicht überall: denn der zweite Band des Schleiermacher soll Dir vor der Welt gewidmet sein u. das erste Denkmal unserer Liebe, dauerhaft genug, da dies Werk mit Schleiermachers Namen immer verknüpft bleiben wird u. sein zweiter Band, eintretend in alle unsere Kultur erschütternden Fragen, mit vollem, keiner Consequenz ausweichendem Freimuth, durch die Wucht der Sache selbst auf die Nation wirken muß. Ich möchte nur immer weiter so an Dich schreiben, tagelang, so rasch die Feder zu fliegen vermag; aber kann ich Dir auch zumuthen, das Alles zu lesen, da Du doch Alles, fast Alles wenigstens weißt? Sieh, hundertmal täglich sage ich ähnliches Deinem Bilde, dem letzten natürlich, das mir wie Du selber ist; einmal also mußt Du schon es selber hören: sonst werde ich in meinem Bilderdienst ganz heidnisch. Lebe wohl für heute, meine geliebte Braut, meine Käthe; grüße Mama u. Walther tausendmal (auch von Köln[ischer] Z[eitung] jetzt eine annehmbare Anfrage; ich bringe Alles mit), u. zähle nur halb so sehnsüchtig als ich die Stunden, bis ich wieder aus dem Wagen herausspringe – um 5 Uhr – nicht Morgens! – mit Dir auf allen Sesseln sitze u. Dich überall gleich thöricht lieb habe. Dein Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 g; als Anlage ist hier auch ein Typoskript von einem Passus des Briefes hinterlegt mit dem handschriftlichen Vermerk C. Mischs: „Aus einem Brief Wilhelm Diltheys an seine Braut, ca. Frühjahr 1874. Kopiert 24.9. 62. Clara Misch“. Darunter die handschriftliche Notiz C. Mischs: „Über Schleiermacher, 2. Band“. 1 2

Nicht überliefert. K. Püttmann wohnte zusammen mit ihrer Mutter in Berlin, Engelufer 17a II.

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Dilthey an Katharina Püttmann

[433] Dilthey an Katharina Püttmann [November 1873] Donnerstag Abends Mein liebes, liebes, liebes Käthchen, es ist wieder sehr spät, gegen Mitternacht, geworden, bevor ich mit der Vorbereitung zur Vorlesung fertig geworden, u. nun greife ich – es ist schon eine so liebe Gewohnheit – zu einem Briefbogen, in der Beschäftigung mit Dir, im sinnenden sehnsüchtigen Denken an Dich zu ruhen, bevor ich – heute nicht auf allzu lange – zur Ruhe gehe. Eben als ich die Briefe forttragen wollte, kam mein lieber Freund Heidenhain, der gehört daß ich zurückgekehrt. Ich habe Dir von ihm erzählt, wie er seine edle Frau nur wenige Jahre besessen u. seitdem nur in Gedanken an sie lebt; ich glaube, er hat nie auch nur eine Stunde seidem sich für irgend eine Frau interessirt. Er kommt von Pontresina u. seinen Gletschern u. brachte eine ganze Tasche voll von Grüßen verschiedner Freunde u. Bekannte, die dort auch waren, von Lasker, Ursinger in Kiel, J. B. Meyer in Bonn u. seiner Frau u.s.w. (von den 2 letz[t]ren eine höchst komische Geschichte die leider erzählt sein will); vor Allem gab er genauen Bericht von seinen Verhandlungen mit Helmholz, dem großen Physiker u. Physiologen, der jetzt in Berlin ist, der an einem philosophischen Werk über die Prinzipien aller Naturwissenschaft arbeitete in Pontresina, und Vieles entwickelte, das sich mit manchem Gespräch nahe berührte, das ich mit Heid[enhain] in der letzten Zeit hatte. Vor Allem betrifft es die merkwürdige Frage, ob so wie in unseren Vorstellungen die Dinge existiren, scheinbar als Objekte außer uns, in Wirklichkeit doch eben nur unsere Vorstellungen, ganz so ihnen entsprechend Dinge außer und wirklich da seien, ganz unabhängig von unserem Vorstellen u. ganz mit ihm übereinstimmend. Helmholz sei sehr lebhaft geworden u. habe erklärt: nun glaube er die Beweise in Händen zu haben daß dem wirklich so sei u. völlig mit unseren Vorstellungen identische Objekte die Welt bildeten. Als wir davon sprachen, wie schade es gewesen, daß ich bei diesen Gesprächen nicht zugegen gewesen: brach in mir wieder der Jubel hervor, daß ich nicht gedacht zur selben Zeit, sondern mit Dir, Du meine tiefsinnige blonde schlanke Käthe, durch Berg u. Thal gewandert, in Deine Augen geschaut, ihre Farbe zu ergründen. Ja sie sind ganz gewiß so wie sie mir erscheinen, bald dunkler, bald in hellerem Leuchten; ich weiß das nicht als Philosoph, aber meine Käthe es ist doch kein Zweifel. Und indem ich dies schreibe ergreift mich eine nicht zu bändigende Sehnsucht, in sie zu blicken, auszuruhen von allem Denken in diesem Anblick, zu Deinen Füßen auf dem kleinen Schemel, oder auf

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u. niederwandelnd in den Zimmern. Schlafe wohl, ich küsse Deine Augen u. sage Dir, daß ohne Dich das Leben mir nun das werthloseste Ding sein würde, nein nicht werthlos, sondern nicht zu ertragen. Schließe mich fest in Deine Arme: denn ich habe keine Heimath mehr als in ihnen, u. entließest Du mich aus ihnen, so entließest Du mich in die Nacht. Mögen glückliche Träume Deine Stirn berühren u. Dein blondes Haupt, derweilen gedankenvoll im einsamen Zimmer ich wachend-träumend Deiner gedenke. Schlafe wohl. Freitag Nachmittag. Ich ging gerade in die Vorlesung heute früh, als mir der Briefträger Deinen Brief 1 gab auf der Treppe; natürlich sprang ich sofort in das Zimmer zurück, überlief ihn, um dann nach der Vorlesung wieder u. immer wieder ihn zu lesen. Es ist wahrhaftig heute Morgen darüber wenig aus der Arbeit geworden u. nun drohen die Dir bekannten Freitagsleiden. Ich bin also folgsam, wie ungern auch, u. komme Morgen nicht; mehr davon nächster Tage: denn eben war schon wieder ein Student da, und ich muß in die Prüfungscommission. Was mir aber nicht aus dem Sinn kommt seit ich Deinen Brief gelesen ist Deine Gesundheit. Sieh ich weiß so deutlich u. sicher: sind wir erst vereint, darf ich erst in heiterer Ruhe alle Tage über Dich wachen: dann wirst Du ganz gesund sein; werden wir doch wie Kinder fröhlich sein, werden wir doch in tiefer freudiger Ruhe leben u. Du wirst ganz den Anforderungen Deiner Gesundheit leben dürfen. Aber jetzt fühle ich ja an mir selber zu deutlich, wie Sehnsucht das Gemüth bewegt. Auch dies läßt mich die Tage zählen, bis ich bei Dir sein kann. – Der Kampf mit Olsh[ausen] ist ja jetzt, wo sein Abgang entschieden ist,2 gar nicht mehr pikant; als wir ihn begannen war er es, da damals O[lshausen] unbeschränkter Gebieter war. U. zu thun ist vorläufig wenig; eben habe ich es noch lange mit Neum[ann] durchgesprochen. Aber Deine Gesinnung darin soll stets die unsre sein, mein tapferes Käthchen. Laß uns die ganze Welt nicht scheuen; das höchste in ihr bleibt ein starker Wille, der das Gute will u. nichts, auch den Tod nicht fürchtet. Das soll uns nicht hindern freudig mit den Unsren u. den Freunden des schönen Lebens zu genießen und seiner hohen Güter. – Aber ich darf Dir wie mir noch einmal sagen, bevor ich zu den Geschäften eile, daß ich Dich unbegränzt liebe, daß ich keinen Wunsch mehr kenne als neben Dir zu sitzen, zu gehen, Alles mit Dir zu theilen. Sei tausend, tausendmal gegrüßt, bis ich Morgen endlich an Dich ordentlich schreiben kann. Ich stelle Dir übrigens vor: 1. Ribbeck, Prof. der Philologie in Heidelberg u. seine Frau, meine theuren Freunde von Kiel her. 2. Justi, den Kunsthistoriker von Bonn. 3. in dem großen Brief den edlen trefflichen Riedel, der Dir auch sehr gefallen wird. Von Grimm ein Brief dabei.3 Morgen schreibe ich einen großen langen gründlichen Brief.

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Tausend Grüße an Mama u. Walther, Dich aber schließe ich an mein Herz, meine Käthe, mit jedem Athemzug u. Pulsschlag Dein Wilhelm. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 g. 1

Nicht überliefert. J. von Olshausen war seit 1858 Vortragender Rat im Kultusministerium. Im Februar 1874 ließ er sich in den Ruhestand versetzen. 3 Nicht überliefert. 2

[434] Dilthey an Katharina Püttmann [8. Dezember 1873]1 Meine geliebte Käthe, Du Seele meiniges, heute bin ich mit einer ganz thörichten Sehnsucht nach Dir aufgestanden, ärger als je vorher. Ich war gestern als ich den Brief forttrug noch bei Herzens vorgegangen: sie waren eben weg; so schlenderte ich bei dem Schein des herrlichen Vollmondes zu Ebertys, in dem Gedanken mir da etwas vorsingen zu lassen. Das war mein Unglück. Ich war diese ganze Zeit der Musik aus dem Weg gegangen weil ich ihr in meiner gegenwärtigen Verfassung nicht recht traute, u. mich leitete ein gutes Ahnen. Alle Sehnsucht, in Deine Augen zu schauen ward von den Tönen so mächtig gerufen u. wuchs u. bewegte sich, daß ich lange noch im Mondschein ging an Dich zu denken, u. heute sehr früh u. mit demselben Einen Gedanken im Gemüth erwachte. Da sitze ich denn nun bei dem Café u. schreibe gleichzeitig an Dich u. verzehre den letzten Rest von Mamas Gebäck, auch ihrer in treuem Herzen gedenkend. U. die ganze Unnatur von Euch getrennt zu sein, ja lange Monate noch getrennt sein zu sollen liegt recht schwer vor mir, ich bin wahrhaftig wie in einer weiten weiten Sandwüste u. langsam trage ich mich immer wieder zu einer der kleinen Zauberinseln, die ich von dem herrlichen Samstagnachmittag bis zum Mittwoch durchschreite. Ach Käthe hast Du schon daran gedacht was hundert Tage sind u. daß diese die Zeit unserer Trennung noch lange nicht erschöpfen? – Draußen scheint die helle Wintersonne u. ich habe gestern schon den Jungen von Scholz gesagt, das ich nächsten Sonntag sie auf dem Eise mit Punsch regaliren werde.

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Eine Tragödie ohne Gleichen beinahe erzählen mir gestern Ebertys: der berühmte Kunsthistoriker Kugler2 hinterließ eine Frau3 u. drei Kinder, die Tochter mit Paul Heyse4 verheirathet, der talentvollere Sohn von einem Rükkenmarksleiden früh ergriffen, Maler u. Schriftsteller, der andere talentlose ist Historiker.5 Sie wohnten in München in Einem Hause mit Paul Heyse, Mutter Tochter u. kranker Sohn, für den die Mutter ganz lebte, vereinigt; dort sah ich sie noch vor 2 Jahren als ich Wilbrandt aufsuchte, der wie ihr anderer Pflegesohn war. Die Tochter starb jung, blühend, mitten im Glück. Der Sohn, verzweifelnd in seinen furchtbaren Schmerzen hat vor mehreren Tagen Gift genommen, die Mutter, denke Dir Hitzigs6 Tochter, Kuglers Frau, nach einem langen vom Wechsel von Leid u. Freude erfüllten Leben, überwältigt von Schmerz, folgte ihm. Nun denke das furchtbare, die Romeotragödie, die so seltsam u. unwahrscheinlich klingt, erneut sich in der Wirklichkeit; der Sohn erwacht wieder! Und die Mutter ist todt! Nahe Freunde von mir, General Barger u. die seinen sind mitbetheiligt, Barger ist Frau Kuglers Schwager, Frau Ribbeck ihre Nieçe, Wilbrandt von ihr auferzogen; ich selbst sah sie damals mit der tiefsten Verehrung, als eine Frau die geliebt u. angebetet worden ist im Kreise der besten u. tüchtigsten Menschen, wie unendlich selten Frauen begegnet. Noch bin ich geneigt irgend einen mythischen Zusatz in der Geschichte anzunehmen: sie klingt wie die Tragödie der Mutterliebe. Heute also bist Du bei Trendelenburgs u. holst nach was der Waldmensch den Unband versäumen ließ. Und heute kriege ich keinen Brief. Und heute schreibe ich selber an Hermann[,] Karl u.s.w., trotz des sonnigen Tages der mich hinauslockt: aber diese Sonne hat schon meine große Faulheit von gestern verschuldet. Und heute laß ich unser Logis in die Zeitung setzen, etwa so: ein junges Ehepaar sucht u.s.w. Und heute denkt ein gewisser Waldmensch an eine gewisse goldene Käthe, die das Ideal u. das göttliche Bild ist, das er, mit dem ganzen Ungestüm seines Herzens ohne Falsch, anbetet, heute denkt er jede Minute u. jede Stunde an sie, und er hat um sich die schwachen Abbilder seiner Göttin gestellt und wunderbar soll er sich dabei gebehrden, bald seufzend u. – bald wieder lächelnd – wie eben die Waldmenschen sind, wenn sie auf Leben u. Tod lieben. Habe Du ihn nur eben so lieb, Du goldene Käthe: er verdient es schon um Dich. Am Horizont der Fakultät zieht eine neue Wolke auf. Neumann hat eine fast schlaflose Nacht darüber gehabt, daß ein gewaltiger Eingriff in die Rechte der Historiker geschehn; Erdmannsdörffers sanfteres Gemüth ist still-bewegt; Dein Schatz aber ist ein guter Kamerad, aber ohne alle Gemüthsbewegung. Kannst überhaupt nicht denken, welchen Kummer Du Neumann bereitest: Senatssitzungen versäumt, Abstimmungen dadurch geschädigt, wieder 2 Candidaten die Pforte in das Himmelreich der Gymnasialehrerwürde aus purer

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Weichmüthigkeit vorgestern aufgethan, u. weiß der Himmel was ich Alles sonst noch von Weichmüthigkeiten habe merken lassen. Da wirst Du also viel gut zu machen haben. Tausend Grüße an Mama, deren Migräne nun hoffentlich vorüber ist, ebenso an Walther. Empfiehl mich Herrn Dr. Junghahn,7 u. da er mich mit seiner Würde angesteckt hat, so küsse ich heute nur ehrfurchtsvoll Deine Hände, als Dein Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 h. 1

Im Original: nachträgliche Datierung von fremder Hand: „8. 12. 73“. F.Th. Kugler war seit 1835 o. Prof. an der Berliner Akademie der Künste, 1843 Kunstreferent im preuß. Kultusministerium. 3 Clara Hitzig (1812–1873): 1833 Ehefrau F.Th. Kuglers. 4 P. Heyse versorgte seit 1859 in seinem Münchener Haus Mitglieder der Familie seiner ersten Frau Magarethe, geb. Kugler, die 1862 verstarb. 5 Bernhard Kugler (1837–1898): Historiker; 1867 a. o., ab 1874 o. Prof. in Tübingen. 6 Julius Eduard Hitzig (1780–1849): Schriftsteller und Kriminalrat in Berlin. 7 Vermutlich ein Arzt. 2

[435] Dilthey an Katharina Püttmann Breslau, 10. 12.[18]731 Meine geliebte theure goldene Käthe, Mama krank, Du von Besorgungen u. Arbeiten herumgezogen u. ein wenig müde-sehnsüchtig: ich aber hier, fern von Euch, unfähig Euch zu sein was ich möchte, was ich könnte. Nur tausendmal aus der Ferne grüßen kann ich Euch und auf die nahen fröhlichen Weihnachtswochen hoffen in denen wir endlich einmal in ruhiger Folge schöne Tage und die Gedanken u. Gefühle, die sie heraufbringen, genießen werden. Liegt doch in diesem Kommen u. Gehen in kurzen Tagen jedesmal etwas was das Gemüth in zu hohen Wogen, zu heftigen Wechseln sich bewegen läßt; selbst meine an sich so stätige, ruhig heitere Natur will nicht zur Ruhe gelangen; nach kurzem das ganze Gemüth bewegenden Zusammensein sieht man sich mit einem Gefühl beklemmender Leere wieder allein; in den alten vier Wänden u. doch nicht fähig derselbe zu sein. Wie wunderbar regt die Liebe das Menschenherz in allen Tiefen auf, wie der Sturm die See in Ebben und Fluthen. Das erfuhren vor mir wohl alle die wahrhaft geliebt haben. Gestern war ich noch Abends eine Stunde bei Freund Heidenhain, sagte ihm

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wie du ihn schon lieb hättest um seiner Treue gegen das Andenken seiner edlen Frau willen; wir haben nie so innig als diesmal zusammen gesprochen; er sprach sich vielleicht zum ersten Mal seit manchem Jahr ganz offen über sein Empfindungsleben aus; schreiben läßt sich dergleichen nicht, aber wie habe ich Dich bei diesem herrlichen Gespräch herbeigewünscht, das mir ihn soviel theurer gemacht hat. Bei dieser Gelegenheit erzählte er mir denn auch, was Neumanns Lebensschicksal bestimmt hat. Ich hatte schon von einer Neigung sprechen hören, die er zu einer Tochter des alten Molinari2 gehegt hatte, aber natürlich nie gewagt, so nahe wir oft diese seine Verhältnisse berührten, davon zu sprechen. Es ist also wahr: er ist unverheirathet geblieben, weil seine Neigung zu ihr unerwiedert blieb; sie hat dann einen Gutsbesitzer geheirathet u. ist vor zwei Jahren jung und ohne rechtes Glück gestorben. Wie fern lagen mir sonst diese inneren Schicksale der Freunde und wie bewegen sie mich jetzt, da ich erfahren habe, daß echte Liebe auch über das Schicksal des Mannes gänzlich entscheidet. Heute las ich eine Stunde in Schillers Correspondenz mit Körner3 u. seltsam berührte mich, bestätigend was wir früher darüber sprachen, daß er wahre Liebe nie gekannt, Briefe, die in den früheren Auflagen unterdrückt waren u. eben jetzt zuerst mitgetheilt sind; er theilt mit einer mich unsäglich verletzenden Offenheit Körner die Wechsel in seiner Empfindung gegen seine spätere Frau mit; lange nachdem er sie genau kennen gelernt, zieht er andere Heirathsideen in Rechnung. Er sucht nur eine Grundlage ruhigen Schaffens. Erst die Ehe hat dann sein Gemüthsleben vertieft. Findest du nicht auch daß man dies wohl in seinen Stücken nachempfindet? Zwischen Räub[er], Fiesco, Don Carlos, Kabale, die vor seiner Ehe sind, und dann Wallenstein Maria Stuart, Jungfrau von Orleans Tell liegt eine Verfeinerung u. Vertiefung seines Gemüthslebens, die sehr sichtbar ist. Eine sehr einfache Stelle von Körner schreibe ich dir aus, weil sie mich in Rücksicht unserer gefesselt hat. „Um ganz glücklich, das heißt beim Genuß der angenehmsten Empfindungen mit mir selbst zufrieden zu sein, muß ich soviel Gutes um mich her gewirkt haben, als ich durch meine Kräfte u. Verhältnisse zu wirken fähig bin. Und das werde ich, wenn ich meinen Schiller an der Seite habe. Einer wird den anderen anfeuern, wenn er im Streben nach dem höchsten Ideale erschlaffen sollte. Wir gehen auf verschiedenen Bahnen, aber einer sieht mit Freuden die Fortschritte des anderen.“ Das schrieb Körner als Verlobter.4 Ich empfand so recht wie in unserer Liebe auch diese erhabene Freundschaft ist. Wohl werde ich der Freunde bedürfen mich im Positiven meiner wissenschaftlichen Arbeiten und des Handelns in der Welt in klarem Zusammenhang zu erhalten, aber Du bist mir Alles was für Körner der Freund war, die Geliebte nicht war, und ich bin es Dir. Wenn ich je ermüdete in der redlichen Arbeit, meinen Ideen Gestalt u. Wirkung in der Welt zu

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geben, die Jugend um mich zu begeistern, in den thatsächlichen Verhältnissen ihnen treu zu bleiben: ein Blick auf Dich, eine ruhige Stunde mit Dir würde mich wieder frisch u. kräftig machen. Nicht wahr, meine Käthe, wir wollen wahr u. treu gegen das Ideale u. gegen uns selbst der Welt ein Beispiel tiefster innerer Harmonie u. ruhiger klarer Sicherheit, kräftigen Handelns der Wirklichkeit u. dem Leben gegenüber geben? Wohl hast Du Recht von der idealen Herrlichkeit unseres künftigen Lebens zu reden; eine unsagbare Seligkeit, ein tiefer Friede erfüllt mich ganz, wenn ich unser künftiges Leben vor mir vorüberziehen lasse. Ich bin draußen gewesen u. habe heute zum ersten Male eine Wanderung gemacht zu suchen wo wir unser trauliches Nest bauen. Eine sehr gute u. passende Wohnung fand ich: in der Gegend die auch Mama meinte, an der Ecke von Tauentzien- u. Teichstraße, die Du leicht auf der Karte nachsehn kannst – 2 Treppen wie ff. ersichtl[ich];5 Platz in Menge; es sind fünf Zimmer, davon vier in Einer Flucht, das Eckzimmer u. das daranstoßende A u. B. sehr große u. schöne Zimmer, größer als eins der Eurigen, die 2 folgenden kleiner werdend, aber auch C noch sehr nett, D dann einfenstrig u. viel kleiner, so wie E. Alsdann 2 Zimmerchen, Eins noch für Dienstm[ädchen] u. Köchin. – Ich hörte daß Geheimrath Hasse,6 einer der ersten Ärzte u angesehensten Leute der Stadt, 15 Jahre darin gewohnt u. nur ausgezogen, als er das gegenüberliegende Haus vor c 2 Jahren gekauft hatte. Sofort eilte ich zu Eberty’s, die Frau ist die Schwester von Hasse, hier war ich sicher ganz zuverlässige Nachricht zu erhalten. Sie lobten die Wohnung außerordentlich, es hätte ihnen recht weh gethan, als Hasse’s vor c 2 Jahren ausgezogen; Übelstände hätten sie nie vermerkt. Wenn ich die Wohnung bekommen könne, würden wir vortrefflich aufgehoben sein. Sie liegt nach Osten, u. denke Dir Zimmer E liegt einfenstrig nach Norden, also wie gemacht, für das Malzimmer, nicht wahr? Und dabei bist Du auch der Küche ganz nahe, wenn Du Morgens da sitzest. Ich schreibe das nach erstem Überblick, ebenso ist in der Zeichnung in Bezug auf die Lage der Küche zu den 2 kleinen Zimmerchen etwas falsch; aber ich bringe es im Gedächtniß jetzt nicht genauer zusammen; ist ja auch indifferent; auch die Himmelsgegend muß ich noch einmal Morgen controliren. Nur Einen Übelstand bemerkte ich, den dann auch Eberty’s als das Einzige was Hasse’s geniert habe hervorhoben: der Aufgang ist nicht schön, steinerne sehr ausgetretene Treppen; der Haushälter sagt, Frühjahr werde er renovirt, wie früh das aber passiren wird, weiß natürlich Niemand. – Ich eilte also sofort zu dem Hausbesitzer, der in einem anderen Hause, Königsplatz 3b wohnt u. fand wie mir schon gesagt worden war einen sehr anständigen Mann; als ich ihm meinen Namen nannte, erklärte er sich sofort bereit, was jetzt wirklich ein Opfer ist, 8 Tage lang die Wohnung niemand Anderem zu vermie-

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then, bis ich mich schlüssig gemacht. Als Preis war mir 550 r. angegeben u. Ebertys fanden das höchst preiswürdig; mit ihm selbst habe ich vorsichtiger Weise noch nicht darüber gesprochen, kommt in den 8 Tagen kein Concurrent, dann können wir vielleicht hoffen, zu 500 die Wohnung zu bekommen. Nicht ganz glatt wird Ein Punkt gehen; sie ist vielfach sehr verwohnt, da in den c 2 lezt[en] Jahren eine polnische Familie darin wohnte, eine anständige, sehr bekannte, doch immerhin Polen; nach Hasses Wohnungswechsel war sie auch nicht restaurirt. Nun erklärte sich der Wirth sogleich bereit, das Nöthigste machen zu lassen; er sei seit Jahren nicht in der Wohnung gewesen u. wisse nicht, wie es in ihr aussehe; von 2 Zimmern etwa die er renoviren lassen würde sprach er bestimmt. Bei anderen Wohnungen, die ich antraf empfand ich sehr deutlich, daß man eine Dame dabei haben muß, um beurtheilen zu können, ob eine Wohnung geeignet sei. Ich werde also Morgen u. Übermorgen mit irgend einer der Damen, Frau Herz oder Frl. Heidenhain oder Frau Scholz etc., die Wanderung wiederaufnehmen. Inzwischen werden von übermorgen ab auf die Anfrage auch weitere Anerbietungen kommen. So werde ich dann im Stande sein, etwa zum Freitag früh Mama eine Übersicht geben zu können. Daß zu Neujahr Weiteres frei würde, ist nach der Meinung der verschiedenen Hausfrauen nicht zu erwarten. Auf jeden Fall sind wir durch die Wohnung Teichbzw. Tauentz[ien]str. u. die Verabredung mit dem Wirth sichergestellt. Aber den Termin werden wir wohl einhalten müssen. Eine große Beruhigung wäre mir wenn Mama, nachdem ich Alles vorher angesehen u. die Möglichkeiten fixirt, sie ansähe, u. gar wenn Du kämest? Natürlich frage ich auch noch Hasse selber u. berichte über sein Urtheil. Ist Mama jetzt die Reise ungelegen, so kann ich auch noch Frau Herz etwa genau Alles ansehen lassen u. mit ihrer Hilfe die nöthigen Anordnungen mit dem Besitzer des Hauses treffen; derselbe hat mir einen sehr guten Eindruck gemacht u. ist mir sehr gelobt worden: es wird also nicht schwer sein, mit ihm in’s Reine zu kommen; doch ist das nur für den Nothfall daß Mama nicht käme. Morgen Abend mehr, wenn ich Weiteres angesehn. – Und nun lasse ich was nur die Außenseite unseres Glückes betrifft. Das Capitel ist eigentlich in erster Linie für Mama geschrieben. Ist doch jetzt die Hauptfrage, ob es ihr nicht unbequem ist, selbst die Wohnung anzusehen, was auch der Möbel wegen recht wünschenswerth wäre, da sie doch in Einklang mit ihr sein sollen, andrerseits die Renovationen in Einklang mit den Möbeln. Das will aber gründlich erwogen sein. Und auch Du mit Deinem künstlerischen Sinn bist dabei nur schwer zu entbehren, ganz abgesehn davon wie unaussprechlich schön es wäre, wenn ich Dich hier am Bahnhof empfangen könnte.

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Aber dies Alles hängt vom weiteren Verlauf von Mamas Gesundheit ab. Ich bin nicht so ungeschickt, daß ich nicht im Nothfall auch Alles mit Frau Scholz oder Frau Herz oder wen ich sonst für sehr praktisch halte ordnen könnte, wenn’s nicht anders wäre. Das Eine nur ist nach Aller Urtheil ganz unrathsam, jetzt die besten Wohnungen wegnehmen zu lassen. Größere Wohnungen werden zu Neujahr nur durch den Zufall einer plötzlichen Versetzung vakant, mit dem man doch nicht rechnen darf. Und eine bessere Acquisition als die geschilderte Wohnung wird überhaupt schwerlich zu machen sein. Sie scheint mir all unsren Bedürfnissen zu entsprechen, und ist dabei sehr preiswürdig, vorzüglich gelegen und entschieden gesund. Nur das Eckzimmer mit 3 Fenstern heizt sich schwerer. Aber ich wollte ja nun dies alles lassen, Dir zu sagen u. wieder zu sagen, wie ich ganz in dem Gedanken an die kommenden Wochen lebe, an die wunderbare Zeit mit ihren Festen und Lichtern, der wir entgegen gehen. Wohl bewegen auch mich die Gefühle, die du aussprichst, das eigenthümlich wehmüthige Erinnern von frühsten Kinderzeiten her; damals lebten noch die Großeltern von beiden Seiten in Biebrich, unter dem warmen Mantel Mutterchens ging ich Abends zur Bescherung von einer zur andren; dann spielte Großvater einen Choral, und Vaters tiefe klare Stimme fiel ein, u. unsere Kinderstimmen. Und dann saßen wir alle zusammen um die Weihnachtsgans wenn wir vom Spielen müde waren u. in großen Körben wurde die Bescherung ins Pfarrhaus gebracht. Es ist wie ein einfaches frommes und doch so heiteres Lied, wenn ich daran gedenke. U. nun blicke ich vorwärts u. an Deiner Hand beginnt mir ein Fest, unsäglich schöner als irgend eines aus Kinderzeiten. Ich sehe uns unter den Lichtern des Christbaumes einander in die Arme fallen; auch uns bedeutet er ein neues schönstes Leben, wie fromme Sage es unter ihm der Menschheit aufgehen läßt. In meinem Herzen leuchtet derselbe reine und erhabene Glanz, den seit vielen hundert Jahren die Lichter des Christbaums ausstrahlen. Die Liebe ist mir geschenkt, und Du, Du goldene Käthe, ein Leben in lauter lichter Harmonie u. seligster Gemeinschaft. Dir darf ich mich weihen, den Gedanken u. Sorgen u. Arbeiten für Dein Glück. Und ich weiß, wann wir mit diesen Gefühlen unter dem Christbaum stehen werden, wann die Sterne von draußen wie die Augen Gottes zu uns hereinblicken, dann wird das Unsichtbare u. Unsagbare, in dem aller edle gute Wille u. alle aus ihm fließende Seligkeit gegründet ist, uns freundlich u. geneigt umfangen u. wir werden es fühlen, wie nur ein gläubiger Christ es immer von seinem welther[r]schenden göttlichen Kinde in dieser Nacht fühlen mag. Und nun laß Dich noch tausendmal grüßen u. küssen. Wenn Du zuviel zu thun hast, schreibe ja nur wenige Zeilen. Ich verzichtete gar zu ungern darauf, jeden zweiten Tag das: ich liebe Dich zu vernehmen. Aber mehr braucht es ja

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nicht. Wissen wie es Dir u. Mama u. Walther geht und das Eine große Wort, das ist ja nur was ich bedarf. Hoffentlich kannst [Du] mir Morgen schreiben daß es Mama wieder besser geht. In Liebe ohne Gränzen u. Treue ohne Ende Dein Wilhelm Dienstag Abends 7 Uhr, eine Stunde vor den Übungen, die diesmal vom vorigen Sonnabend nachzuholen sind. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey 13 f. Ein maschinenschriftliches Transkript von Teilen des Briefes, angefertigt von D.s Tochter Clara, ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 i. Es enthält die Angabe: „Wörtliche Abschrift aus einem Brief vom 10. 12.1873: Göttingen, 9. 8. 1962, Clara Misch, geb. Dilthey“. 1

Im Original: nachträgliche Datierung von der Hand C. Mischs. Tochter von Theodor Molinari (1804–1867): Breslauer Kaufmann; Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses. 3 Christian Gottfried Körner (1756–1831): Schriftsteller und Jurist. – Schillers Briefwechsel mit Körner. Von 1874 bis zum Tode Schillers. 4 Bde. Berlin 1847, 2. verm. Aufl. 2 Theile. Hg. von K. Goedeke. Leipzig 1874. 4 Ebd., 1. Theil: 1784–1792 (2. 5. 1785), S. 16. 5 Es folgt eine Skizze D.s zur Lage und Zimmerverteilung der Wohnung. 6 Karl Hasse (1841–1922): Mediziner. 2

[436] Dilthey an Katharina Püttmann [vor 12. Dezember 1873] Meine liebe Käthe, Braut, Muse, Hausgeist, unbändig geliebter Unband. Du scheinst meine armselige Gemüthsverfassung u. den bevorstehenden Versuch Dich anzubetteln geahnt zu haben, u. als der Bettelbrief 1 heut ankam, war Dir’s gewiß sehr gemüthlich dabei im Bette, im Bewußtsein der 6 Seiten u. der schönen Zuvorkommenheit die Du geübt. Dafür sollst Du aber auch zur Belohnung wissen, nicht daß ich Dich so thöricht liebe: denn das weißt Du mehr als gut ist, sondern daß Graf Harrach schon für diesen Winter hier gemiethet hat, also ganz gute Aussicht ist, daß er sichs hier auch für den nächsten heimisch macht. Wenn das wirklich so kommt: wirst Du nächsten Winter ungeheuer viel lernen, u. wenn ich ab u. zu fleißig sein muß, weiß ich daß Du auch Deine Freude an der Arbeit hast.

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Mama ist nun fort, wenn dieser Brief ankommt. Natürlich wird sie Schnellzug 8.45 fahren; natürlich werde ich Nachmittags 3.30 an der Bahn stehn: sie hat eine halbe Stunde, bis zur Abfahrt nach Brieg2 u. wird sich schön wundern, wenn ich auf einmal auftauche. Mit dem Haus ists besorgt. Wenn nur der Hausgeist so lieb u. gut wäre – da nun plötzlich Sonnenschein erschienen – mitauszusteigen. Ich würde doch ein wenig toll vor Freude werden: aller Sorge um Deine Gesundheit zum Trotz. Daß ich nur ja das Bild noch sehe: ich werde dann Mama dabei schreiben, in wiefern Du doch viel schöner bist als das Bild: denn ich weiß schon im Voraus: Du wirst zu zurückhaltend u. bescheiden gewesen sein, Dich so schön zu zeichnen als Du bist: wenn man sich nämlich auf Dich u. auf Schönheit ordentlich versteht. Ich kann das auch schon daraus schließen, daß es Züge hat, die an die Waldmenschen erinnern. Die arme Marie: daß Sie nicht mehr wegmöchte, entspringt naturgemäß daraus, daß sie für den Druck, der auf ihrem Nervensystem lastet, gerade so jetzt einen Erklärungsgrund u. eine Reaktion bedarf, wie für den früheren Zustand. Ach liebe Käthe, wie sollen wir dem Himmel genug danken, Kinder der Glücks zu sein. Heut frag ich die Frau, die meine Aufwartung besorgt: „müssen Sie denn auch so viel arbeiten wie ich?“ „Mehr, ich muß jeden Morgen um 5 aufstehn, u. bis Abends 10 arbeiten“. „Ist das denn Ihrem Mann recht?“ „Er sagt, ich muß den ganzen Tag arbeiten, da kannst du’s ebenso gut.“ Denke Dir, was für ein Leben. Über den weiteren Verlauf der Münchener Tragödie höre ich: Wilbrandt (so soll in der Zeitung stehn, ich lese jetzt keine) ist aus Wien gekommen und pflegt zusammen mit Paul Heyse den armen Kugler, dem man den Tod der Mutter verschweigt u. der langsam dem Ende entgegengeht.3 Er hatte Morphium, das er in kleinen Dosen für die Nächte hatte, in einer größeren Masse genommen, die ihm zureichend schien, sie ebenso: recht eigentlich also der Schlaftrunk den Lorenzo der Julia gab. Auch mich hat wie Dich diese Tragödie beschäftigt, doch dünkt mich nicht weil dies ein furchtbares Unglück ist (Unglück als solches kann mich nach bloßem Referat bei Fernstehenden wenig beschäftigen u. ich habe immer den Verdacht daß Menschen, die auf Unglück Jagd machen u. in Mitleid Luxus treiben, im Innersten durch Vergleiche sich trösten) vielmehr weil hier in der That der Mutter eine mächtige Leidenschaft der Mutterliebe wie aus ursprünglichen Tiefen hervorbricht. Das ist doch in aller ächten Tragödie der Kern, daß alle Mächtigkeit u. aller Reiz einer großen Seele im Untergang selber heller glänzt als sie im Sonnenschein des Glückes vermöchte. Ich wußte daß Du Cohnheims lieb gewinnen würdest. Immer wieder regt sich in mir die Hoffnung, seine Naturkraft könnte allen Analysen der Ärzte spotten.

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Ich muß gehen, für die Bibricher Einiges kaufen: ach wenn Du hier wärest, u. wir zusammen in den Läden flaniren könnten. Das ist nämlich sonst nicht meine Passion, wenns aber ist, um Geschenke zu suchen, macht es mir ein ungeheures Vergnügen. Also Adieu, ich nehme Dich in Gedanken mit. Nachmittags. Herumgeschlendert. Kam dann auch bei der hiesigen ständigen Gemäldeausstellung von Lichtb.4 vorbei u. sah darin ein wunderschönes Bild von Lessing:5 eine Felsmasse bei Halberstadt, auf der in Heidenzeiten geopfert wurde, Höhlen darin, in denen Einsiedler oder Räuber in mittelalterlichen Zeiten sich eingerichtet hatten: Sturmwolken gehen darüber hin, u. der gelbe Kies, der sich unter den Felsen abwärts in breiten Rissen erstreckt leuchtet in der intensiv gelben Färbung, die blaue Gewitterwolken geben. Wie habe ich Dich herbeigewünscht: Ich meine immer, wir könnten u. dürften so etwas nicht getrennt genießen, u. wenn ich denke, spreche ich eigentlich zu Dir. Verschiedene Münchener Bilder à la Böcklin,6 Landschaften mit Staffage, waren auch da, bunter blumiger Vordergrund etc. Diese Manier scheint jetzt sich sehr zu verbreiten; aber die innere trunkene Naturseligkeit, die übermüthige Fröhlichkeit, aus der sie bei Böckl[in] so naturwüchsig entsprang war nicht darin. Adieu. Ich muß ins Doktorexamen, von da in ein Beethovenconcert, bei dem ich diesmal nicht fehlen darf. Grüß Dich tausendmal, finde daß es nur noch wenige Tage sind, habe Angst daß ich am Ende Sonnabend nicht fortkomme, freue mich auf Mama u. bin u. bleibe in der Liebe die Du kennst oder nicht kennst Dein Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 g. 1 2 3 4 5 6

Nicht überliefert. Ort in Schlesien. F.Th. Kuglers jüngster Sohn Johannes starb am 12. Dezember 1873. Vermutlich eine Galerie in Breslau. Carl Friedrich Lessing (1808–1880): romantischer Maler. Arnold Böcklin (1827–1901): schweiz. Maler, Zeichner und Bildhauer des Symbolismus.

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[437] Dilthey an Katharina Püttmann [Mitte Dezember 1873] Du Goldene (so nenne ich Dich doch jetzt am liebsten, weil doch das Gemüth zwischen Himmel u. Erde das höchste ist), ehe ich meine Wanderung antrete, grüße ich Dich, die in meinen Gedanken immer in allen Straßen Breslaus u. in allen Winkeln aller Wohnungen neben mir geht. Nun treffen ja Mama’s u. meine Pläne ganz zusammen; nur Eines bedaure ich, daß sie die Reise nicht früher machen kann, um den Contrakt kundiger als ich abzuschließen und, wie ich wirklich glaube, 25 Thaler zu mindern, wozu mir das Geschick fehlt: Frauen u. Mama mit ihrer Erfahrung können das immer besser. Wenn ich also versuchte noch Mittwoch oder Donnerstag mir die Wohnung offen zu halten u. Mamas Gesundheit gestattete, dann hier zu sein: so wäre, dünkt mich, alles auf das Schönste geordnet, außer daß uns überall der gute Hausgeist inmitten dieser Räume fehlen wird. Ach er fehlt mir jede Stunde u. hätte ich nicht, wie d[ie] Gr[äfin] Sch[werin] richtig sieht, so viel Anlage zur Religion u. glaubte an Deine unsichtbare Gegenwart u. die Einkehr Deiner Gedanken in meinen einsamen Zimmern: es stünde noch schlimmer um mich, und steht doch auch jetzt schon recht schlimm. Aber ruhig, Du liebes Herz, nun sind es ja nur noch sieben Tage u. sieben Nächte, die ich durch die Schattenwelt als ein Schatten wandern muß, um dann mein leibhaftiges Glück am Lichte der Sonne zu umarmen. Ich danke Mama tausendmal für ihren Brief 1 u. ihre Liebe u. ihre Aufopferung für uns. Weißt Du, wenn wir erst in Breslau zusammen leben (denn jetzt liegt in meinem gar zu starren Unabhängigkeitsgefühl immer etwas was mich hindert, sie so ungeheuer lieb zu haben als ich sie dann haben werde) wirst Du auch viel eifersüchtiger auf sie werden als ich jetzt auf Walther bin. Und siehst Du erst Lilys Zärtlichkeit: so wird Dich das hoffentlich auch ein wenig echauffiren. Andere Gesichter werden für mich leider (wie ich fortfahre an mir zu erleben) nie in der Welt sein. Ja Käthe, alle Abend werden wir sorgfältig in allen Winkeln unseres polygonen Königreichs nach Kobolden suchen, aber die Wichtelmännchen werden wir uns hüten zu stören: es soll ihnen bei uns so wohl sein, wie Schwalben sein soll die an friedlichen Häusern ihr Nest gemacht haben. Vorgestern gab mir Frau Scholz einen Band Novellen von Heyse mit, weil sie meinte, mit den Geschichten so tiefer u. starker Liebe bis zum Tode wie sie darin seien müßte ich die größte Mitempfindung haben. Besonders afficirt haben sie mich doch nicht, als ich gestern nach den Übungen, überreizt von

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der Anstrengung des Tages, bis tief in die Nacht in ihnen las. Der Reichthum, das Allumfassende in unserer Liebe, die sich über all unsern Beschäftigungen, Ideen u. Gefühlen ausgebreitet hat, Alles mächtiger entwickelnd, ist so selten in Dichtern zu finden. Es ist so natürlich: nur wo die Liebe einen bedeutenden Lebensinhalt in ihrer ganzen Macht ergreift u. zur höchsten Blüthe u. Schönheit zu entfalten sich anschickt: ist sie dies hohe Wunder. Ich habe darüber nachgedacht, warum das Unabhängigkeitsbedürfniß das so sehr stark in mir ist und das selbst meinem Vater gegenüber, so lange ich von ihm noch etwas bedurfte, zuweilen in meinem innigsten Gefühle sich störend, ich möchte sagen starrer machend, mischte, Dir gegenüber gar nicht besteht, ja Dir gegenüber ich mir in dies[er] Bezieh[un]g ganz auf den Kopf gestellt finde. Ich hatte nicht gleich Dir gegenüber, auch als ich Dich schon liebte, das eigene Gefühl, das sich erst bei meiner letzten Anwesenheit u. danach, wie ich unser Heim im ersten Anfang aufzubauen beginne, ganz meiner bemächtigt: die Verehrung, in der ich meine Herrin in Dir verehre. Es ist ein ächt deutsches Gefühl, mit dem Tiefsten im deutschen Wesen zusammenhängend. In dem Maß, als Deine Liebe sich mir offenbart, wächst in mir diese Verehrung, die Dir dienen möchte. Ich kann Dir nicht sagen, wie dies Gefühl mich beseligt: und wenn ich darüber nachdenke, muß ich mir sagen, daß nichts in ächterem Sinne männlich, freilich auf deutsche Art männlich ist, als diese scheinbare [Briefschluss fehlt]. Original: Hs.; das Brief-Fragment ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 h. 1

Nicht überliefert.

[438] Dilthey an Katharina Püttmann [18. Dezember 1873] .|.|. vom zärtlichsten Sinn für unser künftiges Glück. Das mächtige Univ[ersitäts]gebäude gefiel ihr auch gar gut. Nun fährt sie den Möbeln entgegen, u. ich fürchte, sie wird nun gar viel u. sorglich in ihrer Einsamkeit an Dich denken. Du kannst Dir nicht vorstellen, was es uns beiden in unserer Sorge für die Eine, unaussprechliche Geliebte werth war beieinander zu sein u. von Dir zu reden.

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Nun bin ich hier, allein, keinen Gedanken als Dich in der Seele. Aber nur die Rücksicht auf Deine Gesundheit darf darüber entscheiden, wann ich kommen darf; darin sind Mama u. ich ganz einig u. ich muß das aushalten können, da es für Dich ist. Ja Du liebe Goldene, sei nur so vorsichtig Du kannst, dann soll es still und doch selig in den Weihnachtstagen bei uns zugehen, u. nicht blos die Wände, sondern jedes alte Möbel bis zum neuesten Schaukelstuhl soll mitglänzen, wenn die beiden Glücklichen zwischen ihnen umhergehen, Du theuerste Wiedergenesene. Es ist das erstemal seit Elster daß wir so lange Zeiten zusammen sind u. diese Tage sollen alle Poesie von Elster erneuern, oder lieber richtiger: die ganze Poesie unsrer jetzigen mächtigeren tiefren Liebe soll diese Tage mit mit ihrem Glanz erfüllen, sodaß in späten Tagen wir in Wonne zurückgedenken an diese Wochen, wenn mit Gottes Hilfe Alles erfüllt ist was wir in ihnen unter dem heiligen Baum von den Allwaltenden, die die Schicksale lenken, fromm (wie ein Grieche fromm war; demüthig dem Schicksal) erbeten. Du hast Recht in Bezug auf den wundersamen Reiz, der Elster umschwebt; das erste sich Regen von tief in der Seele gegründeten Gefühlen ist von einem zarten Lichte umflossen dem nichts gleicht. Wenn ich Dich in Gedanken mir, eine Fremde, und doch unsäglich geliebt, unter der Musik entgegenschreitend wieder vorstelle: wie bewegt mich dies Alles. Nun aber gehen wir Tagen entgegen, die wir in ihrer ganzen Schönheit (wie Menschenschicksal ist) auch erst in späteren Zeiten erkennen werden: aber Einiges darin fühle ich mit vorahnendem Herzen. – Nun aber, Goldene, habe ich während des Examens dies geschrieben, eben selbst examinirt u. nun ist es so spät, geworden, daß ich schließen muß. Morgen bekommst Du dafür einen ungeheuer langen Brief: heut mußt Du Dich schon damit begnügen daß Mama u. ich an nichts als an Dich vom frühen Morgen gedacht haben. Ich finde, da ich den Brief schließe: es ist doch schwer seine Gefühle auszusprechen, wenn vom polit[ischen] System Thebens, Accenten u. allem Möglichen Gleichgültigen durcheinander die Rede ist. Von der Liebe ist gar nicht gesprochen worden, als gehörte sie weder in die Geschichte noch in die Sprache, u. ist doch der Haupttheil von beiden wie Du weißt u. ich. Lebe wohl, sei so ängstlich als Deinem muthigen Charakter möglich ist. Lebe wohl, daß ich Dich ja noch im Bette finde u. so moderat u. still als irgendmöglich. Wie soll ich Dir danken daß Du fühlest wie es für mich ist mehr als für mich – Gott behüte Dich Dein Wilhelm Original: Hs.; das Brief-Fragment ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 f.

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[439] Dilthey an Katharina Püttmann [Anfang Januar 1874] Eben, geliebte goldene Käthe, habe ich mit Erdmannsd[örffer] einen lustigen Plan ausgesonnen. Wir sind beide zu den Vorträgen die die Schillerstiftung in Berlin halten läßt u. die Mitte Februar beginnen aufgefordert. Mama u. Dir zu Ehren entschließe ich mich zum ersten Male Ja zu sagen, dann will Erdmannsdörffer ebenso thun; Mama giebt dann beide Male eine kleine Gesellschaft bei sich, wird das nicht ungeheuer lustig? Schön will ich es schon machen, und zwar sehr schön. Zu Ehren von Elster u. den Wahlverwandtschaften denke ich an: Göthe u. der bürgerl[iche] Roman: lasse dann die Lebensepochen Göthe’s auftreten: Werther, W[ilhelm] Meisters Lehrj[ahre] Wahlverw[andtschaften] Wander- u. Meisterjahre u. stelle das Ganze in seine wahre große Beziehung: den Zusammenhang der Abänderungen der europ[äischen] Gesellschaft u. des bürgerlichen Romans. Ich könnte jetzt gleich aus dem Stegreif den Vortrag halten u. wenn nicht die störende Einrichtung des Raumes mit seinen 3 Dimensionen seit gestern zwischen uns getreten wäre, hielte ich ihn Dir gleich. Ach diese Einrichtung! Ich gehe hier wie in einer ganz fremden Stadt umher u. zwar reise ich diesmal gegen alle Verabredung allein, allein. a propos Reise; ist der Vortrag einmal geschrieben, so lassen wir (Du u. ich nämlich) ihn nachher drucken wo er am besten bezahlt wird1 u. bilden so den ersten Grundstock für unser Reisecapital zur großen Herbstreise. Heute habe ich Erdmannsdörffer den Plan meines Buchs auseinandergesetzt; er war ganz entzückt davon u. dringt nur auch auf schleuniges Fertigmachen. Die völlige Originalität der Methode u. der Anschauungen, wie sie aus angestrengten weitschichtigen Untersuchungen auf ganz verschiedenen Gebieten almälich zusammengewachsen, wird u. muß auch nach außen den Eindruck machen, den wir erhoffen. Wie stolz werde ich dann für Dich u. Mama sein, und mit welch innigem Behagen wollen wir dann selbander die Früchte genießen. Heute muß nachgelitten werden was wir selbander genossen. Die Studenten waren gleich bereit die ausgefallene Vorlesung nachzuholen u. so lese ich Morgen 2 Stunden von 8–10 Uhr, Nachmittag von 51/2 ab Übungen, heute von 51/2 ab Examina. Sonntag athme ich dann wieder auf u. kann Hermann u. Dir lange lange Briefe schreiben, beide Eines Inhaltes. Ob Du heute, wenn Du, von der Perspektive zurückgekehrt, mir schreibst, dasselbe empfindest? Noch ist mir nicht möglich, recht aus dem Gemüth Dir zu schreiben: in frischem Gedächtniß der verlebten herrlichen Tage sind mir

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alle Worte so arm u. es dünkt mich so seltsam mich mit ihnen zu behelfen. Indem ich sitze Dir zu schreiben, trittst Du selber vor mich, ich gedenke aller Anmuth u. Güte Deines Wesens u. die Feder will nicht weiter, ich bin ganz in der Anschauung von Dir versunken. Jeder Tag u. jede Stunde dieser Tage hat die tiefe Verehrung verstärkt, mit der ich in Dir mein erfülltes Ideal anschaue; wie Du bist, ganz so, habe ich ein eigenes Gefühl gerührter Anbetung für Dich mitten im innigsten zärtlichsten traulichsten Gefühl. Ich fühle es ganz, so soll man die lieben, welche die ächte Gefährtin des Lebens sein wird, wie ich Dich liebe, mit dem traulichsten überströmenden Gefühl von Zärtlichkeit u. doch zugleich in der reinsten Verehrung. – und nun, goldene Käthe, muß ich Dir Adieu sagen muß mich noch schnell ein wenig in meine Hefte versenken u. mir gründlich Mühe geben, etwas weniger an Dich zu denken als seit dem Moment, da Du dem davon eilenden Wagen nachblicktest. Diese Trennungen sind mir doch immer ein sehr heftiger Schmerz, ich weiß nicht, aber mir ist jederzeit in jeder Trennung auch von Eltern u. Geschwistern etwas von der Bitterkeit der letzten Trennung im Tode gewesen, wenn vor meinen Augen die geliebte Gestalt entschwand. Noch gedenke ich genau der ganzen Bitterkeit dieser Empfindung, so oft ich von Vater Abschied nahm auch als er sehr wohl war. Wohl ist nicht gut so stark u. treu zu fühlen wie einmal meine Art ist, Schmerzen eigener Art entspringen daraus, die kühleren, dem gegenwärtigen Eindruck immer bald wieder offenen Naturen fremd sind, doch auch überschwengliches überströmendes Glück. Und Glück oder Unglück so zu sein: ich möchte nicht anders sein. Es ist der Stolz meines Herzens, daß es nicht weiß was Ersatz u. was Arrangement mit dem Leben ist; es kann nicht vom Schicksal gebogen werden. Und all sein Glück ist ja auch darin, daß wann Deine Augen auf mir ruhen, in diesem Herzen kein Wunsch mehr ist, kein Gedanke an irgend etwas das man aus kleinem Stoff zu so unendlichem Glück hinzufügen könnte: meine Liebe erfüllt dies Herz ohne Maß u. ohne Schranken, Du herrschest in ihm unumschränkt u. ewig. Grüße tausendmal Mama, Walther, u. möchte nur Einen Augenblick unmittelbar in mein Herz u. seine Liebe Dir zu blicken möglich sein. Ich küsse Dich tausendmal u. bin Dein Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 g. 1

D. hat diesen Vortrag vermutlich nicht gehalten.

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[440] Dilthey an Katharina Püttmann [Anfang Januar 1874] Eben war ich drüben bei Sommerbrodt, der mein Nachbar ist. Die Herren in Berlin haben die Bemerkung gemacht, daß ich beharrlich Pädagogik nicht examiniere. Nun soll sie pàtout Prix examiniert werden und ich hörte, Sommerbrodt solle das nun tun. Da ich nun keine Lust habe Studenten, die in der Philosophie tüchtig sind, in der Pädagogik durchfallen zu lassen, und andererseits bisher für sie keine Möglichkeit war, die Elemente davon zu lernen, habe ich meinen Widerwillen überwinden müssen und halte im Sommer eine ganz neue Vorlesung: Geschichte der Unterrichtssysteme und der pädagogischen Theorien. Das kostet uns unterschiedliche Stunden, ist aber nicht zu ändern. Ich lese nun also im Sommer 6–7 Stunden: 3 Stunden Psychologie, 2 Geschichte der Pädagogischen Theorien, 1 oder 2 habe ich die Studenten bei mir und lese mit ihnen ich weiß noch nicht was, wahrscheinlich wieder Spinoza, wenn ich diesmal nicht fertig werde.1 Geht es nur irgend, so lege ich die Vorlesungen wieder so, daß ich drei Wochentage lese und drei frei habe. Im Winter lese ich dann mein Hauptkolleg, die Geschichte der alten Philosophie, in großer Ausführlichkeit in 5 Stunden: dann bin ich täglich nur eine Stunde von dir weg. Eine große Frage tritt dann freilich an uns heran: ich bin an der Reihe, Dekan d.h. Vorsitzender der phil[osophischen] Fakultät zu werden, auf ein Jahr. Das ist mit einer Mehreinnahme von etwa 500 Thalern verbunden, kostet aber viel Zeit und würde mich also vielfach in meiner Arbeit an dem so wichtigen Buch stören. Die Nebeneinnahme ließe sich ja verschmerzen, aber Neumanns und Schröders2 etc. Zorn würde ich auf mich laden, und ich fürchte mit Recht, wenn ich den großen Einfluß, den diese Stellung für das Jahr giebt und der durch die Kenntnis der Geschäfte natürlich auch nachher fortdauert, von der Hand wiese. Zumal Erdmannsdörffer nun in der Fakultät ist, Brentano auch eintritt und so Neumann und ich einen starken Rückhalt bekommen. Siehst du, heute kommt mir wahrhaftig alles in den Sinn, was ernsthaft ist. .|.|. Das Leben macht so verdrießliche Ansprüche an uns. .|.|. Und nun habe ich die schönste Stellung, die an mich gar keine zwingenden Ansprüche macht als nur ein paar Stunden in der Woche zu den Studenten zu sprechen, sonst aber mich dem Faulenzen mit Dir gänzlich überließe. Da kommen nun Pflichtgefühl und stolze Wünsche für Dich und mischen sich drein: wie weit soll Dein Waldmensch sich einlassen in das alles? Dies weiß ich: vorläufig zerbrechen wir uns nicht den Kopf darüber. Kommt der Herbst, sehen wir wieviel ich gearbeitet habe und was zu tun bleibt: dann

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erst machen wir uns darüber schlüssig, ob ich das Dekanat annehme. Dann halten wir mit Mama einen großen feierlichen Familienrath. Das Eine siehst Du, wie wichtig es ist vor dem kommenden Winter soviel als möglich für das Buch zu leisten, darauf drängt jetzt Alles. .|.|. Ich fühle die Kraft in mir, wenn ich Dich an meiner Seite habe, das Leben spielend zu beherrschen und das Höchste für Dich zu erringen, eine herrschende Stellung in meiner Wissenschaft und Einwirkung auf kommende Zeiten. Denn gepflanzt ist alles und es bedarf nur des Sonnenscheins. .|.|. Es ist mir verliehen, mitten im Ernst des Lebens und seiner Aufgaben übermütig und heiter wie die Kinder zu sein: das ist eine göttliche Gabe, die aus Deinem, und meinem Naturell entspringt. Diese Gabe soll aus unserm Heim alles Mühsame, Betriebsame fernhalten. Original: nicht überliefert; ein Typoskript des Briefes mit Auslassungen ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 i; angefertigt wurde die Abschrift von D.s Tochter Clara: „Aus einem Brief vom Jahre (undatiert) [18]73 od[er] [18]74. Kopiert 22. 8.62. Clara Misch“. 1 D. kündigte für das Sommersemster 1874 an: 1. Psychologie (3 std.), 2. Geschichte der Pädagogik mit Anwendungen der Psychologie auf ihre systematische Ausbildung (2 std.), 3. Philosophische Übungen (2 std.). 2 Heinrich Eduard Schröter (1829–1892): Mathematiker, 1858 a. o., 1861 o. Prof. in Breslau.

[441] Dilthey an Katharina Püttmann Breslau 9. I. [18]741 Liebe, liebe Käthe, heut schreibe ich Dir nur das: ich liebe Dich, das heut wie jeden Tag mein Innerstes bewegt. Den ganzen Morgen habe ich Wohnungen besehn, trepp auf, trepp ab, u. will nur an Mama ein kurzes Bulletin senden. Nach Tisch ist Examen. Dann will u. muß ich doch einmal zu Herzens. Du siehst, es geht bei mir munter genug u. bunt genug zu. Mit welchen Empfindungen sehe ich die Zimmer an, die vielleicht unsre erste Heimath sein werden; es ist mir recht schwer, dabei geschäftsmäßig zu bleiben, sie zu zählen, den Preis zu überlegen. Immer sind dabei Gelöbnisse in meinem Herzen, daß der Gedanke an Dein Glück allein in ihnen herrschen soll, daß Dich in ihnen nie eine Laune, nie eine Unzartheit, nie ein Schmerz den ich allzuwehren vermöchte, anrühren soll. Was treuster Wille

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vermag, wird sorgend in ihnen u. fröhlich arbeitend u. in heitrem Spiel Dich umgeben. Fühlst Du das auch so recht? Diese Woche machen mir die Vorlesungen viel neue Arbeit. Ich hatte eigentlich die Absicht, diesmal gleichzeitig einen Leitfaden der Wissenschaftslehre für die Studenten drucken zu lassen, u. auch in Buchhandel zu geben; es wäre die bequemste Art gewesen kurz eine Reihe von Resultaten mitzutheilen. Nun finde ich aber zu oft Deinen Namen zwischen den Zeilen meines Collegienhefts u. den trockenen logischen Untersuchungen anderer. Für diese gemüthlosen Denkoperationen bin ich jetzt gar nicht geschaffen. Selbst die Mathematik ruht u. ich höre nicht einmal wie ich vorhatte die Vorlesungen über Differentialrechnung. Schreiben könnte ich jetzt nur was das ganze Gemüth in Bewegung setzte. Eigentlich ist schade, daß der zweite Band Schleiermacher jetzt nicht an der Zeit ist. Aber nicht wahr, meine Muse, den schreiben wir in noch ganz anderen Stimmungen, wenn aus der Ruhe des Glücks die vollste lauteste künstlerische Stimmung quillt. Indem ich so in der Stadt jetzt umherschlendere, umgeben mich beständig Bilder ruhigsten Schaffens, klarsten Anschauens, seligen Genügens von Dir u. von mir. Indem ich zurückkehre, blicke ich auf Deine Venus Milo, die zwischen meinen Mappen u. Büchern steht, u. fühle ganz, wie mächtig Du Dich in diesen Jahren zur Künstlerin entwickeln wirst: denn in Allem was Du machst ist ein Zug von großem Blick u. Idealität, die Dir eine eigene u. vornehme Stellung unter den gegenwärtigen Künstlern geben werden. Vielleicht, wenn Du mir nicht begegnet wärest, hätte sich das in der Berliner Genre-Luft nie entwickelt zu klarer Gestalt; nun aber wird es das thun. Laß mir den Stolz dies zu sagen, meine goldne Käthe, weiß ich doch tief, daß ich Dir erst den Schwung u. die Kraft dessen danken werde, was ich unter Deinen Augen schaffen darf. Ich umarme u. küsse Dich tausendmal u. bin Dein Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 f; ein Typoskript, das einige wenige Sätze des Briefes enthält, ist als Anlage beigelegt. 1

Im Original: nachträgliche Datierung von der Hand C. Mischs.

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[442] Dilthey an Katharina Püttmann Breslau, d[en] 14 Januar [18]741 Du liebe liebe goldene Käthe, heute früh kamen Brief u. Liebeszettel2 traulich selbander. Wie gut hätte mir gestern der Liebeszettel gethan für meinen müden Kopf; er muß ein wenig zu spät durch die entsprechende Liebesbotin in den Kasten gekommen sein, da er nach dem Stempel erst 8–9 früh herausgenommen wurde. Nicht nur durch diese drei, sondern durch alle 10 Kategorien des Aristoteles habe ich heute Morgen das große Thema: ich liebe Dich hindurch behandelt u. diese Nacht soll der Zettel unter meinen Kopfkissen liegen. – Ich bin auch heute nur zu Tisch aus gewesen, doch geht es mir dank einem Amulet von Dir, dem gelben Knopf, den ich vorgestern Abend als ich mich aus Gesundheitszwecken in’s Bett begab, mitnahm damit er Wunder thue, viel besser. Ich habe den Moment wahr genommen in dem der Gedanke an die Gesch[ichte] der Unterrichtssysteme mich angenehm beschäftigte, und gleich heute nachdem ich die nöthigen Bücher [habe] holen lassen ein Schema der neuen Sommervorlesung gemacht. Bin ich nicht brav, so Alles muthig wegzuarbeiten, damit dann zu Ostern unsere Liebe u. unser berühmtes Buch freie Bahn haben? Du liebe Käthe, sonst wüßte ich nicht, wozu die Arbeit rasch u. kräftig abschließen, anstatt in der Untersuchung mich behaglich zu vertiefen. Jetzt weiß ich wozu, und nun geht Alles munter. Du hast ganz meine Empfindung über die gewöhnliche Lust an gräßlichen Begebenheiten. Ich bin längst gewöhnt, selbst die Mitempfindung in solchen Fällen mehr als verdächtig zu finden. Das Wohlbefinden des gewöhnlichen Menschen ist durch Vergleichungsgefühle bedingt. Wie wir unser Wohlsein stark empfinden, wenn wir aus einem schlimmen Zustande heraustreten – das sprichwörtliche Behagen der Genesenden –: so auch wenn wir unsern eignen Zustand mit dem schlimmeren neben uns vergleichen; andrerseits drückt auf den gewöhnlichen Menschen das Glück selbst von Freunden. Daher ein solcher jedesmal bei schrecklichen Begebenheiten sich gehoben findet, u. im Mitleid selbst ihm eine Quelle niedrigster egoistischer Erhebung liegt. Nur Eine Classe von Fällen nehme ich aus, für welche ich selber eine sehr starke Vorliebe habe. Es sind die eigentlich tragischen, wie mich neulich die Münchener Tragödie tief beschäftigte, ja noch in mir nachklingt. Wir erleben täglich, daß elende, das Herz zusammenziehende Affekte, wie Haß, Rachsucht, Geldgier, niedrige Angst vor der Meinung der Menschen in den Tod treiben oder anstacheln zu tödten. Mir aber hebt sich das Herz, wenn ich gewahre

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daß die großen, das Herz erweiternden Affekte, wie die Liebe, das Muttergefühl, stolze Selbstachtung, der Wille, den Seinen nicht zum Leide zu leben, das Leben selbst preisgeben lassen. Schließlich giebt es für ächte Leidenschaft keinen anderen letzten Maßstab für den Zuschauer (die Betheiligten selber bedürfen dessen nicht) als die große Probe der Aufopferung des Lebens selber. Im Krieg wird diese Probe an Werth sehr herabgesetzt, durch Disciplin, äußeren Ehrgeitz, selbst den Wunsch Carrière zu machen; wo aber außer Reihe u. Glied die Leidenschaft diese Probe besteht, hebt sich mein Herz und ich empfinde mit Entzücken, daß diese großen Leidenschaften, auf denen alle Schönheit der Menschenwelt beruht noch irgendwo unbedingte u. Alles niederwerfende Macht haben. Hier finde ich auch den Grund, aus welchem die höchste Darstellung großer Menschennatur, die Tragödie, die Todesprobe bedarf. Als ich neulich die Briefe Ribbecks u. seiner Frau las, schmerzte mich beinahe, daß diese beiden edlen Menschen nicht das muthige Wort fanden gegenüber der Münchener Tragödie, daß sie den Vorurtheilen der gewöhnlichen Menschensorte mehr mir nachzugeben schienen, als ich je vermöchte; oder klingt Dir nicht auch etwas dieser Art aus den Briefen? Grüße Mama von mir tausendmal, alle Abend u. alle Morgen fühle ich neu, wie sie sich für uns aufopfert u. wieviel wir ihr zu vergelten haben werden. Aber wenn der Himmel will, werden wir die Kraft dazu haben; die Liebe haben wir ja ohnehin. Walther viel[en] Dank für seinen Brief 3 u. den Wunsch, daß er in der Mathematik gute Fortschritte mache; auch ich baue fest darauf daß wir ihn recht bald in Breslau haben. Ich lege eine Bresl[auer] Kunst Z[eitung] bei die Dir den Stand des Museums u. Harrachs Übersiedelung zeigen. Und nun möchte ich alle Ränder mit dem Einen beschreiben; denn: ich liebe Dich durch alle 10 Kategorien ja den noch mehreren von Kant; die liebste ist mir die Nothwendigkeit; sie ist die gründlichste. Mir ist alle Tage neu, wie Liebe u. Vertrauen zu Dir ohne Maß mir schon zur süßesten Gewöhnung geworden. Wie rasch gewöhnt sich der Mensch an dies schönste Glück, weil es eben doch sein natürlichster Zustand ist, den nur elende Gewohnheit fast Niemanden zu theil werden läßt. Wenn doch gute Geister Alles was ich so den Tag über zu Dir, zu Deinem Bild rede, fühle zu Dir hinbringen könnten. Gute Nacht, Du lauteres Gold. Nie erwägt man das ganz, was man hat, wenn man mit den Armen, mit dem Munde gute Nacht sagen darf. Inzwischen vergehen die Tage dem Einsamen, der sie, so oft!, zählt u. rechnet, u. wir leben wieder in dem Gegenwärtigen, wie glückliche Kinder, die keine Sehnsucht kennen. Gute Nacht, meine Käthe, möge meine Sehnsucht sich in Deine Träume mischen Dein Wilhelm

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Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 g. 1 2 3

Das Datum wurde nachträglich von der Hand Katharina Püttmanns ergänzt. Nicht überliefert. Nicht überliefert.

[443] Dilthey an Katharina Püttmann Breslau d[en] 15. 1. [18]741 Wie soll ich Dir ganz danken, geliebte Käthe meiniges, daß Du Dich zu einer so guten Lebensordnung entschlossen hast. Das mußte so kommen, daß Du empfandest an Deiner Gesundheit hange nicht Dein eigenes Glück nur sondern das eines anderen Menschen, dem Du dadurch verantwortlich seist, solltest Du wirklich Deine Gesundheit wiedererlangen durch zweckmäßige Lebensweise. Das geschabte rohe Fleisch ist vorzüglich; der Mangel an Appetit Mittags beweist aber daß Dein Magen fortfährt zu rebelliren. Denn es ist gar nicht richtig daß Deiner Natur wenige kräftige Nahrung genüge. Du bist wie alle geistige sehr erregbare Naturen auf ein gutes Quantum Fleischnahrung angewiesen, u. eher werden Deine Nerven, u. entsprechend Deine Lunge nicht gänzlich gesunden, bis eine längere Zeit sehr guter Ernährung, ohne jeden Zwischenfall, verlaufen ist. Ich bitte Dich einmal die nächsten Tage nach dem Aufstehn ein Pulver Natron bicarbonicum zu nehmen, was vielleicht genügt Deinem Magen in Verbindung mit Diät u. frischer Luft etwas nachzuhelfen. Guter Appetit zu Tisch auch nach dem Frühstück muß jetzt wiedererreicht werden. Gehe doch vor Tisch, statt nach Tisch spatzieren, bitte! Aber wie schön ist von Dir daß Du um 10 Uhr zu Bett gehst; gerade die gänzliche Regelmäßigkeit hierin ist Dir außerordentlich nützlich u. ich will auch gewiß wenn ich zurückkomme vernünftig sein u. früher weggehn des Abends. Fahre ja fort Dir jede Abendgesellschaft zu versagen, dagegen bei irgend leidl[ichem] Wetter täglich mit dem Respirator u. ganz verpackt Mittags spatzieren zu gehen. Jetzt kommt Alles darauf an, daß Du nicht Dich für gesund hältst, sondern begreifst daß jede Unregelmäßigkeit Dir einen Rückfall bringen kann, u. nur die ruhigste Regularität die große nervöse Reizbarkeit u. Afficirbarkeit Deiner Lungen ganz allmälich beseitigen kann. Der Leberthran steht in meinen Gedanken immer noch nach der Moosthékur im Hintergrund, nach Allem was die besonnensten u. unterrichtetsten Leute mir aus gründlicher Erfahrung über seine wunderbaren Wirkungen sagen.

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Was Du von mir in Bezug auf m[eine] Gesundheit wünschst halte ich sofort treulich. Du bist meine Herrin. Und schon etwas zu thun was Du wünschest macht mir Freude. Gestern der Wirrwarr war wenig geeignet mir in meinen Schnupfenzuständen aufzuhelfen. Ach könnte ich doch auch Dämmerstunde feiern! Es wäre hübsch wenn dann unsere Gedanken, unsere Träume, unsere Sehnsucht einander begegneten in derselben Stunde. U. die Reisepläne! Ach die schönen angenehme Reiseträumereien! An sich, wenn ein rechtzeitiger Termin unserer Verbindung ohne die theure Mama zu überlasten erreichbar wäre, würde ich unbedingt u. mit höchster Begeisterung für die Idee sein, uns in Berlin gründlich in 2 Pelzsäcke einzuwickeln u. in behaglichen Routen in Rom zu erscheinen, dann diese wunderbare Herrlichkeit in voller Ruhe, ohne alle Hast, auf uns dort herabblicken zu lassen. Diese Wochen allein würden durch die höchste Harmonie erhabener innerer u. äußerer Lebensschönheit ein Leben gewöhnlicher Menschen aufwiegen. Allzu anstrengend wäre bei vernünftigem Arrangement, bei höchster Sorge, daß Du gleich jedesmal in gleichmäßige warme Ruhe kämest u. im Waggon gründlich verpackt wärest u. in ihm von mir gefüttert würdest, die Reise nicht. Dort träfen wir allen Zauber des Frühlings. Und wir brauchten auch erst etwa den 12ten – 14ten Mai zurücksein, ich finge eine Woche später an. Du empfingest dann wirklich ganz ruhig u. ohne jede Übereilung den Eindruck des höchsten, das in der ganzen Welt von Kunst geübt. Aber hierüber entscheidet allein ob Mama bequem fertig würde. Ich denke mir daß ja der Termin unserer Verbindung mit dem des Abschlusses der Ausstattung gar nichts zu thun hat. Wenn wir erst den 12ten – 14ten Mai zurückkehren, hat Mama für diese eine lange ruhige Zeit. Hier räth mir Alles zu einer Hochzeit außer dem Hause, u. gerade wenn unsere Verwandten mit Behagen genossen u. wo möglich Mama v[on] Biebrich bei Euch einquartirt werden soll, ist nur unter dieser Bedingung für Mama die erforderliche Ruhe erreichbar; in Eurem eigenen Hause wird dann das ruhige Einander-Genießen durch den vorüberrauschenden Lärm der Hochzeit gar nicht gestört, wir bleiben nach der Hochzeit noch einige ruhige Tage beisammen, zögen dann, wärmesuchenden Zugvögeln vergleichbar, nach dem sonnigen frühlingsdurchwehten Süden. Für Umzug, Abschluß der Ausstattung, Einrichtung lägen dann danach 6–7 Wochen vor Mama, u. wie Vieles von der Ausstattung kann behaglich nachkommen u. wird dann von uns nur mit umso so größerem Jubel empfangen. Auf diese Weise, wenn Mama in ihrer Häuslichkeit gar nicht gestört würde u. die Ausstattung nach der Hochzeit ruhig fortginge, wir ab[er] erst den 12–14 Mai zurückkehrten: würde der Termin der Hochzeit selber verhältnißmäßig für Mamas Anstrengung ganz gleichgültig sein, da diese so wie so in nicht über-

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triebenem Tempo bis Mitte Mai sich vertheilten. Mit den Vorlesungen läßt es sich diesmal bequem so einrichten. Die Vorlesung, die ich nun lese: Psychologie u. mit ihr verbunden Pädagogik hat ihr ganz sicheres Publikum, das durch einen späteren Anfang bei rechtzeitiger Ankündigung gar nicht gemindert wird; daß ich eine Woche später beginne nimmt mir gar Niemand übel, sondern jeder findet es vernünftig u. beneidenswerth; Mama geht dann erst mit guter Jahreszeit zur Einrichtung nach Breslau, u. wir, meine, meine Käthe, verleben sechs Wochen wie kein Traum sie erhabener auszusinnen vermöchte. Unser Logis in Rom ließen wir voraus von Hermann miethen. Die Mittage verlebten wir in den vom Frühling strahlenden Villen u. Gärten um Rom u. dort schwände sicher der letzte Rest Deines Leidens. Erweist sich dies als unausführbar (was wir Mamas Erwägungen überlassen müssen): dann gebe ich Mamas Plan ganz recht, nach der Hochzeit ruhig mit den Unsrigen noch einige Zeit in Berlin zu bleiben. Aber freilich, wie anders ist der andere Plan! Wenn ich an die Augen denke,2 welche die goldene Käthe in Rom machen wird, vor den Stanzen des Raphael u. vor Michelangelo, vor den Resten des Alterthums, wann wir in den Gärten lustwandeln u. dazwischen in den Gartenhäusern Antiken anschauen: liebe Käthe, wenn man so was haben kann, soll man mit beiden Händen das Glück erfassen, das in solcher unsäglichen Schönheit u. Fülle selten Menschen zufällt. Nun wollte ich Dir entschieden heute eigentlich über die Unabhängigkeit des Lebens u. deiner Gefühle hierüber schreiben, ich bin ohne es zu wollen in die Bilder der italien[ischen] Reise tief hineingerathen. Das Thema ist mir indeß zu heilig, ich habe zu viel über Dich u. mich in Bezug auf dasselbe nachgedacht, als daß ich so am Schluß und flüchtig darüber zu schreiben vermöchte. Inzwischen, bis ich Dir meine ganze Ansicht schreibe, weißt Du ja, daß ich gänzlich frei bin von jedem egoistischen Wunsch, Dein Leben irgendwie in den Dienst des meinen stellen zu wollen u. nicht vermag Dich anders als in völliger Unabhängigkeit u. freiester Entwicklung Deiner höchsten Kräfte zu denken. Du weißt andrerseits von meiner gründlichen Überzeugung u. wirst nicht anders können als sie theilen, daß es für die Frau schlechterdings keine andere freie und volle Entwicklung ihrer Kräfte giebt als in der Ehe, mit einem Manne natürlich der sie hoch und heilig hält: die Liebe allein lehrt das Geheimniß der Charakterentwicklung u. des Glückes verstehen; sie allein giebt die reife und tiefe Befriedigung, welche zu den höchsten Leistungen befähigt; kein einsames Mädchen entgeht einer Art von Verstimmung u. innerer Verkrüppelung. Glaube, glaube, Du unsäglich geliebte Käthe, daß durch Dein Glück u. Deine höchste Entwicklung meine ganze Existenz bedingt ist. Ohne diese giebt es für mich kein Glück, ja keine Möglichkeit das Leben zu ertragen. Wenn Du nun Dich durch die Ehe die Frauen herabgezogen u. un-

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selbständig gemacht siehst, so empfinde ich das Entwürdigende darin so hart als Du es je empfinden kannst. Es ist nicht meine gränzenlose Liebe allein, es ist meine ganze Art zu denken, welche mich ohne jeden Anspruch streben läßt Dein Glück u. Deine höchste Entwicklung zu verwirklichen. Ich kenne die Menschen gut genug, um zu wissen, daß eine solche Gesinnung, als nicht blos vorübergehende leidenschaftliche Liebe, sondern tiefe ein Leben durchdringende Denkweise u. Empfindungsweise, sehr selten ist u. daher eigentlich von gewöhnlichen Menschen schwer anerkannt wird: sie merken nur wie in ihnen selber der Egoismus stets sehr bald wieder obenauf ist. Aber ich kenne mich selber genau genug, um für diese meine künftige Handlungeweise einstehen zu können mit derselben Sicherheit mit der ich einmal meinen Tod erwarte. Ich kann Dir gegenüber gar nie anders handeln als so. Aber dies vermöchte ich Dir doch nur ganz deutlich zu machen, wenn ich Dir gründlicher mein inneres Leben u. meine Denkweise in dieser Beziehung ein ander Mal auseinandersetzte. Verzeih also die abgerissenen Worte. U. laß mich ihnen nur das Eine, Alte immer Neue hinzufügen: meine Käthe, ich lebe nur noch in Dir; es ist mein Schicksal u. mein Glück, der Inbegriff meines ganzen Daseins, daß ich nun an Dich gebunden bin als ob durch physische Ursachen der letzte Schlag Deines Herzens auch der letzte Augenblick meines Lebens wäre. Ich lebe beständig in dieser wunderbaren Empfindung. Tausend Grüße an Mama, der ich beständig auf ihren Wanderungen mit den dankbarsten Empfindungen des treusten Sohnes folge. U. Walther. Ach daß ich nun nur Eine, Eine Minute bei Dir sein könnte, eine gränzenlose Sehnsucht ist in mir, in Deine Augen zu schauen, Dich zu umarmen. Dein Wilhelm. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45. 1 2

Nachträgliche Datierung von der Hand der Empfängerin. Im Original: „denken“.

[444] Dilthey an Katharina Püttmann Breslau d[en] 16. 1. [18]741 Wie hat mich, meine geliebte Käthe, Dein Brief 2 erheitert, bewegt, gerührt. Ich hatte dem Briefträger für die 3 Tage ein kleines Trinkgeld gegeben, damit er die Briefe früher brächte, u. so lag ich noch im Bette, es war noch dunkel

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u. ich sann gerade über die Vorlesung nach, was ich Winters, wenn es spät warm wird, gern nach dem Aufwachen im Bette thue, als er kam. Ich las ihn viele Male u. mußte mich sehr zusammennehmen, nicht gleich zu antworten, sondern meine Vorlesung gründlich zu überlegen. Du hast also den Dir natürlichen Edelmuth wieder aufgefunden, Du Unband, willst Dich nicht weiter rächen, sondern nur noch kurze Zeit meine Mappe zurückbehalten. Wie gut wird sie mir thun in den letzten Tagen unserer diesmaligen Trennung, doppelt gut da nun eben wieder Deine Hände damit beschäftigt waren. – Und noch edelmüthiger finde ich Deinen Vorsatz mir künftig durch sehr ernste Mienen die Menschen vom Leibe zu halten. Wirklich bin ich immer fort geplagt, da ich selber doch mich um keinen Menschen kümmere. – Da war eben wieder einer meiner Lieblingsschüler da, ein eminenter Mathematiker, der auf Grund meiner Theorie der Raumanschauung nun seine erste philos[ophische] Arbeit macht. Das ist immer eine mir angenehme Störung. In wenigen Jahren werde ich eine wirkliche philos[ophische] Schule um mich gesammelt haben, die im Sinne meiner fundamentalen Theorien Untersuchungen macht. Du begreifst welche ungemeine Erweiterung d[er] persönlichen Existenz darin liegt, wenn Aufgaben, die aus festgestellten Einsichten entspringen u. die man doch nicht selbst alle bewältigen kann, von Schülern behandelt werden. – Aber sonst gehts jetzt mit Störungen endlos – Gestern 2 Professoren bei mir gesessen, dann Abends kam Scholz, der neulich einem hieß[igen] Musikreferenten auf die Finger geklopft hatte, welcher sich dann jetzt durch einen Angriff auf die Texte von Bruchstücken seiner neuen Oper, die im neul[ichen] Concert gesungen, rächt. Diese sind im Ganzen nach Tieck.3 Nun meinte er, ich solle für Tieck u. ihn eintreten, u. begriff es doch nicht ganz, daß gerade wohl ich die Autorität dazu hätte, den Recensenten hier in Breslau gänzlich zu discreditiren, dies durchaus unter meiner Stellung sei. – Von Erd[mannsdörffer] nichts Neues, ich wollte nur, Du hättest Recht, aber ich fürchte, fürchte, die Regierung wird’s zu theuer finden. Neumann hat einen sehr schneidigen Brief geschrieben. Rogge[nbach] hat vor diesem eine solche Ehrfurcht, daß er gewiß das Mögliche thun wird. Nächstens eine Photogr[aphie] von Neumann. Er läßt Dich schön grüßen, hatte keine mehr, es wird sich aber doch machen lassen. Deine Worte über Elster tönen heute den ganzen Tag in mir nach, mischen sich mit dem Sonnenschein der herannahenden Frühling anzukündigen scheint. Und immer tiefer fühle ich, welche Wochen wir im Frühling Italiens in seinen Gärten u. Villen verleben könnten. Wie der Waldeszauber von Elster ewig in unsere Erinnerung die erste Geschichte unserer Liebe eingeht: so möchte ich die majestätische Schönheit des römischen Frühlings zum

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Schauplatz der ersten Zeit, in der wir alle Ideen, alle Gefühle, alle Anschauungen vom Morgen bis zum Abend theilen dürfen, machen. Es sind nicht diese Wochen allein, die ich mit diesem Glanz erfüllen möchte, ich möchte die ganze Erinnerung dieser Zeit die Ruinen u. die ersten im Frühling blühenden Büsche der Gärten von Rom zum Hintergrund geben. Eine solche Erinnerung muß von unermeßlichem Werth sein. Nun heißt es corrigiren dann zu den Prüfungen gehn, wo ich zugleich mir die Vorlesung für Morgen in den Pausen überlege. Verzeih also die zerstreute Stimmung dieser Zeilen. Abgesehen von der Stunde in der ich Deine Worte empfing, sieht’s heute wie ein verlorener Tag aus, an dem die Arbeit nicht weiterrückt, und ich gar nicht verdiene, Dir zu sagen, wie ich Dein eigen bin. Liebe mich nur heut u. morgen nicht weniger, meine goldene Käthe, weil aus dem Chaos m[einer] Geschäfte nur verworrene Stimmen Dir meine Liebe aussprechen. Gerade dann mußt Du ja fühlen, wie anders mir wäre, könnte ich Eine Viertelstunde meinen Kopf an Dich anlehnen, mein unaussprechliches Glück in lebendiger Gegenwart fühlen u. dann wieder heiter in das Wirrsal zurückkehren. Tausend Grüße an Mama u. Walther. Mein Herz ist allezeit bei Dir. Dein Wilhelm Strenge Dich ja nicht zu sehr durch Briefschr[eiben] an, ich erwarte nun ein paar Tage hindurch nur Liebeszettel. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45. 1

Nachträgliche Datierung von der Hand der Empfängerin. Nicht überliefert. 3 B. Scholz hatte seine Oper Golo gerade abgeschlossen, deren Text auf L. Tiecks Trauerspiel Leben und Tod der heiligen Genoveva basierte. 2

[445] Dilthey an Katharina Püttmann Breslau d[en] 21. Januar [18]741 Du liebe goldene Käthe, Ich nehme Deine Verordnungen in Demuth hin in so weit Collegien u. eine ganze Last von Geschäften möglich machen will ich mich bis zur Abreise pflegen u. hüten: leider, denke Dir, werde ich wohl Sonnabend auch noch hier bleiben müssen, da Sitzungen sein sollen. Walther auch erkältet, hier

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hört man nur niesen u. husten, und sieht dicke Backen u. rothe Nasen. Um so verklärter stehst Du im Lichte einer Märtyrerin der Gesundheit. Ich weiß ja nur zu gut daß Du um Deinetwillen nie so viel Vorsicht beobachtet, so viel entbehrt u. kleinen Quälereien Dich unterworfen haben würdest, und ich muß mir wohl eine ganz besondere Art von Dank ersinnen, mit der ich Dir Sonntag entgegenkomme, Dir zu sagen wie ich auch darin Deine Liebe zu mir empfinde. Wolle nur keine Stunde Dich als Gesunde betrachten; ehe nicht Monate vorüber seitdem Du zum letzten Male gehustet hast, bist Du es nicht. Nur indem Du die bisherigen Einschränkungen Dir weiter auferlegest, sicherst Du das Erworbene. Verzeih dem ‚grimmen Wächter‘,2 er will Dir auch keine Gelegenheit mehr geben ihn selbst zu schelten. – Für das Amulet tausend Dank; daß ich aber das große von Deinen kunstvollen Händen angefertigte Zaubermittel entbehren muß, ist eine andauernde Tücke – des Schicksals. – An Erdmann[sdörffer] will ich bestellen; sie ist leider nicht gescheid genug, um ihn zu verstehen, sonst wüßte ich für sie keinen besseren Mann als den edlen E[rdmannsdörffer], der nie in einer Frau einen Zierrath u. die Trägerin bequemer häuslicher Existenz sehen würde, (obwol er in dieser Beziehung wol gute Gesinnung, aber keine spontane Energie der Überzeugung vielleicht haben würde), und nie mit Wissen sie einen Schmerz leiden ließe, wenn er’s hindern könnte. Der gute E[rdmansdörffer]! Ich kann Dir nicht sagen wie nahe mir geht ihn zu verlieren.3 Es giebt so wenig tüchtige in einem bedeutenden Wirkungskreis männlich thätige Menschen, die zugleich ganz gut u. ohne Falsch sind. Auch Neumann verliert ihn schwer, so kurz er ihn kannte. Und nun wird Neumann bald wieder ganz vereinsamen; dann der letzte unserer Tafelrunde, Brentano schickte mir gestern plötzlich einen Boten nachdem er sich seit 6 Tagen gänzlich vor unsren Augen verborgen hatte, mit der Nachricht daß er sich mit Fräulein Erbreich, einer Schwägerin Molinaris verlobt hat. Ich habe Dir von ihr erzählt, daß sie bei Preller4 ein halbes Jahr gemalt hat. Übrigens ist sie sehr schön, gescheidt, wie sehr weiß ich nicht, da ich sie nur einmal sprach, mir ein wenig große Dame, was eine sehr leidige Folge des großen Aufwandes ist den die Familie zu machen gewöhnt ist. Im Ganzen wird sie Dir gewiß sehr gut gefallen und die Malerei – sie soll sehr schöne Copien in Oel jetzt machen, ob eigene Compositionen weiß ich nicht – wird Dir für sie Interesse geben. Mit Ribbecks Briefen hast Du vielleicht ganz Recht, oder wahrscheinlich, oder gewiß? Ich meinte eine Stelle, wo von ‚eingetrübtem Gedächtniß‘ die Rede war, an deren Stelle ich ganz anders mich ausgesprochen haben würde, wie ich glaube. Aber Deine so richtige Empfindung, wie anders ein Zusch[auer] etc, war mir auch gegenwärtig, ward nur durch einen Zufall nicht zugefügt u. ist wol entscheidend. Ich kann Dir nicht sagen, wie mich erfreut,

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daß diese herrlichen Menschen Dich so sehr anziehn. Meine liebe Käthe, welche Freude an Menschen wollen wir zusammen haben, wenn Du nun beginnst bedeutende Menschen aller Sorten kennen zu lernen. Eigentlich bist Du nemlich sehr menschen-gefräßig, wenn nämlich die Menschen es verlohnen u. die großen freudigen Augen, die Du machst, wenn so was recht Ordentliches aus den Menschen herauskommt haben mich sehr erfreut. Deine prachtvolle Natur bedarf überhaupt sehr viel Material, Menschen, Ideen, Anschauungen. Aber sei ruhig, Du sollst nie Hunger leiden. Und nicht nur sehen wirst Du, sondern in Deinem höchsten Interesse, dem Anschauen von Menschen, menschlicher Gestalt, Ausdruck, Erscheinung des Charakters u. Mannigfaltigkeit menschlicher Natur, das in Dir, wie ich immer mehr gewahre, von großer Ursprünglichkeit ist u. Deine ächte künstlerische Begabung ausmacht (im Unterschied von Talenten wie Herr Sch.5 die leicht rasch und frappirend hinstellen, aber doch nicht in die Tiefe schauen u. daher sich nie zum Bedeutenden steigern werden): in diesem, meine liebe Einzige, Eigene, haben wir Ein Studium. Erinnerst Du Dich wie Schiller von zwei Menschen spricht die von verschiedenen Richtungen aus einander treffen etc. In anderem Sinne können wir sagen: wir schöpfen aus verschiedenen Betrachtungsarten welche aber dasselbe Eine höchste Objekt, Menschennatur u. geschichtliche Welt, betreffen u. so werden wir uns auch intellektuell jeden Tag neu sein, einander unendlich viel zu sagen, Alles zu theilen haben. Es ist ein wunderbares Verhältniß, meine geliebte, geliebte Braut u. ich kann es nie überdenken, ohne mit einem heiligen Schauer in einen vorsehungsvollen Zusammenhang des Lebens hinzublicken. Ein paar Jahre jünger möchte ich sein; im Übrigen habe ich nie in meinem Leben die Bedingungen einer idealischen Ehe so verbunden gesehen. Ich könnte weiter und immer weiter schreiben; so laut zu Dir hinüber zu denken ist ja das Einzige was mich beglückt, wann ich Deine Gegenwart entbehre. – Da ist denn der Graf York6 über zwei Stunden dagewesen, da ich nicht zu ihm auf sein Gut herausgekommen bin u. wir haben mit Deinen Bildern angefangen u. mit der Willensfreiheit geendigt. Er ist wirklich sehr gescheidt u. hat viel gearbeitet (dabei eine der schönsten Kupferstichsammlungen); er u. seine Frau7 werden Dir sehr werth u. lieb werden. Adieu Du liebe Käthe, der Brief muß fort. T[au]s[end] Grüße an Mama u Walther. Ich umarme Dich, liebe Dich unsäglich u. bin ganz Dein Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45.

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Nachträgliche Datierung von der Hand der Empfängerin. Vermutlich eine Anspielung auf J. Kreusers Gedicht Der schwerste Kampf (1838). 3 B. Erdmannsdörffer, der erst seit 1873 in Breslau tätig war, ging 1874 als Nachfolger H. Treitschkes nach Heidelberg. 4 Friedrich Preller der Ältere (1804–1878): Maler; seit 1832 Prof. an der Fürstlichen freien Zeichenschule in Weimar. 5 Nicht nachweisbar. 6 Graf Paul Yorck von Wartenburg (1835–1897): Jurist, Gutsherr, Philosoph und Privatgelehrter; 1855 Studium der Rechtswissenschaften in Bonn und Breslau, 1858 Examen zum Gerichtsreferendar, 1866 Prüfung für den Dienst in höheren Staatsämtern, seit 1865 Verwaltung des Familiengutes Klein-Oels bei Breslau und Mitglied des preuß. Herrenhauses, seit 1869 Mitglied der Provinzsynode und seit 1875 auch der Generalsynode. – Yorck stand bis zu dessen Tod in intensivem Gedankenaustausch mit seinem philosophischen Lehrer Ch.J. Braniß und seit 1872/73 mit D., der 1871 Braniß’ Breslauer Lehrstuhl übernommen hatte. 7 Gräfin Luise Yorck von Wartenburg, geb. von Wildenbruch (1838–1918). 2

[446] Dilthey an Katharina Püttmann [Ende Januar 1874] .|.|. Gestern Abend, wie ich im Einschlafen war, kam ein Telegramm Karls,1 der sofort in Sachen des dortigen Philosophen einige Notizen wünscht. Dann ist heute an Herrn von Noordten, den wir zu Erdmanns[dörffers] Nachfolger wollen,2 ein Brief zu schreiben, der ihm die Verhältnisse darlegt. Dazwischen lese ich heute Düntzers Übersicht über Goethes erstes Weimarer Jahrzehnt,3 die mir viel zu denken giebt. Für meine eigene Arbeit bin ich heute nicht zu brauchen, was sehr schade ist. Und was mir sonst eben im Kopf liegt, (da die Grundideen des Sommerkollegs jetzt zuweilen in mir wirtschaften) mir die Hauptabänderungen in den Unterrichtssystemen Europas in ihrer Bedingtheit durch die jedesmalige Kultur und ihre Rückwirkung auf dieselbe klarzumachen: kann ich nicht recht zustande bringen, da mir als am Sonntag einige Bücher unzugänglich sind. Inzwischen habe ich zu meinen Ideen hierüber Zutrauen; hier ist eine Lücke in der bisherigen Geschichtschreibung, die ich auszufüllen Hoffnung habe. Überhaupt wie ich zu meinen Arbeiten zurückkehre, gewahre ich, wie ich mich meinen großen Zielen von den verschiedensten Seiten nähere. Original: nicht überliefert; ein Typoskript des Brief-Fragments ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 i; darunter von der Hand C. Mischs: „Wilhelm Dilthey an seine Braut, 18. Januar 1874 (nach Verlobung), kopiert Oktober 1962, Clara Misch“.

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Nicht überliefert. K. von Noorden blieb o. Prof. für Geschichte in Tübingen. 3 Heinrich Düntzer (1813–1901): Philologe und Literarhistoriker. – Goethe und Karl August während der ersten 15 Jahre ihrer Verbindung. Leipzig 1861. 2

[447] Dilthey an Katharina Püttmann [Ende Januar 1874] Später. gegen Mittag wieder ein junger Doktor dagewesen, der nun auch eine größere philosophische Arbeit unter m[einer] Leitung machen will. Geht dies so fort: dann habe ich in wenigen Jahren hier eine wissenschaftliche Schule wie kein anderer Philosoph in Deutschland. U. nun gar wenn ich nach Leipzig komme! Stobbe hat mir sagen lassen, daß ein dortiger Privatdoc[ent], der Gesch[ichte] der Philos[phie] mitvertrat, Ostern nun auch geht. Es wird dort immer dringender. Auch habe ich wieder meine Arbeit vorgenommen, so sauer es mir jetzt wird, wo die rechte Frische u. Sammlung mir ganz abgeht. Aber ich will mit Aufbietung all meiner Kräfte thun was ich kann u. suchen auch die körperliche Verstimmung zu beherrschen. Ist es ja doch für unsere Zukunft. Cohnh[eim] bekommt wahrsch[einlich] e[inen] Ruf nach Wien mit 5–6000 Thalern Gehalt, so krank er ist. Ich schließe, um meinen Spatziergang zu machen u. dann Nachmittags wo möglich bei Molinari-Brentanos e[inen] Besuch zu machen, dann zu m[einer] Arbeit zurückzukehren. Brentanos heirathen im März so bald als möglich dh. als er schließen kann; die Ausstattung u. Alles Äußere überlassen sie ganz der Schwester, Frau Molinari, die jetzt lebhaft dafür thätig ist u. besonders in ihrer Abwesenheit thätig sein wird, denn sie reisen dann gleich nach Süddeutschland; er bringt sie dann seiner Mutter, die sie noch nicht kennt und schwerlich zur Hochzeit kommt, sie gehen nach Heidelberg von da etc. Grüße Mama tausendmal, ich denke stündlich dankbar ihrer Bemühungen für uns u. hoffe ihr einmal vergelten zu können, was ihre Güte jetzt im Interesse unserer Zukunft thut u. von persönlichen Wünschen opfert. [.|.|.] Freust Du Dich recht, wie die Tage vergehen? Genießest die herrliche Frühlingsluft? Ich küsse Dich tausendmal. Dein Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 h.

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[448] Dilthey an Katharina Püttmann [Anfang Februar 1874] Siehst Du, Du liebe, liebe liebe Käthe, es hilft nichts vorher klug zu sein. Wir hatten es so vernünftig besprochen daß nach dem Lauf der Welt das Eintreffen des Briefs auf Deiner Bettdecke eigentlich nicht mit der Sicherheit eines Naturgesetzes oder des Aufgangs der Sonne zu erwarten sei. U. dabei verschwieg ich Dir noch, daß mich nie irgend etwas hindern kann meinen Brief zu schreiben. Nun habe ich mir immer gesagt, daß dienstbare Geister die Wichtigkeit von Liebesbriefen nie gebührend einsehen werden. Ich habe daher jeden Abend selbst meinen Diener gespielt seitdem ich Dir täglich schreibe. Vorgestern u. gestern steckte ich ganz in dem Plan meines zweiten Buchs1 u. gab so die Briefe dem Dienstmädchen. Das kleine thörichte Ding hat dann, zur Feier des Sonntags, den Moment verschwatzt und gesteht, den Brief 2 nicht sogleich in den Kasten geworfen zu haben. Da sie nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung, wie thöricht sie auch sei, schwerlich gestern schon wieder die Zeit verschwatzt hat, sondern es frühestens in den nächsten Tagen gern einmal wieder thun würde: so bist Du nun beruhigt, mit Deinen beiden undatirten Briefen,3 die in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können, Denn in beiden ist nichts gesammelt und vernünftig als meine Liebe zu Dir. Wie sonderbar wieder unsere Gefühle übereinstimmen, bis zum Lächerlichen. Wir haben gestern am selben Tag, wie Dir mein Brief zeigt, uns wieder umeinander abgesorgt. Und auf dem Eis erkältet habe ich mich wirklich: gestern war ich schon nicht da, weil ich den herannahenden Schnupfen fühlte, der heute denn über mich hereingebrochen ist. So habe ich vorläufig diesmal, da ich Sonnabend in der Arbeit steckte, Sonntags man beständig gegen alle Elementarschulen Breslaus anfährt, vom Eis wenig genug gehabt. Ich will aber versuchen, durch das neue von Helmholtz gefundene Mittel gegen den Schnupfen (3 Decigramm Chinin in 50 Gramm Wasser, in die Nase zu schlürfen) so kurz als möglich ihn zu absolviren. Für Waltherchen ist mir (entre nous) wieder in neues kleines Buch eingefallen; ich kann Dir nicht sagen welche Freude es mir machen wird, unmerklich ihn zu einer kraftvollen und nachhaltigen Behandlung seines Lebens zu leiten. Ich habe etwas im Sinn, ihm die Zeit bis zum Herbst seine Griechen u. Römer wirklich näher u. nützlicher für seine Lebensaufgabe zu machen. Ich kann Dir nicht sagen wie lieb mir der Gedanke ist, Mama, deren tägliche Sorge u. Liebe für uns, ihre Anstrengungen die sie sich in unserem Interesse auferlegt, ich vom Aufstehn bis zum Schlafengehn lebhaft fühle u. in tiefster

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Seele danke, in Bezug auf Walthers tüchtiges Fortschreiten nützlich sein zu können in den nächsten Jahren. Wir wollen aus unserm Jungen etwas ganz Vorzügliches machen. Nicht wahr, Du Goldene? Mama sende ich hier ein Mittel gegen ihre Migräne. Es ist ein unschädlicher Pflanzenstoff. Ebstein kann nicht versprechen daß es helfen werde, da er Mama nicht gesehen, aber in vielen Fällen, wenn Ein Pulver bei der ersten Vorempfindung der Migräne genommen werde coupire es dieselbe. Es muß aber in einer sehr guten Apotheke gemacht werden. Sei nur mit Deiner Gesundheit so sorglich als irgend gedenkbar bei dem kalten Wetter, gerade weil es Dir so gut geht. Keine Abendgesellschaft, kein Ausgehn Mittags stets nur mit Respirator, tägliches Beafsteak (schreibe mir doch, ob dasselbe ordnungsmäßig täglich genommen wird?): diese einfachen Maßregeln werden Dich, zusammenwirkend mit dem Thé, gänzlich gesund machen. Wirst Du es nicht, so mußt Du zur Strafe, sobald die Thékur vorüber, Leberthran mit Eisen nehmen. Du siehst, die Angst vor dem gänzlichen Verlust Deiner Selbständigkeit, die ich in Dir durchschaute, ist gar nicht ungegründet. Indem ich davon noch was sagen möchte, von Deiner halb unbewußten Befürchtung, durch „die Ehe möchte Dich doch in Deinen höheren freieren Bestrebungen verlieren“, drängt sich mir durch Verknüpfung der Ideen auf was ich Dir schon gestern schreiben wollte, denke! Ich habe ausgerechnet daß ich 7 Wochen diesmal Osterferien habe, ich kann den 14ten vielleicht aber schon den 7ten März schließen, u. ich beginne erst den 5ten oder 6ten Mai. Was sagst Du dazu, du Goldene! Allerdings fällt mit dieser Sachlage die Möglichkeit zwischen dem 6ten Mai u. dem letzten Juli noch einmal irgend welche erhebliche Ferien zu machen gänzlich zusammen. Pfingsten können wir eben nur 3. 4 Tage in’s Gebirg. Aber die Möglichkeit einer wundervollen Hochzeitsreise thut sich auf. Könnten wir zu Mama’s Verlobungstag, den 20. März, in unserer lieben Kirche nebeneinanderstehen, so wäre als dann noch Zeit zu einer – italienischen Reise. Das heißt, ich würde mich darauf beschränken, Dir Rom zu zeigen, wie noch wenige Frauen es gesehn haben sollen, auch Hermann käme dann auf dem Rückweg von Neapel u. Pompeji ein paar Tage dorthin zu uns, oder wir zu ihm in die wunderbaren dann vom höchsten Zauber des Frühlings übergossenen Meeresufer u. die verfallenen Einsamkeiten von Pompeji, auf die der Vesuv herabblickt. Oder wollen wir dies nicht, und wollen lieber die ersten Wochen unter weniger Alles in uns mächtig bewegenden Eindrücken leben: so möchte ich ernsthaft daran denken, ob nicht in Dresden ein Maler geeignet wäre, Dich in die Technik der Farben gründlich über einen Monat hindurch einzuführen, in Verbindung mit dem genauen Studium der dortigen Meisterwerke. Du würdest dann dort irgend ein großes Muster der venetianischen Schule copiren. Ich aber finde ja

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dort von Büchern was ich will u. hilfreiche angenehme Bibliothekare u. schriebe dann dort, in dem herrlichsten Zustand den ein Mensch ersinnen kann, einige der Hauptcapitel meines Buchs, Du kannst denken wie schön u. mit welchem Glanz heiteren Anschauens in der Darstellung. Wir nähmen dann eine Privatwohnung, so sonnig u. schön gelegen als möglich, die besorgte mein Vetter Winckel. Privatwohnungen sind in Dresden in Fülle, u. schon wenn man 14 Tage da ist thut man das. Oder wir träfen mit dem vorzüglich gelegenen Hôtel Weber eine Verabredung. Durch meine Bekanntschaft mit Hettner4 u. auch dem eben hinberufenen höchst liebenswürdigen Roßmann,5 der Chef des Museums wird, könnten wir auch für die Museen u. Deine Arbeit darin jeden Vortheil erreichen, den Du Dir wünschen kannst. Alle würden sich beeifern, uns diese Wochen auch äußerlich so angenehm als möglich zu machen. Und Mama käme dann auf der Hinreise nach Breslau oder der Rückreise von dort auch ein paar Tage zu uns, auch Walther einmal in seinen Ferien. Dies Alles hätte dann eine häuslich behagliche Gestalt, machte sich mit geringen Kosten und wir beide thäten einen ordentlichen Ruck in unseren Leistungen. Hätten dann nachher Geld, u. hätten vorgearbeitet, im Herbst die Schweitz oder Italien gehörig zu genießen. Unsere Schweitzerreise könnte etwa im Herbst den wunderbaren Weg über den Splügen6 nehmen, abwärts nach Italien, nach Chiavenna den schönsten Weg der Welt beinahe aus schauerlichen Felsenmassen in italienische Gelände hinab, dann über die Seen nach Mailand Venedig u. wonach sonst unser Herz begehrte. Du sähest dann Italienische Kunst schon mit größerem Vortheil, nachdem Du in Dresden Dich in die Geheimnisse der Farbe eingelebt hättest. Ich aber hätte in Dresden u. dann in Breslau ein ordentliches Stück meiner Arbeit schon hinter mir. Überlege Dir nun diese beiden Pläne. Wenn Dresden Dir einleuchtet, als das für den Gang Deiner Ausbildung Zweckmäßigere, auch vielleicht das mehr Geeignete, in gesammelter Stille uns aneinander zu erfreuen (und in dieser Beziehung scheint es mir jedenfalls Wien vorzuziehen), wenn nicht der Reiz Italiens den Sieg davonträgt, was ich durchaus nicht bedauern würde: so würde ich an Hettner u. an Winckel bald möglichst schreiben, ob dort ein Maler sich zu einer solchen Aufgabe vorfände. Freilich wenn ich die Möglichkeit erwäge mit Dir stracks nach Italien zu fahren (von München nach Verona sind 24 Stunden Eisenbahn über den Brenner): so hat dies eine ganz ungeheure Anziehungskraft. Und könnten wir Mitte März abfahren, so wäre ich unbedingt dafür. Erwäge in Deiner lieben Seele. Wir wollen in dies Jahr die Fülle von Arbeit und Lebensgenuß ausschütten. Ich bin nach Kräften fleißig, Alles so einzurichten daß wir nachher freie Bahn haben. Ist es nicht schön, 2 Monate frei, 3 Monate Vorles[ung], dann wieder 3 Monate völlige Freiheit?

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Nun ists aber für heute zu spät geworden, Dir noch etwas über das Innere zu schreiben, so sehr ich es wünschte, denn ich muß mich zu meiner Arbeit wenden, die heute ohnehin etwas langsam ablaufen wird, da mir der Kopf eingenommen ist. Dazu trinken vielleicht Scholzens heut Nachmittag bei mir Café. Auch Erdmann[sdöffer] kommt wahrscheinlich nach seinem Colleg. Das Gehen wird ihm doch unglaublich sauer: heute oder morgen erwartet er die Propositionen Falcks, ev[entuell] können sie ihm seine 2400 r. hier auch geben: so ist doch noch sehr möglich daß er bleibt. Er jammert nur schließlich immer, ich liefe ihm binnen 2 Jahren doch ohne alle Frage fort u. überließe ihn dann hier seinem Schicksal. U. wir streiten dann: ich sage: es ist sehr möglich. Er: es ist gewiß. Dies Thema behandeln wir dann in immer neuen Variationen. Wenn Du doch dabei säßest! Ja wie kann ich Dich überhaupt die Tage über entbehren, da ich doch Alles was ich denke, beobachte, an Dich als mein wahres zweites Ich in Gedanken richte. Die furchtbaren Tage die ich während Mama’s Reise verlebte, jetzt wieder Deine Angst lassen mich lebhaft daran denken, was wir ausstehen würden, wenn während dieser Zeit in der wir noch getrennt sind eins von uns krank würde. Gewiß wollen wir, wenn ich komme, bei Lebolds,7 Cohns,8 Müllers,9 wo Du willst sein, aber ich bitte Dich, sei vorsichtig, damit nicht noch mehr über uns komme. Alle diese berühren uns doch nicht in unserem Innersten u. haben keinen Zutritt zu den Ideen u. Lebensaufgaben, zu dem tiefsinnigen Glück, zu welchem uns unser freundliches Schicksal zusammengeführt hat. Wenn ich das Glück überschlage, dem mit der Gunst des Himmels wir entgegen gehen: so möchte ich, wie von dem griechischen Tyrannen erzählt wird, etwas Kostbares den Göttern opfern, ihren Neid zu versöhnen. Ich lese bei Göthe, als den Ertrag seiner Lebenserfahrung: ‚auf diesem beweglichen Erdball ist doch nur in der wahren Liebe, der Wohlthätigkeit u. den Wissenschaften die einzige Freude und Ruhe‘.10 Die Sonne scheint, und ich sehe Dich um unsere Kirche wandeln, gedankenvoll und doch heiter: liebe Käthe, wie dumpf u. arm ist der Kreis in dem die meisten Menschen sich tummeln, bis sie müde geworden u. ertraglos, ruhmlos, ohne inneren Frieden Alles endet! Laß uns mit freier Seele genießen, was die schöne Gunst des Himmels uns gewährt. Ich schließe Dich in meine Arme, Du mein liebes, mir schon wie aus ältester Kinderzeit angewohntes, vertrautes Glück, durch das ich nun erst alle Gaben genieße mit denen mich sonst der Himmel hat beschenken wollen. Lebe wohl, meine unbändige, meine melancholische, meine über Alles, Alles in tiefer Verehrung geliebte Käthe. Tausend Grüße an Mama u. Walther. Dein Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 g.

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1 Gemeint ist der Plan der Untersuchungen zur Entwicklung der Philosophie in Europa seit der Renaissance. 2 Nicht überliefert. 3 Nicht überliefert. 4 Hermann Hettner (1821–1882): Literatur- und Kunsthistoriker; 1851 a. o. Prof. in Jena, 1855 o. Prof. an der Akademie der bildenden Künste in Dresden und später auch am dortigen Polytechnikum. 5 Wilhelm Rossmann (1832–1885): Prof. an der königl. Kunstgewerbeschule in Breslau; ab 1874 Vortragender Rat in der Generaldirektion der königl. Sammlungen für Kunst und Wissenschaft in Dresden. 6 Der Splügen-Pass führt von dem schweiz. Ort Rheinwald/Graubünden in die ital. Stadt Chiavenna. 7 Nicht ermittelt. 8 Ferdinand Julius Cohn (1828–1898): Botaniker, Mikrobiologe; 1859 a. o., 1872 o. Prof. für Botanik in Breslau. 9 Nicht eindeutig zu identifizieren; evtl.: Karl Friedrich Wilhelm Müller (1830–1903): klass. Philologe; Honorarprof. für Latinistik in Breslau. 10 Brief Goethes an Charlotte von Stein (6. oder 7. 12. 1781). Goethes Werke, a. a. O., 7 Bd. Weimar 1891, S. 269.

[449] Dilthey an Katharina Püttmann [Anfang Februar 1874] Du gütige und gnadenreiche Käthe, das war heute Morgen eine freudige Überraschung, als mitten in meine Arbeit Deine lieben, lieben Zeilen1 fielen, als der schönste Morgensegen. Habe den innigsten Dank; wenn Du glücklich bist, bin ich ja der glücklichste aller Menschen u. in Gottes weiter Welt könnte Niemand mich so glücklich machen, so über alles Verstehen u. Ahnen, als Du Liebe, Einzige. Ja wer Flügel hätte! Und Du wolltest, wie Melusine2 am Fensterkreutz sitzen, in die Arbeitsstube hineinblicken – erinnerst Du sie, wie sie vom Flug ermattet sich anlehnt? Ich freilich wäre unmäßiger mit meinen Wünschen. Ich habe gestern einen Auszug aus der Biographie gelesen, die Stuart Mill von sich selber verfaßt hat u. für seinen Tod den Engländern als Andenken zurückgelassen u. die nun seit Wochen alle gebildeten Engländer u. Amerikaner beschäftigt.3 – Da ist denn aber Erdmann[sdörffer] gekommen u. nachdem ich den lieben langen Tag Besuch gehabt habe, hat er bis jetzt 7 Uhr bei mir gesessen u. geplaudert, sodaß ich nun nur eilen muß einen Gruß an Dich zur Post zu bringen. Nemlich bei Tisch sprach ich zum ersten Male mit Neumann allein über die Berufung, u. er war ganz genau meiner Meinung. Als ich dies Erd-

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m[annsdörffer] hervorhob, frappirte es ihn doch sehr. So kam er denn, noch einmal Alles durchzusprechen u. ich habe ihm nun [.|.|.] meine Ansicht ausgesprochen. Giebt man ihm von Berlin 2500 Thaler: so würde ihm doch der Entschluß sehr schwer werden, er fühlt sehr genau was er aufgiebt, u. wie ungewiß eine volle Befriedigung in der neuen Lage ist. Dir läßt er vielmals danken u. sagen: mit dem Mittel sei er sehr einverstanden, nur nicht mit dem Zweck unb[edingt]. Ich sagte ihm Du würdest in Umkehrung eines bekannten Wortes wol darauf antworten: wer die Mittel wolle müsse auch den Zweck wollen. Wir haben dann viel, lange u. sehr schön über unsere Arbeiten gesprochen. Dann schließlich haben wir uns in Dein Bild4 vertieft: der Kopf [?] ist wie man ihn weiß sichtlich genug, zugleich scheint das Auge nach links ein klein wenig aufwärts geschoben u. zugleich ein klein wenig zu sehr abstehend. – Also von Mill wollte ich Dir erzählen. Er sagt, von dem Augenblick ab in dem er seine spätere Frau gesehn, wußte er nicht mehr zu unterscheiden was ihm an seinen Werken eigen sei. Er habe in seiner reifen Lebensepoche, die mit seiner Ehe begonnen, nur die großen Anschauungen, zu denen sie ihn begeistert, verstandesmäßig entwickelt. Seine Schrift ‚über die Freiheit‘,5 über der sie ihm starb widmete er ‚dem theuren beweinten Gedächtniß derer, welche‘ u.s.w. ‚Wäre ich fähig der Welt die Hälfte der großen Gedanken u. edlen Empfindungen darzulegen, die in diesem Grabe ruhen: sie empfinge damit eine größere Gabe, als von Allem was ich je zu schreiben vermöchte.‘ Von ihrem Tode datirt sein unermüdlicher Kampf für die selbständige sociale Stellung und Arbeit, ja die politischen Rechte der Frauen, der für ihn eine Art religiöser Kultus wurde: Du weißt daß von England dieser Kampf für die höhere Bildung u. selbständige Arbeit der Frauen dann durch die Kronprinceß Victoria6 zu uns kam. Ist es nicht schön daß die treibende Kraft hierin eine Frau war, die nichts wollte als den glücklich machen den sie liebte? Was er in den wenigen Jahren die er sie überlebte noch schrieb war in seinen Augen nur ein mächtiges philosophisches Denkmal für die Abgeschiedene; zugleich errichtete er in Avignon, wo sie gestorben, ein marmornes Mausoleum wie für eine Königin; auch in seiner Selbstbiographie bemerkt man den Wunsch selber hinter sie zurückzutreten u. auf sie die Unsterblichkeit seiner Werke zu übertragen. Ich kann Dir nicht sagen wie lieb u. nahe mir Mill durch diese Thatsachen u. diese Empfindungsweise geworden ist. Verzeih diesmal die flüchtigen Zeilen, die gar nicht der Deinen werth sind. Und immer noch einmal allen Dank, den Worte nicht aussprechen, für diesen Brief. Die schöne Aussicht, daß Du öfter mich so überraschen willst, ist mir sehr theuer; dagegen daß Du mir täglich zu schreiben den edlen Vorsatz hast, verbünde ich mich mit Mama. Das darfst Du durchaus Deiner Gesund-

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heit nicht zumuthen u. ich darf es nicht annehmen. So entzückend der Gedanke ist, muß ich ihn ablehnen. Ich lebe diese Tage durch u. arbeite nur in der Hoffnung Dich wiederzusehen u. dann in Deinen Augen zu lesen daß ich geliebt bin, Dir alles das Alte, Einzige auszusprechen das Du weißt. Ich will nur inzwischen durch eisernen Fleiß mich der schönen Stunden werth machen, denen ich entgegen hoffe. Und alles was ich sinne u. denke, trage ich freundlich in Gedanken zu Dir wie in ein glückliches Heimwesen, das all meine Besitzthümer einschließt. Deine tiefe Herzensgüte u. Liebe waltet dort. Ich habe eine ideale Idee gehabt, wie ich lieben möchte u. geliebt sein, wie ich leben möchte für ein Menschenkind das werth wäre daß man für es allein lebte – denn wer möchte für sein eigenes armes Ich leben? – ich habe nicht an die Erfüllung dieser höchsten meiner Wünsche geglaubt, von der doch die letzte Verklärung des Charakters u. die höchste Steigerung der Tüchtigkeit ganz abhängt: Du liebe, gute Einzige, da bist Du mir begegnet u. [was] ich bin u. war ich kann ist nun Dein eigen. Dein Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 g; ein Abschnitt des Briefes ist als Typoskript dort ebenfalls hinterlegt: cod. ms. W. Dilthey, 13 i. 1

Nicht überliefert. Mittelalterliche Sagengestalt. 3 J.St. Mill: Autobiography. Hg. von Helen Taylor. London 1873. 4 Vermutlich ein Bild, das D.s Verlobte gemalt hatte. 5 J.St. Mill: On Liberty. London 1859. 6 Victoria Adelaide Mary Louisa von Großbritannien und Irland (1840–1901): seit 1858 Gemahlin Friedrich Wilhelms (1831–1880), des damaligen preuß. Kronprinzen und späteren deutschen Kaisers und Königs von Preußen, Friedrich III. 2

[450] Dilthey an Katharina Püttmann [12. Februar 1874]1 Gestern Abend kam noch der gute Erdmann[sdörffer] zu sehen, wie mir’s ginge u. Bericht zu erstatten. N[eumann] ist gleichzeitig krank gewesen und noch kaum wieder erholt: das Wetter hatte wieder einmal seine Lungen afficiert. Erdmann[sdörffer] [hatte] von Treitschke Briefe, nach denen die gesell-

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sch[aftlichen] Verhältnisse Heidelbergs allerdings wenig beneidenswert sind. Ich habe sie noch nicht gelesen, sie sollen aber, wie mir E[rdmannsdörffer] im Voraus sagt (im Einzelnen will er mir das Vergnügen eigener Lektüre nicht verderben) eine höchst drastische Schilderung der dortigen Hauptpersonen enthalten: übrigens hätte er sehr begeistert von meinem Schleierm[acher] I geschrieben den er kürzlich für seine Geschichte durchgearbeitet. Auch von Noordten ganze Manuscripte. Er selber ist ziemlich2 ernsthaft, wie mir scheint, oder wars heute bei Tisch nur der Wiederschein meiner eigenen Wehmuth? Auch die Zahlen der größeren ernsthaften Vorlesungen Treitschke’s geben mir nachträglich zu denken; derselbe hatte in der Reformationsgeschichte in diese[m] Semester etwa 30 Zuhörer! Erdm[annsdörffer] will Geschichte des Zeitalters der französischen Revolution bis 1815 lesen, was denn ein recht guter Anfang ist. Ich weiß nur nicht ob er sich leicht in Danton[,] Robespierre u. Napoleon zu wandeln vermag: es ist für die französ[ische] Rev[olution] zu wenig Sturm in seiner Natur. Hier ist sehr großer Unwille gegen Göppert.3 – Heute früh habe ich denn meine lieben Studenten wieder begrüßt (in der Logik jetzt doch schließlich 90–100), am Schluß der Vorlesung war ich so heiser daß ich kaum weiter sprechen konnte. Morgen wirds wohl schon wieder besser gehen. Nach Allem werde ich künftigen Sommer ein ungemein großes Colleg haben, ich kann Dir nicht sagen wie mich das für Dich und für unsere Kasse freut. Sage mir nun noch einmal ob es Dir recht ist wenn ich lese: von Mittwoch bis Sonnabend, 3mal 4–5, zweimal in Morgenstunden, u. Übungen am Sonnabend Abend. Dann schließen wir die Woche lustig, indem wir in der Zeit in der Du da bist ein paar v[on] d[en] Studenten jedesmal nach d[en] Übungen bei uns behalten u. Sonntag, Montag Dienstag sind wir ganz frei: dann herrschen blos Liebe u. eigene Arbeit. Ich habe noch einmal an die Sommereinrichtung gedacht. Ich fühle genau u. tief: das Bewußtsein um Deiner Gesundheit willen Dich zu entbehren, umgeben in unserer lieben, lieben Wohnung von allen Zeichen unseres Glückes, erfüllt von den Erinnerungen an 2 glückliche Monate: wird die Sehnsucht lindern. Du darfst ganz ruhig sein daß ich zu arbeiten im Stande sein werde. Jedes Opfer das ich Deiner Gesundheit bringen werde, wird mir süß werden. Und dann komme ich nach Bibrich u. werde Alles beinahe was mir auf der Welt das Theuerste ist zusammen finden. Ach liebe Käthe, diese Ideen halten mich ja in meiner jetzigen Einsamkeit allein aufrecht. – Scholz hat durch die Gewalt der öffentlichen Meinung den Journalisten wirklich aus der schles[ischen] Zeitung für immer entfernt. – Brentano – heirathet Ostern.4 Der Besuch bei Noels5 hat mich auf den Weg hierher noch in mehrfacher Beziehung beschäftigt. – Zunächst kamen mir die Skizzen von Frl. N[oel] wieder in den Sinn. Sie scheinen mir recht deutlich zu machen, was ein Dilettant

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von großer Begabung Schönes hervorzubringen im Stande ist. Dilettantismus liegt hier, wie überall, darin daß die strengen Grundlagen nicht gelegt sind u. demgemäß die reife Durchbildung auch den schönsten Aperçus fehlt. Du verstehst mich auch hier wie überall, daß ich natürlich sehr viele Künstler als Dilettanten in ihrem Fache betrachte. Frl. N[oel] sieht mit einem tiefen Blick in die Stimmungen u. den idealen Ausdruck eines landschaftlichen Moments; sie versteht die selteneren ausdrucksvolleren auszuwählen u. festzuhalten: Aber ihr fehlen die Grundlagen dafür einen wirklichen Berg, in seinem Unterschied von anderen Bergen, einen wirklichen Felsstein in seiner besonderen Natur, das Gerippe einer bestimmten Baumart in seinem Unterschied von anderen hinzustellen; hiervon liegt der Grund darin daß sie die Natur nur festtäglich besuchen kann, nicht in Wildniß von Gestein u. tiefstem Wald Monate skizzierend verbringen. Daher wird sie dies nie ganz abändern können. Nun bin ich immer gewöhnt, liebe Käthe, was ich über Kunst denke, auf Dich zu beziehen. Verglichen mit der Antike, Michel Angelo, Lionardo, Dürer, Holbein haben beinahe alle Figurenmaler etwas mehr oder minder Dilettantisches. Dies beruht darauf daß sie einmal den menschlichen Körper nur in seiner Überkleidung mit Fleisch u. Haut wirklich anhaltend studirt haben, als dann darauf daß sie nicht eine so hohe Bildung haben, eine so concentrirte Macht des Nachdenkens, um den großen u. schwierigen Umkreis von Ausdruck der Charaktere u. Leidenschaften in Gesichtzügen und Geberden in Skizzen fixirt zu haben gemäß einem immer erneuten Studium. So können sie nicht wirklich schöpferisch verfahren, das heißt aus einer Situation lebensfähige ihr gänzlich angemessene bedeutsame Gestalten entwickeln; entweder sie stellen wie Kaulbach[,] Cornelius6 u. a. Schablonen von großer Idealität dafür hin, oder wie Lessing, Vautier,7 Knaus8 Kopien die genau so viel Werth haben als das zufällige Naturobjekt, das ihnen vorlag. Diese Schranke durchbrechen heißt etwas wirklich Geniales schaffen. Geniale Züge dieser Art finden sich ja bei vielen gegenwärtigen Malern, Schöpfungen aus Einem Guß, die dem genugthäten wenige. Siehst Du nun einmal klar, worum es sich handelt, so zweifle ich nicht daß Du bei Deiner großen Begabung Dir den Weg bahnen wirst. Ich habe dafür hübsche Gedanken, sinne ich ja doch immer wie Dein Leben am glücklichsten gestaltet werden könnte. Wir wollen Cohnheim oder den sehr liebensw[ürdigen] Anatomen Hasse9 hier bewegen, etwa kommenden Winter Einen gesell[schaftlichen] Abend einem Kurs der Anatomie für uns zu widmen, an dem dann gewiß auch Harrach u. a. gern theilnehmen werden. Als Frau darfst Du Dich ja dem menschlichen Körper gegenüber ganz anders stellen; sonst bliebe ja auch Deine ganze Malerei in armseligem Dilettantismus stecken. Wir sähen auch genau Präparate durch, welche hier zu einer der schönsten Sammlungen Europas unter Hasse u. Cohnheim ver-

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einigt sind. – Wir beide aber bahnten uns dann einen Weg durch Lavaters Physiognomik u. Darwin’s ähnliche Arbeiten etc., besonders mit Hilfe antiker Portraitbüsten (denn diese zeigen in groß[er] Simplicität die tiefste Kenntniß der Erscheinung von Charaktertypen) Lionardos[,] Dürers u. von Portraitsammlungen zum genauen Verständniß vom Ausdruck der Charaktere u. Leidenschaften, wir machten uns Schemata u. Aufzeichnungen darüber. Vereinigst Du malerische Technik mit diesen Einsichten: so wirst Du zweifellos in wenigen Jahren durch solide u. strenge Grundlagen beinahe allen gegenwärtigen Figurenmalern überlegen sein. Denn Du sollst mir nicht, wie bisher alle Frauen die gemalt haben, selbst Angelika K[auffmann]10 nicht ausgenommen, im Dilettantismus stecken bleiben. Meine Kräfte sollen Dir dienstbar sein, Dich zu wirklicher Reife zu entwickeln, wie ja Deine Liebe u. Güte mir in meinem Umkreis hilfreich ist. Du bist u. bleibst meine Muse, aber auch ich will Dir ein Führer sein. Viel habe ich dann an das Gespräch mit Frau Noel gedacht u. wenn Du sie wiedersiehst kannst Du ihr nur sagen, ich hätte dieser Tage noch manches Mal in Gedanken unser Gespräch fortgeführt u. ihr verdeutlicht was meine Gesinnung sei: denn an jenem Abend gelang es mir doch nicht nach Wunsch. Frage ich, wo der Punkt liegt, der eine solche Auffassung der Ehe, als die N[oel]’s ist, ermöglicht, so liegt er darin, daß unsere Erziehung in den Männern allein ganz folgerichtiges Denken u. Handeln entwickelt, unser gesellschaftliches Leben allein ihnen, selten den Frauen freien Spielraum für allgemeinere Zwecke gewährt. Hierdurch entsteht ein natürliches Übergewicht des männlichen Geistes nicht der Essenz u. dem Wesen nach aber der Erscheinung u. Wirkungsweise nach. Die Männer machen die Geschichte, beherrschen den Staat, sind schöpferisch in Wissenschaften u. Künsten. Aber dieser ganze Thatbestand modificirt sich vor dem tieferen Blick. Dieser eignet aber nur den Menschen, welche eine unbedingte Verehrung der Frau in ihrem ächten Wesen in sich tragen. Du wirst immer sehen daß ein tiefes Gemüth u. diese Verehrung der Frau miteinander verknüpft sind. Dann erkennt man, daß es nicht der Mann ist welcher schafft, sondern der hohe Geist des Hauses u. der Familie, innere Gemeinschaft von Mann u. Frau, in welcher beide ihre Streben vereinigen u. jene Atmosphäre von reifem Leben u. gesättigtem Glück u. Totalität hervorbringen, in der allein das Große gedeiht u. erwächst. Seid ich Dich liebe erkenne ich in den großen Schöpfungen überall den mitbauenden Geist der Frau. Isolirt – dies ist mein verhärteter Realismus, über den neulich Mama sich erstaunte – ist u. bleibt die Frau verarmt, sie kann nicht einmal für sich auch nur etwas mittelmäßiges leisten, weil sie nie die Welt verstehen kann, nie über eine mittelmäßige u. sentimentale Stellung zur Welt hinauskommt u. beinahe allen reifenden Erfahrungen sich ver-

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schlossen sieht. Keine Unverheirathete kann je mehr werden als eine völlige Dilettantin im eben bezeichneten Sinne oder ein Appendix irgend eines Hauses. Nie hat eine Unverheirathete etwas geleistet wie z.B. die Stael11 oder Angelika oder George Sand12 etc. thaten. Aber in der Ehe gelangt die Frau zu ganz gleichgewogener Selbständigkeit, da wo der Mann die Gemüthstiefe besitzt die zur tiefen Verehrung u. selbstlosen Hingabe, die für mich der schönste Beweis männlicher Charaktertiefe ist. – Da ist ein Student wegen einer Arbeit üb[er] den Humanisten Jovianus Pontanus bei mir gewesen. Ich muß eilig schließen. Morgen schreibe ich weiter. Meine Käthe, Deine Liebe, Dein Wesen zieht wie eine erhabene Melodie durch meine Seele. Ich küsse Deine Hände, Deine Augen. Ich bin Dein so lange ich athme. Dein Wilhelm Taus[end] Grüße an Mama u. Walther. Tage der Wonne Kommt Ihr so bald? Schenkt mir die Sonne, Hügel, und Wald? – Leise Bewegung Lebt in der Luft, Reizende Regung Schläfriger Duft –13

Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 h. – Der Anfang des Briefes ist als Typoskript hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 i. 1

Nachträgliche Datierung von der Hand der Empfängerin. Hier endet das Typoskript. 3 H.R. Göppert war seit 1874 Vortragender Rat für Universitätsangelegenheiten im preuß. Kultusministerium. 4 L. Brentanos Hochzeit mit V. Erbreich fand am 9. 4. 1874 statt. 5 Nicht ermittelt. 6 Peter Ritter von Cornelius (1783–1867): Maler. 7 Benjamin Vautier (1829–1898): schweiz. Maler. 8 Ludwig Knaus (1829–1910): Maler. 9 K. Hasse war seit 1873 in Breslau tätig. 10 Angelika Kauffmann (1741–1807): schweiz.-österr. Malerin. 11 Baronin Anne Louise Germain de Staël (1766–1817): franz. Schriftstellerin. 12 George Sand (1804–1876): franz. Schriftstellerin. 13 Leicht abweichend von Goethes Gedicht Frühzeitiger Frühling. 2

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[451] Dilthey an Katharina Püttmann Breslau d[en] 15 Febr[uar] [18]741 Meine Käthe, heute kommen zu Dir bunte Blumen u. Veilchengeruch, u. Du magst jenes Straußes gedenken, der Dich am letzten Abend in Elster empfing, dessen Stimmung so wunderbar, so unvergeßlich aus Übermuth u. Zärtlichkeit gemischt war, empfing. Immer noch sehe ich Dich zum Abschied winken, fühle wie es mir das Herz zerriß. Du hast Recht, keine Lethe2 vermöchte je unserer Liebe u. ihrer wunderbaren Erinnerungen uns zu berauben. Wenn es eine Zeit giebt, in der unsere Seelen fortlebten ohne noch durch eine neue Verbindung mit der Außenwelt zu neuem Bewußtsein erweckt zu sein – wie die ältesten christlichen Zeiten eine solche Zwischenzeit annahmen –: dann würde einer süßen schlichten Melodie gleich Dein Wesen u. Deine Liebe diese traumhaften Zeiten erfüllen, bis der Tag der Wiedervereinigung erschiene, auf den die Christen hoffen, auf den auch ich so gern, mit so gränzenlosem Bedürfniß daß keine Zeit uns trenne, hoffen mag. Wie wunderbar wechseln doch unsere Vorstellungen mit unseren Bedürfnissen! Mir war lange der Gedanke an die Seelenwanderung, der gemäß wir in immer neuen Existenzen auf neuem Schauplatz uns entwickelten, eine angenehme Veranschaulichung unserer Fortdauer. In diesem Sinn ist auch der Essay über Lessing geschrieben, den Cohn[heim] wol noch immer hat. Was mich umgab konnte ich mir als eine gegenwärtige Bühne des Handelns u. Strebens sammt Mitspielern auf ihr vorstellen, konnte mir einen völligen Wechsel der Szene heiteren Sinnes denken. Nun gäbe es für mich keine sinnlosere, keine unvollkommenere Vorstellung unserer Fortdauer; fortleben u. von Dir getrennt sein, hieße in der Hölle leben. Und selbst wenn das Bewußtsein von Dir ausgelöscht werden könnte, – unmöglich zu denken, denn was dann fortexistirte wäre nicht mehr Ich, da dies Ich nichts mehr für sich selber ist –, aber gesetzt es könnte gedacht werden: wie sinnlos wäre alsdann ein solcher Wechsel der Szene, in welchem der höchste Erwerb des Daseins, Liebe, die sich hingiebt ohne Rest u. ohne Eigenwille, untergegangen wäre. Nun erlebe ich: unsere Sittlichkeit wächst nicht als eine abstrakte Kraft, sondern sie wächst durch die inhaltvollen Beziehungen, die unser Wille eingeht; in diesen hat sie ihr Dasein; von ihnen kann sie nicht losgerissen u. doch fortbestehend gedacht werden. Und so mag wol, wie uralter Glaube der Menschheit war, wie unsere Voreltern jederzeit gefühlt haben (da die großen Bedingungen der Gemüther immer dieselben sind), ein Band zwischen den Hingeschiedenen u. Fortlebenden bestehen, wo die gewaltige Kraft einer wahren, ihr Selbst aufgeben-

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den Liebe thätig ist. Als Ferngläser u. Mikroscope entdeckt wurden, traten Welten hervor, die jeder Tages zuvor für ein thörichtes Märchen gehalten hätte; wie wunderbar mag das Geisterreich geordnet sein, von dem wir nur einen engen Bezirk durch Schlüsse aus körperlichen Phänomenen kennen. Ich freue mich sehr darauf, mit Dir, wenn wir durch Leipzig gehen, einen der ersten lebenden Naturforscher u. Philosophen, Fechner,3 zu besuchen, dessen mächtiger Geist diese Räthsel am tiefsten von allen bisherigen Denkern angefaßt hat. Er ist verwandt u. befreundet mit Heydenhain, Volkmann4 u. anderen nächsten Freunden u. kennt mich: wir wollen schöne Stunden bei ihm haben. Wie unerschöpflich ist für uns beide überhaupt das Leben, das Anderen eintönig dahinläuft, sodaß sie mühsam die Tage ausfüllen. Liebe Käthe, laß uns nur immer recht dankbar empfinden, wie gut es uns in dieser Welt geworden ist. Gestern nach den Übungen ging ich noch um 10 zu Gierke in Gesellschaft, weil, wie ich wußte, der vorzügliche Anatom Hasse da war. Ich wollte mich einmal überzeugen, ob er etwa Sinn für Anatomie in ihrer Bez[iehung] zur Kunst hätte. Und denke Dir mein Vergnügen! Er wurde Feuer u. Flamme bei dem Gespräch. Wir sprachen zuerst von Makart,5 er hatte eben hier das Bild gesehn u. setzte mir auseinander, wie in jeder Gestalt die gröbsten anatomischen Verstöße seien. Es war mir überhaupt merkwürdig, wie überlegen ein Naturforscher, der täglich so viele Leichen vor sich auf dem Secirtisch liegen hat, sämmtlichen Malern naturgemäß in Bezug auf das höchste der Figurenmalerei, die menschliche Gestalt ist. Gänzlich richtig u. der Aufgabe gewachsen fand er nur Michel Angelo u. Lionardo. Kurz er hat sich viel mit diesen Fragen beschäftigt u. man muß ihm dabei natürlich zu Gute halten daß er erklärt, er habe Leichen gesehen die schöner gewesen seien als irgend ein Körper den je ein Maler dargestellt habe. Ist Dir aufgefallen, an der Venus Milo tadelt er die Kleinheit des Kopfes u. das Mißverhältniß von Kopf u. Hals? Heute will ich nach Tisch zu ihm; wir wollten zusammen die Lechmannschen Zeichnungen zu den Tragikern6 durchgehn, die er sehr bewundert; ein älterer Gymnasiallehrer aus der Provinz, der plötzlich mit Zeichnungen hervorgetreten ist, die ich auch sonst schon als eines Carstens7 nicht unwürdig habe bezeichnen hören. Du siehst der anatomische Kursus kommt in Gang. Hat Cohnheim keine Lust, dann mit Hasse; Dein Schatz wird für Dich Alles durchsetzen was Du bedarfst. Überhaupt spricht schon Alles davon, was es für ein Leben sein wird, wenn Cohnheim u. Frau[,] Brentano u. seinige, Gierke u. die seinige, ich u. meinige, Hasse u. seinige: lauter Menschen, deren jeder in seinem Fach was bedeutet u. lauter liebenswürdige Frauen hier einen lustigen, geistig angeregten Kreis bilden. Wenn nur die Sorge um Neumann nicht wäre! Nicht wahr, meine Käthe, daß ich meine Freunde so lieb habe, u. daß ihr Schicksal mein Gemüth be-

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wegt, erregt in Dir keine Mißempfindung. Erdmannsdörff[er] betreffend muß ich mich mißverständlich ausgesprochen haben; er ist nicht traurig, nur daß der Abschied ihm sehr schwer wird.8 Übrigens scheinen Brentano u. Braut zwischen den Schönheitssternen die hier aufgegangen, Fräulein Knoop u. ihm zarte Fäden zu spinnen. Das ist ihm aber glaube ich zu sehr nur Schönheit. Er kommt etwa den 10 März nach Berlin; bis zum 14ten April ihn festzuhalten wird nicht möglich sein, da er etwa 8 Tage darauf schon in Heidelberg lesen muß. Brentano noch nicht gesehn, Dein Mitleid wird er wie ich fürchte nicht acceptiren; u. wenn ich’s ihm sage, werde ich wol selbst ein wunderliches Gesicht dazu machen; aber ich will pflichtschuldigst ihm dasselbe nicht vorenthalten. O Du liebe goldene Käthe, die Menschen sind so verschieden als die Blätter der Bäume, aber alle Männer sind sich darin gleich, daß sie wenn sie lieben, wirklich lieben [Briefschluss fehlt]. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 f. 1

Nachträgliche Datierung von der Hand der Empfängerin. Vergessenheit, Vergessenheitstrank. 3 Gustav Theodor Fechner (1801–1887): Physiker und Naturphilosoph; 1834–1839 Ordinarius für Physik in Leipzig, 1843 Prof. für Naturphilosophie und Anthropologie in Leipzig. 4 G.Th. Fechner war seit 1833 verheiratet mit Clara Volkmann, Gattin des Psychologen Wilhelm Fridolin Volkmann (1822–1877): 1856 a. o., 1861 o. Prof. für Philosophie in Prag. 5 Hans Markart (1840–1884): österr. Maler. 6 Nicht ermittelt. 7 Asmus Jacob Carstens (1754–1798): dän. Zeichner und Maler. 8 Erdmannsdörffers Weggang nach Heidelberg stand bevor. 2

[452] Dilthey an Katharina Püttmann Breslau d[en] 17 Februar [18]741 Eben, Du Einzige, komme ich von Molinari-Brentano’s u. mein Gemüth ist noch so voll daß ich Dirs ausschütte, da ich doch nachher noch einmal bei der Post vorbeigehe. Denke Dir: Du weißt doch daß die Familie hier die erste der bürgerlichen Aristokratie ist; thöricht reich; wundervolle große Räume zur Verfügung. Sie ziehen es aber vor, nur 15 Personen, die allernächsten Verwandten u. 2.3 Freundinnen der Braut bei einer ganz einfachen Hochzeit zu haben. Seine Mutter suchen sie dann selber auf. Mir hat diese einfache vornehme Einrichtung ungeheuer gefallen; was für Anstrengungen Mamas fielen dann weg, für die sie nachher doch büßen muß. Jedenfalls bitte ich

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Mama noch einmal herzlich, bei der Wahl der Wohnung in erster Linie an ihr eigenes Behagen zu denken u. auch zu erwägen, daß sie dieselbe durchaus nur bis 1 Juli braucht; als dann aber eine schon früher beziehbare zu nehmen u. diesen Gesichtspunkt durchaus nicht der Freude an für die Hochzeit geeigneteren Räumen zu opfern. Der bloße Gedanke, so mit Umzug u. Hochzeit auf ganz bestimmte Tage eingepfercht zu sein, ist höchst quälend u. peinigend. Mama braucht nur nach dem Umzug wie zu erwarten Migräne zu haben u. Alles ist gestört. Sonsten, Du Goldene, hat das Brautpaar mich so maßlos sehnsüchtig gestimmt daß ich auch darum schon Dir schreiben mußte, ein paar Veilchen Dir zu senden, die auf meinem Schreibtisch im Topf erblüht sind, wie sie kommen, sollst Du sie dann immer haben: sie blühen für Dich. Also Brentano erschien; längerer Zwischenraum; dann seine Braut; tout comme chez nous;2 grüßt Dich viel-vielmals, freut sich sehr auf Dich, Erdmann[sdörffer] viel von Dir geplaudert. Ein Bild das sie nach Preller gemalt technisch viel besser u. gründlicher als Frl. Noels, aber freilich nur Copie. Und nun das Beste: Harrach bleibt in Breslau, wird wahrscheinlich Direktor des Museums. Ich liebe Dich, ich grüße Mama u. Walther tausend mal, u. denke wie Du zu dieser Stunde sitzest u. schreibst, ach nicht wahr recht recht schöne Liebesworte an Deinen Wilhelm Bitte, bitte, bitte. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 f. 1 2

Nachträgliche Datierung von der Hand der Empfängerin. Alles wie bei uns.

[453] Dilthey an Katharina Püttmann Breslau d[en] 20. Februar [18]741 Meine unsäglich geliebte Käthe. Tausend innigen Dank Mama und Dir für Eure heutigen Briefe,2 die mir Eure Liebe u. Sorge zeigen; Mama’s Bereitwilligkeit, die längere Erholung u. Reise durch eine frühere Hochzeit zu ermöglichen hat mir unbeschreiblich wohl gethan. Ich will ehe ich ihr eingehend antworte, zumal heute wie Ihr wißt ein harter Arbeitstag ist u. ich nach der Vorlesung sehr müde bin, noch einmal gründlich mit mir zu Rathe gehen. Oder

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wie wäre es, mein liebes liebes Herz, wenn ich anstatt in 8 Tagen übermorgen, Sonntag käme, wo ich dann noch den Vortheil hätte mich 2 Tage von Deinen Augen durchsonnen zu lassen. Erwäge das mit Mama in Deiner lieben Seele, wenn Du morgen, Sonnabend mit der Abendpost schreibst u. ich, wie ich doch immer wenn ich Vorlesung habe jetzt tue, den Brief früh morgens 8 Uhr Sonntags holen lasse: so ist dann noch völlig Zeit, das Köfferchen zu pakken u. zur Eisenbahn zu fahren. Einen Tag unseres Zusammenseins verlieren wir dadurch; aber der Gedanke uns so 8 Tage früher wieder zu sehen hat doch auch etwas Bezauberndes? Zunächst habe ich Dir von Ännchen Herz3 viele Grüße zu bestellen. Das kommt nämlich so: ich ging gestern Abend noch plötzlich hin bei ihnen den Thé zu trinken, weil ich Herz tief gekränkt hatte u. ihm zeigen wollte, daß er mir trotzdem lieb u. werth ist. Gestern war Sitzung über Erdmannsdörffers Nachfolger. Ich ließ durch Erdmannsdörffer den Antrag einbringen, Schirren,4 einen sehr bedeutenden Mann, aber von unruhiger Gemüthsart und politischen Leidenschaften: erst brieflich ehe wir ihn neben Dove5 der Regierung vorschlügen unser hießiges Bedürfniß eingehender ruhiger Thätigkeit für das Seminar der Historiker vorzulegen, damit er sich darüber erkläre, ob er eine solche Stellung mit dem guten Gewissen sich ihr ganz zu widmen antreten könne. Ich sprach dann selbst dafür. Doch die Ungewöhnlichkeit eines solchen Schrittes ließ die Majorität nicht zu diesem Entschluß kommen; dagegen ergab sich schließlich die Nothwendigkeit der Regierung zu sagen, daß wir eben über diesen Punkt nicht gewiß seien. Nun merkte schließlich so die Mehrheit daß dies nichts hieße als erklären 1. wir stellten die Seminartätigkeit voran, 2. hätten aber versäumt uns zu orientiren ob sie in Schirrens Sinn sei. In meiner körperlichen Überreizung fiel ich nun zuerst einen der alten Geheimen Räthe mit großem Ungestüm an; u. als dann Herz auch den gefaßten Beschluß vertheidigen wollte, fiel ich dann auch über ihn zweimal her; er sprang tief gekränkt auf u. sagte, er könne sich hier unmöglich lächerlich machen lassen [und] wollte den Sitzungssaal verlassen; natürlich stand ich auf u. beruhigte ihn. Ihm zu zeigen wie ich’s mit ihm meine, ging ich dann eine Stunde nachher hin u. trank dort den Thé, was ihn dann wirklich sehr rührte. Erklären konnte ich ihm freilich meine Heftigkeit nicht, die eben in meiner körperlichen Überreizung gegründet war. Da haben wir denn fast nur von Dir und dem künftigen Leben gesprochen, hat es Dir nicht in den Ohren geklungen? Frau Herz hat wirklich so rührend als wir allein waren von dem seltenen Glück einer solchen auf wahrer, alle Gefühle und das geistige Leben ausfüllenden Liebe und Ehe gesprochen, daß es mir sie wieder neu lieb und werth machte. Ännchen vertraute mir an, nach Versprechen des Schweigens da sie noch keiner Freundin davon gesagt, daß sie im Frühjahr längere Zeit

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nach Weimar gehe; sie spielte Klavier vor, mit vielem Talent u. mit Geläufigkeit. Heute morgen war ich schon um 61/2 Uhr bei der Vorlesung; gegen 8 ließ ich mir meinen Brief 6 holen; im Nachdenken über die große Frage habe ich eine recht schlechte Vorlesung gehalten; dann ging ich in der Sonne eine Stunde spatzieren, innerlich mit dir beschäftigt, redend mit Dir, in Deine Augen blickend. Zurückgekehrt bin ich, noch dazu bei offnem Fenster, da die herrlichste Frühlingssonne in das Zimmer dringt, einen Augenblick vor Müdigkeit eingenickt, u. Du fühlst wol in diesem Brief eine leise Müdigkeit, die sich meiner ganz bemächtigt hat. Der Gedanke an unsere herannahende Verbindung stimmt auch mich, wie Mama, feierlich u. tiefernst. Ich fühle daß ich die Verpflichtung auf mich nehme Dich, theuerstes Käthchen, ganz u. so daß Du nie künftig einen Mangel empfindest glücklich zu machen. Was diese Verpflichtung nicht in ihrer ganzen Schwere empfände, müßte entweder kein strenges Gewissen oder keine Erkenntniß des menschlichen Herzens haben, das soviel, immer neu in neuen Tagen, bedarf, um glücklich zu sein. Und ich kenne Dein Herz, das zu denen gehört, gleich dem meinigen, in denen die Wogen der Empfindung höher gehen und die darum, in ungestümem Wechsel der Gefühle, schwerer in jedem ruhigen klaren Glück verharren das wie das tiefe Blau des Himmels ist, einfach, unbewegt, sonnendurchleuchtet. Zu dem was Du in richtiger Ahnung des Gemüths an mir liebst, gehört auch das, daß Nachdenken und strenge Arbeit meinem Gemüth u. Charakter Ruhe, und verzeih den Ausdruck, jenes klare Behagen gegeben haben, welches aus einem ruhig liebevollen Auffassen der Welt im Ganzen und Großen, zumal aber dieser in tiefstem Wohlwollen gewährenlassenden Stimmung gegen die welche ich liebe gegründet sind – und daß Du doch zugleich empfindest wie die Macht, ja das Ungestüm der Gefühle in mir noch weit stärker ist als in Dir, daß ich daher alles in dir verstehe, alles erwidere, alles umfasse. Noch klingt in mir das Gespräch über diese Dinge nach das ich gestern mit Frau Herz hatte, eines vor einigen Tagen mit Heidenhain. Es ist mir immer sehr wohltätig wenn vortreffliche Menschen die Empfindung aussprechen, wie glücklich Du durch mich werden würdest u. welch einem selten vollendeten Leben wir entgegengingen. Wie gut auch hierin mein eigener Glaube ist: ich höre es so gern von Andern aussprechen die mein Wesen kennen. Aber dann sage ich mir immer, daß es einer beständigen Achtsamkeit auf so manchen kleinen Fehler in mir bedürfen wird, damit Du so glücklich werdest als Du verdienst. Denn es ist einmal die Art der ächten Liebe daß sie, wie groß auch an sich das eigene Selbstgefühl sei, den geliebten Gegenstand über sich selber stellt; sie hat ein Bedürfnis anzubeten und zu verehren, wie die Religion und die künstlerische

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Begeisterung. Ich gebe mir so jetzt besonders Mühe, mit dem Geld recht gut und einsichtig umzugehen, damit wir in dieser Beziehung auch jetzt schon, bevor ich zu einer einträglichen Lage gelange, freie Hand haben. Denn in der realen Welt setzt sich das Glück aus vielen Faktoren zusammen, die jetzt für unsere Liebe noch nicht vorhanden sind. Gestern war ich bei Ebstein mit ihm über meine Gesundheit zu reden. Verschreiben will er mir nichts. Der Brautstand bringe diese Aufregungen mit sich: das ist der ewige Refrain, den man schließlich wol den Welterfahrenen, die es an sich selbst erlebten, glauben muß. Ännchen H[ertz] war auch sehr aufgefallen, was ich dann allerdings auch erst bemerkte, wie angegriffen Brentano’s Braut aussieht. Mein Mund ist immer noch nicht ganz gut. Die Erkältung sonst gänzlich geschwunden. Hier ein so heiteres Frühlingswetter daß man versucht ist im Freien zu sitzen. Die Gesellschaft soll hier jetzt – ich selbst nehme keine Einladungen an – überaus lustig sein; es wird fast in jeder Professorengesellschaft getanzt, Prof. Hasse soll der Anstifter sein und die Damen amüsiren sich dabei außerordentlich. Treitschkes Briefe an Erdmann[sdörffer] gelesen; darin eine Stelle mit einer Begeisterung für mein Buch das er jetzt erst im vorigen Herbst gründlich studirt hat, die mich beschämt. Vor ein paar Tagen hatte ich eine, wie ich glaube, höchst glückliche und fruchtbare Idee für die Einleitung des neuen Buchs, wie ich die Methode intellektuelle Erscheinungen zu studiren, die ich mir entwickelt habe, behandeln soll. Da von den ersten Grundlagen meiner Ansicht aus Alles auf eigener vierjähriger Arbeit beruht, muß die Einleitung sehr glänzend werden. Sie wird wohl das Erste sein was ich Dir diktire: denn ich denke schon auf der Reise in Stunden ruhigen Zusammenseins Dir diese wichtige Einleitung erst zu erzählen und mit dir durchzuplaudern, dann zu diktiren. Damit wäre dann ein neuer Ruck für das Buch geschehen; fremde Bücher brauche ich dazu gar nicht, ich nehme ein neues Notizenbuch mit, das schon gekauft ist, schreibe Dispositionen und einzelne Gedanken wie sie mir kommen hinein u. so wollen wir dieses fundamentale Capitel entstehn lassen. Dann schreibe ich hier die ersten Abschnitte, die schon einmal geschrieben sind um: ich lasse sie vielleicht im Sommer schon einmal voraus zur Probe in den preuß[ischen] Jahrbüchern in den darstellenden Theilen, mit Ausscheidung der Untersuchungen, erscheinen. Ich kann Dir nicht sagen, wie mein Herz an diesem Buche hängt, das gepflanzt ward zu der Zeit da ich Dich zuerst sah, das mich in Gedanken begleitete in der Zeit unserer ersten Liebe, das seinen Glanz durch das Glück erhalten soll, welches ich Dir verdanken werde u. das zum Dank für all Deine Liebe u. Dein hingebendes Interesse für meine Zukunft meinen Ruhm begründen soll, u. wenn das Glück

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uns hold bleibt meine künftige Stellung. Ich habe mir ausgedacht, in den Exemplaren die ich Freunden schenke, soll vorn eine Widmung an Dich stehen. Denn Dir werde ich es verdanken, wenn es mit der ganzen Macht energischer und lichter Darstellung heraustritt, die nur das stille tiefe gesättigte Glück Geisteswerken verleiht. Du liebe gute Käthe, in Deinen Händen ruhet ja alles Glück meines Lebens u. ich weiß wie wohl es da aufgehoben ist. Und nun laß diese Veilchen von unserm gemeinsamen Stock Dir von meiner Liebe sagen, die unwandelbar ist wie das ruhige Licht der Sterne. An Walther tausend Grüße Dein Wilhelm Original: Hs.; der Brief ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45; ein fast vollständiges maschinenenschriftliches Transkript des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 i. 1

Nachträgliche Datierung von der Hand der Empfängerin. Nicht überliefert. 3 Vermutlich eine Tochter von M. Hertz. 4 Karl Christian Gerhard Schirren (1826–1910): Historiker; 1858–1869 Prof. für Geographie und Statistik in Dorpat, 1874 Prof. für Geschichte in Kiel. 5 Alfred Wilhelm Dove (1844–1916): Historiker; 1874 a. o., 1879 o. Prof. in Breslau, 1884–1891 in Bonn; 1891–1893 Redaktion der wissenschaftlichen Beilage der Münchener Allgemeinen Zeitung. 6 Nicht überliefert. 2

[454] Dilthey an Katharina Püttmann [vor 27. Februar 1874] Du liebe, liebe Käthe, ich bin nach der Vorlesung in der Frühlingsluft spatzieren gegangen durch Anlagen u. Stadt. Immer denke ich ganz besonders an Dich, wenn ich wie heute sehr gut gesprochen habe; ein ganz abstrakter Gegenstand: ‚Urtheil ist Bewußtsein der objektiven Gültigkeit einer Verbindung von Vorstellungen‘; ‚im Urtheil bestimmt eine Vorstellung oder Verbindung von Vorstellungen eine andere Vorstellung oder Vorstellungsverbindung‘. Das ist der Triumph der Klarheit, über einen solchen Gegenstand so zu sprechen, daß die Studenten in der höchsten Spannung bleiben. Also wenn mir’s gelingt, denke ich ganz besonders an Dich u. so bin ich meiner Lieblingsbeschäftigung nachgegangen, im Durchstreifen der Straßen Alles hübsche

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mir darauf anzusehen, ob es meinem Schatz Vergnügen machen würde. Daran zu denken daß Du ein Paket von mir mit leuchtenden Augen öffnest, ist für mich, der zwar nicht völlig, aber doch recht gründlich Idealist ist eben so schön als der Lohn den Du mir gestern verheißen. Das sind meine schönsten Momente hier. Nun sage, Du geliebtes Käthchen, was sagst Du zu Carsten? Daß ich dabei nicht war, als Du in den zuerst hineinsahest. Eine neue Welt muß sich Dir erschlossen haben. Du weißt daß Carsten der Führer der modernen deutschen Kunst ist; er lebte viele Jahre in Rom mit Staatsunterstützung, Bildhauer u. Maler zugleich, die Antike studirend, in dürftiger Lage das Auge ohne zu zucken, ohne zu zweifeln immer nur auf das vollendete Ideal der Kunst gerichtet; er verzehrte sich selbst u. starb ehe er seinen Ruhm erlebt hatte. Das Höchste von ihm sind diese Zeichnungen; ein zweiter Band der vor Kurzem erschienen steht diesem berühmten ersten so bedeutend nach (es ist Nachgesammeltes), daß ich für nicht nöthig hielt, ihn zu kaufen. Alle, Cornelius, Rethel1 Genelli2 etc. stehen auf seinen Schultern wie Du sehn wirst u. an reiner schlichter Größe erreicht eine Composition wie der Homer ist keiner von diesen Allen. Könnte ich sehen was Du für Augen machst! Nicht wahr, diese Zeichnungen sind für Dein Studium des menschl[ichen] Körpers u. seiner Bewegungen unschätzbar! – Auch mit Hasse wieder geplaudert, mehr darüber mündlich. – Du siehst aus dem Zeitungsausschnitt was hier drohte; Cohnheim hat schon an Heidenhain geschrieben daß er, selbst das günstige Klima von Bonn, das günstigste für ihn in Deutschl[and] erwogen, Breslau nicht verlassen wolle, er werde keinen Finger rühren, keine Zeile schreiben u. kein Wort sprechen lassen in Berlin, daß man dort den Vorschlag der Bonner Fakultät acceptire, u. damit werde wol entschieden sein daß die Regier[un]g ihn in s[einer] gegenw[ärtigen] Stellung lasse. Darauf gestern Fakultät an Minister, da C[ohnheim] in Bonn glänzende Dienstwohnung, möge man ihm zu Entsch[ädigung] hier Gehaltszulage geben; er hat so viel wie ich. Nach Affaire Erdmann[sdörffer] schwierig für Regierung. Auch nach Wien geht C[ohnheim] nicht.3 U. Du liebe, liebe, einzig Geliebte, wirst Du auch heut in Ges[ellschaft] recht vorsichtig sein? Issest Du auch täglich 2 Eier? Thust Du’s noch nicht, so befehle ich es Dir hiermit feierlich. Dafür verspreche ich auch für meine Person sehr vorsichtig zu sein u bin es schon gar sehr seit ich zurück bin, denn ich bin Dir u. unserer Zukunft das schuldig. Mein Zustand ist u. bleibt mir ängstlich. Eingenommener Kopf kann jetzt bei vielen Männern vorkommen; wie mein Gehirn construirt ist, ist dies etwas so ganz außergewöhnliches daß es sich aus dem Wetter schlechterdings nicht erklärt. Ebensowenig der Wechsel von Erregung u Müdigkeit, der kürzere Schlaf als sonst: ich schlafe gleich ein erwache aber sehr früh u. muß mir dann die Zeit mit Vorbereitung z[ur]

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Vorl[esung] etc. vertreiben; das Hitzefühl. Am meisten, ich gestehe es, beunruhigt mich die ganz bestimmte Ahnung ich ginge einer Krankheit entgegen. Möge Alles sich günstig lösen. Ach liebe Käthe, wie viel ängstlicher ist man, wenn man sein Leben, seine physische Kraft u. fröhliche Gesundheit Jemanden schuldet den man liebt wie ich Dich. Gestern Abend war ich so traurig über diesen Zustand, daß ich zu Erdmannsdörffer ging u ihm meine Befürchtungen aussprach, mich ein wenig von ihm beruhigen zu lassen, u. er bewies wieder sein erfreuliches Talent, es einem behaglich zu machen. Sein Recept freilich ist leider nicht anwendbar. Viele Grüße an Junghahn. Zeige ihm ja den Carsten u. laß Dir das Mythologische erklären. Ich bin begierig, welchen Eindruck die Zeich[nun]gen auf ihn machen. U. auf Frl. Noel? Erdmann[sdörffer] kommt etwa 18. März [nach] Berlin u. bleibt dort bis gegen das Ende des März; dann muß er nach Heidelberg, wo er schon den 20 März die Vorlesungen wird beginnen müssen; ein Hochzeitsgast weniger; denn daß er blos zur Hochzeit von Heidelberg komme kann man ihm ja nicht einmal als Wunsch aussprechen. Herbst geht er in die Schweitz u. will dann zu uns stoßen. Eben sehe ich mit großem Behagen u. größerer Sehnsucht m[eine] eigenen Ferien an; sie lassen sich recht passend machen – auf wie lange mein Schatz? rathe, rathe – auf über 7 Wochen! Ich schließe wohl Sonnabend den 4 März 10 Uhr Morgens u. beginne wieder Mittwoch den 6ten Mai; freilich muß ich einige Tage vorher in Breslau auf dem Platze sein. Bei e[iner] röm[ischen] Reise hätte Niemand sich beklagt, 8 Tage länger; so indeß ist dies der äußerste Termin, mögen wir nun Garda oder Genfer See oder nur Baden gehen. Nun setze ich mich in Gedanken zu Dir u. genieße voraus die kommenden wunderbaren Tage, in denen wir in ruhiger Idealität uns der schönsten Natur u. unserer Liebe erfreuen wollen, als Kinder des Glückes, wenn das Schicksal günstigen Sinnes uns gesund zu diesen Tagen gelangen lassen will. Ich theile die Veilchen an meinem Stock nun noch zwischen Dir u. mir, mit frommer Verehrung vor unseren heiligen Blumen. Tausend Dank an Mama daß Ihr freundlich mein Bedürfen in der Wohnungsfrage berücksichtigen wollt: sie thut mir einen unermeßlichen Gefallen. U. der Junge,4 hat er denn nun endlich Momms[en] u. [.|.|.]? Ich schließe mit meinem Morgen u. Abendlied; I[ch] L[iebe] D[ich]. Mit ihm muß ich meine Sehnsucht einwiegen, die wie ein krankes Kind den Schlaf verschmäht. Lebe wohl, ich küsse Dich innig u. tausendmal u. die Gedanken werden Dich heute überall hin, selbst in Deine Gesellschaft begleiten, wehmütig, sehnsüchtig. Dein Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 f.

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Alfred Rethel (1816–1859): Maler. Bonaventuro Genelli (1798–1868): deutscher Maler und Zeichner. J.F. Cohnheim blieb zunächst in Breslau; 1878 ging er nach Leipzig. Vermutlich ist K. Püttmanns Bruder Walther gemeint.

[455] Dilthey an Katharina Püttmann Breslau d[en] 27 Feb[ruar] [18]741 Meine liebe liebe einzige Käthe, Dein theurer Brief 2 kam heute mit dem Sonnenschein der Frühlingsluft. Habe innigen Dank für Deine zärtliche Sorge um mich, ich will Dir gewiß immer ganz aufrichtig schreiben. Heute bin ich mehrere Stunden mit verschiedenen Collegen, die sich auf der Promenade trafen, spatzieren gewesen und fühle mich viel frischer; der Kopfschmerz von gestern hat mich verlassen; und ich könnte es ruhig unternehmen, Morgen 2 Stunden hintereinander früh anstatt Einer zu lesen, um die Vorlesung schneller zum erwünschten Schluß zu bringen, sodaß ich dann Morgen freilich 4 Stunden Collegia und Senatssitzung habe. Von den Collegen hörte ich dann heute Erwünschtes. Cohnheim bleibt nun doch definitiv in Breslau; nur fragt sich noch ob er den Sommer nicht auch noch im Süden bleibt. Kehrt er zurück: so geschieht das erst den 20ten April etwa, wir können also auf unserer Reise sehr wohl mit ihm u. seiner Frau ein Zusammentreffen verabreden, sodaß diese die ersten von den Breslauer Professoren wären die Du kennenlernen würdest. Heute Abend ist große Zusammenkunft der Professoren u. ihrer Damen, Souper u. Ball; Alles stürmt nun auf Erdmannsdörffer, nachdem Brentano und ich ganz aus der Gesellschaft verschwunden sind; der Gute wird Ende der kommenden Woche in Berlin eintreffen; in Heidelberg hat er noch kein Logis u. wird sich schließlich mit einen provisorischen begnügen müssen. An Mama habe ich nun die Papiere geschrieben, zugleich ausführlich in Mama’s Namen die Meinen alle zur Hochzeit eingeladen. Du kannst denken wie begierig ich der Antwort entgegensehe. Sobald die Papiere kommen, sende ich sie Dir, damit sie mit den Deinen gemeinsam in das Pfarrhaus wandern. Vor Mittwoch wirst Du sie wol nicht in Händen haben. Also Schmelzers Hôtel sagt Mama zu, der Wein wird wol überall ziemlich theuer sein; hat denn Onkel Bekker sein Gutachten abgegeben? Von Erdmannsdörffer ließ ich mir die Riviera beschreiben, obwol er sie nur flüchtig passirt hat. Auch er findet sie so wunderbar in ihrer Art als die

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Küsten von Neapel u. Sorrent. Florenz, sagt er, werde mit seinen steinernen Fließen u. Wegen durch die ganze Stadt sehr früh brennend heiß. Und nun, Du goldenes Herz, wende ich mich von all diesem Äußeren nach innen, zu Dir, zu mir. Wol spreche auch ich fast den ganzen Tag in Gedanken mit Dir, u. selbst auf dem Katheder ertappe ich mich dabei, mitten in der abstraktesten Auseinandersetzung. Der Gedanke an die kommenden Wochen, in welchen wir am blühenden südlichen Meeresufer Hand in Hand wandeln, in der tiefsten stillsten Gemeinschaft aller Ideen u. Gefühle, stehet vor mir wie ein wunderbarer Traum, wie das Bild jener Zaubergärten selber denen wir entgegengehen. Zuweilen will mir scheinen, als ob mein ganzes bisheriges Leben eine Lehrzeit gewesen sei, damit ich lernte Dich ganz zu verstehen in der letzten Tiefe Deines Wesens. Dich zu [Briefschluss fehlt]. Original: Hs.; das Brief-Fragment ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 f. 1 2

Im Original: nachträgliche Datierung von der Hand der Empfängerin. Nicht überliefert.

[456] Dilthey an Katharina Püttmann Breslau d[en] 1 März [18]741 Meine unaussprechlich geliebte goldene Käthe, Deine Liebeszettel sind jetzt der Zaubertrank, der mich allmälich zur Gesundheit zurückleitet, soweit die Sehnsucht der Trennung es gestattet. Ob ich Geduld haben werde bis Du auch meine eigentlich wissenschaftlichen Gedanken verstehst! Es wird ja immer für mich die einzige u. beste Probe auf ihre völlige Klarheit und ihren Werth sein, daß sie Dir klar, bewegend und werthvoll sind. Des Cartes entwickelte Niemandem lieber als der Prinzessin Elisabeth2 u. der Königin Christine3 die Ergebnisse seiner Forschungen; Leibnitz der Königin Sophie Charlotte4 u. je näher wir das Leben der einzelnen Philosophen kennenlernen, desto deutlicher wird ihr Bedürfniß gerade von Frauen in der Tiefe ihrer Ergebnisse verstanden zu werden. Der Weg der Beweisführung braucht ja nicht verstanden zu werden, da er zuweilen auf verwickelten theoretischen Untersuchungen beruht: aber die Anschauung selber, wenn sie reif ist, ist auch immer einfach klar, ja diese einfache Klarheit ist das Kennzeichen ihrer Reife. [Briefschluss fehlt.]

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Original: Hs.; das Brief-Fragment ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 f. 1 2 3 4

Im Original: nachträgliche Datierung von der Hand der Empfängerin. Elisabeth, Kurfürstin von der Pfalz und Königin von Böhmen (1596–1662). Christine, Königin von Schweden (1626–1689). Sophie Charlotte, Königin von Preußen, „die philosophische Königin“ (1668–1705).

[457] Dilthey an Katharina Püttmann 2.3. [18]741 Du Eine, Es ist Abend nach einem sonnigen Tage, an dem ich viel spatzieren gewesen. Nachdem ich Briefe u. Photographien an Dich abgesendet, habe ich eine nicht kleine Arbeit begonnen, meine Papiere zu ordnen, daß in der neuen Wohnung die Arbeit gleich rüstig beginnen könne, die den Einsamen, der dann doch nicht einsam sein wird, sondern umgeben von allen Bildern schönster Tage, alsdann beschäftigen soll. Ich ordne sie, so daß mir selber ihre Folge, ihr Zusammenhang, ihre Lücken deutlich werden: denn ein Gelehrter kann seine Papiere nie durch seine Hände laufen lassen, ohne sie in lebendigem Zusammenhang mit dem Ganzen zu sehen, was sich daraus aufbauen soll. Und ich bemerke mit Freude, wie umfangreich u. reif auch für den zweiten Theil (von dem ersten ist schon eine Niederschrift vorhanden) die Vorarbeiten sind. Mit eigentümlichem Entzücken bewegt mich die Größe des Planes, dessen Durchführung ich mit Händen greifen zu können glaube; nie vordem bewegte er mich so; denn nie vordem war mein Herz betheiligt bei den Gedanken an die Wirkung dieses Buchs. Als ich den Schleiermacher zu schreiben begann, war es der Gedanke an die Freude die mein seliger Vater an ihm u. seinem Erfolg haben würde, was mein Gemüth am liebsten beschäftigte; auch bei den älteren Abhandlungen waren seine ermunternden Worte, sein Eifer, an wen sie verschickt werden sollten, welche Folgen sie für meine äußere Existenz haben könnten, das belebenden Gemüthselement, ohne das ich einmal nichts leisten, die Mühsale des definitiven Denkens und Ausarbeitens nicht durchmachen kann. Nun hast Du auch ihn beerbt; auch diese Fäden meines inneren Lebens laufen alle zu Dir; was wäre in mir das nicht Dein wäre? Auch darin freue ich mich auf die kommenden Wochen, daß ich meine ganze Auffassung der Menschengeschichte Dir allmählich darlegen kann; auf dem Boden Italiens, das Alterthum Mittelalter neuere Zeit in

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so wunderbarer Einheit zusammenhält. Ach Du Liebe, Liebste, was Alles wollen wir nicht in diesen Wochen zusammen genießen, zusammen denken. Gestern vor dem Schlafengehn las ich in Eckermanns Gesprächen2 den Tod Göthes; es ist ganz naiv erzählt, als ahnte er gar nichts von dem Grandiosen des Verlaufs. Im Nov[ember] [18]30 war sein Sohn gestorben; Göthe war damals 81 Jahre alt. ‚Ich ging zu Göthe herunter. Er stand aufrecht u. fest u. schloß mich in seine Arme. Ich fand ihn vollkommen heiter u. ruhig.‘ Mannichfache Gespräche, ‚seines Sohnes jedoch ward mit keiner Silbe gedacht.‘ Es ist dieselbe eigenthümliche stolze Abneigung große Schmerzen mit irgend Jemanden zu theilen, der gemäß er sich auch nach Schillers Tod in seine Gemächer verschloß u. als er nach Tagen erschien, mit Niemanden Schiller berührte. Die zurückgehaltene Bewegung zog ihm nach wenigen Tagen einen Blutsturz zu. Seine ungeheure Naturkraft siegte u. wie er zu genesen begann, war er nur von Einem Gedanken erfüllt, den Faust, das Werk seines Lebens zu enden; damals entstand der 4te Akt u. der Anfang des 5ten; ein halbes Jahr vor seinem Tode hatte er ihn durch rastlose Arbeit vollendet; ‚es ist jetzt‘ – sagte Göthe als er vollendet – ‚im Grunde ganz einerlei, ob und was ich noch etwa thue‘: ein Gefühl des Abschlusses, wie er es ähnlich in die letzten Momente des Faust, seines großen Spiegelbildes, gelegt hat. Der Hauptgegenstand seines Nachdenkens u. Gesprächs in dieser Zeit war die Gottheit, die er gern ‚das Dämonische‘ nannte; wie Spinoza lautet sein letztes Resultat: ‚ich frage nicht‘, sagte Göthe ‚ob dieses höchste Wesen Verstand u. Vernunft habe, sondern ich fühle: es ist der Verstand, es ist die Vernunft selber. Alle Geschöpfe sind davon durchdrungen u. der Mensch hat davon soviel daß er Theile des Höchsten erkennen mag.‘ So ging er hinweg. Es ist sehr bezeichnend, wie Eckermann am Morgen nach seinem Tode ihn noch einmal sah. ‚Die mächtige Stirn schien noch Gedanken zu hegen. Ich hatte das Verlangen nach einer Locke von seinen Haaren, doch die Ehrfurcht verhinderte mich, sie ihm abzuschneiden.‘ Gute Nacht, ich habe lange am Fenster gestanden u an dem heute eigenthümlich tiefblauen Nachthimmel zu den Sternen emporgeblickt; der Gedanke an die mir liebsten gewaltigen Menschen die dahingegangen verschmolz ganz mit dem an Dich zu einer wunderbaren Harmonie. Gute Nacht. Dienstag Nachmittag. Nicht die Veilchen meine Käthe sind das Märchen; Du bist es u unsere Liebe, die Alles zum Märchen machen was wir berühren, zur lebendigen Poesie. Wie ist doch die ganze Natur der ächten Liebe unterthan, daß sie alles Süßeste in ihr zum Symbol sich macht. Schon darum giebt es keine zweite Lie-

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be, weil die erste Alles mit ihren göttlichen Buchstaben gezeichnet hat; mit Zügen der Ewigkeit steht mir auf jedem Höchsten u. Lieblichsten, was in diesen Monaten meine Empfindungen u. Gedanken berührt haben der Name Katharina! Natur u. Kunst u. höchste Ideen sind mir mit Deiner Gestalt in Ewigkeit verschmolzen. Wenn wir an der Riviera auf dem Balcon sitzen, Du zeichnest und ich gedankenvoll u. zärtlich Dir zuschaue, will ich in Versen, die mitten in der Unruhe des heutigen Tages seitdem ich Deinen Brief 3 empfing in mir klingen diese Empfindungen Dir aussprechen, mit Deiner Kunst zu wetteifern. Was hieltest Du überhaupt davon, wenn unser Liebesarchiv in vollen Reimen klänge? Leider ist Versemachen eine Technik, die gelernt sein will wie die des Philosophierens u. der historischen Forschung, wenn auch die meisten Poeten ihre Technik nicht erlernt haben; Hertz hat sie erlernt, er macht mit seinem Meister Uhland, dem sprachgewaltigen, eine rühmliche Ausnahme. Ich fahre fort, meine Papiere zu ordnen; Photographien, die mir dabei in die Hände gefallen sind sende ich Dir heute, eigentlich nur um Neumanns Photographie Dir dabei zukommen zu lassen. Sie gehört Bachmann,4 ich habe versäumt eine machen zu lassen u. so müssen wir sie gelegentlich zurückschicken. Nun sage, ob nicht der ganze Mensch den ich Dir geschildert in diesem .|.|. .5 .|.|. wäge: geschieht es doch nicht ohne ein tragisches Gefühl. Er6 steht immer vor mir, seiner ganzen Umgebung superior, in dem kleinen Ländchen hatte die Tradition unserer Familie ihn mit dem Herzog nahe verbunden, der seinen Rath in allen wichtigen Dingen suchte u. doch fast in allen vom Rath einer elenden Hofgesellschaft sich leiten ließ. Strahlende Liebenswürdigkeit, Witz u. Laune mit einer hohen Würde des Wesens verbunden, machten ihn zum Mittelpunkt wo er erschien. Er wäre geboren gewesen, in großen Verhältnissen handelnd hervorragende Dienste zu leisten. Wenn ich zurückdenke, wie er in dem einsamen Park von Bibrich lustwandelte, ohne jede innere Beziehung zu den Menschen die ihm da begegnen konnten, gewiß viel in seinen Gedanken mit dem Verlauf seines Lebens beschäftigt so überkommt mich eine eigene Wehmuth, auch daraus entspringend daß doch zwischen dem Vater u. dem Sohn, während der Vater nur Freund sein wollte, nie, ich möchte sagen die Schranke fiel, welche den Blick in sein ganzes inneres Leben hemmte. Keines seiner Kinder war ihm entfernt was ich ihm war, und doch wie wenig von dem was ich ihm war ich ihm hätte sein können! Freilich hatte er für meine wissenschaftlichen Ideen gar kein Interesse u. es war merkwürdig genug, wie die Wissenschaft in seinem Hause ganz gegen sein eigentliches Interesse u. seine Neigungen zur Herrschaft kam. Und ganz eins werden Menschen doch immer nur durch ein geistiges Vehikel, welches zwischen den Ge-

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müthern vermittelt, sei es Kunst oder Wissenschaft oder Praxis höherer Art. Daher auch z.B. in Ehen, wo ein großer Stoff von gemeinsamem Interesse nicht immer wieder das Medium ist, durch das das Innerste der Gemüther sich berührt, nothwendig die Gemeinschaft flach werden muß; Empfindungen können nicht immer wieder als solche, unverbunden mit gewichtigen Vorstellungsmassen, Gegenstand der gegenseitigen Relation sein; die Ehe wird dann entweder nüchtern oder sie behält nur die Grundlage des Gemüthslebens, sodaß nur die ruhigen werklosen Pausen der Existenz getheilt werden. In einem gewissen Grade war dies doch auch in der so schönen Ehe zwischen meinen Eltern der Fall, und ich weiß deutlich daß ich damals darin wol schon leise einen Mangel ahnte. Meine Mutter war wundervoll für Musik begabt, fähig eine Künstlerin zu werden bei anderem Lebensgang, so gemüthstief wie nur Du u. Deine Mutter mir wieder erschienen sind; wie gern gedenke ich, wenn ich an ihren Knien lehnte u. ihrem Gesang zuhörte, das ganze herrliche Gefühl wohlbehütet zu sein im Innersten des Wesens von treuen Armen, die Stille u. der Friede, die darin liegen kommt über mich u. ich habe Dir schon einmal gesagt wie dasselbe selige Gefühl in mir ist, wenn Du Dich an mich anlehnet. So war sie, und unter günstigen Verhältnissen hätte sie meinen Vater in Allem verstanden. Aber der Eigensinn meiner Grosmutter zwang leider in ihren früheren Jahren zu harten Anstrengungen, und meine gute stille, zu jedem Opfer bereite Mutter verbrachte die Jahre in denen sie sich in schöner glücklicher Harmonie hätte entwickeln sollen im Detail der Hauswirthschaft. Immer wieder steht mir dies ihr Bild vor der Seele, wenn ich daran denke wie ich Dir das Leben bereiten will mit Gottes Hilfe, wie Du freien Schrittes durch es hindurchgehen sollst. So ward die kostbare Zeit versäumt, in der sie mit den Ideen, Plänen u. Ansichten meines Vaters sich völlig hätte verschmelzen sollen; es geschah nur unvollkommen u. lükkenhaft, zumal auch mein Vater mit Arbeiten überladen war. Das sind Kindererinnerungen, die heute durch meine Seele ziehen. Wenn ich jetzt an Dich schreibe ist es nicht anders als ob ich laut dächte. Wie es in mir selber sich bewegt spreche ich es Dir aus. Mein Herz hat keinen Wunsch als ganz so wie es ist u. wie sich in ihm die Welt bewegt gesehen zu werden. Du meine Käthe, unvermerkt ist die Zeit vergangen, während ich dachte mit Dir, ich kehre zur Arbeit zurück, als hätten wir zusammen in Deinem Zimmer gesessen u. recht vernünftig geredet. Tausend herzliche Grüße an Mama u. Walther. Dir aber den innigsten Ausdruck einer schrankenlosen Liebe von Deinem Wilhelm

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Original: Hs.; das Brief-Fragment ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45. 1 Im Original: nachträgliche Datierung von fremder Hand: „3. 3. 74“. – D. begann den Brief am Abend des 2. März, der ein Montag war, zu schreiben und beendete ihn am Dienstag, den 3. März 1874. 2 Johann Peter Eckermann (1792–1854): Dichter und enger Vertrauter Goethes. – Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 24. Bd. der Gedenkausgabe seiner Werke, Briefe und Gespräche. Hg. von E. Beutler. Zürich 1948, S. 435, 504, 462 f., 511. 3 Nicht überliefert. 4 Nicht ermittelt. 5 An dieser Stelle ist das Original lückenhaft. 6 D. schreibt hier über seinen verstorbenen Vater.

[458] Dilthey an Katharina Püttmann 4. März 18741 Meine geliebte Käthe, heute müssen Dir die Blumen alles sagen was in meinem Herzen ist und ich muß mich mit einem Liebeszettel begnügen. Die Studenten werden sparsam, die Mediciner haben geschlossen; eben habe ich durch die Anlagen Erdmannsdörffer zu seiner letzten Vorlesung begleitet: wehmütig genug für mich wie Du Dir denken kannst; ich selber schließe morgen oder übermorgen. Die Anordnung meiner Papiere ist gestern beendet und sie werden bei Freunden in 3 Koffern, von Manuscripten angefüllt, zwei kleinere und ein großer, aufbewahrt. Heute herrscht bei mir eine ganz tolle Unruhe; unter Aufsicht einiger Lieblingsschüler werden meine Bücher gepackt und in 8 mächtigen Kisten aufgestapelt. Ich habe als das richtigere2 befunden, da ich bis zum 1 April meine jetzige Wohnung gemiethet habe, sie in derselben zu belassen u. als dann unter guter Aufsicht den 1 April gleich in einem der kleineren Zimmer bei uns aufstellen zu lassen. Hier sind sie, da sie immerhin einen Werth von 2000 Thalern repräsentieren sicherer als dort in einer Waschküche oder auf dem Boden. An welchem Tag ich nun komme, fragst Du? Wenn ich geschlossen habe, ist es in meinen wüsten Räumen, fern von Dir, nicht mehr behaglich wie Du denken kannst. Sehr, sehr müde wie ich bin von dem Semesterschluß u. dem Ausräumen der Wohnung, will ich dann in Berlin in stillem Behagen in dem alten Zimmer des Hôtels mich einrichten und warten [?], da Du mich doch alle Tage nur ein Stündchen gebrauchen kannst, mich da spatziren gehend u. die Freunde besuchend pflegen; daneben einen oder zwei kleine Aufsätze schreiben, die unser Reisegeld um 100 – 200 Thaler ver-

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mehren sollen, damit wir recht sans gêne uns an der Riviera bewegen können. Meine Sehnsucht nach Dir ist gränzenlos; ich hatte gehofft Dich statt Sonnabend wie verabredet war schon Morgen überraschen zu können u. dieser Gedanke ließ mir alle Mühsale des Packens leicht erscheinen; nun fürchte ich doch daß übermorgen herankommen wird. Aber ganz sicher bist Du auch Morgen nicht vor mir. Dann wollen wir Mama wechselweise u. zusammen einen großen Theil aller Besorgungen abnehmen, ich werde einmal in Walthers Rolle eintreten, und in dem seligen Gefühl daß es für uns ist sogar Zündhölzer einzukaufen bereit sein. Und nur des Abends, wenn Alle Arbeit ruht werden wir dann still-selig zusammensitzen, die Karte studiren u. uns im Süden orientiren wo Du nun so lange Zeit hindurch das Schönste der Welt genießen wirst. Wie ich die Stunden zähle bis ich wieder in Deine Augen blikken darf kann ich Dir nicht schildern. Nun laufen die letzten wissenschaftlichen Gedanken ab, die mich in diesem Wintersemester beschäftigt haben. Eine ganz neue Bahn beginnt, auf der mir der Stern Deiner Liebe über dem Haupte leuchtet. Wenn die letzte Vorlesung gehalten ist, bin ich ausschließlich u. ganz nur von dem Gedanken an Dich erfüllt, und der, der bisher alles was er arbeitete u. sann, nur auf Dich bezog, sinnt nun zunächst nur Dich, Deine Liebe und Dein Glück. Er hat in seiner Seele keinen Gedanken dann als dies Glück u. seine Liebe. Und so sei mir aus der Ferne tausend u. tausendmal gegrüßt, grüße ebenso Mama u. Walther, denen ich nun bald ihre Mühsale für alle Vorbereitungen etwas erleichtern zu können hoffe. In alle Zeit Dein Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45. 1 Oben auf der ersten Seite von der Hand Katharina Püttmanns: „Letzter Brief in der Brautzeit von Breslau am 4. März geschrieben 74.“ 2 Im Original: „richtere“.

[459] Dilthey an Katharina Püttmann [Anfang März 1874] Du liebe einzige Käthe, ich komme vom Diner bei dem Anatom Hasse, wo es mindestens so viele Gänge gab als bei Onkel Bekker – ich konnte mich diesmal dem nicht entziehen u. werde ohnehin ungeheuer viel gefragt wo ich

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stecke, da ich alle Gesellschaften absage. Aber mit Hasse’s die aus den Kieler Verhältnissen kommen, wie Cohnheims, habe ich eine nähere innere Beziehung; sie entfalten beide eine ganz besondere Zärtlichkeit für mich u. Hasse soll Dich ja in die Anatomie einführen. Ohne diesen letzteren Grund wäre ich auch nicht hingegangen, was sich auf Dich nicht bezieht, hat kein Interesse für mich. Sie hatten mir den schönsten Platz gegeben u. [auf] Dein Wohl wurde feierlich getrunken, von dem herrlichen Heidenhain ausgebracht. Eben beim Nachhausegehen sagte mir Frau Geheimrath Römer: „man hat Sie hier verheirathen wollen: Sie haben sich aber selbst verheirathet.“ Ich war ziemlich erstaunt u. erklärte ihr, von dergleichen nie etwas gemerkt zu haben, worauf sie denn sehr klug lächelte, dergleichen merkten die um die es sich handle zu allerletzt. Es wurde dann entschieden behauptet, ehe ich die Gesellschaft angenommen, hätte ich an Dich wegen dieses Ausnahmefalls telegraphirt. Sie sagen Alle, ein solcher Gemüthsmensch, als welcher ich mich zeige, sei an der Univ[ersität] noch gar nicht erlebt worden; ich aber behaupte mein Recht, als Philosoph das Eine große Gemüthsverhältniß meines Lebens ernster gründlicher u. tiefer zu nehmen als andere Menschen thun. Ja meine einzige goldene Käthe, darin liegt wol ein Eigenthümliches meiner Liebe zu Dir; sie bewegt sich nicht in den Gränzen eines bestimmten Theiles meiner Existenz; sie hat sich mit Allem verknüpft was mir das Leben lebenswerth macht u. ich ertrüge ohne sie keinen Tag das Leben mehr, weil ich nie wieder zurück könnte in den armen Egoismus eines Lebens ohne Dich. Ich weiß wohl daß ich für große u. wichtige Zwecke vordem thätig gewesen bin, aber was bedeutet auch das höchste Interessse für ein Ganzes, für eine Universität, für die Wissenschaft, für die größten Fragen, verglichen mit dem Interesse für die Einzige, mit der Alles zu theilen eine beständige Seligkeit ist. Es ist wunderbar: eben in dem Übermuth der Geselligkeit empfand ich wieder dasselbe was mir in der Stille meines einsamen Zimmers immer gegenwärtig ist: mein ganzes Schicksal liegt in Deiner Liebe. Wie soll ich Dir für sie danken; wie Dir ausdrücken, daß Tag und Licht nur durch Dich mir noch leuchten. Wenn ich dies erwäge, durchdringt mich jedesmal ein Schauer über die Macht der Liebe, durch die wir nicht mehr Herren über unser Leben u. unseren Tod sind. Ich sah mich nur in der großen Gesellschaft, lauter gute Menschen die ihre Frauen lieb u. werth halten, in mir allein aber eine Empfindung, welcher das ganze Leben sich zusammen drängt in Einer Person. Und ich sagte mir es wieder: nichts darf der Frage nach Deiner Gesundheit nachgesetzt werden; und handelte ich aus egoistischen Motiven: es wäre nicht anders; denn ich könnte Dich keinen Tag überleben; ich könnte die Welt nicht denken ohne Dich u. Deine Liebe, ich könnte das Licht des Tages nicht vierundzwanzig Stunden ertragen ohne sie.

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Habe innigsten Dank für das was Du mir schriebst, wie Du mitbewegt wirst von meinen Gemüthebewegungen. Liebe Käthe, wie Du mich stürmisch u. leidenschaftlich erregt bei meiner letzten Anwesenheit in Berlin sahst: so wirst Du mich mit Gottes Hilfe nicht wieder sehen; es war ein äußerster Punkt körperlicher Überreitzung; ich der sonst Gleichmäßig-Ruhige glaubte meine ganze Gesundheit, in der auch Dein Glück ruht, untergraben. Hätte mich in diesen Tagen Cohn[heim] untersuchen wollen, so hätte ich es ihm Dank gewußt. Auch reden mich noch alle darauf an, daß ich viel magerer geworden; ich fühle aber deutlich daß der Moment der äußersten Gefahr vorüber ist. Ich glaube daß ich nie in meinem Leben einer schweren Krankheit so nahe gewesen bin. – Die Poststunde ist gekommen u. so kann ich nur tausend Grüße noch Dir aussprechen u. tausend Küsse. Sende mir doch Deine Papiere so bald Du sie beieinander hast hierher, da der Propst hier sie – heut vor Tisch bei ihm – auch verlangt neben den meinigen u. diese letzteren doch nach der Entfernung von Bibrich noch mehrere Tage nicht kommen. Sobald Du also die Deinen haben kannst, sende sie mir, am besten recommandirt,1 damit ihr Verlust ganz unmöglich sei. Deine u. meine gehen dann von hier nach Berlin zusammen. Mama viele viele Grüße; es geht ihr hoffentlich besser; ebenso dem „brummigen“ Walther. Dein Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 f. 1

Eingeschriebene Sendungen erhielten vor 1875 den Stempel „Recommadirt“.

[460] Dilthey an George Westermann Hochverehrter Herr Westermann, darf ich persönlich, da ich immer noch sehr gern unsrer Begegnung in Braunschweig gedenke, Sie um eine große Gefälligkeit bitten? Da ich gegen Ende dieses Monats März meine junge Frau1 nach dem Süden zu bringen gedenke, wäre mir eine Completirung meines Reisegelds durch 150 Thaler von den Monatsheften sehr erwünscht. Ein Theil dieser Summe ist schon durch das Gedruckte gedeckt, ein anderer wird durch Manuscripte, die schon in Ar-

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beit sind gedeckt werden. Wenn ich [auf] Ihre freundliche Zusage hoffen darf, die mich immer fester an die Monatshefte bindet, so bitte ich ergebenst im Lauf der kommenden Woche – etwa den 22ten denke ich an die Abreise – die Summe adressiren lassen zu wollen: Professor Dilthey, Szenkewitz Hôtel, Berlin, Kaiser-Franz-Grenadierplatz n.o7, oder auch durch Herrn Dr. Glaser etwa sie mir übermitteln lassen zu wollen. Gestatten Sie im Voraus meine dankbare Verpflichtung für diese Gefälligkeit, wenn ich dieselbe anticipiren darf, Ihnen auszusprechen. Ganz ergebenst der Ihre Professor W. Dilthey Berlin, Szenkewitz Hôtel, Kaiser-Franz-Grenadierplatz 7. 12 März [18]74. Original: Hs.; WUA 1/193. 2. 1

D. und K. Püttmann heirateten am 21. März 1874 in Berlin.

[461] Dilthey an Adolf Glaser Lieber Freund, ich bin sehr ängstlich über die Ankunft meiner Manuscript-Sendung, die vor nunmehr 3 Wochen aus Mentone1 nach Braunschweig mit eingeschlossenem Brief an Dich abgegangen ist: Inhalt: Alfieri, Balzac, Mohamed.2 Sei doch so gut, mir umgehend eine Zeile über die richtige Ankunft zu senden. Ich bin jetzt für einige Tage: Brunnen, am Vierwaldstätter See, Hôtel zum Mythenstein, an der Axenstraße. Wolle also freundlich dahin Eine Zeile adressiren. Die Novelle3 nähert sich ihrem Abschluß. Du wirst große Freude an ihr haben, besonders an den komischen Szenen; für Alle die das Mittelmeer besucht haben oder besuchen wollen, wird sie ein ausnehmendes Interesse haben, die ganze Gegend von Nizza bis Genua ist in die Geschichte verwoben u. so genau beschrieben, wie bisher in keinem anderen Buche. Sie soll später

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Dilthey an Adolf Glaser

für sich erscheinen u. wird gewiß von m[einen] sämtlichen Werken am meisten Leser finden. Bücher, die etwa für mich da waren, sende mir nach Zürich, Adresse Professor Karl Dilthey, Professor der Archäologie u. Philologie in der Universität Zürich.4 Zürich, Flunteren. In etwa 8 Tagen werde ich dort sein. Besonders wichtig ist mir Dickens Leben von Forster5 ins Deutsche übersetzt. Und sollte dasselbe von Dir noch nicht verschickt sein, so bitte ich Dich es nachträglich zu thun. Seit 14 Tagen diesseits der Alpen. Der Lichtwechsel ist leider meiner Frau nicht gut bekommen. Wir gehen, sobald das jetzige schlechte Wetter sich geändert hat entweder nach Engelberg6 oder nach Davos. Die Entscheidung darüber hängt von der Ansicht des Arztes ab. Also nicht wahr, Du reißest mich gleich durch Eine Zeile aus meiner Unruhe? Und was machst Du? Laß auch darüber ein Wort vernehmen u sei tausendmal gegrüßt von Deinem alten Freund Wilhelm Dilthey Brunnen, Hôtel und Pension zum Mythenstein 30 Juni 1874. Original: Hs.; WUA 1/193. 2. 1

Mentone: Ort an der italienischen Riviera. D.s Aufsatz Vittorio Alfieri erschien in WM 38 (1875), S. 324–335 und S. 425–443; WA in: Die große Phantasiedichtung und andere Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte, a. a. O., S. 187–228, sowie in: GS XXV, S. 284–326. – Unter seinem Pseudonym „Wilhelm Hoffner“ erschien der Beitrag Balzac in: WM 39 (1876), S. 476–483; WA in: Die große Phantasiedichtung, a. a. o., S. 237–246. – Die Rezension D.s von E. Deutschs Der Islam erschien unter dem Titel Mohamed (Pseudonym „Wilhelm Hoffner“) in: WM 37 (1875), S. 444–447; WA in: GS XV, S. 173–177. – Nicht überliefert. 3 Nach der Novelle Lebenskämpfe und Lebensfriede von 1867 (WM 22, S. 241–265, Pseudonym „Friedrich Welden“) hat D. – soweit bekannt ist – keine weitere Novelle veröffentlicht. 4 D.s Bruder Karl hatte sich 1869 habilitiert und war seit 1872 o. Prof. in Zürich. 5 J. Forster: Charles Dicken’s Leben. In’s Deutsche übertragen von F. Althaus. 3 Bde. Berlin 1872–1875. – Im Frühjahr 1877 erschien unter dem Titel Charles Dickens und das Genie des erzählenden Dichters eine Abhandlung D.s in: WM 41, S. 482–499 und S. 586–602; WA in: Die große Phantasiedichtung, a. a. o., S. 254–317, sowie in: GS XXV, S. 364–412. 6 Gemeinde in der Zentralschweiz, im Kanton Obwalden. 2

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Karl Dilthey an Dilthey und Frau

[462] Karl Dilthey an Dilthey und Frau 17. Juli Morgens [18]74 Gottlob, daß Ihr wohl aufgehoben seid, liebste Käthe. Ich hatte mir Sorgen gemacht, weil mir von starken Nebeln und Kälte im Engadin, gerade am Tag nach Euerer Abreise erzählt worden war, und daß Fremde deßhalb nach Zürich von dort geflüchtet. Ich denke an Bergluft und Gletscherkühle wie Heines Fichtenbaum an die morgenländische Palme,1 und bin unbeschreiblich semestermüde. Die Hitze ist noch furchtbar geworden, vorgestern 28 Grad im Schatten. Das Musikfest war eine außerordentliche Strapatze, vor Müdigkeit bin ich nur stellenweise zu rechtem Genuß gekommen, obwohl eigentlich Alles sehr gut ausfiel. Fast am Schönsten war die „italienische Nacht“ zum Schluß, viel hundert Kähne auf dem See mit tausenden von farbigen Lampen, Musik, glänzendes Feuerwerk. Ich wünschte Dich sehr lebhaft herbei, während ich mit Frankenhäusers2 auf dem See herumfuhr. Länger als 14 Tage wird die Plage nun nicht mehr dauern, und Du kannst gewiß sein, daß ich sie nicht muthwillig verlängere. Euere flüchtige Erscheinung ist mir nunmehr ganz visionär geworden, und die Tage nach Euerem Weggang war es mir sehr melancholisch, was auch damit zusammenhängen mag, daß ich mich 4 Tage lang von Pulloresten3 nährte. Eure Siebensachen aus dem Storchen4 habe ich mit großer Genugthuung eingeheimst als ein Unterpfand daß Ihr wiederkommt. Ihr habt doch auch gar zu wenig gehabt von dem schönen Zürich. Billeter5 und Biermer,6 Hitze und Professoren. Und Deine Mama gar Nichts. Der Feldstuhl soll gleich besorgt werden. Was Du andeutest von Kleidbesorgung laß mich doch deutlich wissen, ich habe Zeit genug für Dich übrig. Daß Du die schwere Stelle im Romänchen mir aufhebst, macht mich sehr stolz und wird mich anstacheln zu unerhörten Leistungen. Diese Zeilen schreibe ich im Augenblick da ich Euren Brief bekomme.7 Laßt recht bald wieder von Euch vernehmen. Herzliche Grüße an Deine Mama, und Herrn Dr. Junghahn. Ich schreibe noch eine Zeile an Wilhelm zu. Dein Bruder Karl. Denke Dir, Lehrs8 in Königsberg, vor 40 Jahren Philolog ersten Ranges, Verfasser meisterlicher Arbeiten über die formale Kunst des jüngeren Epos, übrigens schrullenhafter verbissener Jude, hat auf Uebersendung meines Musäus9 und eines bescheiden verehrungsvollen Briefes mit einem Schreiben voll dia-

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Karl Dilthey an Dilthey und Frau

bolischer Malice mir geantwortet, auch angekündigt, er werde „seine Antipathie“ öffentlich aussprechen. Der Brief beginnt mit meinen mythologica, die ihm doch kein „zärtliches Urtheil“ über mich hatten einflößen können, und scheint insbesondere empört, daß ich geäußert, in jenen 40 Jahren seien wir auf dem betreffenden Gebiet wenig weiter gekommen, – d. h. daß ich die Verdienste seiner Schüler zu niedrig anschlage. Klette10 schreibt mir triumphirend gleichzeitig, er habe für die Anzeige des M[usäus]11 in der J[enaer] L[iteratur] Z[eitung] Lehrs „gewonnen“ – ich hatte ihm gesagt, L[ehrs] sei hier der Oberste, aber schwerlich „zu gewinnen“! Eben wie Euer Brief kam, antwortete ich L[ehrs] – er wird den Brief nicht hinter den Spiegel stecken, und, wie ich glaube, eher sich als mich in der Sache blamiren. Denn ich gedenke tapfer ins Zeug zu gehn. Will man mich, den friedlichsten Menschen – habe ich nicht auch auf Käthe diesen Eindruck gemacht? – zum Kampfhahn machen mit Gewalt, so sei es. Die Natur hat mir auch Stachel und Hörner gegeben. Ich erwarte den Angriff in größter Ruhe u. Zuversicht. Uebrigens soll ich offenbar hier wiedereinmal für Hermann mitgeprügelt werden. Verdrießlich wäre mir, wenn die Angelegenheit so sich gestaltete, daß ein Theil der Ferien davon aufgezehrt würde. Biermers Sache ist nun erledigt – er geht. Die vom Kaiser zu erledigende Frage war die, daß seine Söhne Schweizer Bürger bleiben, also von preußischem Militärdienst frei sein sollen. Das ist ziemlich thöricht von ihm, gewiß eine Concession an Mutter Biermer. Dein Karl Original: Hs.; StUB; Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 d. 1

H. Heine: Buch der Lieder, Lyrisches Intermezzo XXXIII. Ferdinand Frankenhäuser (1832–1894): Gynäkologe; 1860 a. o. Prof. in Jena, 1872–1888 o. Prof. in Zürich. 3 Hähnchenreste. 4 Vermutlich ein Hotel in Zürich. 5 Agathon Billeter (1834–1881): schweiz. Männergesangskomponist, Organist und Dirigent. 6 Anton Biermer (1827–1892): Mediziner; 1861 o. Prof. in Bern, 1867 in Zürich, ab 1874 in Breslau. 7 Nicht überliefert. 8 Karl Ludwig Lehrs (1802–1878): klass. Philologe; seit 1845 o. Prof. für griech. Philologie in Königsberg. 9 Musai Grammatici carmen de Hero et Leandro. Bonn 1874. 10 Anton Klette (1834–unbekannt): Studium der klass. Philologie in Bonn, 1854 Dr. phil.; Bibliothekar in Bonn, ab 1869 Mithg. des Rheinischen Museums für Philologie, ab 1870 Oberbibliothekar der Universitätsbibliothek in Jena, Redakteur der Jenaer Literaturzeitung. 11 K.L. Lehrs’ Rezension erschien in: Jenaer Literaturzeitung 1 (1874), Nr. 33, S. 508–510. – Sie fiel sehr negativ aus. 2

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Bernhard Erdmannsdörffer an Dilthey

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[463] Bernhard Erdmannsdörffer an Dilthey Eisenach10. Sept[ember] [18]74 Lieber Dilthey, es will nun einmal nichts werden mit unseren Rendezvousplänen, und ich stelle mir vor daß Du und Deine liebe Frau in diesen Tagen manchmal ärgerlich davon gesprochen habt, daß von mir, resp[ective] uns gar kein Lebenszeichen erschien – nun kommt endlich eins, ich weiß aber nicht einmal ob es nun noch zurecht kommen und Euch in Riva1 antreffen wird; jedenfalls will ich es in aller Eile noch versuchen. Es ist eigentlich treulos von mir, aber war durch mancherlei gute Gründe gerechtfertigt, daß ich in letzter Stunde mich noch einmal zu einer Änderung unseres Reiseplanes entschloß. Neben anderem gewann bei mir die alte Lieblingsidee wieder die Oberhand, auf meiner Hochzeitsreise2 gerade den Thüringer Wald zu sehen und dies alte liebe Land, für das Du meine Sympathie kennst, gerade aber das auch meiner Frau zu zeigen. So verlebten wir denn zuerst ein Paar wunderschöne Tage in Dresden und pilgerten dann, vom schönsten Wetter begünstigt, durch die Hauptstationen des Thüringer Waldlandes bis hierher, wo wir ein Paar Tage bleiben wollen. Wohin weiter, das weiß ich eigentlich noch nicht recht; es kommt auch nicht darauf an, vielleicht an den Rhein, vielleicht, wenn das Wetter sich hält, noch nach Baiern oder irgendwohin – nur leider jetzt jedenfalls nicht mehr mit Euch zusammen. Verzeihe, daß ich nicht früher versucht, Euch von dieser Änderung unserer Reiseroute Kunde zu geben – da Ihr, wie Frau Käthe schreibt, Euch selber auch noch als auf der Hochzeitsreise befindlich betrachtet, so sind Entschuldigungen und Erklärungsgründe wol überflüssig; in Summa, über vielen anderen wichtigen Dingen sind wir nicht dazu gekommen, und auch heute gibt es nur diese flüchtigen Zeilen, die vielleicht gar nicht in Deine Hand kommen, aber wenigstens mein Gewissen entlasten. Auf alle Fälle schreibe ich Euch bald wieder nach Breslau. Herzliche Grüße an Frau Käthe, über deren Wolsein ich mich sehr freue – auch von meiner Frau, die auf eine künftige Begegnung sich sehr freut – wann wol? – Ihr seid ja reiseflüchtigen Fußes und werdet über kurz gewiß einmal in den Westen kommen, wo ich denn für ein Redezvous am Rhein besser Wort zu halten verspreche. Addio für heute – haltet die Flüchtigkeit dieses Briefes der Situation zu Gute, und nun Gruß von ‚Haus zu Haus‘ Dein B[ernhard] E[rdmannsdörffer]

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Bernhard Erdmannsdörffer an Dilthey

Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 15 a. 1 2

Ort am Gardasee. B. Erdmannsdörffer hatte zu Jahresbeginn 1874 Anna Lenz (1854–1892) geheiratet.

[464] Karl Dilthey an Dilthey Zürich 8 Okt[ober] [18]74. Liebster Wilhelm Unter dem Haufen Briefe, die von langen Reisen heimkehrend sich bei mir versammelten, befand sich auch Erdmannsdörffers Brief, auf den ich diese Zeilen schreibe, und der beifolgende der Mama, die Euch nicht vorenthalten sein sollen. Ich schickte sie gestern nicht mit, weil der Brief 1 sonst verdoppelt worden wäre. Es wäre mir lieb, ein Wort der Bestätigung über den Empfang der 100 Th[aler] zu haben, die ich telegrafisch Deiner Schwiegermama anwies, damit sie Dir dieselben an Deine Adresse sende, die Du hartnäckig mir zu verschweigen für gut fandest, mich nur wissen lassend, daß Du sie noch auf der Reise bedürfest, und daß Mama sie Dir zusenden solle. Das war zwar stilvoll von Dir, aber unpraktisch; Du hättest mir durch Angabe einer Reisestation 10 fr[an]cs ersparen können. Was sagst Du zum weiteren Verlauf v[on] Treitschke’s Manifest;2 Ich bin, was Grundstimmung und Grundansichten betrifft, ganz einverstanden, und finde vieles Einzelne schön und gut; das ganze aber schadet sich durch leidenschaftliche Uebertreibung, und die philosophische Einleitung u. Hintergrund bleibt wohl das Schwächste. Das thatsächliche Detail natürlich ist mir großentheils fremd. Ich habe eine Masse Briefe zu schreiben, Sachen zu ordnen, daß ich aus der Haut fahren möchte. Allerlei Grüße soll ich Dir sagen, sie sind aber v[on] Leuten, die Dich, glaub’ ich, nicht interessiren. Käthen wird das Referat von Mama über die Marie ‚vielleicht‘ einigen Trost gewähren. – Grüße Allen. Dein Karl. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 d.

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Karl Dilthey an Dilthey

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1

Nicht überliefert. H. v. Treitschke: Zehn Jahre deutscher Kämpfe. 1865–1874. Schriften zur Tagespolitik. Berlin 1874. 2

[465] Karl Dilthey an Dilthey Zürich 17 Nov[ember] 1874 Liebster Wilhelm Nur in allergrößter Eile meine beßten Geburtstagswünsche – ich habe ja kaum je weniger Zeit u. Du zu kaum je einer Zeit meine guten Wünsche weniger nöthig gehabt als diesmal, was ja gerade das Beßte ist, das man Einem wünschen kann. Ich bin über die Straßen gehetzt mit den diversesten Sachen, und wünschte doch, daß Du diese lumpigen Zeilen zum 19 hättest, weil ich nicht möchte daß wir beiderseits wieder so heidnisch leben ohne daß Einer dem Anderen Ehre und Liebe anthut von Weitem, wie sich’s gehört. Für Eure lieben Briefe1 vielen Dank; auf das Sachliche antworte ich ein andermal. Ich möchte sehr gern über Apuleus2 einen „Essay“ schreiben, um mich dieses abscheulichen Ausdrucks zu bedienen, wenn ich nur von Weitem die Zeit hätte, meine Gedanken aufzuschreiben. Ich bereue jetzt gar sehr, daß ich die Ferien so gänzlich totgeschlagen und namentlich daß ich nicht Lehrs sogleich bei frischer That abgestraft habe. Was machen Biermer u. Gröber3 – ists richtig, das des letzteren Braut im Sterben liegt? Dein Geburtstag ist der Hochzeitstag v[on] Marie Exner,4 ihr Verlobter ein sehr junger Professor der Medizin an der Wiener Universität. Ich weiß nicht, ob Du die Verlobungsanzeige im Oktober oder Sept[ember] bekommen hast; sie ließ Dir seinerzeit durch mich sehr angelegentlich Glück wünschen, was ich wohl nicht ausgerichtet habe. Sie hat mir unbegreiflich lang nicht geschrieben und nicht geantwortet, ihre Briefe an Frau Heim hier klingen leider nicht nach lebhafter Glücksempfindung, auch was der Staatsschreiber erzählt, nicht. Seid tausendmal gegrüßt v[on] Eurem Bruder Karl. NB. Obwohl der Anlaß wenig geignet, bitte ich doch Käthen, ein bißchen Sorge zu haben daß ich erhalte[:]

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Karl Dilthey an Dilthey

1 Zangemeisters5 Heft (Haupt, über Catull), wegen dessen er mir vorgestern etwa zum 10ten Mal geschrieben. 2 Gervinus Literaturgeschichte 3 Lessing. Werke in 10 Bänden 4 Giordano Bruno (der Züricher Cantonbibliothek gehörig). 5 Dante, kleine Schriften Bd I. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 d. 1

Nicht überliefert. Lucius Apuleius (ca. 125–170 n. Chr.): Schriftsteller und Philosoph. 3 Gustav Gröber (1844–1911): Philologe; 1873 a. o. Prof. in Zürich, 1874 o. Prof. in Breslau, 1880 in Straßburg. 4 Marie Exner (1844–1925): österr: Schriftstellerin; 1874 Heirat mit dem Wiener Urologen Anton von Frisch (1849–1917). – M. Exner hatte sich zwischen 1869 und 1872 in Zürich bei ihrem Bruder aufgehalten, wo sie vermutlich Karl D. kennengelernt hatte. 5 Karl Friedrich Zangemeister (1837–1902): klass. Philologe; seit 1868 Bibliothekar der Universitätsbibliothek in Heidelberg, ab 1875 o. Prof. ebd. 2

[466] Dilthey an George Westermann Verehrtster Herr Westermann, Eine Photographie von mir ist im Augenblick nicht vorhanden; doch soll mir Ihr Wunsch Anlaß sein, demnächst welche anfertigen zu lassen und dann wird mir ein Vergnügen sein, ein Exemplar in Ihrer Nähe zu wissen. Sie würden mich verbinden, wenn die folgende Gefälligkeit Ihnen nicht lästig wäre. Meine Arbeiten für die Monatshefte sind nun lange Zeit hindurch, gerade die größeren ein halbes Jahr, liegen geblieben, da in meiner Abwesenheit die Correkturen nicht ausführbar erschienen. So ist eine Geldsumme auf welche ich rechnete nicht verfügbar geworden zum 10 October. Es wäre mir nun erwünscht, auf mein Conto jetzt 100 Thaler zu erhalten. Ein kleinerer Aufsatz über Richard Wagner1 wird nächstens fertig werden. In der Hoffnung, daß ich Ihnen, vielleicht in diesem Frühjahr? in Berlin einmal begegnen möge ganz ergebenst der Ihrige Professor W. Dilthey Breslau Claassenstraße 2. 2 Dec[ember] [18]74.

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Dilthey an George Westermann

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Original: Hs.; WUA 1/193. 2. 1

D.s Aufsatz Richard Wagner erschien unter dem Pseudonym „Karl Elkan“ in: WM 39 (1876), S. 421–432; WA in: GS XV, S. 184–198.

[467] Dilthey an Wilhelm Scherer Lieber Freund, Besten Dank für den Aufsatz,1 der mich sehr interessirt hat, zumal in Rücksicht auf m[eine] Abhandlung, zu der ich jetzt neben Anderem Material sammle. Ich selber bin jetzt in munterem Schreiben. Aber so sehr bin ich doch nicht für die Interessen der Freunde absorbirt durch eigene Arbeit daß ich nicht Ihr Buch,2 wenn Sie nur Ihrem Buchhändler Direktive zu mir geben wollen, gleich in einer der hießigen Zeitungen anzuzeigen ungemeine Lust hätte. Angelesen habe ich es mit vielem Vergnügen, das wirkliche Lesen mir aber für die Anzeige verspart. Also wenn es nicht schon unterwegs ist avertiren Sie Ihren Sosier.3 Von Glück zu schreiben, hemmt in mir eine Scheu, wie in den über Alles von mir geliebten Alten. Mir ist in dieser Welt so gut geworden, daß ich nie glaubte daß sie ein so friedenvolles tiefes Glück enthielte. Meine Frau grüßt Sie herzlich unbekannter Weise. Zu schreiben nimmt leider in mir immer mehr die Lust ab. So bin ich ganz ohne Nachricht von Grimm, Duncker, Erdmann[sdörffer], allen liebsten Freunden. Ostern denken wir nach Berlin zu gehen u. ich habe eine beträchtliche Hoffnung daß man auch Sie da finden werde. In treuer Freundschaft Ihr Dilthey An Schmoller und Böhmer4 herzliche Grüße. Claassenstraße 2. Breslau. 23 Dec[ember] [18]74. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 26; ein handschriftliches Transkript des Briefes von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW Dilthey-NL, Fasz. 261, 26.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

1 W. Scherer: Deutsche Studien II. Die Anfänge des Minnegesanges, in: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Philos.-histor. Classe. Bd. 77. Wien 1874, S. 437–516. 2 W. Scherer: Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich. Berlin 1874. 3 Diener (Sosias war der Name des Dieners von Amphytrion). – Diese Rezension ist vermutlich nicht erschienen. 4 Eduard Böhmer (1827–1906): Romanist und Theologe; 1866 a. o., 1868 o. Prof. für romanische Philologie in Halle, 1872 in Straßburg.

[468] Hermann Usener an Dilthey und seine Frau Bonn, 31. Dez[ember] [18]74 Liebste Geschwister, aus langem tiefen Schweigen, wie es nur das höchste selbstgenügsamste Glück um sich hüllt, habt Ihr endlich Euch vernehmen lassen, und Wilhelm in gründlichstem Brief,1 der sogar schon ein ganzes Stück Zukunft, wenigstens schriftstellernder, gleich mitumfasst. Leider bin ich etwas zu wenig in die vorhergegangenen Stadien Deines Planes eingeweiht, liebster Wilhelm, als dass ich den Plan selbst aus Deinem Brief hätte mit Sicherheit erraten können. Denkst Du an eine Sammlung Aufsätze? Es ist doch nicht ganz recht, und allmählich wirst auch Du dem wieder Rechnung tragen, dass man so sehr ausser Verbindung und Zusammenhang kommt. So höre ich seit Jahren nicht einmal mehr davon, wenn Du Deine Bücher fertig machst und herausgibst, bis auf den heutigen Tag weiss ich z.B. nicht, ob die Abhandlung die Du als Gratulationsschrift für Braniss und Elvenich schriebst, erschienen ist oder noch gefeilt wird.2 Necken will ich eigentlich nicht, denn Du dürftest den Spiess umkehren. Trotz Italien oder gerade weil auf Italien ein so schreckliches Semester ohne Verschnaufen folgte wie der letzte Sommer ziehe ich heuer beim Jahresschluss eine recht wenig befriedigende Bilanz. Ich musste im Herbst an meine chronologische Publikation gehen, die mir unsäglich viel unerfreulich folternde Arbeit hintendrein auferlegt hat. Die grosse äussere Schwierigkeit (ohne erheblichen Staatszuschuss hätte kein Verleger gewagt, die Sache zu übernehmen) ist endlich, wie es scheint, beseitigt; Mommsen will die Schrift unter die Abhandlungen der Berl[iner] Akad[emie] bringen.3 Jetzt kann ich die Sache einmal wieder beiseite legen, um schnell eine Gratulationsschrift unserer Universität für Leyden zu verfassen, zum 8. Februar!4

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Doch genug von diesen Quisquillien. Käthe hätte wahrlich recht, wenn sie sich ennuyierte. Der schlimmste Streich, den Ihr uns gespielt und doch von Eurer Seite äusserst vernünftig, war, dass Ihr auf der Rückreise aus dem Süden nicht mehr einen Abstecher nach Bonn machen konntet. Ich leide am meisten darunter, da mir nun bis zur Stunde das holde Gestirn der Schwägerin oder vielmehr neuen Schwester noch nicht aufgegangen ist, sondern immerfort gleichsam eine vorhergesagte Erscheinung bleibt, auf die ich geduldig warten soll. Aber jeder Brief jede Nachricht von ihr macht mir das Warten schwerer. Das Beste aber, was Wilhelm schreiben konnte, sind die erfreulichen Nachrichten über Dein fortgesetztes Wohlbefinden, liebste Unbekannte! Möge dieses Geschenk des Himmels unter Wilhelms Pflege sich mehr und mehr befestigen, dazu brauche ich kaum Glück zu wünschen. Denn für zwei Menschen, die sich lieb haben und im übrigen auf gutem Fuss in der Welt stehen, ist alles von Glück und Genussfähigkeit des Glücks in dem einen Wort Gesundheit eingeschlossen. Und so denke ich vor allem daran, wenn ich Euch beiden aus vollem Herzen alles Glück zum neuen Jahre wünsche! Euer getreuer H. Usener „Wenn sich ein Ding von selbst verstand, so greift der Philosoph zu Kant und lässt sichs nicht verdriessen mit logisch tiefen Schlüssen die Wahrheit zu ergründen, um endlich sie zu finden als Schüler nur von Kant, – sie lag ja auf der Hand.“

So hat unlängst der Studentenwitz sich an Freund [J. B.] Meyer in einem Inserat der Bonner Zeitung gerächt. – Im übrigen, Ihr Liebsten zu Breslau, haltet Euch in Eurem Vorsibirien gesund und frisch, wie bisher, so auch im neuen Jahr. Mögen von Käthe immer solche Bulletins von Gesundheit und Lebensfrische ausgegeben werden wie in diesem Winter und Wilhelms Aufhellungen über die staatsrechtlichen Theorien immer mehr Gestalt und Leib gewinnen, um bald als geschlossenes Ganzes hervorzutreten. Und noch einen Wunsch habe ich ans neue Jahr. Dass es uns wieder und diesmal gründlicher wie im vergangenen Jahre zusammenführen möge! Unsere Weihnachtstage sind sehr behaglich und froh verlaufen, und unsrere Festfreude habt Ihr durch Eure Überraschungen noch vermehren helfen. Die Kinder, namentlich Mariechen, sind schon im Alter voller Empfänglichkeit: es ist ein sehr glückliches Gefühl von der Freude eigener Kinder

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Hermann Usener an Dilthey und seine Frau

erwärmt zu werden. Mein dürftiges Päckchen mit den Briefen wird wohl so zur selben Zeit, wie Eure Sendung am Ort der Bestimmung eingetroffen sein, will sagen, am ersten Weihnachtstag? Mit den herzlichsten Grüssen und besten Wünschen Euer Hermann Us. P.S. die vorstehenden Zeilen warten noch darauf, dass Lily ihre Grüsse zusetzte. Da ist sie nun durch Besuch, den wir für den Abend zu erwarten haben, zu vorbereitender Tätigkeit genötigt, welche sie in der nächsten Stunde noch nicht an den Schreibtisch gelangen lässt. Sie trägt mir daher auf, Euch für Eure schöne Gabe besten Dank zu sagen und von ihrer Seite auch zum neuen Jahre herzlich Glück zu wünschen. Wir werden in der Nacht bei fröhlichem Glase auch Eurer gedenken und unsere gegenseitigen Wünsche werden sich dann begegnen. Euer HU. Original: nicht überliefert; eine maschinenschriftliche Abschrift des Briefes ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 g. 1

Nicht überliefert. Beide Festschriften D.s wurden nicht publiziert. 3 H. Useners Chronologische Beiträge, die hier gemeint sein könnten, erschienen erst 1879 in: Rheinisches Museum 34 (1879), S. 388–441. 4 Ad historiam astronomiae symbola. Bonn 1876. 2

[469] Adolf Glaser an Dilthey Lieber Freund! Deinen vorletzten Brief würde ich längst beantwortet haben, wenn sich bei meinem letzten Aufenthalte in Braunschweig nicht herausgestellt hätte, daß die vortreffliche Idee einer regelmäßigen kritischen Übersicht leider unausführbar ist. Die Verleger, Westermann und die Druckverhältnisse stehen in Klage und es muß schon bei der seither üblichen Manier bleiben. Man muß sich eben in das Unabwendbare fügen. Sehr gern werde ich Dir beim nächsten Besuche in Braunschweig eine Liste Deiner Manuscripte machen. Du weißt, daß man sie nicht sicher abschätzen kann. Heine1 und Alfieri2 geben zusammen wohl 4–5 Bogen. Dann ist noch

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Adolf Glaser an Dilthey

Balzac3 u.s.w. vorhanden. Den Alfieri habe ich schon zum Satz gegeben und ich hoffe, ihn bald zu bringen. Das Porträt Richard Wagner ist in Arbeit gegeben. Sende den Artikel recht bald und füge die Besprechungen der andern Novitäten bei. Du hast noch manches Buch liegen, das nicht besprochen ist; genau weiß ich aber selbst nicht, was es ist. Es kommt übrigens nicht darauf an, wenn Du auch einmal eine Novität besprichst, die Dir nicht von uns zugesandt wurde. Grüße Scholzens und Deine Gattin von mir und sei selbst herzlich gegrüßt von Deinem AGlaser Berlin 13 Febr[uar] [18]75 Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 257, Bl. 27–27 R. 1 Besprechung (unter dem Pseudonym „Karl Elkan“) von A. Strodtmann: Heinrich Heines Leben und Werke. 2 Bde., 2. Aufl. Berlin 1873, in: WM 40 (1876), S. 147–155; (1876), S. 311–320 und S. 478–491; WA in: GS XV, S. 205–244. 2 D.s Aufsatz über Vittorio Alfieri erschien in: WM 38 (1875), S. 324–335 und S. 425–443; WA in: GS XXV, S. 284–326. 3 D.s Beitrag über Balzac erschien (unter dem Pseudonym „Wilhelm Hoffner“) im Februar 1876 in: WM 39, S. 476–483.

[470] Dilthey an Hermann Usener [Frühjahr 1875]1 Freudige Glückwünsche, mein lieber Hermann; hoffentlich geht Alles gleich gut weiter. Wie freue ich mich darauf, wenn wir nur uns Alte im Herbst wiedersehen werden. Im Augenblick stecke ich tiefst in der Arbeit, sodaß ich auch, wenn wir Beginn nächstens Monats in die Nähe von Berlin gehen, nur mit einem Bücherkoffer dorthin reise. Ein Stück einer Abh[andlung] ist eben in e[iner] Zeitschr[ift] erschienen;2 da aber Zusammenhang nothwendig ist, sende ich Dir erst, wenn das Ganze da ist. Recht müde bin ich freilich; das Semester brachte diesmal neben der Gesch[ichte] der alten Philosophie, die ich bis auf Sokrates ganz neu aus den Quellen gearbeitet habe, auch eine Geschichte des europ[äischen] Unterrichtswesens u. seiner Methode,3 bei der ich viel gelernt habe, die mir aber auch verdrießliche Leserei machte. Das er-

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Dilthey an Hermann Usener

ste Gebiet dessen was ich für wirkliche Philosophie halte u. auf dem ich nun allmälich mich vervollständige, macht mir in solchen müden Tagen einen beängstigenden Eindruck. Und alsdann dünkt mich das Wenige was der Einzelne auf ihm leisten kann nicht der Opfer an Lebensfreude werth die er bringt. In meiner Müdigkeit hat mich eine Nachricht, die ich gestern aus Leipzig empfing sehr u. wol üb[er] Gebühr geärgert. Nach Sigwart ist dort Kuno Fischer vorgeschlagen4 und zwar ist man bei der Debatte über mich der Ansicht gewesen daß man nur darum mich nicht vorschlagen könne, weil ich meiner Gesundheit wegen öfters Urlaub genommen u. so den größeren Anforderungen und Anstrengungen welche man in Leipzig mache mein Körper schwerlich gewachsen sei. Du erkennst wol den Meister der Intrigùe der hier für Kuno F[ischer] gewaltet u. dessen Ihr Euch auch früher in Bonn erfreutet. Dies ganz entre nous, antworte auch nichts darauf, weil doch wahrscheinlich wenn die Antwort kommt der Ärger glücklich vergessen ist u. sonst nur erneuert würde: ich ziehe vor dergleichen so schnell als möglich zu vergessen. Natürlich wird von Abneig[un]g gegen Vorlesung und dgl. allerhand dabei gewesen sein, was ich einfältig genug war ungenirt auszusprechen gegenüber der üblichen Heuchelei. Feinde tragen dergleichen umher, das Andere aber, daß ich eine geistige Energie auf die Vorlesungen verwandt habe u. dadurch größ[ere] Wirk[ung] gehabt als so u. so viel von den Regelrechten: das sagen sie nicht. Inzwischen werde ich hierfür regelmäßig lesen, aber meine geistige Energie ausschließlich meinen wissenschaftlichen Arbeiten widmen u. nicht ruhen bis ich auf meinem Gebiet philos[ophischer] Untersuchung von Thatbeständen der geschichtlichen Welt die beste u. die unbestrittene Autorität bin. Doch genug des leidigen Capitels das zwischen uns nicht weiter berührt werden mag. Schließlich ist ja das Dociren nur ein Nebengeschäft, das Philosophiren das Geschäft meines Lebens, u. fortab wird dieses naturgemäße Verhältniß sich auch nie wieder bei mir verschieben. Wäre ich nach L[eipzig] gek[ommen], so wäre mir die beste Kraft in den Vorlesungen verloren gegangen; in m[einer] jetz[igen] Lage kann ich sie mit voller Concentration der schriftstellerischen Thätigkeit widmen, damit ein Gedächtniß von mir in der Wissenschaft zurückbleibe. Es ist nur die gemeine Univ[ersitäts]intrigùe, die mich ärgert wo ich mit ihr in Berührung trete, ja ein gewisses Gefühl von Beschämung, mit seiner äußeren Lebenslage u. ihrem Verlauf von dieser anmuthigen Gesellschaft zu dependiren. Das weiß ich, mit meiner jetzigen Kenntniß derselben hätte ich nicht mehr den Muth gehabt ihr meinen Lebenslauf anzuvertrauen. Gegenwärtig, mit einer Einnahme von über 3000 Thalern, kann ich ruhig philosophiren und verachten. Da habe ich mir denn heute meinen Verdruß von der Seele geschrieben, Du lieber alter getreuer Freund, Genosse u. Bruder. Unsere Pläne neben-

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einanderzugehen haben sich nicht verwirklicht u. jeder von uns muß allein seinen Kriegspfad im Leben gehen. Laß bald Erfreuliches von Lily hören, die ich vielmals umarme u. küsse, u. Dein heute so brummiger, sonst sehr menschlicher u. vergnügter Wilhelm empfielt sich Dir[,] ihr[,] Marie, Euch Allen Wilhelm Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL, S 2102, 3, 35; ein maschinenschriftliches Transkript mit Auslassungen ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 17, 11. 1

Der Brief ist undatiert; im Typoskript die nachträgliche Datierung: „Breslau 1875?“. Der erste Teil der so genannten „Abhandlung von 1875“: Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat, in: Philosophische Monatshefte 11 (1875), S. 118–132 und S. 241–267; WA in: GS V, S. 31–73. 3 D. hatte im Wintersemester 1874/75 gelesen: 1. Geschichte der Philosophie (4 std.), 2. Geschichte der Pädagogik und Grundlinien ihres Systems (3 std.) sowie 3. Übungen zu Spinozas Ethik (2–3 std.). 4 Der Philosoph Heinrich Ahrens, geb. 1808, der seit 1859 einen Lehrstuhl für praktische Philosophie in Leipzig inne gehabt hatte, war am 2. August 1874 gestorben. – Der Philosoph M. Heinze, der sich 1872 in Leipzig habilitiert hatte, kehrte 1875 als o. Prof. an die Universität Leipzig zurück. 2

[471] Dilthey an George Westermann [nach 21. Mai 1875] Verehrtester Herr Westermann, Von einem Ausflug zurückgekehrt, finde ich Ihre Zeilen,1 die ich gleich beantworte. Ich bin bereit die Essays über J. St. Mill u. über Dickens zu schreiben; nur wünsche ich die deutsche Übersetzung der Biographie Mills2 u. den zweiten Band der Forsterschen Biographie von Dickens in ihrer deutsch[en] Übersetzung zu erhalten. Sobald dieselben in meinen Händen sind, kann ich die Arbeit beginnen, die mir viel Vergnügen machen wird, weil ich natürlich über beide bedeutende u. mir sympathische Zeitgenossen oftmals nachgedacht habe. Ich glaube daß es nur nöthig sein wird die Verleger auf die Absicht, für beide Bücher ein weiteres Interesse durch Besprechung anzuregen aufmerksam zu machen; als dann werden sie gewiß gern die betreffenden Bände einsenden.

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Dilthey an George Westermann

Ich nutze diese Gelegenheit, von neuem die herzliche Gesinnung auszusprechen, in der ich bin Ihr ergebenster Prof. W. Dilthey Original: Hs.; WUA I/193. 2. 1 2

Nicht überliefert. J.St. Mills Selbstbiographie. Übers. von C. Kolb Stuttgart 1874.

[472] Dilthey an seinen Bruder Karl 25

/5 [18]75

Liebster Karl, Was Förster1 betrifft, so ist Gefahr im Verzug. Eben liegt der Fakultät die Anzeige vor daß er in Berlin seine Entlassung erbeten um die Professur in Rostock anzunehmen. Sobald Du mir es meldest u. mich beauftragst, werde ich ihn bestimmen die Rostocker Sache noch hinauszuziehen. Es ist ihm gelungen sich hier eine recht respektable Wirksamkeit zu erringen. Nicht nur liest er jedes Semester, sondern auch vor einem nicht kleinen Kreis von Zuhörern. Sein unermüdlicher Fleiß wird ihm gewiß überall zusammen mit einer soliden Methode u. persönlicher Redlichkeit eine tüchtige Wirksamkeit sichern. Was Deine Anfrage wegen der philoso[phischen] Professur betrifft, so bin ich wieder ganz sicher, daß die dortige Stellung in dem Sinne, in welchem sie gedacht ist, als Professur für die Erfahrungsphilosophie, auch wieder besetzt werden kann. Wollte man hiervon abgehen, so müßte gegenwärtig unbedingt vor allen anderen jüngeren Philosophen an Professor Schuster in Leipzig gedacht werden. Sein Buch über Heraklit2 muß als die bedeutendste Förderung betrachtet werden welche der Geschichte der Philosophie in den letzten Jahren in Deutschland zu Theil geworden ist. Gründliche Philologie und ein angeborener historischer Blick, wie ihn dessen sich nur wenige rühmen können, verbindet sich in demselben. Es sind aber in den Gränzen der dortigen Aufgabe zwei Personen, welche mir wohlgeeignet scheinen.

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Durchaus in erster Linie Professor Hermann Cohen in Marburg. Seine Schrift ‚Kants Theorie der Erfahrung‘ hat den Anfang zu einer nicht nur philologisch genauen, sondern auch Kant in neuen Beziehungen zu den gegenwärtigen Aufgaben der Philosophie setzenden Erkenntniß und Vertheidigung dieses Systems gegeben. Cohen hat sich mit Mathematik u. Naturwissenschaften von seiner Universitätszeit ab ernstlich u gründlich beschäftigt. Seine Stellung, gemäß welcher er die Philosophie Kants mit diesen Ergebnissen als im Einklang auffaßt, kann von verschiedenen Standpunkten aus verschieden beurtheilt werden; aber sie ist im Einklang mit sehr hervorragenden gegenwärtigen Forschern u. vorzüglich geeignet der Philosophie Würde u. Achtung an einer Universität zu verschaffen. Eine zweite neuerdings erschienene Schrift über die früheren Arbeiten Kants zeigt ihn in seiner Richtung glücklich weiterarbeitend.3 In zweiter Linie wäre dann hier Dr. Windelband in Leipzig zu erwähnen. Seine beiden Abhandlungen ‚vom Zufall‘ und ‚Gewißheit der Erkenntniß‘ sind geistvolle Studien.4 Doch erscheinen die mannichfachen systematischen Ansätze darin noch nicht so durchgebildet daß er als Gelehrter gegenwärtig mit Cohen verglichen werden könnte. Ein Gelehrter, der eine in seiner Art reife Durcharbeitung eines zusammenhängenden Stoffes hinter sich hat, wird jederzeit dem vorzuziehen sein, welcher erst eine solche Arbeit durchzuführen und sich an ihr zu bewähren hat. Von dieser Vergleichung abgesehn, Herr Dr. Windelband für sich genommen, kann gewiß nach den beiden Studien erwartet werden daß er auch zu zusammenhängenderen einen Gegenstand nach Kräften erschöpfenden Leistungen voranschreiten werde. Schreibe doch wie es mit Graz steht; Käthen hole ich Morgen früh in Maiwaldau. T[au]s[en]d Grüße. Sehr in Eile Dein Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 13 d. 1 Richard Förster (1843–1922): klass. Philologe und Archäologe; damals Prof. in Breslau, ab 1875 Prof. in Rostock. 2 Paul Robert Schuster (1841–1877): Philosoph; 1872 Habilitation in Leipzig, seit 1874 ebd. a. o. Prof. – Heraklit von Ephesus. Ein Versuch, dessen Fragmente in ihrer ursprünglichen Ordnung wiederherzustellen. Leipzig 1873. 3 H. Cohen: Kants Theorie der Erfahrung. Berlin 1871. – Die systematischen Begriffe in Kants vorkritischen Schriften nach ihrem Verhältniß zum kritischen Idealismus. Berlin 1873. 4 Wilhelm Windelband (1848–1915): Philosoph; 1876 Prof. in Zürich, 1877 in Freiburg, 1882 in Straßburg, 1903 in Heidelberg. – Die Lehren vom Zufall. Diss. Berlin 1870. – Über die Gewißheit der Erkenntnis. Berlin 1873.

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[473] Karl Dilthey an Dilthey Zürich, Fluntern 13. Juni 1875 Es scheint Euch so gut zu gehn, daß Ihr die übrige Menschheit vergesst, Ihr Liebsten, wenigstens die entfernteren Eurigen; denn vor 14 Tagen wenigstens wußte die Mama (die Biebricher nämlich) so wenig von Euch wie ich – seit Ostern hatte sie Nichts von Euch vernommen, ich Nichts seit dem März! Ich hoffe aber, daß Käthe doch den Brief bekommen habe, mit dem ich damals den ihrigen sofort erwiderte. So kann ich Euch wenigstens die neueste Neuigkeit frisch fertiggebacken präsentieren, ich verlasse im Herbst Zürich, ziemlich gewiß, und gehe – nach Graz in [der] Steiermark.1 Ob ich das rechte oder das falsche Loos gezogen habe, weiß ich nicht und kann Niemand wissen, ich bin aber auf dem sichersten Weg, darüber ins Klare zu kommen. Ich bekomme sehr viel Geld, habe wenig zu thun, und werde, offiziell, die Archäologie los; das waren für mich die durchschlagenden Gründe. Schöne Natur; angenehme Existenz, ziemlich große Stadt, unmittelbare Nähe des Südens kommen dazu. Hier hat man von Regierungsseite mir auf alle Weise zu erkennen gegeben, daß man mich schätzt – überschätzt. Ich hätte, wenn ich hätte unterhandeln mögen noch Weiteres erreichen können. Fast macht mir das Herz schwer, daß ich auch den mir verheißenen halbjährigen Urlaub für die griech[ische] Reise aufgebe; nun muß ich mich gedulden bis zum Herbst 1876; denn die Professur in Graz ist schon seit dem Frühjahr unbesetzt. Ich bin einstimmig und als Einziger vorgeschlagen, auf private Anfrage aus Graz hat man aus dem Ministerium erwidert, daß meine Bedingungen keinerlei Schwierigkeiten involvirten. Ich erwarte nun täglich aus dem Ministerium die Anfrage; doch habe ich nicht Lust sehr lang zu warten, sondern werde ein Ultimatum stellen. Also muß ich Euch bitten, noch vorerst über die Sache zu schweigen. Die Frage meiner Nachfolge beschäftigt mich sehr; das Material geht aus. Das Theilen der Stelle hat seine Bedenken und die ungetheilte Stelle zu versehen, ist von Seiten der Jüngeren und Erreichbaren nur Einer im Stand, den Anforderungen die sie an Extention der Studien stellt, zu genügen, Euer Förster. Wie wenig er mir behagt, wißt Ihr, aber er ist doch kenntnißreich, fleißig, und scheint in Breslau sich einen Wirkungskreis neben Eueren Größen ganz in Ehren geschaffen zu haben. Hierüber nun möchte ich gern von Dir, lieber Wilhelm, ein Wort hören. Zum Zweiten wird Wundts Stelle wieder leer.2 Gestern hitzige Sitzung darüber; Kym3 kam mit einem unglaublichen Schund zu Markte; Wundt will an erster Stelle Fritz Schulze4 in Jena, an zweiter Windelband in Leipzig.

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Was meinst Du dazu? Von Schulze will mein Kollege Frankenhäuser, der in Jena mit ihm zusammen war, gar Nichts wissen; seine Schrift über Gemistus Plethon hat nichts Originales u. Durchschlagendes, obwohl sie mir ordentlich scheint; über das ganze Werk, von dem sie ein Bruchtheil, möchte ich gern Dein Urtheil hören, auch über seinen Fetischismus etc.5 Weißt Du von Windelband (freier Wille + Causalität etc.) Etwas? Die Stelle ist nunmal für „induktive Philosophie“ und man glaubt hier Etwas zu haben indem man sich an das Wort klammert; womit man naturwissenschaftl[iche] und richtig „wissenschaftl[iche]“ Philosophie bezeichnen will. Soviel in größter Eile, unter dringendster Arbeit. Seid herzlich gegrüßt, und antwortet mir doch! Euer Karl. Aber um Gotteswillen, schickt endlich doch Zangemeisters Catullheft entweder dem Besitzer oder mir. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 d. 1

Karl D. blieb zunächst an der Universität Zürich und ging 1878 nach Göttingen. W. Wundt ging nach nur einem Jahr in Zürich 1875 als o. Prof. für Philosophie an die Universität Leipzig. 3 Andreas Ludwig Kym (1822–1900): Philosoph, Trendelenburg-Schüler; Prof. für Philosophie in Zürich. 4 Fritz Schultze (1846–1908): Philosoph und Pädagoge; 1875 a. o. Prof. für Philosophie in Jena, 1876 erfolgte ein Ruf nach Zürich, Schultze aber ging als o. Prof. an das Polytechnikum Dresden. 5 F. Schultze: Georgios Gemistos Plethon und seine reformatorischen Bestrebungen. Jena 1874. – Der Fetischismus. Ein Beitrag zur Anthropologie und Religionsgeschichte. Leipzig 1871. 2

[474] Dilthey an seine Frau [21. 6. 1875]1 Meine goldene Käthe, die Fahrt war schön, gar nicht heiß, – nur Du fehltest mir. Hier fand ich Alles gut, Anna2 stand am Herde u. es erschien sofort ein sehr gutes Mittagessen; so daß ich in der Stube allein, die Zimmer kühl, Alles so behaglich –

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nur Du fehltest mir. Und jetzt lese ich mein Colleg für den Nachmittag durch – wer fehlt mir dabei? Fehle ich dem, der mir fehlt, denn auch so oft? Sonst wäre nur von einem verdorbenen Schloß, von einem angebrannten Finger Anna’s der sie hindert Tücher zu waschen, zum Fensterputzen, u. dgl. zu erzählen: denn ich bin erst eine Stunde in Breslau. Und v[on] Briefen war nur Einer da, in dem Westerm[ann] wegen e[iner] Biog[raphie] v[on] Dickens, u. e[iner] v[on] Mill anfragt, sonderbarer Weise als ob Glas[er] nicht existirte. Keine Correktur! Ich werde Morgen wieder schreiben müssen. Hitze ist hier vorläufig gar keine, 17 Grad im Schatten. Du hast hoffentlich von dem Wind nicht gelitten auf der Rückfahrt? Viele Grüße Allen. Ich schreibe eiligst, da auß[er] Colleg noch 20 S[eiten] Spinoza für die Übungen durchzulesen sind. Aber ich denke nicht eilig an Dich, sondern immer. Dein Wilhelm Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45. 1 Datierung nach Poststempel auf beiliegendem Briefumschlag: „Breslau, 21. 6. 75“. – Die Adresse lautet: „Frau Professor Dilthey, bei Herrn Commerzienrath Bekker, Schloß Maiwaldau bei Hirschberg i[n] Schlesien“. 2 Hausmädchen D.s.

[475] Dilthey an seine Frau Donnerstag früh [Breslau, 24.6. 1875]1 Mein liebes Gold, heute wirds nur ein Zettel; denn die Correktur aus Gießen ist erschienen u. giebt viel Arbeit. Wie froh bin ich daß Du weg bist; gestern u. heut waren die schwülsten aller bisherigen Tage. Heute Morgens 10 Uhr, da ich schreibe, sind im Schatten 22 Grad! Und kein rettendes Gewitter zeigt sich. Gestern Abend fleißig bis 9 Uhr, dann vor Schlafengehn im Zwinger mit Scholz, der Abends 9 Uhr noch beständig beim Gehen triefte. Fanden dann dort Brentanos, Bars2 u. Gierke’s. Sprachen Wissenschaftliches wozu ich jetzt die Zeit benutze. Auf heute Parthie nach Zedlitz3 verabredet, was ich aber natürlich nicht mitthue. Denn ich kann hier auch nichts thun als arbeiten. Lange ginge das auch nicht;

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so gewöhnt bin ich daß Deine Augen als freundliche Sterne über allem walten was ich thue. Heute Morgen kein Brief von Dir, der letzte kam gestern früh 9 Uhr.4 Schwerer Tag heute, sodaß ich nur eilen will diese Zeilen trotzdem an Dich gelangen zu lassen. Examen dazu. Anna nachdem sie alles geputzt hat heut zu waschen angefangen. Auch keine Kleinigkeit bei dieser Temperatur. Für mich hat sie heute so viel als nichts zu thun. Sie ist sehr ordentlich. Frau Herz auch gestern im Zwinger gesehn. Läßt vielmals grüßen u. wird Dich noch vor ihrer Abreise sehen; Frau v. Bar u. Frau Brentano lassen ebenfalls sehr grüßen. Cohnh[eim]s gar nicht gesehen. Grüße Mama vielmals u. alle Einwohner des Schlosses. Freu Dich so sehr auf unser Wiedersehen als Dein Wilhelm. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45. 1 2 3 4

Die Datierung wurde nach dem Poststempel des Postamts Breslau vorgenommen. C.L. Bar nebst Familie: seit 1868 Prof. in Breslau. Kleiner Ort im Kreis Schweidnitz/Schlesien. Nicht überliefert.

[476] Dilthey an seine Frau Mittwoch früh nach 24.6. [18]751 Mein liebstes Gold.2 Eben kommt denn auch Dein zweiter Brief.3 Du bist wohl u. sorgst schön für Deine Gesundheit: Gott sei Dank. Hoffentlich geht es mit Mamas Migräne heute auch gut. Gestern war ich eine Stunde im Concert, stieß zuerst auf Römer’s u. Heydenhains, dann ging ich mit Brentanos noch etwas im Garten spatzieren, ließ mich dann aber nicht halten, sondern ging an meine Arbeit. Denn ich finde daß ich unter Menschen noch viel größere Sehnsucht nach Dir habe als unter meiner Arbeit, bei der ich mir doch sagen kann daß sie mich dann für später für Dich frei macht. Doch rechne ich jetzt schon mit Leichtigkeit wann ich bei Dir sein werde, und die dritthalb Tage werden ja die Freude des Wiedersehens um so ungestümer machen. Ich sehe Dich schon Sonnabend im Geiste mich in Hirschberg oder in Schildau4 in Empfang nehmen. Soll ich nach Hirschberg oder nach Schildau Billet nehmen? Schreibe mir das doch. In

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Schildau würde ich Morgens 9 Uhr 44, in Hirschberg 9.51 sein. Auch würde dies noch die Frage sein, ob nicht Ihr vielleicht Sonnabend etwas Größeres unternehmen wollt. Dann könnten wir vielleicht an irgend einem Sammelplatz direkt zusammentreffen. Also schreibe mir über diese Fragen ein Wörtchen. Geld zu senden scheint mir zu unsicher, und andrerseits da ich Sonnabend ganz sicher komme überflüssig. Natürlich haben wir Verwirrung angestellt. Ich habe Alles hier, fragte Dich vor der Abreise von Maiwaldau was ich Dir dalassen sollte, Du sagtest, Du hättest. Ich sagte mit Vergnügen voraus, daß Du einen heimlichen Schatz besäßest. Alles noch voll von einer ausgelassen lustigen Parthie die vorigen Sonnabend stattfand; selbst Scholz sagt sie sei außerordentlich schön u. wirklich harmlos lustig gewesen. Frau Brentano sieht viel besser wieder aus u. wird wahrscheinlich keine Lust haben, vor ihm zu reisen. Bei Römers waren wir zu einem Diner eingeladen, sonst habe ich noch Niemanden gesehen. Denn ich weiß vor Arbeit nicht wo mir der Kopf steht. Die betreffende Novelle will ich selber vorlesen. Finde ich etwas Andres Hübsches, so sende ich es heute noch. Anna besorgt mich sehr gut u. nach der ersten Äußerung ihrer Gemüthsverfassung finde ich sie nun sehr fleißig. Nachts hustet sie wirklich zum Erschrecken: das kann ich jetzt bezeugen, da sie nebenan schläft. Und nun, Du liebe Seele meiner Seele, genieße ja fröhlich die herrliche Gebirgslandschaft u. Gebirgsluft; ich erwarte Dich viele Pfund schwerer zu finden. Wozu wäre eine Trennung wenn sie zu nichts wäre? Meines Kommens wegen sei auch nur ruhig; ich habe mir schon ausbedungen daß Sonnabend weder Examen noch Sitzung sein darf. Heute will ich zu Usener hinaus, zu sehen wie es ihm geht u. wie seine Angelegenheit steht, natürlich nach dem Colleg. Unsere Wohnung ist bei dem schönen kühlen Wetter entzückend. Also heiter u. harmlos froh, liebes Gold, damit Du Dein Leben genießest u. gesund seist. Mamachen tausend Grüße, ebenso an den Onkel, Marichen, Frl. Caro5 u. den Gast des Hauses beste Grüße u. Empfehlungen. Also auf Wiedersehen, und was für Eines! Nach welcher Sehnsucht! Deiniges. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45. 1

Im Original: nachträgliche Datierung auf dem Briefumschlag von fremder Hand: „24. 6. 75“; adressiert ist der Brief an: „Frau Professor Dilthey bei Herrn Commerzienrath Bekker, Maiwaldau bei Hirschberg, Schlesien“. 2 Darüber von D.s Hand: „Die Briefe laufen lang, mein Schatz! Ich habe Montag Mittag geschrieben. Deinen erhielt ich auch erst Dienstag Abends.“

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Beide Briefe sind nicht überliefert. Ort in Schlesien. 5 Vermutlich die Tochter des Historikers Jacob Caro (1835–1904), der seit 1869 als Honorarprof. in Breslau lehrte. 4

[477] George Westermann an Dilthey Braunschweig, 10/8[18]75 Sehr geehrter Herr!

1

Es ist bereits wieder eine lange Zeit vergangen, seitdem Sie die Güte hatten, sich durch Einsendung eines Beitrages der Monatshefte zu erinnern. Erlauben Sie mir heute, daß ich von neuem Ihr Interesse für mein Unternehmen erwecken möchte und den Wunsch ausspreche, daß Sie dasselbe recht bald durch Einsendung eines Ihrer interessanten Aufsätze bethätigen möchten. Sie können versichert sein, daß ich jedem Ihrer Wünsche bereitwillig nachkommen werde. Ich erlaube mir Zusendung des letzten Bandes und werde damit regelmäßig fortfahren. Mit ausgezeichneter Hochachtung Ihr ergebener George Westermann.2 Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 257, Bl. 25. Darüber handschriftlich: „Herrn Prof. Dr. W. Dilthey Breslau“. 2 Darunter in unbekannter Handschrift: „Bitte mit der Buchhandl[un]g von Morgenstern Rücksprache zu nehmen ob dieselbe die Beförderung übernehmen will. DO“. 1

[478] Otto Ribbeck an Dilthey Heidelberg, 11. Oktober 1875 Daß Sie auf meine Tragödienklitterung1 gespannt sind, macht mich fast bange; denn schwerlich finden Sie darin, was Sie suchen. Ich habe mich bemüht, aus dem dürftigen Material einen Notbau aufzurichten, der natürlich allerorten klafft, wackelt und einen unharmonischen Anblick bietet – hie und da ein pannus purpureus,2 dann wieder nackte Latten und schäbige Fetzen. Dennoch wüßte ich es nicht besser zu machen. Von Ihnen will ich hören, ob

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ich mich nunmehr nach beträchtlichen Vorarbeiten an die griechische Tragödie wagen oder mich einstweilen mit der römischen Komödie bescheiden soll, die natürlich sehr anders anzugreifen ist. Aber wie freue ich mich auf Ihre Sendung! Und auf Ihre Euripidesgedanken! Meine nächste Zukunft muß fast ausschließlich grammatischen Studien gewidmet sein, wo mir dann dergleichen Leckerbissen doppelt willkommen sind, u.s.w. Original: nicht überliefert; Erstdruck: Otto Ribbeck. Ein Bild seines Lebens aus seinen Briefen 1846–1898. Hg. von E. Ribbeck. Stuttgart 1901, Brief 191. 1

O. Ribbeck: Die römische Tragödie im Zeitalter der Republik. Leipzig 1875. Horaz: Ars poetica 14–18: „Oftmals wird dem erhabenen und Großes verheißenden Anfang/ Angeheftet der ein oder andere Lappen von Purpur,/ Daß weithin er glänzt.“ 2

[479] Adolf Glaser an Dilthey Lieber Freund! Die Zusendung der Bücher verzögerte sich etwas, weil ich fürchtete, daß Du in den ersten Tagen Mancherlei andere Dinge im Kopfe haben möchtest und bei einem so gelehrten Hause wie Du geräth dann leicht ein Paket Bücher in Vergessenheit. Wenn wir erst mit den Literaturbriefen hübsch im Zuge sind,1 werden interessante Novitäten genug kommen. Ich habe sehr bedauert, daß die Verabredung im Schauspielhause scheiterte, da die Kasse keine Billets mehr hatte; ich ging ins Opernhaus, wo etwas mehr Platz war. Am anderen Tage suchte ich Dich Prinzenstraße 81, erfuhr aber dort, daß Deine Schwiegermama längst ausgezogen sei – wohin wußte Niemand dort zu sagen. Zu spät kam ich erst auf den Gedanken, Schmidt2 zu fragen. So bin ich wieder um die Freude, Deine Gattin kennen zu lernen, gekommen! Von Braunschweig erfahre ich, daß man Dir 1 Frei-Exemplar geschickt, aber auf die Anfrage, durch welche Buchh[an]dl[un]g Du es wünschtest, keine Antwort erhalten hat. Es ist durch Morgenstern gegangen. Herzlich grüßend Dein Freund A. Glaser Berlin 29. October 1875

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Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 257, Bl. 18–18 R. 1

Die Literaturbriefe erschienen erstmals 1876 im Bd. 39 von WM: Nr. 1–8 unter dem Pseudonym „Wilhelm von Kleist“, Nr. 9 (1876) – Nr. 20 (1877) anonym und später zudem unnummeriert. Vgl. hierzu GS XVII und das Vorwort des Hg. zu diesem Band. 2 Gemeint ist Julian Schmidt.

[480] Dilthey an Otto Benndorf 1 Lieber Freund, Entschuldigen Sie mich nur, wenn ich Ihre freundschaftliche Gesinnung in Anspruch nehme in einer Angelegenheit unsrer Universität. In der Commission zur Besetzung der germanistischen Professur, welcher ich angehöre,2 ist auch Martin3 von uns in Betracht gezogen worden, unter den drei oder vier, welche durch ihre Arbeiten dies verdienen u. für uns etwa erreichbar sind. Die Hauptfrage aber für uns, die wir wenig Gewicht darauf legen durch Namen nach außen zu imponiren, ist wie sich unter diesen dreien oder vieren die Qualifikation und die habituell gewordene Neigung energisch intensiv und auch extensiv auf die Studenten einzuwirken stellt. Für die Beantwortung dieser uns wichtigsten, für uns entscheidenden Frage sind wir auf persönliche vertrauliche Information angewiesen. So erlaube ich mir, mich an Sie zu wenden. Meine Frage betrifft also nur diesen Punkt; ohnehin hat mein Freund Scherer, der mir gleich mündlich Martin dringend empfahl, von den anderen Seiten desselben mir eingehende Mittheilung gemacht. Meine Fragen also, wenn ich Sie noch näher präcisiren darf, sind 1. hat M[artin] in Übungen oder irgend einer anderen Form Verkehr mit den Studirenden. 2. Ist es ihm gelungen, Schüler zu ziehen, was entweder aus Dissertationen oder aus kleinen literarischen Arbeiten von solchen sichtbar wäre? 3. Wie stellen sich extensiv seine Lehrerfolge. An letzte Frage erlaube ich mir eine andere anzuschließen. Herr Professor Kelle4 von Ihrer Univ[ersität] ist durch eine Reihe von Briefen dringend empfohlen worden. Vor allem ist die außerordentlich große Zahl von Zuhörern, auch in einem so exclusiven Colleg wie Grammatik, dabei hervorgehoben. Bei den Fachleuten ist indeß, gänzlich unter uns gesagt, Widerstand bemerklich geworden, sodaß wie mir scheint eine Aussicht auf seine Berufung unbe-

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dingt gar nicht besteht. Vielleicht fügen Sie über sein, mit dem Martins so eng verknüpftes Universitätsverhältnis ein Wort hinzu. Von Bruder Carlo gute Nachrichten. Mir geht es gut u. meine Frau läßt sich Ihnen u. Ihrer Frau unbekannter Weise empfehlen. Ich denke daß uns im kommenden Jahre einmal eine Reise über Prag führt u. wir uns wiedersehen. Mit bestem Gruß Ihr Wilhelm Dilthey. Breslau Claassenstraße 2. 7ten November [18]75. Original: Hs.; ÖNB Wien, Autogr. 639/28-1. 1 Otto Benndorf (1838–1907): klass. Archäologe; 1869 a. o. Prof. in Zürich, 1872 in Prag, ab 1877 o. Prof. in Wien. 2 Ein Nachfolger auf dem Breslauer Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur, welchen der Germanist Heinrich Rückert (1823–1875) seit 1867 inne gehabt hatte, wurde gesucht, da Rückert am 11. September 1875 verstorben war. 3 Ernst Martin (1841–1910): Germanist und Romanist; 1868 a. o., 1872 o. Prof. in Freiburg, 1874 in Prag, 1877 in Straßburg. 4 Johann Nepumuk Kelle (1829–1909): Germanist; seit 1857 Prof. der deutschen Sprache und Literatur in Prag.

[481] Dilthey an Wilhelm Scherer Mein lieber Scherer, Heute kann ich Ihnen für Ihre Zusendungen, die gestern in meine Hände gelangten, nur danken; ich erwarte einen Tag, an dem ich Ihr Buch1 in Einem Zusammenhang durchlesen kann: dann sollen Sie gleich Ihren Brief darüber haben. Heute also nur germanistische Professur! Ich bin in die Commission gewählt und in der ersten Sitzung sind von Vorschlägen aufgetaucht, die Chancen haben: Zupitza,2 Martin, Weinhold, Bartsch.3 Auf Martin habe ich mit großer Entschiedenheit gehalten. Ihr Brief war nun für mich, wie sich jetzt die Sache gestaltet hat, nicht vorlegbar. Es gibt bestimmte Punkte. 1. g[egen] Martin wird bemerkt daß er nichts publicirt habe was Strenge der Methode

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u. des feineren Wissens und nichts was Originalität zeige. 2. Die Hauptfrage für uns liegt darin, wie unter diesen Bewerbern sich die Fähigkeit Schüler zu bilden und anregend zu wirken vertheilt. Ich möchte Sie also im Interesse Ihres Vorschlages bitten, als Auskunft über diese Befähigung Martin’s mir Notiz von seinen Erfolgen, wie Dissertationen oder Schüler, die etwas geschrieben etc., sie zeigen, zu schreiben, dabei aber, ohne jene Einwendungen gegen s[eine] wissenschaftliche Seite zu erwähnen, über dieselben sich zu äußern. Diesen Brief kann ich dann der Commission mittheilen. In Bezug auf die Thatsache daß Weinhold die langen Jahre hindurch gar keine Schüler zu Arbeiten angeregt hat (nur Eine germanist[ische] Dissertation fand sich in Kieler Programmen während all dieser Jahre) ist bemerkt worden daß bei Müllenhoff 4 wol derselbe Fall stattgefunden habe u. irgend welche Leistungen von ihm ebenfalls dort gar nicht angeregt seien. Ich möchte Sie bitten in einem Zettel für mich diese Thatsache, die wol kaum richtig sein kann, (da doch ich in 2 Jahren dort 2 Schüler gezogen habe) mir zu berichtigen. Soviel heute eiligst. Wir sind beide wohl u. außerordentlich vergnügt u. meine Frau grüßt Sie vielmals. Meine Vorlesung über Psychologie macht mir großes Vergnügen,5 ich kann mich im größten Auditorium kaum zum Katheder durchdrängen. Es soll ein fruchtbarer Winter werden. Die sonnige Erinnerung an die gemeinsam verlebten Tage ist Käthen u. mir unvergeßlich. Feste treue Gesinnung unter Männern und das lebendige Gefühl davon zähle ich unter die höchsten Güter des Lebens. In Berlin waren wir nur flüchtig6 und ich besuchte Niemanden als die Frau Duncker, Frau Gräf[in] Schwerin, Julian [Schmidt] u. Wehrenpfennig; anstatt Einladungen anzunehmen genossen wir Armida7 und Richard III.8 Meine Frau grüßt Sie vielmals Ihr Wilhelm Dilthey Breslau Claassenstraße 2. 17. Nov[ember] [18]75. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 27; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 27. 1 W. Scherer: Geschichte der deutschen Dichtung im elften und zwölften Jahrhundert. Straßburg 1875. 2 Julius Zupitza (1844–1895): Anglist; 1872 a. o. Prof. in Breslau, 1872 o. Prof. der nordgermanischen Sprachen in Wien, ab 1876 Prof. der englischen Sprache und Literatur in Berlin.

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3 Karl Bartsch (1832–1888): Germanist und Romanist; 1858 Prof. der deutschen und romanischen Philologie in Rostock, seit 1871 in Heidelberg. 4 Karl Viktor Müllenhoff (1818–1884): Germanist; 1846 a. o., 1854 o. Prof. der deutschen Sprache und Altertumskunde in Kiel, seit 1858 in Berlin. 5 D. las im Wintersemester 1875/76 Psychologie, mit ihren Anwendungen auf die Grundfragen des Rechts, der Religion und Erziehung (4 std.). 6 D. war mit seiner Frau Ende Oktober 1875 in Berlin (vgl. den Brief 479 von A. Glaser vom 29. 10. 1875). 7 Armida: beliebtes Opernsujet des 18. und 19. Jahrhunderts; Antonio Salieri: Armida; Gioacchino Rossini: Armida. 8 König Richard III.: Historiendrama von W. Shakespeare.

[482] Adolf Glaser an Dilthey Braunschweig 26 Nov[em]b[e]r 18751 Lieber Freund! Bei meiner Anwesenheit hier finde ich verschiedene Werke vor, die Du für die Literaturbriefe besprechen wolltest. Ich lasse Dir dieselben anbei zugehen. Die Correctur des ersten Briefes2 wirst Du in diesen Tagen erhalten und es ist nun Vorkehrung getroffen, daß sie regelmäßig gegeben werden. Mit herzlichen Grüßen Dein Freund A. Glaser Herrn Prof. Dr. W. Dilthey Breslau Claassenstraße 2 Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 257, Bl. 20. 1

Darunter gedruckter Briefkopf: „Redaction der illustrirten deutschen Monatshefte. George Westermann in Braunschweig.“ 2 Der erste Literaturbrief erschien im Februar 1876 in WM 39; WA in: GS XVII, S. 1–8.

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[483] Dilthey an Adolf Glaser Breslau d[en] 26 Nov[ember] [18]75. Claassenstraße 2. Hierbei, lieber Freund folgt gleichzeitig die gänzliche Erledigung aller zur Besprechung empfangenen Bücher, ausgenommen 1. Schillers Briefw[echsel] mit Körner Bd. I, weil hier Bd. II fehlt den ich zum Zweck der Besprechung von Leipzig Veit u. C.1 zu requiriren bitte2 2. Mill, Grote, Dickens,3 die zu Essays bestimmt. Von Herrn Westermann empfing ich e[inen] sehr freundlichen Brief, welcher ausspricht daß man jedem meiner Wünsche bereitwillig nachkommen werde.4 In diesen Tagen werde ich ihm meinen Dank für seine freundlichen Zeilen aussprechen. Die Sache selber betreffend, wird es wie ich denke nicht unbillig sein wenn ich für m[eine] Aufsätze insgemein, größeren oder kleineren Druckes, 80 Thaler erhalte, für diejenigen unter meinem Namen 90 Thaler. Für das unter m[einem] Namen Veröffentlichte wird dies gewiß als eine billige Fassung des seiner Zeit bei Gelegenheit des Alfieri Besprochenen gelten können. Es hat mich verletzt daß der Alfieri einfach mit dem alten Satz bezahlt wurde u. ich darf wie wir schon besprachen billigerweise die Ergänzung des Honorars erwarten. Dies von den lästigen Geschäften, die aber doch auch besorgt sein wollen, da doch Niemand wollen kann daß ich durch meine treue Anhänglichkeit an die Monatshefte, welche so sehr auf meiner alten Freundschaft mit Dir u. meiner Hochachtung für Herrn Westermann ruht, gar zu große pecuniäre Einbuße bei der Überlassung meiner Aufsätze leide. Nun laß uns nur munter an Literaturbriefen u. Notizen5 thätig sein. Daraus daß ich jedes Büchelchen das ich erhalte bespreche, entsteht sicher almälig eine größere Neigung der Buchhändler zu senden, damit für d[ie] Monatshefte der unschätzbare Vortheil daß die Abnehmer wirklich Notiz von Allem wichtigerem Neuerschienenen erhalten. Ich habe folgende Bücher als der Besprechung bedürftig notirt:6 Original: Hs.; WUA 1/193. 2. 1

Veit & Co.: Verlag in Berlin. Im Original: „bitten“. 3 D.s Beitrag John Stuart Mill erschien unter dem Pseudonym „Karl Elkan“ in: WM 41 (1876), S. 255–260; WA in: GS XV, S. 245–250. – D.s kurze Besprechung von Harriet Grote: George Grote sein Leben und Wirken. Übers. von Seeligman, Leipzig 1874 ist Teil des 3. Literaturbriefes in: WM 40 (1876), S. 112; WA in: GS XVII, S. 20 f.; ein kleiner Aufsatz über George Grote 2

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wurde wenig später von D. unter dem Pseudonym „Karl Elkan“ veröffentlicht in: WM 41 (1877), S. 650–657; WA in: GS XV, S. 251–258. – Charles Dickens und das Genie des erzählenden Dichters erschien in: WM 41 (1877), S. 482–499 und S. 586–602; WA in: Die große Phantasiedichtung und andere Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte, a. a. O., S. 254–317 und in: GS XXVI, S. 364–412. 4 Vgl. den Brief von G. Westermann an D. vom 10. August 1875. 5 D. schrieb für WM nicht nur mehrere Literaturbriefe, sondern auch Literarische Mittheilungen. 6 Es folgen drei Blätter, auf denen D. bibliographische Angaben zu Neuerscheinungen auflistet.

[484] Dilthey an Wilhelm Scherer Breslau, Claassenstraße 2. 20 Dec[ember] [18]75. Mein lieber Freund, Endlich heute gewinne ich so viel Zeit Ihnen wenigstens über die Affaire die Sie so interessirt eine Nachricht zu schreiben. Martin war gar nicht zu halten da die Nachrichten über seine Lehrwirksamkeit wenig erfreulich lauteten. Unter solchen Umständen, da wirklich eigentlich nur über Bartsch u. Lexer1 die Nachrichten derart waren daß eine eingreifende Wirksamkeit durch dieselben sicher in Aussicht gestellt wurde (für Lexer aber war außer mir Niemand da er zu Niemanden Relation hatte), wir aber Zupitza und Pfeiffer2 kannten u. wußten was sie leisten würden: war es die denkbar beste Wendung daß wir Zupitza in erster, Pfeiffer in zweiter Linie vorschlugen. Sollte die Regierung auf diese nicht eingehen, so wird Bartsch unvermeidlich! In der That ist die Sachlage so daß als dann die Fakultät gar nicht an Bartsch vorüberkommt. Und Sie können mir glauben, daß er kommt. 3 Im Augenblick ist wohl naturgemäß Niemand von Jüngeren in der Heidelb[erger] philos[ophischen] Fakultät, der nicht nach Breslau käme; wir kommen in diesem Winter stark in das 12te Hundert von Studenten, u. die philos[ophische] Fakultät ist ungefähr eben so stark als in Berlin. Ich möchte also sehr wünschen daß man uns Zupitza auf ein paar Jahre ließe, bis dann ein Jüngerer wirklich Tüchtiger eintreten kann. Wenn hierauf Müllenh[off] in Berlin wirken kann, Sie in Wien, so wäre dies für unsere Universität von großem Werthe. Gerade in Schlesien herrscht lebhafter Sinn

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für Literatur u. Poesie, u. wenn jemand hier auf irgend einem Gebiet Schule machen kann, so ist es auf dem der Germanistik. Wenn dies nicht erreichbar ist, so muß es bei Pfeiffer sein Verbleiben haben, soll nicht Bartsch hier sein Hauptquartier aufschlagen. Ich stecke sehr in der Arbeit. Die Psychologie, in welcher ich anderthalb hundert Zuhörer habe, macht mir wieder Arbeit, da ich immer empiristischer u. in Bezug auf alles Erklären skeptischer, in der Feststellung u. Formulierung von einfachen Thatbeständen genauer werde, u. die letzten Häute des LotzeHerbart’schen Übergangsstadiums nunmehr abwerfe. Ich hoffe daß in wenigen Wochen der Schlußaufsatz für die philos[ophische] Zeitschr[ift] und eine Abhandlung über Einbildungskraft fertig wird,4 sodaß ich mich dann ganz auf das erste Buch der groß[en] Arbeit, das sophist[ische] Naturrecht concentriren kann.5 Mit m[einer] Frau lese ich Ihr Buch successive mit großem Vergnügen, natürlich wegen der Weihnachtsvorbereitungen langsam. Diesmal wird die ganze Berliner Familie6 bei uns in Breslau vereinigt sein, wozu ein Faß Rüdesheimer u. ein Viertelchen Markobrunner im Keller abgezapft werden. Mit Ihrer Arbeit thun Sie über Gervinus u. die andren Bearbeitungen einen bedeutenden Schritt. Für mich (u. man ist doch egoistisch) ist auch Vieles Werthvolle darin, Nachweise in welcher Art die wissenschaftlichen Arbeiten auf die Literatur gewirkt u. in ihr andre Gestalten gewonnen haben. Gerade dies ist einer der mir wichtigsten Punkte für das Verständniß intellektueller Bewegungen. Mehr u. ordentlich, wenn wir mit unserer Lektüre zu Ende sind. An Grimm liegt ein Brief, der wohl Rom Hôtel Quirinal zu senden? Bitte falls dies nicht richtig mir auf einer Postkarte die Adresse zu schreiben. Käthe grüßt vielmals, sie steht zwischen allerhand Kisten die zu spediren sind. Frohe Weihnachten, mein lieber Freund, Ihr Dilthey Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 28; ein handschriftliches Transkript des Briefes von unbekannter Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 28. 1 Matthias Lexer (1830–1892): Germanist; 1863 a. o., 1866 o. Prof. der deutschen Philologie in Freiburg, 1868 in Würzburg, 1891 in München. 2 Friedrich Wilhelm Pfeiffer (1827–1893): Germanist; 1873 a. o. Prof. der altdeutschen Sprache und Literatur in Breslau, ab März 1876 o. Prof. für deutsche Sprache und Literatur in Kiel als Nachfolger K. Weinholds. 3 Karl Weinhold, der in Breslau studiert hatte und 1849 für ein Jahr als Extraordinarius dort gewirkt hatte, kam 1876 als Nachfolger Heinrich Rückerts nach Breslau zurück.

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4 Der zweite Teil der „Abhandlung von 1875“. – Die Abhandlung Das Schaffen des Dichters erschien erst 1887 als Beitrag zur Zeller-Festschrift Philosophische Aufsätze. Leipzig 1887, S. 304–482; WA unter dem Titel Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik, in: GS VI, S. 103–241. 5 Vgl. GS XVIII, S. 38–56: Einleitungen zu Untersuchungen über Geschichte des Naturrechts. – Zum „Naturrecht der Sophisten“ vgl. auch D.s 1883 erschienene Einleitung in die Geisteswissenschaften, Zweites Buch, 7. Kap. in: GS I, S. 219 ff. 6 Die Familie Katharina D.s.

[485] George Westermann an Dilthey Braunschweig, 31. Dec[ember] 1875. Herrn Professor Dr. Dilthey in Breslau Sehr geehrter Herr Ich bin Ihnen, in ergebener Beantwortung Ihrer w[erten] Zuschrift vom 21. d[es] M[onats]1 zu besonderem Danke verpflichtet daß Sie meinen Monatsheften Ihre Mitwirkung so treu bewahren und gebe Ihnen die Versicherung daß Ihre Manuscripte von der Redaction gewiß so schnell als möglich verwendet werden. Das Porträt Heine2 ist fertig und für Ihre Literaturbriefe wird regelmäßig Raum reserviert werden. Belieben Sie nur stets anzugeben, welche Werke Sie zu beurtheilen wünschen, damit wir sie von den Verlegern verlangen. Leider geht ja immer mehr Mittelgut u. Unbedeutendes ein. – Ich benutze diese Gelegenheit Ihnen zum Jahreswechsel die besten Wünsche zu sagen. Mit besonderer Hochachtung Ihr ergebenster George Westermann Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 257, Bl. 19. 1

Nicht überliefert. D.s Beitrag Heinrich Heine erschien in: WM 40 (1876), S. 147–155, S. 311–320 und S. 478–491 unter dem Pseudonym „Karl Elkan“; WA in: GS XV, S. 205–244. 2

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Adolf Glaser an Dilthey

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[486] Adolf Glaser an Dilthey Lieber Freund!1 Herzlichen Dank für die Manuscriptsendung!2 Ich bin vorige Woche in Braunschweig gewesen und habe dort viele von Deinen Sachen zum Satze gegeben. Auf die Literaturbriefe darf ich also nun regelmäßig zählen? Den Brief, den Du an Westermann schriebst und dessen Antwort habe ich mit einiger Verwunderung gelesen. Ihr tauscht freundliche Worte aus und berührt die Honorarfrage gar nicht. Ich würde Dir gern die gewünschte Zusicherung geben, wenn ich es könnte, aber in Honorarsachen habe ich selbstverständlich nicht das letzte Wort. Weshalb hast Du nicht einfach mit Zahlen verlangt, was Du wolltest? Daß Dir in Zukunft die Sachen gleichmäßig berechnet werden, kann ich am Ende zusagen, da ich dies Verlangen durch Deinen Brief belegt habe, aber daß Du für Aufsätze mit Deinem Namen mehr wünschest, mußt Du Westermann gegenüber bestimmt angeben. Mehr kann er nicht gut thun, als daß er giebt, was Du verlangst, aber verlangen mußt Du und zwar mit bestimmten Zahlen, nicht nachträglich, sondern vorher. Ich habe Dir oft gesagt und wiederhole es, daß Du die höchsten Honorare erhältest und daß Westermann Dich sehr schätzt, aber er ist Geschäftsmann und giebt nie freiwillig mehr, als man verlangt. Thue uns also allen Dreien den Gefallen und wechsle keine Briefe, ohne ganz bestimmte Angabe der Wünsche, die Du hast. Westermann ist sonst in der Meinung, daß Du vollkommen zufrieden bist und gar nichts wünschest. Was Du in den Zeitungen über die Monatshefte liesest, sind alles ganz gleichlautende Reclamen, die ich selbst verfasse und die von Braunschweig aus mit den Heften an die Redactionen gesandt werden. Was Du uns werth bist, weiß Niemand besser als ich, und was ich Dir zu Gefallen thun kann, thue ich ganz gewiß. Mit herzlichsten Grüßen und Empfehlungen an Deine Gattin Dein alter A. Glaser Berlin 17/1.1876. Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 257, Bl. 21–22. 1 Darüber: gedruckter Briefkopf: „Illustrierte Deutsche Monatshefte für das gesammte geistige Leben der Gegenwart. Braunschweig. Herausgeber: G. Westermann. Redacteur: Dr. Ad. Glaser“.

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Adolf Glaser an Dilthey

2 D.s Aufsatz Richard Wagner erschien unter dem Pseudonym „Karl Elkan“ in: WM 39 (1876), S. 421–432; WA in: GS XV, S. 184–198.

[487] Dilthey an Wilhelm Scherer [Anfang 1876] Mein lieber Scherer, herzlichen Dank für den Stella-Aufsatz.1 Es ist schön daß er die Bahn bricht für Untersuchungen Goethe betreffend, welche überall den Kernpunkt der Geschichte von Dichtungen ausmachen, die Motive u. die Art ihrer Umgestaltung in der dichterischen Phantasie. Ich habe natürlich Stella2 zunächst wieder gelesen u. finde erst vom dritten Akt ab das Werk eines großen Dichters, von da ab regiert Lili.3 Die Vergleichung seiner Wirrnisse u. der Bürgers4 war ihm im Februar lebhaft vor der Seele u. am 6 März sendet er die ersten geschriebenen Bogen. Schließlich ist einerlei von wo aus die Parallelen, ein solches Doppelverhältniß betreffend, ihren Ausgangspunkt nahmen: gewiß lag in ihnen der Entwurf des Drama. Doch scheinen mir die Affairen Jakobi’s5 weit weniger auf den Entwurf eingewirkt zu haben als das Schicksal Bürgers. Merkwürdig analog ist die Lösung durch den Vortrag einer orientalischen Geschichte mit dem Nathan, bei dessen Entwurf wohl die Stella könnte mitgewirkt haben. Was die Beurtheilung der Lösung betrifft, bin ich ganz mit Ihnen einverstanden; sie ist aus der Zeit zu taxiren u. ward daher auch als die Wellen der Empfindsamkeit sich legten aufgegeben. So viel recht eilig. Ich bleibe Ihnen einen Brief über das literarhistorische Buch schuldig, welches mich sehr gefesselt hat.6 Ich selber [bin] sehr fleißig, so weit die Eisbahn die von der Sonne täglich verlockend beschienen wird es erlaubt. Welche Maschinerie hat denn Weinhold7 auf die Breslauer Bühne so plötzlich geführt? Bitte, schreiben Sie mir doch darüber ein Wort, sobald Sie die Minute Zeit die dazu gehört haben. Soll denn der arme P[eiffer] gänzlich geopfert werden? Ich gestehe Ihnen, daß mir sein Schicksal geradezu nahe geht, da ich in tiefster Seele überzeugt bin daß er uns genau dieselben Dienste geleistet haben würde als W[einhold]. Also nicht wahr, sobald Sie irgend können ein Wörtchen über die ganze Affaire? Oder lieber, bitte, wenn Sie diese Zeilen noch einmal gelesen haben, schreiben Sie die Antwort auf einen Zettel u. lassen ihn in den Briefkasten werfen.

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Die Bibricher Mietze8 ist bei uns, und Käthe u. sie machen von Morgen bis Abend einen Heidenlärm. Inzwischen bin ich entschlossen, bis Pfingsten ohne Aufenthalt durchzuarbeiten: u. so lasse ich mich manchmal stören. Für heute Adieu. Mit bestem Gruß Ihr Dilthey Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 29; ein handschriftliches Transkript von unbekannter Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 29. 1 2 3

Scherers Aufsatz Goethes Stella erschien in: Deutsche Rundschau 6 (1876), S. 66–86. J.W. Goethe: Stella. Ein Schauspiel für Liebende (1776). Elisabeth Schönemann, gen. Lili, verheiratete von Türckheim (1758–1817): Geliebte Goe-

thes. 4

Gottfried August Bürger (1747–1794): Dichter. Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819): Philosoph und Schriftsteller. 6 Gemeint ist Scherers Buch über die Geschichte der deutschen Dichtung im 11. und 12. Jahrhundert. 7 Weinhold wurde Anfang 1876 als o. Prof. nach Breslau berufen; der Breslauer Privatdozent Pfeiffer, der neben Zupitza auf der Vorschlagliste zur Besetzung der Breslauer Professur genannt war, wurde am 4. März 1876 zum o. Prof. der deutschen Sprache und Literatur in Kiel berufen. 8 Gemeint ist D.s Nichte Marie, die Tochter seiner Schwester Marie. 5

[488] Adolf Glaser an Dilthey Lieber Freund!1 Der König von Beiern2 hat Westermann das Ritterkreuz des Verdienstordens zum heil[igen] Michael verliehen, mit der ausdrücklichen Bemerkung „als huldreiche Anerkennung seiner Bestrebungen zur Förderung Deutschen Geisteslebens, welches in den Monatsheften Ausdruck gefunden.“ Ich bin moralisch überzeugt, daß Du der eigentliche Urheber dieser Auszeichnung bist. Die wenigen, sehr tactvollen Worte in Deinem Aufsatze über „Richard Wagner“ haben jedenfalls die ganze Sache bewirkt.3 Die Monatshefte waren allerdings schon Lieblingslectüre des Königs Max,4 aber ich glaube doch, daß Deine Erwähnung des Königs den Ausschlag gegeben hat. Westermann wird wohl nicht darauf kommen! – Beifolgend einige Werke, die für Dich hierher kamen.

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Adolf Glaser an Dilthey

Hast Du nicht wieder Stoff zu einigen Biographien? Wir haben Mangel an Porträts. Herzliche Grüße Dein Freund Berlin 5 Febr[uar] 1876 A. Glaser Unvorsichtigerweise haben sie in Braunschweig nun doch W. von Kleist als Verfasser der Literaturbriefe stehen lassen.5 Ist es Dir unangenehm, so kann es später geändert werden. Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 257, Bl. 23–24. 1

Darüber ein gedruckter Briefkopf von WM. Ludwig II. (1845–1886). 3 In seinem Aufsatz schreibt D. über die Beziehung zwischen R. Wagner und König Ludwig II. (vgl. GS XV, S. 197). 4 Maximilian II, König von Bayern (1811–1864). 5 Die ersten acht Literaturbriefe in WM erschienen unter D.s Pseudonym „Wilhelm von Kleist“, die nachfolgenden, auch von D. verfassten, anonym. 2

[489] Dilthey an Adolf Glaser [Februar 1876] Hier, lieber Freund, einige neu erschienene Bücher. – Eine Correktur des Heine1 scheint auf dem Weg nach Braunschw[eig] verloren? Besonders wichtig ist mir die Abänderung des Namens, da Du keinen für Julian Schmidt durchsichtigeren hättest wählen können. Daher ist diese Abänderung eine Nothwendigkeit. Da Du nun schon annoncirt hast, wirst Du nicht gern in Elkan wie ich corrigirt hatte umändern wollen. Unter solchen Umständen (wenn Dir die Umänderung in Elkan nicht möglich), in einen wie durch Änderung von 2 Buchstaben (was kaum jemand merken wird, wenn aber, so glaubt er an e[inen] Druckfehler in dem Exemplar) B. von Morbach daraus machen. Das W. ist immer übel bei so offenbaren Pseudonymen u. das r. verdeckt doch etwas mehr. Sollte ich also keine Correktur mehr erhalten, so bitte ich Dich diese Umänderung noch vornehmen zu lassen. W. v. Mosbach darf durchaus nicht stehen bleiben.

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Dilthey an Adolf Glaser

Nächste Tage ein neuer Literaturbrief, ein kurzer. Besten Gruß v[on] D[einem] W Dy Original: Hs.; WUA 1/193. 2. 1

D.s Aufsatz Heinrich Heine.

[490] Adolf Glaser an Dilthey Lieber Freund!1 Da ich mich für einige Tage hier aufhalte, habe ich die Honorarfrage ganz nach Deinem Wunsche geordnet. Es werden Dir also für Beiträge in großer Schrift 240.– für solche in kleiner Schrift 270.– u. Beiträge, die mit Deinem Namen erscheinen: 300.– Mark berechnet. Montag bin ich wieder in Berlin! Sende die Correcturen recht bald. Auf den Dickens bin ich sehr gespannt. Herzliche Grüße Dein Freund Berlin 1 März 1876 A. Glaser Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 257, Bl. 17. 1

Darüber der Briefkopf des Verlages Westermann.

[491] Dilthey an Adolf Glaser [Anfang März 1876] Besten Dank, mein lieber Freund, für die Erledigung der Geldfrage nach m[einen] Wünschen. Deinen Wunsch Portraits betreffend, will ich als ganz kurze Biographie – von etwa 2 Seiten oder etwas mehr – machen 1. Mill 2. Grote.1 Lasse also von beiden Portraits einstweilen ankündigen, wahrschein-

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lich stelle ich sie unter Einem Titel zusammen, ich bitte daher beid[e] pers[önlichen] Portraits zugleich machen zu lassen. Von Büchern bitte ich ja zu senden was irgend da ist, damit keine Stokkung entsteht, im Augenblick reicht keine Serie zu e[inem] Literaturbrief, ohne weitere Ergänz[un]gen. Besonders bitte ich gleich zu bestellen:2 Stuttgart Cotta. Lorenz Stein, Gegenwart u. Zukunft der Rechts u. Staatswissenschaften. 1876.3 Roscher, Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland. München [.]4 Erlangen, Deichert, Oettingen, die Moralstatistik, 2 Bände.5 Mit der Erklärung an diesen 3 Stellen daß eine ausführliche Besprechung dieser hervorragenden Werke beabsichtigt sei. Dies auch nöthig für den Literaturbrief üb[er] die polit[ischen] Wissenschaften, da er besonders interessant werden soll.6 Sende, sende was Du irgend hast damit wir nicht in Verlegenheit kommen, die Literaturbriefe regelmäßig fortsetzen zu können. Besten Gruß, auch v[on] m[einer] Frau Dein alter Freund Dilthey Laß mir einstweilen ein Portrait von Dickens anfertigen, den Aufsatz kannst Du zu dem Monat den Du bestimmst haben. Original: Hs.; WUA 1/193. 2. 1 George Grote, in: WM 41 (1877), S. 650–657 (Pseudonym: „Karl Elkan“); WA in: GS XV, S. 251–258. 2 Die drei Buchtitel wurden von Glaser mit dem Vermerk „10/ “ durchgestrichen, d. h. er hat 3 D.s Buchbestellung vermutlich am 10. März erledigt. 3 L. v. Stein: Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaft Deutschlands. Stuttgart 1876. 4 W. Roscher: Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland. München 1874. – Von Glasers Hand ist im Original ergänzt worden: „Oldenbourg“. 5 A. v. Oettingen: Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine christliche Socialethik. 2. neubearb. Aufl. Andreas Deichert Verlag. Erlangen 1874. 6 Es folgen weitere Literaturangaben D.s.

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Dilthey an Konstantin Rößler

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[492] Dilthey an Konstantin Rößler Mein lieber Freund, Ich habe mit außerordentlicher Freude von Brentano1 gehört wie die Sachen stehen u. daß wir gute Aussicht haben Sie hierher zu bekommen. Sie finden hier in jeder Beziehung eine behagliche Existenz, eine so große jurist[ische] u. philos[ophische] Fakultät wie nach Leipz[ig] u. Berlin kaum andre in Norddeutschland. Sie kennen meine Schreibfaulheit, werden sich also denken daß ich zu e[inem] bestimmten Zwecke schreibe. Ich möchte nämlich daß die Angelegenheit auch mit völliger Sicherheit verliefe u. wir Sie jedenfalls bekommen. In dieser Beziehung bin ich nun mit Brentano’s Ansicht nicht einverstanden, habe mit ihm darüber gesprochen, ebenso mit Neumann. Neumann ist sehr lebhaft der Meinung daß ich Ihnen schreibe, Brentano giebt auch im Ganzen Recht. Ich meine: haben Sie den glatten Verlauf der Sache in Berlin in der Hand, so lassen Sie dieselbe wol besser nicht durch unsere Fakultät gehen, sondern einfach von Berlin aus abnehmen durch Ernennung kurzer Hand. Die Professur ist hier eine lebhafte Streitfrage. Eine große Parthei wünscht einen Gegner der Brentano’schen Richtung hier zu haben (eine Parthei zu welcher vor Allen Röpell gehört) und wenn derselben irgend ein Mann der dazu Aussicht gäbe inzwischen in den Wurf käme, entstünden natürlich Verhandlungen [?]. Heißt es nun, das Ministerium werde aber nur auf Sie eingehen, so setzt eine solche Erklärung doch eine Fakultät in große Verlegenheit. Viel eher kann sie einfach die Ernennung über den Kopf weg sich vollziehen lassen als daß sie gefragt wird, mit der Erklärung wolle sie den Betreffenden nicht, so werde die Stelle nicht besetzt. Nimmt dann die Fakultätsverhandlung eine verdrießliche verstimmte, gegen das Minist[erium] gereitzte Wendung, so kann Niemand mit Sicherheit für den Verlauf stehen. Haben Sie also in Berlin die Sache sicher, so liegt es in Ihrem Interesse sie dort einfach zu erledigen. Dies schreibe ich Ihnen natürlich im höchsten Vertrauen als Ihr Freund. Auch die Fak[ultät] hat nach m[einer] Meinung keinen Vortheil in Bezug auf ihr Ansehn von einem anderen Geschäftsgang. Das sage ich als Fakultätsmitglied. Lassen Sie auch die Sache nicht allzu lang sich hinziehen. Es sind gar zu viel Interessen und Partheiungen, welche in Bezug auf diese staatswissenschaftliche Professur gegeneinanderwirken.

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Dilthey an Konstantin Rößler

Ich kann Ihnen nicht sagen wie mich freuen würde, mit einem alten Freund u. Genossen hier zusammen zu leben.2 Empfehlen Sie mich herzlich Ihrer Frau, grüßen Frl. Schmidt vielmals von uns wenn Sie sie sehen u. lassen einmal ein vertrauliches Wort hören wie Ihre Sachen stehen. In alter Treue Ihr Wilhelm Dilthey Breslau. Claassenstraße 2. d[en] 26 März [18]76. Original: Hs.; BA Berlin, NL K. Rößler, N 2245, 64, 24–25. 1 2

Lujo Brentano war seit 1873 o. Prof. für Nationalökonomie in Breslau. K. Rößler kam nicht nach Breslau; 1877 wurde er Leiter des Literarischen Büros in Berlin.

[493] Adolf Glaser an Dilthey Lieber Freund! Deine Briefe sind eingetroffen und die Bücher werden alle für Dich verlangt. Auch die Kunstsachen; obgleich mit diesen die Verleger sparsam sind. Die Literaturbriefe sind ganz nach meinem Wunsche. Jeden Monat in dieser Weise fortgefahren, werden sie bald große Geltung haben. Ich bin wiederholt gefragt worden, von wem sie herrühren. Berthold Auerbach1 meinte, Kleist sei wohl ein Privatdozent. Ich erwiederte: vielleicht auch ein Professor. – Was mir besonders zusagt, ist der wahrhaft vornehme Ton, der z.B. Julian in solchen Fällen abgeht. Vergiß aber nicht, zuweilen auch einzelne Essays à la „Corona Schröter“2 zu schreiben. Ich kann dann 2 oder 3 Sachen von Dir in einem Hefte geben. Von April ab wird Dein Conto sehr beträchtlich wachsen. Wegen der Abrechnung werde ich noch heute mahnen. Von Heine könntest Du nur das letzte Drittel nochmals lesen, da das erste Drittel bereits gedruckt und das zweite umbrochen ist. Die Porträts Mill und Grote sind bald fertig. Darf ich das betreffende Manuscript erwarten? Dein Name wird strengstens geheim gehalten. Deine Correcturen bei Heine sind selbstverständlich genau gemacht. Ich sende Dir bei-

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Adolf Glaser an Dilthey

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folgend einige Sachen, die ich direct erhielt. Kannst Du gegen Frenzel3 ein wenig freundlich sein? Da soeben erst das Aprilheft mit Brief 2 o[der] 3 ausliegt, so habe ich nur hier und da Äußerungen vernommen, aber ich habe das sichere Gefühl der günstigen Wirkung. Es ist so ganz der Ton, der den Monatsheften ansteht. Ich werde aufpassen und Dir mittheilen, was ich weiter höre. Wie geht es Bernhard Scholz? Ich habe lange nichts von ihm und der Frau gehört. Mit Empfehlungen an Deine Gattin Dein Freund Berlin 4 April 1876 A. Glaser Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 257, Bl. 13–14. 1

Berthold Auerbach, eigentlich Moses Baruch Auerbach (1812–1882): populärer Schriftstel-

ler. 2 D.s Aufsatz Goethe und Corona Schröter erschien unter dem Pseudonym „Wilhelm Hoffner“ in WM 40 (1876), S. 71–75; WA in: GS XV, S. 199–204. 3 Karl Wilhelm Frenzel (1827–1914): Historiker, Schriftsteller und Essayist; seit 1861 Redakteur der Berliner National-Zeitung, später Leiter des Feuilletons und Berichterstatter über die königlichen Schauspiele.

[494] Adolf Glaser an Dilthey Lieber Freund!1 Die Bücher werden bestellt. Du kannst ganz ruhig sein. Das mit dem Professor war scherzhaft gesagt und wurde auch gar nicht als Wegweiser aufgefaßt. Ich bleibe dabei, daß W. von Kleist der Verfasser ist und daß er nicht bekannt sein will. Auf weitere Fragen lasse ich mich nicht ein. Bis jetzt ist es ganz gut so gegangen und nur Schmidt wollte nicht recht daran glauben. Was will er aber sagen oder beweisen, wenn wir bei W. von Kleist bleiben? Mich selbst als Verfasser anzugeben würde ich in keinem Falle riskiren, so liebenswürdig es von Dir ist. Ich verehre Dich zu sehr, um eine solche Anmaßung zu wagen und würde es in keinem Falle thun. Auerbach frug: Der Kleist – natürlich Kleischt – ist wohl ein Privatdozent? Darauf sagte ich: Vielleicht auch Professor. Wie sollte er da etwas Anderes, als einen ausweichenden Scherz vermuthen!

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Bleibe nur dabei, daß Du den Kleist nicht kennst und schreibe recht bald wieder etwas als Dilthey für uns. Jetzt kommt der Essay „Japanesische Novellen“,2 dann ist auch alles von Hoffner fort. Wie steht’s mit Mill und Grote? Die Correctur Heine sollst Du haben. Die Bücher kommen über Braunschweig. Herzlich grüßend Dein Berlin 26 April 1876 A. Glaser Könntest Du mir vielleicht den großen Gefallen erzeigen und zur Ergänzung eines Lexicon-Artikels mir angeben, ob sehr hervorragende historische oder sonst wissenschaftliche Werke in letzter Zeit in Holland erschienen sind? In der Belletristik weiß ich genau Bescheid, aber für die Wissenschaften muß ich mir durch Andre helfen. Ich würde für jede Titelangabe sehr dankbar sein. Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 257, Bl. 15–16. 1

Darüber: Briefkopf der Illustrirten Deutschen Monatshefte des Verlages Westermann. Der Aufsatz Japanesische Novellen erschien unter dem Pseudonym „Wilhelm Hoffner“ in: WM 40 (1876), S. 577–587; WA in: GS XVII, S. 346–360 (unter dem Titel: Japanische Novellen). 2

[495] Dilthey an Moritz Lazarus Mein lieber verehrter Freund,1 Sie haben Recht zu schelten, daß ich nicht einmal zum Erscheinen Ihrer zweiten Auflage,2 die Sie mir freundlich übersandten, Ihnen Glück gewünscht und Ihnen gedankt habe. Fleißig benützt habe ich die neue Auflage für die Arbeiten mit denen ich beschäftigt bin. Und erkundigt habe ich mich auch nach Ihrem u. der Ihren Ergehen wo ich konnte. Von uns kann ich Ihnen nur Gutes u. Erfreuliches berichten. Mir ist in Käthe das seltenste Glück beschieden. Dazu habe ich an meiner Wirksamkeit hier dauernd große Freude. Und auch die geselligen u. menschlichen Verhältnisse in denen wir leben sind behaglich. Möchten wir nur nicht von allen alten Freunden so weit gesondert leben; darauf sie bei mir zu sehen müssen wir in unserem Osten ganz verzichten. Gern löse ich mein Versprechen u. schreibe für die Zeitschrift eine Anzeige des Grimm’schen Buches.3 Lassen Sie mich nur gelegentlich wissen wann das Manuscript des Heftes da sein muß.

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Dilthey an Moritz Lazarus

Wie oft gedenke ich alter Zeiten u. der alten lieben Freunde! Wie oft des ovalen Tisches mit brauner Bedeckung in Ihrem Zimmer, u. der Menschen die unter Ihrem Präsidium herum saßen. Man denkt immer, man müsse sich einmal eine Zeit hindurch wieder in der alten Weise haben, und so verrinnen die Jahre! Manches Blatt Ihrer lieben Frau habe ich noch das mir eine lebhafte Rückerinnerung an jene Zeiten bietet. Grüßen Sie dieselbe nur tausendmal von mir. Mit besten Grüßen an Steinthal Ihr Dilthey Breslau Claassenstr. 2. d[en] 2. Dec[ember] [18]76. Original: Hs.; UB der HU Berlin, Lazarus-NL, I, 312; Erstdruck: LStB II/2, Brief 520. 1 Darüber die handschriftliche Notiz von der Hand des Empfängers: „Erinnerung an einen der Undankbarsten unter den Lebenden. L[azarus]“. 2 M. Lazarus: Das Leben der Seele in Monographien über seine Erscheinungen und Gesetze. Bd. 1, 2. erw. und verm. Aufl. Berlin 1876. 3 D.s Beitrag Über die Einbildungskraft der Dichter. Mit Rücksicht auf Herman Grimm, Goethe, Vorlesungen, zwei Bände, Berlin, W. Hertz 1877 erschien 1877 in: ZfV 10, S. 42–104; von D. in veränderter Form aufgenommen in Das Erlebnis und die Dichtung (1906) unter dem Titel Goethe und die dichterische Phantasie, in späteren Auflagen mehrfach umgearbeitet; vgl. GS XXV, S. 113–172 sowie die Hinweise der Hg. zur Entstehungsgeschichte, ebd., S. 370 ff.

[496] Dilthey an Gustav Schmoller d[en] 5/2 [18]77 Breslau Claassenstraße Lieber Freund, Am Sonnabend gegen Abend ist bei uns ein gesund-liebes Mädchen erschienen.1 Sie werden an diesem neuesten Erlebniß des schweigsamen Freundes gewiß freundlich Antheil nehmen. Im Geiste habe ich in diesem letzen Jahre viel mit Ihnen verhandelt u. fahre fort darin. Sie können sich denken daß es

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Dilthey an Gustav Schmoller

nur die philosophischen Probleme betrifft, welche in Ihrem mir mannichfach unendlich wichtig gewordenen schönen Buch2 zur Sprache kommen. Mit bestem Gruß Ihr Dilthey Original: Hs.; GStA PK, VI. HA, FA u. NL, NL G. Schmoller, Nr. 174, Bl.15–15 R. 1 D.s erstes Kind, seine Tochter Clara, wurde am Sonnabend, 3. Februar 1877, geboren. Geburtsanzeigen ergingen am 5. Februar 1877 auch an Wilhelm Hertz (Hs.; StB München, Hertziana 129), an Georg Ernst Reimer (Hs., StB PK Berlin, HA, Dep. 42, VA de Gruyter, R 1: Dilthey, 67) sowie an Wilhelm Scherer (Hs.; BBAW, Scherer-NL, 331, 30). 2 G. Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft. Ein offenes Sendschreiben an Herrn Prof. Dr. Heinr. v. Treitschke. Jena 1875.

[497] Herman Grimm an Dilthey Lieber Dilthey, unsere eifrige Hausgenossin, Frau Lewald, hatte uns bereits vor einigen Tagen mitgetheilt was Ihr heutiger Brief 1 bestätigt. Der Fortbestand des Namens Dilthey ist nunmehr (bis zur Verheirathung Ihrer Tochter) gesichert, so daß auch in dieser Beziehung die Hoffnungen auf Vollendung Ihres Schleiermachers aus dynastischen Rücksichten verringert werden. Möge es dem lieben kleinen Ding wohl gehen solange es diese Bezeichnung beansprucht und ihm, wenn es derselben entwachsen wird, ein extra freundliches Schicksal zubereitet werden. Daß das Mädchen ‚kein Goethe‘ war, können Sie sich schon immer gefallen lassen, denn die Judenjungen würden dann doch nur über es hergefallen sein. Übrigens erwarte ich den ‚Goethe‘ nun um so sicherer als [.|.|.]. Mit unseren besten Wünschen für Alles was unter den obwaltenden Umständen wünschenswerth erscheinen könnte Ihr H. Grimm 6 Februar 1877. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 45. 1

Die Geburtsanzeige, die an H. Grimm geschickt wurde, ist nicht überliefert.

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Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

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[498] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Breslau, d[en] 15. Nov[ember] 1877 Hier, verehrter Graf, präsentiert sich die „Einbildungskraft“1 schüchtern als jemand, von dem man bei flüchtiger Begegnung eine zu gute Meinung gefaßt hat. Was sagen Sie denn zu Kuno Fischer in der Rundschau!2 Das jüngste Gericht bricht nun sicherlich über seine ausgehöhlte Existenz herein. Lesen Sie in Loepers Faustausgabe3 die Anmerkung zu der wilden Szene zwischen Faust und Mephisto vor den Kerkerszenen (in Prosa und im ältesten Styl) und vergleichen Sie damit Julians Aufsatz:4 Hieraus hat er mit einer Dreistigkeit kompilirt welche die Leistungen von Karl Braun und von Herrn Busch5 weit hinter sich läßt. Dieser Storchschnabel der neuen Philosophie von Kant bis Hegel nähert sich seinem intellektuellen Ende; er ist ja schon beinahe mit dem verkleinerten Schelling fertig,6 also nach Ihrer Theorie von Leben und Tod hat er nicht viel mehr zu erwarten. Es war mir so sehr leid, daß ich Ihr neuliches Hiersein nicht besser nutzen konnte. Mit meiner Frau und meinen angelegentlichen Empfehlungen an die Frau Gräfin der Ihre Dilthey Original: nicht überliefert; ursprünglich war dieser Brief als erster für den Band „Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck v. Wartenburg 1877–1897“, hg. von S. von der Schulenburg, Halle/S.1923, vorgesehen. Die Originale der Briefe, die in dieser Ausgabe ediert wurden, sind verschollen. Allerdings ist eine Fahnenkorrektur der Briefe 1–55 vom April/Mai 1923 sowie eine Bogenkorrektur – mit Ausnahme der Briefe 43–55, 130–145 und 151 – hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 333. – Diesen ersten, in der Fahnenkorrektur mit dem Vermerk der Hg. „fällt weg“ noch enthaltenen Brief hat erstmals Karlfried Gründer veröffentlicht in seinem Buch „Zur Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg. Aspekte und neue Quellen.“ Göttingen 1970, S. 258f. 1 D.s Abhandlung Über die Einbildungskraft der Dichter. Mit Rücksicht auf Herman Grimm, Goethe, Vorlesungen, zwei Bände, Berlin, W. Hertz. 1877, die im Herbst 1877 erschienen war. 2 K. Fischer: Goethe’s Faust. Über die Entstehung und Komposition des Gedichtes, in: Deutsche Rundschau 13 (1877), S. 54–98 und S. 251–285; 1878 in Stuttgart als Buch erschienen.

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3 G. v. Loeper (Hg.): Goethes Werke. Nach den vorzüglichsten Quellen revidierte Ausg. Hg. von G. Hempel. 36 Theile o. J. [1868–1879], hier: Zwölfter Teil: Faust I (1870), S. 143 f. 4 J. Schmidt: Goethe’s Faust. Ein Versuch, in: PJ 39 (1877), S. 361–397. 5 Karl Braun, gen. Braun-Wiesbaden (1822–1893): Publizist, Erzähler, Reiseschriftsteller, Memoirenschreiber. – Moritz Busch (1821–1899): Publizist. 6 K. Fischer: Geschichte der neuern Philosphie. Bd. 6: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. 2 Bücher. Heidelberg 1872 und München 1877.

[499] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Kl[ein] Oels den 23. Nov[ember] 1877. Da ich, mein verehrter Freund, in den nächsten Tagen nicht nach der Stadt komme, so will ich Ihnen in einigen Zeilen sagen, was Ihnen auszusprechen mir wie Bedürfniß so Freude ist. Ihre Abhandlung über die dichterische Einbildungskraft war mir in ihren Grundzügen, theilweise auch in der Ausführung bekannt. Die Lektüre der vollendeten Arbeit in dem meinem Denken entsprechenden langsamen Tempo hat mir einen neuen und ungleich größeren Genuß gewährt. Ich wünschte an Ihrer Arbeit nichts anders als es ist. Auch wo, wie bei dem Passus über Wolfram und Gottfried, der Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen kein nothwendiger zu sein scheint, ist mit so feinem, sinnigem Verständniß die Seele der Erscheinung berührt, daß der scheinbare Überfluß nichts als Gewinn ist. Überdem ist das Problem weit und in seiner ganzen Complexität – allein richtig – gefaßt, – so bleibt nur eine Unverhältnißmäßigkeit übrig, die zwischen Veranlassung und Leistung. Das Beste an dem Grimmschen Buche ist Ihre Arbeit hervorgerufen zu haben. – Ihre Arbeit ist mir werth durch das, was ausgesprochen ist, nicht minder aber durch das, was zwischen den Zeilen steht, durch die vorurtheilsfreie Methode, die dem Vorwurfe selbst entnommen, nicht von Außen herangebracht ist, wie durch das Ergebniß. Wichtiger vielleicht ist die Durchführung ersterer innerhalb eines Gebietes der Geisteswissenschaft. Allein die Besorgniß könnte wach werden, daß der Vortrag ein zu esoterischer sei, um wie wünschenswerth, ja nothwendig, zu zünden. Jener Charakter aber entspricht dem Wesen der Leistung. Vornehmes trägt vornehm Gewand und die Perlen taugen nicht als Mastfutter. Die ruhige Entschiedenheit, mit der Sie allen Hypothesenkram zur Seite schieben, das sittliche Verhalten dem Probleme gegenüber, die Grazie, mit der ohne jegliche Verletzung der Person durch positive Leistung Kritik geübt wird, sind gleich erfreulich und nachahmenswerth. Ich habe seit langer Zeit

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nichts gelesen, in dem die Person des Schriftstellers, die gegenwärtig sich stets in den Vordergrund zu stellen pflegt, so ganz aufginge in der Sache. Wenn Sie von Goethe mit Recht sagen, in selbstloser Betrachtung sei er gleichsam ganz Auge gewesen, wenn Sie solche Stimmung ruhiger Klarheit preisen, so darf ausgesprochen werden, daß aus gleichem Verhalten, aus gleicher Stimmung Ihre Arbeit hervorgegangen ist. Hier ist besser als es Ranke in seinen großen Arbeiten gelungen, dessen Ojektivität mehr oder weniger Hegelscher Art ist, das Selbst ausgelöscht und die Sache zum Reden gebracht worden, zugleich aber das Selbst in höchstem Grade lebendig gewesen, indem es die Sache erlebte. Kurzum die Arbeit ist nicht nur ihrem Gegenstande nach sondern an sich poetisch, obschon der Gang der Untersuchung streng analytisch ist, in wissenschaftlicher Hinsicht ihr größter Vorzug. Hier ist ein Beispiel streng analytischer Methode, an dem die Naturwissenschaftler ein Vorbild nehmen mögen. Die Synthesis aber ist auch hier wie überall das Erste, nur daß sie die Zusammenfassung und -Schauung der Sache selbst ist, kein Theil sondern die sachgemäße Voraussetzung der analytischen Untersuchung, während sie in unserer gesammten Naturwissenschaft, in so fern sie nicht in die Grenzen der Mathematik gehört, als außer der Sache liegende, und deshalb willkürliche Hypothese auftritt, welche als Theil der folgenden Zerlegung die Analysis zur Unwahrheit macht. Hier ist ein thatsächlicher Protest der Empirie gegen den Empirismus.1 Vorstehendes in Eile als Ausdruck meiner Freude. Ein Mehreres mündlich zu guter Stunde. Haben Sie C. Frantz2 jüngstes Produkt angesehen? Er gehört in die Kategorie: Julian Schmidt. Gute allgemeine Einfälle, die über den Köpfen der Allgemeinheit sind aber wie Wolken oben bleiben, ohne sich zu Regentropfen zu kondensiren und befruchtend mit der Erde in Rapport treten zu können. Damit zusammenhängend Form und geistiger Aufwand der Arbeit nicht wissenschaftlich sondern publizistisch. Keine guten Aussichten für Schelling. Vorgestern war hier großes Morden. Mehr als 300 Fasanenhähne erlagen grausamer Geschicklichkeit. Zwei derselben folgen anbei mit besten Grüßen von Haus zu Haus. Ihr treuergebener P. Yorck. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 1. 1

Dieser Topos charakterisiert D.s Denken in den 1870er Jahren im Zusammenhang seiner Metaphysik-Kritik und Philosophie der Erfahrung, vgl. hierzu z. B. GS XVIII, S. 193.

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2 Konstantin Frantz (1817–1891): Studium der Mathematik und Philosophie in Berlin und Halle; ab 1844 preuß. Staats- und später Konsulatsbeamter, seit 1856 Privatgelehrter. – Frantz knüpfte in seinen staatsphilosophischen Schriften an die Spätphilosophie Schellings an. – Philosophismus und Christenthum. Augsburg 1875.

[500] Dilthey an Wilhelm Scherer [November/Anfang Dezember 1877] Lieber Freund, Lichtenst[ein]1 berichtet mir vorigen Sonntag bei Tisch, daß Sie den Gedanken hätten Weihnachten uns hier in Breslau einen Besuch abzustatten. Das ist ja von Ihnen ein ausgezeichneter Gedanke, und meine Frau u. ich bitten Sie herzlich, dann unser Gast zu sein. Wie lange habe ich gewünscht daß wir einmal in Behagen uns ausplaudern könnten! Freilich müssen Sie sich mit einem kleinen Fremdenzimmerchen behelfen, doch vermuthe ich stark, Sie werden von demselben nur zur Nachtzeit Gebrauch machen u. ich will dafür sorgen daß Sie dann eiligst im Schlaf die äußere Situation vergessen. Wie ich mich freue, den alten Freund in meinen vier Wänden zu beherbergen, wie sich meine Frau drauf freut, können Sie sich denken. Von den Hauptgedanken des Aufsatzes der hier folgt2 haben wir öfter gesprochen u. sie sind Ihnen glaube ich auch schon aus einem alten kleinen Aufsatz von mir bekannt; Mit dem Versuch der Classifikation wird man eben noch öfters experimentiren müssen; ich denke an einen Nachtrag, da der lange erwogene Aufsatz sehr schnell geschrieben wurde u. damals eine Gedankenreihe verreist und unbekannten Aufenthaltes war, von der mir unbegreiflich ist wie sie gerade zu der Zeit, als ich ihre Dienste brauchte, sich entfernte. Lichtenst[ein]’s Sachen haben wir ganz gut besorgt u. ich hoffe daß er hier eine vortreffliche Position gewinnen wird. Näheres mündlich. Dies: Nähere mündlich ist nun überhaupt mein Programm. Grüßen Sie Frau Duncker vielmals, es hat uns geschmerzt, gar nichts von ihr zu vernehmen. Und kommen Sie! Zwei treffliche Weinfässer im Keller, die gestern vom Rhein kamen, ein rother Assmannshäuser dabei von dem mein Bruder in Ausdrücken der Verzückung schreibt, sollen sonnige Zeit in den Winter tragen, u. ein kleines aller Possen volles Mädchen das seinen ersten Weihnachtsbaum sieht (u. das sich, nebenbei eine natürliche Sorge bei Ihnen zu verscheuchen, dadurch merkwürdig macht, daß es nie schreit sondern blos lacht) wird Sie am Weihnachtsbaum auch amüsiren.

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Ich hätte dabei sein mögen als Sie Kuno Fischer’s Aufsätze über den Faust lasen, die mühselige Geburt langjähr[iger] Vorles[ungen] vor Studenten und gebildeten Damen. Aus Julian Schmidts Aufsatz und aus Löper (einer Anmerkung zu der wilden Szene zw[ischen] Meph[isto] u. Faust vor den Kerkerszenen u. ein paar andren Stellen Löpers) hat er sich eine eigene Entdeckung zusammengeschrieben, von welcher ihm nur der Styl u. die Anmaßung gehören. Also nochmals herzliche Grüße an Ihre liebe Hausgenossin, unbekannter Weise an Ihre verehrte Mutter von Ihrem Dilthey.3 Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 32; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 32. 1 Franz Lichtenstein (1852–1884): österr. Germanist, Schüler Scherers; seit 1877 PD in Breslau, ab 1884 a. o. Prof. ebenda. 2 D.s gerade erschienener Aufsatz über Grimms Goethe-Buch. 3 Am oberen und linken Rand der ersten Seite des Briefes sind folgende Zeilen von der Hand Katharina D.s ergänzt: „Herzlichen Gruß Ihnen, lieber verehrter Herr Professor, wir freuen uns so sehr darauf Sie Weihnachten bei uns zu haben, daß wir es schon als eine ausgemachte Sache ansehen. Was in meinen Kräften als Hausfrau steht, soll geschehen um es Ihnen bei uns wohl zu machen. Und Breslau pflegt ja zu Weihnachten in der winterlichen Sonne besonders hübsch auszusehen u. wie Mancher wird sich außer uns noch auf Sie freuen. Also nicht wahr, Sie schicken uns ein liebes Ja. Mit der Bitte, Frau Duncker herzlich zu grüßen, die leider nichts von sich hören läßt, grüßt Sie vielmals Käthe Dilthey.“

[501] Dilthey an Wilhelm Scherer Lieber Scherer, wie stehts denn? wir fahren fort von Tag zu Tag auf eine Zeile von Ihnen zu hoffen, die uns zusichert daß Sie die Weihnachtstage mit uns feiern. Aber keine Zeile kommt von Ihnen. Daß Sie vergnügt sein sollen, können wir Ihnen zusichern. Allerhand neue Einfälle in poeticis, da die in logicis Ihnen nicht so amüsant sein werden, können auch zugesichert werden. Hat Ihnen die Einbildungskraft Spaß gemacht oder wußten Sie schon selbst so ziemlich was darin steht? Von Grimm habe ich noch kein Wort darüber gehört. Sie können auch solchergestalt bei ersten Sprachversuchen assistiren, was Ihnen doch wol noch nicht begegnet. Bestehend in: na – na. pa – pa und min – min – vor Allem dem äußerst demonstrativen da – da.

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Lichtenstein in gutem Fahrwasser. Mit unsren besten Grüßen, die wir auch an Frau Duncker gelangen zu lassen bitten Ihr Dilthey Claassenstr. 2 Breslau. 14 Dec[ember] [18]77. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 33; ein handschriftliches Transkript von unbekannter Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 33.

[502] Dilthey an Georg Ernst Reimer Hochverehrter Herr Reimer,1 Ein junger Theologe, Weiß, hat eine recht gute Arbeit über Schleiermachers Dialektik gemacht.2 Dieselbe ist zugleich seine Doktordissertation und er will ihr dann als Habilitationsschrift eine Arbeit über Schleiermachers Dogmatik folgen lassen so daß beide zusammen Ein Ganzes bilden. Da er die Papiere Schleiermachers zur Dialektik höchst sorgfältig durchgearbeitet hat, so wird die Arbeit von jedem der sich näher mit Schl[eier]m[acher] beschäftigt gekauft werden müssen u. dient in manchem Betracht zur Ergänzung der Ausgabe von Jonas. Es wäre die Frage ob Sie Lust hätten, durch den Druck dieser Abhandlung in Beziehung mit ihm zu treten. Derselbe beabsichtigt sich in Berlin für Theologie zu habilitiren u. er hat ohne Frage eine bedeutende Zukunft vor sich. Sollte es der Fall sein, so würde ich auf eine Zeile von Ihnen ihm mittheilen daß er sich sofort mit Ihnen in persönliche Relation setze. Hoffentlich geht es Ihnen gut. Ich denke daß im Lauf künftigen Sommers der Druck des zweiten Bands endlich wird beginnen können. Zu Ostern beabsichtige ich mit Frau u. Kind nach Berlin zu kommen u. dort in Berlin meine Archivarbeiten für denselben zu completiren. Mit meinen besten Empfehlungen an die Ihrigen Ihr dankbar ergebener Dilthey Breslau. Claassenstraße 2. 16 Dec[ember] [18]77.

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Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 65. Darüber, vermutlich von der Hand G.E. Reimers: „17/12 abgelehnt.“. B. Weiß: Untersuchungen über Schleiermachers Dialektik, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 73 (1878), S. 1–31, 74 (1879), S. 30–93 und 75 (1879), S. 250–280. 1 2

[503] Dilthey an Herman Grimm [vor Weihnachten 1877] Da haben Sie, lieber Grimm, den Versuch eines Freundes, den Grundgedanken Ihres Buches in einen umfassenderen Zusammenhang zu stellen u. in ihm gegen blödes Gerede evident zu machen.1 Möge Ihnen was ich sage so viel Freude machen als mir Ihr Buch zu lesen und diese Bogen zu schreiben. Ich bedaure nun fast, den Aufsatz nicht in die Rundschau gegeben zu haben wo er im Frühling (da war er fertig) gewiß schärfer eingegriffen hätte, bedaure mich von dem Verdruß über einen Brief Ihres sonst so schätzbaren Buchhändlers, als Antwort auf m[eine] Anfrage an Sie, dazu habe bestimmen lassen2 – und bin doch der ich bin. Die Grundgedanken auch dieses Aufs[atzes] sind b[ei] mir schon lange Jahre alt u. in einem Feuilleton vor vielen Jahren schon einmal hingeworfen.3 Leider konnte ich nur wenig Belege geben; der Aufs[atz] soll einmal die Einl[ei]t[un]g der Samml[un]g m[einer] literarhist[orischen] Aufsätze bilden4 u. dann mit dem ganzen Apparat erscheinen, wobei ich freil[i]ch noch nicht weiß ob der 2te Theil sich so erhält wie er nun gefaßt ist. Die Frage nach der Classifikation poet[ischer] Werke ist sehr schwierig u. mir ist dazu begegnet, eine Anzahl von Sachen die ich sagen wollte rein vergessen zu haben während ich schrieb, während sie jetzt ganz deutlich vor mir stehen. Wie es uns hier geht darüber hören Sie ja wol in Berlin ab u. zu etwas. Ich bin so glücklich – unberufen u. ohne den Neid der Höheren sei es gesagt – als ich nie geglaubt hätte daß man in dieser Welt sein könne. Frau Käthe wird immer gesünder u. singt durch das Haus. Die Kleine5 mischt ihr Jauchzen u. ihre ersten Sprachversuche hinein. Auch fehlts nicht an guten Genossen mit denen man der nächsten [?] Gegenwart sich freuen und über die argen Zeiten rings um poltern u. schelten kann. Ich denke Scherer kommt Weihnachten einmal her u. sieht sich das Spektakel an. Die Decanatsquälereien liegen endlich hinter mir und die Zeit, welche die Vorl[e]s[ungen] übrig lassen gehört mir wieder ganz. So brüte u. schreibe ich

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wieder lustig. Ob der Zusammenhang von Gedanken, der sich in mir immer weiter ausbildet, einen Einfluß auf die Zeit u. meine Person wird gewinnen können, ist schon darum nicht von so großem Belang weil ich ihn wirklich für richtig halte also auch der Ansicht bin daß er doch sich selbst helfen werde. Und Sie, was machen Sie? Ich vermuthe Sie beinahe bei dem Raphael.6 Empfehlen Sie mich Ihrer verehrten Frau u. den Freunden, mich und meine Frau Ihr Dilthey Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, NL 215: Julian Schmidt: Dilthey, Wilhelm. 1

Gemeint ist D.s Aufsatz Über die Einbildungskraft der Dichter. Im Original: „bestimmen zu lassen“. 3 Phantastische Gesichtserscheinungen von Goethe, Tieck und Otto Ludwig, in: WM 20 (1866), S. 258–265; WA in: GS XV, S. 95–101. 4 Diesen Plan realisierte D. 1906 mit seinem Buch Das Erlebnis und die Dichtung. 5 D.s älteste Tochter Clara war am 3. Februar 1877 geboren worden. 6 H. Grimms Buch Das Leben Raphaels wurde erst 1886 abgeschlossen. 2

[504] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Breslau d[en] 28. Jan[uar] früh [1878]1 Hier, verehrtester Graf, kommt als Ersatz für das Unglücksheft2 die neueste Berliner Philosophie, an Ort und Stelle, unter wohlthätigem Einfluß des Genius loci als Morgenlektüre zu genießen. Es war mir sehr bedrückend, daß ich versäumt hatte – Ihnen zu sagen, wie jeden achten Tag ein in der Wissenschaft ergrautes Haupt auf seinen Zeitschriften-Antheil wartet und wie mit alten Herren, die ein Leben lang Citate gesammelt, in Bezug auf Gedrucktes nicht zu spaßen ist. Ich zweifle freilich, ob Sie, auf der Hochflut des Berliner Lebens dahintreibend, Ihre philosophische Muße sich erhalten. Wir haben sie Gott sei Dank und machen davon einen theils angenehmen theils mühsamen Gebrauch. Durchackern vier Quartbände fragmenta historicorum graecorum 3 nach einigen Körnchen politischer Philosophie der Alten und fangen das ein und andre Capitelchen des Schleiermacher an. Ihering ist ja, nach dem was man hört, in die Mördergrube des deutschen Darwinismus gefallen.4 Aus Egoismus Ge-

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setze, aus Anpassung derselben an die gesellschaftlichen Bedürfnisse ihre Entwicklung, aus diesen thatsächlichen Gesetzen das Rechtsgefühl: wenn das wirklich der darwinistisch-naturrechtliche Kern der schönen dicken Hülse ist, so ist wieder einmal ein schöner Verstand todt geschlagen. Meine Frau sah gestern Ihre Kinder, wie sie wohl und frisch von einer Spatzierfahrt zurückkehrten. Meine Wenigkeit entbehrt Sie alle Tage und freut sich, wenn Sie, beladen mit dem ‚Neuestem aus dem Reich des Witzes und guten Geschmacks‘ hier anlangen werden. Brentano war vor ein paar Tagen bei mir mit der Mittheilung, daß ihm Schmoller geschrieben, sein Schwager, der jüngere Preller5 sei nicht abgeneigt als Maler hierherzukommen. Er sprach davon daß Sie vielleicht in Berlin Herrn Berg6 sähen und das Gespräch zu dieser Mittheilung Gelegenheit gäbe. Ich sagte ihm, daß ich nicht wisse ob Sie gerade jetzt nochmals Herrn Berg in Berlin begegnen würden, daß ich es Ihnen jedoch mittheilen würde. Was ich hiermit pflichtschuldigst thue. Mit der Bitte uns Ihrer Frau Gemahlin angelegentlichst zu empfehlen der Ihrige Dilthey. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 2. 1

Die Datierung wurde von der Hg. von BDY vorgenommen. Nicht zu ermitteln. 3 C. Müller: Fragmenta Historicorum Graecorum. Paris 1849. 4 R. v. Jhering: Der Zweck im Recht. 2 Bde. Leipzig 1877–1883. 5 Friedrich Preller der Jüngere (1838–1901): Landschaftsmaler; Sohn des Malers Friedrich Preller. 6 Albert Berg (1825–1884): Berliner Maler; später Museumsdirektor in Breslau. – Berg gehörte zum Bekanntenkreis Marie von Olfers’, einer Tante Paul Yorcks. 2

[505] Dilthey an Wilhelm Scherer [Berlin, 12. April 1878]1 L[ieber] S[cherer] Zeiteintheilung: bis zu Tisch Akten; dann große Erholungspause und wieder bis Abends 10. 11 Uhr Akten. In der Mittagserholungspause zu Allem aufgelegt, besonders mit Ihnen zu plaudern. Ihr Dilthey

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Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331:, 34; ein handschriftliches Transkript ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 34. 1 Datierung nach dem Posteingangsstempel auf der Postkarte: „Berlin 12. 4. 78“. – D. hielt sich zu Archiv-Arbeiten für den 2. Band des Leben Schleiermachers in Berlin auf, wo Scherer seit 1877 eine Professur für neuere deutsche Literaturgeschichte inne hatte.

[506] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg d[en] 29. Mai [18]78 früh. Mit lebhafter Theilnahme, lieber Graf, habe ich aus Ihrem Brief den Verlust ersehen, den Sie gehabt und die Folgen, welche für Ihre nächste Existenz daraus resultiren.1 Möge die Lernzeit für Sie kurz sein; denn daß der Staat (außer den Ansprüchen welche die sanctissima philosophia an Sie macht) Sie einmal nöthig haben wird, sehen Sie wol aus dem was heute vorgeht. Daher bedaure ich auch auf das lebhafteste daß Sie Ihre verwaltungsgerichtliche Thätigkeit abbrechen müssen, da regelrechte Folge in Allem Begonnenen (hier greife ich anklagend in meinen Busen) so nothwendig ist. Es gilt jetzt ,arma virumque’ zu bereiten für den Tag, an welchem die Unfruchtbarkeit der ganzen gegenwärtigen inneren Politik klar wird. Ich glaube übrigens – in Bezug auf Ihre Zeilen gesagt! – daß die Regierung nicht planlos handelt. Sie will den Nationalliberalismus zugleich mit compromittiren und Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Sie arbeitet aber mit so ungenügenden Kräften und Kenntnissen daß die Bismarckschen Instinkte und Blicke alle kein brauchbares Verwaltungsverfahren werden können. Freuen uns sehr darauf, Sie wenigstens einen Tag hier zu sehen und bitten sich ja vorher durch eine Karte zu annonciren, dann hole ich Sie auf dem Bahnhof ab. Und zählen die Tage, bis wir mit Ihrer verehrten Frau Gemahlin und Ihnen das Leben der Phäaken2 führen. Denn mir ist wirklich immer noch zu Muthe wie einem von Wind und Wellen umhergejagten alten Seefahrer. Am Freitag vor dem Feste ist noch Prüfungscommission und wahrscheinlich auch Vorlesung, sodaß wir wol erst Sonnabend den 8ten, den Tag vor dem Feste reisefertig sein werden. Dann fahren wir in die Pfingstmaien hinein. Scholz zurückgekehrt, noch nicht gesehen. Weingarten auf der Synode, als ‚Wilder‘, wo er heute wieder eine Rede halten soll. In die Generalsynode3 soll

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aber nach ausgegebener Parole niemand kommen, der nicht Mitglied der Mittelpartei oder Rechten. Auch Berg soll wieder hier sein. W. Dilthey4 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 3. 1 Yorcks Brief ist nicht überliefert. – D. kondoliert zum Tode des Yorckschen Generaldirektors Wilhelm von Fehrentheil und Gruppenberg (vgl. BDY, S. 259). 2 Das als besonders glücklich geltende Volk der Phäaken der griechischen Sage; sorglose Genießer. 3 Auch Yorck war seit 1875 Mitglied der Generalsynode. 4 Die Unterschrift wurde aus den Korrekturfahnen von BDY übernommen.

[507] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Hôtel de l’Aigle Noir Grindelwald [August 1878].1 Lieber Graf, also der gute Ebstein hat, nachdem er mich essend gehend etc. anderthalb Tage beobachtet, auch auscultirt und percutirt, seine Meinung (meinem Bruder gegenüber) dahin zusammen gefaßt, ich sei kerngesund und es sei einerlei wo ich faullenze. Nämlich auf dies letztere legte er denn doch großes Gewicht und hat mir auf zwei Monate alles Philosophiren auf das strengste verboten. Anfänglich glaubte ich, es würde mir unglaubliche Qualen kosten dies Verbot zu halten, und auf der Veranda meines Bruders, während wir auf das durch die Bibliothek, Lotze und Ihering gegenwärtig noch berühmte Universitätsdorf 2 herunter blickten, lief in unsrem Gespräch noch einiges Verbotene mit unter. Seitdem aber, zumal seitdem wir uns nun hier niedergelassen und Bädeker3 und die Rechnungen uns also keine Kopfschmerzen mehr machen, ist mir wenigstens wissentlich nichts Verbotenes mehr passirt, und es wird nicht leicht sein, nach Verlauf der zwei Monate, noch das eine und andre von der verbotnen Waare in den Winkeln meines Gehirns zusammenzulesen. Die Natur redet hier allein, in Sonnenschein und Wolkenmassen, und wir lassen uns von Niemandem stören, während wir wandernd und ruhend zu ihr aufblicken. Hebler4 that uns zwei Tage recht wohl, jede andere Berührung mit Menschen that uns übel. Welche Reisegenossen wären Sie und Ihre verehrte Frau Gemahlin uns gewesen, und wie manches Mal haben wir Sie schon lebhaft an irgend eine Stelle gewünscht – sehr sicher natürlich, daß Sie

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auch da den Beweis liefern würden auf der norddeutschen Ebene sei es schöner. Wir gedenken nun hier so lange als möglich auf der milden Höhe zu bleiben, da der kleine Hammer5 in Bibrich auch ohne uns verwöhnt wird. Dann geht es mit dem Rhein hinunter nach Bibrich und ich fahre fort zu hoffen, daß wir uns dort begegnen; Sie können dann erleben, wie langweilig ein Philosoph ist, dem das Denken verboten ist und der wirklich zu denken aufgehört hat. Mein Bruder ist nach S. Moritz geschickt und will dann wo möglich noch, etwa am Thuner oder Genfer See zu uns stoßen; mein Schwager Usener ist mit meiner Schwester nach Ostende gegangen; Erdmannsdörffer schreibt daß er zu uns stoßen würde und ich will hoffen daß bei dem Hin und Herreisen unsrer Briefe keine Confusion entstanden ist und wir ihn wirklich einmal wiedersehen. Und nun lassen Sie einmal ein Wort hierher (Grindelwald, Adler) gelangen, das uns versichert daß es Ihnen allesammt gut geht und mir einen Begriff giebt, womit Sie beschäftigt sind: es verlangt mich so sehr danach. Und lassen Sie es sich gut gehen und empfehlen allen Ihrigen den Ihnen allezeit gleich ergebenen W. Dilthey. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 4. 1

Die Datierung wurde von der Hg. von BDY vorgenommen. D.s Bruder Karl war am 13. Juni 1877 als Prof. für klass. Philologie und Archäologie nach Göttingen berufen worden, wo derzeit auch der Philosoph R.H. Lotze und der Jurist R. von Jhering lehrten. – Karl D. wohnte am Hainholzweg oberhalb der Stadt. 3 Reiseführer. 4 R.A.K. Hebler war seit 1863 Prof. in Bern. – D. kannte Hebler vermutlich aus seiner Berliner Studienzeit. 5 D.s Tochter Clara. 2

[508] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Kl[ein] Oels den 4. 9. [18]78. Erst heute, mein verehrter Freund, komme ich dazu Ihren Brief zu beantworten, zunächst mit dem Ausdrucke der Freude darüber, daß es Ihnen gut geht. Denn eine Zeit lang und nach meiner Empfindung eine lange Zeit lag

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ich, unfreiwillig, in den Banden der Hühnerjagd. Bekannte hatten sich zu dieser Herbstunterhaltung angesagt und [es] nöthigte mich die Höflichkeit des Wirthes den täglichen Begleiter auf den Jagdzügen abzugeben. Was von Verstand bei derartigem Treiben nicht verknallt wird, wird todtgelaufen. Nun bin ich wieder Selbstherr und in Benutzung des Tages ungehindert. Nachdem vor Kurzem die einzige männliche Seele in Gestalt des Graraurs Otto aus Berlin1 uns verlassen, bin ich in einem zahlreichen Damenkreise der einzige Vertreter des schwachen Geschlechts. Im Laufe der kommenden Woche trifft mein Schleibitzer Bruder2 mit seiner Familie ein. Demnächst werden mein jüngster Schwager und mein Vetter nebst Frau erwartet. Von Erne3 keinerlei Nachricht. Durch Andere drang die Kunde von einem neuen Trauerspiele hierher. Bei solcher Schnellgeburt ist zu besorgen daß es in aesthetischer Beziehung ein Trauerspiel sei. Ich habe den Unermüdlichen auffordern lassen uns Nachricht zu geben über die Chancen der Frankfurter Aufführung, deren rechtzeitiges Statthaben die Rheinreise herbeiführen würde und somit ein Wiedersehen in Ihrer Heimath. Ein mir erfreulicher Gedanke. Denn trotz vielen Besuches war ich nicht in der Lage der Mittheilung, die Ihnen vorgeschriebene Enthaltsamkeit aber würde peripatetischem Philosophiren nicht im Wege stehen. Denn die Unbehaglichkeit Ihres Zustandes war durch andauerndes Sitzen hervorgerufen, nicht unmittelbar durch angestengtes Denken. Wie ich denn daran nicht glaube, daß das Gehirn durch Denkarbeit als solche lahm werden könnte, vielmehr nur durch die durch begleitende Umstände hervorgerufenen Stockungen. Die Vorschrift das Denken zu unterlassen ist um nichts leichter zu erfüllen als die bei geöffnetem Auge nicht zu sehen. So bin ich denn überzeugt, daß die Ruhe, die Sie sich gönnen und deren Sie bedurften, die Ruhe, welche in Bewegung besteht, mancherlei Gedankenkeime gezeitigt hat. Bei dem Mangel an Ungestörtheit ist, was an Gedanken mir geworden, flüchtig hin und hergezogen, wie die Schwalben durch die Luft. Ich bin dabei sie einzufangen, um sie Ihrer Lupe zu unterstellen während nächster winterlicher Gemeinschaft. Unter Anderem glaube ich erkannt zu haben, daß der Satz von Grund und Folge neben dem der Identität keinen Anspruch auf Selbstständigkeit machen kann. Er ist vielmehr nur eine Applikation dieses Satzes, dieser grundlegenden Erkenntnißform in ihrer Anwendung auf verschiedene Phaenomene. Alle Erkenntniß ist im Grunde Gleichsetzung innerhalb der Phaenomenalität. Einmal wird ein Phaenomen fixirt durch Gleichsetzung mit sich selbst, ein anderes Mal werden zwei oder mehr Phaenomene zur Gleichung gebracht, indem ihre Identität in Form der Voraussetzung ausgesagt wird. Ein Beispiel: Wenn ich sage: weil es regnet, wird es naß, so stelle ich die beiden verschiedenen Erscheinungen in den Rapport der Identität, nur daß das Identische in der Stellung eines regulativen Faktors

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bleibt. Es aus der Stellung der Voraussetzung in die des Satzes zu erheben, zu fördern, ist nun die Aufgabe aller Naturwissenschaft und ihr Monistischer Trieb hierin begründet. So strebt z.B. die Chemie nach Darstellung des identischen Objekts verschiedener Erscheinungen, welche demnächst aus seiner Analyse sich wieder zu ergeben haben. Die Verschiedenheit des Satzes von Grund und Folge – nicht von Ursache und Wirkung – von dem der Identität liegt, um dies zu wiederholen, nicht in der Verschiedenheit der Erkenntnißform, sondern ausschließlich in der des Erkenntnißsubstrats. Das Urtheil ist daher hier wie dort wie immer analytischer Natur, das synthetische Moment liegt in dem Wahrnehmungsakte und zwar in beiden Fällen, nur deutlicher in dem Falle der identischen Verbindung zweier Erscheinungen. In dem einen Falle negirt das Urtheil nur die Verschiedenheit der Zeit, in dem anderen auch die Verschiedenheit des Raums und der Empfindung. Leitet man nun die Erkenntnißform der Gleichsetzung von dem unmittelbaren materialen Bewußtsein der individuellen Selbigkeit ab, so erscheint der Erkenntnißprozeß als Projection des unmittelbaren Bewußtseins, alles Erkennen als partielles Anthropomorphisiren, das Bewußtsein der Schlüssel für die Welt und das Schloß zugleich. Hieraus ergiebt sich auch die mindere Dignität des Erkennens, welches an einen gegebenen Bewußtseinsbefund gebunden ist, nichts anderes thut als ihn analogisch anzuwenden, so wie der nonsens eines Begreifens der Freiheit, gleichsam eines Versuchs fließendes Wasser festzunageln. Die psychologischen, paedagogischen, politischen, theologischen Consequenzen sind zu umfassend, um darauf einzugehen. Von Lektüre nenne ich Claasen,4 Preger,5 Mill, Schleiermachers Psychologie,6 in der ich noch drinn stecke. Seien Sie nicht böse, auch in dieser Schleiermacherischen Arbeit finde ich nichts als das alte bekannte kurze Fleisch mit der gewohnten langen Sauce servirt. Über Mill: ‚über die Freiheit‘7 ist mein Urtheil weit weniger günstig als das Ihrige. Er dokumentirt sich als Vertreter einer endlich im Absterben begriffenen Staatsauffassung. Auch ihm ist der Staat nichts als eine Rechtsanstalt, die Gesellschaft eine Masse von Atomen. Der Standpunkt der Betrachtung ein rein abstrakter. Als Staatsbürger setzt er selbstständige, urtheilsfähige Menschen voraus und kommt natürlich bei solcher Voraussetzung zu praktisch unmöglichen und verderblichen Consequenzen. Er vergißt daß Ethisches anerzogen und nicht bewiesen wird, die Consequenz der falschen Stellung, welche er dem Intellekt giebt. Ich finde hier wie bei den kleinen Schriften von Hume eine oberflächliche Lucidität. Politiker ist er nun gar nicht, da Politik nicht in Durchführung eines Prinzips sondern in richtiger Vinkulirung verschiedener Prinzipien und Interessen besteht. Formale Politik wesentlich = Mittellehre. – Doch genug von All dem. In den nächsten Tagen wird nun die unfehlbare Nation aus unfehlbaren Mündern

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reden, das gallertartige Gerinnsel des s.g. gesunden Menschenverstandes vor der Aufgabe der Lösung komplizirtester Probleme. Möge die Regierung sich gegenwärtig halten, daß Sozialismus und Judaismus (Plutokratie) zwei Seiten derselben Sache sind. Viel Phrase muß aus der Welt geschafft werden, die wie Nebel die Wirklichkeit verbirgt. Yorck.8 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 5. 1

Nicht ermittelt. Graf Peter Yorck von Wartenburg (1838–1885) lebte mit seiner Familie auf dem Gut Schleibitz nahe Breslau. 3 Yorcks Schwager, der Jurist und Dichter Ernst von Wildenbruch (1845–1909). – Zwischen Frühjahr und Sommer 1878 schrieb er die Tragödie Die Karolinger, die 1882 erschien. 4 Johannes Classen (1805–1891): klass. Philologe und Pädagoge; Gymnasialdirektor in Frankfurt und Hamburg. – Thukydides. Erklärt von J. Classen. 8 Bde. Berlin 1862–1878. 5 J. Wilhelm Preger (1827–1896): protest. Theologe. – Geschichte der deutschen Mystik im Mittelalter. Nach den Quellen untersucht und dargestellt. 3 Bde. Bd. 1 erschien 1874 in Leipzig, die Bde. 2 und 3 in den Jahren 1881 und 1893. 6 F.D.E. Schleiermacher: Psychologie. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen. Hg. von L. George. Berlin 1862. 7 J.St. Mill: On liberty. London 1859; 1860 in deutscher Übersetzung erschienen. 8 Die Unterschrift wurde aus den Korrekturfahnen von BDY übernommen. 2

[509] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg Interlaken den 20. Sept[ember] [18]78. Herzlichen Dank, lieber Graf, für Ihre Mittheilungen, die uns sehr lebendig nach dem schönen Klein-Oels versetzt haben. Sie sind also jetzt in KleinOels im Dienste eines großen Kreises von Damen und behaupten wahrscheinlich nur mühsam durch den Schrecken Ihrer Paradoxen einige Selbständigkeit. Philosophie und Wahrheit (eigentlich dasselbe) sind eben überall im Zustande der Unterdrückung. – Wir hier haben inzwischen droben in Grindelwald ein recht lustiges Leben geführt. Was man irgend Gedanken nennen kann, ließen wir unten im deutschen Tiefland; das Nöthigste von Verstand hatten wir in unsren besten Momenten in den Augen, gewöhnlich in den Beinen. Ich behandle mich also nach beiden Methoden, nach der Ihrigen, welche vom Prinzip der Bewegung (nämlich der Beine) ausgeht, und nach der meines Leibarztes Ebstein (der übrigens heute hier anlangt und mich

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einer Besichtigung unterwerfen wird), die vom Prinzip der Ruhe (des Gehirns nämlich) ausgeht. Beide Systeme haben leider noch nicht die volle gewünschte Wirkung bei mir gehabt. Mit dem Philosophiren hat es also noch einige Weile. Ich habe über den Gegenstand Ihres Briefes das Eine und Andre gedacht: doch ist es zu unreif, es schriftlich zu äußern. Desto lebhafter soll im Winter philosophirt werden, und Sie erwerben sich ein großes Verdienst dadurch daß Sie zu schreiben, aufzuschreiben angefangen haben. Damit ist hoffentlich Ihre Abneigung gegen das Aufschreiben ein für allemal überwunden und das Eis bei Ihnen gebrochen. Unsre Schweitzerreise geht zu Ende. Ich sitze in Interlaken am Kamin zwischen schwatzenden Engländerinnen, während ich diese Zeilen schreibe; draußen regnet es und ein paar hundert Fuß höher hat es in der Nacht geschneit. Wir sehnen uns heute recht nach Hause. Ich habe seit Tagen große Sehnsucht nach meinem stillen Studirzimmer und meiner Bibliothek .|.|. Unser nächster Plan ist nun, nach Bibrich zurückzukehren; dort will ich sachte zu arbeiten beginnen. Nichts Besondres, mit Hilfe der vortrefflichen Wiesbadner Bibliothek will ich Memoiren und Briefwechsel der von mir zu behandelnden Zeit lesen und excerpiren. Zwischen dem 15ten und 22ten October reisen wir dann von Bibrich über Berlin, wo ich wenn möglich noch ein paar Akten ansehe, nach Breslau: der nähere Termin wird durch den ersten Termin der Prüfungscommission bestimmt, der noch nicht angesetzt ist. In dieser Zwischenzeit hoffen wir denn sehr stark Sie am Rhein zu sehen und ich freue mich außerordentlich darauf Ihnen beiden meine Heimathgegend zu zeigen. Das Sozialistengesetz1 kommt also nach dem ersten heute hierher gelangten Commissionssitzungsbericht offenbar zu Stande. Bismarck merkwürdig: eine sehr richtige und große Gesammtempfindung, welche durchaus ein positives Eintreten der Regierung in eine Reformgesetzgebung fo[r]dert, und dabei ganz veraltete Vorstellungen, auch solche die jederzeit unberechtigt waren wie das sonderbare Urtheil über Lassalle.2 Veraltet besonders die Hoffnung auf Produktivassociationen, die Einschränkung der Frage auf das Verhältniß von Arbeiter und Lohngeber. Eingehüllt von theologischen Phrasen fand sich bei Kleist Retzow3 manches Gute. Im Übrigen die Debatte so arm wie gewöhnlich an Gedanken. Von Grimms Befinden gute Nachrichten. Neuman sitzt am Vierwaldstätter See und es geht ihm nicht gut. Mit Erdmannsdörffer habe ich in Grindelwald sehr heitere Tage verlebt. Dort zeigten sich denn auch sonst manche Bekannte, Weinholds kamen uns zu besuchen, ebenso der Philosoph Windelband4 etc. Ebenso hatten wir Hebler aus Bern, den Philosophen, nach uns gezogen, eines der prachtvollsten Schweitzeroriginale.

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Hier, wie gesagt, schlägt der Regen an die Fenster, der Kamin glüht und die Engländerinnen plappern in einer so verdrießlich störenden Weise, daß ich nur diesen Brief schließen will: allerhand fremdartige Worte und Gedanken tanzen, während ich schreibe, auf meinem Papier. Ein Wort von Ihnen, wie es mit Ihren Reiseplänen steht, wie es Ihnen und Ihrer verehrten Frau geht träfe uns nun demnächst in Bibrich unter der Adresse meiner Mutter Frau Kirchenrath Dilthey. Doch ebenso auch unter der meinigen. Dilthey.5 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 6. 1 Nach zwei Attentaten auf Kaiser Wilhelm I. von Bismarck am 21. 10. 1878 erlassenes Ausnahmegesetz gegen die „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“. Es verbot alle „sozialdemokratischen, sozialistischen oder kommunistischen“ Vereine, Versammlungen und Druckschriften. Das Gesetz wurde zunächst auf zweieinhalb Jahre befristet, dann verlängert und erst 1890 aufgehoben. 2 Ferdinand Lassalle (1825–1864): Publizist und Politiker; Studium der Philosophie, Philologie und Geschichte in Breslau und Berlin, 1848/49 Mitarbeiter an K. Marx’ Neuer Rheinischer Zeitung, 1863 erster Präsident des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“, dessen Programm er ausgearbeitet hatte. 3 Hans Hugo von Kleist-Retzow (1814–1892): altkonservativer Politiker und Mitbegründer der Kreuzzeitung; Mitglied des Herrenhauses, bekämpfte seit 1871 die kirchliche Politik der Regierung. 4 Wilhelm Windelband war seit 1877 o. Prof. in Freiburg. 5 Die Unterschrift wurde aus den Korrekturfahnen von BDY übernommen.

[510] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [Ende November 1878]1 Eben, mein lieber Graf, lese ich, daß der alte vortreffliche Graf Harrach2 im 84. Lebensjahr gestorben. Da ich vermuthe, daß Sie zu der Abends stattfindenden Einsegnung in die Stadt kommen werden, und ich große Sehnsucht habe Sie zu sehen: setze ich Ihnen gleich den status causae auseinander. Bis 31/2 Uhr bin ich bei mir; dann habe ich auf der Universität (es ist der unglückliche Donnerstag) bis 7 Uhr zu thun, wo ich dann gleich wieder zu mir zurückkehre; werde also 71/2 wieder zu Hause sein. Am Ende bleiben Sie bis Freitag!

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Ich bin, neben den Akten, immer noch damit beschäftigt, festzustellen, was Schleiermacher von der alten Philosophie gewußt hat. Fühle mich also in der Gesellschaft der Herren Meiners,3 Fülleborn,4 Tiedemann5 recht ausgetrocknet. Bin wie ein Mensch, der auf halbem Weg immer noch das Gefühl hat obs nicht bequemer sei wieder nach Hause zu gehn. Inzwischen genießen Sie der fühlingswarmen Sonne bei der Jagd und bei nachdenklichen Spatziergängen! Treu der Ihrige Dilthey.6 Mittwoch früh. Gestern das Brahmssche Requiem,7 welches die Gränzen dieses Genies leider nur zu deutlich machte. Er zersplittert sich in der Tonmalerei (ausgenommen wo er die Schrecken des Todes und die Nichtigkeit des Lebens so mächtig als wahr darstellt), die einzelne Sätze characteristisch ausdrücken soll, der Glaube kommt dabei gar nicht zum Ausdruck. Natürlich muß man ihn haben, wenn man ihn musikalisch lebendig machen will. So geht die ganze Musik von außen nach innen. – Der Prinz von Homburg8 vorgestern, wo der nixenhafte Fischschwanz der Romantik nicht sichtbar, außerordentlich! Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 7. 1

Geschrieben wurde der Brief am Dienstag, 26. November 1878, und Mittwoch, 27. November 1878. – Die Beerdigung des Grafen Harrach fand am Donnerstag, 28. 11. 1878, statt. 2 Graf Carl Philipp von Harrach, Herr auf Groß-Sägewitz in Preußisch-Schlesien und Vater des Malers Ferdinand von Harrach war am 25. November 1878 gestorben. 3 Christoph Meiners (1747–1810): (Popular)philosoph; 1772 a. o. und ab 1775 o. Prof. der Philosophie in Göttingen. 4 Georg Gustav Fülleborn (1769–1803): Philologe, (Popular)philosoph und Schriftsteller; seit 1791 Prof. der klass. Sprachen am Elisabeth-Gymnasium in Breslau. 5 Dietrich Tiedemann (1748–1803): Philosoph; er befasste sich vor allem mit psychologischen und ästhetischen Problemen, aber auch mit Fragen der Vernunftkritik in Auseinandersetzung mit Kant. 6 Die Grußformel ist in beiden Korrekturexemplaren von BDY enthalten und wurde hier ergänzt. 7 Johannes Brahms’ Deutsches Requiem (Uraufführung – ohne Satz 5 – am 10. April 1868 im Bremer Dom). – D. war mit Brahms (1833–1897), der sich zwischen 1874 und 1881 fast alljährlich in Breslau aufhielt, gut bekannt. 8 Schauspiel von Heinrich von Kleist.

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[511] Dilthey an Wilhelm Scherer [Januar 1879] Mein lieber Scherer, besten Dank für die mitgetheilten kurzen Aufsätze, die mir viel Vergnügen gemacht haben. Es thut dem langsam brütenden Freunde immer gut wenn er Sie so flott das Gefundene darlegen sieht. Was wir aber noch nicht gekriegt haben, u. was wir durchaus haben müssen, ist das Bild Ihrer lieben Braut.1 Die Neugier meiner Frau wächst mit der Zeit des Wartens u. schließlich wird eine Photographie in Folio nöthig sein, ihr genugzuthun. Dann sind wir weiter sehr neugierig, ob es gelungen, die Verpflichtungen Ihrer Braut in Hamburg zu lösen:2 der Brautstand kann, wie jeder andre Zustand des außer sich selber Seins nicht über eine bestimmte Zeit hinaus verlängert werden, sonst wird die Sache unnatürlich. Man ist gar nicht mehr bei sich selber zu Hause. Die dramatischen Studien3 von Ihnen habe ich zum Studium zurückgelegt auf die Zeit, wenn ich mich mit der d[eutschen] Literatur des 16 Jahrhunderts werde beschäftigen können; die Studien über Goethe4 haben mir sehr gut gefallen; bei Ihren Bem[erkungen] üb[er] d[en] Styl Goethe’s in d[en] gel[ehrten] Anz[eigen] fällt mir ein: haben Sie Ph[ilip] Moritz’ Analyse des Goetheschen Styls gelesen; er legt so viel ich mich erinnere auch e[inen] analog gebauten die Langathmigkeit Goethescher Empfindung verdeutlichenden Satz aus d[em] Werther: ‚wenn ich . . . im Grase liege‘ etc. zu Grunde. In dem Aufsatz ü[ber] den Schillerpreis wie in e[inem] neueren über Auerbach5 haben Sie ja die Milde Ihrer gegenwärtigen Gemüthsverfassung über Gerechte u. Ungerechte sanft scheinen lassen. Wir hier leben sehr vergnügt u. auch nach Kräften fleißig. Der Umgang mit dem Grafen York ist fortdauernd hier der, welcher mir am wohlsten thut u. dem ich das Beste danke. Er ist eine Natur von großem Zuschnitt. Gestern ist er nach Berlin auf einige Tage gefahren u. hat mir versprochen, Sie zu besuchen. Wenn es Ihre Zeit irgend gestattet, wollen Sie ja sich ihm von innen ein wenig wie Sie sind sehen lassen und ihn selber so zu sehen sich bemühen. Er ist einer der wenigen Menschen, die begegnen, bei denen das angebracht ist. Ostern muß ich wieder ein wenig nach Berlin kommen. Diesmal hoffentlich ein wenig freier als das letzte Mal, wo ich so vom Winter überarbeitet u. von den Aktenmassen desperat occupirt war, daß ich nur Schatten sah. Das Schönste wäre ich fände dann Ihre Braut auch in Berlin. Über Julians Anti-Lindau6 habe ich mich ungeheuer ergötzt: er hat diesen Menschen wirklich abgeschlachtet u. ausgewaidet. Bei einzelnen Schnitten

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Dilthey an Wilhelm Scherer

glaubte ich die Hand Hermann Grimms zu gewahren. Danken Sie schön von mir u. diversen andren wenn Sie ihn sehen. Wollen Sie Ihre verehrte Mutter von mir vielmals grüßen. Sehr dankbar wäre ich Ihnen vernähme ich durch Sie einmal wieder ein Wort wie es Frau Duncker geht, der ich auch m[eine] herzlichsten Grüße die Treppe herauf schicke. Und nun leben Sie wohl, packen Sie, wenn Sie diese Zeilen angesehen haben, die Photographie der Herzallerliebsten in das nächstliegende Couvert u. lassen Sie so jemanden, der so herzlichen Antheil an Ihrem Glück nimmt sich auch e[ine] unvollkommene Vorstellung davon bilden. Wir zeigen die Photographie nicht herum, wenn Sies nicht gestatten. Viele Grüße v[on] m[einer] Frau u. Clärchen Ihr Dilthey [Über der Anrede auf der ersten Seite des Briefes:] Ach die Völkerpsychologie! Neulich begegne ich unsrer Kleinen auf dem Spatzirgang u. frage sie was die Sonne mache. ‚Batsch (Suppe) kochen‘ war ihre entschiedene Antwort. Eröffnet das nicht e[inen] tiefen völkerpsychol[ogischen] Blick? Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 36. – Ein handschriftliches Transkript des Briefes von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 36. 1

Scherer hatte sich im November 1878 mit der Sängerin Marie Leeder (1855–1939) verlobt. M. Leeder hatte damals ein Engagement am Stadttheater Hamburg. 3 W. Scherer: Deutsche Studien III: Dramen und Dramatiker, in: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Philos.-histor. Klasse. 90. Bd., S. 185–242; 1878 auch separat in Wien erschienen. 4 W. Scherer: Studien über Goethe. Der junge Goethe als Journalist, in: Deutsche Rundschau 17 (1878), S. 62–74. 5 W. Scherer: Die Schillerpreise [über Anzengruber, Nissel, Wilbrandt], in: Deutsche Rundschau 14 (1878), S. 484–488. – Ders.: Berthold Auerbachs neueste Dorfgeschichte (Landolin von Reutershofen. Berlin 1878), in: Deutsche Rundschau 18 (1879), S. 153–156. 6 J. Schmidt: Der Schillerpreis, in: PJ 42 (1878), S. 626–635 [gerichtet gegen Paul Lindau: Der Schiller-Preis und ‚Agnes von Meran‘, in: Die Gegenwart, Nr. 47, 1878]. 2

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Ehrenfried von Willich an Dilthey

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[512] Ehrenfried von Willich an Dilthey Stralsund, 24. II. [18]79 Ew Wohlgeborn übersende ich hiebei den kleinen Aufsatz über das gesellige Leben der Pagard[e]r Pfarrhäuser, den ich auf Ihren Wunsch, aber ich fürchte durchaus nicht nach Ihrem Wunsch angefertigt habe, weil ich eben nicht vermag Gehaltreiches zu geben. In vorzüglicher Hochacht[un]g nenne ich mich Ew. Wohlgeborn ergebnen v. Willich1 Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 111, Bl. 354–365. 1

Es folgt handschriftlich der Aufsatz von E. v. Willich Ueber das gesellige Leben der Pagarder Pfarrhäuser besonders in den Jahre 1804 bis 1809.

[513] George Westermann an Dilthey Braunschweig, den 17 März 1879. Sehr geehrter Herr!

1

Im ersten Bande der s[einer] Z[eit] Ihnen übersandten Werke Leibniz’ (Hannover Klindworth’s Verlag) befindet sich ein gutes Portrait dieses berühmten Philosophen, welches zur Illustration der uns von Ihnen in Aussicht gestellten Arbeit2 als Vorlage sich verwenden ließe. Haben Sie die Güte, uns dies Bild möglichst umgehend zukommen zu lassen, damit Zeichnung und Schnitt danach gleich in Angriff genommen werden können und gestatten Sie uns bei dieser Gelegenheit Ihnen in Erinnerung zu bringen, daß es ja nicht übersehen wird, in der Arbeit des Öfteren auf das obengenannte Verlagsunternehmen hinzuweisen, dessen Besprechung ja eigentlich die Anregung zu einem größeren Artikel erst gegeben hat. Hochachtungsvoll u. ergebenst George Westermann Verlagshandlung.

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George Westermann an Dilthey

Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 257, Bl. 28–28 R. 1

Darüber: gedruckter Briefkopf „George Westermann. Verlagsbuchhandlung und Briefdrukkerei“. 2 Ein Leibniz-Aufsatz D.s für WM kam nicht zustande.

[514] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [Mai 1879.]1 Dienstag Mittag. Lieber Graf, das Bild von Makart soll von jetzt ab noch etwa drei Wochen hier bleiben; Sie haben also die Wahl in Bezug auf die Zeit Ihres Herkommens. Kommen Sie in der nächsten Zeit nicht, so bin ich wahrhaftig im Stande bei diesem strahlenden Wetter am nächsten Sonnabend oder Sonntag Sie drüben zu besuchen und dort über die Axiome der Mathematik nachzudenken, anstatt hier mit Vorlesungen, die ich verwünsche, und Plato, den ich noch mehr verwünsche, meine Zeit zu verderben, während in Eß und Schlafzimmer gehämmert wird. Säßen Sie nicht in Kleinöls, so würden Sie die Poesie meines jetzigen Zimmers sicher bewundern. Arrivirt eben eine Abhandlung die mir Sigwart schickt2 und die als Universitätsschrift Ihnen sonst vielleicht nicht in die Hand käme. Ich schicke Sie Ihnen also mit. Breslauer Neuigkeiten wüßte ich keine. Doch ja, gestern begegnete mir Berg3 – Böcklin4 kann sich nicht entschließen Italien zu verlassen und von seinen paradiesischen Zimmern nicht mehr in das Thal des Arno hinabzublikken. Ein wenig hofft Berg noch auf neue Geldnoth. – Bei Lichtenberg5 nichts, als ein neuer Oswald Achenbach,6 italienische Landschaft. – An der Universität erhebliches Sinken der Juristen; wir aber halten uns aufrecht. Dilthey7 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 8. 1

Die Datierung wurde von der Hg. von BDY vorgenommen. Ch. Sigwart: Der Begriff des Wollens und sein Verhältniß zum Begriff der Ursache [Ostern 1879 erschienen im Programm der philosophischen Fakultät der Universität Tübingen], in: Ders.: Kleine Schriften. 2. Reihe: Zur Erkenntnißlehre und Psychologie, 2. unveränd. Aufl. Freiburg i. Br. 1889, S. 115–211 [veränd. Abdr.]. 2

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Der Maler Albert Berg. Arnold Böcklin ließ sich 1876 in Florenz nieder. Vermutlich ein Breslauer Kunsthändler. Oswald Achenbach (1827–1905): Maler. Die Unterschrift wurde aus den Korrekturfahnen von BDY ergänzt.

[515] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Kl[ein] Oels 7. 5. [18]79. Besten Dank, mein verehrter Freund, für die heute erhaltenen Zeilen und Sigwartsche Beilage. In letztere habe ich nur erst hereingesehen und kann somit noch nichts Weiteres sagen als: warum erst immer eine Weile um die Sachen herumgehen, ehe man ihnen zu Leibe geht? Ein Verfahren welches Abhandlungen länger, nicht aber gewichtiger macht. Die Frisur der Gedanken hält zu lange auf. Nachdem einige Eiskontinente in Form von kalten Wasserdünsten über uns hinweggezogen, emanzipirte sich die Sonne für zwei Tage. Heute war sie schon wieder unsichtbar. Ebenso lange wie der Himmel war mein Gehirn nebulos. Jetzt hoffe ich meine Grippe endlich los zu sein. Sie können sich denken, daß Gedanken während der Zeit fern standen. Es blieb beim Anbeißen und Kauen, zum Verdauen waren die geistigen Kräfte zu schwach. Ihr Einwand ist berücksichtigt und – ich denke – überwunden. Aber bei solcher schriftlichen Confession, wie die mit der ich beschäftigt bin, ergeht es einem wie dem Touristen. Auf dem Wege der Darstellung und Lösung eines Problems, welches zum Niederschreiben nöthigte, stößt man auf – wenigstens in ihren Dimensionen – nicht vorhergesehene Hindernisse und ist eine Höhe überwunden, so steht eine neue, steilere, vor Augen. Das ist mir klar: auch das voreilig Ihnen Vorgelesene muß an manchen Stellen umgearbeitet werden. So werde ich zu Pfingsten mich auf die Rolle des Zuhörens beschränken. Ich erfahre täglich, daß ein Forciren zu nichts führt. Ist das Wetter nicht gar zu winterlich, so beabsichtige ich am Freitage um drei Uhr in Breslau einzutreffen. Ich komme vom Bahnhofe zu Ihnen. Gegessen habe ich dann hier; so wird Ihre Tageseintheilung nicht gestört. Den Vormittag reservire ich, wie Sie wissen, wenn irgend thunlich meinem Zimmer. Der nächstfrühere Zug aber verläßt Ohlau1 schon um halb zehn Uhr. Hoffentlich überrede ich Sie dann, am Sonnabend herauszukommen. – Die optische Voreingenommenheit Boecklins thut mir sehr leid. Er wäre ein bleibender Gewinn für Schlesisches Kunstleben gewesen, auch wenn er nicht

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Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

länger als einige Jahre in Breslau ausgehalten hätte. Was sagen Sie zu der gewaltigen agitatorischen Rede Bismarcks?2 Neptunische Kräfte, die so alle Wogen aufrühren! Sein Ideal einer Befreiung des gesammten Volks mit Ausnahme weniger von direkten Steuern bei Conservirung dieses Steuermodus ist sehr bedenklich. Ohne Steuer und Militärpflicht keine Möglichkeit einer Verstaatlichung der Massen. Schon die Camphausenschen3 Steuerbefreiungen, die Hobrecht4 ausdehnen will, halte ich für schädlich. Hobrecht übrigens hat sehr gut und klug gesprochen. Nur fehlt der Klugheit die Kraft der Leidenschaft. Rein demagogisch und absolut sachlos Richter.5 Und Bennigsen6 wiederum hohl wie ein ausgeblasenes Ei. – Im Resultate wird die Sache gut werden im Ganzen und Großen. Doch nun gute Nacht – denn es ist spät geworden – und hoffentlich auf frohes Wiedersehen! Mit den schönsten Grüßen von Haus zu Haus der Ihrige P. Yorck.7 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 9. 1

Kreisstadt im Regierungsbezirk Breslau nahe dem Gut Klein-Oels. Bismarck eröffnete die Beratungen über die Tarifgesetze am 2. Mai 1879 im Reichstag mit einer Rede, in der er sich u. a. gegen direkte Steuern aussprach. 3 Otto von Camphausen (1812–1896) war von 1869 bis 1878 preuß. Finanzminister. 4 A. Hobrecht, ehemaliger Oberbürgermeister von Berlin, war 1878–1879 preuß. Finanzminister. 5 Eugen Richter (1838–1906): Jurist und Politiker, Führer der Fortschrittspartei; seit 1867 Mitglied des Reichstags und seit 1869 auch im preuß. Abgeordnetenhaus; Gegner Bismarcks und der Sozialdemokratie. 6 Rudolf von Bennigsen (1824–1902): ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Nationalvereins; Mitglied des Reichstags, seit 1873 Präsident des preuß. Abgeordnetenhauses. 7 Grüße und Unterschrift, die in BDY fehlen, wurden gemäß den Korrekturfahnen ergänzt. 2

[516] Dilthey an Wilhelm Scherer Breslau Wallstraße 8 [Frühsommer 1879] Tausend Dank, mein lieber Scherer, für die schöne Photographie, die einstweilen das Bild Ihrer Frau auf das Angenehmste vor uns hinstellt, bis wir es einmal wie wir lebhaft wünschen aus dem Leben ergänzen u. mit munteren

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Dilthey an Wilhelm Scherer

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Farben ausstatten können. Wie oft sprechen Käthe u. ich davon wie es nun bei Ihnen auf und hinter dem Balcon aussehen mag, der ihnen Berlin glücklicherweise mehr verbirgt als zeigt. Wohin werden Sie denn in den Ferien das Glück spatzieren tragen? Von weitläufigen Plänen, in die Schweitz zu gehen, suche ich meine Frau wieder loszulösen, da ich diesmal ungern aus der Arbeit so aufgestört werden möchte; das letztemal war’s ja nöthig, ich war sehr überarbeitet; diesmal möchte ich lieber die Bücher nur etwa nach Heringsdorf auf ein paar Wochen transportiren. Später muß ich dann doch in Berlin wieder Akten arbeiten. Aber Eines! Wenn Sie etwa Anfang August nach Ihrer gemeinsamen Heimath durchpassiren, müssen Sie in Breslau Statione machen: Sie finden ein freundliches Fremdenzimmer u. sehr erfreute Gesichter u. Clärchen kennt das Gesicht der neuen Tante schon. Ihre Goethiana1 verfolge ich mit lebhaftestem Interesse u. bin für jedes Blatt sehr dankbar. In der letzten Zeit hat sich mir freilich jede Beschäftigung mit d[en] Fragen d[er] Poesie vor e[inem] neuen Durchdenken der Erkenntnißtheorie verkrümelt u. so reagire ich im Augenblick nur schwach. Es ist ein großes Verdienst des neuen Prüfungsreglements, das mir überhaupt als ein außerordentlicher Fortschritt erscheint u. von dem ich nur auf das Dringendste wünschen kann daß es zur Publikation recht bald gelange, – daß nunmehr in ihm die neuere deutsche Literatur an die rechte Stelle gesetzt ist; Poetik u. Rhetorik müssen dann freilich erst wieder neu belebt werden, u. an vielen Universitäten wird ihr Leben ein sonderbares Kunstprodukt sein. Hier ging ich mit Weinhold, der über den § deutsch das Referat hatte sehr über denselben auseinander, da er im Gegensatz gegen den § überall die mittelhochdeutsche Grammatik suppliren wollte; überhaupt möchte in der Ausführung an den einzelnen Universitäten der alte Geist doch noch geraume Zeit das Übergewicht behaupten. Darf ich Sie um einen rechten Gefallen bitten? Die Naturforscher, hier wie überall auf ihre Emancipation ausgehend, haben bei uns einen Antrag auf Trennung der Fakultät eingebracht. In einer ersten Schlacht haben wir sie zurückgeworfen, aber die zweite steht vor der Thür. Sie haben sich jetzt auf das Vorbild von Straßburg geworfen; ‚das neueste, also das beste was es von Einrichtungen giebt‘ wie einer von ihnen naiv sagte. Schreiben Sie mir vielleicht thunlichst bald ein vertrauliches Wort zu meiner Information über die Art wie dort die Trennung wirkt? Es ist ja an sich schon etwas Veraltetes, von Geschichte u. Philosophie die Naturforschung nun ganz losreißen zu wollen. Hier z.B. besteht zwischen den mathem[atischen] Studirenden u. der Philosophie durchgehends, wenigstens bei den hervorragenderen, ein näherer Zusammenhang als zwischen ihn[en] u. den beobachtenden Naturwissenschaften.

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Grade unter den Mathematikern habe ich, bei dem trostlosen u. mich wirklich mit Desperation erfüllenden Zustande der Philologie hier, bei dem geringen Zug unter den Studenten in die Geschichte, die tüchtigsten philosophischen Schüler. Auch wollen die Mathem[atik] Prof[essoren] nicht ausscheiden u. erklären geradezu dann lieber bei der alten Fakultät verbleiben zu wollen. Wie soll denn auch das Doktorexamen für die mathem[atischen] Studenten2 eingerichtet werden? Sollen sie von Philosophie ausgeschlossen werden u gezwungen ihre zwei Fächer in den Naturwissenschaften zu suchen? Wie war das in Straßburg u. wie wirkte es? Ich kann mir eine philos[ophische] Fakultät ohne die Wechselwirkung der historischen u. math[ematisch] naturw[issenschaftlichen] Richtung gar nicht denken. Was wir erreichen müssen ist gerade zunehmende Durchdringung, aber nicht Sonderung, die freilich im Interesse der Majorität, der Stockphilologen einerseits u. der blos beobachtenden Naturforscher andrerseits liegt. Ich möchte Sie Vieles fragen, da die Sache mir sehr am Herzen liegt u. meine Freude an m[einer] hießigen Thätigkeit wenn die Facultät zerrissen würde gänzlich vorüber wäre. Wie mag Helmholtz über die Sache denken, wie die Regierung? Vor Allem aber, wie war in Straßburg, insbesondere in Bezug auf die Promotionen der mathem[atisch] naturwissensch[aftlichen] Fakultät die Einrichtung u. wie wirkte sie? Viele, viele Grüße von Käthe, lassen Sie baldigst ein Wörtchen hören, u. wenn Sie nach Wien reisen – sehen Sie sich einmal von unsrem Fremdenzimmerchen aus Breslau an. Treulichst Ihr Dilthey NB Breslau Wallstraße 8. Frau Duncker bitte ich recht vielmals u. herzlichst von uns beiden zu grüßen. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 33, 37; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Faz. 261, 37. 1

W. Scherer: Aus Goethes Frühzeit. Bruchstücke eines Commentars zum jungen Goethe. Straßburg 1879. – Ders.: Studien über Goethe. Goethes Pandora, in: Deutsche Rundschau 19 (1879), S. S. 53–71. – Ders.: Briefe Goethes an Sophie von La Roche und Bettina Brentano, in: Deutsche Rundschau 21 (1879), S. 151–157. 2 Im Original an dieser Stelle wiederholt: „das Doktorex.“.

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Dilthey an Georg Ernst Reimer

[517] Dilthey an Georg Ernst Reimer Breslau. [ca. 12.7. 1879] Wallstraße 8.1 Verehrtester Herr Reimer, Heute nur eine Zeile mit der Bitte, mir doch das Exemplar der Reden, Auflage 1, welches, durchschossen, die Zusätze Schl[eier]m[achers] zur zweiten Auflage enthält2 u. das Sie mir einmal zeigten, zusenden zu wollen; ich möchte es nur bis zum 1 August, wo ich es, da ich dann eine Ferienreise antrete, Ihnen wieder versichert zusenden. Ich bin gerade bei dem betreffenden Capitel, u. da würde es mir ein wichtiger Beitrag sein. Ich würde Sie dann bitten, mir baldthunlichst – denn die Sache ist mir über den Hals gekommen u. ich vermag nicht einmal ein Exemplar der 2ten Ausgabe in diesem Augenblick dringenden Bedürfnisses aufzutreiben – mir, versichert u. unfrankirt diesen durchschossenen Band gütigst zusenden zu wollen. Soviel kann ich jetzt ungefähr sicher voraussagen, daß spätestens zu nächsten Ostern der Druck beginnen kann. Mit m[einen] ergebensten Empfehlungen an Ihren Herrn Sohn u. d[ie] Ihrigen treulichst der Ihre W. Dilthey Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter): R1, Dilthey, 68–69. Links daneben von G.E. Reimers Hand: „13. Juli 79[–] 14/7 übersandt Werthpaket von 300 M.“ 2 Die 1. Auflage von F.D.E. Schleiermachers Schrift Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern erschien 1799, die veränd. Neuaufl. 1821. – Vgl. GS XIII/1, S. 313–432. 1

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Dilthey an Wilhelm Scherer

[518] Dilthey an Wilhelm Scherer [Breslau, 4. August 1879]1 Lieber Scherer, nur zur Notiz daß wir Morgen nach Sassnitz auf Rügen reisen, u. daß ich Sie bitte poste restante Sassnitz mich wissen zu lassen, wie auf der Reise ein Brief Sie erreicht. Ich halte fest daran daß Sie auf Ihrer Rückreise bei uns sind u. da wir gegen Ende September wieder hier etablirt sind, so sind wir sicher erheblich vor Ihnen da u. zu Ihrem Empfang bereit. Mit herzl[ichen] Grüßen von Haus zu Haus Ihr Dilthey Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 35; ein handschriftliches Transkript des Briefes von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 35. 1

Die Datierung wurde nach dem Poststempel: „4. 8.“ vorgenommen.

[519] Dilthey an Wilhelm Scherer Heringsdorf Klenzestraße d[en] 1ten Oktober. [18]79. Lieber Freund, Joh[annes] Schmidt,1 den wir in Sassnitz trafen, sagt zwar daß Sie bis zum Schluß der Ferien weg sein würden, sodaß Sie uns dann doch in Breslau treffen würden; inzwischen will ich Sie doch wissen lassen, daß wir vorläufig noch an der Ostsee sitzen u. etwa den 10ten October nach Berlin zu gehen denken, von dort nach dem Aufenthalt einiger Tage nach Breslau. Von Berlin aus, wo ich bei Frau Duncker gewiß Ihre Adresse höre, schreibe ich Ihnen über den Tag an welchem wir in Breslau einzutreffen gedenken. Unser Aufenthalt hat sich länger ausgedehnt, als wir erwartet, da Käthe diesmal gar nicht wie sonst rasch von der Luft Appetit und neue Kräfte bekam. Wir haben die Ostsee für alle Zeiten verschworen, sie ist ein erbärmliches Gewässer, wenn man mehr von ihr verlangt als ein einfacher Landaufenthalt auch leisten kann.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

In Berlin werden wir uns gleich bei Frau Duncker erkundigen was Sie vorhaben, wann Sie zurückreisen wollen. Nun steht es doch so daß wir Sie entweder bei uns sehen, oder in Berlin, u. Ihre Frau kennen lernen. Mit unsren besten Grüßen Ihr Wilhelm Dilthey Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 38; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 38. 1 Johannes Schmidt (1843–1901): Sprachwissenschaftler; 1868 Prof. für Deutsch und Slawistik in Bonn, 1873 Ordinarius für Philologie in Graz, seit 1876 in Berlin.

[520] Dilthey an Wilhelm Scherer [7. Oktober 1879]1 Lieber Scherer, ich schreibe nochmals an Ihre öster[reichische] Adresse, für den Fall daß Sie den Brief über Berlin nicht erhalten; wir gehen morgen nach Berlin und bleiben dort noch einige Zeit kommen also schwerlich vor dem 20ten nach Breslau. Näheres schreibe ich von Berlin aus wenn ich von Frau D[uncker] in Ihrem Hause Näheres gehört. Dies vorläufig. Beste Grüße Ihr Dilthey Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 39; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 39. 1

Die Datierung wurde nach dem Poststempel vorgenommen: „Heringsdorf 7. 10. 79“.

[521] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Kl[ein] Oels 8. X. [18]79. Mein verehrter Freund. Wohin soll ich diese Zeilen des Dankes für Ihren liebenswürdigen Brief vom 3. d[es] M[ona]ts1 senden? Heringsdorf haben Sie verlassen. Ihre Berliner Adresse aber ist mir unbekannt. So schicke ich sie nach Breslau, von wo

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sie den Weg zu Ihnen finden oder wo sie den Heimgekehrten begrüßen mögen. – Seit einigen Wochen sind wir nun alle wieder zusammen hier in Oels. Während Sie eine Meeresidylle genossen, habe ich den brutalen Charakter der öden Salzwassermasse ertragen. Aber nicht länger als vierzehn Tage. Fünftägiger Regen, von Sturm begleitet, ließ den Wunsch nicht länger auf Borkum–Patmos2 zu weilen zur That reifen. Die Jagdpassion war überdem nach Erlegung zweier Seehunde befriedigt. Bis zur Ermattung hatte ich bei langdauernder starker Bewegung in der zehrenden Seeluft mich einer Art von Hungerkur ausgesetzt, durch gesteigerte Intensität die mangelhafte Extension der Kur ersetzend, ein Verfahren, welches sich auf das Beste bewährt hat. Denn um dreizehn Pfund leichter und wesentlich erfrischt kehrte ich in den ersten Tagen des Septembers hierher zurück. Hier nun haben wir einen köstlichen Herbstmonat verlebt. Wie es am Meere eine Freude ist zu athmen, so war es [hier]3 ein Genuß zu sehen. Hierzu bot die tägliche Jagd auf Rebhuhn und demnächst auf Schnepfe ausgiebige Gelegenheit. Daß bei solchem Treiben alles Studium geruht hat, ist verständlich. Seit unserer Trennung habe ich gar nichts gearbeitet. In Borkum laß ich Buckle,4 im Ganzen genommen ein todtes Buch. Hier habe ich in den II. Band der Geschichte Frankreichs von Hillebrand5 hineingesehen. H[illebrand] ist ein Feuilletonist, aber kein Historiker. Geistige und Äußere Thatsachen werden von ihm zu Hauf getragen und nach einander vorgewiesen, indem Phrasen die Verbindungsglieder abgeben. Die Struktur der Zeitpsyche erkennt er nicht. Es fehlt eben an Philosophie. Ernster zu nehmen ist J. St. Mill, in dessen Logik6 ich im Hinblick auf die eigene Schreiberei hineingelesen habe. Bis jetzt habe ich viel Gutes, aber nicht eigentlich viel Neues gefunden. Überdem die bekannte, bei Hume am Glänzendsten auftretende nationale scharfsinnige Oberflächlichkeit. Die Engländer lassen, wenn sie philosophiren, ihren moralischen Menschen außer dem Spiele. So bleiben sie – und der Gesammtgeist der Nation – bei allem scepticismus stets im Gleichgewicht, im Gegensatze zu den Franzosen, zugleich aber entbehren sie aller mystischen Tiefe. Die schlichten, dürftigen Deisten. Wie ich, werden auch Sie mit erneuter Bewunderung Bismarcks Thun während der letzten Monate verfolgt haben. In der That, die diesjährige diplomatische Campagne7 ist kaum weniger bewunderungswürdig, als die des Frühjahrs 1866. Der Mann hat eine Art providenziellen Verstandes und immer den höchsten Atout8 in der Hand. Die Situation sah recht drohend aus. Die chronische Wetterwolke im Westen und eine rasch heraufziehende im Osten, deren Vereinigung über Deutschland England trotz gegentheiliger späterer Äußerungen gewiß kein Hinderniß bereitet haben würde. Da zieht Bismarck in positiver, erfinderischer Weise die Consequenzen seines Verhal-

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tens im Jahre 1866 und 1878, und für Zeit wenigstens ist der politische Himmel wieder klar. Oestreich erkennt, daß der europäische Staatsmann es nicht nur nach Osten verwiesen, sondern ihm auch den Weg dahin, speziell nach Saloniki, geebnet hat. Ich habe, von der wärmeren Empfindung des Patriotismus und der Verehrung abgesehen, an dem stillen, gewaltigen Drama der letzten Wochen meine hohe aesthetische Freude gehabt. In den Händen dieses größten Mannes unseres Jahrhunderts ist auch die deutsch-römische Frage gut aufgehoben. Ich bin überzeugt, daß die Abwickelung eine günstige sein wird. Ob der definitiv daraus resultirende Zustand ein normaler sein wird, hängt wesentlich von der Haltung der evangelischen Kirche ab. Hier beginnen meine Befürchtungen. Es kostet mir Überwindung das Treiben all der Kirchenräthe und Unräthe auch nur ins Auge zu fassen. Behörden, Vertretungen, Worte, Phrasen, Streberei, im Vordergrunde. Dahinter aber nichts, wenigstens gewiß nicht die christliche Selbstverleugnung. Kirche ist zu dem caput mortuum eines Begriffs geworden. Über Falks Stellung sind wir wohl etwas verschiedener Ansicht. Nicht daß ich meinte, Falk solle mit seiner Ministerstellung die Vertheidigung seines Prinzips aufgeben. Aber nicht in der Weise darf er auftreten, wie er es durch Veröffentlichung seines Briefes an die Redaktion der Revue gethan. Sie wissen, wie ich über Falk denke. Stelle ich ihn geistig auch nicht sehr hoch, so halte ich ihn doch für einen Mann aus anderem Holze als seinen Nachfolger. Eines aber hat Puttkamer9 was Falk abgeht, Takt. Und so kann es geschehen, daß der weniger konkrete über die bedeutendere Natur den Sieg davonträgt. Auf alle Fälle Adieu Schulgesetz! P. Yorck.10 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 10. 1

Nicht überliefert. Vermutlich eine Anspielung auf Hölderlins Hymne Patmos. 3 Die eckigen Klammern sind von der Hg. von BDY gesetzt. 4 Henry Thomas Buckle (1821–1862): engl. Historiker. – History of civilisation in England. 2 Bde. London 1857; deutsche Übersetzung von A. Ruge (Leipzig 1860) und J.H. Ritter. Berlin 1869–1870. 5 Karl Hillebrand (1829–1884): Literarhistoriker, Essayist, Publizist; 1863–1870 Prof. für fremde Literaturen in Douai (Frankreich). – Geschichte Frankreichs von der Thronbesteigung Louis Philipp’s bis zum Falle Napoleon’s III. Bd. 2. Gotha 1879. 6 J.St. Mill: A system of logic, ratiocinative and inductive. Being a connected view of the principles of evidence, and the methods of scientific investigation. London 1843; deutsche Übersetzung von J. Schiel. Braunschweig 1849. 7 Gemeint ist Bismarcks Durchsetzung eines Defensiv-Bündnisses mit Österreich („Zweibund“) gegenüber dem Kaiser. 8 Trumpf im Kartenspiel. 2

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9 A. Falk war bis 1879 preuß. Kultusminister; Robert von Puttkamer (1828–1900) wurde sein Nachfolger und blieb bis 1881 in diesem Amt. 10 Die Unterschrift wurde aus den Korrekturfahnen von BDY ergänzt.

[522] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Kl[ein] Oels 1. XI. [18]79. Mein verehrter Freund. Vielleicht interessirt Sie nachstehende Notiz: „Eine glänzende nur nicht sonderlich bekannt gewordene Rechtfertigung ist dem Hyperius 1 als Theologen in der jüngsten Vergangenheit zu Theil geworden. Seinen Schriften hat Schleiermacher die Hauptsache von demjenigen entlehnt, was er in der ‚kurzen Darstellung des theologischen Studiums‘ entwickelt hat. Sein Eigenthum ist namentlich der berühmt gewordene Ausspruch, daß die praktische Theologie die Krone des theologischen Studiums sei.“ pag. 140 Steinmeyer, Begriff des Kirchenregiments.2 Ob der Ausdruck ‚entlehnt‘ nicht zu viel besagt? In Anbetracht der Geschlossenheit des Schleiermacherischen Denkens ist der Zusammenhang wohl eher ein historischer als ein kausaler. Auch diese Schrift Steinmeyers von gelehrter Vornehmheit, ohne faßbares Resultat und aller Aktualität ermangelnd. Seine Worte reichen nicht weiter als bis an die vier Wände des Studirzimmers. Die Erkenntniß des mystisch tiefen lutherischen Individualismus, seiner überragenden christlich-religiösen Kraft gegenüber der rationalistischen Allgemeinheit der Reformirten, sein Bewußtsein von der christlichen Gemeinschaft lutherischen Prinzips im Gegensatz zu dem reformirten Gemeindeprinzip, welches nach meiner Meinung im Wesentlichen und darum greifbar in seinen Consequenzen dem Katholizismus verwandt ist, verleiten ihn dazu, Luthers historische Bedingtheit zu verkennen, den Wortlaut der lutherischen Bekenntnißschriften zu aeternisiren, Luthers, zumal des späteren, Lehre vom Amte, ein Punkt an welchem diese Confession den katholischen Stempel nicht verwischt hat, der Hauptsache aequal anzusehen. Den synodalen Schwindel erkennt und mißachtet er. Was aber empfiehlt er? Die Vergangenheit repristinirend das landesherrliche Kirchenregiment und die pure Consistorialverfassung! Guten Morgen! der Ihrige P[aul] Y[orck] Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 11.

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Andreas Gerhard Hyperius (1511–1564): protest. Theologe. F.L. Steinmeyer: Der Begriff des Kirchenregiments beleuchtet. Berlin 1879.

[523] Dilthey an Carl Justi Lieber Justi, Verzeihen Sie, wenn ich Sie in angenehmen Beschäftigungen unterbreche, um Ihnen einen jungen Mann zu empfehlen, der gerade von Ihnen einen großen Gewinn haben kann wenn Sie sich seiner etwas annehmen. Es ist der älteste Sohn des Grafen York, des Enkels des Feldmarschalls,1 der einer der großen schles[ischen] Majoratsherrn2 ist. Sein Vater ist einer der tiefsten philosophischen Köpfe u. zugleich von lebhaftem Sinn für die Kunst. Er ist in [Besitz] von einer der schönsten Privatkupferstich u. Holzschnittsammlungen in Deutschland. Der Sohn soll das Alles einmal fortführen u. hat selbst ein sehr lebhaftes Interesse für Kunst. Sie werden in ihm einen sehr begabten u. liebenswürdigen Jungen finden (das mündl[iche] Examen ist ihm erlassen worden), der zwar natürlich als Borusse3 herumlaufen wird, aber es sicher verstehen wird dabei innerlich fortzuschreiten u. zu lernen u. der Ihnen sehr dankbar sein wird, wenn Sie ihn an sich heranziehn. Mir erweisen Sie damit einen freundschaftlichen Dienst, da ich mit seinem Vater innig befreundet bin u. ich in Bonn an meinen Schwager Usener u. an Sie nun den Jungen empfehle,4 in der lebhaften Hoffnung, daß er an Ihnen einen Anhalt haben möchte. Wie lieb wird mir auch sein durch ihn von Ihnen einmal wieder etwas zu hören. Wie leben Sie denn, mein lieber Freund, an den ich öfter denke als Sie glauben? Ich habe mich hier in Breslau sehr behaglich eingelebt, ein munteres Töchterchen wächst heran nur die Verbindung mit dem Westen ist sehr durch die Entfernung eingeschränkt. Auch meine Frau empfiehlt sich Ihnen herzlich, noch dankbar der venetian[ischen] Wochen gedenkend. In alter Treue Ihr Wilh[elm] Dilthey Breslau. Wallstraße 8. 2 Nov[ember] [18]79. Original: Hs.; ULB Bonn, Korrespondenz-NL C. Justi, S 1703, 1, 13.

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Dilthey an Carl Justi

1 Paul Yorcks ältester Sohn, Graf Heinrich Yorck von Wartenburg (1861–1923). – Graf Johann David Ludwig Yorck von Wartenburg (1759–1830): preuß. Generalfeldmarschall. 2 Majorat: Nach dem Ältestenrecht zu vererbendes Gut. 3 Borussia: Studentenverbindung in Bonn. 4 C. Justi war seit 1872 Prof. der Kunstgeschichte in Bonn.

[524] Dilthey an Hermann Usener Liebster Hermann, vielen Dank für die Pelagia,1 durch die Du Dir wieder ein neues Gebiet erobert hast. Auf dem ganzen Gebiet der Geschichtsschreibung gäbe es heute nichts was so mächtig eingreifen könnte als die Erforschung der Geschichte der katholischen Kirche. Und eine solche Arbeit zeigt, wie das gemacht werden müßte. Sende mir doch ja was von Dir gedruckt wird, da mich alles interessirt. Ich arbeite so langsam weiter. Systematisches. Schleiermacher. Hoffe doch daß im Sommer an letzterem gedruckt werden kann. In den Ferien war ich recht fleißig, bin aber jetzt etwas flügellahm. Dieser Tage wird sich Euch der Sohn des mit mir so herzlich befreundeten Grafen York, des Enkels des Feldmarschalls vorstellen und Ihr würdet den Vater sehr verpflichten, wenn Ihr Euch seiner etwas annehmt. Der Vater ist der Majoratsherr, der die Güter des Feldmarschalls hat u. diese fallen diesem ältesten Sohn einmal zu. Jedoch soll derselbe sich einer diplomatischen oder politischen Carriere widmen. Er ist sehr lebhaft, gescheit; das mündliche Examen ist ihm erlassen worden; zunächst natürlich wird er bei den Borussen sich das Leben ansehen. Aber es lebt in der Familie ein idealer auf höhere geistige Beschäftigungen gerichteter Sinn, der auch in dem Jungen steckt. Wir waren zum ersten und letzten Male längere Zeit an der Ostsee, besonders auf Rügen in Sassnitz, wo es verhältnißmäßig noch am besten ist. Doch hat die Luft weder auf mich noch auf Käthe irgend kräftiger wirkenden wohlthätigen Einfluß gehabt. Dann waren wir in Berlin, wo wir etwas Kunst genossen u. ich wenn auch nur flüchtig auf dem Kultusminist[erium] etwas gearbeitet habe. Die Kleine ist schon sehr groß, erheblich über das Maß ihres Alters, rothbäckig u. ausgelassen. Sie hat in Berlin, bei Julian Schmidts etc., sich zum ersten Male vorgestellt. Was machen denn die Epikuräer?2 Beste Grüße an Lily und das Kindervolk von Käthen u. mir u. laßt es Euch gut gehen. Treulichst Dein Wilhelm.

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Dilthey an Hermann Usener

Wallstraße 8 (wunderschöne neue Wohnung im Garten, an den Anlagen, in der wir nun ½ Jahr sind) 2.–3 Nov[ember] [18]79. Original: Hs.; ULB Bonn, Usener-NL, S 2102, 3, 22; ein maschinenschriftliches Transkript des Briefes mit Auslassungen ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 17, 12. 1 Eine Arbeit Useners über die Lehre des Pelagius, der gegen die Gnadenlehre Augustinus’ die von der katholischen Kirche verurteilte Lehre der menschlichen Willensfreiheit vertrat: Legenden der Pelagia. Bonn 1879. 2 H. Useners Schrift Epicurea erschien erst 1887 in Leipzig.

[525] Dilthey an Gustav Karpeles 1 [November 1879] Mit Ihrem neulichen Wunsch, sehr geehrter Herr Doktor, habe ich mir angelegen sein lassen, Kürzungen zu überlegen. Aber der Fehler des Aufsatzes2 ist gerade daß er zu concis und gedrängt ist. So habe ich bei der Correktur vielmehr durch Absätze und Abschnitte, indem ich eben die Verständlichkeit zu fördern suchte, die Zeilenzahl noch erhöhen müssen. Eine Erweiterung ist überall leicht möglich u. steht zu Diensten; eine Verkürzung würde ihn völlig entstellen. Um so lieber thue ich noch etwas zur Verdeutlichung schwieriger Stellen, wie Sie das wünschen. Meine Correktur ist schon nach Braunschweig geschickt; wenn Sie mir aber schreiben, wie viel ich zufügen darf: so kann ich die Zusätze sofort nachsenden. Auf der Correktur des Kunstbriefs ist mit Recht hervorgehoben, daß von dem Doré schon 7 Lief[erungen] da sind. Der Kunstbrief ist eben lange liegen geblieben u. unter diesen Umständen muß ich eben einfach den Passus über Doré streichen; in dem letztübersandten ist ja Doré ausführlich besprochen.3 Hoffentlich folgt nun der letztübersandte Brief (soweit er nicht in diesen herübergenommen) rasch auf den dessen Correktur nunmehr zurück geht, damit die Übelstände, die aus dem Liegenbleiben der Besprechungen dieser Kunstnovitäten erwachsen, dann überwunden sind. Es war hübsch daß wir uns in Berlin sahen. Mit m[einer] besten Empfehlung D[er] Ihrige Dilthey.

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Dilthey an Gustav Karpeles

Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. philos. 182. 1

Gustav Karpeles (1848–1909): Literaturhistoriker sowie Hg. und Verfasser jüdischer Literatur; 1878–1882 neben Friedrich Spielhagen (1829–1911) Redakteur von Westermanns Monatsheften. 2 Schleiermachers Weihnachtsfeier, in: WM 47 (1879), S. 343–364; WA in: Leben Schleiermachers. Erster Band. 2. Aufl., S. 765–798 und in: GS XIII/2, S. 146–174. 3 Neuigkeiten des Kunstverlags, darin: John Milton, Das verlorene Paradies. Illustriert von Gustave Doré. 1.–7. Lieferung. Leipzig 1879, in: WM 47 (1879), S. 386–388 (anonym erschienen); WA in: GS XVII, S. 240–244, hier S. 242. – Dass., 8.–10. Lieferung, in: WM 49 (1880), S. 284–286; WA in: GS XVII, S. 244–247, hier S. 245.

[526] Dilthey an Gustav Karpeles [Anfang 1880] Seit Monaten schon, verehrter Herr Doktor, wollte ich bei Ihnen mich erkundigen, was denn der beständigen Verzögerung sowohl des Abdrucks der literarischen Anzeige als der Auslieferung der Bestellung bedeutender zu besprechender Bücher zu Grunde liegt. Diese Verzögerung hat zur Folge, daß nur das von selbst Einlaufende meist Unerhebliche vorliegt – so wie es etwa in Nord u. Süd1 der Fall ist u. früher in der Rundschau der Fall war – u. so die Tradition sowol für den Leser als die sendenden Buchhändler verloren geht, die wahrhaftig nicht leicht festzustellen war. Ist auch nicht thunlich meinen Referaten einen bestimmten Raum einzuräumen: so ist doch eine Continuität u. sichre Folge unerläßlich, sollen die Anzeigen nicht altbacken werden, u. ein Bücherverzeichniß, das ich mühsam zusammengestellt habe, muß doch auch effektuirt werden. Wollen Sie also freundlich mir einmal ein paar mich orientierende Worte schreiben. Ergebenst Dilthey Wallstraße 8. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. philos. 182. 1

Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift. Begründet und hg. von Paul Lindau seit 1878.

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Dilthey an Kurd Laßwitz

[527] Dilthey an Kurd Laßwitz1 [vor dem 20. Februar 1880] Lieber Herr Doktor, nehmen Sie herzlichen Dank auch für Ihre neueste Sendung.2 Es wäre viel über den mir höchst erfreulichen Gang Ihrer Arbeiten zu sagen, aber theils hoffe ich, Sie einmal wieder hier zu sehen, anderntheils bin ich diesmal eilig um einige Nachrichten von Ihnen einzuziehen. Die Professur der Philosophie in Czernowitz3 wird in einiger Zeit zur Neubesetzung gelangen u. Prof. Brentano in Wien,4 der mich um etwaige Vorschläge fragte, wünscht einen ostensiblen Brief von mir an ihn über Sie. Es werden mehrere wol genannt werden. Worum es sich zunächst fragt, ist ob Sie überhaupt geneigt sein würden hinzugehen. Alsdann bitte ich, mir das Verzeichniß Ihrer Arbeiten senden zu wollen. Sie kennen die Verhältnisse in Wien, selbstverständlich wünscht man keinen Anhänger eines öden Materialismus; ich glaubte mich mit Zuversicht dahin aussprechen zu dürfen, daß Sie nach dem ganzen Eindruck Ihres Wesens einer idealen Richtung angehören. Dies eiligst mit der Bitte mir mit einem Wort Nachricht geben zu wollen. Hat die Sache auch keinen Erfolg, so muß ein Anfang damit gemacht werden, daß Sie genannt werden. Herzlich zugethan Wilhelm Dilthey Breslau Wallstraße 8. Bitte ja mir umgehend zu schreiben, da die Sache eilig ist u. ich schleunigst den Brief an Prof. Brentano senden möchte. Original: Hs.; FB Gotha, Chart. B 1962 a, Bl.203–204 R. 1

Kurd Laßwitz (1848–1910): Philosoph und Schriftsteller; einer der Begründer der deutschsprachigen Science-Fiction-Literatur; Studium der Mathematik und Physik in Breslau und Berlin, 1873 Promotion zum Dr. phil. in Breslau, ab 1876 als Gymnasiallehrer tätig; Schüler D.s. 2 Vermutlich: K. Laßwitz: Die Erneuerung der Atomistik in Deutschland durch Daniel Sennert und sein Zusammenhang mit Asklepiades von Bithynien, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 3 (1879), S. 408–434. 3 Die damals österreichische „Franz-Josephs-Universität Czernowitz“ (jetzt: Ukraine) war erst am 4. Oktober 1875 gegründet worden.

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Dilthey an Kurd Laßwitz

4 Franz Brentano (1838–1917): Philosoph; 1864 zunächst kath. Priester, 1866 PD, später Prof. der Philosophie in Würzburg, 1873 Niederlegung beider Ämter, 1874–1880 Prof. der Philosophie in Wien. – Vorläufer der Phänomenologie E. Husserls und der Gegenstandstheorie A. Meinongs.

[528] Kurd Laßwitz an Dilthey Gotha, den 20. Februar 1880. Lindenau - Allee 12. Hochgeehrter Herr Professor. Vielen Dank für die Freundlichkeit, mit welcher Sie meiner gedenken. Ich beeile mich, Ihre mich ehrende Anfrage dahin zu beantworten, daß ich einen ev[entuell] an mich ergehenden Ruf an eine Universität jedenfalls, also auch nach Czernowitz, annehmen würde, vorausgesetzt, daß die äußeren Bedingungen annehmbare wären. Mein Standpunkt ist selbstverständlich kein materialistischer, sondern ein durchaus idealistischer, wenn auch auf empirischer Grundlage. Meine wissenschaftlichen Arbeiten sind die folgenden: Ueber Tropfen an festen Körpern, etc. Inauguraldiss[ertation]. Bresl[au] 1873.1 Ueber Tropfen etc., bes[onders] an Cylindern. Poggendorff’s Ann[alen der Physik und Chemie]. Ergänzungsb[an]d VI. [1874, S.441–477]. Diese beiden sind mathematisch-physikalischen Inhalts. 3) Der Verfall der kinetischen Atomistik im 17 Jahrhundert. Poggendorff’s Ann[alen der Physik und Chemie] Bd. 153. [1874, S. 373–386]. 4) Ein Beitrag zum kosmologischen Problem und zur Feststellung des Unendlichkeitsbegriffs. Vierteljahrsschr[ift] f[ür] wiss[enschaftliche] Philos[ophie]. I. Bd. [1877,] S. 329–360. 5) Zur Verständigung über den Gebrauch des Unendlichkeitsbegriffs. Ebendaselbst. 2t. Bd. [1878, S.115–118]. 6) Atomistik und Kriticismus. Ein Beitrag zur erkenntnistheoretischen Grundlegung der Physik. Braunschweig. Fr. Vieweg u. Sohn 1878. 7) Ueber Wirbelatome und stetige Raumerfüllung. Zwei Artikel. Vierteljahrsschr[ift] f[ür] w[issenschaftliche Ph[i]l[osophie]. 3. Bd. [1879,] S.206– 215. 275–293. 8) Die Erneuerung der Atomistik in Deutschland durch Daniel Sennert u. sein Zusammenhang mit Asklepiades von Bithynien Ebendaselbst. 3t. Bd. [1879,] S.408–434.

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Die Schriften sind also erkenntnistheoretischen oder historischen Inhalts. Außerdem habe ich eine Reihe von Recensionen für die „Jenaer Literaturz[ei]t[un]g“ geschrieben; desgl[eichen] für die Vierteljahrsschr[ift] u. die Hoffmann’sche Zeitschr[ift] f[ür] math[ematischen] Unterricht sind im Druck.2 Von meinen populären Schriften erwähne ich noch: „Natur und Mensch“. Breslau, W. Köbner 1879, 3t. Bändchen der „Deutschen Volksschriften“. Augenblicklich setze ich meine Studien zu einer Geschichte der Atomistik (oder vielleicht der Theorien der Materie überhaupt) weiter fort und gedenke demnächst das Kapitel über die Bakonische Physik abzuschließen. Wie ich mich in Bezug auf die Behandlung der Atomistik des Alterthums zu verhalten haben werde, darüber hoffe ich später noch Ihren Rath selbst einholen zu dürfen. Wir stehen am Gymnasium gerade mitten im Abiturienten-Examen und ich kann daher, selbst sehr eilig, Ihnen heute nur diese Zeilen senden. Wünschen Sie meine Schriften, so bin ich bereit Ihnen zu schicken, was ich habe, so wie jede andere Auskunft über mich zu ertheilen. Mit dem herzlichsten Danke und der Versicherung ausgezeichnetster Hochachtung grüßt Ihr ergebenster Dr. Kurd Laßwitz. Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 227, Bl. 139 R–140 R. 1 Über Tropfen, welche an festen Körpern hängen und der Schwerkraft unterworfen sind. Diss. Breslau 1873. 2 Z. B.: Rezension von W. Schuppe: Erkenntnistheoretische Logik. Bonn 1878, in: Jenaer Literaturzeitung 6 (1879), S. 285; Rezension von V. Langer: Die Grundprobleme der Mechanik: Eine kosmologische Skizze. Halle 1878, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 4 (1880), S. 260–265; Rezension von C. Isenkrahe: Das Rätsel von der Schwerkraft. Braunschweig 1879, in: Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht 12 (1881), S. 131–135.

[529] Otto Ribbeck an Dilthey Leipzig, 10. März 1880. Seit Ihrem liebenswürdigen Sommerbriefe1 trug ich Vorsatz und Verlangen in mir, Ihnen recht gründlich zu antworten. Da kamen aber gleich die Ferien und ich bildete mir ein, der von Ihnen erwähnte articoletto über Bio-

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Otto Ribbeck an Dilthey

graphie I2 müsse nächstens irgendwo zum Vorschein kommen, und das sollte mir neuen Anstoß zum Schreiben geben. Aber Gott weiß, an welcher Klippe er hängen geblieben ist oder welcher Kobold ihn mir unterschlagen hat: kurz, ich habe ihn nie gesehen, und dann begann die aschgraue Alltäglichkeit ihr Spinnengewebe über mich zu ziehen. Nehmen Sie aber auch so meinen verspäteten Dank für den freundlichen Anteil, welchen Sie an meinem Geschreibsel genommen haben, und für das liebevolle Verständnis, welches Sie dem Versuch entgegenbringen. Der zweite Band glüht und dröhnt unter dem Ambos, ein kaum zu bewältigender Stoff, wenn man den Maßstab des ersten Bandes anlegt und das Interesse des philologischen Lesers in Betracht zieht, sonst freilich fast purer Gelehrtenkram, wenig Staffage und Bühnenaktion. Aber das Bild eines wissenschaftlichen Arbeiters und Lehrers wird hoffentlich voll und anschaulich herauskommen. – – An vertraulichem Verkehr darben wir noch immer gar sehr,3 obwohl es ja an geselligem Umgang nicht fehlt. Wir arbeiten aber alle oder fast alle wie die Lasttiere und haben keine Zeit füreinander. Und in den Ferien läuft alles in alle vier Winde! Wie sehnsüchtig gedenken wir noch immer jener unvergleichlich schönen Tage, da wir mit Ihnen philosophierten! Aber wann kommt denn nun Ihr Schleiermacher II und Ihr Buch über die Affekte und die anderen Opera omnia? Oder muß man Ihnen immer noch auflauern, wo Sie inkognito unter fremder Marke Ihr Licht unter den Scheffel stellen? u.s.w. Original: nicht überliefert; Erstdruck: Otto Ribbeck. Ein Bild seines Lebens aus seinen Briefen 1846–1898. Hg. von E. Ribbeck. Stuttgart 1901, Nr. 182. 1

Nicht überliefert. Eine Rezension D.s des 1. Bandes von O. Ribbecks Ritschl-Biographie: F.W. Ritschl. Leipzig 1879 ist nicht nachweisbar. – Der zweite Band dieser Biographie erschien 1881. 3 O. Ribbeck war seit 1877 als Nachfolger auf dem Lehrstuhl seines am 9. November 1876 verstorbenen Lehrers F.W. Ritschl in Leipzig tätig. 2

[530] Franz Brentano an Dilthey Lieber Herr College! Nehmen Sie meinen etwas verspäteten Dank für die Auskunft, die Sie mir so freundlich und ausführlich gegeben. Nur ein besonderes Gedräng von tausend kleinen Geschäften, wie es der Schluß des Semesters manchmal schafft,

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Franz Brentano an Dilthey

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verschuldete die Verzögerung meiner Antwort. Dagegen übermittelte ich das Schreiben1 sofort dem Ministerium. Sollte, wie ich hoffe, Czernowitz durch eine Verbesserung für Marty2 erledigt werden, so wird Ihre Empfehlung von Lasswitz gewiß nicht unbeachtet bleiben. – Wenn ich ganz aufrichtig sein soll, so bleibt mir eine kleine Sorge. L[asswitz] schreibt, er sei ‚selbstverständlich‘ Idealist nicht Materialist. Das ‚selbstverständlich‘, das wie eine Verstärkung klingt, ist, wohl erwogen, eine Abschwächung. Es giebt einen sehr weiten Gebrauch des Wortes ‚Idealist‘, und in gewisser Weise könnte sich allerdings ungefähr jeder Philosophirende so nennen, wenn er z.B. nur erkennt, daß die Welt der Sinne nur phänomenale Bedeutung hat. Ich vertraue auf Sie, daß L[asswitz] mehr ist als ein Idealist in solchem Sinn, in dem es jeder ‚selbstverständlich‘ ist. Das Wichtigste natürlich sind reine und edle ethische Anschauungen; doppelt wichtig in diesem Falle, weil in Österreich die praktische Philosophie ganz besonders cultivirt wird. Nochmals also meinen Dank! Einliegend auch eine Photographie, die ich Ihrer Frau Gemahlin versprochen habe. Es wäre sehr liebenswürdig, wenn sie mir dafür die ihrige schickte. Da eine Dame nicht gut allein reisen kann, wird sie dann vielleicht der Herr Gemahl in effigie3 begleiten. Und ich hoffe diese Schatten sind nur voraus geworfen, wie es bei großen Ereignissen zu geschehen pflegt, und das liebe Paar kommt nächstens selbst nach Wien und bereut im Anblick unserer Kaiserstadt, daß es sie so lange schnöde vernachlässigte. Mit herzlichem Gruße Ihr ergebenster Franz Brentano Wien 11 März [18]80. Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 76, Bl.31–32 R; Erstdruck mit Faksimile in: WD, Nr. 128–129. 1

Vgl. den Brief von K. Laßwitz an D. vom 20. Februar 1880. Anton Marty (1847–1914): Sprachphilosoph, Schüler F. Brentanos; zunächst kath. Priester, ab 1869 Prof. am Schwyzer Lycäum, 1872 Niederlegung des Priesteramtes, 1875 Promotion bei R.H. Lotze, seit 1875 Prof. in Czernowitz, ab 1880 in Prag. 3 Im Bilde, bildlich. 2

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Dilthey an Wilhelm Scherer

[531] Dilthey an Wilhelm Scherer [Frühjahr 1880] Unsere herzlichsten Glückwünsche mein lieber Scherer zu dem freudigen Ereigniß.1 Mögen wir bald von Ihnen gute Nachricht über das Befinden Ihrer lieben Frau haben. Wie freut es mich jetzt daß wir schon eine Anschauung Ihres gemeinsamen Lebens im Hause haben, zumal wir schwerlich diese Ostern nach Berlin kommen werden. Wir haben einen recht vergnügten Winter verlebt, nun aber habe ich des Winter’s u. der Vorlesungen satt u. recht satt auch der sich anhäufenden Correcturen [?] u. Papiere. Gelebt habe ich am meisten mit York. Literarhistorische Interessen kann ich hier mit Niemanden theilen u. bin nach dieser Seite hin gänzlich isolirt. Nur für philosophische u. politisch-historische Interessen finde ich hier einen Wiederhall. Inzwischen liegt das in der Zeit u. ist also zu tiefliegend um getadelt zu werden, daß die großen Schriftsteller der idealistischen Epoche nur noch so weit sie Realitäten gesehen haben u. sofern sie selber eine mächtige psychologische Realität sind für die heutigen Menschen lebendig sind. Auf diesem Weg müssen die Menschen weiter gehen bis sie auf ihm wieder plötzlich u. wahrscheinlich zu ihrer Verwunderung auf den Idealismus treffen. Dies scheint mir Haym in s[einem] Herder2 nicht hinlänglich in den Gliedern gespürt zu haben: so ist leider in dem so vortrefflichen Buch zu viel Todtes. Sehr interessirt hat mich die neue Correspondenz von Humboldt u. Körner:3 sie enthält über den Gang seiner Entwicklung und die Anlage der Studien Humboldt’s Stellen die klarer sind als irgend e[ine] früher veröffentlichte. Am meisten Aufsehen machten hier diesen Winter: Wellhausen’s jüd[ische] Geschichte u. die Biogr[aphie] v[on] Kingsley.4 Nun tausend Grüße an Ihre liebe Frau, ich lege ein Bildchen unserer Kleinen für sie bei, das sie vielleicht e[inen] Augenblick unterhält. Auch von meiner Frau vielste Grüße an Sie u. Frau Duncker. Immer Ihr getreuer Dilthey Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 40; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 40. 1

Scherers ältester Sohn Herman (1880–1900) war geboren worden. R. Haym: Herder nach seinem Leben und seinen Werken. 2 Bde. Berlin 1877–1885. – Bd. I/2 erschien 1880. 3 W. von Humboldt: Ansichten über Aesthetik und Literatur. Seine Briefe an Christian Gottfried Körner (1795–1830). Hg. von F. Jonas. Berlin 1880. 4 J. Wellhausen: Geschichte Israels. Bd. 1: Prolegomena. Berlin 1878. – Charles Kingsley: Briefe und Gedenkblätter. Hg. von seiner Gattin. Autorisierte deutsche Übersetzung von M. Sell. Gotha 1879. 2

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Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

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[532] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [Juni 1880]1 Eben, mein lieber Graf, kommen Frau und Kind wohlbehalten hier an. Sie bringen mir die erfreuliche Nachricht daß bei Ihnen Alles erwünscht geht.2 Gleichzeitig aber ruft die Notiz3 meiner Frau bei mir einen großen Schrecken hervor, daß nur sie einen Brief von mir bekommen und daß sonach der gleichzeitig in den selben Postschalter an Sie beförderte Brief .|.|. gar nicht bis heute in Ihre Hände gelangt ist. .|.|. Gerade diesmal bin ich der Frau Gräfin und Ihnen zu ganz besonderem Dank verpflichtet. Sie haben sich des Beschädigten mit solcher Liebenswürdigkeit angenommen und die ganze verehrte Gesellschaft hat ihn mit solcher Langmuth ertragen, daß ich mir nur vornehmen konnte, mir das für ähnliche Fälle ein Vorbild werden zu lassen: da man doch an seiner Besserung immer arbeiten muß. Es bleibt immer wunderlich, einen solchen Dank zum zweiten Male niederzuschreiben, lassen Sie mich also nur kurz sagen, daß ich täglich meine diesmalige Unfähigkeit irgend etwas zur Erheiterung der Gesellschaft zu leisten und täglich die Liebenswürdigkeit, mit der Sie mich das vergessen ließen, empfunden habe. Um mich eines Ausdrucks aus unserer ästhetischen Polemik zu bedienen: ich habe diesmal wirklich aus fremder Tasche gelebt und es ist mir nicht einmal vorgehalten worden. .|.|. Bismarcks Aktion tritt ja durch die Veröffentlichungen und Puttkamers Rede in ein sehr anderes Licht, trotzdem kann ich nur in der Sache Falk Recht geben,4 wenn auch seine Rede manchmal etwas derber ist als von einem gewesenen Minister zu erwarten war. Und nun wollen Sie Frau Gräfin meinen Dank freundlich übermitteln und mich Ihren verehrten Gästen ergebenst empfehlen. In treuer Gesinnung der Ihrige. Original: nicht überliefert; Erstdruck eines kleinen Briefausschnitts: BDY, Nr. 12; Abdruck des kompletten Briefes in: Gründer, S. 261f. – Der vorliegende Abdruck gibt den Brieftext, wie er in den Korrekturfahnen von BDY vorliegt, wieder (BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 333). 1

Die Hg. von BDY datiert: „[Sommer 1880.]“. Vermutlich verbrachten D.s Frau und Tochter nach Pfingsten einige Zeit auf dem Gut des Grafen Yorck in Klein-Oels; auch D. hielt sich dort wahrscheinlich zuvor während der Pfingsttage auf (vgl. BDY, S. 260). 2

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Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

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Dieser und die folgenden erwähnten Briefe sind nicht überliefert. Der preuß. Kultusminister R. von Puttkamer hielt am 28. Mai 1880 eine Rede bei einer Lesung des Gesetzentwurfs zur Änderung kirchenpolitischer Gesetze, die im Zuge des Kampfes zwischen Bismarck, den Liberalen und dem ehemaligen Kultusminister A. Falk auf der einen und der katholischen Kirche auf der anderen Seite (sog. „Kulturkampf“, 1871–1887) 1873 in Kraft gesetzt wurden („Maigesetze“). Diese Gesetze, die die Macht der Kirche einschränkten und kirchliche Institutionen unter die Aufsicht des Staates stellten, wurden zwischen 1880 und 1887 wieder weitgehend aufgehoben. 4

[533] Dilthey an Wilhelm Scherer [nach 10. Juni 1880] Eben kommt mir, lieber Scherer, das zweite Heft Ihrer Literaturgeschichte zu, ich habe es gleich verschlungen, und ich kann Ihnen zu diesem Buche nur glückwünschen.1 Es hat alle Elemente zu einem dauerhaften u. wirksamen nationalen Geschichtsbuch in sich. Viel, sehr viel hätte ich mit Ihnen darüber zu sprechen. En gros habe ich inhaltlich nur den Einen Wunsch, daß mehr Einheit der Bewegung auf welcher dann das Ergreifende beruht in einer neuen Auflage hineinkomme. Hinzu würde wahrscheinlich eine straffere Beziehung auf den politisch-socialen Untergrund u. die andren Elemente der Kultur, durch welche die Natur des nationalen Wuchses u. inneren Treibens mehr zur Seele des Werkes würde, dienlich sein. Doch dazu würde mündliche Erörterung des Einzelnen nöthig sein, Ihnen deutlich zu machen, was ich meine. Es sind nur wenige festlegende Züge die ich eingebracht wünschte. Zunächst werde ich in meinem Leibjournal ad extra für das Fortkommen des Kleinen etwas zu thun suchen, dann, wenn es etwas gewachsen sein wird, in der hießigen schles[ischen] Zeitung.2 Die Rec[ension] Zarnckes3 war doch das ordinärste Stück von Buschklepperei das mir noch vorgekommen. Ich bin sehr fleißig und [im] Winter soll dann das Drucken endlich losgehn. Hoffentlich geht bei Ihnen Alles gut. Grüßen Sie Ihre liebe Frau von uns vielmals, dann bei Grimms[,] J[ulian] Schmidts etc. Graf York ist in Berlin u. wird Sie hoffentlich einmal sehn. Treulichst der Ihre Dilthey Verzeihen Sie die eiligst dürftige Schreiberei aber ich stecke so tief in der Arbeit.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

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Original: Hs.; BBAW Scherer-NL, Nr. 331, 41; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 41. 1 W. Scherers Geschichte der deutschen Litteraur erschien in neun Heften in der Weidmannschen Buchhandlung in Berlin. – Das zweite Heft (S. 81–144) wurde am 10. Juni 1880 ausgegeben. 2 Eine Anzeige oder Besprechung D.s von Scherers Literaturgeschichte in WM kam nicht zustande. 3 K.Th.F. Zarncke: Besprechung von Scherers Geschichte der deutschen Literatur, in: Literarisches Centralblatt für Deutschland, Nr. 40 (1879), Sp. 1289–1291.

[534] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [Juli1 1880] Lieber Graf, Glück zur Reise.2 Wenn Sie diese Zeilen bekommen, schwelgen Sie also in den Kunstschätzen von München. Vergessen Sie doch nicht das Bild von Dreber,3 Sappho, bei Schack4 und machen sich ja persönlich mit Schack bekannt. Und wenn Sie wieder hier sind, müssen Sie die Artikel schreiben, doch so daß sie nachher zusammen gedruckt werden können. Ich bedaure auf das lebhafteste daß die Ermüdung der Pairs des Reiches Ihnen unmöglich machte, die Hauptgedanken dort zu entwickeln. Vielleicht wirken sie als Zeitungs-Artikel und dann als Broschüre außer dem Zuammenhang mit dem in Frage stehenden Gesetz noch reiner. Das dialektische Spiel des Katholicismus, welches so alt ist als dieser selbst, scheint sich mir nicht nur auf die Vertauschung von Kirche und religiösen Gefühlen zu beziehen, sondern auch correlat auf die von Religionsfreiheit im Sinne eines Schutzes der Religion durch den Staat und Religionsfreiheit im Sinne eines Nichthinderns der religiösen Handlungen. Die katholische Kirche behauptet nichts vom Staat zu verlangen; die letzte Consequenz wäre dann daß dieser mit seiner Rechtsordnung wirklich von ihr zurückträte: dann dürfte jeder bei religiösen Handlungen eine Flöte herausholen und musiciren und der Kirche bliebe nur übrig, innerhalb ihrer Räume das Hausrecht anzurufen. Der Rechtsschutz kann nur unter der Bedingung der Unterordnung in die Rechtsordnung gewährt werden. Ich möchte sehen was daraus würde, wenn ein bischöflicher Sprengel auf denselben verzichten müßte und der Priester den, der die Flöte in der Kirche bläst oder die Kühe auf den Pfarracker treibt, herauswerfen müßte.

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Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg

Die Falksche Gesetzgebung wollte auf dem Weg der Ordnung, mit Vermeidung aller die Kirche bloßstellenden Vorgänge den Kampf führen. So wurde sie polizeilich. Stellt man sich auf den Satz daß Rechtsschutz nur den sich der Rechtsordnung Unterwerfenden zu Theil wird, dann bereitet man indirekt die Auflösung der Kirche vor, indem man den Schein der Unantastbarkeit der heiligen Vorgänge wegnimmt. Nicht der Staat greift dann zu, aber er erlaubt jedem zuzugreifen. Nicht der Staat unterbricht die heiligen Handlungen, aber er gestattet das jedem anderen etc. Doch genug bis zum Wiedersehen. Meine Frau wieder auf, doch noch sehr angegriffen. Mamachen aus Berlin da, da Walthers Angelegenheiten nun geordnet. Ich bin fleißig am Schleiermacher. Auch der Schlingel5 noch matt. Reisen Sie vergnügt und was die Spiele nicht leisten, erwarten Sie von der immer großen und reinen Natur. Grüße und Empfehlung an die Mitreisenden. Treulichst Ihr Dilthey Original: nicht überliefert; Erstdruck (mit Auslassungen): BDY, Nr. 13. – Abdruck des vorliegenden Briefes nach der ersten Fahnenkorrektur (BBAW, DiltheyNL, Fasz. 333). 1

In der ersten Korrektur von BDY datiert auf: „[Juli 1880]“; in BDY: „[Sommer 1880]“. Yorck reiste zu den Passionsspielen nach Oberammergau. – Am 3. Juli befasste sich das preuß. Herrenhaus, dessen Mitglied Yorck war, mit einem Gesetzentwurf zur Änderung der Maigesetze. Yorck hat in dieser Sitzung nicht gesprochen (vgl. BDY, S. 260). – Die „Artikel“ bezeichnen vermutlich geplante, aber nicht realisierte Zeitungs-Aufsätze Yorcks. 3 Heinrich Dreber, gen. Franz-Dreber (1822–1875): Maler. 4 Adolf Friedrich Graf von Schack (1815–1894): Dichter, Literarhistoriker und Kunstsammler. 5 D.s Tochter Clara. 2

[535] Dilthey an Heinrich von Treitschke [ca. 2. Juli 1880] Lieber Freund, Zu danken haben wir, nicht Sie; besonders ist es mir eine große Freude gewesen daß meine Frau zu mancher gemeinsamen Lektüre aus Ihren Arbeiten nun auch die Freude hatte Sie persönlich kennen zu lernen. Möchten Sie nur

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Dilthey an Heinrich von Treitschke

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ein ander Mal längere Station machen; u. dann lassen Sie sich mit unsrem einfachen Fremdenzimmer genügen. So selten habe ich hier die Freude, die alten Freunde am eigenen Tische zu sehen. Von Dove’s1 Thätigkeit schreibe ich Ihnen was ich zu berichten weiß, es ist wenig, da wir nicht leicht in die Lage kommen, über unsre Thätigkeit gegenseitig an der Universität etwas zu hören. Der Mittelpunkt seiner Vorlesungen ist nach wie vor das Mittelalter und ich gestehe Ihnen offen, daß was ich von ihm zeitweise über seine Pläne auf diesem Gebiet, insbesondere zur Papstgeschichte, vernommen habe, mich lebhaft bedauern läßt, daß seine schriftstellerische Thätigkeit im Augenblick eine Ablenkung erfahren hat. Über den Erfolg seiner Übungen – von dem der Vorlesungen fehlt mir die Kenntniß – weiß ich dadurch im Augenblick zufällig etwas Näheres, weil der Sohn meines Collegen Heidenhain an denselben Theil nimmt. Derselbe ist von denselben lebhaft angeregt u. bei fortdauerndem Schwanken über seine Laufbahn – von Begeisterung für das Studium der Geschichte erfüllt worden. Auch wir haben hier einen schweren Verlust gehabt, ich einen unersetzlich schweren. Mein lieber Freund Carl Neumann2 wird Morgen begraben. Er ist schließlich sanft an Entkräftung gestorben; all unsere Versuche, Nahrung für ihn zu ersinnen u. zu bereiten waren erfolglos. Ihre freundliche Gesinnung, die mich betrifft, bewahre ich in dankbarstem Herzen. Wenn es wahr ist was ich neulich hörte, Lotze werde nach B[erlin] gehen:3 so ist dies für die Philosophie in B[erlin] ein höchst glückliches Ereigniß. Wäre dies nicht der Fall, so hatte ich gedacht: Sie würden Sigwart nach Berlin ziehen, dessen Logik4 ein reifes u. bedeutendes Buch ist. Mit unsren ergebensten Empfehlungen an Ihre Frau Gemahlin von Herzen der Ihrige Dilthey Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Treitschke-NL, K 5, Nr. 129, 15–16 R. 1 Der Historiker A. Dove lehrte seit 1874 als a. o., seit 1879 als o. Prof. in Breslau, 1884– 1891 in Bonn, 1891 Leiter der Allgemeinen Zeitung in München, ab 1897 Prof. in Freiburg. 2 K. Neumann war am 29. Juni 1880 gestorben. 3 Nachdem die Berliner Universität bereits mehrfach versucht hatte, R.H. Lotze zu gewinnen, nahm dieser den Ruf auf ein philosophisches Ordinariat im Mai 1880 an. Lotze begann seine Lehrtätigkeit in Berlin im Sommersemester 1881. 4 Ch. Sigwart lehrte seit 1865 in Tübingen. – Logik. 2 Bde. Tübingen 1873 und 1878.

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Dilthey an Ernst Maria Lieber

[536] Dilthey an Ernst Maria Lieber1 [3. Juli 1880]2 Verehrtester Herr Doktor, Ihrem mir sehr schmeichelhaften Wunsch Genüge zu thun wäre mir eine angenehme landsmannschaftliche Pflicht; leider besitze ich selbst nur noch Ein Exemplar, in welches ich Abänderungen für den neuen von mir beabsichtigten Abdruck meiner Aufsätze über Poeten u. Poesie eingetragen habe u. das dadurch in einen sehr desolaten Zustand gerathen ist.3 Brentano’s geht es gut. Lassen Sie mich hoffen, daß ich wenn Sie mich wieder einmal mit einem Wunsche beehren glücklicher mit der Aussicht ihn zu erfüllen sein möge. Ergebenst W Dilthey Original: Hs.; FDHSt Frankfurt, Leihgabe Dr. Lieber, Hs-13564. 1 Ernst Maria Lieber (1858–1902): Zentrumspolitiker; seit 1870 Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses und seit 1871 Mitglied des Reichstags. – Lieber stammt, wie D., aus Hessen (Camberg, Kreis Limburg-Weilburg). 2 Datierung nach Poststempel. 3 Handschriftlich ist, vermutlich vom Briefempfänger, auf der zweiten Seite des Briefes vermerkt: „Es handelt sich um dessen Abhandlung über Novalis in den Preuß. Jahrb. Bd. XV. Heft 6, S. 596–650. Dies[er] ist Univ.-Prof. in Breslau und stammt aus Biebrich. Bei Lujo [Brentano] kennen gelernt.“

[537] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg 1. Sept[ember] 1880. Vulpera bei Tarasp.1 Lieber Graf, hier bin ich aus dem Regen in die Traufe gekommen: hatte ich in der letzten Breslauer Zeit wenig Muße, so habe ich hier gar keine. Ob ich gleich gar nicht bade, sondern nur Morgens ein paar Gläser trinke, so spielt doch die Bewegung bei der hießigen Kur eine so eingreifende und gesunde Rolle, daß der ganze Tag mit Beschlag belegt ist. Übrigens bekommt mir die Kur recht gut und ich nähere mich dem Ende derselben. Wissenschaftliche Gedanken vertragen sich natürlich mit derselben nicht; fliegt einmal ein Einfall durch den Kopf, so lasse ich ihn in der blauen Luft

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auf Nimmerwiedersehen sich verlieren. Und auch für den Winter meine ich, es sollen ein paar Capitel des Schleiermacher geschrieben und gelegentlich philosophirt werden: vor Allem aber wollen wir uns des schnell dahinfließenden Lebens freuen. Etwas Politisiren gehört dazu. Das Ding fängt immer krauser zu werden an. Hier waren der Minister Bitter,2 Herr von Philippsborn,3 der Oberpräsident Horn4 aus Preußen, Minister[re]sident Krüger,5 und so ist mancherlei politisirt worden und ich habe allerei fragen können bei den Herren, wenn ich auch nicht weiß ob sie aufrichtige Antworten gegeben haben. Das scheint festzustehen, daß die von uns vielbesprochene Rede von Bismarck über die Zukunft des deutschen Reiches6 mit ihrem Pessimismus ein Ausdruck seiner wirklichen sehr trüben Ideen hierüber gewesen ist. Klammern und Stricke zu finden, die das Reich zusammenhalten in künftigen Stürmen, gleichviel ob sie wohl oder wehe thuen: scheint das Grundmotiv seiner ganzen jetzigen Politik. Mit der Kronprinzessin hat er sich förmlich ausgesöhnt: Damals als der Kronprinz seine schwere Krankheit hatte, ließ derselbe die Kronprinzessin kommen und verwies sie an Bismarck, dem sie sich gänzlich anvertrauen solle. Sein Vertrauen scheint er Niemandem mehr zu schenken: auch Bucher7 nicht, und keiner der anscheinend Mitregierenden weiß ob er morgen noch irgend etwas zu sagen haben wird. Dies und die Art wie er sie behandelt bestimmt auch Alle ohne Liebe von ihm zu sprechen. Die neue Parthei8 erfüllt natürlich mit Unmuth. Die Regierung, soweit sie das Centrum nicht liebt, sieht sich ein Stück Boden unter den Füßen weggezogen. Was mich betrifft so bin ich vor Allem darauf begierig ob nicht die Conservativen mit einer selbst ohne Bismarcks offene Zustimmung geschlossnen Verbindung mit dem Centrum antworten. Alles treibt einer kurzen Verständigung mit diesem und dann einem sehr starken liberalen Vorstoß entgegen. Was machen denn ihre Artikel, die fortfahren sehr an der Zeit zu sein?9 Ich habe von neuem den Eindruck gehabt daß mit einem sehr maßvollen und in keiner Weise übertriebenen Quantum von Intelligenz unser liebes Deutschland, wahrscheinlich die Welt (Deutschland freilich immer von Bismarck abgesehen, in dessen Hand Alles Werkzeug ist) regiert wird. Was ich damit sagen will, wissen Sie längst. Erfindungskraft findet sich in dem Quantum so gut als gar nicht und ist doch gewissermaßen nöthig. Wir gedenken durch Tyrol und über Wien zurückzureisen. Bis zum l0ten oder 11ten September würde uns in Meran poste restante ein Brief treffen und gar sehr erfreuen. Möchten wir uns dann bald in Breslau froh wiedersehen: die Aussicht auf unsre Gespräche in Kleinöls, wenn Sie fortfahren uns dann noch zu wünschen, bildet den schönen Abschluß unsrer Reise-Freuden. Dilthey.10

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Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 14. 1

Kurort im Schweizer Kanton Graubünden. Karl Hermann Bitter (1813–1885): 1879–1882 preuß. Finanzminister, Mitglied des Bundesrats. 3 Maximilian von Philipsborn (1815–1885): Jurist und Politiker; 1863 Ministerialdirektor im auswärtigen Amt, 1873 Wirklicher Geheimrat und preuß. Gesandter, ab 1881 Gesandter des Deutschen Reiches in Kopenhagen, seit 1872 Mitglied des preuß. Herrenhauses. 4 Carl von Horn (1807–1889): 1869–1878 Oberpräsident von Preußen, 1878–1882 Oberpräsident von Ostpreußen. 5 In BDY: „Ministerpräsident“. – Daniel Christian Friedrich Krüger (1819–1896): hanseatischer Politiker; 1856 Ministerresident in Kopenhagen, 1866 in Berlin, seit 1868 Vertreter Lübecks, später auch Hamburgs und Bremens im Bundesrat. 6 Vermutlich die Rede vom 2. Mai 1879. 7 Lothar Bucher (1817–1892): Publizist und Diplomat; 1864–1886 Vortragender Rat im Auswärtigen Amt, enger Mitarbeiter Bismarcks, Mitarbeiter an dessen Gedanken und Erinnerungen. 8 1880 entstand durch linke Abspaltung von der Nationalliberalen Partei eine „Liberale Vereinigung“, die ab 1884 zusammen mit der 1861 gegründeten Deutschen Fortschrittspartei als „Deutsche Freisinnige Partei“ auftrat. 9 Diese Artikel kamen nicht zustande. 10 Die Unterschrift wurde aus den ersten Korrekturfahnen von BDY übernommen. 2

[538] Ehrenfried von Willich an Dilthey Stralsund, 15. 9.[18]80. Herr [?] Gymnasial-Lehrer, jetzt Archidiaconus,1 Petrich in Treptow a[n der] R[ega] hatte vor 2 Jahren zu seinem Werke „Pommersche Lebens- u. Landesbilder“2 auch von mir etliche Angaben erbeten. Nach Herausgabe des I. Bandes ersucht er mich, nun unterm 13. d[es Monats] die Briefe Schleiermachers an Luise v. Willich ihm auf einige Wochen mitzuteilen. Deshalb bitte ich Sie, hochgeehrter Herr Professor, dieses Briefheft, wenn Sie nicht grade in diesen nächsten Wochen es gebrauchen, gefälligst als Wertsache mir zu schicken u. dabei zu bemerken, ob Sie es noch einmal zur Ansicht zu erhalten wünschen. In diesem Falle würde ich mich bemühen die Rücksend[un]g zu fördern. In vorzüglicher Hochacht[un]g Ew. Wolgeborn ergebener v. Willich

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Ehrenfried von Willich an Dilthey

Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 130, Bl. 192. 1

Höherer geistlicher Beamter. H. Petrich: Pommersche Lebens- und Landesbilder. Nach gedruckten und ungedruckten Quellen entworfen. 3 Theile in 2 Bänden. Hamburg 1880 und Stettin 1884/1887. 2

[539] Dilthey an Curt Wachsmuth Breslau, Wallstraße 8. Lieber Freund, da Dove weiß daß ich von Anfang an, seitdem die Professur der alten Geschichte zu besetzen stand, auf Ihre Berufung gedrungen u. hingewirkt habe,1 hat er mir vertraulich Ihren Brief mitgetheilt. Die in ihm enthaltene Auffassung der Sachlage ist mir ja mit Recht günstig; Breslau hat seltene Vorzüge. Es verbindet mit den Vortheilen u. Anregungen einer großen Stadt wirkliches Lebensbehagen u. gemüthlich heiteres Zusammenleben. Wenn nun die pecuniäre Seite der Sache Ihnen Bedenken macht: so dünkt mich, daß Sie die Sache nicht richtig ansehen. Wenn Sie 2500 r. erhalten, was hier einige haben u. was wie ich denke Neumann hatte, so tritt zu dieser Summe ein Wohnungszuschuß von 220 Thalern u. so gut wie sicher für Sie als Vertreter der alten Geschichte in der Prüfungscommission die jährl[iche] Summe von 160 Thalern. Hinzu müssen Sie Collegiengelder aus Auditorien rechnen deren Minimalzahl Sie wol auf 100 Zuhörer ansetzen dürfen; ich habe, allerdings bei einem aus Facultäten gemischten Auditorium, in großen 4stündigen Privatvorlesungen gelegentlich mehr als 200 Zuhörer gehabt. Wie große Hoffnungen ich hier für die Philologen auf Ihr Kommen setzen werde, welche einflußreiche Stellung Ihnen unfehlbar zufiele: darüber sage ich nichts; Erdmannsdörffer kann Ihnen ja die Verhälnisse näher beschreiben. Die Dinge stehen nun aber so, daß eine Aussicht, daß die Sache an Sie zur Äußerung kommt, wohl nur dann, wenn Sie zu einer uns günstigen Vorentscheidung bei sich kommen, vorliegt. Denn wenn die Facultät Sie eben nur in erster Stelle neben andern leicht Erreichbaren vorschlägt: so weiß ich nicht ob die Regierung bei der jetzigen Finanzlage Ihnen Anerbietungen machen wird die Ihre pecuniäre Lage über-

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bieten. U. die Fak[ul]t[ät] ihrerseits wird auch nicht ohne einen gewissen Rückhalt dazu geneigt sein, auf Ihre Berufung den Antrag zuzuspitzen. Dies bestimmt mich, Sie, lieber Freund, mit welchem wieder örtlich vereint zu werden, ein mir nicht endender letzter Wunsch ist, u. eine [als] außerordentliche Lust empfundene Bereicherung meiner Existenz sein würde, u. Ihre liebe Frau, der ich ein dankbarstes Andenken an schöne Marburger Tage bewahre, lebhaft zu bitten, die Sache von Allen Seiten zu erwägen; ich bin zu jeder genaueren u. freundschaftlich ganz offenen Auskunft bereit. Möchte die Sache noch einmal in Fluß bei Ihnen kommen u. ein für uns u. für meinen Wunsch günstigeres Resultat durch etwaige weitere Feststellungen Ihrerseits erreicht werden können. Das wünscht lebhaft, mit herzlichem Gruß u. meiner Empfehlung an Ihre verehrte Frau in alter Freundschaft Wilh[elm] Dilthey 14 Octob[er] [18]80. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, NL 171: C. Wachsmuth, Nr. 16, 7–8. 1

C. Wachsmuth, seit 1877 o. Prof. der klass. Philologie in Heidelberg, ging nicht nach Bres-

lau.

[540] Dilthey an Carl von Cotta 1 Hochzuverehrender Herr von Cotta, Eine Verbindung mit Ihrer altberühmten Verlagshandlung, wie Sie mir dieselbe gütigst eröffnen, kann für mich nur sehr ehrenvoll sein. Dazu trifft die literarische Aufgabe, um welche es sich handelt, mit einem schon länger von mir gehegten, an mein Buch über Schleiermacher sich naturgemäß anschließenden Plan zusammen, für welchen ich ein sehr bedeutendes Material, insbesondere Excerpte aus großen Aktenmassen gesammelt habe. Jedoch, soll das Buch, von dessen Zukunft ich vielleicht eine übertriebene Vorstellung habe und dessen Idee ich am besten durch den Hinweis auf Taine’s Ursprung des modernen Frankreich2 (nur mit Wegfall der politischen Seite) zu verdeutlichen vermöchte, so werden wie es mir vorschwebt:3 dann bedarf es noch mehrerer längerer Reisen, an den Centralpunkten des deutschen Bildungswesens muß ich die für die deutsche Cultur in die einzelnen Landstrichen informirenden Akten einer Durchsicht unterziehen und muß dort unter meiner Leitung arbeiten lassen,

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Dilthey an Carl von Cotta

andere auf Bücher bezügliche umfassende Arbeiten müssen unter meiner Leitung baldthunlichst begonnen werden. So umfangreiche u. kostspielige Vorarbeiten dürfen aber in keiner Weise die Darstellung selber belasten, die sehr zusammengedrängt u. künstlerisch sein muß. Halten Sie mich also nicht für zu anspruchsvoll, wenn ich ohne eine so exceptionelle Unkosten wenigstens theilweise deckende Zulage zu dem Honorar nicht zuzusagen im Stande bin. Wenn Sie nun freundlich sich Vorschläge in dieser Richtung ausbitten, so ist darauf einzugehen für mich zwar nicht leicht, da ich in Bezug auf die in Betracht zu ziehenden Punkte, insbesondere auf das Quantum des für Einen Druckbogen bestimmten Manuscriptes nicht unterrichtet bin; doch dünkt es auch mir der schönen Sache und der Verehrung für Ihre Verlagshandlung angemessener, wenn ich mich rundweg, ohne solches Detail zu berühren oder in Verhandlung zu ziehen, bereit erkläre, wenn Sie, in Betracht der sehr großen Vorunkosten für mich, die jetzt sogleich anfangen u. während der ganzen Vorarbeiten in ansehnlicher Höhe fortdauern, einen Zuschlag von zehn Thalern für den Bogen, also für den Bogen überhaupt fünfzig Thaler zu gewähren in der Lage sind, alsdann im Übrigen in den Vertrag, wie er nach Ihrer freundlichen Zuschrift4 allseitig von den Mitarbeitern acceptirt worden ist, auch meinerseits einfach einzutreten. Demnach bin ich bereit, ein in diesem Sinne vollzogenes Vertragsexemplar Ihrem freundlichen Wunsche gemäß umgehend zurückzusenden. Noch einmal: ein solcher Zuschlag kann ja der Natur der Sache nach, da es sich um eine künstlerisch concentrirte Darstellung handelt, bei welcher alle Vorarbeiten sozusagen unter den Arbeitstisch fallen, nicht entfernt meine Mehrunkosten dekken, er theilt sie höchstens zwischen der Verlagshandlung und mir, und so erscheint mir das Verhältniß als für mich schicklich und möglich, während ich doch andrerseits der mir so wohlbekannten Bereitwilligkeit der ersten u. berühmtesten deutschen Verlagshandlung, für ihre großen u. nützlichen Pläne auch ihrerseits Opfer zu bringen, gewiß nicht zu viel zumuthe. Verehrungsvoll und ganz ergebenst Wilhelm Dilthey Breslau Wallstraße 8. parterre. den 29 December 1880. Original: Hs.; DLA Marbach/Neckar, HA, Cotta-Archiv, Nr. 1. 1

Carl von Cotta (1835–1888): seit 1877 Geschäftsführer des Verlages Cotta. Hippolyte Taine (1828–1893): franz. Philosoph, Historiker und Kritiker. – Die Entstehung des modernen Frankreich. 1. Bd.: Das vorrevolutionäre Frankreich. Leipzig 1877, 2. Bd.: Das revolutionäre Frankreich. Erste Abteilung. Leipzig 1878 (autorisierte deutsche Bearbeitung von L. Katscher). 2

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Dilthey an Carl von Cotta

3 D.s Projekt Studien zur Geschichte des deutschen Geistes wurde nicht realisiert. Nach 1900 von D. wiederaufgenommen, konnten nur Einzelstudien abschlossen werden. Vgl. insbes. die in GS III abgedruckten Arbeiten sowie: Von deutscher Dichtung und Musik. Aus den Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. Hg. von H. Nohl und G. Misch. Stuttgart 1932. 4 Nicht überliefert.

[541] Dilthey an Heinrich von Treitschke Breslau. Wallstraße 8. 13. 1. [18]81. Hochverehrter Freund, Nur mit einem Worte möchte ich Ihnen und Ihrer verehrtesten Frau Gemahlin den jungen Grafen York, ältesten Sohn des Majoratsherrn auf Kleinoels, des ältesten der Enkel des Feldmarschalls, mit welchem ich freundschaftlich verbunden bin und von dessen außerordentlicher geistiger Bedeutung ich Ihnen als Sie hier waren gesprochen habe, empfehlen. Der Sohn, der Ihnen äußerlich bekannt sein wird, da er ein begeisterter Zuhörer von Ihnen ist und sich Ihnen, als er sich einschreiben ließ in Ihre Vorles[ung] über neuere Geschichte, vorgestellt hat, ohne doch zu wagen, Ihre Aufmerksamkeit besonders auf sich zu lenken, hat ein sehr gutes Examen gemacht, und nach jährigem Studium in Bonn studirt er nun in Berlin, Sie werden ihn begabt u. von lebhaften geistigen Interessen finden; seine Absicht ist auf eine diplomatische Laufbahn gerichtet; die Hoffnung, daß Sie u. Ihre Vorlesungen ihm die politische Wissenschaft erschließen würden, war seinem Vater die liebste u. nächste als er ihn nach Berlin schickte. Er wird sich erlauben, sich mit den Empfehlungen seines Vaters, der Sie verehrt, vorzustellen; möchten Sie ihm ein freundliches Interesse schenken. Mommsen’s Broschüre1 hat mich tief geschmerzt. Gerade von ihm erstaunt mich daß er sich das Gefühl nicht erhält, daß was Sie unserer Nation sind mehr bedeuten will als die Thätigkeit irgend eines Gelehrten bedeutet und bedeuten kann. Daneben freilich daß er verkennt, daß ein Historiker nur so viel von Geschichte wirklich versteht, als er von Wissenschaft der Sache selber hineinbringt, daß sonach politische Geschichte aus dem Zusammenwirken von Staatswissenschaften und Studium der Quellen erwächst, daher der ‚Publicist‘ ein integrirender Bestandtheil des politischen Historikers ist. Seit Niebuhr hat sich dies selbst für die alte Geschichte vermöge unseres Einblicks in die wirkliche Geschichte seiner Entdeckungen bewährt, und Grote2 hat diese Thatsache neu erhärtet. Aber ich hoffe doch die Zeit bald zu

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erleben wo man erkennt daß Ihr herrliches Werk3 historischer ist als Ranke’s verblasene, den wirklichen Sachen, Geschäften, Thatsachen, ausgenommen die diplomatischen Verhandlungen die doch auch nicht nach diplomat[ischem] Witz sondern nach Kenntniß der Kräfte der Staaten beurtheilt sein wollen, aus dem Wege gehende Geschichtschreibung. Zu Lotze4 meinen lebhaftesten Glückwunsch. Er ist ein Genie u. er findet eine Lage für eine eingreifende philosophische Bewegung in Berlin, wie sie nie da gewesen ist. In treuster Gesinnung der Ihrige Dilthey Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Treitschke-NL, K 5, 129, 17–18 R. 1 Th. Mommsen: Auch ein Wort über unser Judenthum. Berlin 1880 [= Replik auf Treitschkes Streitschriften zur Judenfrage]. 2 History of Greece. 12 Bde. London 1843–1855. – Deutsche Übersetzung: Geschichte Griechenlands von Georg Grote nach der 2. Aufl. aus dem Englischen übertragen von R.R.W. Meißner. 5 Bde. Leipzig 1850–1854. – D. schrieb über Grote in: WM 41 (1877), S. 650–657 unter dem Pseudonym „Karl Elkan“; WA in: GS XV, S. 251–258. 3 Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. 5 Bde. Leipzig 1879–1894. 4 Lotze hatte den Ruf nach Berlin im Mai 1880 angenommen und nahm dort im Sommersemester 1881 seine Lehrtätigkeit auf.

[542] Dilthey an Carl von Cotta Breslau Wallstraße 8. 19 Januar 1881. Hochverehrter Herr, Mit dem von Ihnen gütigst übersandten Verlagscontrakt1 im Ganzen einverstanden, sende ich ihn nur darum noch nicht mit, weil ich eine in Ihrem ersten gütigen Antrag ausdrücklich bemerkte Bestimmung in ihn durch Auslassung, vielmehr Ausstreichung eines Wörtchens hineinzucorrigiren mich nicht ohne Ihre Autorisation berechtigt erachtete. Sie schrieben damals gütigst: ‚H[err] Prof. Maurenbrecher2 giebt mir auf, mit Ihnen eine Vereinbarung zu treffen, wie Ihre Auslagen für die umfangreichen Vorarbeiten in einer Erhöhung des Honorars von M 120 – pro Druckbogen einer ersten Auflage von 2000 Exemplaren oder in e[in] Aversum3 ausgeglichen werden könnten.‘

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Diese Zahl von 2000 Exemplaren habe ich zu Grunde gelegt, und da ich dem Werk naturgemäß nach Ablauf der im Contract festgestellten 5 Jahre eine Fortbildung, eine innere Erneuerung gönnen möchte, auch hoffe daß die Anstrengung aller Kräfte in Folge der Gunst des Stoffes nach fünf Jahren eine solche Erneuerung sich ermöglichen wird durch den völligen Verkauf der 2000 Exemplare, so möchte ich nicht gern von dieser Bestimmung abgehen. 2000 oder 2100: darauf lege ich naturgemäß kein Gewicht, wohl aber darauf, daß durch diese Ziffer die Zahl der Exemplare definitiv fixirt sei, und so bitte ich, mich zu autorisiren, das ‚mindestens‘ zu streichen, oder in ‚höchstens‘ umzuwandeln. Endlich darf ich wohl um authentische Interpretation von § 4 dahin bitten, daß die Zahlungstermine, wenn das Werk sich auf zwei Bände ausdehnen sollte, sich auf vollständige Manusscriptübersendung und Vollendung des Drucks nicht für das Manusscript des ganzen Werkes, sondern des einzelnen Bandes beziehen, sodaß nach Übersendung des Manusscriptes von Band I die erste Hälfte des Honorars für diesen Band fällig ist, die andre nach Fertigstellung des Drucks von diesem Bande. Sobald ich von Ihnen die gütige Erlaubniß habe, die ja auch dem Interesse eines Lebendigbleibens des Werkes entsprechende Streichung des ‚mindestens‘ vornehmen zu dürfen, oder, falls dies den Usancen nicht entspricht, einen Verlagsvertrag mit dieser Streichung oder Weglassung von Ihnen erhalten habe, werde ich mich beehren, den Vertrag Ihnen unterzeichnet zurückzusenden. Die im Grunde selbstverständliche Interpretation von § 4 braucht ja nicht in den Vertrag corrigirt zu werden; es ist ausreichend, wenn Sie sich gütigst mit derselben einverstanden erklären. Und damit würden ja dann für ein Werk, dem ich mich mit aller Kraft zuwenden werde, die äußeren Bedingungen geregelt sein; sicher wird es die in Aussicht genommenen etwaigen zwei Bände nicht übersteigen. Wann es wird abgeschlossen sein können, darüber werde ich, sobald ich irgend einen Überschlag der noch zu machenden Vorarbeiten, Reisen etc, und der hierdurch bedingten Dauer der Vorbereitung bis zum Beginn des Schreibens werde gemacht haben, Ihnen besondere Mittheilung zu machen mir erlauben. Indem ich wiederholt meiner Freude Ausdruck gebe, mit Ihrer durch die Freiheit u. Höhe der Gesichtspunkte zu geschichtlicher Bedeutung u. zu der ersten Stelle unter allen deutschen Verlagshandlungen gelangten Firma in eine so schöne Verbindung einzutreten erwarten zu dürfen zeichne ich verehrungsvoll u. ganz ergebenst Professor Wilhelm Dilthey

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Original: Hs.; DLA Marbach/Neckar, HA, Cotta-Archiv, Nr. 2. 1

Der handschriftliche „Vertrag über Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland in der Neuzeit“ vom 3. Januar 1881 ist hinterlegt in: DLA Marbach/Neckar, HA, Cotta-Archiv. 2 Karl Peter Wilhelm Maurenbrecher (1838–1892): Historiker; 1867 Prof. in Dorpat, 1869 in Königsberg, 1877 in Bonn, ab 1884 in Leipzig. 3 Abfindungssumme.

[543] Dilthey an Carl von Cotta Breslau 6 Febr[uar] [18]81. Ew. Hochwohlgeboren gefälliges Schreiben1 enthält in Bezug auf den ersten Punkt – den Modus der Zahlung des Honorars im Falle das in Frage stehende Werk zwei Bände umfassen sollte –, eine Erledigung die ich mit Dank annehme; in Bezug auf den zweiten – die Zahl der Exemplare – kann nicht meine Absicht sein, eine Anordnung, die Sie für freie geschäftliche Bewegung bedürfen, entgegen meine persönliche Überzeugung aufrechterhalten zu wollen, welche einen schnellen Umsatz vorziehen würde. Sonach würde ein Einverständnis nunmehr erreicht sein, enthielte nicht Ihr gütiges Schreiben einen Passus, auf den ich leider unmöglich eingehen kann. Er ist für meine Arbeit in demselben Sinne Lebensfrage, in welchem Sie die beiden §§, denen ich mich füge, als Lebensfrage betrachten. Und ich hoffe um so mehr, daß Sie von der in demselben ins Auge gefaßten Einschränkung meiner freien Bewegung absehen werden (so wie ich das meinerseits Ihnen gegenüber gethan habe), als dieselbe in dem freundl[ichen] Schreiben vom 3 Januar 1881,2 in welchem Sie sich mit dem Honorarsatz einverstanden erklärten nicht in’s Auge gefaßt war. Dort schrieben Sie: ‚über den Umfang d[es] Werkes dürfen wir unmaßgeblich so viel bemerken daß jeder Theil auf c 35 Druckbogen projektirt ist, wobei indessen von vorn herein angenommen wurde, daß wo der Stoff auf diesen Raum sich nicht zusammendrängen läßt, eine angemessene Erweiterung, ev[entuell] auf zwei Bände, in keinem Fall beanstandet werden solle.‘ In demselben Sinne schrieb mir Herr Professor Maurenbrecher.3 Und ich finde ja auch, daß Ihr freundliches Schreiben in der ersten Verabredung die Möglichkeit einer Ausdehnung auf zwei Bände in’s Auge faßt. Das sind Anhaltspunkte, welche mich bestimmen, vorauszusetzen daß Sie in diesem Punkte mir die Freiheit der Bewegung nicht verschränken werden,

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und in dieser Voraussetzung sende ich anliegend den unterschriebenen Vertrag. Wenn ich ihn in der Voraussetzung unterschrieben habe, daß Sie in diesem Punkte mir Freiheit der Bewegung lassen werden: so versäume ich nicht, an Herrn Professor Maurenbrecher zugleich über dies Bedürfniß dem umfassenden Gegenstande gegenüber freie Hand zu haben zu schreiben, u. bitte ergebenst, nach Einvernehmen mit demselben, mir Ihr Einverständniß mit dieser Voraussetzung, in welcher ich unterschrieb, wissen zu lassen. Ich meinerseits verspreche, falls eine Ausdehnung auf zwei Bände erforderlich wird, diese in möglichst engen Gränzen zu halten u. verpflichte mich, fünfzig Bogen als die äußerste Gränze zu betrachten. Gelingt es mir, in Einem Bande den großen Gegenstand auf zureichende Weise zur Darstellung zu bringen, so soll mir das ein großer Triumph sein. Aber ich kann nicht wohl mit gebundenen Händen den Versuch machen. In der Hoffnung, daß nunmehr alle äußeren Fragen in Bezug auf das schöne Unternehmen glücklich erledigt sind, zeichne ich Ihr gehorsamster W. Dilthey Original: Hs.; DLA Marbach/Neckar, HA, Cotta-Archiv, Nr. 3. 1 2 3

Nicht überliefert. Cottas Begleitschreiben vom 3. 1. 1881 zum Verlagsvertrag ist nicht überliefert. Nicht überliefert.

[544] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Kl[ein] Oels 9. Mai 1881. Mit bestem Dank sende ich Ihnen, verehrter Freund, die Druckbogen der römischen Geschichte Neumanns1 zurück. Es ist eine Arbeit großen Stils, auf einer ganz anderen Persönlichkeit und Urtheil staatlichen Lebens fußend als Mommsens reale Bodenlosigkeit. Man sieht den Unterschied, den es macht, ob einer vom Privatrecht, einem Abstraktum, oder von selbsterfahrener staatlicher Tätigkeit an die Historie herankommt. Darf ich solcher Arbeit gegenüber einen weitergehenden Wunsch aussprechen, so wäre es der, daß der Verfasser neben der ethischen Werthung der Personen und Verhältnisse ebenso eingehend dargestellt hätte, was er mit Recht behauptet und was vor und neben ihm von vielen Seiten behauptet, von keiner im Einzelnen und von

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Grund aus ausgeführt worden ist, daß und warum und in wie fern der kommunale Rahmen unzureichend war für das Reich. Die Inkongruenz der Aufgaben und Gestaltungen hätte ins Einzelne verfolgt werden sollen. Eine Parallele mit Venedig hätte, meine ich, Licht verbreitet. Weiter vermisse ich noch an einer Stelle unbefangenen Tiefblick. Nicht nur der Immoralität der damaligen römischen Handelsherren wegen schadeten die Handels- den Staats-Interessen. Vielmehr liegt es in der Sache selbst und wäre aufzudecken gewesen, daß Handel und Staatsführung einander ausschließen. Im Übrigen freue ich mich uneingeschränkt der charactervollen Arbeit. Das ist doch das Wesentliche, daß ein Charakter sich ganz ausspricht, daß sonach nicht eine Rankeske Schilderung gleichsam einer natürlichen Abwandelung gegeben wird, sondern eine ethische Werthung. Alle wahrhaft lebendige und nicht nur Leben schil[d]ernde Historie ist Kritik. Vortrefflich kommt das nationell-Individuelle heraus. Die Politik der Republik ist Macchiavell und Napoleon. Jener läßt sich sonach nicht wie üblich nur aus dem renaissance-Boden erklären. Und wiederum die renaissance war solche noch weit mehr als gemeiniglich angenommen wird. Die städtische Commune als politischer Typus ist das characteristische Merkmal der neueren Zeit, in der wir noch drin stecken. Ich wiederhole mich, wenn ich sage, Lebens- und Staatsauffassung, richtiger der Gedanke des Reichs gegenüber dem des Staats, im Mittelalter ist die Frucht der Ländlichkeit. Der Schauplatz verändert das Leben. An der Übermächtigkeit der Commune geht der Staat in die Brüche, Revolution. Auch hier ist Bismarck in das Zentrum der historischen Aufgabe, als Reichsvertreter, eingetreten. Nicht minder verderblich wie die Latifundien war die unförmliche Größe der Stadt Rom. Und nicht anders liegt es in der Gegenwart. Ohne Beschränkung der radikalen Freizügigkeit keine Lösung des Pauperismus, keine Conservirung des Vaterlandes. Mit der Entfremdung von dem Boden geht die haltende Kraft verloren. Der boden-lose Status bewirkt im Menschen und in seinen Lebensgestaltungen das labile Gleichgewicht, welches jeder Erschütterung weicht. Daß England London und die Latifundien und den Handel verträgt erklärt sich aus der politischen Alleinherrschaft des Grund und Bodens. Yorck.2 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 15. 1 K. Neumann: Geschichte Roms während des Verfalls der Republik. Vom Zeitalter des Scipio Aenilanus bis zu Sulla’s Tode. Aus seinem Nachlasse. Hg. von E. Gothein und G. Faltin. 2 Bde. Breslau 1881–1884. 2 Die Unterschrift ist aus den ersten Korrekturfahnen von BDY übernommen worden.

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[545] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [Mai 1881.]1 Verehrtester Freund, das Wetter ist so unbeschreiblich, daß ich bei der leichten Angreifbarkeit meines Hauptes, die immer noch fortdauert, solchem wüsten Sturm und Regen es nicht aussetzen möchte: denn Sie sollen nicht einen Patienten beherbergen. Ich habe nun zwar die Idee, daß für Montag doch schließlich die Sache günstiger liegen muß, behalte mir aber vor, noch für den Fall daß ich auf Montag Nachmittag neue Hoffnungen setze, Ihnen eine Zeile zu schreiben .|.|. Lotze ist ein zweifelnder und resignirter Metaphysiker. Der Grund liegt darin daß er von der Metaphysik Herbarts und der Naturwissenschaft aus in die Philosophie eingetreten ist und sofort, eintretend, seinen Standpunkt fixirt hat. In Folge hiervon ist für seine ganze Logik die stillschweigende Voraussetzung, daß es sich in der Erkenntniß um die Außenwelt handle. Er unterscheidet nicht das primäre Studium der Thatsachen des Bewußtseins von dem Studium der Außenwelt. Hierdurch entsteht die unfruchtbare Abstraktion: Wahrheit, mit welcher seine ganze Erkenntnißtheorie sich herumschlägt. Am Deutlichsten ist das im Capitel der Logik über den Skepticismus.2 Aber der Grundfehler in seiner geistigen Organisation ist: er vermag nicht in sich Ursprünglichkeiten lebendig zu machen; den Erdgeruch durch den geistige Thatsachen auf ihr erstes Keimen zurückdeuten zu gewahren; ja er ist selber so sehr Kunstprodukt, daß er nur in der feinsten Luft einer intellektuellen und ästhetischen Überkultur athmen kann. So ist der Aufbau seiner Gedanken ohne ein einfaches Knochengerüst, dem man zutrauen könnte, daß es all diese Feinheiten und Sublititäten auch wirklich trüge. – Daher alle seine Genialität nur in der Kritik zu einem wirklich faßbaren Resultat gelangt. Ich möchte sehr gern Heinrich3 über ihn und sein Berliner Auftreten hören. – ich sitze in meinem stillen Loche, und verlasse es den ganzen Tag nicht. Mit dem Beschluß meines Zahnwehs und des ersten Bändchens habe ich auch den Nabab4 beschlossen. Es ist wol Alles lebendig und wahr, insonderheit die Luft, Sonne oder Staub, in der die Gestalten leben, jedoch er sieht nirgend so tief, daß er einem die Seele bewegte. Welche Kluft trennt ihn von seinem Vorbilde Dickens, der plötzlich mit dem furor seines germanischen Geistes Bewegungen des Gemüths in seinen Gestalten hervorruft, die Außerordentliches offenbaren. Ich habe angefangen Mill über Hamilton5 zu lesen, und mir sogar von der Bibliothek Spencer6 kommen lassen, mit dem Entschluß mich durch ihn durchzulesen.

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Also ich schreibe noch ein Wort, ob ich Montag komme, und dann bringe ich Stoff zu unabsehbaren Gesprächen mit. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 16. 1

Die Datierung wurde von der Hg. von BDY vorgenommen. R.H. Lotze: Logik. Drei Bücher vom Denken, vom Untersuchen und vom Erkennen. Leipzig 1874, 2. Aufl. Leipzig 1880, hier 3. Buch, 1. Kapitel. 3 Yorcks ältester Sohn, der damals in Berlin studierte. 4 A. Daudet: Le Nabab. Moeurs Parisiennes. Paris 1877. 5 J.St. Mill: An examination of Sir William Hamilton’s philosophy and of the principal philosophical questions discussed in his writings. London 1865. 6 Herbert Spencer (1820–1903): engl. Philosoph. – System of synthetic philosophy. 10 Bde. 1862–1896. 2

[546] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Kl[ein] Oels 1. 6. [18]81. Mein verehrter Freund. .|.|. Lotzes Logik glaube ich unterschätzen Sie. Meine letzte Äußerung darüber bezog sich zunächst auf das Formale, Schriftstellerische. Und die weitere, wie Sie bei meiner mühsamen Art zu lesen denken können, langsame Lektüre bestätigt mir mein früheres Urtheil, daß die Führung eine meisterhafte ist. Dieser Vorzug ist mit einem Nachtheile verbunden und zwar naturgemäß. Der Vortrag erweist, daß man gedruckte Vorlesungen vor sich hat. Daher eine gewisse Oberflächlichkeit bezüglich der Ausführung. Dem Lehrer kam es darauf an, eigene Gedanken, an denen es nicht mangelt, zu geben, ohne sich polemisch auseinander zu setzen und ohne erkenntnißtheoretische Begründung, welches beides aus dem zeitlichen Rahmen der Vorlesung herausgefallen wäre. Allerdings ist wohl die zeitliche Rücksicht nicht die allein maßgebende gewesen. Lotze meint wie Sigwart, der übrigens des ersteren Arbeit fleißig benutzt und verwerthet hat, eine Logik ohne Erkenntnißtheorie geben zu können. Bei beiden zum Nachtheile der Sache. Andererseits aber ist die Frische der Darstellung eine Folge der Vorlesungsform. Sachlich erfreulich und mir bedeutsam als mit dem Eigenen übereinstimmend die Unterscheidung eines zweifachen Allgemeinen und das Abweisen der logisch und erkenntnißtheoretisch bedeutungslosen Urtheile der Quantität, Qualität und Modalität. Ließe sich das auch noch etwas anders darstellen und begründen, so ist es doch genügend hierüber auf die gethane Arbeit Lotzes zu verweisen.

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Als Urtheilsarten behält Lotze sonach das kategorische, hypothetische, disjunktive und zwischen ihnen sucht er einen nothwendigen Zusammenhang nachzuweisen, so daß eine jede Form gleichsam eine höhere Staffel ist. Den Nachweis solchen Zusammenhangs halte ich für erkünstelt, aber auch die Beibehaltung des disjunktiven Urtheils als eines den anderen gleichwerthigen für unrichtig. Mir erscheint es nur als eine Applikation des hypothetischen Urtheils zu Orientirungszwecken. Es vertheilt und fixirt gleichsam innerhalb des Erkenntnißraums, nicht aber geht es darauf aus Erkenntniß zu fördern. Eine Entwickelung des Begriffs findet nur statt von dem kategorischen zu dem hypothetischen Urtheile und erweist sich das letztere als Steigerung des ersteren, vom Merkmal zum wesentlichen Merkmal. – Weiterhin ist durchaus unrichtig Lotzes Fassung des Identitätsgesetzes. Identität ist ihm Einerleiheit, der Mathematiker ist, wie so häufig, perniziös für den Logiker. Unklar der Übergang von diesem todten Gesetze, welches verbiete zu sagen: Gold ist gelb, da man nur sagen dürfe ‚Gold ist Gold‘ und ‚gelb ist gelb‘, zu dem belebenden Gesetze von dem zureichenden Grunde. Die Unklarheit versteckt sich wie so häufig hinter mathematischer Ausdrucksweise. Wie ich mittelst jenes Gesetzes über die Starre des Lotzeschen Identitätsgesetzes hinwegkommen soll, ist mir nicht klar geworden. Da fehlt es eben auch an Ausführlichkeit, der Rhetor gleitet darüber zu rasch hinweg. – Ich beschränke mich einen Gedanken anzudeuten. Man sagt ursprünglich nicht ‚Gold ist gelb‘ sondern ‚das Gold ist gelb‘. Ersterer Ausdruck ist ein abgekürzter, nachlässiger. Das Substantivische ist das Wesen des Subjektivischen, wenn auch die nicht nur von der Logik sondern auch von der Phantasie beherrschte Sprache darüber hinausgeht. Nach jenem Identitätsgesetze könnte ich nicht einmal sagen Gold, also auch nicht Gold ist Gold, denn in dem Gold steckt das Gelb schon darin. Diese Identität verzehrt sich selbst, so daß vor ihr nur die mathematische Größe besteht. Und in der That würde es nur Mathematik geben, wenn die Sinnlichkeit nicht artikulirt wäre. Diese Artikulation ist die Voraussetzung alles Urtheilens, welches ein Beziehen, Vergleichen der verschiedenen Sinnesaussagen auf einander ist in dem Einheitspunkte, der eine Projektion des Selbstes ist. Das vom Begreifenwollen getriebene Urtheilen löst in seinem Verlaufe das Bild – und ursprünglich ist das Subjekt immer Bild – in den Begriff, das Praedikat auf. Der Begriff aber, nicht die Summe, sondern die Einheit der Merkmale ist immer unbildlich, Empfindungsresultat. Jedes Urtheil kann man eine Gleichung, nicht Gleichheit, zwischen Auge und Empfindungssinn, Anschauung und Empfindung, nennen, welche aber bei der relativen Selbständigkeit der Sinne nie aufgehen kann, so daß Idee nie Begriff wird. Zu meiner Freude kennt auch Lotze den Unterschied zwischen Idee oder eidoß und ge´noß, nur daß er ohne Verwerthung stehen bleibt. Ein wei-

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terer Fortschritt, den man den vom Begreifen zum Erkennen im engeren Sinne nennen könnte, vollzieht sich innerhalb des Praedikats, indem die Einheit des Begriffs als Grund gefaßt wird. Hier ist die Stelle des hypothetischen Urtheils. Doch hierüber ein anderes Mal. Vermissen thue ich auch bei Lotze die Unterscheidung zwischen Aussage und Urtheil. Mit Interesse habe ich von der letzten Arbeit des vor einigen Tagen gestorbenen J. Bernays über Phokion1 Kenntniß genommen. Wenn man von einiger manchmal lächerlichen Kleinkrämerei und gesucht philologisch genauen Frisur, wie daß er z.B. anmerkt, daß derjenige, welcher einige griechische Worte anzieht, die Accente nicht hinzugesetzt hat, absieht, recht anziehend. Bemerkenswerth, wie Bismarck wirkt. Vor fünfundzwanzig Jahren wäre bei einem Philologen eine derartige politische Werthung einer historischen Persönlichkeit unauffindbar gewesen. Höchst dankenswerth das historisch vermittelte Verständniß für die politische Lehre Platons und Aristoteles. Interessant auch die richtige Werthung und Reduktion auf das menschlich Beschränkte der Person des Demosthenes dessen Bild die exaltirte Bewunderung lebensflüchtiger Gesinnungspriester in das Unbestimmte auflöste. Doch genug für heute. Hoffentlich morgen auf Wiedersehen. Yorck2 Original: nicht überliefert; Erstdruck: BYD, Nr. 17. 1 J. Bernays starb am 26. Mai 1881. Seine Schrift Phokion und seine neueren Beurtheiler. Ein Beitrag zur Geschichte der griechischen Philosophie und Politik (Berlin) erschien kurz vor seinem Tod. 2 Die Unterschrift wurde aus der ersten Fahnenkorrektur von BDY übernommen.

[547] Kurd Laßwitz an Dilthey Gotha, den 12. Juni 1881. Eisenacher Str. 1a I. Hochgeehrter Herr Professor. Bei meiner letzten Anwesenheit in Breslau gaben Sie mir freundlichst die Erlaubniß Ihnen gelegentlich ausführlicher über meine Arbeiten1 zu schreiben, und ich bin jetzt so frei von Ihrer Güte Gebrauch zu machen. Den ersten Abschnitt meiner Untersuchung, die Atomistik im Mittelalter, konnte ich Ihnen bereits mündlich skizzieren. Die nun folgende Zeit der Erneuerung der Wissenschaften hat mir besonders schwierige und zeitraubende Arbeit verursacht,

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die aber auch, wie ich hoffe, manches Neue und Interessante zu Tage gefördert hat. Zwar was die Geschichte der Philosophie, der Astronomie, auch der Mathematik und Mechanik betrifft, ist ja über diese Zeit bereits viel Wertvolles vorhanden, das mir gute Dienste leistete. Aber gerade das, worauf es mir ankam, die Beziehungen zwischen diesen Wissenschaften und den theoretischen Grundlagen der Physik und Chemie, sowie der Einfluß der praktischen Fortschritte auf die Ausbildung der Theorien, das scheint bisher ganz der Untersuchung entgangen zu sein, wie ja überhaupt noch niemand eine historische Behandlung der theoretischen Physik versucht hat. Ich habe nun zuerst den Kampf gegen die Aristotelische Physik in seinen Hauptmomenten zu schildern versucht. Hierbei bin ich zu dem Resultate gekommen, daß, abgesehen von der Erweiterung des empirischen Gesichtskreises durch die bekannten Entdeckungen, die naturphilosophische Entwickelung ganz von den neuplatonischen Gedanken getragen wird, deren Einfluß von der Mitte des 15. J[ahr]h[under]ts bis weit in das 17. hineinreicht und namentlich die physikalischen Theorien beherrscht, die Entwickelung aus der Einheit, die Entwickelung der Dinge nach Analogie des Lebens von innen heraus und die allgemeine Belebtheit der Natur durch die Weltseele werden jetzt die Fundamente der Naturerklärung, und hier ist es zunächst die Alchymie, welche diese Gedanken naturwissenschaftlich vermittelt und belebt. Dieser allmähliche Fortschritt, mit welchem die Verdrängung der Arist[otelischen] Physik Hand in Hand geht, läßt sich von Nicolaus Cusanus u. Agrippa v. Nettesheim durch Basilius Valentinus (den Alchymisten unbekannten Alters, doch wol aber vor Paracelsus) und Paracelsus, dann die italienischen Naturphilosophen bis Giordano Bruno genau verfolgen, und es läßt sich hier auch erkennen, wie diese Gedanken notwendig zu einer Monadologie führen, freilich aber die mechanische Naturwissenschaft gerade ausschließen. – Nicolaus Cusanus, Agrippa, Basilius Valentinus und Paracelsus mußte ich besondere Untersuchungen widmen, Fracastoro, Cardano, Telesis, Patritis konnten kürzer behandelt werden. Eine zweite Reaction gegen Aristoteles ging dann von der Elementenlehre aus. In dieser Beziehung sah ich mich ohne jede Vorarbeit. Die allmähliche Umgestaltung der Ansichten über die Elemente, die Entwickelung des Begriffs der Aggregatzustände und des chemischen Körpers, die Ersetzung der „Formen“ durch Substanzen, das sind theoretische Ereignisse, die sich nicht immer an einen bestimmten Namen knüpfen lassen, ja es sind nicht einmal die Namen derjenigen bekannt, die hierüber eine neue Meinung gehabt haben. Namentlich die Frage nach der Umwandelbarkeit der Elemente in einander kommt hier in Betracht. Wer aber hat zuerst gelehrt, daß Wasser nicht zu Luft wird bei der Verdampfung? Wer hat bei der Flüssigkeit den Begriff der Tropfbarkeit (Cohäsion od[er] Adhäsion) von

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dem der Flüssigkeit (Fluidität) getrennt? u.s.w. Das sind aber Fragen, ohne welche die Physik nicht fortschreiten konnte und deren Lösung sich nicht plötzlich sondern ganz allmählich durch Klärung der Begriffe vollzog. Die großen Reformatoren wie Descartes, Gassendi, Hobbes etc. zeigen sich gerade hierin ganz abhängig von ihren Vorgängern, die Vorgänger aber kennt leider Niemand. Ich habe nun versucht, sie so gut wie möglich ausfindig zu machen; freilich mag mir noch vieles entgangen sein. Gilbert und Keppler, die hier genannt werden mußten, sind bekannt, weniger bekannt dürfte sein, daß auch Jean Bodin, der Vorkämpfer der Toleranz, als Reformator in der Physik zu nennen ist. Sebastian Basso (1621) und D’Espagnet (1623) endlich scheinen die eigentlichen aber vergessenen Schöpfer der Neuerungen zu sein, auf denen van Helmont und Gassendi bauten. Das dritte Moment, welches gegen Arist[oteles] wirkte, Galilei’s Astronomie und Mechanik, ist bekannt und natürlich auch von mir behandelt worden. Aus der Philosophiegeschichte war noch besonders Taurellus zu nennen. Die Entwickelung der Mathematik habe ich ebenfalls berücksichtigt. Mit der quantitativen Untersuchung der Natur beginnt die neue Zeit für die Physik, für die Atomistik jedoch schon früher. An der Spitze der Erneuerung der Atomistik steht nun Giordano Bruno. Ihm habe ich eine eingehende Studie gewidmet, sowol was den histor[ischen] Zusammenhang (Plotin, Ibn Gabirol, Cusanus und nament[lich] Paracelsus) als was seine Lehre vom Minimum anbetrifft. Die Beziehungen des Brunoschen „Minimums“ zu Mathematik und Physik sind auch in den eingehenden Werken von Carrière und Bartholmess kaum berührt, weil in diesen doch immer das theoretische oder metaphysische Interesse vorwaltet. Dabei giebt’s nun freilich sehr große Schwierigkeiten. In einer Beziehung war ich glücklich, daß nämlich unsere Bibliothek die so sehr seltenen lateinischen Schriften von Bruno, namentlich die drei für mich besonders wichtigen (De minimo, De monade und De immento), die in der unvollendeten Ausgabe von Gfrörer2 nicht stehen, besitzt, De minimo sogar in 2 Exemplaren. (In einer der logischen Schriften fand ich eine eigenhändige Widmung Bruno’s.) Ich habe nun erst gesehen, wie außerordentlich reichhaltig die Schriften Brunos sind und wie sie eigentlich die ganze folgende Entwickelung der Philosophie in nuce enthalten. Von Bruno aus theilt sich nun die Atomistik in die beiden Ströme, die noch jetzt neben einander herfließen, die metaphysische Atomistik als Stammmutter aller Monadologien, und die rein praktischen Zwecken dienende physikalische, die ich deswegen Corpusculartheorie nenne, weil ihr der Begriff des „absolut Einfachen“ als Grundlage der Atomistik unwesentlich und abhandengekommen ist. Als Vertreter einer metaphysisch-mathematischen Atomistik habe ich noch den Philologen Lubin (†1620) aufgefunden. Die physikalische Atomistik vertreten

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Bodin (1596), Sennert (1619), Basso (1621), D’Espagnet (1623), St. Des Claves (1624), bedingungsweise Fr. Baco (1620), ferner Bérigard (1643), Magnenus (1646), Helmont (1644), Maignan (1652). Diese Herren müssen als „Erneuerer der Atomistik“ einen Abschnitt für sich bilden. Mit Gassendi beginnt eine andere Epoche, denn hier wird zuerst das Vacuum eingeführt, das bis dahin verworfen wurde, und hier treten die Fortschritte der empirischen Physik durch Galilei zum ersten Male in ihr Recht. Wie man sich nun die gegenseitige Beeinflussung zu denken hat und was sich über die Frage der Priorität sagen läßt, das ist mir noch unklar. Gassendi’s Syntagma Philos[ophiae] Epicuri erschien 1646, sein eigenes System aber erst nach s[einem] Tode (Opera 1658); bei seinem allseitigen Verkehr dürften aber seine Ansichten schon viel früher bekannt gewesen sein. Borelli, der auf Seiten der Physiker Anführer der Corpusculartheorie ist, hatte seine Ansicht schon 1655 fertig, sein Buch wurde erst 1670 veröffentlicht. Nun kommen wieder Mersenne und Descartes viel früher in Betracht, was die Privatmeinung betrifft vielleicht schon 1630. Wie soll ich mich nun zu diesen Fragen der gegenseitigen Einwirkung verhalten? Das ist überhaupt eine Schwierigkeit, die mir viel Kopfzerbrechen macht, und in welcher ich für Ihren gütigen Rat sehr dankbar sein würde. Inwieweit kann oder muß ich das biographische Detail berücksichtigen und die gegenseitigen Beziehungen der Gelehrten, insoweit sie nicht in den Werken selbst vorliegen? Soll ich hierin Detailforschungen anstellen, so weiß ich nicht, wann ich zu einem Abschlusse je kommen kann. Und halte ich mich bloß an die fertige Veröffentlichung, so kann ich zu großen Irrtümern gelangen in einer Zeit, wo man sich die Manuscripte gegenseitig zuschickte und die Einwürfe des Gegners in das Buch vor dem Drucke aufnahm, wie Descartes bei seinen Principien. Wer bloß die fertigen Systeme der Herren darstellen will, der hat verhältnißmäßig leichte Mühe; wer aber das Ineinanderarbeiten der Gedanken und der Fortschritte der Einzelwissenschaften und die gegenseitigen Convergenzen innerhalb der werdenden Erkenntniß aufsuchen will, der mag wol oft verzweiflungsvoll die Feder hinlegen. Mit der Herstellung des Textes bin ich nun bei Basso stehengeblieben. Sennert habe ich nochmals durchgearbeitet, darauf Baco v. Verulam ausführlich besprochen, dann Basso. Ich möchte nun zunächst die Werke und Briefe von Mersenne einer Durchsicht unterwerfen, dieselben fehlen jedoch (bis auf die Akustik) bei uns, und ich erlaube mir daher hier Ihre Güte anzusprechen. Dürfte ich Sie bitten, mir mitzuteilen, was sich davon auf den Breslauer Bibliotheken findet? Ich möchte nämlich sehen, ob ich besser thue, die Bücher von Breslau od[er] von Göttingen kommen zu lassen. Und da ich einmal unbescheiden genug bin Sie zu bemühen, so will ich auch gleich noch den Titel einer Schrift hersetzen, den ich aufgestöbert habe, ohne das Buch bisher ir-

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gendwo finden zu können; es wäre doch aber möglich, daß es zufällig in Breslau ist; nämlich: Hill, Nicolaus, De philosophia epicurea, democritea, theophrastica, proposita simpliciter non edocta. Paris. 1601. – Eine Gesammtausgabe der Hill’schen Schriften soll Gen[ova] 1619 erschienen sein. – Der ausgearbeitete Text meines Buchs dürfte bis jetzt etwa 16 Druckbogen (groß 8°) betragen, wieweit sich aber der erste Band noch ausdehnen mag, kann ich vorläufig gar nicht sagen. Newton werde ich wol noch hier behandeln müssen, ob auch Leibniz? Ausschließen will ich jedenfalls diejenigen Theorien, welche sich die Atome als Sitz von fernwirkenden Kräften vorstellen, also die sog[enannte] dynamische Atomistik; so daß ich diesen 1. B[an]d einer Gesch[ichte] d[er] Atom[istik] gewissermaßen „Die Corpuscularphilosophie“ überschreiben könnte. Hierbei fällt mir noch schwer aufs Herz, daß es keine „Geschichte der griechischen Physik“ giebt. Die sollte einmal ein Philologe schreiben. In Bezug auf die Philosophen ist ja soviel gethan, daß man sich allenfalls zurecht findet, aber wieviel Kenntnisse sind nebenher in den technischen Wissenschaften fortgepflanzt worden, wieviel auch hat sich dort von Theorien erhalten. Daß die Atomistik ihre Umwandlung in praktische Corpusculartheorie schon im Altertum erlitten hat, habe ich bereits bei Asklepiades nachgewiesen; nun finde ich sie auch bei Heron v. Alexandrien in den Pneumatica. Und wieviel mag noch Ähnliches bei Mathematikern, Mechanikern, Medizinern zu finden sein! Auch das sind Sachen, die ich nicht selbst untersuchen kann, so wichtig sie für mich wären; denn gerade solche Werke sind durch die arabischen Uebertragungen auch zur Tradition des Abendlandes gelangt, während die Gesch[ichte] d[er] Phil[osophie] nichts davon weiß. Dann giebt es noch eine Menge Einzelfragen, die ich nebenbei erledige; ich könnte einen Abriß zusammenstellen von einer Geschichte des Continuums, des Vacuums, der Elemente, der Gravitation, der Aggregatzustände, des Aethers. Was letzteren betrifft ist es besonders lustig zu sehen, wie die platonische Weltseele und der Aristotelische Aether sich mit Hilfe des Stoischen körperlichen Weltgeistes zu der Quinta essentia und dem Mercurius der Alchymisten vermählen und wie daraus wieder durch Verschmelzung mit dem Democritischen Vacuum (bei Bruno) der Spiritus oder der luftige Weltäther wird, den die moderne Physik für ihre Erfindung hält, obwol sein Stammbaum und die genaue Familienähnlichkeit sich überall nachweisen läßt. Verzeihen Sie mir, Herr Professor, wenn ich Ihre Geduld zu lange in Anspruch genommen habe. Daß ich mit meinen Studien so allein stehe, macht mir manchmal Sorgen, erstens weil ich nicht leicht Jemanden um Rat fragen kann, und zweitens weil es mir manchmal vorkommt, als säße ich zwischen

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zwei Stühlen, auf denen Philosophie und Physik ruhen, daß ich unbemerkt dazwischen zu liegen komme; auch seh’ ich mit Schmerzen, wieviel mir an historisch-kritischer Vorbildung fehlt, und wenn ich nun bedenke, wie wenig Zeit mir zu eigner Arbeit bleibt, so kann mir die Sorge nicht fehlen, ob ich mit meiner Aufgabe auch zurecht kommen werde und ob ich es überhaupt Jemand zu Dank mache. Denn wenn auch die Arbeitsfreude selbst für mich die Hauptsache ist, so möchte man doch auch den Erfolg nicht missen. Wenn ich mein M[anu]s[kript] lese, so kommt es mir sehr schön vor, und wenn ich dann denke, was eigentlich noch drin stehn sollte, so fällt mir der Mut. Ihnen aber kann ich es nie genug danken, daß Sie mich auf dieses Feld geleitet haben; schließlich hoffe ich doch, wenn auch nichts Abschließendes, so vielleicht recht Anregendes zu liefern. Aber wann? Im Uebrigen geht es mir ganz nach Wunsch und ich befinde mich hier sehr wol. Genehmigen Sie bei herzlichem Gruße die Versicherung ausgezeichneter Hochachtung von Ihrem ergebenen Kurd Laßwitz. Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 227, Bl. 133–139. 1 Vorarbeiten zu: Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton. 2 Bde. Leipzig 1890. 2 A.F. Gförer hatte die lateinischen Schriften G. Brunos, insbesondere die logischen, 1834 in Stuttgart herausgegeben.

[548] Dilthey an Kurd Laßwitz [Ende Juni 1881] Besten Dank, lieber Herr Doktor, für Ihre mir sehr interessanten Mittheilungen über das Fortschreiten Ihrer Schrift. Leider traf sie gerade in solche Arbeitsbedrängniß, daß ich die von Ihnen gewünschten Notizen nicht gleich machte, dann zurücklegte u. so zwischen meine Papiere gerathen ließ. Heute, bevor ich wieder zur Bibliothek komme u. nachschlagen kann, nur so viel daß der Hill nicht da ist, dagegen von Mersenne 5 oder 6 Schriften, jedoch nicht der Briefwechsel.

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Nächster Tage, wenn ich nochmals nachgesehen Genaueres. Ich lebe jetzt in einer mich erdrückenden Arbeitslast gegen Ende des Semesters u. Sie müssen mich damit freundlich entschuldigen. Treulichst der Ihre Wilhelm Dilthey Original: Hs.; FB Gotha, Chart. B 1962a, 202 R–202.

[549] Dilthey an Wilhelm Scherer Lieber Freund, Eine Rec[ension] des Sigwart,1 deren Drittel der Schere Ihrer Literaturzeitung verfallen ist und die nun so verstümmelt eben abgesandt wird, empfiehlt sich Ihrer Theilnahme, damit sie jetzt wenigstens weiter ungeschoren in den Hafen der neuen L[iteratur-] Z[eitung] einläuft. Auch aus ihr werden Sie sehen, wie hoch ich Sig[wart] stelle. Nach dem tragischen Tode von Lotze,2 der mich, so antipathisch mir die metaphysische Geistesrichtung des Mannes war, doch erschüttert hat, ist Sig[wart] für Sie die gegebene Person, wie ich Ihnen schon in Berlin mündlich sagte u. seiner Zeit an Treitschke schrieb. Ich stelle seine Logik über die von Lotze. Möchten Sie ihn nur auch bekommen. Ein halbes Jahr später wäre ich wol mit in Betracht gekommen, wenn S[igwart] abgelehnt hätte. Nun fehlt ja durchaus die Unterlage einer systematischen Leistung. Ihre Literaturgeschichte3 wird wie ein gutveranlagtes Kind immer schöner. Solches eiligst, mit unsren besten Grüßen an Ihre liebe Frau (besonders läßt meine Frau den Jungen ebenfalls ausdrücklich grüßen) u an die Freunde. Treulichst der Ihrige Dilthey 2 Juli [18]81. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 42; ein handschriftliches Transkript des Briefes von fremder Hamd ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 42. 1

D.s Rezension von Sigwarts Logik erschien in: Deutsche Litteraturzeitung 2. Jg. Nr. 34, Berlin, 20. August 1881, S. 1331–1334; um Textstücke aus dem Nachlass erw. WA in: GS XIX,

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S. 392–397. – Eine weitere kurze Besprechung D.s von Sigwarts Logik erschien kurz zuvor innerhalb einer Sammelrezension philosophischer Werke anonym in: WM 50 (1881), S. 523–525; WA in: GS XVII, S. 421–424. 2 Lotze starb am 1. Juli 1881 an einer Lungenentzündung. – D. scheint Sigwart als Nachfolger Lotzes in Berlin in Erwägung zu ziehen. 3 Das 4. Heft (S. 225–304) von Scherers Geschichte der deutschen Litteratur war am 25. Mai 1881 veröffentlicht worden.

[550] Wilhelm Scherer an Dilthey Berl[in], 16. 7. [18]81 Lieber Freund. Rödigern1 hab ich raschen Abdruck Ihrer Rec[ension] empfohlen. Was dann freilich keinen ganz nahen Termin bedeuten wird, da er seine Nummern immer sehr weit voraus feststellt. Da ich vermuthe daß Sigwart und zwar er allein vorgeschlagen werden wird, so kann es nur den besten Eindruck machen, wenn Sie uns dabei gewissermaßen helfen. Was Sie mir von meiner Litt[eratur] Gesch[ichte] sagen, ist mir sehr erfreulich. Diese Partie gerade, die im 4. Heft erledigt ist, habe ich immer für die schwerste gehalten mit dem, was sich unmittelbar anschließt bis 1790. Ich will nach dem Schluß der Vorlesungen wieder hier sitzen bleiben und weiter arbeiten, vielleicht erst Ende September auf 14 Tage nach Helgoland gehen. Wär ich nur endlich fertig! Meine Frau mit dem Jungen ist auch noch hier und kann sich nicht entschließen fortzugehen. Wir grüßen herzlichst. Mein Junge ist leider zu dumm auch für seinen Specialgruß, wie sichs gebürt, zu erwidern.2 Treulichst Ihr Scherer Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey 45, Bl.25. 1 Max Rödiger (1850–1918): Germanist; Schriftleiter der Deutschen Litteraturzeitung; ab 1883 a. o. Prof. für Germanistik in Berlin. 2 Scherers Sohn war derzeit ca. 15 Monate alt.

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[551] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Berlin 20/8 [18]81. Verehrter Freund. Morgen, Sonntag, Nachmittags gegen 3 Uhr passire ich Breslau mit kurzem Aufenthalte. Es wäre sehr hübsch, wenn wir uns auf dem Bahnhof sehen könnten. Mit besten Grüßen Der Ihrige Yorck. Original: Hs.; Postkarte; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 248, Bl.115–115 R.

[552] Carl Geibel jun.1 an Dilthey Bad Gastein Zum Hirsch am 23 August 1881 Hochverehrter Herr! Ihren soeben empfangenen Brief 2 vom 20ten beantworte ich, bestens dankend, sofort und freue mich, aussprechen zu können daß ich mit allen Ihren Wünschen und Bedingungen einverstanden bin und nunmehr unsere Verlagsangelegenheit als endgültig geregelt betrachte.3 Ich gehe nochmals auf die einzelnen Punkte ein und danke Ihnen 1), daß Sie in die unbedeutende Erhöhung der Auflage gewilligt haben, daß Sie 2) dem ersten Bande einen Separattitel geben wollen, welches die Verkäuflichkeit, meines Erachtens, erheblich steigern wird; daß Sie endlich 3) Reimer s[einer] Z[eit] in dem von mir angedeuteten Sinn benachrichtigen wollen.4 Es versteht sich von selbst, daß in meinem Geschäft wie von mir die strengste Discretion bewahrt werden wird; Sie können in dieser Beziehung ganz ohne Sorge sein! – Auch mit der Honorarberechnung bin ich ganz einverstanden. Sobald demnach meine Herstellungs und Vertriebskosten für den I Band werden gedeckt sein, werde ich mir erlauben, Ihnen Zwanzig Mark für den Druckbogen nachträglich als Honorar für die erste Auflage zu übermitteln. Ich hoffe, daß das schon im zweiten Jahre nach dem Erscheinen des I Bandes eintreten wird. Was die event[uelle] Ausgabe des I Bandes in Lieferungen betrifft, so kann ich mich Ihrer Forderung um so eher fügen, als Sie dieselbe selbst wenn irgend möglich umgehen wollen: ich würde es im Interesse des Buches – nicht des Ab-

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satzes – lebhaft beklagen, wenn es zu einer Lieferungsausgabe käme. Mit Dunckers Alterthum5 ist Ihr Werk nicht zu vergleichen. Dort handelt es sich um ein Werk, was bereits in drei Auflagen vorlag, das allgemein bekannt war. Hier aber haben wir ein in der Idee, der Behandlung, der Ausführung total neues Unternehmen, dessen Theile, in innigstem Zusammenhang stehend, nicht ohne dringendste Noth auseinandergerissen werden sollten. Aber, wie gesagt, ich acceptire die Bedingung, da Sie sie selbst nur im äußersten Fall geltend machen werden. – Somit bitte ich Sie nun, verehrtester Herr, das Manuscript, soweit es druckfertig ist, an meine Firma: Duncker u. Humblot in Leipzig, Dresdnerstrasse 28 (eingeschrieben) gelangen zu lassen. Sie geben dann wohl Ihre Wünsche bez[üglich] der Ausstattung, der Correctur u.s.w. an. Ich lasse diese Zeilen über Leipzig gehen, damit man im Geschäft genau unterrichtet sei. – Ich selbst verlasse Gastein in 10 Tagen und denke am 10 Sept[em]b[e]r spätestens in Leipzig einzutreffen. In der Hoffnung eines langen gedeihlichen Zusammenwirkens und unter herzlicher Begrüßung Ihr in aufrichtiger Hochachtung ergebener Carl Geibel jun. Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 257, Bl. 29–30 R. 1 Carl Geibel jun. (1842–1910): Verleger, Sohn des Verlegers Carl Geibel (1806–1884); 1866 übernahmen beide den Verlag Duncker & Humblot und wechselten mit ihm nach Leipzig; seit 1874 war C. Geibel jun. Alleininhaber des Verlags. 2 Nicht überliefert. 3 Der 1. Band von D.s 1883 veröffentlichter Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte erschien im Verlag Duncker & Humblot. 4 D. hatte mit seinen Verlegern verabredet, dass die Einleitung vor dem 2. Bd. des Leben Schleiermachers erscheinen sollte (vgl. GS XIX, S. X f.). 5 M.W. Duncker: Geschichte des Alterthums. 4 Bde. Berlin 1852–1857, 5. verb. Aufl. 6 Bde. Leipzig 1878–1882.

[553] Hermann Besser1 an Dilthey Geehrtester Herr Professor! Sicherlich darf ich hoffen, daß Sie Sich meiner von einem vor vielen Jahren stattgehabten einmaligen Zusammensein Abends bei Frau Professor Fischer2

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in Berlin her noch erinnern werden, es müßte denn sein, daß Sie damals an mir als einem Schwiegersohn Schleiermachers einiges Interesse genommen haben. Dagegen brauche ich wohl nicht erst zu versichern, wie viel und wie lebhaft ich seitdem durch Ihre so unendlich mühevolle und zugleich – selbst für mein Laien-Auge ersichtlich – so überaus gediegne Arbeit eben über Schleiermacher an Sie erinnert worden bin und wie fest mein Glaube ist, daß Ihnen auch die Vollendung des Werks in glorreichster Weise gelingen wird. Nächst dem längst gefühlten Bedürfniß, Ihnen dies auszusprechen – wäre ich nur durch die Besorgniß, Ihnen damit lästig zu fallen, bisher noch verhindert worden – ist die Veranlassung zu gegenwärtigen Zeilen eine Bitte, die ich mir erlaube an Sie zu richten. Ich erfreue mich hier der Pensionsmuße und möchte dieselbe möglichst noch ausnutzen. Nachdem ich so eben ein Schriftchen über Hamlet,3 das ich Sie ersuche als ein kleines Zeichen meiner Verehrung gütigst von mir annehmen zu wollen (es wird Ihnen durch den Verleger Pierson hierselbst in nächster Zeit zugehen), habe drucken lassen, denke ich nunmehr daran, etwas über Heinrich v. Kleist zu schreiben und wäre es mir sehr erwünscht zu wissen, ob derselbe nicht irgendwie mit Schleiermacher in Beziehung gestanden hat und wie letzterer insbesondre durch seinen Tod berührt worden ist. Sollten nicht vielleicht Sie mir hierüber einen Aufschluß ertheilen können? In Berlin kenne ich noch aus alter Zeit Ihre Herrn Collegen Röpell und Jungkmann,4 ersteren von Halle und vom Erfurter Parlament her, wo wir beide der Bahnhofspartei angehörten, letzteren aus dem Ende der 1830er Jahre, wo er Gymnasiallehrer in Münster war. Leider soll ja dieser ein fanatischer Ultramontaner5 geworden sein, während ich ihn zwar als rechtgläubigen Katholiken, sonst aber umgänglichen und poetisch tief veranlagten Menschen im Gedächtniß habe. Durch Bestellung eines Grußes an Röpell – ob auch an Jungkmann? – würden Sie mich gleichfalls verbinden. Mit der Bitte, ein so Unbescheidenes nicht zu verübeln Ihr ganz ergebner Besser, Geh[eimer] Reg[ierungs] Rath a/D. Dresden am 9ten October 1881 (Mathildenstraße 8.II). Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 103, Bl. 113–114. 1

Hermann Besser (1807–1895): Schriftsteller; Schwiegersohn Schleiermachers, verheiratet mit dessen Tochter Elisabeth.

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Hermann Besser an Dilthey

2 Evtl.: Karoline Fischer, geb. Lommatzsch; seit 1819 als Witwe in Berlin lebend; Freundin der Ehefrau Schleiermachers (vgl. E. v. Willich: Aus Schleiermachers Hause. Jugenderinnerungen seines Stiefsohnes. Berlin 1909, S. 42 ff.). 3 H. Besser: Zur Hamletfrage: Versuch einer Erklärung des Stücks. Dresden 1882. 4 Wilhelm Junkmann (1811–1886): Historiker, Lehrer und Politiker; 1851–1854 PD für Geschichte in Münster, 1854 a. o. Prof. am Lyceum Huseanum in Braunsberg, seit 1855 o. Prof. in Breslau. 5 Streng päpstlich gesinnter Katholik.

[554] Dilthey an Heinrich von Treitschke Verehrtester Freund, Der erste Band aus dem Nachlaß Neumanns, Vorlesungen über röm[ische] Geschichte von den Griechen ab, letzte Zeit der Republik, den Dr. Gothein herausgegeben hat,1 ist nun vollendet. Die Einleitung (die ich in den Aushängebogen allein gelesen) gehört zu dem Schönsten was ich von Geschichtschreibung kenne, im größten historischen Styl. Es erscheint nun gewiß geeignet, da das Buch in diesen Wochen ausgegeben wird, in den preuß[ischen] Jahrbüchern eine Quintessenz mit einigen Vorbemerkungen zum Gedächtniß Neumanns zu geben. Dr. Gothein hat einen Aufsatz dieser Art geschrieben. Er las mir ihn vor, wir haben zusammen thunlichst gekürzt, und er wird gewiß in den Jahrbüchern sehr gern gelesen werden.2 So sendet Ihnen denn Gothein, ein sehr begabter junger Historiker u. Privatdozent der Geschichte, vertrauensvoll seinen Aufsatz. Ich aber benutze den Anlaß gern Ihnen von Neuem zu sagen, wie herzlich Ihnen zugethan bleibt Ihr W. Dilthey 27 Oct[ober] [18]81. Wallstr. 8. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Treitschke-NL, K 5, Nr. 129, 19–20 R. 1

Eberhard Gothein (1853–1923): Historiker und Nationalökonom; 1878 Habilitation in Breslau, ab 1885 Prof. in Karlsruhe, 1890 in Bonn, 1904 als Nachfolger Max Webers in Heidelberg. 2 E. Gothein: Der Uebergang Roms von der Republik zur Monarchie, in: PJ 51 (1883), S. 31–47.

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Dilthey an Herman Grimm

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[555] Dilthey an Herman Grimm Mein lieber Freund, ich sende Ihnen u. durch Sie den anderen Freunden, die Sie sehen, besonders Scherers u. Schmidts meine treuen Wünsche zum neuen Jahre 1882. Ich beschäftige mich jetzt sehr lebhaft mit Ihnen, jeden Abend lese ich, häuslich wie wir sind, zum Schluß des Tages mit meiner Frau eine Stunde in Ihrem Goethe,1 und ich wie meine Frau, wir sind beide ganz voll von der centralen Manier, mit der Sie die Leute beim Kopf nehmen und einer bündigen Prüfung unterwerfen, ebenso die Verhältnisse und die Bücher. Ich kenne kein Buch, das in den letzten Decennien in Deutschland erschienen wäre, in welchem ein Autor so auf den Kern der menschlichen Verhältnisse direkt losginge und die Ressourcen hätte, das so zu thun. Das läßt sich nur mit Carlyle2 vergleichen, in Deutschland mit nichts Anderem. So, nun habe ich Ihnen gesagt was ich lange sagen wollte, da jeder Autor an einem verständigen Leser eine nicht zu unterdrückende Freude hat d. h. an einem solchen, der ihn in seinem Buch in der richtigen Ecke sucht. Möchten Sie mit diesem zufassenden Griff, den Sie sich nun angewöhnt haben, mit einmal von dem falschen fadenscheinigen Raphaelkultus befreien, den wir als Bestandstück des falschen Idealismus in der Kunst mit uns schleppen, indem Sie diese herrlichste Phantasie, die in Linien, Geberden, Typen arbeitete, aber das verflüchtigte was eben der unvergängliche Kern der Realität ist, in ihrer Arbeit zeigen. Diesen Wunsch flößt mir eben die schöne (stylistisch meisterhafte) Aufzeichnung Feuerbachs3 ein, welche zeigt, wie an diesem Mißverständniß des Begriffs Ideal eine so bedeutende Kraft beständig arbeitet, ohne es lösen zu können. Leben Sie froh, wie wir es thun, empfehlen mich Ihrer verehrten Frau u. grüßen die Freunde. in alter Treue Ihr Dilthey 1 Januar 1882 Wallstraße 8. Original: Hs.; HStA Marburg, Bestand 340 Grimm, Brief 929. 1 H. Grimm: Goethe. Vorlesungen gehalten an der Königl. Universität zu Berlin, 3. durchges. Aufl. Berlin 1882. 2 Thomas Carlyle (1795–1881): engl. Historiker und Schriftsteller; zunächst Lehrer, ab 1828 Privatgelehrter; Carlyle, der u. a. durch biographische Arbeiten über Cromwell, Friedrich d. Gro-

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Dilthey an Herman Grimm

ßen und Schiller hervorgetreten ist, war geprägt vom Deutschen Idealismus und stand in persönlichem Verkehr mit Goethe. 3 Anselm Feuerbach (1829–1880): neoklassizistischer Maler.

[556] Christoph Sigwart an Dilthey Tübingen, 20. Jan[uar] 1882 Verehrtester Freund Sie hätten schon längst meinen herzlichen Dank für die zugesandten Bogen1 erhalten, wenn nicht der Inhalt derselben mit seiner Fülle von Gedanken u. Gesichtspunkten mich so angezogen u. beschäftigt hätte, daß ich erst Muße brauchte, sie ordentlich zu studiren und zu verarbeiten. Ich weiß aus meinen eigenen Versuchen die Gedankenarbeit zu schätzen die in diesem Programm niedergelegt ist, u. freue mich der treffenden Kritik welche Sie gegen einseitige Auffassungen der Aufgabe richten und der fruchtbaren Anlage. Die Unterscheidung der äußeren Organisation der Gesellschaft von den Systemen der Cultur ist gewiß principiell richtig: ich finde darin die Anwendung einer Unterscheidung, die ich in der Psychologie zu machen pflege,2 auf den complexen Gegenstand des geschichtlichen Lebens. Ich unterscheide nemlich die formellen Bestimmungen der ganzen Willenssphäre von den natürlich angelegten Richtungen des Wollens, welche den Inhalt der Zwecke bestimmen – dort wird von den unmittelbaren Äußerungsweisen der Triebe und begrenzendem überlegendem Wollen der Selbstbeherrschung, sozusagen von dem Bau der Maschinerie gehandelt, welche sich in Handlungen äußert, hier von der Befriedigung der natürlichen Triebe des Menschen in einzelnen Richtungen, die unter dem Einfluß des Denkens sich zu universalen Zwecken gestalten. Uebertrage ich diese Unterscheidung auf das gesellige Leben: so ergeben sich bestimmte formelle Verhältnisse der gegenseitigen Abhängigkeit der Subjecte in ihrem Wollen; keine Gesellschaft ist ohne eine solche Abhängigkeit, ohne Macht eines Willens über andere, ohne eine Theilung der Arbeit denkbar, die fortwährend durch irgend eine reale Potenz reguliert werden muß, die das Thun des Einen mit dem Thun des andern übereinstimmend macht, und ich bin also vollkommen einverstanden, daß diese Seite gesondert betrachtet werden kann u. im Interesse der Analyse muß; von der totalen Abhängigkeit des Kindes, des Unerfahrenen und Schwachen vor dem persönlichen Einfluß des Aelteren Erfahreneren und Energischeren bis zur gesetzlichen Regulierung aller Competenzen in einer entwickelten Verfassung sind

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Christoph Sigwart an Dilthey

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alle möglichen Systeme der Organisation denkbar. Von höchstem Interesse ist mir Ihre Behandlung des Rechts, nichts hat mich immer so chicanirt, wie dieser Begriff u. es liegt mir wie ein undurchdringlicher Nebel darüber; historische u. ideale Auffassung, formelle u. materielle Seite wollten sich mir nicht deutlich ins Verhältniß setzen. Was ich nun versuchsweise angefangen darüber zu philosophieren, wird mir durch Ihre Stellung in erfreulichster Weise aufgehellt. Ich habe einmal mit meinem Collegen Martitz3 einen Disput gehabt; er wollte alle Machtverhältnisse schon auf Recht zurückführen; wenn ich einem anderen gehorche, ihm diene u.s.w. so sei darin bereits ein Rechtsverhältniß wirksam. Ich verfocht, daß das erste die Macht sei, die Ungleichheit der Macht u. der Freiheit der Einzelnen sei in jeder Gesellschaft aus psychologischen Gründen unausweichlich; wo einfach die Furcht vor der Gewalt oder das Vertrauen in intellectuelle Ueberlegenheit einen dem andern unterordne, könne von Recht keine Rede sein, erst dann, wenn allgemeine Regeln der Willensverhältnisse zum Bewußtsein kommen u. anerkannt werden, gleichgültig wieviel nun dadurch wirklich normiert werde, oder ob anerkannt wird, daß die Willkür des Einzelnen maßgebend sei; wenn nur überhaupt eine Regel gilt und von einer Macht thatsächlich ausgeführt wird. Aus diesen formellen Bestimmungen folgt dann die natürliche Schranke und Unangemessenheit alles Rechts, das gilt, gegenüber den Idealen der Gerechtigkeit; weil seine wesentliche Form die allgemeiner Regeln ist, muß es das thatsächlich Ungleiche und individuell Verschiedene gleich behandeln, wenn es nur die Merkmale hat, welche die Instruction unter die Regeln leiten. Der materielle Inhalt der Regeln aber, soweit sie nicht bloß negativ die Schranken der individuellen Willkür ziehen, sondern positiv bestimmen was geschehen soll, ist von den inhaltliche Zwecken der Gemeinschaft u. den Machtverhältnissen ihrer Glieder abhängig, und steht damit im engsten Zusammenhang mit den übrigen Richtungen des gemeinschaftlichen Lebens; und da nun Form u. Inhalt nicht unabhängig von einander sind, kommt die Schwierigkeit einer isolierten Behandlung – das sind ungefähr die Striche mit denen ich mir die Sache aufzuklären versucht habe. – Sie sehen daraus jedenfalls daß ich Ihnen zustimme daß eine Rechtsphilosophie im hergebrachten Sinn auch mir keine mögliche Aufgabe scheint. Besonders fruchtbar erscheint mir Ihre Unterscheidung zwischen Gemeinschafts u. Zusammengehörigkeitsbewußtsein u. Verband – darauf hatte ich bis jetzt wenig geachtet – lebhaft erfreut haben mich die paar kritischen Bemerkungen gegen Schäffle, dessen anspruchsvolles u. hohles Opus4 ich freilich nur zu einem Theile zu lesen vermocht habe; zum Theil wirkte auch die Antipathie gegen den Mann. [Briefschluß fehlt.] Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 170, Bl. 33–34.

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D.s 1. Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften, welcher im Frühjahr 1883 erschien. Vgl. hierzu Ch. Sigwart: Der Begriff des Wollens und sein Verhältniß zum Begriff der Ursache (1879), in: Ders.: Kleine Schriften. Zweite Reihe: Zur Erkenntnißlehre und Psychologie. Tübingen 1881, 2. Aufl. Freiburg i. Br. 1889, S. 115–211. 3 Ferdinand von Martitz (1839–1921): Staats- und Völkerrechtler; seit 1872 Prof. in Tübingen. 4 Albert Schäffle (1831–1903): Nationalökonom, Soziologe und Politiker; 1860 Prof. der Volkswirtschaft in Tübingen, 1868 in Wien, 1871 österr. Handelsminister, seit Oktober 1871 Privatgelehrter in Stuttgart. – Hauptwerk: Bau und Leben des sozialen Körpers. 4 Bde. Tübingen 1875–1878. 2

[557] Dilthey an Georg Ernst Reimer Verehrter Herr Reimer,1 Den Beginn der Ferien möchte ich benutzen, Ihnen zu schreiben, daß endlich diesen Sommer der Druck des zweiten Bandes wird anfangen können.2 Nach meiner Art zu schreiben, hat sich die Sache dadurch complicirt, daß ich, nach zweijährigem Sammeln von Materialien, mit größter Anstrengung (damals sah ich Sie ja in Berlin und glaubte die Zeit, in welcher der Druck beginnen könne, nahe), bei der Ausarbeitung die Erfahrung machte, daß die Darstellung und Kritik des Systems einen unmäßigen Raum einnehmen müsse, wenn ich nicht irgendwie meine eigenen Gedanken mir erst von der Seele geschrieben, auf sie dann stillschweigend bei meinen Behauptungen die Leser verweisen könne. So begann ich zu schreiben; was ich machte, lief dann in einen alten Plan aus, und nun wird in einem Vierteljahr eine erkenntnißtheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften erscheinen.3 Ich habe Sie mit einer Anfrage wegen des Verlags nicht in Verlegenheit gesetzt. Die Leser die das Buch etwa finden wird, muß es sich im Kreise der Juristen und Historiker suchen, und so glaubte ich daß Duncker und Humblot am leichtesten es mit dem Opus riskiren könnten. Sobald aber nun der Druck fertig sein wird, will ich den unterbrochenen Schleiermacher wieder aufnehmen, und der Druck kann dann sehr bald beginnen. Ich denke daß Sie dann an dem Schleiermacher schließlich noch Ihre Freude haben sollen. Denn nachdem ich m[eine] eigene Philosophie in der Grundlage gegeben, kann das Buch einfache Form u. mäßigen Umfang erhalten. Und die Zeit kommt ihm entgegen. Dankbarst ergeben Ihr Dilthey 13 4 Beslau. /III. [18]82

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Dilthey an Georg Ernst Reimer

Ich bemerke daß das Buch als erster Band einer Einleitung in das Stud[ium] der Geisteswissenschaften erscheint, daß ich aber mit dem Herrn Verleger verabredet habe, daß ich, nach Publikation dieser ‚Grundlegung‘ zuerst meiner Verpflichtung gegen Sie nachkomme, nach Erscheinen des ganzen Schleierm[acher] dann erst den zweiten Band fertig mache. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Dep. 42 (VA de Gruyter), R 1: Dilthey, 70. Darüber von der Hand des Empfängers: „14/3 beantwortet“. Der 2. Band des Leben Schleiermachers; Band 1 war im März 1870 in Berlin im Verlag Reimer erschienen. Den 2. Band hat D. niemals fertig gestellt; er wurde von M. Redeker 1966 als Band XIV der GS aus dem Nachlass herausgegeben. 3 Der 1. Band von D.s Einleitung in die Geisteswissenschaften wurde im Frühjahr 1883 veröffentlicht, der 2. Band ist niemals abgeschlossen worden. Der systematische Teil des 2. Bandes wurde von H. Johach und F. Rodi 1982 in GS XIX aus Nachlassmaterialien rekonstruiert. 4 Im Original: nachträgliche Datierung von der Hand des Empfängers. 1 2

[558] Alfred Stern 1 an Dilthey

Alfred Stern an Dilthey

Bern 19. III. [18]82 Laupenstrasse 164 C Hochgeehrter Herr Kollege! Ich erlaube mir, mich vertrauensvoll mit einer Anfrage an den Biographen Schleiermachers zu wenden, dem es vielleicht ohne grosse Mühe möglich ist, eine Aufklärung von Wichtigkeit zu geben. In dem viel besprochenen Werke Aus den Papieren Theodor von Schöns2 finde ich Bd. IV S.566 – es ist vom Jahre 1808 die Rede – die Stelle: „Schleiermacher kam nach Königsberg und wurde um seine Meinung über Repräsentation befragt.“ Können Sie mir aus Ihrer Kenntnis der Schleiermacherischen Papiere und Korrespondenz irgend eine Andeutung darüber geben, was es damit auf sich hat? Ich bin eben mit einer Arbeit beschäftigt, für die es mir von grösstem Interesse wäre zu erfahren, wie es sich hiermit verhält. Bekanntlich ist in dem s[o]g[enannten] politischen Testamente Steins3 davon die Rede „dass ihm mehrere Pläne“ zur Bildung einer allgemeinen Nationalrepräsentation eingereicht seien; bis jetzt kennt man jedoch nur einen, den von Vincke. Wie merkwürdig wäre es, wenn sich ein Verfassungsentwurf von Schleiermacher vorfände. Nehmen Sie im voraus meinen Dank entgegen und lassen Sie mich die Hoffnung aussprechen, dass wir recht bald durch die Fortsetzung Ihres Werkes beschenkt werden. Ich habe

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Alfred Stern an Dilthey

mich in diesen Tagen viel mit dem 1. Theile beschäftigt. Es ist kürzlich ein höchst interessantes Werk erschienen, das Ihnen wohl nicht entgangen ist: „Correspondence diplomatique du Baron de Stael-Holstein ambassadeur de Suède et de son successeur comme chargé d’affairs, le Baron Brinkmann (1783–[17]99) publ[iés] par L. Léouzon le Duc, Paris, Hachette 1881.“ Dieser Brinckmann4 ist Schleiermachers Freund, leider beweist aber der Herausgeber, dass er die Literatur über Brinckmann nur sehr unvollständig kennt. Ich habe bei diesem Stellen gefunden [.|.|.], wo über Brinckmann sehr hart geurtheilt wird. In der allgemeinen Deutschen Biographie sucht man vergeblich Brinckmanns Namen, allein er muss sich mit dem Minister von Altenstein5 und vielen anderen trösten. Ich stecke ganz in Vorarbeiten zu einer Geschichte der preussischen Reformzeit, die aber freilich noch Jahre lang gebrauchen wird, um fertig zu werden. Ihrem Kollegen Prof. Röpell bin ich für die freundliche Unterstützung, die er meinen Studien zu Theil werden lässt, sehr dankbar. Ich brauche nicht zu sagen, wie sehr auch Sie mich verbinden werden durch jede mein grosses Thema betreffende Mittheilung. Vielleicht ist Ihnen doch in der Dohna’schen6 Korrespondenz dies und jenes Neue vorgekommen. Den Aufsatz, den ich unter der Hand habe zögere ich abzuschliessen, bis ich weiss, was ich von Schöns Notiz betreffend Schleiermacher zu halten habe. Empfehlen Sie mich, bitte, Ihrer verehrten Frau. Möchte Ihr Weg Sie beide bald wieder in unser schönes Land führen; als ich das Vergnügen hatte, Sie in Thun – damals mit meinem unvergesslichen Freunde Woltmann7 – und später in Grindelwald zu sehen, war ich noch auf mich allein gestellt; wenn der Weg Sie nun nach Bern führen sollte, kann ich Sie bitten, in meinem Heim einzukehren. In der Hoffnung, dass diese Zeilen in Ihrer Familie alles wohl antreffen Ihr hochachtungsvoll ergebener Alfred Stern Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 103, Bl. 190–191 R. 1

Alfred Stern (1846–1936): Historiker; 1873 a. o., 1878 o. Prof. für Geschichte in Bern, 1887 in Zürich. – Geschichte Europas seit den Verträgen von 1815 bis zum Frankfurter Frieden von 1871. 10 Bde. Berlin und Stuttgart 1894–1924. 2 Aus den Papieren des Ministers und Burggrafen von Marienburg Theodor von Schön. 3 Theile in 6 Bänden. Hg. von H.Th. von Schön. Berlin 1875–1883. 3 Gemeint ist ein Rundschreiben des Beamten, Politikers und Reformers Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein (1757–1831) an Mitglieder des General-Departements vom 24. November 1808.

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Alfred Stern an Dilthey 4

Karl Gustav von Brinckmann (1764–1847): Schriftsteller und Diplomat. Karl Sigmund Franz Freiherr vom Stein zum Altenstein (1770–1840): 1817–1838 preuß. Kultusminister. 6 Karl Friedrich Ferdinand Alexander Graf zu Dohna-Schlobitten (1771–1831): Staatsbeamter. 7 Alfred Woltmann (1841–1880): Kunsthistoriker; 1868 o. Prof. für Kunstgeschichte in Karlsruhe, 1874 in Prag, 1878 in Straßburg. – Woltmann war am 6. Februar 1880 gestorben. 5

[559] Duncker & Humblot an Dilthey

Duncker & Humblot an Dilthey

Leipzig den 12. Mai 1882. Herrn Professor Dr. W. Dilthey. Berlin. Hochgeehrter Herr!1 Ihre w[erten] letzten Zeilen2 konnten wir nicht beantworten, ehe wir nicht wußten, ob es uns möglich sein würde, Ihren Wunsch bez[üglich] der fehlenden Exemplare der Bogen 1–9 ff. zu erfüllen. Leider können wir ein Exemplar dieser Bogen nicht liefern, da Bogen 5 gänzlich fehlt und auch Nachforschungen in der Druckerei konnten uns zu keinem Exemplar verhelfen. An die beiden bezeichneten Adressen ist Ihr Buch unverzüglich gesandt worden. Aus der Druckrechnung des Werkes, die wir soeben empfingen, geht hervor, daß die außerordentlich zahlreichen Correcturen, das wiederholte nothwendig gewordene Umformen der Bogen pp sehr erhebliche Kosten, nämlich 765 M., verursacht haben. Unserer früheren Verabredung gemäß haben wir mit diesem Betrag Ihr Conto belastet, außerdem mit ca. 45 M. für Neudruck des 10. Bogens. Hoffentlich gestattet ein recht flotter Absatz Ihres Buches bald die Ausgleichung dieser Posten. In größter Hochachtung ganz ergeben Duncker u. Humblot. Original: Hs.; BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 257, Bl. 31–31 R. 1 Darüber der Briefkopf: „Duncker & Humblot, Verlags-Buchhandlung in Leipzig. Dresdnerstrasse Nr. 28.“ 2 Nicht überliefert.

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Dilthey an Gustav von Schmoller

[560] Dilthey an Gustav von Schmoller [Mitte Mai 1882]1 Lieber Freund, Darf ich Ihnen und Ihrer verehrten Frau den Sohn meines Freundes, des Grafen York von Wartenburg auf Klein-Oels herzlich und angelegentlich empfehlen. Sie kennen ihn schon, wie ich höre aus Ihrem Seminar, an dem er neben der Vorlesung Theil nimmt. Sie werden ihn begabt, rasch im Urtheil und von vorzüglichem Gedächtniß, liebenswürdig von Charakter finden. Er ist der älteste Sohn und künftige Majoratsherr, wird indeß wol eine politische oder diplomatische Carriere einschlagen. Sie selber sollen nachträglich meinen herzlichen Glückwunsch erhalten, daß Sie nun an der Stelle sind, an welcher Sie Ihre große historische Arbeit vollenden können und für die korporativen und monarchischen Ideen, welche Sie vertreten und deren die Zeit so dringend bedarf, wirksam sein. Sie wissen ja, mit welchem Antheil ich die Angelegenheit Ihrer Berufung seit Jahren verfolgt habe.2 Für mich wäre wol jetzt in Bezug auf eine Wirksamkeit in Berlin in dem Sinne einer die religiösen und politischen Grundlagen Preußens von philosophischer Seite ernst vertretender Richtung die richtige Zeit, nachdem ich mit der Darstellung des erworbenen, auf die Totalität der Menschennatur und die Freiheit des Willens gegründeten Standpunktes so weit fertig bin daß bald der erste Band m[eines] Buches erscheint und der zuerst geschriebene zweite im Winter gedruckt werden wird. Doch habe ich wenig Glaube daran, daß etwas der Art geschehen wird. Denn der Minister kann ja nach Lage der Verhältnisse keine Vorstellung von dem haben, was ich etwa in Berlin leisten könnte, und so wird gewiß die Entscheidung zu Gunsten einer mehr naturwissenschaftlichen Richtung ausfallen. Zwar habe ich mich mit Naturwissenschaften lange und eingehend beschäftigt u. beabsichtigte längst auch eine Einleitung in das Studium der Naturwissenschaften zu lesen3; aber noch liegt ja nichts Gedrucktes von mir darüber vor. – Meinen Empfehlungen an Ihre verehrte Frau füge ich die ergebenste Bitte hinzu, daß dieselbe sich des Grafen Heinrich freundlich annehmen möge. In alter Gesinnung Ihr Dilthey

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Dilthey an Gustav von Schmoller

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Original: Hs.; GStA PK, VI. HA, FA u. NL, NL G. von Schmoller, Nr. 119, Bl.233-233 R. 1 2 3

Im Original: nachträgliche Datierung von fremder Hand: „Juni [18]82“. G. von Schmoller war soeben nach Berlin berufen worden. D. hat eine solche Vorlesung nie gehalten.

[561] Dilthey an Wilhelm Scherer [Mai 1882] Herzlichen Dank lieber Freund für Ihr treues freundschaftliches Interesse. Was könnte ich andres wünschen, als daß ein umsichtiger Fachcollege mit unbefangenem Sinne das von meinem Buch Gedruckte lese und daß sein Urtheil Geltung habe? Nie möchte ich gegen Zellers Wunsch, den ich in jeder Rücksicht hochschätze, sein College werden.1 Es sind freilich nur 13 Bogen eines Buchs, von dem etwa 50 geschrieben und mehrere Bogen noch zu schreiben sind2 (daher ich auch anders theilen mußte; es werden 2 Bände u. im Winter kommt sicher auch der Druck des zweiten zu Ende; so lange muß Schleiermacher warten). Aber das Vorhandene reicht aus, die Art, in der ich das Problem bearbeite zu beurtheilen. Höchst merkwürdig ist mir, daß nicht von Wundt in Leipz[ig]3 ernsthaft die Rede ist. Sollte wahr sein, daß Helmh[oltz] diesen nicht wolle? Und doch ist er von denen, welche von naturwissenschaftlicher Basis aus arbeiten, unter den Philosophen der einzige, der die Philosophie wahrhaft gefordert hat, während die anderen doch nicht wirklich in d[er] Nat[ur]wiss[enschaft] im eigenen Hause sind u. daher nur gruppiren. Etwaigen Vorschlägen die von Naturforschern ausgehen gegenüber empfielt sich vielleicht, dann auch diese Lage der Sache u. die den anderen gegenüber hervorragende Stellung Wundts zu präcisiren. Ich bemerke zum Überfluß: ich bin einer der pedantischsten u. regelrechtesten4 Docenten u. habe in einem halben Dutzend Jahren wol nicht ein Dutzend Stunden ausfallen lassen müssen. Dies weil man mit meiner Person immer die Vorstellung von Willkür verbindet: da ich nun einmal schlechterdings ein Romantiker sein soll. Sehr erfreuen mich die guten Nachrichten von Ihrer lieben Frau. Wir haben hier schwere Zeiten durchlebt; unsere Kleine hatte eine gefährliche Brustfellentzündung und erst jetzt beginnen wir wieder aufzuathmen. Da ist denn ein wunderbares Gefühl, wieder im sicheren Besitz des Kindes zu sein.

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Im übrigen arbeite ich nun schon seit anderthalb Jahren durchschnittlich 12 Stunden täglich mindestens an meiner schweren Aufgabe, denn auf mir lastet doch auch, daß der so weit geführte 2te B[an]d des Schleierm[acher] todt da liegt. Dies[en] Winter kommt aber gewiß das jetzige Buch im Druck zu Ende u. ich kann dann endlich me[ine] Verpflichtung gegen Schleierm[acher] Reimer u. Schl[eier]m[acher]s Familie ganz lösen. Und dann wird ja auch der Plan meines Lebens, für den leider das Leben zu kurz und meine Kraft zu gering ist, nach außen durch die Verbindung dieser Werke deutlicher hervortreten, und wenigstens was ich gewollt habe wird wirken. Nun leben Sie wohl u. genießen besser als wir zusammen diesen herrlichen Frühling. Grüßen Sie die Freunde, denen Sie etwa begegnen. Mit den treuesten Grüßen Ihr Dilthey Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 45; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 45. 1 R.H. Lotze, o. Prof. der Philosophie in Berlin, war am 1. Juli 1881 gestorben und die Neubesetzung seines Lehrstuhls stand bevor. 2 Der erste Band von D.s Einleitung in die Geisteswissenschaften erschien im Frühjahr 1883. 3 W. Wundt war seit 1875 o. Prof. in Leipzig. 4 Im Original wird irrtümlich wiederholt „der pedantischsten u. regelrechtesten“.

[562] Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [Mai 1882]1 Lieber Freund, Wir haben hier böse Zeiten gehabt. .|.|. Da ist denn alle Arbeit liegen geblieben. Die Bogen häufen sich uncorrigirt in dem Schrank. Gestern habe ich wieder zu arbeiten angefangen, langsam. .|.|. Übrigens aus Berlin nichts Neues.2 Dagegen schreibt mir Schwager Usener aus Bonn daß Eucken in Jena für Berlin ausersehen sei.3 Auch das sonderbarste was geschehen wird, soll mich nicht aus meiner Stimmung bringen, die allein von meinen Bogen abhängt. Aber die bringen mich aus der Stimmung und versetzen mich ihrer Unvollkommenheit wegen täglich in Desperation, wenn ich hineinsehe. Überall fühle ich daß Alles voreilig ist. Sehr lieb ist mir daß meine Frau im Grunde lieber hier bleibt als sonst wohin zu gehen.

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Wenn Sie – hoffentlich bald – kommen, finden Sie mich also, nachdem das passagere Interesse für den armseligen Berufungströdel vorüber ist, wieder blos mit meinen Bogen, dem was leider nicht drin steht etc. beschäftigt. Original: nicht überliefert; Erstdruck: BDY, Nr. 18. 1

Datierung in BDY: „[1882.]“. Am 25. Mai 1882 beriet die Berliner Fakultät erneut über die Wiederbesetzung des Lehrstuhls Lotzes. Kandidaten waren D. und Benno Erdmann (1851–1921), der seit 1879 o. Prof. in Kiel war. 3 R. Eucken war seit 1874 o. Prof. in Jena. 2

[563] Dilthey an Heinrich von Treitschke [Ende Mai 1882]1 Verehrtester Freund, wenn ich das was so von Gerüchten an mich herankommt, mit dem zusammen halte, was mir früher Dove über Ihre freundliche Meinung berichtete: so bedarf es keiner Combinationsgabe, zu wissen, welch lebhaften Dank ich Ihnen schulde.2 Und ich will nur eilen ihn auszusprechen: denn meine Sehergabe sagt mir, daß nach wenigen Tagen die Aussichten, die sich so plötzlich aufthaten zerronnen sein werden und ich wieder still zwischen Ultramontane und Fortschritt eingeklemmt, hier sitzen werde. Käme dem Minister der glückliche Gedanke, mich sehen zu wollen, wozu ja leicht und unverfänglich in der schwelenden Frage der hieß[igen] kathol[ischen] philosophischen Professur, die noch unbesetzt ist, Anlaß vorläge, als dann, so schmeichelt mir mein Selbstgefühl, würde das Bild dessen, was ich in Berl[in] sein könnte, wie es durch persönlichen Eindruck stets am einfachsten vermittelt wird, vielleicht ein anderes Ergebniß herbeiführen. So aber ist ja nichts, was in ihm etwa entgegenstehende Einflüsse ausgliche. Und so wird der Traum, so plötzlich wie er gekommen auch verschwinden. Von Erdmannsdörffer habe ich wieder einen trostlosen Brief.3 Die unseligen ‚Aktenstücke‘, von denen er immer wieder zum allerletzten Male einen Band macht, lasten nun auch, gerade in einer Zeit da er in der produktiven Arbeit allein Trost finden könnte, auf ihm.4 Ich wünsche Ihnen Glück, daß Sie in dieser letzten Campagne in einer Sache, in der selbst die Conservativen in einer von Kardorf 5 offen bekannten Wahlangst Bismark im Stiche ließen, neben ihm stehen konnten. Es wird ein

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Dilthey an Heinrich von Treitschke

Schandfleck für unsre Generation sein, daß die stenogr[aphischen] Berichte nach einer Rede Bismarks u nach dieser ‚Zischen‘ verzeichnen mußten. In treuer Gesinnung Ihr Dilthey Breslau Wallstr. 8. Original: Hs.; StB PK Berlin, HA, Treitschke-NL, K. 5, Nr. 129, 21–22 R. – Ein handschriftlicher Entwurf D.s zu diesem Brief, der aber von D. nicht in diesem Brief an Treitschke verwendet wurde, ist hinterlegt in: StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 k: „.|.|. Andrerseits ist seit ich hier bin keine Woche vergangen, in welcher ich nicht irgendwie mit den Schriften von Helmholtz beschäftigt gewesen wäre, und ernste physiolog[ische] u mathemat[ische] Studien haben mir ermöglicht, das Facit der mod[ernen] N[atur]w[issen]sch[aft], welches er mustergültig gezogen hat, in einer Weise in den allg[emeinen] erkenntnistheoretischen Z[u]s[ammen]h[an]g der auch die Geisteswelt umfaßt aufzunehmen, von welcher ich fest überzeugt bin daß sie seine Beistimmung finden würde, sodaß ich auch nach d[ie]s[er] Seite hin auf eine Bestärkung meiner Stellung durch einen so sehr dem meinigen überlegenen Geist würde rechnen können. .|.|.“ Diesen Briefentwurf hat D. auf die Rückseite des Briefes von Yorck vom 3. Juni 1882 geschrieben. K. Gründer hat das Fragment in seinem Buch „Zur Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg“, S. 53 (Anm.38), erstmals veröffentlicht. 1

Im Original: nachträgliche Datierung von fremder Hand „um 82“. Neben Scherer hatte sich vor allem Treitschke für die Berufung D.s nach Berlin eingesetzt. – Dove war derzeit (seit 1879) o. Prof. für Geschichte in Breslau. 3 Nicht überliefert. 4 Erdmannsdörffer, ein enger Freund Treitschkes und seit 1874 dessen Nachfolger in Heidelberg, arbeitete vermutlich an seinem Buch Politische Correspondenz Karl Friedrichs von Baden 1783–1806, das in 5 Bänden zwischen 1888 und 1901 in Heidelberg erschien. 5 Wilhelm von Kardorff (1828–1907): Politiker; einer der Führer der Freikonservativen Partei, Vertrauensmanns Bismarcks; 1868–1906 Mitglied des Reichstags. 2

[564] Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey Kl[ein] Oels 3/6 [18]82. Lieber Freund.1 Die schlesische Zeitung vom heutigen Datum2 erweist, daß ich Recht gehabt habe und ich beglückwünsche Sie und Ihre Frau, wenngleich nicht mich.

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Graf Paul Yorck von Wartenburg an Dilthey

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Seit 4 Tagen liegt Heinrich eines arg verstauchten Fußes wegen auf dem Sopha. Er ist von einem Pferd abgeworfen worden und dadurch zu jener Verletzung gekommen. Ich glaube nicht, daß er unter 8 Tagen reisefähig sein wird. Die zuerst recht heftigen Schmerzen haben nachgelassen. Hätten Sie die Güte mir von der Bibliothek holen zu lassen: Rhein[isches] Museum IX Jahrgang das Heft, in welchem pag. 241ff.3 Bunsen, Analect Ante-Nicaen. vol. III.4 Wenn Sie beide Sachen dem Buchhändler Scholtz zukommen ließen, würden sie mich am bequemsten u. sichersten erreichen. Mit den besten Grüßen von Haus zu Haus Ihr treu ergebener Yorck. Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 14 k, Erstdruck: Gründer, Brief Nr. 10, S. 262f. 1

Im Original: Darüber unleserliche Notizen von D.s Hand. Die Schlesische Zeitung vom Sonnabend, 3. Juni 1882, enthält folgende Notiz: „Die hiesige philosophische Fakultät hat beschlossen, für die Professur des verstorbenen Professors Lotze den Professor Dr. Dilthey (Breslau) in Vorschlag zu bringen.“ – Zunächst hatte 1881 die Berliner Fakultät Ch. Sigwart und K. Fischer als Nachfolger Lotzes vorgeschlagen. Nachdem erst K. Fischer, im März 1882 und dann Ch. Sigwart abgelehnt hatte, einigte sich die Fakultät am 25. Mai 1882 auf den Vorschlag der Kanditaten Benno Erdmann und D., die beide pari loco genannt waren. Am 26. Juni 1882 fiel die Entscheidung zugunsten D.s aus. – Erdmann wurde dann 1909 Nachfolger D.s. 3 J. Bernays: Neue Bruchstücke des Heraklit von Ephesus, in: Rheinisches Museum 9 (1854), S. 241–269; WA in: Ders.: Gesammelte Abhandlungen. Hg. von H. Usener. Band 1. Berlin 1885, S. 74–101. 4 Ch.K.J. Freiherr von Bunsen: Analecta Ante-Nicaena. Bd. III. London 1854, S. 305 ff.; Nr. 8: J. Bernays: Epistola critica (ad Bunsenium); WA in: Ders.: Gesammelte Abhandlungen, a. a. O., S. 291–326. 2

[565] Heinrich von Treitschke an Dilthey Berlin W. 26./6. [18]82. Lieber Dilthey, ich sehe nicht ein, warum Sie Sich sorgen. Ich habe von Haus aus nicht bezweifelt und glaube jetzt, nach einem Gespräche mit G[eheim] R[at] Greiff,1 ganz sicher, daß man Sie berufen wird. In der Fakultät ist es Keinem in den

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Heinrich von Treitschke an Dilthey

Sinn gekommen, Erdmann mit ihnen persönlich in eine Linie zu stellen; wir waren aber verpflichtet auf die Wünsche2 der naturwissenschaftlichen Fachmänner Rücksicht zu nehmen, da die erledigte Professur von Altersher immer durch Männer von überwiegend naturwissenschaftlicher Richtung besetzt worden ist. Im Ministerium wird man sich jedoch sicher sagen, daß Zeller die humanistische Seite der Philos[ophie] nur in seinen Vorlesungen über Gesch[ichte] der Phil[osophie] wirklich gut vertritt. Ich hoffe also, daß Alles in Ordnung kommt, und freue mich3 herzlich darauf. Nötigenfalls können Sie ja herüberkommen um mit dem Minister über die katholische Professur in Breslau zu sprechen; das wird jedenfalls mehr nützen als irgend eine Empfehlung von dritter Hand. Um den Neid der Götter nicht zu wecken will ich mich heute aller Glückwünsche enthalten und nur Ihrer Frau Gemahlin die Hoffnung baldigen Wiedersehens aussprechen. Mit bestem Gruß aufrichtig Ihr Treitschke Original: nicht überliefert; eine Abschrift des Briefes von fremder Hand sowie zwei in der Transkription und in der Rechtschreibung leicht davon und voneinander abweichende Typoskripte derselben sind hinterlegt in: StB PK Berlin, HA, Treitschke-NL, K 15, Nr. 26, 16–18. – Der Anfang des Briefes ist abgedruckt in: Berliner Geist. Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie bis 1946. Mit einem Ausblick auf die Gegenwart der Humboldt-Universität. Hg. von V. Gerhardt/ R. Mehring/ J. Rindert. Berlin 1999, S.146. 1 Johann Julius Edmund Greiff (1818–1894): 1882–1890 Ministerialdirektor im preuß. Kultusministerium. 2 In beiden Typoskripten: „berechtigten Wünsche“. 3 In einem der beiden Typoskripte: „und ich freue mich“.

[566] Dilthey an Wilhelm Scherer [Ende Juni 1882] Seit Wochen, lieber Scherer, spatzieren allerh[and] Nachr[ichten] um mich herum, Laas1 u. ich seien vorgeschlagen in B[e]rl[in] etc. Nun will aber das tückische Schicksal, daß eine solche Version durch die Zeitungen läuft und ich daher von Studenten u. Collegen viel leiden muß. Gestattet2 Ihnen die Discretion zu schreiben: es ist nichts dran: so bringt das wieder Ruhe in meine vier Wände.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

Ich bin bei Correktur von Bogen 22.3 Der zweite Band, der ja zuerst geschrieben wurde, geht auch in einzelnen Parthien voran u. ich darf hoffen, daß sein Druck künftigen Winter fertig gestellt werden kann. M[it] Bd I wäre ich fertig, aber Wochen habe ich an meiner Arbeit durch e[ine] lebensgefährl[iche] Rippenfellentzündung uns[erer] Kleinen nach d[en] Masern verloren; es geht wieder gut u. nichts ist zurückgeblieben. U. Ihre Frau hoffentlich auch wied[er] ganz in der alten heiteren Kraft. Grüßen Sie Grimms bestens. Treulichst Ihr Dilthey. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 44; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand mit zahlreichen Korrekturen ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 44. 1 2 3

E. Laas war seit 1872 Prof. in Straßburg. Im Original: „Gestatten“. Der Einleitung in die Geisteswissenschaften.

[567] Dilthey an Richard Schöne1 [vor 6. Juli 1882] Hochzuverehrender Herr Geheim-Rath, Diese Zeilen sollen die Sendung der vorhandenen Aushängebogen nur ankündigen, welche ich sogleich in Leipzig bestellt habe. Ich corrigire an Bogen 22, indeß mag der Druck noch weit zurück sein, jedenfalls hoffe ich zum Ende dieser Woche ein paar weitere Bogen im Druck fertig zu erhalten, wol bis gegen Bogen 20. Ich erlaube mir ein paar die Übersicht erleichternde Erläuterungen hier anzubringen. Diese ‚Einleitung in das Studium der Geisteswissenschaften‘ sucht eine Aufgabe zu lösen, welche durch die Lage der gegenwärtigen Wissenschaft gestellt ist, die metaphysische Grundlegung der Einzelwissenschaften durch eine Erkenntnißtheorie und ein auf sie gegründetes Studium der einzelnen Beziehungen der Wissenschaften zueinander sowie allgemeiner der Naturwissenschaften zu den Geisteswissenschaften zu ersetzen. Ich suche vermittelst dieser Methode zunächst die wirklichen Grundlagen der Geisteswissenschaf-

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Dilthey an Richard Schöne

ten festzustellen, indem ich mir die Behandlung derselben Aufgabe für die Naturwissenschaften in einer kürzeren Form als Ergänzung vorbehalte. Das erste Buch des ersten Bandes will, im Gegensatz gegen die heute herrschenden Construktionen aus der Schule von Comte und Mill, die wirkliche innere Struktur der Geisteswissenschaften erfassen, wie sie sich in den Einzeldisciplinen geschichtlich entwickelt hat; hieraus ergiebt sich ihm der Erweis der Nothwendigkeit einer allgemeinen Grundlegung. Das zweite Buch zeigt, daß die Metaphysik eine allgemein anzuerkennende Grundlegung der Einzelwissenschaften nicht mehr herzustellen vermag. Eine Wissenschaft von dem inneren allgemeinen objektiven Zusammenhang der Erscheinungen, wie sie die Metaphysik zu sein beansprucht, ist unmöglich. Ich weise aus der Lage der Einzelwissenschaften in Alterthum und Mittelalter nach, daß damals eine solche Wissenschaft entspringen und überzeugen mußte. Insbesondere zeige ich, von welcher Bedeutung hiefür der ältere Zustand der Astronomie gewesen ist. Ich versuche eine Art von geschichtlicher Description der Metaphysik. Und wenn Kants Kritik den Versuch einer Wissenschaft des inneren und allgemeinen Zusammenhang aller Phänomene übrig ließ, wenn nach ihm solche Versuche immer wieder gemacht worden sind: so versuche ich vermittelst dieser meiner historischen Description der Metaphysik die Unfruchtbarkeit eines jeden solchen Versuchs darzuthun. Alle metaphysischen Begriffe haben in Folge ihres Ursprungs die Eigenthümlichkeit, uns zwar durchaus verständlich, ja selbstverständlich zu erscheinen, jedoch vor dem Verstande sich dunkel und mehrdeutig zu erweisen; so Substanz, Causalität, Correspondenz von Denken und Sein etc. Jedes System dieser Begriffe enthält eine Reihe von unlösbaren Antinomien, und ich zeige aus der geschichtlichen Description der Metaphysik, wie die Zahl dieser Antinomien immer zunahm und wie ihre Unauflösbarkeit psychologisch bedingt ist. Endlich kann die transcendente Welt, weil sie nicht im Verstande, sondern in der Totalität unsres Seelenlebens gegeben ist, von dem Verstande weder erwiesen, noch widerlegt werden. Der zweite Band enthält den Aufbau der erkenntnißtheoretischen Grundlegung. Dieser besteht in einer Erkenntnißtheorie, welche im Gegensatz gegen die bisherigen Versuche auf Selbstbesinnung über das ganze Gebiet der Thatsachen des Bewußtseins gegründet ist, nicht auf einseitige Untersuchung der Intelligenz. Hieraus ergiebt sich ein von den bisherigen abweichender Versuch der Auflösung des alten Kreises zwischen Realismus und kritischem Idealismus. – Aus dieser erkenntnißtheoretischen Grundlegung ergiebt sich dann die Bestimmung des Verhältnisses Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften; die geistigen Thatsachen können dem Netz des denknothwendigen Zusammenhangs, welches die Naturwissenschaften feststellen, in einer

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ganz bestimmten Weise eingeordnet werden, ohne daß dadurch die relative Selbständigkeit der geistigen Welt, die wir ja so erkennen, wie sie wirklich ist, ohne daß die Freiheit des Willens dadurch beeinträchtigt wird. – Endlich wird dann Logik und Methodenlehre der Geisteswissenschaften entwickelt. So strebt diese Arbeit von der Erkenntnißtheorie aus einen besser fundirten Zusammenhang der einzelnen historischen und Gesellschaftswissenschaften anzubahnen und dieses Ganze zugleich in ein klares Verhältniß zu den Naturwissenschaften zu bringen. Der erste Band wird hoffentlich im August endlich fertig gedruckt sein u. dann sobald die Zeit buchhändlerisch günstig ist ausgegeben werden. Die Hauptsachen des zweiten sind der Natur der Sache nach vor dem ersten niedergeschrieben worden u. er soll im Winter druckfertig gemacht und gedruckt werden. Hier sei zu sagen gestattet, daß die lange mühselige Arbeit der zweiten Hälfte der Schleiermacherbiographie nicht abgeschlossen wurde, weil ich das Buch nicht mit einer Begründung meiner Kritik belasten durfte, die nun in dieser Publikation vorliegt. Und nun nehmen Sie schließlich meinen sehr tief gefühlten Dank für das freundliche Interesse, welches Ihre Zeilen2 zeigen, zumal hier meine philosophische Existenz zwischen zwei extremen Richtungen, von denen die katholische die mächtigere ist, anfängt, nicht behaglich zu sein, da ich an keiner Art von Partheileben mich zu betheiligen vermag u. es immer mit dem wahrhaft conservativen ‚Maße‘ meines unvergeßlichen Lehrers Trendelenburg gehalten habe, dessen Haltung mein Vorbild war und bleibt. Hier aber zehren Partheigegensätze die ruhige philosophische Wissenschaft auf. Diese ist im Stande, von der Selbstbesinnung aus eine edle Weltansicht, welche die erhaltenden Elemente des Lebens tiefer begründet, zu erweisen; aber mit dem Streit des Tages hat sie nichts zu thun. Hier beherscht dieser Streit alle Interessen. Möchten Sie an den Bogen einige Freude haben. Selbstverständlich ersuche ich, sich nicht mit einer Rücksendung bemühen zu wollen. In vorzüglichster Hochachtung und Verehrung Ihr ergebenster Wilhelm Dilthey Breslau. Wallstr. 8.

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Dilthey an Richard Schöne

Original: nicht auffindbar; eine maschinenschriftliche Abschrift des Briefes wurde der Dilthey-Forschungsstelle vor ca. 30 Jahren von den damaligen Besitzer des Briefes, Prof. Dr. Ernst Zinn († 1990), Tübingen, zur Verfügung gestellt. Trotz intensiver Recherchen konnte nicht ermittelt werden, wo das Brieforiginal verblieben ist. 1 R. Schöne war von Mai bis Oktober 1882 Leiter der Hochschulabteilung im Kultusministerium. – Vgl. zu diesem Brief die Erläuterungen zur „Einleitung“. Aus den Konzepten zum sogenannten „Althoff-Brief“, in: GS XIX, S. 389–392 und die editorische Anmerkung ebd., S. 453. – Der in GS XIX abgedruckte Brief, der mit dem vorliegenden Brief an R. Schöne keine Übereinstimmungen aufweist, wurde wahrscheinlich nicht, wie in GS XIX datiert, „Mitte 1882“ von D. verfasst, sondern erst im Spätherbst 1882. Der Vergleich der Inhalte beider Briefe lässt erkennen, dass der sogenannte Althoff-Brief später von D. geschrieben wurde, denn er thematisiert zum Beispiel das 3. und 4. Buch der Einleitung, wovon in dem Brief an R. Schöne noch gar nicht die Rede ist. Da Friedrich Theodor Althoff (1839–1908), zuvor als Justitiar und Referent für Kirchenund Schulsachen an der Universität Straßburg tätig, erst seit dem 10. Oktober 1882 Geheimer Regierung- und Vortragender Rat und Personaldezernent für die Universitäten im Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten war, handelt es sich bei dem AlthoffBrief vermutlich tatsächlich um den Entwurf eines Briefes an F. Althoff und nicht, wie in GS XIX vermutet, um einen Brief an R. Schöne. 2 Der vorausgegangene Brief R. Schönes ist nicht überliefert.

[568] Dilthey an Richard Schöne Hochverehrter Herr Geheim-Rath, indem ich beifolgende Aushängebogen übersende, erlaube ich mir die Bemerkung hinzuzufügen, daß in den nächsten Tagen die Bogen 16–20 wenn nicht im Druck doch in einer den Aushängebogen conformen letzten Revision, falls die Druckerei den Druck selber noch aussetzt, in Ihre Hände gelangen werden. Mit meinem erneuten ergebensten Dank für Ihr gütiges Interesse in größter Hochachtung und Verehrung W. Dilthey Breslau d[en] 6. Juli 1882 Wallstr. 8 Original: nicht auffindbar; ehemals im Besitz von Prof. Dr. Ernst Zinn († 1990), Tübingen. Der vorliegende Abdruck gibt eine maschinenschriftliche Abschrift des Briefes, angefertigt von E. Zinn, wieder.

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Richard Schöne an Dilthey

[569] Richard Schöne an Dilthey An Professor Dilthey Breslau Wallstraße 8 Vertraulich

10 Juli [18]82

Sie werden ohne Zweifel bereits davon unterrichtet sein, daß sie dem H[errn] M[inister]1 für die durch Lotzes Tod erledigte Professur in der hies[igen] philos[ophischen] Fac[ultät] in Vorschlag gebracht worden sind. Der Herr Min[ister] ist geneigt, diesem Vorschlag folge zu geben, und hat mich beauftragt zunächst vertraulich bei Ihnen anzufragen, ob Sie den Ruf anzunehmen bereit sein würden. Es würde darauf gerechnet, daß Sie hier zum 1 Oct[ober] einträten. Was die äußeren Bedingungen betrifft, so wäre der Herr M[inister] nicht in der Lage, Ihnen augenblicklich ein höheres Gehalt anzubieten als dasjenige welches Sie in Br[eslau] beziehen. Er würde gern in der folge, sobald die Verhältnisse es gestatten sich angelegen sein lassen Ihre äußere Lage zu verbessern; er gibt sich aber der Hoffnung hin, daß wenn die Umstände ihm verbieten dies jetzt zu thun, dies für Sie nicht der Grund zu einer Ablehnung würde, die er sehr bedauern müßte. Was den Anfang Ihrer hiesigen Thätigkeit betrifft, so will ich nicht unterlassen zu erwähnen daß die Facultät den ausdrücklichen u. durch den Umfang des hiesigen Bedürfnisses sehr wohl begründeten Wunsch ausgesprochen hat, es möchte der in die Professur zu Berufende hier regelmäßig zwei Privatvorlesungen halten. Da Sie dies auch in Breslau schon wenn nicht regelmäßig, so doch öfter gethan haben, so dürften wir wohl auf Ihre Bereitwilligkeit rechnen dem Wunsch der Facultät zu entsprechen. Für die freundliche Übersendung der Aushängeb[ogen] Ihrer Einl[eitung] in die Geisteswissenschaften sage ich Ihnen den herzlichsten Dank; ich habe mit dem größten Interesse mich damit beschäftigt und nicht ermangelt, sie auch dem Herrn Minister vorzulegen. Da ich in wenigen Tagen Berlin verlasse, so bitte ich ergebenst daß Sie so freundlich sind, Ihre Antwort auf meine vorstehenden Fragen an Herrn Min[isterial] Dir[ector] Greiff [.|.|.] in der Bahnstraße 72 zu richten. In der Hoffnung daß diese Antwort eine zusagende sei u. wir die Freude haben Sie für Berlin zu gewinnen mit vorzügl[icher] Hochachtung Ihr ergebener S[chöne]2

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Richard Schöne an Dilthey

Original: nicht überliefert; eine handschriftliche Abschrift des Briefes von fremder Hand ist hinterlegt in: GStA PK, I. HA, Rep. 76 V a. Sekt. 2 Tit. IV. Nr. 47, Bd.18, Bl.180–180 R. 1

Gustav von Goßler (1838–1902): preuß. Kultusminister von 1881–1891. Darunter „ges[ehen] Bonitz 26/6“. – Herrman Bonitz (1814–1888): Philologe, Pädagoge; 1849 Prof. für klass. Philologie in Wien, seit 1875 Geheimer Rat und Vortragender Rat im Kultusministerium. 2

[570] Dilthey an Gustav von Schmoller [12. Juli 1882] Vielen und herzlichsten Dank, verehrtester Freund, für Ihr Interesse und dessen wirksame Bethätigung. Aber nun müssen Sie erfahren, daß das Consequenzen hat. Die Sache ist einen weiteren, den letzten Schritt vorangerückt u. ich erbitte mir für diesen letzten Akt des kleinen Drama abermals Ihren Rath. Ich habe aus dem Ministerium eine vertrauliche Anfrage erhalten, ob ich zu kommen geneigt sei. Aber unter Bedingungen, welche einen günstigen Verlauf der Sache sehr unwahrscheinlich zu machen scheinen. Der Minister könne mir vorläufig nur meinen hießigen Gehalt, 2000 Thaler, anbieten, ‚werde aber, sobald es die äußeren Verhältnisse gestatten, sich angelegen sein lassen, meine Lage zu verbessern‘. Ich gestehe, daß mich das einigermaßen verletzt. Ich will nicht von den anderen Gehalten, auch an mittleren Universitäten reden wie sie Personen, auf die man auch nur einiges Gewicht legt reden. Aber hießige Collegen, welche in ihrem Leben nie einen anderen Ruf hatten noch verdienten, als von einer kleinen Universität hierher, haben einen höheren Gehalt oder stehen sich durch eine Dienstwohnung besser. Und wie steht es in Bonn, wo ich auch die Verhältnisse kenne! Als ich in Würzburg einen sehr hohen Gehalt (erheblich höher als 2000 Thaler) ablehnte,1 gab man mir (es war der 4te Ruf in wenigen Jahren) hier 2000 Thaler, schon damals mit der mündlichen Erklärung von Geh[eim] Rath Olshausen, es sei im Augenblick nicht mehr zu thun möglich. Seitdem war ich wieder an erster Stelle v[on] der Univ[ersität] Wien, ebenso an einer anderen beträchtlichen Univ[ersität] vorgeschlagen; an dem Einen Ort war ich der Regierung zu protestantisch, an dem anderen wählte man lieber einen Landesangehörigen. Nie habe ich in Breslau mich wegen m[eines] Gehaltes gerührt, während um mich die Gehalte wuchsen. Und nun tritt die Anforderung an mich heran, wieder mit demselben Gehalt in eine definitive Stellung wie Berlin zu gehen. Kränken muß mich doch, wenn man so mit mir verfährt.

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Dilthey an Gustav von Schmoller

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Sehe ich dann die Sache in Bezug auf die Möglichkeit in Berlin zu leben an, so ist für die Berliner Verhältnisse ein Geh[alt] von 2000 Thalern doch ein unausreichender Rückhalt, wenn man nicht durch sein Privatvermögen sichergestellt ist. Hierbei ist besonders zu erwägen. Ich habe nicht die Absicht, durch Zu[satz]collegia [?] Geld zu machen. Die Geschichte der Philosophie ist in Berlin durch Zeller in vorzüglichster Weise vertreten, und ich denke nicht daran, eine für die Univers[ität] u. die Studirenden unersprießliche mit ihm sich deckende Thätigkeit üben zu wollen. Ich will gerade neben den zwei allein Geldertrag abwerfenden systemat[ischen] Vorles[ungen]: Logik u. Psychologie eine möglichst allseitige Vertretung der systematischen Fächer durchsetzen. Dies wird schon zwei Privatvorles[ungen] in jedem Semester erfordern. Aber der pecuniäre Ertrag solcher von der Heerstraße abseits liegenden Vorlesungen ist unsicher u. nicht erheblich. Daß ich mich nun in Berlin, die dortigen Preise erwogen, geradezu erheblich verschlechtere, kann doch nicht in der Absicht des Ministeriums liegen. Ich werde, wenn ich mir die Sache gehörig überlegt habe, an H[errn] Ministerialdirektor Greiff, welcher (Schöne verreist) mit der Verhandlung beauftragt ist, schreiben u. dann im Verlauf der Sache wol selbst einen Tag nach Berlin kommen. Wie rathen Sie mir nun, mich zunächst in meinem Brief zu verhalten? Und wenn Sie Ministerialdir[ektor] Greiff sehen, halten Sie für zweckmäßig, vorbereitend klar zu machen, daß ja doch unter solchen Bedingungen die Sache sich zerschlagen muß? Die Anfrage Schöne’s ist allerdings vertraulich, das kann doch nicht so gemeint sein, daß ich ohne alle meinerseits vertrauliche Erörterung mit orientirten Freunden mich entscheiden soll. Es scheint also ausreichend daß Sie Ihrerseits, worum ich ausdrücklich bitte, über die Sache im übrigen gänzlich schweigen; Greiff gegenüber aber kann es nicht verletzen, daß ich Sie zu Rathe gezogen habe, da doch wirklich in der Sache guter Rath theuer ist. Wie mich die Aussicht freut, mit Ihnen an Einem Orte zu lesen, können Sie sich denken. Mögen die mir kaum auflösbar scheinenden Schwierigkeiten die Sache sich aplaniren lassen. Können wir Ihrer verehrten Frau nichts hier, als gute Nachbarn, sein? In herzlicher Ergebenheit Ihr Dilthey Nochmals – eigentlich selbstverständlich – daß ich nur in erster Linie Ihren Rath erbitte, und nur wenn Sie eine Vorbereitung in dem angedeuteten Sinn Ihrerseits ganz zweckmäßig u. unverfänglich [?] finden u. die Gelegenheit sie giebt, eine solche Ihnen anheimstelle.

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Dilthey an Gustav von Schmoller

Original: Hs.; GStA PK, VI. HA, FA u. NL, NL G. von Schmoller, Nr. 119, Bl.226–228. 1 D. war im Februar 1871 eine Professur in Würzburg in Aussicht gestellt worden (vgl. den Brief D.s an Usener vom 15. 2. 1871).

[571] Dilthey an Wilhelm Scherer [12. Juli 1882] Mein lieber Freund, gestern erhielt ich eine vertrauliche Anfrage (durch Schöne) im Auftrag des Ministers, ob ich nach Berlin zu gehen geneigt sei. Aber es ist mir sehr fraglich, ob eine Verständigung zu erzielen sein wird. Schö[ne] schreibt: der Minister könne mir gegenwärtig nur 2000 Thaler, meinen hießigen Gehalt, in Aussicht stellen, werde aber ‚sobald die äußeren Verhältnisse gestatten, sich angelegen sein lassen, meine Lage zu verbessern‘. Sie werden mit mir empfinden, daß mich dies verletzt hat. Schon hier wäre es billig gewesen, meine Lage zu verbessern. Als ich ein Würzburger Angebot, das 2000 Thaler überstieg, ablehnte sprach mir damals Olshausen mündlich aus, im Augenblick sei nicht mehr zu thun möglich. Um mich her stiegen alle Gehalte. Ich war zu stolz, auch nur ein Wort zu verlieren. Und nun erhalte ich den Vorschlag, immer mit demselben Gehalt nach Berlin zu gehen. Ich soll mich, die Preisverhältnisse erwogen, nun schließlich geradezu verschlechtern. Was rathen Sie mir nun zu thun? Gewiß werde ich in Berlin persönlich die Sache so oder so zu erledigen suchen müssen, aber ich bin so ungeschickt, Geldforderungen geltend zu machen, daß ich nicht glaube, dies werde gut verlaufen. Hierzu kommt, ich bin so unorientirt über Angelegenheiten dieser Art. Können Sie mir nun zu meiner Orientirung f[olgende] Fragen beantworten? 1. Wie sind die Gehalte der zuletzt in der philos[ophischen] Fakultät angestellten? 2. haben Sie nach dem eben Mitgetheilten den Eindruck daß man mich in Berlin ernsthaft will? 3. wissen Sie was man K[uno] F[ischer] u. Sigw[art] geboten hat 4. Können Sie sich eine Vorstellung bilden, was etwa als das Gerechte und auch vom Ministerium so Anzusehende zu betrachten wäre? Etwas Anderes will ich ja doch nicht. Endlich kommt in Frage, in welcher Beziehung zur Zeit in Berlin die Prof[essoren] der Philos[ophie] zur Prüfungscommission stehen.

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Dilthey an Wilhelm Scherer

Ich schreibe an Minist[erial]direktor Greiff, welchem (nach Schönes Abreise) die Verhandlung zugewiesen ist, natürlich keine Zeile, bevor ich Ihre Äußerung u. Ihren Rath vernommen habe. Natürlich bitte ich Sie, da die Anfrage streng als vertraulich bezeichnet ist, gegenüber Niemanden über dieselbe zu sprechen, ausgenommen natürlich, wenn Sie glauben, daß es Grimm interessiren wird, vom Stand der Sache Kenntniß zu nehmen, nur daß Sie dann von ihm Stillschweigen ebenfalls ausdrücklich erbitten. Soviel heute eiligst, muß in die Vorlesungen. Danken Sie Frau Duncker einstweilen schönstens für ihre lieben Zeile1 u. empfehlen Sie uns beide Ihrer Frau. Treulichst Ihr Dilthey Wallstraße 8. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 47; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 47. 1

Nicht überliefert.

[572] Dilthey an Johann Julius Edmund Greiff Breslau. Wall-Straße 8 15 Juli [18]82 Hochzuverehrender Herr Ministerialdirektor,1 Herr Geheime Rath Schöne hat im Auftrag s[einer] Excellenz des Herrn Ministers die Anfrage an mich gerichtet, ob ich die durch Lotze’s Tod erledigte Professur in Berlin zu übernehmen geneigt sei, und mich aufgefordert, die Antwort an Sie zu richten. Das Vertrauen, welches der Herr Minister in mich setzt, ist für mich sehr ehrenvoll und ich würde suchen, demselben nach Kräften durch eine eingreifende Wirksamkeit zu entsprechen. Aber so weit ich zunächst von hier aus die dortigen Lebensverhältnisse zu übersehen im Stande bin, würde ich mit dem für den Anfang meiner dortigen Thätigkeit in Aussicht genommenen

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Dilthey an Johann Julius Edmund Greiff

Gehalt, demselben, welchen ich hier beziehe, kaum in angemessener Weise zu leben im Stande sein. Wofern sich nun überhaupt diese Schwierigkeit heben läßt, möchte bei der Eiligkeit der Sache, da der Eintritt zum 1 October vorgesehen ist, eine persönliche Besprechung die einzige Möglichkeit darbieten. Ich werde mir daher erlauben, Ihnen in Berlin persönlich aufzuwarten und in dieser für mich so kritischen Lage ist mir das gütige Wohlwollen, dessen ich mich stets von Ihrer Seite zu erfreuen hatte eine große Beruhigung. Ich bitte zugleich, s[einer] Excellenz dem2 Herrn Minister dann meine Aufwartung machen zu dürfen, wozu auch ein anderer Grund vorliegt, und würde daher sehr dankbar sein, wollten Sie mir durch die Bureaux den Tag mittheilen lassen, an welchem diese Zwecke am schicklichsten erreicht werden könnten. Sollte s[eine] Excellenz in naher Zeit verreisen, so dürfte wol eine telegraphische Bestimmung noch die Sache ermöglichen. In dankbarster Verehrung Wilhelm Dilthey Original: Hs.; GStA PK, I. HA, Rep. 76 V a. Sekt. 2. Tit.IV. Nr. 47, Bd.18, Bl.181–182 R. 1

Darüber von der Hand des Empfängers: „Nach Rücksprache mit S[einer] Exc[ellenz] dem H[errn] Geh[eimrat] an H[errn] Dilthey telegraphirt er möge morgen oder übermorgen hierher kommen. Gr[eiff] 17/7“. – Am oberen rechten Rand die Notiz vom Empfänger: „pr[üfen] 16/7 [18]82 Gr[eiff]“. 2 Im Original: „den“.

[573] Dilthey an Wilhelm Scherer [Breslau, 15. Juli 1882] Besten Dank, lieber Freund, soeben in diesem Sinne1 an Greiff geschrieben u. gebeten, mir einen Tag zu bestimmen, an welchem ich auch den Minister sprechen kann. Denn das wird die Hauptsache sein, daß ich diesen selber sprechen kann. Hoffnung auf günst[ige] Erledigung habe ich wenig. An Zeller habe ich selber heute geschrieben, da mir Bedürfniß war und schicklich schien, nun ihm ein Wort zu sagen. Die Sachlage habe ich Zeller dargelegt, sodaß wenn er Neigung hat er für ein Eingreifen unterrichtet ist. So steht dem auch natürlich nichts im Wege,

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Dilthey an Wilhelm Scherer

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daß Sie mit ihm sprechen. Das ‚Vertraulich‘ hat doch auch seine Gränzen, wenn man sich über so was entscheiden soll. Also auf baldiges Wiedersehn. Treulichst Ihr Dilthey D[er] Brief an Z[eller] wird an diesen wol etwas später kommen, da ich s[eine] Adresse nicht wußte. Original: Hs.; BBAW, Scherer-NL, Nr. 331, 48; ein handschriftliches Transkript von fremder Hand ist hinterlegt in: BBAW, Dilthey-NL, Fasz. 261, 48. 1

Der offenbar von Scherer an D. vorausgegangene Brief ist nicht erhalten.

[574] Dilthey an Eduard Zeller Hochverehrter Herr Geheimer Rath, In diesen Tagen habe ich eine Anfrage erhalten, ob ich geneigt sei, nach Berlin zu gehen. Dieselbe ist allerdings als vertraulich bezeichnet. Indessen wird Schweigen Ihnen gegenüber, der Sie so nahe bei der Sache betheiligt sind und einen so großen Antheil an ihrem Verlauf haben, gewiß nicht inbegriffen sein. Von Zeit zu Zeit ist in den letzten Monaten über Ihre freundliche Gesinnung gegen mich, Ihr wohlwollendes Urtheil und Interesse an meinen Arbeiten Andeutung zu mir gelangt.1 Sie können wol nicht denken, welche Freude für mich darin gelegen hat, da ich nach meiner hierin zu spröden Art stets vermieden habe, die außerordentliche Verehrung, die ich für Sie hege, ja einen Zug des Herzens, der in die gemeinsame süddeutsche Heimath zurückreicht auszusprechen. Schien es mir bis jetzt nicht schicklich, dies Ihnen zu sagen, so darf ich jetzt einem inneren Bedürfniß folgen. Gern gedenke ich dabei zweier Begegnungen, deren erste Sie gewiß vergessen haben: ich kam als junger Dr zu der Heidelberger Philologenversammlung: dann bin ich ja einmal mit Ihnen auf dem Heidelberger Schloß gewesen. Ich wüßte Niemanden, mit welchem ich so zutrauensvoll und gern zusammenwirken würde, als mit Ihnen; nur mit Sigwart wäre dies auch noch in derselben Art der Fall, den ich auch nur einmal flüchtig gesehen, mit dem mich aber freundschaftlicher wissenschaftlicher Briefwechsel verbindet.

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Dilthey an Eduard Zeller

Wie nun die Sache laufen werde u. ob sie zu einem solchen Zusammenwirken führe, kann ich nicht absehen, ja es will mir scheinen, als wäre wenig Aussicht dazu. Herr Geh[eim]r[ath] Schöne schrieb mir: ‚was die äußeren Bedingungen betrifft, so wäre der Herr Minister nicht in der Lage, Ihnen augenblicklich ein höheres Gehalt anzubieten als dasjenige, welches Sie in Breslau beziehen. Er würde gern in der Folge, sobald die Verhältnisse es gestatten, sich angelegen sein lassen, Ihre äußere Lage zu verbessern; er giebt sich aber der Hoffnung hin, daß wenn die Umstände ihm verbieten, dies für jetzt zu thun, dies für Sie nicht der Grund für eine Ablehnung werde, die er sehr bedauern müßte.‘ Ich meinerseits kann unmöglich mit einem Gehalt nach Berlin gehen, welches ich vor etwa 7 Jahren erhielt, als ich einen Ruf nach Würzburg mit erheblich höherem Gehalt ablehnte, um in Preußen zu bleiben. Damals bedauerte Geh[eim]r[ath] Olshausen, mir zur Zeit nicht mehr geben zu können. Ich habe mich, während um mich ohne alle Berufungen die Gehalte wuchsen nie mit einem Worte geregt. Aber es hat doch etwas Verletzendes für mich, daß ich nun dies Gehalt weiter nach Berlin schleppen soll. Wahrscheinlich ist auf die Collegiengelder gerechnet. Aber vor Allem muß doch die Wirksamkeit frei von pecuniären Rücksichten sein. Soviel ich sehe, würde es sich doch um Ausbreitung der Vorlesungen über das systematische Gebiet, auch in Gegenstände, die sonst nicht gelesen werden, handeln, um selbstthätige speciellere Studien anzuregen. Dies würde sich auch in 2 Privatvorlesungen per sem[ester] leisten lassen, wenn ich dem so nachgehen kann. Und wie sollte ich neben Ihnen Geschichte der Philosophie lesen wollen! Schränke ich so mein Gebiet ein, setze ich mir die Aufgabe, die man ja in Berlin sich setzen kann, auch Specialvorlesungen systematischer Art zu lesen: alsdann wird auch der Ertrag von 4 jährlichen Privatvorlesungen nicht anstatt des Gehalts eine sichere Grundlage darbieten könne[n], welche meiner jetzigen Existenz an einem so billigen Ort wie Breslau gleich käme. Ich habe nun nicht abgelehnt, aber habe wenig Hoffnung, daß eine Verständigung erreichbar sein werde. An Geh[eim] R[ath] M[inisterial]d[irektor] Greiff, an den ich meine Antwort schreiben sollte, habe ich soeben geschrieben, ich würde nach Berlin kommen zur persönlichen Besprechung. Diesen Versuch will ich machen. Ich habe gebeten mir einen Tag zu bestimmen, an welchem ich dann auch den Herrn Minister sprechen könne. So werde ich denn wol in Bälde nach Berlin zu dieser Besprechung kommen u. dann erlaube ich mir natürlich, Sie aufzusuchen. Ich bin so wenig für Verhandlungen über Geld geschickt – mein Geld liefere ich meiner Frau augenblicklich aus u. bin froh, dann nichts weiter über Geldsachen hören zu

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Dilthey an Eduard Zeller

müssen – daß die Seite wie ein Berg vor mir steht u. ich wenig Hoffnung auf zu Stande kommen der Verhandlung an sie knüpfe. Ist mir irgend möglich so suche ich Sie vorher noch zu sprechen, Ihren Rath zu vernehmen. Wie aber auch dies Alles verlaufe, Ihre Gesinnung gegen mich in dieser Sache wird mir stets ein unschätzbares angenehmes Bewußtsein sein. Die Beziehung zu Ihnen werde ich immer festhalten dürfen. In dankbarer Verehrung Wilhelm Dilthey Breslau. Wall-Straße 8. d[en] 15 Juli [18]82. Original: Hs.; UB Tübingen, Zeller-NL, Md 747–145. 1 Als am 25. Mai 1882 die Mitglieder der Berliner philosophischen Fakultät über die Wiederbesetzung des durch den Tod Lotzes vakant gewordenen Lehrstuhls berieten, votierte Zeller nicht für D., sondern für seinen Schüler Benno Erdmann, während Scherer sich für D. einsetzte (vgl. hierzu V. Gerhardt/R. Mehring/J. Rindert: Berliner Geist. Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie bis 1946. Berlin 1999, S. 145 f.).

[575] Dilthey an Eduard Zeller [Breslau, 17. Juli 1882]1 Hochverehrter Herr Geheimer Rath, Nach einer eben erhaltenen Depesche des Herrn Minist[erial]direktor Greiff gedenke ich diese Nacht zu reisen und werde mir erlauben, Morgen, Dienstag, gegen 11 Uhr Sie aufzusuchen. In Verehrung und Ergebenheit d[er] Ihrige W. Dilthey Original: Hs.; UB Tübingen, Zeller-NL, Md 747–145. 1

Der 17. Juli 1882 war ein Montag.

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Dilthey an Gustav von Goßler

[576] Dilthey an Gustav von Goßler den 19ten Juli 1882 Berlin.1 Ew. Excellenz2 haben mir für die Professur für Philosophie, für welche Sie hier mich geneigtest in Aussicht genommen haben, ein Gehalt von 7200 Mark nebst den hießigen Wohnungsgeldzuschuß anzubieten die Güte gehabt. Ich bin bereit, mit diesem Gehalte zum 1 October l[aufenden] J[ahres] in diese Stellung einzutreten. Ich spreche im Anschluß an die mir gewährte Unterredung den gehorsamsten Wunsch aus, mein Gehalt, wenn irgend möglich, mein Gehalt schon im nächsten Etatsjahr auf den Betrag von 8400 Mark zu erhöhen. Außerdem hoffe ich, daß wie ich der Prüfungscommission für das höhere Lehrfach in Breslau angehört habe, Ew. Excellenz mich zu künftigen Ostern auch zum Mitglied der Berliner Prüfungscommission zu ernennen die Gewogenheit haben werden. Daß mir die gesetzlichen Umzugskosten und ev[entuell] Miethsentschädigung zustehen, ist mir bekannt. Ew. Excellenz gehorsamst ergebener Wilh[elm] Dilthey Original: Hs.; GStA PK, I. HA, Rep. 76 V a. Sekt. 2. Tit.IV. Nr. 47, Bd.18, Bl.170–170 R. 1 Darunter: Eingangsstempel und die Nr. „U. I. 2088 20“ sowie eine handschriftliche Notiz von Greiff. 2 Am linken Rand von der Hand Greiffs: „Sofort! Herrn Schulze (noch heute) 1. Prof. Dilthey wird zum 1. Oktober von der Univ[ersität] in Breslau nach der hiesigen versetzt. Gehalt 7 200 M und der gesetzmäßige Wohnungszuschuß. Er möge Umzugskosten und event[uell] Miethsentschädigung s[einer] Z[eit] liquidieren. Es würde erwartet, daß er seiner Zusage gemäß regelmäßig zwei Privatvorlesungen halten werde. Auf die von ihm gewünschte Erhöhung seines Gehalts werde S[eine] Excellenz, so weit es die Verhältnisse möglich machen, Bedacht nehmen. (Auch hoffe S[eine] Excellenz, daß die Umstände es gestatten werden, ihn schon im nächsten Jahr zum Mitglied der Prüfungskommission für das höhere Lehrfach hier zu ernennen.) 2. Nachricht der hiesigen philosophischen Fakultät 3. dies[elbe] dem Universitätskuratorium hier. 4. dies[elbe] der Universität in Breslau zur Mittheilung an die dortige philos[ophische] Fakultät mit der Aufforderung zu Vorschlägen zum Ersatz für Dilthey. 5 Gehaltsanweisung 6. Abschrift [.|.|.] zu den Akten U. II betr[effende] Prüfungskommission für das höhere Lehrfach. Gr[eiff] 20/7“.

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Dilthey an Johann Eduard Erdmann

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[577] Dilthey an Johann Eduard Erdmann1 [Breslau, 20. Juli 1882] Hochverehrter Herr College, Es freut mich, daß Ihre freundlichen Zeilen2 eine Beziehung zwischen uns herstellen, welche mir längst lebhaftes Vergnügen gemacht haben würde, u. die hoffentlich nicht uns wieder verloren gehen wird. Allerdings hat sich mein Entschluß nun gestern – u. zwar in Berlin selber – entschieden: ich habe angenommen. Sie können nun denken, daß weiterliegende Fragen bisher noch keinen Moment von mir erwogen worden sind. Dazu fällt ja naturgemäß meinem lieben zurückbleibenden Collegen nach m[einer] Art zu denken die Hauptstimme zu: wie ich denn überhaupt Verantwortlichkeit solcher Art thunlichst auf das ganz Pflichtmäßge einschränke. Herrn Prof. [.|.|.] Arbeiten habe ich seit s[einem] ersten Auftreten mit lebhaftem Antheil begleitet, u. schätze ihn sehr. Und wenn ich ihm einen Lehrstuhl wünsche: so wünsche ich ihm den Ihrigen noch lange lange nicht. Wer noch vor nicht zu lange ein solches Buch schreiben konnte wie Ihre allg[emeine] Gesch[ichte] d. Philosophie3 ist: der darf noch lange hinaus nicht von einem Testament reden. Ich meinerseits werde also gewiß die Möglichkeit von der Sie sprechen im Auge behalten.4 In herzlicher Verehrung der Ihre Dilthey Original: Hs.; ULB Sachsen-Anhalt, Halle, J. E. Erdmann-NL, Yi 4 I, 593. 1

Johann Eduard Erdmann (1805–1896): Philosoph und Philosophiehistoriker, Vertreter einer „spekulativen Theologie“ im Anschluss an Hegel; seit 1836 o. Prof. in Halle. 2 Der Brief Erdmanns an D. ist nicht überliefert. 3 J.E. Erdmann: Grundriß der Geschichte der Philosophie. 2 Bde. Berlin 1866 und 1870. 4 J.E. Erdmann wünschte D. offensichtlich zu seinem Nachfolger in Halle.

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Dilthey an Richard Schöne

[578] Dilthey an Richard Schöne Hochverehrter Herr Geheim-Rath, Gestern bin ich von Berlin hierher zurückgekehrt, und es ist mir Bedürfniß, Ihnen meinen tiefgefühlten Dank für das Interesse auszusprechen, welches Sie der Angelegenheit meiner Berufung zugewandt haben. Nicht ohne inneren Kampf habe ich mich zur Annahme entschlossen, da meine materielle Lage zumal für den Anfang mir die so schwierige Aufgabe, welcher ich entgegengehe, keineswegs erleichtern wird. Aber die herrliche Persönlichkeit Zellers, welchen ich in diesen Tagen zuerst nach flüchtigem früherem Begegnen kennenlernte, mußte mir den Schritt gar sehr erleichtern. Es ist schön, daß ich auch Ihnen hierdurch nun in eine größere Nähe gerückt bin. Nehmen Sie nochmals den Ausdruck meines ergebensten Dankes. In Verehrung Wilhelm Dilthey Breslau d[en] 21 Juli [18]82. Original: nicht auffindbar; ehemals im Besitz von Prof. Dr. Ernst Zinn (†1990), Tübingen. Der vorliegende Abdruck gibt eine maschinenschriftliche Abschrift des Briefes, angefertigt von E. Zinn, wieder.

[579] Gustav von Goßler an Dilthey Berlin, den 22. Juli 1882 An den Königlichen ordentlichen Professor Herrn Dr. Dilthey Hochwohlgeboren zu Breslau. Ew. Hochwohlgeboren versetze ich hiermit unter Bezugnahme auf die mit Ihnen gepflogenen Verhandlungen vom 1. October d[es] J[ahre]s ab in die philosophische Fakultät der Königlichen Universität hierselbst und verleihe Ihnen in derselben die durch den Tod des Professors Dr. Lotze erledigte ordentliche Professur der Philosophie.

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Gustav von Goßler an Dilthey

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Ihr neues Lehramt wollen Sie mit dem Beginn des bevorstehenden Wintersemesters übernehmen und das Verzeichniß der in demselben von Ihnen beabsichtigten Vorlesungen an den Dekan der philosophischen Fakultät Herrn Professor Dr. Schmidt, schleunigst einsenden. Ich setze hierbei voraus, daß Sie Ihrer mündlichen Zusage gemäß regelmäßig zwei Privatvorlesungen halten werden. An Stelle Ihrer jetzigen Bezüge bewillige ich Ihnen vom 1. October d[es] J[ahre]s ab eine Besoldung von jährlich 7200 M, in Worten: Siebentausend Zweihundert Mark und den tarifmäßigen Wohnungsgeldzuschuß von jährlich 900 M, geschrieben: Neunhundert Mark, welche Beträge die Generalkasse meines Ministeriums Ihnen in vierteljährlichen Raten praenumerando auszahlen wird. Die Kosten Ihres Umzuges wollen Sie demnächst gefälligst nach Maßgabe des Gesetzes vom 24. Februar 1877 (G.S.S. 15) liquidiren und die Liquidation mir zur Zahlbarmachung einreichen. Den betreffenden hiesigen akademischen Behörden, sowie dem Herrn Kurator der Universität Breslau, diesem zugleich zur Benachrichtigung der dortigen akademischen Behörden, habe ich von Ihrer Versetzung Mittheilung gemacht. Im Uebrigen bemerke ich, daß ich auf die von Ihnen gewünschte Erhöhung Ihres Gehaltes, soweit es die Verhältnisse möglich machen, gern Bedacht nehmen werde. Auch hoffe ich, daß die Umstände gestatten werden, Sie schon im nächsten Jahre zum Mitglied der hiesigen Prüfungs-Commission für das höhere Lehrfach zu ernennen. – Goßler Original: Hs.; StUB Göttingen, cod. ms. W. Dilthey, 17, 9; Erstdruck mit Faksimile in: WD, Nr. 136–138. – Der handschriftliche Brief ist vom damaligen preußischen Kultusminister unterschrieben; Briefkopf: „Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten. I. N o U. I. 2088“.

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Siglen- und Abkürzungsverzeichnis

abgedr. a.o. / o. ASpPh

Aufl. Autogr. AUW BA bayer. BBAW BDH

BDSch

BDY

Bl. c/c./ca/ca. cod. ms. D. Dep. DLA DRS engl. erw.

abgedruckt außerordentlich / ordentlich Archiv für spiritualistische Philosophie und ihre Geschichte. Hg. von W. Szylkarski. Bd. 1. Amsterdam/Leipzig 1939, S. 385–412: Jugendfreundschaft Teichmüllers und Diltheys. Briefe und Tagebücher Auflage Autograph Archiv der Universität Wien Bundesarchiv Berlin bayerisch Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Briefe Wilhelm Diltheys an Rudolf Haym 1861–1873. Mitgeteilt von E. Weniger. Aus den Abhandlungen der preuß. Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse, Nr. 9. Berlin 1936 Briefe Wilhelm Diltheys an Bernhard und Luise Scholz 1859–1864. Mitgeteilt von S. von der Schulenburg. Sonderausgabe aus den Sitzungsberichten der preuß. Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse, Nr. 10. Berlin 1933 Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877–1897. Hg. von S. von der Schulenburg. Halle/Saale 1923 Blatt circa codex manuscriptum Dilthey Depositum Deutsches Literaturarchiv Marbach/Neckar Deutsche Rundschau. Hg. von J. Rodenberg. Berlin 1874ff. englisch erweitert

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Siglen- und Abkürzungsverzeichnis

evtl. EZA FA Fasz. FB Gotha FDHSt Frankfurt fol. franz. gen. griech. Gründer

GS GSA Weimar GStA PK HA Hg./hg. HLB Hs. HStA HZ ital. JD

Jg. K kath. klass. königl. LStB

eventuell Evangelisches Zentralarchiv Berlin Familienarchiv Faszikel Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha, Forschungsbibliothek Erfurt Freies Deutsches Hochstift Frankfurt, Handschriftenabteilung Folio französisch genannt griechisch Karlfried Gründer: Zur Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg. Aspekte und neue Quellen. Göttingen 1970 Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. 26 Bde. Leipzig und Berlin, Stuttgart und Göttingen 1914–2006 Goethe- und Schillerarchiv Weimar Geheimes Staatsarchiv. Preußischer Kulturbesitz, Berlin Handschriftenabteilung Herausgeber / herausgegeben Hessische Landesbibliothek Wiesbaden, Historische Sammlungen Handschrift Hessisches Staatsarchiv Marburg Historische Zeitschrift. Hg. von H. Sybel. München 1859ff. italienisch Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852–1870. Zusammengestellt von Clara Misch geb. Dilthey. Leipzig 1933, 2. Aufl. Stuttgart und Göttingen 1960 Jahrgang Kasten katholisch klassisch königlich Moritz Lazarus und Heymann Steinthal. Die Begründer

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Siglen- und Abkürzungsverzeichnis

NL norweg. ÖNB Wien ÖStA Wien österr. PD PJ preuß. Prof. protest. R. rev. rM r./rth. S. sächs. Scholz schwed. schweiz. SHLB Kiel SS Sp. StA Basel StB PK Berlin StUB Göttingen ThULB UA Heidelberg UA Wien UA Würzburg

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der Völkerpsychologie in ihren Briefen. Band II/2. Mit einer Einleitung. Hg. von I. Belke. Tübingen 1986 Nachlass/Nachlässe norwegisch Österreichische Nationalbibliothek Wien, Sammlung von Handschriften und alten Drucken Österreichisches Staatsarchiv Wien, Abteilung Haus-, Hofund Staatsarchiv österreichisch Privatdozent Preußische Jahrbücher. Hg. von R. Haym u. a. Berlin 1858ff. preußisch Professor protestantisch Rückseite revidiert Reichsmark Reichstaler Seite sächsisch Bernhard Scholz: Verklungene Weisen. Erinnerungen. Mainz 1911 schwedisch schweizerisch Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel, Handschriftenabteilung Sommersemester Spalte Staatsarchiv Basel-Stadt Staatsbibliothek zu Berlin. Preußischer Kulturbesitz. Handschriftenabteilung Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Abteilung Spezialsammlungen und Bestandserhaltung Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Abteilung Handschriften und Sondersammlungen Universitätsarchiv Heidelberg Universitätsarchiv Wien Universitätsarchiv Würzburg

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Siglen- und Abkürzungsverzeichnis

UB Basel

Öffentliche Bibliothek der Universität Basel, Handschriftenabteilung UB der HU Berlin Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin, Historische Sammlungen UB Heidelberg Universitätsbibliothek Heidelberg, Handschriftenabteilung UB Tübingen Universitätsbibliothek Tübingen, Abteilung Handschriften/ Alte Drucke ULB Bonn Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Handschriftenabteilung ULB Sachsen-Anhalt Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle, Abteilung Sondersammlungen VA Verlagsarchiv verb. verbessert verm. vermehrt WA Wiederabdruck WD Wilhelm Dilthey. Leben und Werk in Bildern. Hg. von G. van Kerckhoven, H.-U. Lessing, A. Ossenkop. Freiburg/ München 2008 WM Westermann’s illustrirte deutsche Monats-Hefte. Ein Familienbuch für das gesammte Leben der Gegenwart. Hg. von George Westermann. Braunschweig 1856ff. WS Wintersemester WUA Westermann Unternehmensarchiv Braunschweig ZfV Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Hg. von M. Lazarus und H. Steinthal. 20 Bde. Berlin 1860–1890

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Register der Briefpartner Die normalen Ziffern verweisen auf die Nummern der Briefe von Dilthey, die kursiven auf Briefe an Dilthey.

Bastian, Adolf (1826–1905): Ethnologe, Forschungsreisender 316 Baumgarten, Hermann (1825–1893): Historiker, Politiker 125, 134 Benndorf, Otto (1838–1907): Archäologe 480 Bertheau, Ernst (1812–1888): Exeget, Orientalist 112 Besser, Hermann (1807–1895): Schriftsteller; Schwiegersohn Schleiermachers 553 Boretius, Alfred Edwin (1836–1900): Rechtshistoriker 275 Brandis, Christian August (1790–1867): Philologe, Philosoph 102 Brentano, Franz (1938–1917): Philosoph 530 Chalybaeus, Walther Heinrich (1844–1914): Pastor; Sohn von H. M. Chalybaeus 212 Cotta, Carl von (1835–1888): Verleger 540, 542, 543 de Wette, August R. Ch. (1845–?); Sohn von W. M. L. de Wette 132 Dilthey, Carolina Maria Johanette Franziska Sophia, gen. Marie (1836–1891); Schwester D.s 28, 39, 40, 48, 49, 50, 52, 53, 54, 58, 65, 67, 73, 78, 119, 189, 211, 273, 293 Dilthey, Caroline Eleonore Wilhelmine, geb. Winckel (1777–1864); Grossmutter D.s 93

Dilthey, Caroline Wilhelmine Friederike Marie, gen. Lily (1846–1920); Schwester D.s 210, 352, 386, 389, 407 Dilthey, Karl Peter Friedrich (1839–1907): klass. Philologe, Archäologe; Bruder D.s 34, 37, 45, 51, 57, 59, 61, 74, 95, 104, 117, 129, 137, 138, 139, 140, 156, 175, 219, 245, 266, 277, 294, 303, 319, 324, 391, 462, 464, 465, 472, 473 Dilthey, Katharina: s. Püttmann, Martha Ludwiga Katharina Dilthey, Maria Laura (1810–1887), geb. Heuschkel; Mutter D.s 5, 29, 32, 35, 79, 85, 162, 185, 230, 260, 268, 270, 291, , 298, 304, 310, 323, 331, 332, 333, 351, 354, 357, 390 Dilthey, Maximilian August Franz (1804–1867): Oberhofprediger, Kirchenrat; Vater D.s 1, 2, 3, 4, 10, 11, 12, 13, 17, 24, 31, 33, 43, 60, 62, 69, 72, 77, 80, 81, 87, 98, 107, 108, 118, 128, 133, 147, 149, 160, 171, 172, 177, 179, 182, 190, 193, 194, 195, 196, 198, 207, 208, 223, 233, 241, 242 Droysen, Gustav (1838–1908): Historiker; Sohn von J. G. Droysen 274 Droysen, Johann Gustav (1808–1884): Historiker 342 Duncker & Humblot: Verlag 559 Dunker, Lina (1825–1885); Gattin des Verlegers F. Duncker 161

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Register der Briefpartner

Eggers, Friedrich (1819–1872): Kunsthistoriker, Redakteur 105, 106 Eichler, Georg Ernst: Gipsgießer 288 Eltern und Familie 6, 27, 41, 42, 44, 46, 47, 71, 75, 88, 111, 142, 148, 158, 169, 173, 197, 209, 221, 226 Erdmann, Johann Eduard (1805– 1896): Philosoph 577 Erdmannsdörffer, Bernhard (1833– 1901): Historiker, 181, 183, 204, 258, 259, 263, 265, 283, 296, 299, 312, 328, 335, 463 Erziehungskollegium Basel: 272 Falk, Adalbert (1827–1900): preuß. Kultusminister 397 Fick, Adolf (1829–1901): Mediziner, Physiologe 412 Frick, Otto (1832–1892): Pädagoge 383 Funk, Martin Samuel (1835–1922): Jurist 339 Gaß, Wilhelm (1813–1889): Theologe, Philosoph 36, 56 Geibel jun., Carl (1842–1910): Verleger 552 Glaser, Adolf (1829–1915): Schriftsteller, Journalist 253, 461, 469, 479, 482, 483, 486, 488, 489, 490, 491, 493, 494 Gosche, Richard (1824–1889): Philologe 151 Goßler, Gustav von (1838–1902): preuß. Kultusminister 576, 579 Greiff, Johann Julius Edmund (1818–1894): Ministerialdirektor im preuß. Kultusministerium 572 Grimm, Gisela (1827–1889): Schriftstellerin; Gattin von H. Grimm 170, 325 Grimm, Herman (1828–1901): Kunstund Literarhistoriker 164, 165, 167, 168, 235, 279, 285, 307, 336,

346, 350, 355, 358, 380, 402, 404, 431, 497, 503, 555 Häusser, Ludwig (1818–1867): Historiker, Politiker 124 Haym, Rudolf (1821–1901): Philosoph, Literarhistoriker 100, 101, 103, 113, 115, 116, 121, 122, 126, 130, 131, 136, 150, 153, 154, 159, 203, 254, 408, 415 Heuschkel, Marie (1808–1889); Tante D.s 9, 186, 213 Hohe Curatel Basel 271 Justi, Carl (1832–1912): Kunsthistoriker, Philosoph 302, 311, 367, 368, 370, 371, 375, 377, 378, 385, 409, 410, 411, 523 Karpeles, Gustav (1848–1909): Literarhistoriker, Redakteur 525, 526 Kießling, Adolf (1837–1893): klass. Philologe 225 Koepp, Karoline: s. Rückert, Karoline Köpke, Rudolf Anastasius (1813– 1870): Historiker, Publizist 70 Laßwitz, Kurd (1848–1910): Philosoph, Schriftsteller 527, 528, 547, 548 Lazarus, Moritz (1824–1903): Philosoph 26, 91, 187, 495 Lieber, Ernst Maria ( 1858–1902): Politiker 536 Lipsius, Richard Adalbert (1830– 1892): Theologe 326, 374 Mühler, Heinrich von (1813–1874): preuß. Kultusminister 261, 262 Nitzsch, Friedrich August Berthold (1832–1898): Theologe 239, 240, 244, 249, 314, 361, 363

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Register der Briefpartner

Oettingen, Alexander von (1827– 1905): Theologe, Philosoph 334 Olshausen, Justus von (1800–1882): Orientalist, Vortragender Rat im preuß. Kultusministerium 289, 297, 320, 398 Potthast, Franz August (1824–1898): Historiker, Bibliothekar 224 Püttmann, Clara Elise Charlotte (1829– 1915); Schwiegermutter D.s 419 Püttmann, Martha Ludwiga Katharina (1854–1932); Ehefrau D.s 416, 418, 420, 421, 422, 423, 424, 425, 426, 427, 429, 430, 432, 433, 434, 435, 436, 437, 438, 439, 440, 441, 442, 443, 444, 445, 446, 447, 448, 449, 450, 451, 452, 453, 454, 455, 456, 457, 458, 459, 474, 475, 476 Reimer, Ernst (1833–1897): Buchhändler, Verleger; Sohn von G. E. Reimer 191, 215, 231, 234, 236, 243, 246, 264, 281, 282, 301, 379, 406, 417 Reimer, Georg Ernst (1804–1885): Verleger, Politiker 82, 83, 84, 90, 97, 252, 280, 286, 287, 290, 300, 306, 308, 317, 318, 321, 322, 372, 392, 502, 517, 557 Ribbeck, Otto (1827–1898): klass. Philologe 292, 394, 478, 529 Richter, Franz Theodor: Subrektor 114 Rößler, Konstantin (1820–1896): Philosoph, Publizist 228, 232, 248, 255, 492 Rückert, Bertha; Cousine D.s 15, 16 Rückert, Karoline (1831–1900); Cousine D.s 14, 30, 38 Scherer, Wilhelm (1841–1886): Germanist 152, 174, 178, 180, 220,

222, 229, 237, 238, 250, 278, 284, 313, 327, 330, 337, 340, 341, 343, 348, 356, 376, 381, 384, 395, 399, 403, 405, 428, 467, 481, 484, 487, 500, 501, 505, 511, 516, 518, 519, 520, 531, 533, 549, 550, 561, 566, 571, 573 Schmoller, Gustav von (1838–1917): Volkswirtschaftler 496, 560, 570 Schöne, Richard (1840–1922): klass. Archäologe, Leiter der Hochschulabteilung im preuß. Kultusministerium 567, 568, 569, 578 Scholz, Bernhard (1835–1916): Komponist, Kapellmeister 55, 64, 76, 86, 94, 141, 143, 163 Scholz, Luise, geb. Seyler; Gattin von B. Scholz 66, 68, 76, 86, 89, 92, 96, 99, 109, 110, 123, 163 Sigwart, Christoph (1830–1904): Philosoph 309, 556 Stern, Alfred (1846–1936): Historiker 558 Storm, Theodor (1817–1888): Schriftsteller 329 Teichmüller, Gustav (1832–1888): Philosoph 7, 8, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 276 Tempeltey, Eduard (1832–1919): Schriftsteller, Theaterdirektor 120 Toeche, Theodor (1837–1919): Historiker, Verleger 382 Treitschke, Heinrich von (1834–1896): Historiker 205, 206, 256, 344, 345, 349, 359, 366, 369, 396, 400, 401, 535, 541, 554, 563, 565 Trendelenburg, Friedrich Adolf (1802–1872): Philosoph 251 Ueberweg, Friedrich Philosoph 269

(1826–1871):

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Register der Briefpartner

Usener, Hermann (1834–1905): klass. Philologe; Schwager D.s 63, 166, 176, 184, 188, 192, 199, 200, 201, 202, 214, 217, 227, 267, 305, 315, 347, 353, 360, 362, 364, 365, 373, 386, 387, 389, 393, 407, 413, 414, 468, 470, 524 Unbekannt 25 Usener, Lily: s. Dilthey, Caroline Wilhelmine Friederike Marie, gen. Lily Vischer-Bilfinger, Wilhelm (1808– 1874): klass. Philologe 216, 218, 247, 295 Wachsmuth, Curt (1837–1905): klass. Philologe, Historiker 257, 539 Westermann, George (1810–1879):

Verleger 460, 466, 471, 477, 485, 513 Wilbrandt, Robert (1837–1911): Schriftsteller 127, 135, 144, 145, 146, 155, 157 Willich, Ehrenfried von (1807–1880): Jurist; Stiefsohn Schleiermachers 512, 538 Yorck von Wartenburg, Graf Paul von (1835–1897): Gutsbesitzer, Philosoph 498, 499, 504, 506, 507, 508, 509, 510, 514, 515, 521, 522, 532, 534, 537, 544, 545, 546, 551, 564 Zeller, Eduard (1814–1908): Philosoph, Theologe 388, 574, 575 Zyro, Ferdinand Friedrich (1802– 1874): schweiz. Theologe 338

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Personenregister

Abel, S. 319, 443 f., 448, 512 Abraham a Sancta Clara 373, 388, 400 Achenbach, O. 818 f. Ackermann, A. 214 Adler, F. 431 f. Adolf I., Herzog von Nassau 12, 20, 40 f., 344, 386 f., 424, 747 Ägidi, L. C. 258 Agrippa von Nettesheim 860 Ahrens, H. 767 Albrecht von Preußen 78 Alfieri, V. 753 f., 764 f., 781 Allihn, F. H. Th. 72 f. Altenstein, K. S. F. Freiherr vom Stein zum 876 f. Althaus, F. 754 Althoff, F. Th. 888 Amsler 315 Anselm von Canterbury 37, 135 Anselm von Havelberg 152 Apuleius, L. 759 f. Aristophanes 66 f., 70, 88 Aristoteles 37, 46, 85, 105, 147, 170, 335, 533, 549, 592, 617, 650 f., 653, 710, 859 ff. Arnim, A. von 22 f., 167 Arnim, B. von 52 f., 297 Ascherson 339 f., 448, 518 f., 599 Asklepiades von Bithynien 833 f., 863 Auerbach, B. 52 f., 793, 816 Augusta Marie Luise Katharina von Sachsen-Weimar-Eisenach 121, 563 Augustinus 11, 831 Bach, J. S. 43 Bachmann 747

Baco von Verulam 862 Bacon, F. 175 f., 292 f., 862 Balzac, H. de 753 f., 765 Bar, C. L. 618 f., 773 Barbarossa 291 Bardeleben, R. von 234 f., 240 Barger 693 de Barry, H. A. 619 ff. Bartels, K. H. Ch. 518 f. Bartholmess, Ch. 861 Bartsch, K. F. 531, 778, 780, 782 f. Basilius Valentius 860 Basso, S. 861 f. Bastian, A. 433, 517 Baumann, J. 454, 456, 464 ff., 549, 563 ff., 575, 636 Baumgarten, A. G. 549, 552 Baumgarten, H. 183 f., 197 f., 206, 241 ff., 246, 255–258, 341, 383, 385, 439 Baur, F. Ch. 35 f., 70, 173, 202 Baur, G. 508, 572 ff. Baur, Karl 82, 84 Baur, Karoline 81 f. Baur; Vetter D.s 213, 499 Becker, F. 432 Beek, van 331 Beethoven, L. van 4, 9 f., 43, 145, 371, 684, 701 Bekker 743, 750, 772, 774 Benary, S. L. 345 Beneke, F. E. 603 Benndorf, O. 777 f. Bennigsen, R. von 131 f., 134, 136 f., 140, 343, 395, 820 Berg, A. 805, 818 f. Berichs 301 de Berigard, C. G. 862

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Personenregister

Bernays, J. 84, 89, 247, 334, 859, 883 Bernays, M. 247 Bernhardi, Th. von 319 f. Bernhardt, Th. 261 f. Bernstorff, A. Graf von 222 f., 257 f. Bertheau, E. 215 ff. Beseler, K. G. Ch. 347, 349 Besser, E., geb. Schleiermacher 869 Besser, H. 868 ff. Bethmann-Hollweg, M. A. 69, 71, 108, 150 Beutler, E. 749 Beyer, G. F. von 507 f. Biardot-Garcia, P. 63 f. Bickel 356 Biedermann, W. Freiherr von 270 Biermer, A. 755 f., 759 Bigelow, J. 24 ff. Billeter, A. 755 f. Birch-Pfeiffer, Ch. 6 f. Bismarck, O. von 257 f., 289, 296, 341, 343, 345, 348, 357, 371, 393, 605 f., 616, 806, 812 f., 820, 826 f., 839 f., 845 f., 855, 859, 881 f. Bitter, K. H. 845 f. Bleek, F. 201 f. Blücher, G. L. von 18, 20, 22 Bockum-Dolffs, F. H. von 239, 241, 281 Böcking, E. 163, 165, 171, 339, 428, 537 Boeckh, Ph. A. 5 f., 14, 35, 147, 431 f., 548, 652, 654 Böcklin, A. 701, 818 f. Böhmer, E. 572, 574, 761 Bodin, J. 861 f. Bodmann, E. von u. zu s. E. von Treitschke Boissereé, J. S. 287 f. Bonitz, H. 890 Bonnell, Ch. G. E. 129, 131 f. de Bonnet, Ch. 400

Borelli, G. A. 862 Boretius, A. 284, 441 f., 463 f., 472 f., 643 Bormann, E. 340, 342 Bott, J. J. 266, 268 Brahms, J. 814 Brandis, Ch. A. 199 ff., 406, 418 f., 444 Braniß, Ch. J. 37, 41, 611, 623, 720, 762 Bratuschek, E. 617 f., 650–653 Braun, K. 395, 797 f. Brendel, F. 92, 94 Brentano, B. 822 Brentano, F. 636, 834, 836 f. Brentano, L. 672, 707, 718, 721, 729, 732, 734 ff., 739, 743, 772, 791 f., 805, 833, 844 Brentano, V. 675 f., 718, 732, 773 f. Brinkmann, K. G. von 207 f., 249, 251, 253, 876 f. Brontë, Ch. 7 Brünneck, M. von 240 f. Brunner, H. 686 Bruns, Th. 117, 119 Bucher, L. 845 f. Buckle, H. Th. 826 f. Bücheler, F. 264 f., 448 f., 514 ff., 520, 586, 638, 640 Bügel 444 Bürger, G. A. 786 f. Büsgen, F. 109 f. Bunsen, Ch. K. J. Freiherr von 199 f., 883 Burckhardt, J. 254, 392 f., 404 f., 407, 409 f., 418, 439, 468, 474 Busch, M. 797 f. Caesar, J. 17, 322 Calker, F. 565 f. Camphausen, O. von Cardanus, H. 860 Carlyle, Th. 871

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Personenregister

Carrière, M. 861 Caro, J. 774 f. Carrière, M. 861 Carstens, A. J. 734 f. Cassirer, E. 601 Catull 264 f., 760, 771 Chalybaeus, H. M. 1, 2, 370 Chalybaeus, W. H. 369 f. Chamfort 306 f. Chamisso, A. von 162 Charpentier, J. von 326 Cherubini, M. L. C. 272 Christine, Königin von Schweden 744 f. Chrysander, F. 52 f., 78, 92 Cicero 176 Classen, J. 810 f. Clemens von Alexandrien 46 f., 72, 150, 436 f., 440, 548 f., 863 Cohen, H. 600 f., 769 Cohn, J. F. 725, 726 Cohnheim, J. F. 521, 523, 595, 627, 630, 634, 636, 654, 680, 683, 700, 730, 733 f., 741, 743, 751 f., 773 Comte, A. 306 f., 333, 886 Cornelius, P. Ritter von 19 f., 161, 730, 732, 741 Cornicelius, M. 595 Corvinus, J. 116, 118 Cotta, C. von 790, 848–854 Cranach, L., der Ältere 23 Creuzer, F. 57 Curtius, E. 341 f. Czolbe, H. 600 f., 612 Dahlmann, F. Ch. 186, 249, 251, 459, 557, 579, 647 Dannecker, J. H. von 23 Dante Alighieri 81, 299, 760 Danton 729 Daudet, A. 857 Degenhold 136 Dehn, S. W. 53

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Delbrück, R. von 605 f. Delius, N. 493 f. Demokrit 863 Demosthenes 859 Descartes, R. 744, 861 f. Des Claves, E. 862 Dessoir, L. 6 f., 142 Dethen 494 Deutsch, E. 754 Dickens, Ch. 754, 767, 772, 781 f., 789 f., 856 Diest 360 f. Diesterweg, F. A. W. 72 f. Dillmann, Ch. F. A. 512 f. Dilthey, Clara; Tochter D.s VIII, 43, 266, 439, 665, 668, 674, 677, 689, 699, 708 ff., 720, 796, 800, 804, 808, 816, 821, 842 Dilthey, C. E. W., geb. Winckel; Grossmutter D.s 6 f., 17, 20, 45, 81, 90, 99, 114, 180 f., 294 Dilthey, C. M. J. F. S., gen. Marie; Schwester D.s 6 f., 18, 33 f., 40–43, 58–60, 71, 73–81, 83–90, 99–101, 109, 113 f., 119 ff., 129, 134–138, 147 f., 161, 207, 209, 212, 228 f., 269, 294, 306 f., 315, 332, 336 f., 353–357, 359, 368 f., 395, 425, 456, 461 f., 482, 497, 499 f., 535, 565, 618, 624, 646 f., 700, 758, 767, 774, 787 Dilthey, C. W. F. M., gen. Lily; Schwester D.s 6 f., 21, 24, 34, 44, 65, 78, 101, 213, 223, 225, 270, 279 f., 294, 306, 321, 331 f., 335–338, 346, 352–356, 359, 367 f., 372, 377, 394, 419, 424 f., 499, 516, 565, 570 f., 584, 587, 590, 601, 618–621, 624 f., 646 f., 658, 667, 669 f., 687, 702, 764, 767, 830 Dilthey, K. P. F., gen. Karl; Bruder D.s 6, 24, 34, 50 f., 55 ff., 64 f.,

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Personenregister

67 ff., 71, 73, 79, 81–84, 86, 88 f., 96–101, 104 ff., 109 f., 112, 128 f., 138 f., 156, 162, 164, 183 f., 202 f., 206, 212, 223 f., 247, 260–266, 270, 279, 288 f., 295, 316 ff., 320, 323, 327, 331 f., 335 f., 340 ff., 344, 349, 351 f., 364, 380 ff., 390, 393, 423–426, 432, 441, 452 ff., 462, 465 ff., 481 ff., 487 ff., 494 f., 498 ff., 508, 520 f., 525 ff., 539, 571, 573, 582 ff., 587, 589, 600, 618 f., 621, 625 f., 657, 664, 667 f., 672, 693, 720, 754 ff., 758 ff., 768–771, 808, 835 Dilthey, M. A. F.; Vater D.s V, 1–7, 11–15, 22 f., 25 f., 33 f., 38, 40, 45–49, 51, 64 f., 67, 74, 76, 78 f., 86 f., 93, 95 f., 99, 101 ff., 107–110, 115, 118, 127 ff., 133 f., 136, 144 ff., 148–152, 155, 161 ff., 178 ff., 183, 188–191, 193, 205–209, 212 ff., 218, 223–228, 238, 242, 246 f., 251, 253 ff., 259, 266, 269, 276–280, 288, 291, 294 f., 297, 312–316, 320 f., 323 ff., 327–331, 333, 336–339, 343–354, 356, 358, 362–366, 368 f., 382, 388 ff., 393 f., 402, 404–409, 416, 418–423, 425 ff., 430 f., 436, 450, 462, 471, 485, 488, 493, 498, 500, 529, 548, 627, 664, 675, 698, 703, 706, 745, 747 ff. Dilthey, M. L, geb. Heuschkel; Mutter D.s 3 ff., 7, 10, 26, 40, 43 f., 48 f., 51 ff., 78, 99, 101, 108, 148 f., 155 f., 178, 180, 238, 280, 296, 332, 351, 357, 359, 362, 367, 386, 395, 401, 425 f., 431, 445, 447, 450, 456 f., 459, 468 f., 477, 480, 485, 487 f., 496 f., 499, 502, 507, 514, 525, 527, 535 f., 538 f., 569, 571 ff., 577, 620, 624 f., 657, 664–667, 670, 675 f., 679 f., 682 f.,

687, 689, 692, 694, 696 f., 699–702, 704 ff., 708, 711, 713 ff., 717, 719, 721 ff., 724 f., 727, 731 f., 736 ff., 742 f., 748, 750, 752, 758, 770, 773, 813 Dilthey, M. L. K., gen. Katharina; Ehefrau D.s s. M. L. K. Püttmann Dilthey, W. L. Ch. K.; Onkel D.s 90 Dohna-Schlobitten, K. F. F. A. Graf zu 877 Dondorff, H. 67 f., 393 Doré, G. 831 f. Dormaier, B. IX Dorner, I. A. 199 f., 537 f. Dove, A. W. 737, 740, 843, 847, 881 f. Dove, R. 35 f. Dreber, H. 841 f. Drewke 212 Drobisch, M. W. 413, 415, 552 f., 555, 572 f., 608 Droysen, E. 456 Droysen, G. 444, 463 Droysen, J. G. 125 f., 203, 254 f., 318 f., 347, 403, 454, 456, 463, 553 f. Dühring, E. K. 554, 650, 652 f. Düntzer, H. 720 f. Duncker, F. G. 296 ff., 309, 324, 530, 610 Duncker, K. 82 Duncker, L. 295 f., 322, 330, 385, 436, 530, 610, 779, 800 ff., 816, 822, 824 f., 838, 893 Duncker, M. W. 81 f., 208 f., 234, 309 f., 318, 322, 347 ff., 400, 439, 443 f., 761, 770, 781 Dürer, A. 157, 730 f. Eberty, F. 685, 692 f., 696 f. Eberty, G. W. 348 Ebstein, W. 306 f., 723, 739, 807, 811

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Personenregister

Eckermann, J. P. 746, 749 Eggers, F. 47, 149, 203 ff., 217 f. Eibach 295, 423, 426 Eichler, G. 476 f. Elisabeth, Kurfürstin von der Pfalz u. Königin von Böhmen 744 f. Elvenich, P. J. 598 f., 609, 628, 762 Engel, J. J. 170, 172 Epikur 830 f., 862 f. Erbreich, V. s. V. Brentano Erdmann, B. 881, 883 f., 897 Erdmann, J. E. 899 f. Erdmannsdörffer, B. IV, 283 f., 305, 308–311, 316, 318 f., 322, 325–329, 349, 358–361, 365, 368, 373, 383 ff., 400, 406 f., 409–414, 421, 426, 430, 439, 441–452, 454, 466, 467, 469 f., 472 ff., 478, 484 ff., 488–491, 509 ff., 530 ff., 541 f., 556, 563 f., 575 f., 590, 600, 611 f., 659, 661, 672, 686, 693, 705, 707, 716, 718, 720, 726–729, 735, 737, 739, 741 ff., 749, 757 f., 761, 767, 808, 812, 847, 881 f. Ernesti, J. A. 101, 131, 552 Esmarch, J. F. A. von 576 d’Espagnet, J. 861 f. Eucken, R. Ch. 654 f., 880 f. Euripides 776 Eusebius von Caesarea 156 Exner, M. 759 f. Falk, A. 627, 632–636, 827 f., 839 f., 842 Falkenstein, J. P. von 573 f. Faltin, G. 855 Fechner, G. Th. 306 f., 609 f., 653, 734 f. Fehrentheil und Gruppenberg, W. von 807 Feuerbach, A. 871 f. Fichte, I. H. 235, 245 Fichte, J.G. 37 f., 85, 129, 131, 171,

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184, 189, 233, 235, 244 f., 248–251, 277, 504, 526 Fick, A. 656 f. Firnhaber 223 ff., 227, 279, 330, 497, 500, 537 Fischer, Karoline 868, 870 Fischer, Kuno 1–5, 35 f., 381 f., 418 f., 551 ff., 632, 640, 642, 652, 658, 766 ff., 801, 883, 892 Fischer, S. 367 Flottwell, E. H. von 69, 71 Förster, R. 768 f. Forchhammer, P. W. 498, 500 Forckenbeck, M. von 395 Forster, J. 754 Fracastoro 860 Frankenhäuser, F. 755 f., 771 Frantz, K. 799 f. Franz, G. 297 f. Frauenstädt, J. 287 f. Frauer, L. 244 f. Frensdorff, F. 237, 239 Frenzel, K. W. 793 Frese, J. 222 f., 454, 456 Freytag, G. 44 f., 196, 254, 275, 282, 285, 288, 315, 664 Frick, O. 614 f. Friedrich, D. IX Friedrich der Große 18 Friedrich Karl, Prinz von Preußen 69, 71, 390 Friedrich von Augustenburg 231 Friedrich Wilhelm III. 18, 20, 78, 139, 547 Friedrich Wilhelm von Preußen (Friedrich III.) 288 f., 296, 309, 345, 728, 845 Friedrich III., Kurfürst 94 Friedrich Wilhelm IV. 165 Frisch, A. von 760 Fritze 352 f. Frohschammer, J. 635 Fubel, F. 253, 255

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Personenregister

Fülleborn, G. G. 814 Fues, L. F. 202 Funk, J. A. L. 547 Funk, M. S. 546 f. Gade, N. W. 118 f. Gaertner, P. E. R. 281 f. Gagern, H. W. A. Freiherr von 136, 138 Galilei, G. 861 f. Garve, Ch. 170, 172 Gaß, J. Ch. 95 f. Gaß, W. 53 f., 94 ff., 547 Gassendi, P. 861 f. Gebhardt, A. 485, 488 Geibel, C. jun. 867 f. Gelzer, H. 407 f., 513 Genast-Merian, E. s. E. Merian Genelli, B. 739, 741, 743 Georgias 771 Gerhard, E. 340, 342 Gerhardt, V. 884 Gerlach, E. L. von 72 f. Gervinus, G. G. 35 f., 185, 197 f., 201 f., 222 f., 232, 247, 261 f., 403, 454 f., 518, 548, 760, 783 Gfrörer, A. F. 861, 864 Gierke 416 Gierke, O. F. 621, 627, 687, 734, 772 Giesebrecht, F. W. B. von 317 f. Gilbert 861 Ginsberg 678 Giordano Bruno 760, 860 f., 863 f. Glaser, A. V, 18, 41, 52 f., 70, 81, 94, 100, 112, 116, 145, 158, 185, 267 f., 348, 364, 433 f., 490, 673, 753 f., 764 f., 776 f., 780 ff., 785–790, 792 ff. Gleichen-Rußwurm, A. von 199 Gleichen-Rußwurm, E. von 198 f. Gluck, Ch. W. Ritter von 7, 179

Gneist, H. R. H. F. 259 f., 263, 281, 286 Goedecke, K. 699 Göppert, H. R. 618 f., 729, 732 Görschen, O. F. F. von 389 f. Goethe, J. W. 23, 52, 74, 77, 89, 161, 166, 179, 191 f., 269 f., 275, 287, 302, 323, 325, 339 f., 342, 366, 397 f., 463, 620, 660, 663, 674 f., 705, 720 f., 725 f., 732, 746, 749, 786, 793, 795–799, 801, 804, 815 f., 822, 871 f. Goltz, B. 275 Gosche, R. 183 f., 202, 204, 272, 274, 282 f., 286, 329, 403, 463, 572, 574 Goßler, G. von 890, 898, 900 f. Gothein, E. 855, 870 Grabow, W. 235 f. Graefe, A. 290 f. Graser, F. 340, 342 Greiff, J. J. E. 883 f., 889, 891, 893 f., 896 ff. Grimm, G. 297 ff., 312, 322, 324, 326, 367 f., 385, 388, 430, 528 f. Grimm, H. VI, 159, 161, 192, 194, 212, 214, 275, 284, 287, 295–297, 300–310, 322, 324 ff., 331, 385, 388, 406 ff., 411 f., 430, 444, 448, 451, 468 f., 473 f., 489, 501 f., 520, 529, 538, 542 ff., 562 ff., 568 f., 574 ff., 578, 590, 592, 601, 605, 609 ff., 616, 641 ff., 672, 685 f., 691, 761, 783, 794–798, 801, 803 f., 812, 816, 840, 871 f., 885, 893 Grimm, H. D. 430 ff. Grimm, J. 117, 119, 295 f., 309 f., 316, 329, 431, 544 f. Grimm, W. 161, 296, 432 Gröber, G. 759 f. Grote, G. 292 f., 781, 789 f., 792, 794, 850 f. Groth, K. 543 f., 563 f., 575

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Personenregister

Gründer, K. V, IX, 606, 797, 839, 882 f. Grunow, E. Ch. 556 Guhrauer, G. E. 226, 228, 436 f. Gutschmid, A. von 515 f., 527, 597 Gutzkow, K. F. 52 f. Gwinner, W. 287 f.

Haase, F. 6 Hagen, K. 329 Hagenbach, K. R. 251 f., 415, 417 f., 422 Hagenbach – Bischoff, E. 418 f., 428 f. Händel, G. F. 78, 92, 455 Häusser, L. 36, 186, 196, 232, 237, 239 ff., 256 f., 259, 261, 274 Hamilton, W. 856 f. Hardenberg, G. F. Ph. Freiherr von s. Novalis Harms, F. J. S. 376, 378, 381, 593, 596 f., 601, 605 Harrach, C. Ph. Graf von 813 f. Harrach, F. Graf von 682 f., 699, 711, 730, 736, 814 Hartmann, G. 392 f., 420, 464, 513 Hassbath 476 Hasse, K. 696 f., 699, 730, 732, 734, 739, 741, 750 f. Haupt, C. A. 52 f. Haupt, M. 264 f., 586 f., 760 Haydn, J. 6 f. Haym, R. VI, 103, 152, 185 f., 190, 195–199, 201 f., 206, 216–223, 226, 229, 231–237, 243 ff., 248–251, 253, 257–260, 263, 273–276, 278, 280 ff., 284–287, 290–293, 301, 303, 309, 357 f., 385, 434 f., 454, 463, 514, 516, 519, 557 ff., 561 f., 567 ff., 572 f., 575 f., 589, 618, 631 f., 638, 640, 648 f., 659 ff., 838

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Hebler, R. A. K. 416 f., 436, 443, 464, 650, 652, 807 f., 812 Hegel, G. W. F. 1 f., 37, 39, 72, 78, 189, 311, 338, 344, 350 f., 433, 436, 526, 603, 618, 626, 797, 799, 899 Hegewisch, Ch. F. D., gen. Lotte 459, 520 f., 527 f., 541, 555, 557 f., 563, 572, 576–582, 584 f., 600 Hegewisch, F. H. 369 f. Hegewisch, J. 585 Hegler 515 Heidenhain, R. 610 f., 618, 620, 690, 694, 734, 738, 741, 751, 773, 843 Heigel, K. A. von 271 f. Heim 759 Heine, H. 755 f., 764 f., 784, 788 f., 792, 794 Heinze, M. 554, 636, 654 f., 767 Heinzel 636 Helbig, W. 586 f. Held, A. 628 f. Helmholtz, H. L. F. von 405, 408, 412, 435, 455, 550, 626, 643, 649, 653, 722, 822 Helmont, J. B. van 861 f. Hengstenberg, E. W. 6 f., 42, 46 f., 72 Henle, F. G. J. 618, 620 Heraklit 768 f., 883 Herder, J. F. 23, 43, 340, 342, 397, 439, 553, 661, 838 Herbart, J. F. 37 f., 41, 73, 277, 335 f., 344, 433, 441, 511, 553, 614, 783, 856 Hergenhahn, Th. 5 f. Hermann, G. 113 f. Hermes, J. Th. 95 f. Heron von Alexandrien 863 Hertz, Ä. 737, 739 f. Hertz, M. J. 618 f., 638, 682, 740, 747

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Personenregister

Hertz, Gattin von M. J. Hertz 697 f., 737 f., 773 Hertz, W. 796 Herz, H. J. 172 Herzog, J. J. 549, 552 Herzog von Gotha 78 Hettner, H. Th. 52 f., 724, 726 Heuchemer, J. 114, 121 Heuschkel, J. P. 5, 8 Heuschkel, Magarethe 5 Heuschkel, Marie 5, 7 f., 10, 16 f., 33 f., 52, 71, 78, 99, 159, 212, 268, 294, 297, 331 f., 337, 356 f., 370 f., 499, 535, 577, 624 Heydemann, H. 498, 500 Heyderhoff, J. 242 Heydt, A. Freiherr von der 240 f., 257 f. Heyse, M. 693 f. Heyse, P. J. L. von 52 f., 75, 77, 118 f., 693 f., 700, 702 Hill, N. 863 Hillebrand, B. 124, 126 Hillebrand, K. 826 f. Hinschius, P. 521, 523 Hirzel, S. 213 f., 280 His, W. 404 f., 418, 428 f., 452, 550 Hitzig, C. 693 f. Hitzig, J. E. 693 f. Hobbes, Th. 543, 558, 861 Hobrecht, A. 268, 270, 618, 620, 623, 627, 637, 820 Hölzle, A. 140 Hoffmann, C. 121 Hoffmann, F. 656 Hoffmann, L. F. W. 42, 116, 118 Hoffmann, W. 41 f., 67, 73, 79, 85, 88, 107, 118, 121, 147, 151, 393, 416, 548 Hohenzollern-Sigmaringen, K. A. Fürst von 134 Holbein, Hans, der Jüngere 609 f., 730

Hollenberg, W. 108, 110 Holtzendorff, F. von 230 f. Homer 46, 176, 458, 741 Hopfgarten, A. E. 20 Horaz 776 Horn 243 f. Horn, C. von 845 f. Hoßbach, P. W. 201 f. Howart 213, 238 Hülsen, A. L. 435 Humboldt, A. von 56, 78 Humboldt, W. von 103, 107, 110, 131, 614 f., 838 Hume, D. 216, 555, 810, 826 Husserl, E. 834 Hyperius, A. G. 828 f. Ibn Gabirol, S. 861 Ihering, R. von 620 f., 804, 807 Irenäus 73 f. Jacobi, F. H. 37, 41, 247, 526, 786 f. Jaffeé, Ph. 565 f. Jagow, G. von 240 f. Jahn, O. 109 f., 144 f., 202 f., 264, 413 Januschek, F. 272 Jean Paul 43, 126, 166, 169 Joachim, J. 52 f., 110, 114, 117, 142, 159, 166, 192, 299, 331, 575 Joachimsthal, F. 306 f. Johach, H. 875 Johannes Scotus Eriugena 144 f., 157 Jolly, J. 454, 456 Jonas, L. 5 f., 47, 52, 54, 64, 69, 73, 82, 87, 105, 107, 112, 130, 136, 155, 170 f., 186 ff., 199, 226 f., 470, 506, 524, 547, 549, 614, 802, 838 Jordan, H. 317 Jovianus Sontanus 732 Julius II. 304, 306 Junghahn 694, 742, 755 Junkmann, W. 869 f.

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Personenregister

Justi, K. 487 f., 490, 494 ff., 508 f., 591–598, 603 f., 606 f., 616 ff., 649– 655, 681, 691, 829 f., 888 Kallichos 203 Kanitz, Graf A. von 119, 121 Kant, I. 2, 37, 39, 75 f., 170 f., 184, 216, 277, 325 f., 339, 341, 346 f., 381 f., 419, 433, 466, 504 ff., 526, 548, 574, 601, 612, 614, 645, 648, 651, 653, 711, 763, 769, 797, 814, 886 Kardorff, W. von 881 f. Karpeles, G. 831 ff. Karron 654 Kauffmann, A. 731 f. Kaulbach, F. 114, 730 Kaulbach, W. 114 Keil, E. 306 ff. Keil, K. A. G. 101, 131, 552 Kekulé von Stradonitz, H. F. R. 541 f., 586 Kelle, J. N. 777 f. Keller, G. 296, 367 f. Keppler, J. 861 Kern, F. G. G. 654 f. Keudell, R. von 342 f., 345 Kießling, A. 81 f., 268, 391–394, 440, 448, 464, 474, 479, 499, 516, 520 Kindt, T. 412 Kingsley, Ch. 838 Kirchhoff, A. 193 f., 317 Klein, J. L. 288 Kleist, H. von 166, 217, 245, 250, 277, 287, 814, 869 Kleist-Retzow, H. H. von 812 f. Klenze, C. A. K. 201 f., 217 Klette, A. 756 Klingemann, E. A. F. 532 f. Klinger 52 Knapp, H. J. 453, 455, 459 Knaus, L. 730, 732

919

Knies, K. 413, 415 f., 441 Knoodt, F. P. 444, 565 f., 667 f. Koberstein, K. A. 549, 552 Köchly, H. A. Th. 638 f. Köhnke, K. Ch. IX Köpke, R. A. 130 f. Koepp, F. G. Ph. 45, 99, 137 f., 294 f. Koepp, K. s. K. Rückert König, A. B. 444 f. König, K. G. 442, 444 Körner, Ch. G. 695, 699, 781, 838 Krause, H. 187 ff., 191, 206, 208 Kräuter, F. Th. D. 23 Krates von Mallos 104, 106 Kreuser, J. 720 Krüger, D. Ch. F. 845 f. Kühne, L. IX Kugler, B. 469, 473, 693 f. Kugler, F. Th. 46 f., 515 f., 693 f., 701 Kugler, J. 700 f. Kuhn, F. F. A. 159, 161, 183 f. Kupffer, K. 539 ff. Kym, A. L. 770 f. Laas, E. 616 f., 884 f. Lachmann, K. K. F. W. 264 f. Lade, A. 18, 33 f., 307, 500 Lade, M.; Nichte D.s 49, 73 f., 78 f., 90, 100 f., 114, 120, 162, 212, 214, 229, 269, 280, 306 f., 315, 332, 336, 346, 462, 500, 565, 577, 624, 646, 667, 763, 787 Laehr, H. 680 Lagarde, P. A. de 447 ff. Lampe, C. 372 f. Landmann 591 Lanfranc 157, 161 Lange, F. A. 601, 612, 614, 640, 650, 652, 657 Lange, L. 573 f., 585, 587 Langenbeck, H. 440 f., 455

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Personenregister

Laplace, P. S. Marquis de 645 Lasker, E. 395, 538, 557 f., 690 Lassalle, F. 296, 812 f. Laßwitz, K. 833 ff., 837, 859–865 Laurent, F. 413, 415 Lazarus, E. 334 Lazarus, J. 182 Lazarus, M. 29 f., 32 f., 37–47, 52, 62, 64, 66 f., 70, 72, 76, 84 ff., 88–91, 94, 102, 113, 116, 127 ff., 136 f., 139, 141, 143, 145 f., 150, 162, 173–176, 182 f., 192, 204, 208, 238, 315, 324 f., 333 f., 337, 365, 368, 378, 466, 603 f., 794 f. Lazarus, S. 32, 41, 44, 52 f., 62, 70, 72, 75, 91, 113, 116, 118, 125, 127 f., 136, 140 f., 143 f., 148, 238, 315 Lebold 725 Leeder, M. s. M. Scherer Lehnerdt, J. L. C. D. 72 f., 537 Lehrs, K. L. 755 f., 759 Leibniz, G. W. 341, 436 f., 624, 647, 650, 652, 817 f., 863 Leisler, F. 161 f., 497, 500 Leitge 353 f. Lennep, J. van 434 Lenz, A. 757 f. Leo X. 305 f. Lessing, C. F. 701, 730 Lessing, G. E. 71, 171, 191, 198, 204, 323, 325, 339 f., 342, 348 f., 367, 372 f., 397 f., 400–404, 427, 429, 433, 436 f., 439 f., 548, 551, 620, 674 f., 733, 760 Leonardo da Vinci 304, 315, 730 f., 734 Leuckart, R. 572 ff. Lewald, Frau 786 Lewald, Frl. 627 Lexer, M. 782 f. Leyden 762, 764 Lichtenstein, F. 800 ff.

Lieber, E. M. 844 Liebermeister 478 Liebig, C. 9 f., 107 Liebig, J. Freiherr von 292 f. Liepmann, M. 530, 603 Lignana, G. 495 Lilienfein, H. 284, 556 Lindau, P. 815 f. Lipsius, R. A. 454, 456, 502, 505 f. , 512, 526, 529 f., 589, 594, 597, 602 f. Liszt, F. 368 Loebell, F. W. 223, 245 Loeper, G. von 797 f., 801 Löwe, F. W. 297 f. Lommatzsch, K. B. 217 f., 870 Lorenz, O. 566 Lott, F. K. 536 f., 544 f., 552 f., 566 Lotze, R. H. V, 72 f., 159, 161, 168, 190, 197 f., 309 f., 376, 378, 394, 413, 441, 457, 632, 649, 653, 783, 807 f., 837, 843, 851, 856–859, 865 f., 880 f., 883, 889, 893, 897, 900 Louis XIV. 118 Lubin 861 Lucae, K. 557 f. Ludwig II. 787 f. Ludwig, K. F. W. 618, 620 Lübbert, F. W. E. 109 f. Lücke, G. Ch. F. 106, 199 f., 215 ff. Luise Auguste Wilhelmine Amalia, Königin von Preußen 78 Lukian von Samostra 85, 87 Luther, M. 4, 22 f., 206, 547, 828 Lutterbeck, A. B. 654 f. Lutz, J. Freiherr von 632 f., 635 Machiavelli 232 Magnenus, J. Ch. 862 Maignan, E. 862 Makart, H. 734 f., 818 Mandt 353 f., 423 f.

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Personenregister

Mangold, W. J. 416 f., 422 Manteuffel, O. Th. Freiherr von 289 Marcion 79 f., 549, 552 Martin, E. 777 ff., 782 Martitz, F. von 873 f. Marty, A. 837 Marwitz, A. von der 217 f. Marx, A. B. 144 f. Marx, K. 813 Maurenbrecher, K. P. W. 261 f., 851, 853 f. Maximilian II. 787 f. May, B. 369 Mehring, R. 884 Meineke, A. 129 Meiners, Ch. 814 Meinong, A. 834 Mendelssohn Bartholdy, F. 9, 177, 179 Menzer, P. 347 Merian, E. 367 f. Mersenne, M. 862 Meyer, A. 268, 270 Meyer, J. B. 212, 214, 244 f., 292 f., 301, 303, 329, 339, 360 f., 374, 376, 381, 385, 388 f., 396, 403, 406, 409, 411, 413, 418, 438, 444 f., 448, 451, 454, 456, 499, 514, 520, 528, 565, 571, 574, 668, 690, 763 Meyerbeer, G. 300 Michaelis, A. 203, 318 f., 340, 342, 356, 514 Michaelis, E. s. E. Droysen Michaelis, M. s. M. von Olshausen Michelangelo 159, 161, 302 ff., 309 f., 562 f., 714, 730, 734 Michelet, K. L. Ch. 311, 351 Middeldorpf, H. 95 f. Miela, W. 444 f. Mill, H. 662 f. Mill, J. St. 333, 662, 726 ff., 767 f.,

921

772, 781, 789, 792, 794, 810 f., 826 f., 856 f., 886 Mittler, E. S. 303, 458, 599, 613 Mirabeau 234 f. Misch, C. s. Clara Dilthey Misch, G. 43, 53, 99, 246 f., 262, 264, 366, 431, 482, 510, 558, 570 f., 647, 668, 850 Möbius, K.A. 571 Möbius, Th. 571 Mörike, E. 160 f., 166, 169 Möser, J. 81 f., 185 f., 264 Mohamed 753 f. Molinari, Th. 695, 699, 718, 721, 735 Mommsen, Th. 75, 77, 80, 118, 125, 127, 132, 134, 136, 140, 203, 284, 332, 340, 342, 631, 637, 762, 850 f., 854 Montesquieu 249 Morgenstern, Ch. 645 f., 775 f. Moritz, K. Ph. 490 f. Mosse, R. 678 f. Mozart, W. A. 9 f., 43, 119, 144 f., 267 f. Mühler, H. von 69, 71, 226, 228, 445 ff., 525, 535 ff., 590 f., 627 f. Müllenhoff, K. V. 779 f. Müller 352–355 Müller, C. 805 Müller, F. 70 f., 75 f., 107, 137, 139 f., 159, 315 Müller, H-H. 412 Müller, J. P. 405, 550, 552 Müller, J. von 186, 201 f. Müller, F. M. 517, 520 Müller, K. F. W. 725 f. Musäus, J. K. A. 755 f. Napoleon I. 20, 22, 138, 341, 348, 729, 827, 855 Napoleon III. 105 f. Natorp, P. 601

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Personenregister

Nauck, A. 317 Neander 129 Neuber, J. 269 Neuhäuser, J. 565 f. Neumann, K. 610 f., 618 f., 648, 672, 682, 693, 695, 707, 716, 718, 726, 728, 734, 747, 791, 843, 847, 854 f., 870 Newton, I. 863 Nicolaus Cusanus 860 Niebuhr, B. G. 86 f., 186, 850 Niedner, Ch. W. 88, 90, 102, 106, 113 Nietzsche, F. 630 Nissen, H. 573 f. Nitzsch, F. A. B. 41 ff., 67, 107, 131 f., 415–418, 422 f., 429 f., 443 f., 512 ff., 549, 585–589 Nitzsch, K. I. 6 f., 11 f., 14 f., 26, 42, 47 f., 73, 86, 98, 107 f., 110, 113, 129, 131 f., 147, 150, 169, 191 f., 200, 219, 237, 269, 324, 413 Noel 729, 731, 736, 742 Noel, Frl. 736, 742 Nohl, H. 71, 850 Noorden, K. von 262 f., 721 Novalis 139, 163, 190 f., 322 f., 326, 330, 397 f., 403 f., 489, 491, 558, 659 f., 844 Nowack, K. G. 95 f. Nowak, K. 391 Oettingen, A. von 539 ff., 636, 790 Ohm 283 Olfers, M. von 367 f., 805 Olshausen, J. von 456, 478 f., 484 ff., 489, 521 ff., 534, 538, 589 f., 636 f., 672, 692, 890, 892, 896 Olshausen, M. von 456 Olshausen, R. 290 f. Oncken, W. 472 f. Oppenheim, H. B. 198 f., 218 Origenes 82, 98, 105, 139, 437, 549

Otto I.

178 f.

Paracelsus 860 f. Passavant, J. D. 641 f. Patritius, F. 860 Pauli, R. 319 f. Pelagius 831 Perthes, F. Ch. 86 f. Perthes, K. Th. 87 Petrich, H. 846 f. Pfeiffer, F. W. 782 f., 786 f. Pfleiderer, E. 650, 652 Philipsborn, M. von 845 f. Philolaos 650, 652 Philon von Alexandrien 81 f., 85, 100, 105 Phokion 859 Pierson 869 Platen-Hallermund, A. Graf von 122, 126 Platon 41, 46, 70, 73, 100, 104, 170, 200, 249, 303 f., 341, 386, 526, 548, 650–653, 660, 818, 863 Plotin 105, 107, 110, 861 Pluder, V. IX Pogge-Jaebitz, A. 204 f. Polybius 173 Pontanus, J. J. 732 Potthast, F. A. 390 f. Prantl, C. von 265 f. Preger, J. W. 810 f. Preller, F., der Ältere 718, 720, 805 Preller, F., der Jüngere 805 Preuß, J. D. E. 444 f. Puttkamer, R. von 827 f., 839 f. Püttmann, C. E. Ch. 665–668, 679 f. Püttmann, F. A. L. 663 Püttmann, M. L. K., gen. Katharina VI, 661–664, 667, 669–753, 755–759, 763, 769 f., 771–775, 779, 783 f., 787, 794, 801, 803, 821 f., 824, 830

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Personenregister

Püttmann, W. 663 f., 667, 670 f., 674, 676, 679 f., 683, 689, 692, 694, 699, 702, 706, 711, 715, 717, 719, 722–725, 732, 736, 740, 743, 748, 750, 752, 842 Quäbicker, R.

650, 652, 654

Raabe, W. 116, 118 Raabe, Frl. 684 Radowitz, J. von 289 Raffael 113, 304, 474, 610, 641 f., 804, 871 Ranke, L. von 46 f., 126, 201, 304, 550, 559, 799 Rapp, K. M. 624 Rauch, Ch. D. 18, 20 ff. Raumer, F. von 186 Redecker, M. 875 Reichardt, J. F. 172, 390 f. Reichlin-Meldegg, K. A. Freiherr von 640 Reicke, R. 612, 614 Reifferscheid, A. 618 f. Reimer, E. VI, VIII, 338 ff., 373, 402, 406, 408 ff., 421 f., 426, 432, 449 f., 469 ff., 484 f., 493 f., 608 f., 645 f., 649, 664 Reimer, G. E. VI, VIII, 54, 94, 96, 122, 130, 135, 137, 152–156, 163, 170 ff., 187 f., 190, 206, 221 f., 226 f., 231, 233 f., 248 f., 252, 258 ff., 274, 276, 281, 285, 292, 310, 322, 327, 340, 347, 372 f., 382 ff., 386, 395, 397 f., 400, 451, 472, 475 f., 479 f., 484 f., 490 ff., 500 f., 503, 511, 518 ff., 523–526, 535, 537, 598 f., 609, 612, 626 f., 663, 681, 796, 802 f., 823, 867 f., 874 f., 880 Rethel, A. 741, 743 Rettig, G. F. 441 f. Reuter, F. 269 f., 529

923

Ribbeck, E. 693 Ribbeck, O. 126, 478 f., 481, 498, 507 ff., 520 f., 526 f., 557, 572, 580, 582, 595, 597, 629 f., 638 ff., 691, 693, 711, 718, 775 f., 835 f. Richter, A. 444 Richter, E. 820 Richter, F. T. 219 f. Richter, O. 301, 303 Riedel, Sohn von A. F. J. Riedel 33 f., 78, 125, 135 ff., 144, 225, 268, 691 Riedel, A. F. J. 78, 134 f., 141, 152, 208 f., 222, 237, 268 Rindert, J. 884 Ring, M. 305 ff. Risser, G. 137 f. Ristori, A. 49, 271 Ritschl, F. W. 84, 109, 332, 334, 499, 836 Ritter, H. 68, 219 f., 827 Ritter, K. 56 f. Robespierre 729 Roch, H. 49, 103, 346 Rochau, A. L. von 137 f. Rodenberg, J. 116, 118, 266, 268, 272, 296, 329 Rodi, F. V, IX, 875 Rödiger, M. 866 Römer, F. 610 f., 751, 773 f. Roepell, R. 253, 255, 257, 623, 661 f., 791, 869, 876 Rößler, K. 257 f., 281, 309 f., 396–399, 402 ff., 427 ff., 435 ff., 439 f., 617 f., 791 f. Roger, G. H. 8 Roggenbach, F. Freiherr von 242 f., 256 f., 293, 454, 616, 619, 621, 716 Roon, A. Th. E. Graf von 358 Roquette, O. 53, 204, 266, 268 Rosanes, J. 644 Roscher, W. 413, 415, 441, 644, 790 Rosenkranz, J. K. F. 458 f.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 5109160-9783525303689 — ISBN E-Book: 978-3-647-30368-0

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Personenregister

Rossbach, Adolf 214 Roßbach, August 618 f. Rossini, G. 7, 780 Rossmann, W. 724, 726 Rothe, R. 11 f., 294 f., 430 Rothschild, M. A. 345 Rubens, P. P. 641 Rückert, B. 18–22 Rückert, C. 17, 68 Rückert, F. 17 Rückert, H. 778, 783 Rückert, K. 16 ff., 20, 44 f., 57 f., 68, 81, 90, 99, 138, 270, 280, 294 f., 424, 577 Ruge, A. 296, 827 Rupp, J. 624 Sack, F. S. G. 155, 170 Sänger 253 Salieri, A. 7, 780 Samwer, K. F. L. 230 f. Sand, G. 732 Sander 3 Saucken-Julienfelde, A. von 239, 241 f., 253 Sauppe, H. 573 f. Schaarschmidt, C. 265 f., 455 f., 615 ff., 624, 635, 650–654 Schack, A. F. Graf von 841 f. Schadow, J. G. 22 Schäffle, A. 873 f. Scharnhorst, G. J. D. 18, 20 Scheller 328 Schelling, C. 520 Schelling, F. W. J. 37, 39, 139, 359, 500, 502, 505, 532 f., 589, 797–800 Schenkel, D. 2–5, 493 f., 631 Scherer, H. 838 Scherer, M. 815 f. Scherer, W. VI, 283 f., 296 ff., 302 f., 309 f., 316, 321 ff., 325 f., 328 ff., 370, 373, 382–385, 387 f., 399 f., 403, 405, 410–415, 430 f., 467 f.,

473, 510 ff., 529 ff., 534 ff., 543 ff., 548–556, 559, 563–566, 576 f., 590, 605 f., 610 f., 615 f., 630 f., 637 f., 642 ff., 681, 683, 761 f., 777 ff., 782 ff., 786 f., 796, 800–803, 805 f., 815 f., 820 ff., 824 ff., 838, 840 f., 865 f., 871, 879 f., 882, 884 f., 892–895, 897 Scherr, J. 218 f. Schiller, Ch. 199 Schiller, F. 23, 80, 103, 198 f., 233, 235, 339 f., 342, 508, 660, 695, 699, 705, 719, 746, 781, 815 f., 872 Schirren, K. Ch. G. 737, 740 Schlegel, A. W. von 112, 157, 163, 165, 186, 189, 198 ff., 428, 532 f., 558 Schlegel, F. von 85, 87, 100, 112, 139, 153, 157, 171 f., 199 f., 339, 390 f., 471, 493, 516, 549, 556 Schlegel-Schelling, K. 520 Schleiermacher, E. 869 Schleiermacher, F. D. E. VIII, 4, 6 f., 14, 27, 37, 39, 54, 70 f., 74, 79–82, 85 ff., 95 f., 100 f., 104, 106, 112, 126 f., 129–134, 136, 138 f., 142, 145, 152 f., 155 ff., 163, 165, 170–173, 180, 183–186, 188 f., 191, 196–210, 215–221, 223 f., 226, 234 ff., 238 f., 247 ff., 251–256, 265, 277 f., 281, 284 f., 293, 297 ff., 301, 303 ff., 308 f., 311–314, 316, 320, 322, 325, 333 ff., 338 ff., 348, 365, 369 f., 373, 381 ff., 386, 389 ff., 396–399, 410, 421 f., 428, 431 ff., 437, 439, 449, 451 f., 465, 468, 472, 476 f., 484 f., 487, 494, 500, 502–506, 510 ff., 514, 518 ff., 523 ff., 529, 536 f., 543, 545 ff., 549–553, 555 f., 559, 561, 563 f., 568 f., 578, 583, 588, 599, 602 f., 613 ff., 618, 623, 625, 628, 634 f., 642, 645, 647 f., 650, 653, 664,

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Personenregister

677, 689, 709, 729, 745, 796, 802 ff., 806, 810 f., 814, 823, 828, 830, 832, 836, 842, 845 f., 868 ff., 874 ff., 879 f., 887 Schleiermacher, H. 215, 252, 870 Schleinitz, A. Graf von 132 Schliemann, H. 495 Schlosser, F. Ch. 186, 197 f., 201 f., 205, 211, 216, 222 ff., 226 f., 232 f., 236, 238, 243, 245 ff., 250, 253, 261 ff. Schmidt 605 Schmidt 339 Schmidt, Johannes 824 f., 901 Schmidt, Julian 195 f., 198 f., 212, 214, 217 f., 222 f., 234 f., 237, 239 f., 244 f., 250, 253, 257, 268, 272, 274, 276 f., 280 f., 284, 296, 315, 324, 326, 347, 349, 358 f., 361, 367, 398, 403, 433, 436, 439, 448, 553, 643, 683, 687, 776 f., 779, 788, 793, 798 f., 801, 804, 816, 830, 871 Schmidt, L. 520 f. Schmidt, P. W. 538, 543, 546 Schmidt, W. A. 268 ff. Schmoller, G. von 341 f., 463, 573 f., 644, 761, 795 f., 805, 878 f., 890 ff. Schneider, A. 440, 474 Schneider, K. F. Ch. 110 Schön, H. Th. von 876 Schön, Th. von 875 f. Schöne, R. 610, 886–893, 896, 900 Schönemann, E. 787 Scholz, B. V, 18, 33 f., 40, 43, 45, 47, 53, 90–94, 111–115, 117, 122 ff., 141–145, 157–161, 169, 177 f., 181, 193, 211, 214, 237 f., 261, 266 ff., 270 ff., 298 ff., 361, 369 ff., 390, 395, 401, 407, 433 f., 462, 472, 497, 673 f., 698, 716 f., 725, 729, 765, 772, 774, 793, 806 Scholz, Ch. 18

925

Scholz, H. Ch. 113 ff., 118, 126, 157 f., 161, 169, 178, 182, 267 Scholz, J. 16, 18 Scholz, L. VIII, 92 ff., 110, 115–126, 157, 164–169, 177 ff., 182, 184 ff., 191–195, 211, 236–239, 298 ff., 331, 369 f., 395, 462, 647, 682, 692, 697 f., 702 Scholz, P. 179 Scholz, R. 178 f. Scholz, W. J. 214, 238 f. Scholtz, G. IX Schopenhauer, A. 287 f., 301, 303, 616, 618, 630 Schröter, C. 792 f. Schröter, H. E. 707 f. Schubert, F. 114, 117, 121, 181 f., 185, 367 Schuderoff, J. 219 f. Schulenburg, S. von der 360, 797 f. Schultz 3 Schultz, H. 415, 417, 429 f., 493, 512 ff., 530 Schultz, J. 504, 506 Schultze, F. 770 f. Schulze 898 Schulze, G. E., gen. Aenesidemus 504, 506 Schulze, J. 69, 71 Schulze, Th. 71 Schulze-Delitzsch, H. 137 f., 297 f. Schulze-Gävernitz, H. von 618 f. Schumann, R. 463 Schuster, P. R. 768 f. Schwab, G. 532 f. Schwabe 448 Schwabe, L. von 539, 541 Schwarz, K. 226, 228 Schwerin-Putzar, H. M. Gräfin von 86 f., 127, 135 f., 166, 170, 187 f., 190, 217, 226, 389, 406, 535, 537, 454, 676, 679 f., 779

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Personenregister

Schwerin-Putzar, M. Graf von 106, 235 f., 240 Seitzel 390 Sennert, D. 833 f., 862 Seydel, R. 464 f., 616 f. Shakespeare 17, 75, 142, 455, 574, 780 Sigwart, Ch. 292 f., 493 f., 502–506, 551, 635, 640, 642, 656 f., 766, 818 f., 843, 857, 865 f., 872 ff., 883, 892, 895 Simson, M. E. S. von 208 f., 259 f. Sokrates 765 Sommerbrodt, J. 684 f., 707 Sophie Charlotte, Königin von Preußen 744 f. Sophokles 46, 113 f. Spangenberg, G. 364 Spangenberg, L. 364 Spangenberg, P. 364 Speiher, P. 461 Spencer, H. 856 f. Spiegelberg, O. 619 ff. Spielhagen, F. 832 Spieß, Ch. H. 56 f. Spinoza, B. 46, 175, 302 ff., 313, 320 f., 326, 381 f., 392, 504, 511, 543, 551, 555, 559, 564, 572, 574, 586, 598 f., 608, 611, 613, 619 f., 626 ff., 651 ff., 673 ff., 707, 746, 767, 772 Springer, A. 454, 456, 493, 499, 647, 652 de Staël, A. L. G. 732 Staudt, K. G. Ch. von 645 f. Steenblock, V. IX Stefan, J. 636 Steffens, H. 199 f., 532 f. Steffensen, K. 371, 373 ff., 379 ff., 405, 410, 423, 438, 458, 464 f. Stein, Ch. A. E. von 74, 77, 726 Stein, H. F. K. Reichsfreiherr vom und zum 875 f.

Stein, L. 790 Steinla, M. 213 f. Steinmeyer, F. L. 73 f., 828 f. Steinthal, H. 30, 66 f., 84, 86, 89, 113, 146, 159, 161 ff., 181 f., 186, 495, 612, 614, 795 Stern, A. 875 ff. Stobbe, J. E. O. 610 f., 618, 620 f., 624, 721 Storm, Th. 368, 532 f. Strauß, D. F. 78, 88, 338, 346, 647 Strauß, F. A. 6 f. Strodtmann, A. 765 Strümpell, L. 540 f., 636 Stubenrauch, S. E. Th. 155 Studemund, W. A. F. 600 f. Swammerdam, J. 436 f. Sybel, H. von 208 f., 222 f., 239, 241, 259, 261 ff., 274, 443, 510 f., 659 Sydow, K. L. A. 6 f., 69, 133, 135 f., 163, 170, 187, 189 Taine, H. 848 f. Taubert, W. 204 f. Taurellus, N. 861 Taylor, H. 728 Teichmüller, G. 9, 11, 24–33, 38, 381, 464 ff., 696 f. Telesius, B. 860 Tellkampf, J. L. 629 Tempeltey, E. 78, 125 f., 133, 136 f., 144 f., 159, 229 ff., 237 f., 268, 309 ten Brink, B. 628 f. Teubner, B. G. 213 f. Thaulow, G. F. 458, 597 f. Theophrast 156, 863 Thilo, Ch. A. 613 f. Thomas von Aquin 37 Thorwaldsen, B. 113 f. Tieck, L. 171, 287, 397, 491, 532 f., 544, 716 f., 804 Tiedemann, D. 814

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Personenregister

Tischbein, J. H. W. 675 f. Tizian 304 Tobler, A. 284, 575 Toeche, Th. 457 f., 599, 601, 611– 614 Tony 331 Treitschke, E. von 357, 363, 442 Treitschke, E. H. von 363 Treitschke, H. von VI, 233, 235, 248, 250 f., 273 f., 284, 322 f., 338, 341 f., 344 f., 356–359, 361 ff., 387, 438 ff., 442, 454, 457, 459, 467, 500, 507, 528, 532, 556–562, 567 f., 578–581, 584 f., 592, 594 f., 611, 615, 623, 631 f., 638 ff., 658 f., 672, 676, 683, 720, 728 f., 739, 758 f., 796, 842 f., 850 f., 865, 870, 881–884 Treitschke, O. von 557 f. Trendelenburg, E. 431 f. Trendelenburg, F. 12, 531 f. Trendelenburg, F. A. 11 f., 35, 37, 41, 46 ff., 69, 98, 150, 214, 243, 245, 276, 281, 286, 288, 297, 302 f., 324, 334 ff., 339, 368, 375 f., 381 ff., 388 f., 394, 397, 403, 414, 416 f., 419, 431 f., 454 f., 530 ff., 535, 548, 550, 554, 574, 580, 583, 591, 593, 596 f., 601, 603, 616 ff., 625 ff., 642 f., 652, 672, 675, 683, 693, 771, 887 Trendelenburg, K. 431 f. Trendelenburg, K. D. 431 f. Treue, W. 606 Tribechovius, J. 113 f. Twesten, A. D. Ch. 6 f., 11, 14 f., 98, 128 f., 131 f., 239 f., 242, 259 ff., 263, 274, 286, 297, 324 f., 395, 523 f., 549, 552, 602 f. Twesten, K. 239 f., 261 Ueberweg, F. 247, 265, 292 f., 302, 369, 372, 376, 378, 381, 455,

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457 ff., 502, 554, 562, 593, 596, 598, 600 f., 603, 608, 611–614, 622, 651, 654, 683 Uhland, L. 275, 647, 747 Unruh, H. V. von 239, 241 f. Urlichs, L. 573 f. Usener, Hans 646 f. Usener, Hermann VI, 67 f., 70, 79, 81 f., 84 f., 88, 96, 98, 104, 107, 109 ff., 113, 116, 136, 141, 144, 146 f., 149, 151, 153, 156, 162, 168, 181, 183, 186, 192, 207, 213 f., 225, 238, 264 f., 269 f., 275, 279, 306 f., 317–320, 324, 329 f., 332, 334–337, 340–343, 352–357, 366, 371–378, 385, 389, 393 f., 396, 405 f., 413, 420, 424, 426, 441, 444, 453- 456, 459, 462, 466, 497–500, 514 ff., 528, 548 f., 564 ff., 569, 571, 582–592, 600 f., 618–621, 624, 628 f., 635, 646 f., 657 ff., 664, 667 f., 672, 705, 714, 723, 756, 762–767, 774, 808, 829 ff., 880, 883, 892 Usinger, R. 498, 500, 510, 554, 557, 562 ff., 566, 597, 604, 608 Usteri, L. 546 Valentinus 100 f., 860 Varnhagen von Ense, K. A. 171 f., 195 Varnhagen von Ense, R. A. F. 194 f. Varrentrapp, K. 658 f. Vautier, B. 730, 732 Veit, M. 137–140, 183, 197, 206, 208 f., 214, 217, 222, 234, 268 f., 295 ff. Vergil 561 Victoria Adelaide Mary Louisa von Großbritannien und Irland 345, 563, 727 f., 845 Vincke, F. L. W. Ph. Freiherr von 249, 251, 875

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Personenregister

Vincke, G. E. F. Freiherr von 134, 136, 164, 208 f., 241, 257, 615 Vincke-Olbendorf, K. F. Freiherr von 234 f., 240 Virchow, R. 136 ff., 196, 517 Vischer-Bilfinger, W. 374–380, 405, 410, 427, 429, 461, 464 f., 483 f., 513 Vischer-Merian, K. 371 f., 374, 377, 405, 415 f. Vogler, J. K. W. 353 Vogt, C. 517 Volkmann, C. 735 Volkmann, W. F. 734 f. Volkmar, G. 75, 77 Voltaire 325 Wachsmuth, C. 109 f., 146, 261, 317, 440 f., 847 f. Wackernagel, Ph. 76 f. Wackernagel, W. 76 f., 410, 412, 530 f. Wagener, H. 72 f. Wagner, A. 413, 415 Wagner, R. 630, 760 f., 765, 786 ff. Waitz, G. 319, 400, 443 f., 519 f., 623 f. Waitz, Th. 301, 303, 603 Waldeck, B. F. L. 239 f., 242, 253 Weber 293 Weber, A. 196 Weber, E. H. 653 f. Weber, M. sen. 196, 206, 208, 227 f., 232 f., 239–243, 246, 255, 257 f., 454, 456 Weber, M. 196, 870 Wegele, F. X. 628 f. Wehrenpfennig, W. 29 ff., 33 f., 36 ff., 40 ff., 46, 48, 58 f., 63, 66, 69 ff., 75 f., 81, 86, 88 ff., 94, 102, 104–108, 118 f., 124 f., 127, 132, 134, 136 f., 139 f., 147 ff., 151 f., 155, 158 f., 161 f., 164, 168, 173,

183, 185, 196, 203 f., 206, 212, 231 ff., 234, 237, 240, 242, 259 f., 263, 268 f., 274 f., 280 ff., 286, 289, 292, 296, 315, 322, 324 f., 334, 358, 363, 373, 383 ff., 387, 421, 436, 439, 569, 643, 779 Weingarten, H. 41 ff., 46, 67, 71, 73, 83, 806 Weinhold, K. G. J. 530 f., 541 f., 562 f., 595, 778 f., 783, 786 f., 812, 821 Weinhold, M. 251 Weiß, B. 802 f. Welcker, F. G. 203 Wellhausen, J. 838 Weniger, E. 71 Werenfels, S. 153 Werner, E. 9 Westermann, A. 527 f. Westermann, G. VI, VIII, 528, 753, 760 f., 764, 767 f., 772, 775, 780 ff., 784 f., 787, 789, 794, 817 f., 832 Westphal, R. 294 f. de Wette, A. R. Ch. 251 f. de Wette, W. M. L. 251 f., 537 Wichern, J. H. 88, 90, 107 Wiese, L. 301, 303 Wieland, C. M. 468 Wilbrandt, A. 217 f., 245, 248–251, 258 f., 272–276, 281 f., 286 ff., 290, 693, 700, 816 Wildenbruch, E. von 809, 811 Wildenbruch, L. von 615 Wilhelm Friedrich Ludwig von Preußen (Wilhelm I.) 64, 69, 71, 101, 132, 134, 164 f., 198, 217, 240, 254, 257, 296 f., 343, 345, 348, 456, 568 Wilhelmi, F. Ch. 38, 41 Willich, E. von 86 f., 152 f., 172, 219 f., 535, 817, 846 f., 870 Willich, H. von 219 f. Willich, J. E. Th. von 87

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Personenregister

Willich, L. von 846 Winckel, C. E. W. s. C. E. W. Dilthey Windelband, W. 769 ff., 812 f. Windischmann, F. H. H. 163, 165 Windischmann, K. J. H. 165 Winkelmann, J. 487 Winter, L. von 239, 241 Wirths, K. s. Karoline Baur Wirths, L. 18 Wirths, S. L. Ch. 17, 328 Wittel, L. V, IX Witzleben, J. von 585 Witzleben, M. von 521, 527, 533, 563, 571, 575 ff., 581, 585 Wöniger 340 Wolf, F. A. 100 f. Wolfsohn, L. W. 52 f. Woltmann, A. 876 f. Wundt, W. M. 453, 455, 642 f., 649 ff., 653–657, 770 f., 879 f. Wuttke, H. 244 f., 247 Yorck von Wartenburg, Graf H. 829 f., 850, 856 f., 878, 883 Yorck von Wartenburg, Graf J. D. L. 829 f., 850

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Yorck von Wartenburg, Graf L. 720, 839 Yorck von Wartenburg, Graf Paul VI, 719 f., 797 ff., 804–815, 818 ff., 825–830, 838–842, 844 ff., 850, 854–859, 867, 878, 880- 883 Yorck von Wartenburg, Graf Peter 810 f. Yorck von Wartenburg, Gräfin L. 719 f., 797, 839 Zabel 201 f. Zangemeister, K. F. 760, 771 Zarncke, K. Th. 218, 840 f. Zeller, E. 413 f., 441 f., 444, 453 f., 459, 561, 563–566, 575, 622 ff., 636, 640, 643, 647, 658, 784, 879, 884, 891, 894–897, 900 Ziller, T. 465 Zimmermann, R. von 511 f., 534, 537, 544, 636 Zinn, E. 888, 900 Zöppritz, R. 466 Zupitza, J. 778 f., 782, 787 Zyro, F. F. 545 f.

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Wenn Sie weiterlesen möchten ... Gudrun Kühne-Bertram / Frithjof Rodi (Hg.)

Dilthey und die hermeneutische Wende in der Philosophie Wirkungsgeschichtliche Aspekte seines Werkes Der Band zieht eine Bilanz der Dilthey-Forschung der vergangenen Jahrzehnte und thematisiert verschiedene Aspekte der Wirkungsgeschichte von Diltheys Philosophie vor dem Hintergrund der Frage nach der »hermeneutischen Wende«. Dabei wird deutlich, dass Diltheys Absage an das »starre«, ungeschichtliche Apriori Kants und seine Wende zu einer historischen Vernunft wie kein anderes Denken das Ende aller ahistorischen Systematik in der Philosophie eingeleitet hat. Die Beiträge des Bandes berichten über die Konsequenzen dieses Ansatzes für ein breites Spektrum geisteswissenschaftlicher Disziplinen. Mit Beiträgen von Maria Nazaré de Camargo Pacheco Amaral, Giuseppe Cacciatore, Ulrich Dierse, Jean-Claude Gens, Salvatore Giammusso, Antonello Giugliano, Jean Grondin, Hans Ineichen, Helmut Johach, Matthias Jung, Guy van Kerckhoven, Tom Kindt, Gudrun Kühne-Bertram, Hans-Ulrich Lessing, Rudolf Lüthe, Rudolf A. Makkreel, Gabriele Malsch, Massimo Mezzanzanica, Hans-Harald Müller, Jos de Mul, Nikolaj Plotnikov, Frithjof Rodi, Gunter Scholtz und Werner Stegmaier.

Gunter Scholtz / Gudrun Kühne-Bertram (Hg.)

Grenzen des Verstehens Philosophische und humanwissenschaftliche Perspektiven Der Band untersucht, inwiefern Hermeneutik und Humanwissenschaften Verstehensgrenzen kennen bzw. behaupten. Der erste Teil ist Hermeneutiken des 18. und 19. Jahrhunderts gewidmet, der zweite beleuchtet Positionen des 20. Jahrhunderts. Abschließend werden ausgewählte humanwissenschaftliche Disziplinen befragt. Mit Beiträgen von Karl Acham, Maria Nazarè de Camargo Pacheco Amaral, David Carr, Jobst Finke, Matthias Jung, Guy van Kerckhoven, David E. Klemm, Gudrun Kühne-Bertram, Hans-Ulrich Lessing, Rudolf A. Makkreel, Käte MeyerDrawe, Gerhard Plumpe, Otto Pöggeler, Werner Schiffauer, Gunter Scholtz.

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Neue Studien zur Philosophie Band 23 Stefan Lang: Spontaneität des Selbst 2010. 144 Seiten, gebunden ISBN 978-3-89971-774-7 Bedeutung und Konstitution von menschlichem Selbstbewusstsein – naturalistisch, analytisch und idealistisch interpretiert.

Band 24 Robert Hugo Ziegler: Buchstabe und Geist Pascal und die Grenzen der Philosophie 2010. 396 Seiten, gebunden ISBN 978-3-89971-790-7 Theorie und Praxis der Sprache bei Pascal: Dialektik von Innen und Außen, von Geist und Buchstabe.

Band 25 Jörg Hardy: Jenseits der Täuschungen – Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung mit Sokrates 2011. 465 Seiten, gebunden ISBN 978-3-89971-650-4 Eine Studie zu Platons Theorie des gelingenden Lebens und eine systematische Studie über Selbsterkenntnis, Selbstbestimmung und moralische Motivation.

www.vr-unipress.de | Email: [email protected] | Tel.: +49 (0)551 / 50 84-301 | Fax: +49 (0)551 / 50 84-333

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Philosophie und Psychologie im Dialog hg. von Christoph Hubig und Gerd Jüttemann Diese Reihe soll zum regen Austausch zwischen zwei Fachrichtungen beitragen, die einander viel mitzuteilen haben. »Philosophie und Psychologie im Dialog« sieht vor, dass zentrale Gegenstände beider Disziplinen jeweils von einer/einem Philosophin/Philosophen sowie einer/einem Psychologin/Psychologen vorgestellt und in einem sich daran anschließenden wissenschaftlichen Briefwechsel diskutiert werden.

Band 5: Joachim Küchenhoff / Klaus Wiegerling Leib und Körper 2008. 159 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45173-1

Band 7:Klaus-Jürgen Bruder / Friedrich Voßkühler Lüge und Selbsttäuschung 2009. 137 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45200-4

Band 1: Wolfgang Mack / Kurt Röttgers Band 8: Helmut Jungermann / Gesellschaftsleben und Christoph Lütge Seelenleben Anknüpfungen an Gedanken von Georg Simmel

Entscheidung und Urteil

2007. 131 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45170-0

2009. 115 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-40419-5

Band 2: Julius Kuhl / Andreas Luckner Band 9: Matthias Kettner / Freies Selbstsein Wolfgang Mertens Authentizität und Regression Reflexionen über das Unbewusste 2007. 144 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45171-7

Band 3: Rolf Haubl / Volker Caysa Hass und Gewaltbereitschaft 2007. 138 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45172-4

Band 4: Günter Zurhorst / Niels Gottschalk-Mazouz Krankheit und Gesundheit 2008. 148 Seiten mit 3 Abb. und 1 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-45174-8

2010. 160 Seiten mit 5 Tab. und einer Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45202-8

Band 10: Margret Kaiser-El-Safti / Werner Loh

Die PsychologismusKontroverse 2011. Ca. 144 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45203-5 Mehr Informationen zu dieser Reihe finden Sie unter www-v.rde

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