Briefe über die Kantische Philosophie I 9783111432168, 9783111066622

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Briefe über die Kantische Philosophie I
 9783111432168, 9783111066622

Table of contents :
Vorrede
Inhalt
1. Brief
2. Brief
3. Brief
4. Brief
5. Brief
6. Brief
7. Brief
8. Brief
. Brief
10 . Brief
11. Brief
12. Brief

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B r i e f e über die

Kantischc Philosoph!«

Von

Carl Leonhard Reinhold.

E r s t e r

B a n d .

Leipzig, bey

Georg

Joachi m 1 7 9 0

.

Göschen

Vorrede. ! © e r M ann, an welchen die hier gesammel­ ten B rn fe gerichtet sind, gehört unter die Wenigen, denen Philosophie am Herzen liegt, und die von der eben nicht sehr beträchtlichen Anzahl der Gelehrten, welche sich gegenwär­ tig mit ihr beschäftigen, den klein en Theil ausmachen. Philosophie ist zwar nicht sein bürgerliches Berufsgeschaf Aber sie inte­ ressier ihn vielleicht eben darum mehr, als die meisten, für welche sie es ist; sie interessirt ihn unmittrlbar durch sich selbst. Philoso­ phiren heißt ihm die W ahrheit um I h r e r selbst willen suchen, die, pflegt er zu sagen, nirgendwo mehr verkannt w ird, als wo sie Marktpreise hat. Ungeachtet aber die Philosophie ziemlich weit außer dem Wirkungskreise seines Posten liegt: so ist sie doch gleichwohl für ihn nichts weniger als bloßer Zeitvertreib. Als W e lt­ bürger, ein Charakter, den er mit dem eines S taatsbürgers sehr wohl zu vereinigen weiß.

f nnt er vielmehr keine angelegentlichere ttttb e ivthonere V> schaftiqung. Er giebt zu, d ß nran ihrer entbehren k^nne, um den kirch­ lichen Lcl^öearrff von E nem der drey im heilia n lonitfT' n Reiche privileqirtenB k^ ntniffV zu bew-isen, u w die And rn zu widerle­ g e n , um nach dem Buchstaben positiver G es tze, oder nach dem S in n e des R egenten R 'ch tzu sprechen, um aleÄrzs glücklicheKuren zu machen, ja sogar um a ls S ta a ts-F in a n z u n t K riegsm inster eine glanzendeRolle zu spie­ len . — Allein desto weniger tst er von der Ueberzeugung abzubringen, daß die Festse­ tzung der Pflichten und Rechte der Menschheit in diesem , — und des G rundes unsrer E r­ w artungen von einem zukünftigen Leben ohne Philosophie schlechterdings unmöglich sey. Auch hierin weicht er von der herrschenden D enkart des Zeitalters ab, daß er diese F e s t­ se tzu n g für das wichtigste von allem halt, w a s M enschen, und insbesondere P h iloso­ phen, wichtig seyn kann. Er glau b t, wir würden alle Ursache haben, die R e a l i t ä ­ t e n , die nichts weiter als keine N e g a t i o ­ n e n sind, in unsre Philosophie zurück zu w ü n ­ schen, w enn es dahin käme, daß unsre P h i­

losophen keine anderen Realitäten anerkennen

wollten, als solche, die sich mit den H a n d e n g r e i f e n lassen . Nicht ohne Kummer glaubt er bemerkt zu haben, daß der Zustand unsrer wissenschaft­ lichen und gelehrten Kultur durch ein sich im­ mer weiter ausbreitendes Streben nach dem h a n dg r e i f l i c h S o l i d e n bestimmt werde, daß der nie sehr große Enthusiasmus der N a ­ tion für ihre Dichter und Philosophen sicht­ bar abnehme, daß die Sittlichkeit durch die Sittenlehrer immer allgemeiner zur eigennü­ tzigen Klugheit herab gewürdiget, daß die Rechte der Menschheit von den Rechtverständigen immer ausdrücklicher aus dem Vorcheile eines einzelnen S taates erklärt, daß die Angelegenheiten der Religion von hell denken» den Köpfen bey Seite gesetzt, und größtentheils dem fruchtlosen Kampfe zwischen den Vertheidigern des Aberglaubens und Unglau­ bens überlassen werden, daß dt-Elem entar­ philosophie durch das Bestreben- sie der V or­ stellungsart des gemeinen M annes näher zu bringen, ausarte, und der W erth der Lehrbü­ cher nach dem Verhältnisse, in welchem sie das Denken ersparen, geschätzt werde, daß jede Schrrst, dre neue Ideen aufstellt, in

eben dem Verhältnisse mißverstanden, w ider­ legt, und verschrieen w erde, und daß endlich die wenigen Selbstdenker in ihren von Zeit zu Z ' it, fast gegen den D u n k des P u b lik u m s, er­ scheinenden Versuchen steh unter einander m ehr als jem als, mit und ohne Vorsatz, und so bestimmt entgegen m benen, daß immer der E in e niederreißt, w a s der Andere gebaut hat. D a meiner Ueberzeugung nach dieH auptquelle dieses Unwesens da, wo sie mein F reu nd am wenigsten vermuthet hatte, im i n n e r e n Z u s t a n d e der Philosophie selbst, und zwar in dem gänzlichen M angel derjenigen P rin c i­ pien liegt, die er für langst gefunden halt: so blieb m ir, um ihn zu beruhigen, nichts anders übrig, als der Versuch, ihn a u f einige der w e­ sentlichsten Bedürfnisse der b i s h e r i g e n Philosophie aufmerksam zu machen; und da ich eine N e u e kennen gelernt habe, die diese Bedürfnisse zu befriedigen verbricht, ihn zum S tu d i u m derselben einzuladen, aufznm un. lern, und vorzubereiten. A u f diese W eise entstanden die W inke über die Beschaffenheit der gegenwärtigen und zukünftigen Phiioso. phie, die den I n h a l t dieser B riefe ausmachen.

M in Freund hat di"se Winke verstattden. Sic haben ihn zu einer Kritik des Sy> stemcs vermocht, das er bisher in Ermang­ lung eures besseren angenommen halte, und das noch keineswegs zur zweyten Natur seiner Vernunft geworden war. Freylich hatte er es auch weder selbst erfunden noch verbessert. Denn seitdem er über den dogmatischen T heis m us selbst denkt, ist er überzeugt ge­ wesen, daß sich derselbe vielleicht besser erör­ tern, aber gewiß nicht fester begründen lasse, als es schon vor ihm durch andere ge­ schehen ist. Vielleicht würden meine Briefe ihren Zweck verfehlt haben, wenn mein Freund durch tägliche Vorlesungen über Phi­ losophie, nach was immer für einer der bishe­ rigen Vorstellungsarten, genöthiget gewesen wäre, wahrend der Zeit, da er im Begriffe war, sich in einem völlig neuen Gesichtspunk­ te nach und nach zu orientiren, täglich zu dem Alten zurück zu kehren, aus welchem er gera­ de das Gegentheil zu sehen gewohnt war. Würde er in diesem Falle nicht, vielleicht oh­ ne es selbst zu wollen, durch lautes Denken widerlegt haben, was er in stillen Betrach­ tungen kaum zu prüfen angefangen hatte? Haue mein Freund irgend ein metaphysisches

Snstem als Schriftsteller neu aufgestellt, oder auch nur neu eingekleidet, so würde ich bey I h m zwar nichts von der gewöhnlichen Eitel­ keit berühmter M änner, die durch jede V e r ­ änderung in der Vorstellungsart ihrer Zeitge­ nossen, die nicht durch sie selbst bewirkt w u r­ de, zu verlieren glauben — und nur sehr weniges von der natürlichen Vaterliebe des Schriftstellers für die Frucht seines Geistes — aber vielleicht um so viel mehr von einer gewissen S ta rk e und Evidenz seiner vorigen Ueberzeugungen zu besorgen gehabt haben, dre sich in ähnlichen Fallen aus psychologischen G ründen wohl eben so g u t, als au s der Gründlichkeit des vertheidigten S ystem s er­ klären laßt. Endlich kam mir bey meinem Freunde nicht wenig zu S ta lte n , daß er sich eben itzt in der V lüihe des männlichen Alters befindet. Nicht etwa weil im entgegen ge­ setzte^ Falle von ihm gelten würde T u r p e putant parcre minoribus, et quae Imberbes didicere fenes perdenda fateri:

sondern weil es ihm dann vielleicht an M u th und Zeit gefehl' haben würde, sich einer Zer­ gliederung seines Lehrgebäudes zu unterzie-

V or

e d e.

IX

Heu, Cvt) welcher kein S te in desselben über d.m andern bleiben durfte. D a ich Briefe und kein S y stem , W in ­ ke und keine D em onstrationen, fü r einen ge­ übten Selbstdenker, und nicht, weder für ei­ nen von Vorkenntnissen entblößten A nfänger, noch auch für einen G elehrten, der die P h i­ losophie nur durch fein G e d ä c h tn iß kennen gelernt bat, schrieb: so durfte, ja, mußte ich sehr oft Erörterungen und Beweise weglassen, welche in jedem der entgegen gesetzten F alle hatten gegeben werden müssen. B ey der Durchsicht der bereits im M e r ­ k u r abgedruckten B riefe habe ich durch einge» schaltete Erörterungen einigen m ir bekannt gewordenen Mißverständnissen meiner M ey­ nung abzuhelfen, und durch verdoppelte S o rg fa lt für K larheit und Präcision des A us­ druckes den künftigen vorzubeugen gesucht. Aber wenn mich ein Vertheidiger der mysti» sichen Theologie für einen N aturalisten a u s­ r u f t, unter den neuesten Feinden der O ffen­ barung nennt, und als einen solchen m it S p o tt und Ernst zurechte weifet, weil ich mich gegen den S up ern aturalism u s, d as heißt ge-

X

.b c v r e

f.

gen ein philosovhisches System erklärt habe, welches die in der Form der Vernunft gegründete Idee von der Gottheit aus übe»na­ türlichen Erscheinungen ableitet: sogesteheich, daß es mir schlechterdings unmöglich ist, so l* chett Mißdeutungen zuvor zukommen. Noch weniger würde mich eine viel größere Deut­ lichkeit im Denken, und Gewalt über die Sprache, als ich zu erringen im Stande bin, gegen die Zweifel und Einwürfe derjenigen schuhen, die, weil sie in meinemBuche nichts als Blößen aufsuchen, in demselben auch nichts als Blößen finden können. Der nächstfolgende Band wird sich hauptsächlich mit den bisherigen Vorstellung^ arten über Sittlichkeit, Freyheit und Instinkt, verglichen, mit den Resultaten be­ schäftigen, welche die kritische Philosophie über diese wichtigen Gegenstände fest )c;?t. Jena, den 2z. April 17^0.

Inhalt. 1. Brief. D er Geist unsers Zeitalters und der gegenwärtige Zustand dcrZKissenschaslen sündigt eine allgemeine Re­ formation der Philosophie an. S eile i

2. B r i e f . Fortsetzung des Vorigen. B edürfniß einer ober­ sten Regel des Geschmacks, leitender Principien fü r positive Theologie und Jurisprudenz, hauptsächlich aber eines ersten Grundsatzes des N aturrechts und der M oral. S eile 39

3. B r i e f . Die Erschütterung auf dem Gebiethe der Philoso­ phie der Religion kündigt eine Reform ation dieser Philosophie an. Mein Urtheil von der Kantischcn Philosophie überhaupt. S eite 80

4. B r i e f . D as Resultat der Kantischen Philosophie über die Frage vom Daseyn G ottes, verglichen sowohl mit den allgemeinen als den besonderen Resultaten der bisheri­ gen Philosophie über diesen Gegenstand. S eite 110

5. B r i e f . D a s Resultat der Kritik der V ernunft über den nothwendigen Zusammenhang zwischen M o ral und R e­ ligion. S eite 145

6 . B r i e f.

D c r Kautische Dernunstglauben, verglichen mit dem metaphysischen und huperphysischen Ueberzeugungsgrundc. Seite 164

7. Brief. Ueber die E le m e n te , und den b ish e rig e n G a n g dcr U eb erzeugu ng v on den G r u n d w a h r h e it e n der R e lig io n . S e ite 184

8. B r i e f . D a s Resultat dcr Kritik der V ernunft über das zukünftige Leben. Seite 211 y. B r i e f . E rörterung des metaphysischen Erkenntnisgrun­ des der Unsterblichkeit der Seele, in Rücksicht sowohl auf den Ursprung als auch auf die Folgen desselben. S e ite 333 10. B r i e f .

Grundlinien zur Geschichte der Id e e eines G ei­ stes. S e ile 262 11.

Brief.

Schlüssel zur rationalen Psychologie der Griechen. E c ite 288 i2. B r i e f .

Winke über den (Sinfluf; der unentwickelten und miß­ verstandenen Grundwahrheiten der Religion auf bür­ gerliche und moralische Kultur. S eite 332

B r i e f e über

die Kantische Phi l osophi e.

A

Erster

Brief.

D e r Geist u n s r e s Z e i t a l t e r s und der g e g e n w ä r t i g e Zusta nd der Wissenschaf­ ten k ü n d i g t eine a l l g e m e i n e R e f o r m a ­ tion der P h i l o s o p h i e an. bestehen also au f ihrer M e y n u n g , lieber Freund, daß die verhaltnißmäßige C ultur des G ei­ stes unsrer N ation in dem protestantischen Theile abnehme, seit dem sie in dem Katholischen zunim m t? I c h könnte S ie fragen, ob S ie bey der V erglei­ chung, aus der S ie dieß Resultat gezogen, a u f der einen S e ite die wirklich größere R aschheit, die sich m it dem ersten E ifer verliert, au f der andern aber die scheinbare Langsamkeit in Anschlag gebracht ha­ b e n , die sich auf eine optische Täuschung gründet, und die bey der fortschreitenden V e rn u n ft, so wie bey der S o n n e , in eben dem Verhältnisse auffallen­ der wird, als beyde über ihren H orizont höher hin­ a u f r ücken?— Allein S ie haben, nach ihrer V e r­ sicherung, den G a n g des Geistes unter den P ro te ­ stanten nur mit sich selbst verglichen, und befunden, daß er sich nicht etwa nur langsamer fort bewege, sondern wirklich zurück zu gehen im B egriffe sey.

4

Erster B r i e f .

Die vielen Thatsachen, durch welche sich Ihnen die­ se Erscheinung ankündiget, eröffnen in der perspek­ tivischen Stellung, die Sie denselben in ihrem Briefe gegeben haben, allerdings keine tröstliche Aussicht in die Zukunft; und ich gestehe Ihnen, daß ich keine Einzige darunter fand, die ich laugncn oder auch nur in Zweifel stehen könnte. Ich ent­ halte mich aber auch aller Einwendungen, die ich ge­ gen die Bedenklichkeit einiger dieser Thatsachen vor­ bringen könnte; weil Sie die Wahrscheinlichkeit ih­ rer Meynung mehr nach der Zusammenwirkung a ll er , als nach der Starke der einzel nen angege­ benen Gründe beurtheilt wissen wollen. Um Ihnen zu zeigen, daß ich Sie ganz verstanden habe, will ich Ihre wesentlichsten Bemerkungen au6 dein Ge­ folge von Thatsachen und Schlüssen, womit Sie die­ selben in Ihrem Briefe begleitet haben, ausheben, und mit meinen eigenen Worten hier wiederholen. Seit dem (meynen Sie) der freye Vernunftgebrauch in den Angelegenheiten der Religion für feine alten Vertheidiger den Reih einer verbothenen Frucht zu verlieren anfangt, trit an die Stelle des vorigen Eifers für die Rechte der Vernunft eine G l e i c h g ü l t i g k e i t ein, die bereits hin und wie­ derin Haß und Ve r a c ht u ng übergeht, und sich mit einem allgemeinen Mißtrauen zu enden droht. Wer nicht schon überzeugt ist, daß die Vernunft itt unsern Tagen zu weit gegangen ist, der fürchtet we­ nigstens, sie werde zu weit gehen, und sucht entwe-

Erster Brief.

5

der ihre alten w i l l k ü h r l i c h e n Schranken wieder hervor, oder erfindet sich Neue. —

D as ausschlies-

sende Recht der Vernunft über den Bibelsinn zu entscheiden, dieses Recht mit dessen Anerkennung der ganze Protestantismus steht oder fallt, wird selbst von protestantischen Theologen mit einem Ei» fer angefochten, der nicht wenig dazu beytragen mußte, die alten Hoffnungen und Anstalten der rö­ mischen W i e d e r v e r e i n i g e r rfen. —

wieder auszuwe­

Die Appellationen von der Vernunft an.

E m p f i n d u n g , an gesunden M e n s c h e n v e r ­ stand, an I n t u i t i o n s s i n n , G o t t e s g e f ü h l u. f. w. werden immer lärmender und häufiger, und von jedem dieser Winkeltribunale werden Entschei-. düngen gegen die vollgültigsten AuSsprüche der E r­ steren eingeholt. — Die Wissenschaft, von wel­ cher alle übrigen, die in das Gebieth der eigentlichen Philosophie gehören, ihre Grundsähe entlehnen, diese Hauptwiffenschaft, die von jeher da» eigen­ thümlichste und angelegenste Geschäft der Vernunft ausmachte, und durch deren Bearbeitung fich die L e i b n iz e , die W o l f e und B a u m g a r t e n um die edelsten Vorzüge unsers Zeitalters so sehr ver­ dient gemacht haben, mit Einem Worte, die M e ­ taphy si k wird auf eine A rt vernachlässiget, die mit den Ansprüchen unsers Iahrhunderteö auf den Ehrentitel des P h i lo s op hi s ch e n den seltsamsten Contrast macht.

Als eine unbedeutende baufällige

Verschanzung wird sie den Feinden der Religion und der Moralität Preis gegeben, gegen welche sie »och

Erster B r i e f. vor kurzem als die wesentlichste Schuhwehre qebraucht wurde.

Marmköpfigc Schwärmer, und

kaltherzige Sophisten sind gegenwärtig mehr als je­ mals geschäftig, durch die Trümmer dieser Wissen­ schaft die alten Systeme des Aberglaubens und Un­ glaubens neu zu unterstühen.

D ie Partheyen der

N a t u r a l i s t e n und S u p e r N a t u r a l i s t e n grei­ fen immer weiter um sich ; und da sie die Waffen, womit man sie sonst bekämpfte, und die man ihnen nun überlassen zu wollen scheint, immer geschickter zu ge­ brauchen lernen: so müssen sie, weit entfernt einander selbst aufzureiben, vielmehr durch ihren Kam pf immer neue Starke gewinnen, in der g e l e h r t e n

W e lt

die Kräfte des menschlichen Geistes mit unnützen Streitigkeiten aufzehren, und in der M o r a l i sch e n den alten Widerspruch zwischen Verstand und H er­ zen verewigen.

D ie Hoffnungen der Gutgesinn­

ten diesen unseligen S tre it durch Vermittlung der Vernunft beygelegt zu sehen, verschwinden in eben dem Verhältnisse, als eben diese Vernunft in so vielen andern Fächern des menschlichen Wissens die unerhörtesten Proben ihrer Wirksamkeit und S t a r ­ ke ablegt. auf

die

S ie , die man noch nie so allgemein bis unbedeutendsten Kleinigkeiten herab als

Schiedsrichterinn herbeygerufen ha t , wird über die wichtigste Angelegenheit der Menfchheit immer lau­ ter als Friedenestörerinn angeklagt; und während ihr vorgeblicher S ieg

über die alten Vorurtheile

durch unbärtige Knaben mit Trlumphgeschren ange­ kündiget w ird : stehen M änner auf, und zeihen sie.

Erster Brief.

7

Im Angesichte von Männern, des Hochv.'rrathS an der Menschheit; beweisen, daß sie das Gegentheil von dem demonstrire, was Gott off en b ar e , und schärfen, ohne'«« selbst zu wissen und zu wollen, die abgenützten Waffen deö Aberglauben« und Un» glauben«. — Man vergleiche unsre Akademien der Wissenschaften und Künste mit den öffentlichen und geheimen Gesellschaften, die unter allerley Namen und Vorwand an der Fortdauer unsrer Unmündigkeit arbeiten, und deren Verschiedenheit da« planmäßige Ansehen hat, die Vernunft von mehrern Seiten zugleich in die Enge zu treiben; und urtheile, welche von diesen beyden so sehr entgegen» gesetzten Arten von Verbindungen gegenwärtig blü» hender und thätiger sey? Welche von beyden hat eine größere Menge von Mitgliedern, mehr Eifer bey ihren Bemühungen, und «in zahlreicheres und empfänglicheres Publikum auszuweisen ? — Zuge» geben endlich, daß P f a f f e r e y und Despotis» ui u 6 vielleicht noch nie so viele Ursachen gehabt ha, ben,sich über die Vernunft zu beklagen: so hat auch eben darum dieVernunft noch nie sovielUrsilche gehabt von beyden alles Schlimme zu besorgen. So lang« sie durch die protestantische R e f o r m a t io n nur die» jcnigen Vorurtheile hinweg räumte, die der Frey« heit der einen, und der willkührlichen Gewalt des andern im hierarchischen Systeme entgegen standen, so lange hatte sie auch nichts als das miß» verstandene Interesse von beyden gegen sich. Allein so wie sie weiter geht, und Grundsätze geltend

8

Erster 33 ne f.

macht, neben welchen schlechterdings keine Pfaffcrey und kein Despotismus bestehen kann: so ist nichts gewisser, als daß beyde alle Kräfte, die ihnen ihr alter Besitzstand verschafft, aufbieten werden, um die Stimme ihrer Feindin zu unterdrücken. Bald werden sie hiezu keinen andern Vorwand nöthig ha­ ben, als die immer mehr überhand nehmenden Mißbräuche, die unser schreibender Pöbel mit der P r eßf r e y h e i t und P u b l i z i t ä t treibt, und die zuletzt auch die besser denkenden Diener der Religion und des Staates noch dahin bringen dürften, die be­ kannten Gegenmittel, welche die Freyheit zugleich mit der Zügellosigkeit aufheben, für das kleinere Ue­ bel anzusehen. Sie haben mich dringend aufgefordert. Ihnen meine Meynung über die wahrscheinliche Folge aller dieser Erscheinungen zusammen genommen zu schrei­ ben. Wenn ich Ihnen nun gestehe, daß diese Mey­ nung gerade das Gegentheil von der Ihrigen ist, so weiß ich, daß ich für Sic etwas sehr paradoxes be­ haupte. Ich weiß aber auch, daß ich I h r Herz schon vorläufig auf meiner Seite habe, und hoffe da­ her um so viel eher auch mit Ihrem Kopfe einig zu werden. I h r B rie f hat bas G e d r ä n g e , in welchem sich gegenwärtig die Angelegenheiten der Vernunft in Rücksicht auf die Religion unter uns befinden, treffend genug geschildert; und so sehr auch die ein­ zelnen Züge ihres Gemähldes in der Skizze, die ich

Erster Brief.

9

davon ausgezogen habe, an Bestimmtheit verlieren mußten: so glaube ich doch, daß jeder aufmerksa­ mere Beobachter unsers Zeitalters sowohl die neue­ ren hieher gehörigen Begebenheiten samt ihren Hel­ den , als auch manche seiner eigenen Bemerkungen darüber, selbst noch in dieser Skizze wieder finden werde.

Jede der einzelnen Erscheinungen, die in

derselben vorkommen, würde m ir, an und für (Ich betrachtet, mehr oder weniger bange machen; jede verdient die Aufmerksamkeit aller Menschenfreunde, und die Meisten davon haben diese Aufmerksamkeit bereits auf sich gezogen.

Allein, wenn ich sie i n s ­

g e s a m t in i h r e mZ u f a m men h a n g e untereinan­ der, und mit ihren Ursachen und Veranlassungen betrachte, sehe ich mich genöthiget, sie für

zuver­

lässige V e r b o t h e n e i n e r der w e i t ausse­ h e n d e n und wohlthätigsten R e v o lu t io ­ nen anzusehen, die sich je in der gelehrten und mo­ ralischen W e lt zugleich zugetragen haben. D a die Ursachen und Veranlassungen jener E r ­ scheinungen keineswegs auf dem Gebiethe der Theo­ logie allein liegen, so werde ich freylich etwas weit ausholen müssen, um meine Ueberzeugung gegen die Ih rig e zu rechtfertigen.

Ic h werde die von ih­

nen angeführten sogenannten Z e i c h e n unsrer Zeit, die alle in so ferne in Eine Klaffe gehören als sie R e ­ l i g i o n betreffen, mit andern Erscheinungen zu ver­ gleichen haben, die mit eben so vielem Rechte Zei­ chen unsrer Zeit heissen können, aber freylich in an.

IO

Ersier Brief.

dere Klassen gehören; mit einem Worte, ich werde Ihre Schilderung des Zustandes unsrer Aufklärung in Religionssachen mit einem Gemählde erwiedern müssen, das keinen weniger umfassenden Gegen« stand hat als — den Geist un s r e s Z e i t a l t e r S. Lassen Sie uns vor allen Dingen über die Bedeu» tung einig werden, in welcher ich diesen so viel­ deutigen und so sehr gemißbraucht«» Ausdruck im Folgenden angenommen wünsche. Durch eine sehr natürliche Vorstellungsart — von der selbst unsre berühmtesten Philosophen unter sch noch lange nicht einig sind, ob sie dieselbe für bloße Täuschung der S i n n l i c h k e i t zu erklären hätten oder nicht? — ist die Stelle, die man ge­ wöhnlich seinem I ch anweiset, keine geringere, als der Mittelpunkt des Universums. Daher kömmt «s, daß die Maximen und Vorurtheile desjenigen Gewerbes oder Standes, zu welchem ein respekti« ves Ic h gehört, und der den nächsten Kreis um jenen Mittelpunkt beschreibt, sehr oft der G eist u tt# sers Z e i t a l t e r 6 genannt werden. Der G e­ l ehr t e von Pr of essi on belegt gemeiniglich die herrschenden Meynungen über den Gegenstand sei­ nes Faches, und der B ü r g e r der großen und fei nen W e l t den Geschmack und Ton seiner Cotkerie mit jenem vielbedeutenden Namen. Selten gelingt es dem ersteren sein System von sei­ nen Zunftgenossen angenommen zu wissen, von denen er entweder den größeren oder den besseren

Erster B r i e f .

XI

Theil gegen sich h at; wahrend der letztere! in seiner Ueberzeugung, daß E r den T on in seinen Cirkeln aufrecht erhalte, wo nicht gar angegeben habe, kaum zu widerlegen seyn würde. W o ra u s sich denn so ziemlich begreifen la ß t, w arum dieser gemeiniglich den cfprit de fon tcms eben so aufgeklärt und lie­ bensw ürdig, als jener den genius faeculi verkehrt und abscheulich findet. Ic h suche d e^G eist unsrer N atio n in der S e e l e derselben a u f , die freylich in einem gewissen S in n e durch den ganzen K örper ver­ breitet ist, aber ihren eigentlichen S itz nur in derje­ nigen Klasse von Köpfen h a t, welche vorzugsweise die D e n k e n d e heißt, und die folglich ihre D enk­ kraft weder durch einseitige Beschäftigung ihres G e ­ dächtnisses abzustumpfen, noch durch T räum e ihre P hantasie in einem ewigen S chlum m er zu unter­ halten , oder höchstens durch S p ie le des W ihes zu wecken gewohnt ist. I h n e n , lieber F re u n d , der S i e den wahren W erth von N a tio n e n , so wie von einzelnen Menschen nach der Beschaffenheit und dem G rad e ihrer l e b e n d i g e n K räfte zu schätzen ge­ w ohnt fin d . Ih n e n kann es unmöglich gleichgültig seyn auf einen Gesichtspunkt aufmerksam gemacht zu w erden, aus welchem sich die D e n k k r a f t unserer N a tio n in ihrer angestrengtesten Thätigkeit', ihren eigenthümlichsten A eußerungen, und ihren m annig­ faltigsten Beschäftigungen m it einem Blicke über­ schauen läßt. Vielleicht dürfte Ih n e n mein V e r­ such, einen solchen Gesichtspunkt ausfindig zu machen, insbesondere auch als ein W o r t zu s e i n e r Z e i t

12

Erster B rief.

nicht ganz unwillkommen seyn. W ir beginnen das letzte Iahrzehend eines IahrhundcrtcS, das wir fei* nesweges blos darum, weil es das Unsri ge ist, für äußerst merkwürdig halten, und das vorzüglich für Teutschland in keiner andern Rücksicht so merkwür­ dig ist, als durch die höhere Kultur des teutschen Geistes, durch die beträchtlichen Fortschritte, die un» fre Nation auf allen Feldern der Wissenschaften und Künste gethan, und durch den wichtigen Rang, zu dem sie sich unter ihren früher kultivirten Schwestern empor geschwungen hat. Ob und in wie ferne sie denselben behaupten; ob sie wie jede ihrer Schwe­ rern auf einer gewissen Stufe stehen bleiben; oder höher hinauf bis zur Würde der Schule des übrigen Europas steigen werde, muß hauptsächlich in diefern Iahrzchcnde entschieden werden. Daß diese Entscheidung wirklich in dieser Periode erfolgen müs­ se, und wie sie vermuthlich ausfallen dürfte, kann sich nur allein (aber muß sich auch gewiß) aus einer allgemeinen Uebersicht der Phänomene ergeben, wel­ che den gegenwärtigen Zustand unsrer denkenden Kräfte im Ganzen genommen bezeichnen. Daö auffallendste und eigenthümlichste Merk­ mal von dem Geiste unsers Zeitalters ist eine E r­ schütterung aller bisher bekannten Systeme Theorien und Vorstellungsarten, von deren Um­ fang und Tiefe die Geschichte des menschlichen Gei» sies kein Beyspiel auszuweisen hat. Auf dieses Merkmal lassen sich die verschiedensten, selbst die

Erster Brief.

13

einander widersprechenden Zeichen unsrer Zeit zurück führen, welche samt und sonders ein mehr als je­ mals reges Bestreben ankündigen, auf der einen Seite allenthalben neue F o r m e n

aufzustellen,

auf der andern jede A l t e zu unterstützen.

0 6 das

Alte durch daöNeue oder dieses durch jenes endlich ver­ drängt werden; ob und was die Menschheit in jedem Falle dabey gewinnen dürfte ? wagt der unpartheyische Selbstdenker gemeiniglich um so weniger zu entschei­ den, da er weder die alten Formen so ganz unbrauch­ bar, noch die Neuen so ganz befriedigend findet, als sie von den Eiferern auf beyden Partheyen ausgerufen werden, die ihrer unbedingten Anhänglichkeit am Alten oder Neuen, und ihren schwärmerischen Hoff­ nungen oder Besorgnissen zufolge aus dem Geiste un­ sers Zeitalters der Menschheit Glück oder Unglück weissagen. Gleichwohl kann sich der Selbstdenker am we­ nigsten der Frage erwehren: Woher diese merkwür­ dige Erschütterung entstanden sey, und was aus ihr entstehen müsse? Eine befriedigende Antwort dieser Frage seht eine Untersuchung voraus, die sich über den beschränkten Gesichtskreis einzelner Fächer er­ hebt, die Denkkraft durch die vornehmsten Felder ihrer Wirksamkeit verfolgt, die merkwürdigsten B e ­ gebenheiten aus jedem derselben aushebt, und a l l e unter e i ne n Gesichtspunkt stellt,

der von den

Gesichtspunkten der Lobredner und Tadler unsers Zeitalters gleich weit entfernt ist.

D er P e d a n t

beurtheilt die Fortschritte des menschlichen Geister

Erster Brief.

14

nach seinem Begriffe von dem jeweiligen Zustande des einzelnen Faches, das er bearbeitet, und da­ rben darum in seinen Augen das Wichtigste aus al, len ist.

E r wünscht der Menschheit Glück, oder er

bedauert sie; je nachdem er glaubt, daß dasjenige, waS er für Theologie, Jurisprudenz, Staatskunst, Kriegswissenschaft, Philosophie u. s. w. Aufnahme oder in V e rfa ll gerathe.

h a lt, in

W oher sollte

er auch wissen, daß sich selbst der wahre Zustand fest ncs Faches nur aus dem Verhältnisse desselben zum Zustande des menschlichen Geistes und

seiner B e ­

dürfnisse; so wie der ganze W erth des Faches selbst nur aus dessen Verhältnisse zur eigentlichen Bestim­ mung des Menschen (die aber dabey weder angeb. (ich vorausgesetzt, noch dunkel geahndet, sondern e r k a n n t seyn m uß), richtig beurtheilen lasse? — D ie

Erschütterung,

von der hier die

Rede ist, äußert sich nicht etwa an dem Zustande der Wissenschaften allein, sondern an allem worauf Denkkraft Einfluß hat, und steht allenthalben mit der Größe dieses Einflusses im geraden Verhältnisse. S ie erstreckt sich so weit als die europäische C u ltu r, nur mit dem Unterschiede, daß sie hier in kaum merk­ lichen Schwingungen, dort in gewaltsamen Um wäl­ zungen erscheint.

I n diesem ihrem ganzen Umfan­

ge wird sie einst in der Geschichte des menschlichen Geistes ein Hauptgemählde abgeben, bey welchem unsre Enkel mit Bewunderung verweilen werden. Aber dem Blicke eines Zeitgenossen liegt dieser unge-

Erster B rie f. heure Schauplatz mannigfaltiger theils blendender, theils unvollendeter Eräugniffe viel ju nahe, als daß er die einzelnen Theile in ihrer eigentlichen Bezie­ hung zum großen Ganzen aufzufassen vermochte. Der wirkliche Antheil, den die Denkkraftanden Ursachen einer Begebenheit hat, und der allein den mehr oder weniger bedeutenden Platz bestimmen muß, den eine Begebenheit in jenemGemählde einzunehmen hat, laßt sich erst dann von der fremden Einwir­ kung äußerer Umstande absondern, wenn die Bege­ benheit selbst völlig reif ist, und durch ihre Wirkun­ gen ihren bestimmten Charakter für die W elt ge­ schichte erhalten hat. Dann nimmt manche stille kaum bemerkte Veränderung, die das Gepräge der Selbstthätigkeit unsers Geistes trägt, eine Folge besserer Einsichten war, und bessere Einsichten ver­ breitet und fortpflanzt, ihren Rang weit über glän­ zenden und angestaunten Revolutionen ein, bey wel­ chen E in Zufall baufälligeStaatsverfaffungen um­ stößt, und ein zweyter die Trümmer nach seinemE i­ gensinne wieder zusammen fügt. Dann läßt es sich erst mit Bestimtheit angeben, ob und in wie ferne höhere Erkenntniß der menschlichen Rechte und Pflichten bald Ursache bald Wirkung derjenigen E r­ äugniffe war, die man schon itzt theils im guten, theils im schlimmen Sinne Erscheinungen der Auf­ klärung zu nennen gewohnt ist. Dann "erst wird es sich zeigen lassen: ob und in wie ferne die Aufhe­ bung der Jesuiten, die Verminderung der Mönche, und daö verfallene Ansehen desMönchthums in meh-

Erster B r i e f. reren katholischen S ta a te n , die Beschränkung des Ansehens, der G e w a lt und der Einkünfte des rö­ mischen Bischofes beynahe in der ganzen katholischen W e lt , die Toleranz, Preßfreyheit und Publicitat in der österreichischen M onarchie, die hin und wieder abgeschafte Todesstrafe, aufgehobene Leibeigenschaft, eingeschränkten Frohndicnstc, die nordamerikanische, französische,niederländische Revolutionenu. s.w.als Wirkungen einer und ebenderselben Ursache zusam­ men gehören, oder nicht.

E tw as bestimmteres läßt sich schon iht über die gegenwärtige Erschütterung der VorstellungSartcn in unserem teutschen Vaterlande sagen; nicht nur weil man das Ganze derselben wegen des beschränkteren Schauplatzes

leichter überschauen

kann: sondern

auch weil sie sich hier vorzüglich auf den Feldern der Wissenschaften äußert, wo ihr Entstehungsgrund aus der D en kkraft, durch welchen sie im strengsten S in n ein Phänomen des Geistes ist, weniger zweydeutig seyn kann.

Tcutschland ist unter allen übri­

gen europäischen S ta aten am meisten zu Revolutio­ nen des Geistes, am wenigsten zu Politischen aufger legt.

D urch seine glückliche Constitution sind w ir

mehr als jede andere große N atio n gegen die ver­ derblichste aller Krankheiten eines Staatskörpers ge­ sichert, die in dem allzu großen Reichthum der klei­ nern, und der allzu großen Arm uth der größer« A n ­ zahl der B ü rg er besteht.

Kein Uebermaaß

an

Glücks-

Erster Bri ef .

17

G lücksqütern reifet die Herrschsucht der G ro ß en — kein Ueberinaaß des E len d s zwingt das V olkzum A uf­ ru h r; und die D enkkraft der N a tio n im G anzen ge­ nommen , ist von beyden dieser entgegen gesetzten Uebel ungelähm t geblieben. Keine H au p tstad t be­ schleunigt und schwächt als T reib hau s die Früchte unsers G eistes, die in der Luft der Freyheit sich selbst überlassen, langsamer aber kräftiger gedeihen. W ir werden freylich nie ein goldenes Z eitalter un­ srer Litteratur wie Ita lie n unter Leo X. Frankreich unter L u d w i g X IV . E n g lan d unter der K ö ­ nigin A n n a erleben, aber auch keines je zu überle­ ben habe». Unsre Fortschritte sind um so beträcht­ licher, je weniger sie Aufsehen machen. N ich t n u r unsere N achbarn, von denen w ir verkannt zu w er­ den gewohnt sind, w ir selbst bemerken es kaum , daß die Wissenschaften im G anzen genom m en bey kei­ ner N atio n in dem U m fange, m it dem E if e r , un d dem glücklichen E rfo lg e bearbeitet w orden sin d , a ls gegenw ärtig unter un s. D ie ß kann freylich um so weniger in die A ugen fallen, da bey unö alle F eld er der Wissenschaften ohne A usnahm e ungefähr m it gleichem Fleiße angebaut w erden, da eben dadurch das V erh ältn iß einer jeden W issenschaft zu den übrigen immer sichtbarer w ird, und folglich auch die S tre n g e der Forderungen zunim m t, die m an a n den B earbeiter einer jeden zu machen gelernt h a t. K au m hat der E ine etwas sehr beträchtliches gelei­ stet, a ls ein andrer hervortritt, der a u f das viel be­ trächtlichere, w as noch zu leisten übrig ist, aufm erkB

i8

Erster Brief.

sam macht.

W i r haben in keinem einzigen Fache

ein herrschendes S ystem , dem der allgemeine B e y ­ fall den Stem pel der wirklichen oder eingebildeten Vollendung aufgedrückt hätte.

Allenthalben wer­

den alte Vorstellungsarten in Anspruch genommen und vertheidigt,

neue aufgestellt und bekämpft.

H ie r werden wesentliche M än g el an einem bisher beliebten Lehrgebäude aufgedeckt, das man verge­ bens durch ein ganz neues verdrängt' wissen w ill, weil dort schon ein anderer die verkannten Vorzüge des alten beleuchtet hat, die in dem neuen vermißt werden.

M it

den

neuen

Berichtigungen

und

Entdeckungen vervielfältigen sich die neuen einander entgegen gesehten Theorien , wovon jede vergebens als ganz unhaltbar angefochten, und vergebens als allgemeingültig vertheidigt wird.

Keine kann ihre

Ansprüche, das ganze Problem der Wissenschaft auf­ gelöset zu haben, durchsehen, eben so wenig als sie von ihren Gegnern überführt werden

kann, keine

brauchbaren D a ta zu jener Auflösung geliefert zu haben. B e y aller dieser Unentschiedenheit im gegen­ wärtigen Zustande unsrer Wissenschaften ist gleich­ wohl der Einfluß derselben auf die übrigen menschli­ chen Angelegenheiten, und zumal auf die Grundsä­ tze der Regenten vielleicht nie so sichtbar gewesen. Dieser Einfluß ist um so weniger zweydeutig,

je

mehr auch an ihm das Schwanken zwischen dem A l­ ten und N e u e n , daö Gepräg des Zustandes unsrer

Erster Brief.

19

wissenschaftlichen Kultur, in die Augen fallt.

Der

eine Fürst, der mit philosophischem Blicke an der positiven Theologie, die der herrschenden Religion seines V o lts zum Grunde liegt, Fehler entdeckt hat, deren Ungereimtheit und Schädlichkeit selbst von den berühmtesten Theologen seines Landes anerkannt ist, giebt diese Theologie der öffentlichen Prüfung preis. E in anderer hingegen, der sie mehr mit dem Auge des Staatsmannes betrachtet,

und überdieß die

Philosophen seiner Nation über die Unentbehrlich» teil der positiven und Unzulänglichkeit der natürli­ chen Religion im S treit begriffen weiß, nimmt das alte Lehrgebäude der Volksreligion gegen alle öffent­ lichen Angriffe in Schutz.

Das Licht, das über die

Felder der Regierungskunst, Staatsökonomie u. f. w. seit kurzem verbreitet ist, dringt bis zum Throne, und klärt den Regenten über wesentliche M angel in der Regierungsform und Verwaltung der Angele­ genheiten seines Landes auf. Konstitution

E r schafft die alte

ab, und erseht sie durch eine neue

ohne und sogar ge g e n den Willen der N atio n , und glaubt dadurch nicht nur den Rechten dieser letz­ tem nicht zu nahe getreten, sondern nichts als seine Pflicht gethan zu haben; indem er den V o r t h e i l des S t a a t e s , den er besser als seine unzufriede­ nen Unterthanen zu verstehen glaubt, für den ober­ sten hält.

Bestimmungsgrund

seiner

Regentenpfiicht

W ürde er, vorausgesetzt, daß er es wirklich

mit seinem Volke gut meyne, wohl so gehandelt, »der auch nur so gedacht haben, wenn ihm eine all-

20

Erster Brief.

gemeine Ueberzeugung entgegen gestanden hatte; oder wenn auch nur die gelehrten Kenner des Rech» teS über die unverlierbaren Rechte der Menschheit, und über den Grundsatz einig waren, „dost diese »Rechte keineswegs durch den N utzen (den allge» »meinen so wenig als den besondern) bestimmt wer» „den können, und daß die Rücksicht auf den Nutzen »nur erst dann gelten dürfe, wenn das Recht vor» »her entschieden ist?" Wenn hier der eine Regent die Leibeigenschaft der Bauern aufhebt, wahrend er seine Unterthanen überhaupt als ein angecrbteö E i­ genthum betrachtet, und behandelt; wenn dort ein andrer die Menschheit durch Abschaffung der Folter und der Todesstrafen ehren tpt'U, wahrend er sie durch ganz willkürliche, launenhafte, und un­ menschliche Ahndungen der Verbrechen zum Vieh herabwürdigt; wenn dort ein dritter das angebohrne Recht feiner Unterthanen, zu glauben was sie glauben können, anerkennt, während er eben dieses Recht für ein Geschenk seiner Gnade, und den Ge­ nuß desselben für eine bleße Duldung erklärt, die er im Namen der alleinseligmachenden Meynung den nichtseligmachenden Meynungen angedeihen laß t; wenn ein vierter unter dem Namen der P r e ß f r e y h e i t jedermann das Recht einräumet, seine Ueberzeugungen nach bestem Wissen und Ge­ wissen andern mitzutheilen, während er die B e ­ kanntmachung derjenigen Ueberzeugungen, die den symbolischen Büchern widersprechen, als P r e tzfrech hei t aufS strengste geahndet wissen will (u n d

Erster B r i e f .

21

so weite?): so würde man allen diesen Regenten eben so Unrecht thun, wenn man die zweyte Halste ihreß widersprechenden Betragens einer blinden Anhänglichkeit am alten Herkommen, als wenn man die erste Hälfte einer bloßen Neuerungssucht zuschreiben, und nicht zugeben wollte, daß sie für die eine sowohl als die andere Verfügung Entschei­ dungen gleich berühmter Schriftsteller'.anführen könnten, und daß sie ganz im Geiste ihres Zeital­ ters, in wie ferne derselbe sogar durch den Zustand der Wissenschaften bestirnt wird, gehandelt haben. So weit sich auch die Erschütterung alter und neuer Vorstellungsarten, welche diesen Geist charakterisier, über das Gebieth des menschlichen Wissens ausbreitet: so wenig ist sie auf den einzel­ nen Feldern dieses Gebiethes gleich merklich. Das Gesetz, nach welchem sie zu« und abnimmt, laßt sich durch den größeren oder kleineren Antheil bestimmen, den diejenige Fähigkeit der Denkkraft, wttche V e r ­ n u n f t heißt, an dem Inhalt und der Form einer Wissenschaft hat. Wer diesen Antheil nicht be­ stirnt genug kennt, der darf sich nur von dem zu­ nehmenden Lärmen, und den dichter werdendem Staubwolken leiten lassen, und er wird bald über­ zeugt werden, daß der M i t t e l p u n k t der E r ­ schütterung in nerhalb des Bezirkes der M e t a p h y s i k gelegen, und die jenseitige Gränze derselben durch die Felder der M a t h e m a t i k , der Naturwissenschaft und Naturbeschrei­ bung bestimt sey.

Erster B r i e f . Diejenige Wissenschaft, die ihrer Definition zufolge als der Inbegriff der ersten Gründe der menschlichen Erkenntniß, als das System der allge­ meinsten Prädikate der Dinge überhaupt, als die Wissenschaft der Pri ncipien alles menschlichen Wissens, den Rang über'allen andern einnehmen müßte, ist gegenwärtig so sehr erschüttert, daß ihr nicht nur dieser Rang, sondern sogar der Namen ei­ ner Wissenschaft streitig gemacht wird. Und dieß begegnet ihr nicht nur etwa von den kritischen oder soge­ nannten Kantischen Philosophen allein (den An­ hängern einer neuen Art zu philosophiren, die bis­ her nur sehr wenigen Eingang gefunden hat, und vvn den berühmtesten Philosophen unsrer Zeit wi­ derlegt wird), sondern sogar von zwey Partheyen aus den vieren, auf welche sich alle bisherigen Vorstellungsarten der Philosophie zurück führen las­ sen. Der dogmatische Skeptiker bestreitet die Gültigkeit der Beziehung metaphysischer Prädi­ kate auf wirkliche Gegenstände überhaupt; der S u ­ pernaturalist will sie nur auf die S i n n e n ­ w el t, oder, wie er sich lieber ausdrückt, auf n a t ü r< liche Gegenstände eingeschränkt, und ihre Anwend­ barkeit auf Uebernatürliche von der Offen­ ba ru n g abgeleitet wissen; beyde sind darüber einig, daß Metaphysik die grundloseste Anmaßung der ihre Kräfte verkennenden Vernunft sey. Was ihr die beyden andern Partheyen (die M a t e r i a l i ­ stische und Spiritualistische) dadurch ein­ räumen, daß sie ihr den Rang einer wahren Wis-

Erster Brief.

2Z

fenschaft zuerkennen, rauben sie ihr dadurch wieder, daß sie diese Wissenschaft zur gemeinschaftlichen Grundlage ihrer im geraden Widersprüche stehenden Lehrgebäude machen, und indem sie aus einer und ebenderselben Ontologie Materialismus und Spiritualismus, Deismus und Atheismus, Fata­ lismus und Determinismus, wenigstens in den Au­ gen unpartheyischer Zuschauer mit gleicher Geschick­ lichkeit demonstriren, den wissenschaftlichen Charakter dieser Ontologie in ein sehr zweydeutigeS Licht sehen. Die eine dieser Partheyen bestehet größtenlheils aus den öffentlichen Lehrern der Philo­ sophie; aus denjenigen, welche die Wissenschaft als bürgerliches Gewerbe treiben, und die, weil sie auf den Vortrag der Grundwahrheiten der Religion und der Moralität in Eid und Pflicht genommen sind, nicht selten dafür halten, daß sich ihre Ver» pflichtung bis auf die in ihrer Innung alt herge­ brachte Form des Vortrags erstrecke. Diese erklä­ ren die Metaphysik ihrer materialistischen, fatalisti­ schen und atheistischen Gegner für seicht, längst wi­ derlegt, und des Namens einer Wissenschaft unwür­ dig, den sie nur derjenigen Auslegung der meta­ physischen Formeln zugestehen, aus welchen sich ih­ rer Meynung nach die Grundwahrheiten der Reli­ gion und Moral demonstriren lassen. Allein so zahlreich und zum Theil auch so geschickt die Kö­ pfe gewesen sind, die sich auf unsern vielen Universi­ täten und außer denselben mit der Bearbeitung ei­ ner solchen metaphysischen Wissenschaft beschäftiget

Erster B ri e f.

24

haben; so sehr sic auch unter sich über das wirkliche Daseyn derselben einig sind; so fest auch jeder von ihnen überzeugt ist, sic in seinem C o i n p e n d i u tu aufgestellt zu haben : so wenig hat doch auch nur E i­ ner dieser M än n er bisher eine Metaphysik geliefert, die, ich will nicht sagen die Prüfung der andern Partheyen ausgehalten, sondern auch nur die F or­ derungen seiner eigenen Parthey befriediget hätte. Keine unter allen besieht, wie man doch von der Wissenschaft der ersten Erkenntnißgründe zu erwar­ ten berechtiget wäre, aus Hauptsätzen, über welche auch nur die Professoren selbst einig wären; jede derselben ist in mehr als einer ihrer wesentlichsten Behauptungen selbst in metaphysischen Compeudien widerlegt.

W e it gefehlt,

daß die Besitzer und

Pfleger dieser Wissenschaft auch nur über den e r­ sten G r u n d s a t z derselben unter sich gleich däch­ ten; so ist in manchem berühmten und beliebten Lehrbuche nicht einmal die Rede von dieser wesent­ lichsten Bedingung jeder Wissenschaft.

I n andern

beraubt man nach dein alten Herkommen die Logik ihres ersten Grundsatzes, * ) und stattet damit seine Metaphysik aus.

I n anderen endlich verwechselt

rnan G r u n d s a t z mit G r u n d ,

und weiset die

nach dem letzten denkbaren Grunde der metaphysi­ schen Prädikate neugierigen Leser bald an die E rfah­ ru n g , bald an ein angebohrneS Wahrheiten an.

System

einiger

I n eben dem Verhältnisse, als

* ) Durch den Mißbrauch beS mißverstandenen S a h eL des W i d e r s p ruches.

Erster Brief.

25

man damit beschäftiget ist, Botanik, Mineralogie, Chemie zu Syst emen zu erheben, laßt man die Metaphysik zum Aggregate unzusammenhängender, vieldeutiger Formeln herab siiuvn, bey welchen das was zu erweisen war, als allgemein angenommen vorausgesetzt, und daö was keines Beweises bedurf­ te, erwiesen wird. Der eine giebt sich! die Miene, und macht sich kein kleines Verdienst daraus, das System seiner Metaphysik, das er selbst nur aus ei­ ner dunkeln Ahndung kennt, unter der rhapsodischen Außenseite versteckt zu haben; wahrend der andere mit dem Kraftgenius in der Dichtkunst alle Regel, und käme sie auch von seiner eigenen Vernunft, als Fessel des Geistes verabscheut, und allem Systeme überhaupt Hohn spricht. Da ein metaphysischer Sah nur durch seinen Zusammenhang mit a llg e ­ me i n g ü l t i g e n Evkenntnißgründen W a h r h e i t , und durch seine jedermann mögliche Zurückführung auf ein al l gemei ngel t endes P r i n c i p a ll­ gemeine Evi denz haben kann: sobegreift.es sich leicht, daß unsre populären Melaphysiker.auf Uni­ versitäten durch eben die so genannte liberale Form, durch welche sie der Wissenschaft allgemeineren Ein­ gang zu verschaffen wähnen, derselben, soviel an ih­ nen liegt, gewissen Untergang zubereiten. Dieser Erfolg wird durch die neueren und besten Schriften derjenigen Selbstdenker beschleuniget, die, da siemeta­ physische Gegenstände mit einem von allem Zwang des akademischen Berufes freyen Geiste, mit gro­ ßem Scharfsinne und beredter Darstellung, behan«

26

Erster B r i e f .

beiten, derMetaxhysik aufhelfen zu müssen fdst.ncn. Da biese Männer, ohne es selbst zu wissen und zu wollen, in eben dein Verhältnisse, als sie sich von Einer ber vier bisher unvermeidlichen philosophi­ schen Partheyen entfernen, sich um so enger an eine andere, und zwar gemeiniglich an die entgegen gesehn re, anschließen, oder sich gar an die Spitze dersel­ ben stellen; da derjenige, derbem Spiritualismus ausweichen will, demMaterialiömuS (der gegenwärtig unter der konsequenten VorfiellungSart des S p i­ noza am meisten gefällt) das W ort redet; da der Bekämpfer des Materialismus und Spiritualismus über einem gereinigten Supernaturalismus brütet, und ein anderer, der bey allen diesen Philosophemen keine befriedigende Auskunft findet, den Knoten durch dogmatischen Skepticismus zerhaut: so richtet jeder dieser Schriftsteller in eben dem Verhältnisse, als er die großen Fragen über G ott, Freyheit und Un­ sterblichkeit, und über die Rechte und Pflichten der Menschheit in ein originelleres Licht fetzt, auf dem Ge­ biethe der Ontologie eine desto größere Verwirrung an. Je mehr er selbst denkt, desto mehr nimmt er die von allen Sekten gebrauchten metaphysischen Formeln in Bedeutungen, die sich von allen bisher bekannten um so schärfer unterscheiden, bestreitet er die nicht allgemeinen, und z. B . nur von den Univerfitätöphilosophen angenommenen Formeln mit desto auffallenderen Gründen, untergräbt er die Principien, verrückt er den Gesichtspunkt, und schwächt er das Ansehen derWiffenschaft der erstenErkenntnißgründe.

Erster Brief.

27

Sollte es sich nicht aus diesen Umstanden ziem­ lich befriedigend erklären lassen, wie es zugehe, daß selbst unter den eigentlich philosophischen Köpfen die Anzahl derjenigen immer mehr und mehr zunimmt, welche das Studium der Metaphysik laut und öffent­ lich für unnütz, ja sogar für verderblich erklären? Und würde man daher nicht unserm Zeitalter zu na­ he treten, wenn man dieses Phänomen aus einer demselben eigenthümlichen Seichtigkeit des Geiste» «klaren wollte, ohne zu bedenken, ob nicht eben diese Seichtigkeit, dort, wo siewirklich Statt findet, zum Theil eine Folge des Zustandes sey, in welchem sich die Wissenschaft, welche die Grundlage aller übrigen ausmachen soll, befindet? Es wird sich durch die fortgesetzte Beleuchtung der gegenwärti­ gen Erschütterung auf den übrigen Feldern -erWif» smschaftrn ergeben, daß das Bedürfniß einet Hauptwissenfchaft, von welcher alle übrigen feste theils leitende, theils gründende Principien gu erwarten hätten, sie heiße übrigens Metaphysik oder nicht, nie so allgemein und so dringend gewesen sey als gegenwärtig; und daß folglich die Verachtung, welche die Metaphysik erfährt, eine Folge der uner­ füllten Erwartungen sey, welche diese Wissenschaft zu allen Zeiten durch ihre großen Verheißungen er, regt hat, und die nie soallgemein in die Augen fielen, als eine geraumeZeit her, da sichdir Seibstdenkervon allen Seiten genöthiget sahen, die Metaphysik mehr als je beym Worte zu nehmen.

Erster Br ief.

28

Die übrigen Felder der Wissenschaften werden in eben dem Verhältnisse mehr ober weniger erschüfe tert, je mehr oder weniger ihr Gebieth von der ei* gentlichen Metaphysik entlegen ist, und dürften in dieser Rücksicht ungefähr in folgender Ordnung auf einander folgen: -rationale.Psychologie, KoSmolo» gie und Theologie, Philosovhie der Religion (W ift senschaft deß Grundes unsrer Erwartungen für ein zukünftiges Leben); Geschmackölehre, M oral, Na* lurrecht,

positive Jurisprudenz und Theologie,

und endlich Geschichte in der engsten Bedeutung des Wortes. D ie btyt) ersten welche unmittelbar mit der Metaphysik zusammen hängen, und gewöhnlich so» gar für Bestandtheile derselben gelten, theilen mit ihr Namen und Schicksal; während die Geschich­ te den ruhigeren Besitz, und die weniger angefoch­ tene Erweiterung und Verbesserung ihres weitläuf­ igen Gebiethes ihrer Entfernung von dem M ittel­ punkte der Erschütterung verdankt. D er Erfolg der neueren Versuche, positive Theologie und Juris­ prudenz zu reformiren, war in eben dem Verhält­ nisse glücklicher, als die Reformatoren dieses Wissen­ schaft von der Nachbarschaft derselben mit der Ge­ schichte besseren Gebrauch zu machen gelernt hatten. S o wie hingegen alle Versuche der besten Köpfe, über die ersten G ru nd s ät z e der M oral und des Naturrcchtes unter sich einig zu werden, gänzlich mißlungen sind, indem bey der Entwickelung der Begriffe, welche von diesem Grundsatz vorausgesetzt werden, die ««gränzende Metaphysik nicht zu verr

Erster B ri ef .

*9

meiden war. Da man endlich bey der Gründung der Philosophie des Geschmackes und der Religion zwischen den DatiS der Erfahrung und den meta­ physischen Notionen hin und wieder schwankt, so ist man bis jeht noch nicht einmal über die Frage ein­ verstanden: ob eine oberste Regel des Geschmacks, und ein erstes Princip für die Grundwahrheiten der Religion auch nur unter die denkbaren Probleme ge­ hören oder nicht? Unter diesen Umstanden steigt das Ansehender Geschichte in eben dem Verhältnisse, als das An­ sehen der Me taph ysik sinkt, die man jener nie so scharf in Rücksicht nicht nur auf ihre Objekte, son­ dern auch auf Zuverlässigkeit, Brauchbarkeit und Einfluß entgegen geseht hat. Philosophen von Profession sehen die Geschichte auf den Thron der ehemaligen Königin aller Wissenschaften, und hul­ digen ihr auch im Namen der Philosophie, als der ei­ gentlichen Wissenschaft der ersten Erkenntnißgründe alles menschlichen Wissens. «Die N a t u r , sagen sie, die immer dieselbe bleibt, und immer mit sich selbst einig ist, wahrend die Metaphysik von jedem Selbstdenker eine neue Form erhält, und unaufhör­ lich durch ihre Sachwalter im Streit begriffen ist, die N a t u r ist die W a h r h e it , die sich ebensowe­ nig der reinen Vernunft des MctaphysikerS, als der rohen Sinnlichkeit des gedankenlosen Wilden offen­ baret. Sie spricht laut und allgemeinverständlich durch die. Stimme der Geschichte, durch welche sie

30

Erster Brief.

den gesunden Menschenverstand aus den leeren Luft­ räumen der Spekulation auf den Schauplatz der wirklichen Welt zurück ruft, wp ste ihre Gesetze, welche allein allgemeingeltcnde Principien heißen können, an ihren Werken und Handlungen ent­ hüllt. e S o einhellig aber unsre empirischen P h i­ losophen auf Natur und Geschichte verweisen, von was immer für einem der Menschheit wichtigen Probleme auch die Rede seyn mag: so wenig können sie unter sich einig werden, wenn sie die Frage: Was sieden» aber unter N a t ur verstünden, und auf welchem Felde der Geschichte die Data einer sol­ chen Aufgabe gelegen wären? beantworten sollen; das heißt, wenn sie dieser Frage weder durch eine geschickte Wendung ausweichen, noch dieselbe, wie meistens der Fall ist, als eine metaphysische Grübe­ lei) von der Haitb weisen können. Nur wenige un­ ter den Vielen, welche die Worte N a t u r und G eschi chte so oft im Munde führen, haben sich über den Sinn dieser Worte zur Rechenschaft gezogen. Sie finden dieß um so überflüssiger, je geläufiger ihnen die Worte geworden sind, deren Vieldeutig­ keit für jeden, der Gedächtniß und Einbildungskraft mehr als die Vernunft zu beschäftigen gewohnt ist, so viele Bequemlichkeit hat. Wer über ein unmä­ ßiges Aufsuchen und Anhäufen der Materialien des Denkens das Denken selbst verlernt hat, der halt sich in Rücksicht auf diejenigen Gründe der E> schei»

Erster Brief.

31

nungen, die er unter seinen gesammelten M ateria­ lien durch keinen seiner fünf S m n e heraus bringen kann, unmittelbar an die N a t u r , oder vielmehr an seinen unbestimten Begriff von derselben, der immer weit und dunkel genug ist, um jede Unge­ reimtheit, die man in seinen Umfang zusammen drangen will, aufzunehmen und zu verbergen. Welch ein Unterschied zwischen den Gegenständen und W is­ senschaften, die der Empiriker unter den Benennun­ gen von N a t u r und Geschi chte durch einander wirft! zwischen den Aufschlüssen, welche die so genannte Naturgeschichte durch Beschreibungen der M ineralien, Pflanzen und Thiere giebt, und die durch die künstlichen Erfahrungen der Anatomie und Chemie von Zeit zu Zeit beträchtlich vermehrt wer­ den, zwischen den Aufschlüssen, welche die Anthropo­ logie über den Menschen als Naturerscheinung auf­ stellt, sie mag ihn in der beobachtenden Seelenlehre als Erscheinung des inneren — oder in der Physio­ logie als Erscheinung des äußeren Sinnes betrach­ ten, und zwischen den Aufschlüssen, welche die W is­ senschaft, die man durch das W o rt Ge s c h i c h t e , wenn dasselbe ohne Zusah gebraucht w ird , insge­ mein bezeichnet, über den Menschen in Rücksicht auf die bürgerliche und moralische Kultur desselben bisher geliefert hat! D e r Unterschied zwischen den bisherigen Fortschritten der Geschichte in der lehtern Bedeutung des Wortes,, und der Geschichte in wie ferne sie Naturgeschichte und Anthropologie unter sich begreift, ist nicht geringer als die Verschieden-

Erster B r i e f .

32

heit zwischen den beyden Bedeutungen des W o rte s , die unsre Empiriker gewöhnlich vermengen, wenn sie der Zuverlässigkeit der Geschichte als Grundlage der Philosophie ihre Lobreden halten. W ahrend die M in e ­ ralogie, B o tan ik, Zoologie, Anatomie, Chemie, P h y ­ siologie, und empirische Psychologie unangefochten immer neue Ausbeuten erhalten, und als sicheren G ew inn in den Schah des menschlichen

Wissens

abliefern; ist noch keine einzige derjenigen Entschei­ dungen über die großen Fragen von den Rechten und

Pflichten der Menschen in diesem, und den

G ru n d ihrer Erwartung in einem zukünftigen Leben, welche die Gegner der Metaphysik in der Geschichte gefunden haben wollen, auch nicht einmal von ihnen selbst allgemein

angenommen worden.

Bedenkt

man noch außerdem, wie wenig die historische K r i t i k über den W erth sowohl der rohen als der schon bearbeiteten Materialien der eigentlichen G e ­ schichte, über die Glaubwürdigkeit und der Geschichtschreiber,—

der Urkunden

und wie wenig die

Philosophie der Geschichte über die Form und die Grundgesetze

der Behandlung dieser Wissenschaft

mit sich selbst einig sind: so ergicbt es sich, daß auf dem Felde der Geschichte, das heißt, auf demjeni­ gen, auf

dessen Unerschütterlichkeit

die

positiven

Theologen und Juristen ihre verbesserten Lehrgebäu­ de, und die empirischen Reformatoren der M o r a l und des Naturrechtcs ihre Principien fest gegründet glauben, ebenfalls eine Erschütterung S t a t t sinde, die zwar im Ganzen genommen unmerklichcr, aber

nicht

Erster Brief.

33

nick weniger merkwürdig ist, als die Erschütterung der Metaphysik selbst. S ie wird aber auch in eben dem Verhältnisse merk« licher werden müssen, als unsre historische Kritik «in Aggregat unbestimmter durchgängig unzusammenHangender Bemerkungen zu seyn aufhören, und sich mehr der systematischen Form nahem w ird, welcher sie dermalen so weit entfernt ist.

von

Je mehr

die bisher so wenig entwickelten Forderungen, wel­ che diese Wissenschaft an Geschichtschreiber und G eschlchtforscher zu thun hat, an Zusammenhang und ^Bestimmtheit gewinnen werden, desto mehr müssen sich die Zweifel über die Zuverlässigkeit der bisher bearbeiteten Materialien der Geschichte anhäufendesto seltner und mit desto mehreren Einschränkung gm wird die Glaubwürdigkeit bisheriger Geschieht# schreibet probehailig befunden werden.

Am mei­

stert, wird dieß bey dem edelsten, lehrreichsten, für die Philosophie wichtigsten S to ffe, den die Ge­ schichte aufzuweisen hat, der Fall seyn; nämlich bey den Begebenheit««, die ihre Triebfedern im Geiste und Herzen der Menschen gehabt haben, und auf deren Darstellung bald die Leidenschaften, bald die Grundsätze, jederzeit aber die eigenthümliche Vorstel­ lungsart des Erzählers entscheidenden Einfluß ha­ be». .

Eine beträchtliche Menge historischer Nach­

richten von solche» Handlungen großer und merk­ würdiger Menschen ist bereits durch neuere Unter­ suchungen geachtet worden, und es wird in der Fol#

C

34

E r st er B rk e f.

ge immer einleuchtender werden, daß man die menschliche Natur in eben dem Verhältnisse ver* konnt habe, als man sie nach solchen Nachrichten zu beurtheilen gewohnt war. Welche wichtigen 93er* Änderungen stehen nicht endlich gewissen einzelnen Feldern der Geschichte, in dem Zeitpunkte bevor, wenn die Fortschritte der historischen Kritik bisher unbestrittene Urkunden in Anspruch nehmen,und den Streit über bisher angefochtene entscheiden wen den. Nicht nur die Geschichtsforscher, sondern sogar die Theologen von Profession sind noch keines­ wegs über die durchgängige Bestimmung des histo« tischen Werthes der heiligen Urkunden einverstanden; und selbst diejenigen, welche diesen Werth für ent­ schieden halten, ziehen aus diesen für die Geschichte der Menschheit so äußerst wichtigen Denkmälern ge­ rade entgegen gesichte Resultate; je nachdem sie die­ selben mit dem Auge entweder der sich selbst über­ lassenen , ober der übernatürlich erleuchteten Ver­ nunft betrachten. Je mehr sich die Materialien der Geschichte, und mit der Bearbeitung derselben die Gesichts­ punkte vervielfältigen, die einer jeden historischen Komposition, die mehr als Kompilation seyn soll, ihre i nnere F o r m geben, beste sichtbarer wird die Verlegenheit unsrer denkenden Köpfe über einen höchsten gemeinschaftlichen Gesichtspunkt, der olle besonderen unter sich vereinigen, und je­ dem feine eigenthümliche feste Stell« anweisen muß.

Erster Brief.

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Daß das Bedürfniß eines solchen Gesichtspunktes gesuhlt werde, ja daß sogar Bestreben dasselbe zu befriedigen vorhanden sey, beweisen die neueren Ver­ suche über die Geschichte der Menschhei t eben so einleuchtend, als daß man bis itzt noch kei­ nen solchen Gesichtspunkt gefunden habe. Die Ge­ schichte der Menschheit überhaupt allein kann und soll allen Versuchen den bisherigen Zustand aller be­ sondern Geschichten zu reformiren zum Grunde liegen. N ur durch sie kann und soll die Beschränkt­ heit und Einseitigkeit der Gesichtspunkte berichtiget werden, aus welchen z. B . der eine Schriftsteller durchs eine Kirchengeschichte dem Supernaturalis­ mus, der andere dem Naturalismus, der eine dem Katholicismus, der andere dem LutheraniSmuS; dieser bey seiner Staatengeschichte dem Despotis­ mus, jener dem Fürstenhasse in die Hände arbeitet; hier der eine die Religionssysteme, dort der andere die StaatSverfaffungcn in dasjenige Licht stellt, das ihm von dem Leuchter des hohen geistlichen oder weltlichen Ministeriums seines Vaterlandes entge­ gen strahlt. Aber wie soll die Geschichte der Menschheit diesen Uebeln abhelfen, so lange ihre ei­ genen Bearbeiter nicht einmal über einen bestimm­ ten Begriff derselben einig sind, so lange die Be­ deutungen der Ausdrücke Geschi chtcderMen fchhei t ,Wel tgeschi chte,Geschi chtederKul tur, Geschichte des menschlichen Ve r st andes, u. s. w. unaufhörlich einander durchkreuzen; ja so lan­ gt nicht einmal über das charakteristische

Z6

Erster B r i e f.

M e r k m a l der Menschheit etwas Ausgemachtes fest steht? Vergebens behaupten unsre Empiriker, der be­ stimmte Begriff dieses wichtigen Merkmales müsse durch das (Studium der Geschichte der Menschheit aufgestellt werden. E r ist so wenig durch dieses Studium möglich, daß er vielmehr zur Möglichkeit und jedem nur einigermaßen glücklichen Erfolg des­ selben als bereits vorhanden voraus gesetzt wird. E r allein ist die Grundregel, die den Bearbeiter jener Geschichte nicht nur bey der Behandlung, sondern auch sogar bey der W ahl seines Stoffes sicher leiten kann. Denn nur durch ihn können aus dem un­ ermeßlichen Stoffe, der auf den Feldern aller beson­ deren Geschichten der Völker, Staaten u. s. w. zer­ streuet ist, die Fakta bestimmt werden, welche den In h a lt der allgemeinen Geschichte des menschlichen Geschlechtes überhaupt auszumachen haben. S u n Mangel kündiget sich auch auffallend genug an un­ seren Compilationen und Rhapsodien an, in wel­ chen Bruchstücke aus der thierischen Naturgeschichte des Menschen gepaart mit Muthmaßungen, die auf unzuverlässige Resultate der noch kaum urbar gewor­ denen Geschichten der bürgerlichen K ultur, der Re­ ligion, der Philosophie gegründet sind — Geschich­ te der Menschheit heißen, und die Bedeutung des Wortes Menschh ei t jedem nachdenkenden Leser zu einem so schwer aufzulösenden Probleme machen. D a der F a d e n , an welchen jeder dieser Ge,

El ster Bri ef .

37

schich.nchrcibcr der M enschheit seine Begebenheiten reih t, erst durch diese Begebenheiten selbst, oder vielmehr durch ihic A usw ahl und Zusammenstellung bestimmt roirb: so ist nichts natürlicher, als daß bey jedem ein ganz anderer Faden zum Vorscheine kömmt. Hier ist eS ein allm ähliger, im G anzen ununterbrochener Fortschritt zur moralischen V o ll­ kommenheit; dort ein G a n g der Entwicklung menschlicher K rä fte , der sich in lauter krummen Li­ nien fortwälzt, bald vo rw ärts bald rückwärts geht, und dessen Richtung lediglich von äußeren U m stän­ den abhängt; dort endlich ein ewiger S tillsta n d in Rücksicht auf Vollkommenheit und Glückseligkeit, in dem jederzeit die Vernachlässigung der E inen F ä ­ higkeit mit der A usbildung der an d ern , A bnahm e der Em pfindung m it Zunahm e der V e rn u n ft ver­ knüpft seyn soll. Je d e dieser M eynungen w ird von Selbstdenkern von ungefähr gleichem R an g e fü r ein augenscheinliches R esultat der Geschichte der Menschheit gehalten; und ihr V ertheidiger beschul­ diget die Anhänger der übrigen, daß sie die Ih rig e in die Geschichte hinein getragen, und die Fakta n u r nach ihrem willkührlich vorher gefaßten B egriffe au6gehoben und geordnet hätten. D e r G rund dieses S tre ite s , v o r dessen E n t­ scheidung wir uns keineswegs des BesiheS einer ei­ gentlichen Geschichte der Menschheit rühm en können, liegt in einem M ißverständnisse, das den streitenden Partheyen völlig verborgen ist, weil eö em rn P u n k t

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( E r s t e r 53 n e f.

betrifft, über den sie völlig einig ;u seyn glauben, oder von dein sie als von einer nierarhnflscben 5 rage durchaus keine Kenntniß nehmen wolle! ich mcntu den unbestimmten, vieldeutigen, schwankenden B e ­ griff von der V e r n u n f t u n d i h r e m V e r ­ h ä l t n i s s e z u r t h i e r i s c h e n N a t u r . D a die­ ser B egriff den eigenthümlichen Charakter der Menschheit betrifft: so kann nur durch ihn der o b c rs t e G e s i c h t S p u n k t festgesetzt werden, durch wel­ chen die i n n e r e Form der Geschichte der Mensch­ heit überhaupt, und durch sie jeder besondern G e ­ schichte möglich ist. E r kann unmöglich daS R esul­ tat der Geschichte seyn, die ihn voraus setzt, die ihn erläutern und bestätigen muß, aber nicht zuerst sc fi­ schen kann. D ie D a ta , durch welche er allein be­ stimmbar ist. fcmnen uns nur in unsrem Gemüthe und durch dasselbe gegeben seyn, und nurdurchZergliederung u n s r e s b l o ß e n V o r s t e l l u n g s v e r ­ m ö g e n s entdeckt werden. S i e außer uns in der Geschichte aufsuchen wollen, heißt einen offenbaren B ew eis geben, daß man nicht wisse, was man zu suchen habe. D ie allgemeinen Gesetze der i n t e l ­ l e k t u e l l e n K räfte lassen sich so wenig, alö die all­ gemeinen Gesetze der p h y s i s c h e n , durch Geschichte bestimmen, und so wie die wissenschaftliche B ekan nt­ schaft mit der N a tu r der Bewegung ohne M a t h e ­ m a t i k schlechterdings unmöglich ist: so setzt be­ stimmte Kenntniß der eigenthümlichen H a n d ­ l u n g s w e i s e d e r V e r n u n f t eine Wissen­ schaft v o rau s, die nicht weniger als die Mochemo#

Zweyter Brief.

39

tik von der Geschichte verschieden seyn muß. D ie von mir angedeutete E r s c h ü t t e r u n g auf dem Felde der Geschichte muß also entweder ewig fortdauren, oder die Entdeckung und Anerkennung jenerWissenschaft herbey führen, aus welcher sich der oberste Gesichtspunkt für alle Geschichte überhaupt mit all» gemeiner Evidenz ergeben soll; und alle Versuche, der Philosophie durch Geschichte eine bessere Form zu geben, müssen schlechterdings vergeblich seyn; in­ dem vielmehr die Geschichte ihre Form durch Philo­ sophie allein, aber freylich dann erst erhalten kan», wenn diese erst selbst eine feste Fornr haben wird.

Zweyter

Brief.

F o r t s e t z u n g d es V o r i g e n . Bedürfniß e i n e r o b e r s t e n R e g e l d es G eschm acks, le i­ t e n d e r P r i n c i p i e n f ü r p o s i t i v e Theo s o« gi« u nd J u r i s p r u d e n z , hau pt s äch l i ch a b e r e i n e s erst en G r u n d s a t z e s d e s S ta tu r» re c h ts u n d d e r M o r a l . S e r M angel an festen und allgemein geltenden Grundsätzen äußert sich an den Werken des G e­ schmackes lange nichts» auffallend, als an den Wer« ken der historischen Kunst. W ir, und vielleicht alle unsre kultivirten Nachbarn, haben weit mehrere Dichter als Gefchreiber von klassischem W erthe auf­ zuweisen, und wenn beyde nach den Zwecken ihres Künste gleich strenge beurtheilt würden: so dürften

Zweyter Brief.

40

diese vielleicht noch ziemlich weit hinter jenen befun« den werden.

Auch ist die ästhetische Kritik mit

ungleich größerem Eifer und glücklicherem Erfolg als die historische worden.

bisher unter uns bearbeitet

Durch das S tu d iu m , und noch mehr

durch den Genuß der alten und neuen Meistcrwersc der schönen Künste im weitesten Umfange des W o r­ tes, hat auch Deutschland endlich noch und nach das­ jenige gewonnen, woran es ihm zu Anfang unscrs Jahrhunderts noch gänzlich gefehlt h a t, und wozu man ihm ndch heut zu Tage eben nicht die besten Anlagen zutraut — Geschmack; und zwar einen Geschmack, der, was auch die Kunstrichter gegen manche seiner einzelnen Erscheinungen mit Recht einzuwenden haben, im Ganzen genommen so ächt als der beste unsrer Nachbarn ist, und der in den lehtern Jahrzehenden nicht nur nicht gesunken ist, sondern unstreitig an Feinheit eben so sehr als an Ausbreitung zugenommen hat.

Eine nicht unbe­

trächtliche Anzahl teutscher Gelehrten hält cS nicht mehr unter ihrer Würde sich auch mit dem S chö» nen ernsthaft abzugeben. den

nicht

Unsre Philologen wcrr

mehr durch Varianten, grammatische

Emendationen und Conjekturen berühmt; und sie selbst übernehmen nicht selten die Bestrafung derje­ nigen aus ihrem M itte l, die noch immer über den todten Buchstaben der alten Klassiker den Geist ver­ gessen, der in den ewig blühenden Schönheiten der­ selben fortlebt.

Auch Ungetehrre werden mit die­

sem Geiste immer mehr und mehr durch Ueberstr

Zweyt er B r i e f .

41

Hungen vertraut, die alles, was andere Nationen in dieser Art besitzen, weit übertreffen, und die viel­ leicht am sichtbarsten an Tag legen, was aus unsrer noch vor kurzem so rohen uab ungeschmeidigen M u t­ tersprache unter den Handen unsrer großen Dichter und Prosaisten geworden ist. Die Originalwerke derselben stehen dem Vorzüglichsten, was uns aus dem goldenen Zeitalter Romö und Griechenlandes übrig ist, an der Seite, und scheinen nach und nach und nach alle Formen des Schönen erschöpft zu ha­ ben.

W ie sehr sie von unsrem lesenden Publikum

benutzt werden, und wie weit dieses Publikum un­ ter allen Ständen um sich greifen müsse, läßt sich auch schon aus der großen immer zunehmenden M en­ ge von Nachdrücken schließen, deren Berechnung bey einigen jener Werke allen Glauben übersteigen würde. W er mißt nun die wohlthätige Einwirkung auch nur eines einzigen Schriftstellers, der als Dich­ ter, als philosophischer Geist, und als Gelehrter vom ersten Range mit sich selbst wetteifert, und in seinen zahlreichen und stark gelesenen Werken hohe Klarheit und Stärke der Denkkraft mit der feinsten Delikatesse^ des Gefühls, in seiner bezaubernden Sprache römische Urbanität mit attischer Eleganz vereinbart? Unsre M a le r, Bildhauer und Ton­ künstler ringen mit den Ausländern in eben dem Verhältnisse eifriger um den Vorzug, als sie unter ihren Landesleuten immer mehr und mehr auf theil« nehmende Zuschauer und kompetente Richter ihres rühmlichen Kampfes zählen können.

Die Großen

42

Zweyter Brief.

und Reichen begnügen sich bey uns vielleicht mehr als bey irgend einsc andern Nation mit dem Be« sitz; und theilen den Genuß der Meisterstücke ausländischer und einheimischer Künste in ihren er» öffneten Kunstsälen mit dem Publikum. Die me# sentlichcren Schönheiten der Werke der Maler# Bildhauer# und Tonkunst vervielfältigen sich durch Kupferstiche, Gipse und Klavierauszüge unter den Händen des Mittelstandes, und dieser Stand, der in so mancher Rücksicht auf der Stufenleiter des Menschenwerthes der oberste ist, wird gegenwärtig von demjenigen, der auf der Stufenleiter des Kürzer« lichtn Ranges über ihm steht, mehr durch Pracht als Kultur übertreffen. W ir könnten uns endlich so# gar auf die Formen unsrer Kleidung und unsers Hausgerätheö, auf die Außenseite unsrer Sitten und Gewohnheiten und den Ton unsres Umgangs berufen, um den Vorwurf der Geschmacklosigkeit von uns abzuwälzen, den wir noch vor kurzem in ei­ nem hohen Grade verdient haben. Wenn diejenigen Künste, die der äußern Auf­ munterung, und einer Haupt st adt weniger ent­ behren können, wenn Malerey, Bildhauerey, und die ihnen verwandten und untergeordneten Künste bey uns weniger als die Dichtkunst, weniger als in Italien, Frankreich und England geleistet haben: so hat doch dafür die ästhetische Kritik bey uns desto wichtigere Fortschritte gethan; und wenn unsre N a­ tion noch weit davon entfernt ist in Sachen des Ge»

Zwey rer B r ie f.

43

schmacks die Schiedsrichterinn über alle anderen zu seyn, ic liegt der Grund davon gewiß nicht in dem Umstande, daß wir es nicht in der Wissenschaft« l ich en Kritik des Geschmackes am weitesten gebracht bwbtn.

Teutschland ist das Mutterland und die

Pflegerin der so genannten Aesthetik,

oder der

Wissenschaft, welche die Grundsätze, die aller K ri­ tik des Geschmacks zum Grunde liegen, aufsucht, und in einem systematischen Zusammenhange auf­ stellt.

Wenn auch die vielen Versuche, die wir in

dieser Wissenschaft bisher aufzuweisen haben, zur er­ sten Idee des Stifters nicht viel Neues hinzugefügt haben: so wird doch kein denkender Kopf den V o r­ züglicheren darunter das Verdienst absprechen kön­ nen, eine große Mengeder wichtigsten Gedanken, die in den ästhetischen Rhapsodien der Italiener, Engländer und Franzosen zerstreut liegen, unter ge­ meinschaftliche Gesichtspunkte gebracht, geordnet, erläutert, und berichtiget zu haben. Die Frucht­ barkeit der Baumgartenschcn Principien zeigt sich nicht nur an den ausdrücklich auf sie gebauten a ll ­ g e m e i n e n Theorien, sondern weit mehr, und in einem Hellern Lichte, an den vielen scharfsinnigen und praktischen Bemerkungen, durch welche unsre Lessinge, E n g e l u.a. m.

die Materialien für

die künftigen besonderen Theorien emzelner-Dichtarten bereichert haben, und die freylich immer auf ein­ zelne Falle zurück führt sind, aber wohl größtentheils nur unter Voraussetzung, und auf den leiten,

Zweyter Brief.

44

den W ink jener Principien aus den Beyspielen ab; gelebter werden konnten. Es gehört unter die unzweydeutigsten Kennzei­ chen unsrer Fortschritte in der Kritik des Geschma­ ckes, daß wir immer allgemeiner einsehen, daß un­ sre Aesthetik, bey allen ihren unleugbaren Vorzügen vor der ausländischen, gleichwohl noch weit davon entfernt sey, die Forderungen einer Wissenschaft im eigentlichsten Verstände des Wortes zu erfüllen, die w ir selbst die ersten an dieselbe gethan haben.

S ie

hat noch keiner der unter ihr stehenden Theorien der Künste ein allgemein geltendes Princip geliefert. W ir ssnd noch nicht einmal über den Grundbegriffvon der Dichtkunst, und den Unterschied derselben von der Redekunst einig; und sind es immer weniger gewor­ den , seitdem sich mehrere unsrer besten Köpfe mit der Festsetzung dieser für die schönen Wissenschaften so äußerst wichtigen Begriffe W enn

beschäftiget

haben.

der Eine unter denselben die L e b h a f ­

t i g k e i t in G e d a n k e n

und

Ausdruck

für

das Wesen des Gedichtes annimmt: so muß er, um das Feld der Dichtkunst gegen die Anmaßungen der K r a f t m a n n er zu retten, noch erst hinzu fetzen, daß diese Lebhaftigkeit ästhetisch —

und um die

höhere Beredsamkeit (die sich so oft durch Lebhaftig­ keit in Gedanken und Ausdruck über manche Dicht­ art erhebt) von jenem Felde abzusondern — erst er­ klären— daß sie poeti sch seyn müsse, das heißt, er muß gestehen, daß seine Erklärung das charafte»

Zweyter Br i ef .

45

ristischc Merkmal der Dichtkunst voraus sehe, und folglich keineswegs enthalte und angebe.

Wenn

ein anderer dieses Merkmal in der si nnl i ch v o l l ­ kommenen Re d e antrifft, so verwirrt er die Gränzen der Dichtkunst und Beredsamkeit, und wenn er dieser Verwirrung damit abzuhelfen glaubt, daß er das Gedicht für eine Rede erklärt, durch welche der höchste mögl i che G r a d von V e r g n ü g e n hervorgebracht wird, so spricht er al­ len bisherigen und künftigen Meisterstücken der Dichtkunst das Recht auf den Namen des Gedichts ab.

Wenn ein dritter den Charakter der Dichtkunst

in der E r d i c h t u n g findet, so kann er denselben nur dadurch gegen Vieldeutigkeit sichern, daß erden Begriff der Erdichtung auf den Begriff der sinn­ lich v ol l k omme nen Re de , deren Endzweck G e f a l l e n ist, einschränkt, oder welches hier eben so viel ist, denselben durch «in nicht weniger vieldeu­ tiges Merkmal bestimmt.

Denn ist man wohl dar­

über einig was man unter dem S i n n l i c h v o l l k ommene n — und unter G e f a l l e n zu verstehen habe? G e f a l l e n , ruft eine sehr ansehnliche P ar­ they von Künstlern und Kunstkennern gleichsam auS einem Munde, G e f a l l e n ist der Zweck, und das erste Grundgesetz aller schönen Künste und Wissen» schäften, und der Umstand, daß dieser Begriff eben so wenig einer Erklärung fähig als bedürftig ist, beweist Princip.

eben

Tüchtigkeit

desselben

zum ersten

Allein G efa l l e n ist auch der Zweck und

das erste Grundgesetz der Künste, welche für den

46

Zweyter Brief.

Gaumen, die Nase und den fünften oder sechsten S in n arbeiten; und obwohl nicht zu leugnen ist, daß Frankreichs berühmtester schöne Geist einen nicht ganz unbeträchtlichen Theil der großen Wirkung, die 4t auf Europa gethan hat, dem Gebrauche verdankt, den er in mancher seiner beliebtesten Schriften von den Geheimni ssen der letzter» Kunst zu machen wußte, so hat doch der weniger galante teutsche Sprachgebrauch den Namen der Schö­ ne n ausschließend für die diejenigen Künste be­ stimmt, die es mit dem Geiste entweder unmitte bar, oder höchstens nur durch Auge und Ohr zu thun ha­ ben. — Die Behauptung, durch dargestell­ te Sc h ö n h e i t gef al l en sey der Zweck und der erste Grundsah der schönen Künste und Wissen­ schaften, vereiniget eine zweyte Parthey, aber auch nur so lange, als nicht um die Bedeutung des W or­ tes Sc h ö n h e i t gefragt wird. Denn in diesem Falle antwortet der Eine: Schönheit könne nur em­ pfunden , nicht gedacht, und folglich auch nicht er­ klärt werden, und da die Empfindungen derselben nur in wirklichem Genusse der Schönheiten der Na­ tur und der Kunst vorkamen, so ließe fich daS Ideal der unerklarbaren Schönheit überhaupt, das durch Zergliederung zerstört würde, nur aus den Eindrü­ cken dieser Werke abstrahiren. Ein anderer hinge­ gen antwortet: das Schöne zeichne fich eben dadurch von dem bloß Angenehmen aus, daß es nicht wie dieses nur empfunden, sondern zugl. ich gedacht, und in so ferne erklärbar seyn müsse. Die

Zweyter Brief.

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bloße Empfindung könne unmöglich bas Kriterium der Schönheit seyn, indem sie eine gewisse Bildung, die Geschmack heißt, vorausseht, wenn sie nicht in vielen Fallen beym Schönen gleichgültig bleiben und durch das Häßliche entzückt werden soll. Der Begriff der Schönheit, der eben die Regel des Geschmackes enthalten müsse, lasse sich also kei­ neswegs aus dem abstrahlten, was beym Genusse des Schönen bloß empfunden werde; und es müsse von allem Empfinden unabhängig ausgemacht seyn, welche Gegenstände der angenehmen Empfindung schön wären; das Merkmal endlich, welches das Verhältniß der Schönheit zumEmpfindungsvermö­ gen und zur Denkkraft zugleich ausdrückt, heiße: Sesnltche Vollkommenheit. — Läßt es nun der Vertheidiger dieser Meynung nicht beym bloßen Ausdruck bewenden: so geräth er selbst mit seiner eignen Parthey über den vieldeutigen Sinn ih­ rer gemeinschaftlichenFormel in neue Streitigkeiten. Der Eine glaubt diese Formel genug bestimmt zu haben, wenn er die Vollkommenheit für die Einheit des Mannigfaltigen erklärt, ohne zu beden­ ken, daß er damit ein Merkmal angegeben habe, das jedem wirklichen und möglichen Dinge, es sey dasselbe schon oder häßlich, zukommen müsse. Der andre meynt, die Vollkommenheit, von der bey der Schönheit die Rede ist, dadurch genug ausgezeichnet zu haben, daß er sie für diejenige Mannigfaltigkeit erklärt, welche der Stärke, verbunden mit der­ jenigen Einheit, welche der Leichtigkeit der

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Zweyter Brief.

Beschäftigung deß Gemüthes — oder dem V er« g n ü g e n zum G runde läge, und die den Gegen« stand, an welchem sie wahrgenommen w ürde, zum Objekt des Vergnügens mache. E r nenne dqher sogar das Vergnügen überhaupt s i n n l i c h e V o r » st e l l u n g der Vollkommenheit, und vergißt, daß «S hier nicht um den Gegenstand des V ergnügens überhaupt, sondern des ästhetischen V ergnügens; nicht um das Merkmal des A n g e n e h m e « , so»« der« des S c h ö n e n zu thu« war. E in dritter un# (erscheinet zwar das Aesthetisihe, von dem Sinnlich» vollkommenen überhaupt, und behauptet, das Merk» mal, durch welches das letztere zum R an g des er» stern erhyben würde, bestand« in der Zweckmä» ß i g k e i t. Allein er bleibt entweder seinen Lesern alle Rechenschaft über die Zweckmäßigkeit schuldig, oder er läßt sie in der Tüchtigkeit bestehen entweder V e r g n ü g e n überhaupt — oder dasjenige V e r­ gnügen zu gewähren, dessen Begriff er wieder durch Zweckmäßigkeit, und folglich durch einen Zirkel desinirt. D a alle diese Partheyen bey ihrem S tre it über den Grundbegriff des ästhetischen V ergnügens allein darüber einig sind, daß der Mensch diese A rt des V ers gnügens keineswegs wie andere Arten mit feinen H albbrüdern den vernunftlosen Thieren theile, und daß folglich die V ern u n ft eben so gewiß- als die Sinnlichkeit zum sogenannten S in n e für Schönheit gehö»

Zweyter B r i e f .

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gehöre: *) so ist es offenbar, daß jener S tre it auf keine andre Weise geschlichtet werden könne, als daß stch die Partheyen zuerst über die Beschaffenheit der von ihnen anerkannten Funktion der E m p f i n d u n g beym V e r g n ü g e n überhaupt, und dann über die Beschaffenheit der nicht weniger zugestandenen Funk» lion der V e r n u n f t beym äst het i schen V e r ­ gnügen vereinigen; welches aber so lange schlechter­ dings unmöglich ist: als man nicht über die wesent» lichtn

Merkmale

der S i n n l i c h k e i t ,

und der

V e r n u n f t , und das V e r h ä l t n i ß dieser V e r ­ mögen unter einander einverstanden ist, oder wel­ ches

hier

eben

so viel heißt,

als man nicht

über die d u r c h g ä n g i g bestimmten Begriffe die­ ser Vermögen durch eine auf einem a l l g e m e i n # gcl t e- nden Princip feststehende Wissenschaft des Vorstellungsvermögens einig geworden ist.

D ie

Erschütterung auf dem Felde der Geschmackslehre, und mit derselben der Mangel einer allgemeingelten­ den ersten G r u n d r e g e l des Geschmackes muß also entweder ewig fortdauren, und die Aesthetik bey allen ihren reichhaltigen Materialien ein bloßeS Aggregat

größtcnlheils

unzusammenhangender,

schwankender, halb wahrer Bemerkungen bleiben, es muß sogar die Möglichkeit einer wiffenschaftli#

*) Dies geben auch diejenigen zu, welche die Schinhelt bloß empfunden werden lassen. Ihnen ist die Vernunft selbst nur Vermtgen E i n s t i m m u n g und W i de r s t r e i t zu e m p f i n d e n , und folg­ lich eine dem menschlichen EmpstndungsvermSgen eigenthümliche Modifikation. D



Zweyter B rie f.

chen zuverlässigen GcschmackSlehre von einem gro­ ßen Theil der Philosophen selbst wie bisher gelang# net werden, und die großen und unläugbarcn M an­ gel unsrer Theorien der Künste werden immer fort­ fahren, unsre denkenden Künstler abzuhalten, sich auch mit dem Brauchbaren jener Theorien bekannt zu machen — oder jene Erschütterung muß die Entde­ ckung und Anerkennung der Wissenschaft beschleuni­ gen, aus welcher sich die oberste Grundregel des Geschmackes mit allgemeiner Evidenz aushcbcn läßt. Eben dieselbe Erschütterung, welche auf dem Gebieth der Metaphysik und Geschichte an allen angenommenen Principien des W a h r e n , und auf dem Gebiethe der Aesthetik an allen an­ genommenen Principien des S c h ö n e n erscheint: zeigt sich auch an allen angenommenen Principien des G u t e n , die auf den Feldern der Wissenschaf­ ten unsrer P f l i c h t e n und Recht e in diesem, und des Grundes unsrer Hoffnungen in einem k ü n f t i g e n beben in eben dem Verhältnisse schwankender geworden sind, als diese Felder ge­ schicktere Bearbeiter gefunden haben. I n wie fer­ ne unsre Rechte und Pflichten in diesem und der Grund unsrer Hoffnungen in einem künftigen beben in den ur s p r ü n g l i c h e n (nicht erst erworbenen) Anlagen unsrer Natur gegründet sind, machen sie den Gegenstand d e r M o r a l , des N a t u rrechts, und der r ei nen P h i l o s o p h i e der R e l i ­ g i on aus. I n wie ferne sie aber durch Thatsachen der äußeren Erfahrung modisicirc sind, werden sie zum Gegenstände der posi t i v en Gesehge»

Zweyter Brief.

zr

b u n g , p o s i t i v e n J u r i s p r u d e n z , u n d po« s itiv e n T h e o lo g ie . D ie B ehauptung dev N a t u r a l i s t e n : daß die moralischeGesehgebung der N a t u r alter als die positive Gesetzgebung der Regenten, die Rechte des Menschen alter als die Rechte des B ü r g e r s , und natürliche Religion alter als alle positiven Religionen waren', ist um nichts wahrer, als die Behauptung der S u p e r n a ­ t u r a l i s t e n , welche das Natürliche für eine bloße Folge des Positiven ausgiebt, und nur in so ferne gelten läßt, als es durch das Positive bestätiget werden samt. B eyde VorstellungSarten gründen sich auf eine sehr unvhilosophische Verwechslung der in den bloßen ursprünglichen Anlagen der Mensch» heit bestimmten, mit den in der W elt anerkannten und angenommenen Formen. D a ß das Positive dem Natürlichen wirklich vorher ging, bezeugt die Geschichte, daß eS vorher gehen mußte, bezeugt dir 6c* schränkte N a tu r des menschlichen G eistes, der n u r durch lange fortgesetzten, durch äußere Umstände be» günstigten Gebrauch seiner Kräfte allmählig zur Ed» kenntniß seiner Selbst gelangen kann. V o n Anbc» ginn der bürgerlichen Gesellschaft her wirkt die me* ralische durch V ernunft thätige N a tu r des M en» schm; sie wirkt vor aller bürgerlichen und wissen» schaftlichen K u ltu r, weil beyde nur durch ihre Sclbstthätigkeit möglich sind. Aber sie mußte (an# ge ganz unerkannt, und noch länger v e r k a n n t wirken, weil eine auf allgenieingeltcnde Principien gegründete Bekanntschaft mit ihr nur da< Resultat

Zivc 1-1cr 23rief.

52

einer traten, bis auf einen sehr hohen Grad gediehenett

iri)Tensd)aftIiihen K ultur seyn kann.

B lS

da­

hin ift die Vernunft genölhiget, die ihr unbekann­ ten, oder nidu 1'csiiintnt genug bekannten Gründe ihrer moralischen Wirksamkeit außer sich selbst auf­ zusuchen, die in der Erfahrung vorkommenden, und freylich durch äußere Umstande modificirten f o l ­ gen ihrer eigenen Thätigkeit für Ursachen derselben anzunehmen, und an den Thatsachen,- die zum Theil den Versud-en, dir dunkel geahndeten Forderun­ gen der moralischen N atur geltend zu machen, ihr Daseyn verdauten, sich den S in n dieser Forderun­ gen zu erklären.

Wenn sich der Philosoph an dem

P o s i t i v e n bey allen Spuren des moralischen U r­ sprunges, die er an demselben verehrt, gleichwohl das Gepräg der Unmündigkeit des mcnfdstidjen Gell steS nicht verbergen kann: so kamt er sich eben sowe­ nig entbrechen, an demselben eine weise Erziehungs­ anstalt zu bewundern, die jener Unmündigkeit völlig angemessen ist; und selbst bey dein vom Venitmftgefetze abweichenden, wo er dasselbe an dem Positiven antrifft, die von außen her lenkende wohlthätige Hand wahrzunehmen, die der Mensd-Heic so lange unentbehrlich ist und seyn wird, als sich diese nach dem innern Gesetze ihrer selbstthätigen Kräfte nicht zu lenken vermag. Der Vorzug, den die positive Jurisprudenz und Theologie vor dem Naturrechte und der na­ türlichen Theologie bisher behauptet haben, und der

Zweytcr

Brief.

53

sich keincSweges durch die bloße Rangordnung der Fakultäten auf Akademien allein

ankündiget, hat

seine ganz unwiderlegbaren Gründe.

D ie Gegen«

stände der Ersteren sind in der wirklichen W e lt an­ genommen, und werden durch die Macht de6 S ta a ­ tes und das Bedürfniß seiner Glieder empor gehal­ ten; wahrend die Gegenstände der Letzteren nicht einmal in den Studirstuben allgemein anerkannt, und selbst unter den Philosophen von Profession bis jcht noch problematisch sind.

D e r In h a lt des N as

turrechtS und der natürlichen Theologie ist theils in den Werken einiger Originalköpfe zerstreut, und mit paradoxen Einfallen vermengt, theils in Kompen­ dien aufgestellt, welche, auch die vorzüglichsten unter ihnen nicht ausgenommen, sich unter einander selbst widerlegen; wahrend der In h a lt der positiven J u ­ risprudenz und Theologie in den Gesetzbüchern und Heiligen Urkunden der Nationen fest steht.

D er

eine wird durch die Streitfragen der Philosophen, der andere durch Erziehung, Gewohnheit, öffentli­ che Anstalten, mit einem W orte durch alle Triebfe­ dern der politischen Maschinen fortgepflanzt.

Auf

Universitäten war die Philosophie von jeher die leib­ eigene M agd der positiven Wissenschaften, von denen ihr Schicksal immer nach der Beschaffenheit der Dienste entschieden wurde, die sie von ihr zu erwar­ ten hatten. Aristoteles,

D ie mißverstandenen Formeln des welche unter

den Händen

der

S c h o l a s t i k e r nach und nach den S in n erhalten hatten, den das damalige Bedürfniß -er G lau-

Zweyter Brief.

54

benS- und Rechtsverständigen heischte, wurden von diesen letzter» gegen die Philosophie des D e s ca r r cs mit einem Nachdruck verfochten, der manchen Carte« sianer seine Stelle oder sein System aufzugeben zwang, und welcher so lange forlwüthcte, bis der Cartesianismus

geschmeidig

genug

geworden

w ar, um die durchgängige Vcrnunslmäßigkeic des Alhanasianischcn Symbolunis, des Tridentinischen Conciliums, der symbolischen Bücher, desJustiniaNischen Codex, des Sachsenspiegels u. f. w. zu de« monstriren.

D afür wurde er in der Folge mit

gleichem Eifer gegen die Le i bni hi sch « Wöl f i sche P h i l o s o p h i e geschüht, bis es auch dieser nach und nach gelungen hatte, vordem größeren Theile ih­ re Orthodoxie zu rechtfertigen. I n den helleren Zei­ ten dieser Philosophie trat endlich die merkwürdige Periode ein, in welcher die positive Jurisprudenz, noch mehr aber die positive Theologie der Protestan­ ten, durch eifrigere, zweckmäßigere, und glückliche­ re Bearbeitung und Benuhung ihrer historischen Hül f Swi ss e nsc ha f t e n

zu

dem ansehnlichen

Grad von Vollkommenheit empor stiegen, auf dem sie sich gegenwärtig zur Ehre unsres Zeitalters befin­ den.

Die Philosophie wurde nun f r e y , aber sie

wurde von dem größeren Theile auch ihres nun­ mehr freywillig

angebothenen Dienstes entlassen,

den man von nun an durch Geschichte besser ver­ waltet glaubte. Die akademischen Philosophen wa­ ren nun nicht mehr genöthiget, sich so ängstlich wir bisher an gemeinschaftliche Formeln zuhalten, und

Zweyter Br i ef .

55

die Philosophie legte nach und nach mit denselben die systematische Form ab, gab immer sichtbarer al­ le Hoffnung und alles Bestreben nach allgemeingcltenden Principien au f, und nahm die neue Gestalt an , die ihr bey ihren Pflegern und Verehrern den Namen der Ekl ekt i schen errungen hat.

M an­

cher der berühmtesten neuern Theologen und J u r i­ sten verlangt von der verabschiedeten Philosophie nichts weiter, als daß sie mit ihm die Grundwahrheiten der Religion und M o ralität als Aussprüche des ge­ sunden M e n s c h e n v e r s t a n d e s anerkenne. D a ­ für t v l e r i r t oder i g n o r i r t er, daß jeder P h i­ losoph nach Belieben aus allen, auch aus den verschrieensten alten und neuen philosophischen Lehrge­ bäuden Bruchstücke aushebe, und sie nach seiner Weise zu einen, neuen Ganzen zusammen füg«, oh­ ne sich dabey von einem andern allgemeingeltenden Princip leiten zu lassen, als dem aus einem sehr be­ greiflichen

Grunde

angenommenen Princip

der

V e r t r ä g l i c h k e i t mit den unentbehrlichsten prak­ tischen Grundwahrheiten; einem P rin cip , das um so viel leichter zu befolgen ist, da der gänzliche M a n ­ gel anderer allgemein angenommener Principien je­ den in S tand seht den Grundwahrheiten sowohlalS jenen

Bruchstücken, die

keinen

fest bestimmten

S in n haben, immer eine Bedeutung zugeben, bey der jene V e r t r ä g l i c h k e i t heraus kömmt.

E i­

nige unsrer verdienstvollsten Reformatoren der posi­ tiven Theologie und Jurisprudenz zeichnen sich durch die Beschränktheit ihrer philosophischen Einsichten

56

S c e p te r B rie f.

nicht weniger auffallend, als durch die Größe ihrer historischen Gelehrsamkeit a u s ; und andere unter ihnen haben sich sogar durch die öffentlichen Bewei>e ihrer Gleichgültigkeit gegen die Philosophie, oder, wie sie es lieber nennen hören, ihrer toleranten G estnnung gegen die M eynungen der Philosophen, den Ehrennam en philosophischer Geister errungen. *) D e m ersten Grundsatz des Protestantism us ge­ treu, welcher die V ern u n ft für die höchste SchicdS«. richterinn in allen Angelegenheiten der Religion, und die einzöge rechtmäßige AuSlegerinn des Bibelsinnes erklärt, und durch höhere Kenntniß der Ursprachen, Philologie und Kirchengeschichte geleitet, habe» un­ sre neueren Exegrten aus den wichtigsten F o r m e l n der heiligen Urkunden nach und nach einen S i n n herausgebracht, von dem sich die Verfasser der sym­ bolischen Bücher bey dem damaligen Zustande jener Hülfswissenschaften freylich nichts träumen lassen konnten. D ie Zahl und der Einfluß der protestan­ tischen Theologen, welche die symbolischen Bücher fü r das N o n plus vltra exegetischer Einsichten hal­ te n , oder vielmehr dieselben an die S te lle der un­ fehlbaren Kirche als V o rm ünder der V ern u n ft an­ genommen wissen wollen, hat beträchtlich abgenom­ m en, und sogar die N am en O r t h o d o x und Ha « t e r o d o x werden immer seltener, und immer mit *) D a ß das n i c h t v o n a l l e n ,

die diesen N a m e n f ü h re n , gilt, verstände sich von selbst, w enn ich nicht auch von Leuten gelesen w ü rd e , beu denen sich nichtvon selbst versteht.

Zweyt er B r ie f . geringerer Erbitterung gebraucht.

57 Allein da einer­

seits von Zeit zu Zeit noch immer Verfechter der symbolischen, oder, wie sie sich ausdrücken, der re iii en Lehr e aufstehen, denen es eben so wenig an Scharfsinn, und Kenntniß der historischen H ülfsWissenschaften fehlt, und da andrerseits die Verthei, diger des freyen Vernunftgcbrauchü über die vor­ nehmsten Resultate ihrer Exegese unter sich selbst uneinig sind; dasie in der Erklärung von H aupt­ stellen von einander abweichen; und die wichtigen Bedeutungen der W o rte: G l a u b e n , O f f e n b a ­ r u n g , E i n g e b u n g , U e b e r n a t ü r l i c h u. s.w. bald vorschlich unbestimmtzu lassen scheinen, bald ober durch gerade entgegen gesehte Merkmale be­ stimmen: so wird es immer einleuchtender, daß durch den Gebrauch der historischen Hülfswissenschaftcn allein, der große Zweck der positiven Theo­ logie wohl nicht erreicht werden könne, und daß eS gewisse l e i t e n d e I d e e n geben müsse,

die sich

durch alle grammatikalische, philosophische und histo­ rische Gelehrsamkeit nicht aus den heiligen Urkunden ziehen, oder mit dem Geiste derselben vereinbaren lassen; Ideen, über deren durchgängige Bestimmung man v o r h e r einig seyn müsse, wenn man durch zweckmäßigen Gebrauch der Gelehrsamkeit endlich zu etwas Ausgemachten und Feststehenden gelangen soll.

Allein sind denn unsre berühmteren Theolo­

gen auch nur darüber einverstanden, ob etwas Aus­ gemachtes und Feststehendes auf dem Gebiethe ih­ rer Wissenschaft möglich, ja auch nur erwünschlich

58

Z w e y t e r B r ie f .

fcn? und vergessen diejenigen, bieS^bie in ihren Schriften auSbrücklich in Zweifel ziehen, nicht, bosj alle ihre Arbeiten keinen anderen Zweck haben und haben können, als etwas auszumachen und fest zu sehen? Streiken nicht unsre berühmtesten Eregeken noch immer über bie Präliminarfrage: ob bie reine Ibee von derGotthcit aus berBibel geschöpft, oder aber als das höchste Kriterium der in der Bi» bei vorkommenden Vorstellungsarten von der Gott» heit aller Exegese vorher gehen müsse? Streiten nicht unsre theologischen Moralisten bis auf diese Stunde über bie Ibee und den Grund der nicrali» schcn Verbindlichkeit, ob nämlich dieselben erst aus dem Evangelium geschöpft, oder aber dem eigentli­ chen Sinne der evangelischen Lehren, zum Grund gelegt werben müssen? Und ssnb diejenigen, welche über den natürlichen Ursprung der Idee von Gott und Sittlichkeit unter sich einig sind, und denselben unter bie vornehmsten Gnmblehren ihrer Snsteme aufnehmen, auch nur über ein einziges Völlig be­ stimmtes Merkmal dieser Hauptidcen unter sich ein­ verstanden? und wie sollten sie; da selbst die Philo­ sophen von Profession, welche die Berichtigung und Festsetzung jener Ideen zu ihrem Hauptgeschäfte machen, über jedes Merkmal derselben in einer äu­ ßerst verwickelten Fehde begriffen sind? Wenn die positive J u r i s p r u d e n z im Gan­ zen genommen, hinter der positiven Theologie zurück geblieben ist, so liegt die Ursache davon keineswegs

Zweyter Brief.

59

rn dem Umsiande, daß sie von weniger zahlreichen und geschickten Händen bearbeitet worden wäre: sondern in der Natur ihres Gegenstandes, der mehr von dem Gesetzgeber als dem Gesehkundigcn ab# hängt. Auch sie hat in den neuern Zeiten durch ih# re historischen Hilfswissenschaften beträchtlich ge# Wonnen, auS denen sie noch mehrere Vortheile als die Theologie aus den ihrigen zu ziehen hat, da sie mehr als diese auf Thatsachen beruht, und ungleich reichhaltigere historische Quellen hat. Allein sollte nicht eben die vielfältige, langwierige, und einseitige Beschäftigung des Geistes mit einem unermeßlichen Stoffe des Gedächtnisses, die bey der Benutzung jener Quellen unvermeidlich ist, sollte nicht die Ge­ wohnheit, die Vernunft jeden ihrer Schritte am S ta­ be der Geschichte thun zulassen, und die dadurch veranlaßte ausschließende Hochachtung der histori­ schen Resultate, verbunden mit der Geringschätzung der philosophischen, sollten nicht diese Umstände zu­ sammen genommen, den sehr natürlichen Erklä­ rungsgrund der Thatsache enthalten, daß unsre Juristen, selbst manche der berühmtesten und ver­ dienstvollsten unter ihnen nicht ausgenommen, und bey allen bisherigen Fortschritten ihrer Wissenschaft, noch immer fortfahren, das positive Recht, nicht nur in wie ferne es pos iti v, sondern auch in wie ferne es überhaupt Recht ist, auf bloße historische Data zu bauen? Da es positive Gesetze geben kann, und wirklich giebt, die bey aller ihrer pol i­ tischen Wirklichkeit moralisch unttiog*

6o

Zweyt er Bri ef .

lich sind: so hängt die moralische Möglichkeit eine? positiven Gesetzes keineswegs von dem pclitifdnn Daseyn desselben ab; und da al l e dtedi t e, das Einzige des Stärkern ausgenommen, nur durch Ge­ setze bestimmt werden können, die moralisch möglich sind, so muß diese moralische Möglichkeit der erste G r u n d aller Rechte, folglich auch der positiven, seyn. S ie ist die oberste Grundregel, nach welcher der S in n der positiven Gesetze bestimmt werden muß; und so oft der Fall eintritt, daß eines dieser Gesetze schlechterdings keinen S in n zulaßt, der sich mit ihr vereinigen ließe: so ist es die heiligste Pflicht des Gesetzku ndigen, die Ungültigkeit eines solchen Ge­ setzes der gesetzgebenden Macht anzuzeigen, und auf die Anerkennung derselben zu dringen. Steht nun diese oberste Regel des Rechts in keinem allgemein­ geltenden , gegen alle Vieldeutigkeit gesicherten, G r u n d s ä t z e fest; wird sie von den positiven Rechtslehrern als ein unauflösliches und entbehrli­ ches Problem der Metaphysik bey Seite gesetzt; ia ! wird sie auch nur über die historischen Gründe der positiven Gesetze aus den Augen verlohnn,: so tritt in demselben Augenblick an ihrer Stelle der leidige Buchst aben auch solcher Gesetze ein, welche die Barbaren der finstern Zeitalter, in welchen sie ent­ standen sind, verewige», auch solcher Gesetze, an deren Daseyn der Eigennutz und die Herrschsucht des stärkeren Unterdrückers wenigstens eben so viel Antheil hatten, als das Streben der dämmernden V e rn u n ft, die dunkel geahndeten Menschenrechte

Zweyter Br i e f .

6t

durchzusetzen. Wollte der Himmel, daß keiner we­ nigstens der berühmteren und verdienstvolleren J u ri­ sten unter die Vertheidiger jenes Buchstabens gehörte! Allein die positive Jurisprudenz hat gegen­ wärtig mehr als jemals, wie die positive Theolo­ gie, ihre Orthodoxie undHäteredorie, eine historische Parthey und eine philosophische, wovon die Eine auf Herkommen und Besitzstand, die andere auf das moralische S o l l e n zu bauen bemüht ist. Ih r Kampf breitet sich von Zeit zu Zeit über mehrere und wichtigere Gegenstände aus, betrifft dermalen nichts geringeres als die Fürstenrechle überhaupt, die Rechtmäßigkeit der Todesstrafen, der Leibeigen» schaft, des Sklavenhandels, u. dergl. m. und ist um so viel schwerer zu entscheiden, da er bey der noch ganz »»ausgemachten Gränzscheidung des positiven und des natürlichen Rechtes bald auf dem Gebieth des einen, bald des andern geführt wird. Man wird es dem Rechtsgelehrten von der hi­ storischen Parthey weniger verdenken können, daß er sich ausschließend an Fakta hält, wenn man be­ denkt, daß seine philosophischen Gegner eigentlich nur über die Behauptung, daß es eine oberste Re­ gel des Rechts gebe, keineswegs aber über die Frage: worin sie bestehe? einverstanden sind. Der Streit über den Grundbegriff und den ersten Grundsatz des Naturrechtes, der in eben dem Verhältnisse verwickelter und auffallender wird, je eifriger dieser philosophische Theil der Rechtswissenschaft in den

6r

Zweyter Brief.

letztem Zeiten bearbeitet worden ist, hat nicht wenig dazu beygetragen, daß man das Naturrecht

nur

durch eine A rt von Entgegensetzung von dem Posi­ tiven zu unterscheiden, und dieses als das A u s g e ­ ma c h t e , jenes als das S t r e i t i g e zu schätzen ge­ wohnt worden ist. D ie P h i l o s o p h e n haben frey­ lich m e h r e r e erste Grundsätze des Naturrechtes, unter denen nur Einer oder Keiner der Aechte seyn kann; aber die P h i l o s o p h i e hat bisher noch K e i ­ nen aufgestellt; wenn man nicht die Meynung E i ­ nes M annes, oder E i n e r Parthey, auf Unkosten aller übrigen, P h i l o s o p h i e nennen will. wird

der

Grund

Grundsätze

des Naturrechtes mit

B a ld dem

verwechselt; bald der Erkenntniß­

grund vom Grunde des Daseyns und der Verbind­ lichkeit desselben getrennt.

D e r eine Schriftsteller

glaubt, das Naturrecht wäre von der M o ra l ganz unabhängig; der

andere

meynt, beyde flössen so

sehr in einander, daß man auf ihre Granzbestimmung schlechterdings Verzicht thun müsse. D e r G r u n d des NaturrccbteSwird von eini­ gen in einem allen bürgerlichen Verfassungen vor­ her gegangenen S t a n d e der N a t u r , von an­ dern aber in der bereits vorhandenen G e s e l l s c h a f t aufgesucht.

S t a n d der N a t u r heißt einigen

der bloße Zustand vernunftloser Thierheit, in wel­ chem kein anderes Recht als das des Stärkeren gilt; andern aber der In b eg riff der ursprünglichen Anlagen der menschlichen N a tu r , die man sich in ihrer

völli-

Zweyter Brief. gen Reinheit und ihrem ungehinderten Gebrauche denkt. D ie u r s p r ü n g l i c h e A n l a g e , welche den G ru n d des NaturrcchlS enthalten soll, w ird bald für einen eigennützigen, bald füreinen «neigen» nützigen T rieb, bald für die Triebfeder der Selbst» «H altung, bald für angebohrne gesellschaftliche N ei­ gung, bald für bloßes B edürfniß der Sinnlichkeit, bald für eigenthümliche Handlungsweise der V er» nunft ausgegeben. D urch jede dieser verschiedenen Ableitungen wird «in a n d e r e r erster Grundsatz des N aturrechtes erhalten, der seine Unbestimmtheit und Unzulänglichkeit auffallend genug durch die v e r ­ s c h i e d e n e n F o r m e l n ankündiget, in welche er selbst von denjenigen, die über sein W esen einig zu seyn glauben, eingekleidet wird. Freylich ist es viel­ leicht nur die H älfte der Bearbeiter des N aturrechteö, die über diese Form eln (wovon jede von ihrem V ertheidiger für den einzigen möglichen ersten Grundsatz erklärt wird) unter einander zu streiten der M üh e werth halten. V on den übrigen wird diese Fehde für einen bloßen W o r t s t r e i t erklärt, indem e s , wie sie m eynen, nicht so viel a u f den A u s d r u c k als den S i n n des Grundsatzes an­ komme; indem die Verschiedenheit der menschlichen V orstellungöarten über einen und eben denselben G e ­ genstand auchVerschiedenheit derFormeln nothwendig mache, und das N aturrecht offenbar weit mehr ge­ w innen m üßte, wenn es durch m e h r e r e G ru n d ­ sätze, als wenn es nur durch einen E i n z i g e n un­ terstützt würde. Allein eben diese Gleichgültigkeit

64

Zweyter Brie f.

gegen die Einheit des Grundsahes dürfte wohl noch mehr als jener S treit über denselben beweisen, wie weil wir noch von dem durchgängig bestimmten Grundbegriffe des Naturrechts entfernt sind, der, wenn er einmal entdeckt, und inö reine gebracht ist, alle Verschiedenheit der VorstellungSart, und in wie ferne die philosophische Sprache keine Synonymen hat, auch des Ausdrucks, so gewiß unmöglich macht, als er selbst E i n z i g , und in dem allen In» dividuen gemeinschaftlichen Charakter der Menschheit gegründet seyn muß. Allein, wie sollte die durchgängige Bestimmung jenes wichtigen Grundbegriffes möglich seyn: so lange wir über das V e r h ä l t n i ß des si nnl i chen Tr i e b e s zur S e l b s t t h ä t i g k e i t der V e r n u n f t nichts als streitige Meynungen aufzuweisen haben? so lange die Selbstdenker über den wesentlichen Unterschied, und den wesentlichen Zusammenhang zwischen S i n n l i c h k e i t und V e r n u n f t uneinig, und fo'glich diejenigen Punkte noch ganz unentschieden sind, woraus sich allein die Natur der auf unscrVedürsniß gegründeten Forderungen der Sinnlichkeit, und der auf positive Kraft unsres Geistes gegründe­ ten Einschränkungen jener Forderungen bestimmen lassen? so lange wir keine auf einem al l gemei ngel t enden P r i n c i p fest stehende Wissenschaft der ursprünglichen Einrichtung unsres VorstcllungSund Begehrungövermögens aufzuweisen haben? Die Erschütterung auf dem Gebiethe des N a t u r rechts, und allen mit demselben zusammenhangen­ den

Zweyter Brief.

6z

den Feldern des positiven Rechtes muß also entweder ewig forldauren, oder sie muß die Entde­ ckung und Anerkennung dieser neuen Wissenschaft beschleunigen, ohne welche sich an keine Vereinigung der Selbstdenker über einen ersten Grundsah deNaturrechtS, ja nicht einmal über irgend einen be­ stimmten Begriff vom Recht überhaupt den­ ken läßt. Nicht so leicht dürfte man die Unentbehrlichkeit der erwähnten neuen Wissenschaft zur Gründung der M o r a l einräumen, von der man sich nicht oft genug wiederholen kann, daß sie auf einem uner­ schütterlichen Grunde fest stehe, und bereits zu einer Evidenz gebracht sey, die der mathematischen we­ nig oder nichts nachgebe. „Die Natur, heißt würde für das Wohl der Menschheit, und für ihre großen Absichten mit derselben sehr schlimm gesorgt haben, wenn sie die unentbehrliche Kenntniß des SittengeseheS den Spekulationen und Zänkereyen der Philosophen überlassen hatte. Wirklich kündigt die Sittlichkeit an den menschlichen Handlungen so­ wohl ihre Gegenwart als ihre Abwesenheit durch un« zweydeutige, angenehme und unangenehme Em­ pfindungen an, gegen welche selbst die lange Gewöhn, heit des Lasters kaumgenug verhärten kann, während eben dieselbe Sittlichkeit in demAugenblicke Mißver­ ständniß undStreitveranlaßt,als man sie durch V e r ­ n u n f t ergründen will. Leute aus den untersten Ständen, und Knaben, die kaum aus den Jahre»

tt,

E

66

Zweyt er Br i ef .

der Kindheit ausgetreten sind, wissen nicht nur die sittlichen Handlungen von den unsittlichen zu unter­ scheiden, sondern auch die Grade von Sittlichkeit genau anzugeben; wenn ihnen nur die ä u ß e r e n Umsiänke einer moralischen Begebenheit bestimmt und klar vorgelegt werden.

I n allen Lehrbüchern

der theoretischen Philosophie lassen sich mehr oder weniger wesentliche Irrthüm er und Widersprüche aufbringen; aber e6 dürfte schwerlich ein Kompen­ dium der M o ra l anzugeben seyn, in welchem eine unmoralische Handlung als

moralisch aufg-stcllt,

oder der Begriff der Sittlichkeit in einem seiner we­ sentlichen Merkmale verfehlt wäre.

Aus welchem

allem sich also ergäbe, daß die M o ra l eben so die zu­ verlässigste und ausgemachteste, als die nichtigste und gemeinnützigste unter allen Wissenschaften wä­ re." —

Gleichwohl ist diese Zuverlässigkeit der

M o ra l noch lange nicht so allgemein einleuchtend, daß sie nicht bis auf den heutigen Tag eben so hart­ näckig bestritten als vertheidiget würde; und es ist billig, daß

wir

auch

ihre

Gegner

vernehmen.

„ W e n n , sagen diese, unter den Moralisten mehr Einverständniß als unter den Metaphysikern S ta tt findet: so ist dieß eine Folge der positiven Gesetze und der eingeführten Formen überhaupt, welche die bürgerliche Gesellschaft zu ihrer Erhaltung bedarf, und die mit den zu dieser Erhaltung unentbehrlichen V o r s t e l l u n g s a r t e n Ehre und Schande, B e ­ lohnung und S trafe verknüpft haben.

D ie durch

diese Vorstellungsarten modificirte Erziehung und

Z w e y t e r 9 3 rie f.

Gewohnheit enthalt den Grund der so genannten moralischen Empfindungen, die das mit den V o r­ theilen der Gesellschaft und ihren positiven Schuh­ wehren übereinstimmende durch Vergnügen, das den­ selben widersprechende hingegen durch Mißvergnügen ankündigen; Empfindungen, die aber auch nur dort S ta tt finden, wo die äußeren Umstand« des Klimas, der Organisation, u. s. w. jene künstlichen Einrichtungen veranlasset und begünstiget hätten, und die endlich bey allen kultivirten, und aus dem Stande der Natur ausgetretenen Nationen, am Knabenalter und an den untersten Standen eben dar­ um um so auffallender bemerkt werden müßten, weil dieses Alter und diese Stande am meisten für Erzie­ hung und Gewohnheit empfänglich, und die durch dieselben erhaltenen Eindrücke durch Selbstdenken am wenigsten zu verändern im Stande wären. Die Formeln der Moralisten wären eben durch die V iel­ deutigkeit ihres Wortsinnes fähig, auch in den ver­ schiedensten Systemen immer diejenige Bedeutung anzunehmen, welche der eingeführten und politisch nothwendigen Vorstellungsart entspricht; aber die auch also gleich streitig zu werden anfängt, wenn man sie auf die so genannten innern Gründe der Moralität zurückführen will. I n eben dem Verhält­ nisse, als sich der Sinn dieser Formeln über die ge­ meine und verworrene Vorstellungsart erhebt, mit jeder Anstrengung denkender Köpfe, denselben völ­ lig aufzuhellen, mit jedem Versuche, sie alle einem gemeinschaftlichen Princip unterzuordnen, wird ihre

68

Z we y t e r B r i e f .

Unverträglichkeit immer auffallender, und ded Skrcic unter ihren Vertheidigern verwickelter, der auf seine einfachsten Punkte zurück geführt keinen un­ befangenen Zuschauer zweifeln laßt, daß c6 unter den Moralisten gerade am allerwenigsten ausgemacht sey, ob cs ein Sitkengeseh gebe, oder «ich t?* Das Auffallendste bey diesem Streite zwischen den Gegnern und Vertheidigern der Zuverlässigkeit der Moral ist, meiner Meynung nach, daß beyde durch ein gemeinschaftliches Mißverständniß die Wis­ senschaft mit ihrem Gegenstände, M oral mit M o­ ralität, und den Grund von dieser mit dem Grund­ sätze von jener verwechseln. Die Einen übertragen das Daseyn, die Nothwendigkeit und Heiligkeit des Sittcngesehes auf die Wissenschaft desselben, die an­ deren das Unbestimmte und Schwankende in der Wissenschaft auf das Sittengeseh selbst. Beyde halten die Moral für unverbesserlich; die einen, weil ste ihr schon völlig entwickelte und aufs reine gebrachte Principien einräumen; die andern, weil sie ihr alle möglichen Principien absprechen. Beyde hemmen dadurch, fe viel an ihnen liegt, die Fortschritte der Wissenschaft. Die V e r n u n f t und die S o n n e haben den Gesichts # und Wirkungskreis der Menschheit von je her beleuchtet und befruchtet. M an hat die leuchtende und die wärmende Kraft der Sonne aus ihren wohlthätigen Wirkungen lange vorher gekannt, als man die Handlungsweise dieser

Zw eyter B rie f.

69

Kräfte wissenschaftlich zu untersuchen anfing.

Aber

es würde eben so ungereimt seyn, jene Kenntniß der von

unsrer Einsicht

unabhängigen

K räfte, die

immer vorhanden waren, und immer gewirkt ha­ ben, mit der Wissenschaft ihrer Handlungsweise zu verwechseln,

die nur durch allmählige Fortschritte

nach und nach zur eigentlichen Wissenschaft werden kann, und zum Theil von dem jeweiligen Zustande unsrer übrigen Einsichten abhangt, eben so unge­ reimt sage ich, als das Daseyn jener Kräfte zuläugnen, weil die Kenntniß ihrer Handlungsweise noch nicht bis zum Range einer vollendeten Wissenschaft gestiegen ist. M i t den Popularphikosophen behaupte«,

daß

man die Wohlthaten der Sonne und der V ernunft genießen und benutzen müsse, ohne über die A r t, wie wir zu denselben gelangen, nachzugrübeln, wür­ de eben so viel seyn, als eine nicht geringere Unge­ reimtheit

durch

eine Allegorie verbergen.

Je

weiter die Vernunft bey einer kullivirten Nation in ihren Wirkungen fortgerückt ist, desto mehr nimmt ihr Bedürfniß zu, nach deutlicher Vorstellung ihrer Gesetze zu handeln.

Eben dieselbe Id e e , die durch

Zergliederung in ihre unmittelbaren Merkmale deut­ lich geworden ist, wird in dem Augenblicke undeut­ lich, als es über die Merkmale jener Merkmale zur Sprache kömmt, und die Bestimmung S tr e it veranlaßt.

ders lbm

Es giebt Krankheiten, gegen

welche der menschliche Körper durch

das zarte

K in -

70

Zweyter Brief.

Kindesalter gesichert isi, und die sich ohne die aus­ gebildeteren Organe, ohne die Nahrungsmittel und Beschäftigungen des reiferen Alters nie einsinden würden; und es giebt Irrth u m e '', die einen be­ trächtlichen Grad von Kultur des Geistes vora USse­ h t " , im Zustande der gänzlichen Verworrenheit des Begriffes, den sie betreffen, unmöglich sind, sich erst wahrend der allmähligen Entwickelung desselben, die nur nach vielen mißlungenen Versuchen v o l l e n d e t wird, nach und nach einstellen; aber auch durch die Nahrung, die

rer

sieaus der größeren Menge halb wah­

Einsichten ziehen,

und durch

den geübteren

Scharfsinn ihrer Vertheidiger immer bedenklicher werden müssen.

Vielleicht gilt dieses von keiner an»

deren Id ee so sehr, als von der Idee der Sittlichteil.

Je mehr in einem Zeitalter überhaupt gedacht

w ird , destodringender wird das Bedürfniß, desto größer die Gefahr diese Idee ri cht i g zu denken. S ie wird unrichtig gedacht: so bald beym Denken derselben entweder eines ihrer wesentlichen Merkma»

le übergangen,

oder in den Inbegriff derselben ein

nicht hinein gehöriges aufgenommen wird; und sie kann gegen diese Unrichtigkeit nur durch eine völlig vollendete, bis an die Gränzen alles Begreiflichen zu­

rück geführte werden.

Entwicklung ihrer Merkmale gesichert

S o lange sie nicht bis auf ihre letzten t e il­

baren Bestandtheile zergliedert ist; und so lange die gefundenen Bestandtheile nicht völlig bestimmt, und

als die ersten P r i n c i p i e n anerkannt lange ist keine Sicherheit da, daß, nicht in

sind: so den

uit*

Zweyt er Br i e f .



entwickelten Bestandtheilen Mangel oder Ueberfiuß eines wesentlichen Merkmals verborgen liege; die Idee wird weder r ei n noch v o l l s t ä n d i g gedacht, und ist mehr oder weniger ein Spiel des Zufalls. Die Idee der Sittlichkeit hat ungemein dadurch gewonnen, daß unsre Moralisten von Professton den Unterschied zwischen M o r a l i t ä t und L e g a l i t ä t so allgemein angenommen, und das wesentliche Merkmal, wodurch sich das moralische Geseh von jedem andern, welches den sinnlichen Trieb ein* schrankt, in dem G r u n d e seiner V e r b i n d l i c h ­ keit aufgesucht haben. Aber eben darum ist es auch um so bedenklicher geworden, sich über diesen Grund zu irren, je mehr von der Bestimmung desselben der ganze S i n n d e S moralischen Gesetzes ab­ hangt.

I n allen Erklärungen, welche die bisheri­

ge Philosophie von diesem Grunde gegeben hat, kom­ men der T r i e b nach V e r g n ü g e n und das G e ­ setz der V e r n u n f t mehr oder weniger ausdrück­ lich als wesentliche Merkmale dieses Grundes vor. *) Ich will hier keineswegs behaupten, was ich nur erst bey einer andern Gelegenheit streng beweisen zu kön­ nen hoffe, daß in allen diesen Erklärungen die Idee

*) Auch in der Stoischen, «eiche da- Vergnüge« nur unter dem Charakter »er Wollust au» den Triebfedern der Sittlichkeit ausschließt, und da- Begehr ren de- Höchsten Gut»- vom richtigen, sowiedaS Begehren der Scheingüter vom unrichtigen Urtheile, de- von dieser Sekte mit der Sinnlichkeit verwechsele t«n, Verstand»- ableitet. •

72

Zweyter Brief.

der Sittlichkeit durch das wesentlich überflüssige M erkm al deSTricbeS nach V ergnügen, und durch das wesentlich unvollständige des Gesetzes der V ern u n ft unrichtig w erde; aber dies kann und darf hier nicht unerw ähnt bleiben, daß das g e g e n s e i t i g e V e r ­ h ä l t n i ß dieser beyden M erkm ale, auch unter den­ jenigen Philosophen, die sich ausdrücklich für beyde erklären, schlechterdings unentschieden ist, und daß unsre denkenden M oralisten gegenwärtig weniger als jem als über die Frage einig sind: ob bey der m ora­ lischen Gesetzgebung der Trieb nach V ergnügen der V ern u n ft, oder diese jenem untergeordnet sey? D ie Einen finden d i e N o t h w e n d i g k e i t , durch welche die Regel der V ern u n ft zum verbindenden Gesetze für den W illen w ird , im Triebe nach V e r­ gnügen. S ie halten diesen Trieb für den eigentli­ chen Gesetzgeber, welcher sich der V ernunft nur zur A u s f e r t i g u n g der Gesetze bediene, die allein durch ihn ihre S an ktion erhielten, und die, wie ge­ meinnützig auch der E rfolg ihrer Beobachtung w ä­ re , gleichwohl für den W illen eines jeden In d iv i­ duum s nur durch das V erg n ü g en , das ihre B eob ­ achtung gewährt oder verspricht, und durch das M ißvergnügen, das sie abwendet, Interesse haben könnten. D ie Anderen hingegen erkennen die V e r­ nunft für die eigentliche und rechtmäßige Gesetzge­ berinn, sprechen ihr aber, so wie sie im menschlichen Geiste vorhanden ist, daö selbstthätige V erm ögen «b, die von ihrgegebenen, und zwar ohne die S a n k -

Zweyter Br i ef .

73

tiert des Triebes nach Vergnügen an sich g ü l t i g e n Gesetze, ohne die ausübende Macht , die bey cndlir chen Wesen nur in diesem Triebe liegen könne, wirk» lich g e l t e n d zu machen. D ie ersteren, welche den bestimmenden Grund der moralischen Verbindlichkeit im Triebe nach V e r­ gnügen entdeckt zu haben glauben, streiten stch über die A rt, wie dieser Grund in diesem Triebe vorhan­ den ; ob er in demselben ursprünglich, angebohren, und natürlich, oder abgeleitet, erworben, und erkün­ stelt sey? D e r Trieb nach Vergnügen, meynen ei­ nige , gebe im S tande der N atu r keinem andern, als dem Gesetze des Instinktes seine Sanktion, und er könne die Richtung, durch welche er auf die Beobachtung eines Gesetzes dringe, das dem I n ­ stinkte Abbruch thut, nur von außen her durch E r­ ziehung und Gewohnheit, und die Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft erhalten.

D e r S ta a t

wäre nämlich durch die eigennützigen Triebe A l l e r , die er in sich vereinige, gedrungen die eigennützigen Triebe der E i n z e l n cn einzuschränken, und würd« durch sein Uebergewicht an Klugheit und Macht in S ta n d gesetzt, diese Einschränkungen dadurch gel­ tend zu machen, daß er künstliche Privatvortheile und Privatübcl mit der Beförderung oder B e e in ­ trächtigung des gemeinen Besten verknüpfte.

( D ie

Vertheidiger

des n a t ü r l i c h e n

U r­

sprungs der moralischen Verbindlichkeit aus dem

74

Zweyter Brief.

Triebe nach Vergnügen können gegen ihre Gegner, denen sie nicht mit Unrecht theoretische Vernichtung aller Sittlichkeit Schuld geben, um so weniger ge­ meine Sache machen; da sie selbst über die A rt und Weise, w i e jene Verbindlichkeit in dem natürlichen Triebe nach Vergnügen gegründet sey? in wesent­ lich verschiedene Meynungen getrennt sind.

D ie

E i n e n unter ihnen suchen die N a tu r des Triebes nach Vergnügen in der Sinnlichkeit, oder vielmehr in dem Bedürfnisse der Sinnlichkeit au f, verwech­ seln die Sinnlichkeit überhaupt mit der durch Orga­ nisation modificirten Sinnlichkeit, ordnen alle mög­ liche Arten des Vergnügens der physischen als der Gattung unter, erklären die Sittlichkeit für wohl­ verstandenen und verfeinerten Eigennutz, und die T u ­ gend für das M itte l zum nothwendigen Zwecke des durch Vernunft erweiterten Triebes nach Genuß (oder für das M itte l zur Glückseligkeit, welche in der größten möglichen Summe angenehmer E m ­ pfindungen, im höchsten Grade und in der längsten Dauer bestehen soll).

D ie A n d e r n hingegen

glauben in der menschlichen N atu r zwey ganz ver­ schiedene Triebe nach Vergnügen annehmen zu müs­ sen; einen Eigennützigen, der das Eigene, und ei­ nen Uneigennützigen, Gegenstand hat.

der das fremde Wohl zum

D as Vergnügen am fremden

W o h l, und daö uneigennützige Interesse am allge­ meinen Vesten setzt ihrer Meynung nach im Gemü­ the einen eigenen S i n n voraus, der unter dem Namen des M o r a l i s c h e n von der Sinnlichkeit

Zweyter B rief.

75

unterschieden, und als der G ru n d der sittlichen V e r­ bindlichkeit angenommen werden müsse, aber sich nicht weiter erklären lasse. D iejenigen, weiche die V e r n u n f t für die moralische Gesetzgeberinn anerkennen, sind unter sich darüber uneinig, ob sie diese E h re der me n s c h l i ­ c h e n , oder der g ö t t l i c h e n V ern u n ft einzuräu­ men hatten. D ie Sittlichkeit, behaupten die E i­ nen, ist die natürliche H andlungsweise des durch die menschliche V ern u n ft bestimmten W illens, und der durch V ern u n ft bestimmte W ille kann nichts als das V o l l k o m m e n e wollen, welches das natürliche O b j e k t der V ern u n ft ist. Auch sind sie so ziem­ lich darüber einig, daß die Vollkommenheit der sitt­ lichen H andlungen im Z w eck e derselben bestehe. W a s aber dieser Zweck sey? ob wieder Vollkommen­ heit, und w as in diesem Falle unter dieser Vollkom ­ menheit zu verstehen sey? O b die Uebereinstimmung aller N eigungen und Anlagen zur größten möglichen G enußfähigkeit? O b die größte mögliche Entwicke­ lung aller menschlichen K räfte? O b das größte mögliche W ohl der Menschheit überhaupt? O derob dies alles zusammengenommen? und in diesem F a l­ le , welcher unter diesen verschiedenen B ew eggrün­ den den m o r a l i s c h e n Wi llen z u n ä c h s t bestimm e? hierüber sind die M eynungen der V ertheidiger des Grundsatzes der Vollkommenheit so sehr verschie­ den, daß sie genau besehen nichts als den Ausdruck V o l l k o m m e n h e i t unter sich gemein haben.

76

Zweyter Brief. Diese, so wie alle übrigen Uneinigkeiten über

den Grund der sittlichen Verbindlichkeit, meynen die S u p e r n a t u r a l i s t e n dadurch geschlichtet zu ha­ ben, daß sie diesen Grund in dem göttlichen durch unendliche Vernunft bestimmten, aber ebendarum für eine endliche Vernunft unerforschlichen, und dem Menschen nur durch O f f e n b a r u n g W illen aufsuchen.

bekannten

Allein außerdem, daß die A n­

hänger dieser Meynung entweder unmittelbare gött­ liche Eingebung, die jedem Menschen diesen unbe­ greiflichen W illen kund machen, oder

unfehlbare

Ausleger des Sinnes der heiligen Urkunden anneh­ men, und die Authenticität von beyden durch fortdaurende Wunder gegen alle Besorgniß von Täuschung und Irrth u m sichern lassen müssen: so sind sie auch so wenig als irgend eine andere Parthey unter sich ei­ nig: ob der menschliche W ille durch die Vernunft, oder durch den Trieb nach Vergnügen, oder durch unmittelbare Einwirkung der Gottheit bestimmt wer­ de, sich

dem göttlichen zu fügen; oder, welches

eben so viel heißt, worin der

innere

Grund der

moralischen Verbindlichkeit bestehe? Ic h

schweige

hier von der mit der Idee der Sittlichkeit innigst zu­ sammen Hangenden Idee des f r e y e n W i l l e n s , der gegenwärtig mehr als jemals von den Fatalisten geläugnet, den dogmatischen Skeptikern bezweifelt, den Deterministen verkannt, und den Supernaturalistcn außerhalb der N atu r aufgesucht wird. D a s Unzureichende in allen bisherigen Erörterungen die­ ser wichtigen Id e e ist manchen unsrer vorzüglich-

Zweyter Bri ef. fielt philosophischen Schriftsteller so sehr aufgefallen, daß sie kein Bedenken getragen haben, zu behaup­ ten : die Frage, worin die Freyheit bestünde? folg­ lich auch die Frage: ob sich Freyheit denken lasse? wäre

schlechterdings

unbcantwortlich, und daher

auch für die M o ra l ganz gleichgültig. Die durch alle diese Erscheinungen so auffallen­ de E r s c h ü t t e r u n g der

wi ssenschaf t l i chen

G r u n d f e s t e der S i t t l i c h k e i t ,

bestehet ei­

gentlich in dem Schwanken aller bisherigen Vorfiel, lungsarten von der V e r n u n f t ,

dem T r i e b e

nach V e r g n ü g e n und i h r e m

Verhältnis­

se gegen e i n a n d e r ; und zeigt offenbar von der noch lange nicht vollendeten

durchgängigen

Entwicklung der Begriffe von

Vernunft

und

S i n n l i c h k e i t , der selbstthätigen K raft der einen, und dem auf Bedürfniß

gegründeten Triebe der

andern, dem Bestimmenden und dem Bestimmba­ ren bey der Sittlichkeit; eine Entwicklung die nur durch

eine

auf

einem a l l g e m e i n g e l t e n d e n

P r i n c i p fest stehende Wissenschaft desmenschlchen Vorstellungs- und Begehrungsvermögens möglich ist.

Jene Erschütterung muß also zum großen

Nachtheil der moralischen Kultur entweder ewig fortdauren; oder sie muß die Entdeckung und Anerken­ nung jener neuen Wissenschaft herbey führen. Diese S k i z z e d e r E r s c h ü t t e r u n g e n auf allen Feldern der Wissenschaften, deren Grundsätze

78

Zweyter Br i e f .

Selbsterkenntniß des menschlichen Geistes voraus setzen, dürfte nun freylich manchem Satyre auf den Geist unsres Zeitalters scheinen; aber in meinen A u­ gen enthalt ste die M aterialien, die eint geschicktere Feder als die mcinige zur bündigsten Lobrede auf den­ selben verarbeiten würde.

D ie Philosophen haben

freylich von je her gestritten, und im goldenen Zeit­ alter der griechischen Philosophie kamen eben die vier einander entgegen gesetzten Hauptsysteme: das P la ­ tonische, Aristotelische, Epikurische zur Reife.

und

Stoische

Allein noch nie war der S tre it der P h i­

losophen weder auf so vielen Feldern der Wissen­ schaften ausgebreitet, noch von so vielen vorzüglichen Köpfen geführt; noch nie war der Einfluß der Gegen­ stände diesesStreiteS aufdasWohl und dieWürde der Menschheit,und der Einfluß des Streites aufdies. Ge» genstände, mit Einem W orte sein praktisches Interesse sichtbarer; noch nie waren die unentschiedenen Punkte, deren Entscheidung theils sein Zweck, theils seine noth­ wendige Folge ist, mit so vieler Bestimmtheit auf­ gestellt, und auf so einfache Sähe zurück geführt; noch nie kündigte er eine so allgemeine und so lebhaf­ te Anstrengung der edelsten Kräfte des menschlichen Geistes an.

Nach so vielen sowohl glücklichen V o r ­

arbeiten als mißlungenen Versuchen, nach so vielen wichtigen, wirklich entschiedenen Problemen, nach so vielen unnützen, abgeschmackten, und unbeanlwortlichen Streitfragen, ertönt nunmehr auf allen Feldern der Wissenschaften, die ihre Principien aus der N a ­ tur des menschlichen Geistes erhallen müssen, ein-

Zweyter Br i e f .

-

7

stimmig die große entscheidende Frage nach dem E i« n en w as N o t h ist.

Di e M e t a p h y s i k for­

dert das allgemeingeltcnde Princip alles Philosoph!« rens überhaupt, die Geschi cht e den höchsten G e­ sichtspunkt für ihre Form, die Aest het i k die ober­ ste Regel des Geschmackes, die R e l i g i o n die reine, a u f allgemeingeltcnde Principien zurück geführte Id e e der

Gottheit, das

Naturrecht

seinen ersten

Grundsah, und die M o r a l ihr lehtes Grundgesetz. D ie L e h r g e b ä u d e aller dieser Wissenschaften, die i h r e n G e g e n s t ä n d e n nach auf unerschütterli­ chen Gründen fest stehen, bis an ihre Wölbungen und zwar so weit fortgeführt zu haben, daß das Bedürfnißdrr fehlendenSchlußsteine in die Augen fallt, ist ein Verdienst unsers Zeitalters, das nur durch das Verdienst jene Schlußsteine selbst entdeckt, be­ hauen und eingepaßt zu haben, übertroffen werben kann.

S o wie diese einmal an O rt und Stelle ge­

bracht seyn werden, wird eöZeit seyn, d aß alleB alken. Klammern, und daöganze G e r ü s t , das schon durch sein Schwanken genug ankündiget, daß es blo­ ßes Gerüst ist, hinweg geräumt werde, nicht nur ohne Schaden, sondern zum Vortheil des Gebäu­ des.

M i t einer letzten und heftigsten Erschütterung

werden die einseitigen M e y n u n g e n

der Philoso­

phen über Gegenstände, über welche die Menschheit nicht immer bloß zu me y n e n bestimmt ist, dahin stürzen, um fest stehenden G r u n d s ä t z e n Platz zu machen.

8o D ritter

Br i e f .

D i e E r s c h ü t t e r u n g a u f dem G e b i e t h e der P h i l o s o p h i e der R e l i g i o n k ü ndiget « i n e R e f o r m a t i o n die ser P h i l o s o p h i e an. M e i n U r t h e i l von der Kantischen P h i , sophie überhaupt. U n d n u n , lieber F re u n d , lassen S i e uns zu I h ­ r e m G em ählde zurück kehren, und scheu: ob er nicht vielleicht mit dem M e i n i g e n zusammenge­ nom m en, erst ein vollständiges Ganze ausmache. W e n n die von I h n e n zusammen gestellten Erschei­ nungen wirklich einen gemeinschaftlichen G ru n d ha» Ben : so ist dieser kein anderer, als das alte, noch immer fortdaurende, aber itzt mehr als jemals sicht­ b ar gewordene Mißverständlich über die G r ä n z e n desVernunftvermögensinRücksichrauf die A n g e l e g e n h e i t e n der Rel i gi on. D ie Unbestimmtheit und Unvollständigkeit unsrer wissen­ schaftlichen Begriffe von der V e r n u n f t , und ih> r e m V e r h ä l t n i s s e zu den ü b r i g e n , ebensosehr verkannten V e r m ö g e n d e s m e n s c h l i c h e n G e i s t e s ist also auch hier, nicht weniger alSaufden übrigen von mir beleuchteten Feldern der Wissen­ schaften, die eigentliche Ursache des Schwankens al­ ler angenommenen Grundsätze. I n dieser Eigen­ schaft fallt sie bey der Erschütterung unter den reli­ giösen Vorstcllungsartcn weit mehr als bey allen übrigen, und zwar völlig unmittelbar in die Augen. H ier

D r i t t e r Brief. Hier

sind

8t

die Streitpunkte schon so weit aus

das Einfachere zurück geführt, daß sich die streitenden Partheyen zum Theil unmittelbar an die Vernunft selbst halten, die sie erheben oder herab sehen, je nachdem sie Ursache zu haben glauben, mit den wirk­ lichen oder angeblichen Entscheidungen derselben zu­

Es

frieden zu seyn oder nicht.

giebt freylich auch

Unzufriedene, die mit einer A rt von leidenschaftli­ chem Ungestüm in die Vernunft dringen, sie um be­ friedigendere Antworten bestürmen, und nachdem sie eine Zeit lang vergebens mit ihr gerungen haben, entweder Parthey gegen sie nehmen, oder als gleich­ gültige Zuschauer aus den Schranken des Kampfplahes austreten.

Es giebt Zufriedene, die eseben

ihrer Zufriedenheit wegen bey den vorigen Antwor­ ten bewenden lassen, die alten Vernunftbeweise mit verschiedenen neuen Wendungen und Ausdrücken wiederholen, und darüber unter sich selbst ln eigent­ lichen Workstreit gerathen, über den sie gemeiniglich die Einwendungen der Unzufriednen gegen die S a ­ che selbst vergessen; wenn sie anders nicht dafür hal­ ten, dieselben als langst widerlegte Irrthüm er durch besagte neue Wendungen abgefertiget zu habenAllein die eigentlichen Selbstdenker auf beyden S eiten, auf welche doch am Ende das Schicksal des ganzen Streites ankömmt, halten denselben keines­ wegs für abgeschlossen; und ihr fortwährendes ge­ genwärtig mehr als jemals lebhaftes Bestreben, ihre Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit den bisheri, F

82 gcn

Dritter Brief. Entscheidungen

der Vernunft

durch neue

Gründe zu rechtfertigen, erhält nicht nur den S tre it in Athem, sondern giebt ihm auch die glückliche W en­ dung, welche eine neue Auslosung des alten P ro ­ blems über daö Vermögen der Vernunft immer un­ entbehrlicher macht, und durch vorläufige Festsetzung ihrer Bedingungen immer näher herbey fuhrt. D a ß es den Antworten, welche die Vernunft, oder eigentlicher, welche man im Namen der V e r­ nunft, auf jede Frage in der so genannten n a t ü r ­ lichen T h e o l o g i e gegeben hat, an derjenigen Evidenz, die sich bey so wichtigen Gegenständen am allermeisten durch Allgemeingültigkeit äußern sollte, fehle, hievon ist,der fortwährende S treit über jede dieser Fragen der überzeugendste Beweis, und die Frage über die Exi st enz der G o t t h e i t das auf« fallendste Beyspiel. Lassen S ie uns bey diesem B ey­ spiele stehen bleiben. W ir wollen ein» für allemal voraus setzen, daß «s die Vernunft war, welche von den ersten Zeiten ihrer Entwickelung an unaufhörlich diese Frage aus­ warf.

Ich weiß, daß Gläubige und Ungläubige

dieser Voraussetzung widersprechen.

D ie Ersteren

behaupten: die Vernunft könne nie durch sich selbst auf diese Frage gerathen; und die Letzter»: sie er­ kläre dieselbe für überflüssig.

Allein ich weiß, daß

S ie , mein Freund, weder ein Gläubiger noch ein Un­ gläubiger dieser A rt, und mit mir darüber einig sind.

D r i t t e r Brief.

83

die Vernunft habe diese Frage nicht nur auswerfe» können, sondern auch müssen. — DieS nun vorausgesetzt, so mußte eS ihr unmöglich werden, bey ihren Versuchen diese große Frage ju beantworte»/ die Wissenschaft ihrer eigenthümlichsten Begriffe/ Principien und Grundsätze, mit einem Worte die gegenwärtig so verschrieene M e t a p h y s i k , vorüber zu gehen. Vielmehr hat diese Wissenschaft ihre Entstehung sowohl als ihre allmähligt Ausbildung größtentheils der Frage vom Daseyn Gottes zu ver­ danken. Wirklich kann der ganze Gegenstand die­ ser Frage durch keine andern Begriffe gedacht wer­ den, als solche, die in eben dem Verhältnisse meta­ physischer werden, als man sie von den fremdartige» Zusahen der Phantasie, und den (Schloffen der ge­ meinen Vorurtheile reinigt, und bey einer fortwäh­ renden Prüfung fester inS Auge faßt.

M an stellt

freylich auch noch in unfern Tagen so genannte hi­ storische, physische, moralische Beweise für das D a ­ seyn Gottes auf; aber die nothwendige Beziehung derselben auf den metaphysischen Begriff eines u nbedingt nothwendigen D a s e y n s ,

ist un­

sern Selbstdenkern lange schon kein Geheimniß mehr; und mehrere unter ihnen haben mit dem glücklichste» Scharfsinne gezeigt, daß die metaphysischen Notio­ nen, welche der na t ü r l i c h e n Theologie zum Grunde liegen, durch natürliche, und selbst überna­ türlich« O f f e n b a r u n g zwar bestätiget, aber nicht erseht, oder von ihr abgeleitet werden könnten. S o ­ gar unsre älteren G l a u b e n s t h e o l o g e n hielten

D r i t t e r B r ie f . es nicfrt für überflüssig, ihren aus übernatürlichen O-uellrn hcrgchclircn Beweisen auch noch den me, taphysischen b-enzusügen: und obwohl sie dem« selben in ihren gewöhnlichen Kompendien gemünig« (ich die letzte Stelle anwiesen; so fanden sie sich doch immer gcnöthiget, ihn hervor zu ziehen, und auch wider Willen (einen erstenRang anzuerkennen, so oft sie es mit den Ungläubigen zu thun hatten. (Endlich haben unsre modernen Feinde und Veräch­ ter der Metaphysik (wie die Erfahrung lehrt) kein andres Mittel entdeckt, sich den Beystandihrer Fein­ dinn entbehrlich zu machen,als entweder über die ganze Frage ein tiefes Stillschweigen zu beobachten, oder sich in einem Labyrinthe dunkler Gefühl« herum zu treiben. Nöthiget man die einen zur Sprache, die andern aber zu einer verständlichen Rechenschaft über ihre Herzensphil osophi e: so sprechen sie beyde so gut Met aphysi k, wie jener Edelmann Prosa sprach, ohne es zu wissen und zu wollen. Allein so unvermeidlich es immer gewesen seyn mochte, und noch jetzt seyn mag, die M e t a p h y ­ sik über das Daseyn Gottes zu befragen: so wenig hat auch nur Eine der mehreren Antworten, die man bis jetzt von ihr erhalten hat, allgemeinen Eingang gefunden. Dies gilt nicht etwa nur in Absicht auf die Menschenklaffen, für die ce keine wissenschaftli­ che Beweise gilbt, sondern auch und vorzüglich in Absicht auf Männer, die den größten Theil ihres Le­ bens im Umgange mit den Wissenschaften, ja sogar

D ritter Brief. mit metaphysischen Untersuchungen zugebracht ha­ ben. Schrifcst.ller, denen man unmogfich philoso­ phischen Geist abstreiten kann, ohne selbst von die­ sem Geiste gänzlich verlassen zu se n , haben alle me­ taphysischen Beweise für das D aseyn G ottes für unzulänglich erklärt: und sind entweder der M e y ­ nung beygetreten, daß die V ern u n ft über diese F ra ­ ge schlechterdings nichts entscheiden könne; oder sie find so weit gegangen, daß sie sogar eine v e r n e i ­ n e n d e A ntw ort auS den Vordersätzen jener B ew ei­ se dargechan zu haben glaubten. W irklich hat der vielfältige G ebrauch, den die d o g m a t i s c h e n S k e p t i k e r sowohl als die A t h e i s t e n für ihre B ehauptungen von der Metaphysik gemacht haben, nicht wenig dazu beygetragen, die alte M eynung von der erblichen Verkehrtheit der V e rn u n ft zu be­ stätigen, und die Beweise für das D aseyn G o tte s, die m an außerhalb des Gebiethes der V ern u n ft und der N a tu r gefunden zu haben glaubte, in dem A n­ sehen zu erhalten, das sie sonst in eben dem V e r­ hältnisse verloren haben w ürden, als das G ebieth der V ern u n ft besser angebaut worden ist. »Trotz «allen bisherigen Anstrengungen haben wir also noch „keine Metaphysik, aus welcher sich die oft erwähn­ t e große Frage mit allgemein einleuchtender G ew iß­ h e i t beantworten ließe. D ies ist eine Thatsache, die von keiner unsrer gegenwärtigen philosophischen P artheyen geläugnet werden kann, so groß auch übrigens die M eynung seyn m ag, die jede derselben von ihrer bereits gefundenen A ntw ort unterhält.

86

D r i t t e r Br i ef . Aus b;v Thatsache, daß w ir keine solche M e ­

taphysik haben, folgt aber noch keineswegs, daß w ir keine haben können.

Diejenigen, welche diese U n ­

möglichkeit zum Vortheile eines G l a u b e n s

be­

haupten, womit sic sich mit allem Rechte in E rm a n ­ gelung des W i s s e n s behelfen, müssen eine andere eben so unlaugbare Thatsache zugeben, „ lich die P r i n c i p i e n

„daß »dm»

ihres Glaubens bisher eben

„so wenig zur allgemeinen Evidenz gebracht w aren, “ ja daß diese Principien von den geübtesten und scharf» sinnigsten Denkern insgemein am wenigsten befriedi­ gend gefunden würden. Freylich so lange die M ög» lichkeit einer Metaphysik, welche die Frage über das Daseyn Gottes a l l g e m e i n g ü l t i g

beantworten

könnte, noch nicht erwiesen ist: lassen sich die G la u benSthevlogen, welche das bisher fruchtlose Bestre­ ben der V e rn u n ft für einen G ru n d g e g e n jene Möglichkeit angeben, nicht ganz abweisen. Allein sie können eben so wenig diejenigen widerlegen, welche die Fortdauer jenes Bestrebens, das wichtige I n t e ­ resse, welches die Menschheit an einer entscheidenden Beantw ortung nehmen m u ß , und die immer mehr junchmcude Unzulänglichkeit j e d e r bisherigen A n t­ w o rt, als Gründe f ü r

jene Möglichkeit anfüh­

ren.

D e r aus diesen Gründen und Gegengründen entstehende Z w e i f e l ist eine der vornehmsten B e ­ dingungen, unter welchen jene n e u e

Metaphy­

sik, wenn sie in der That möglich seyn sollte, wirk-

O r i t t e r Brief.

87

lid) werden, und Eingang finden kc-nnts. Indem dieser Zweifel den dogmatis'.'en Behauptungen so» wohl des wirklichcn Bcs> tzes cine't solchen W ifi senschaft, als auch der Unmögl ichkei t derselben widersteht: so hebt er die uiuiberstciqllichen Hinder­ nisse auf, welche sonst von unsern Naturalisten so­ wohl als Supernaturalisten der Aufsuchung, Be­ arbeitung und Ausbreitung jener neuen Wissenschaft entgegen gesetzt werden müssen. Beyde Partheyen können diesen Zwe.fel, wenn er einmal Platz gegrif­ fen hat, nicht mehr zurück treiben; weil er ihnen in dem Augenblicke ihre Waffen raubt, als er sich ein# findet; und weiften großen Vortheil für sich hat, daß beyde Klassen seiner Gegner nie gegen ihn gemeine Sache machen können, sondern in eben dem Ver« Haltnisse sich selbst unter einander aufreiben müssen, als sie wider ihn losziehen. Je eifriger sie auf ih­ re» Behauptungen bestehen, desto mehr kömmt die Schwäche ihrer beiderseitigen Gründe an den Tag, und desto augenscheinlicher wird eö dkm unbefange­ nen Zuschauer: wie wenig die Auflösungen des gro­ ßen Problems, die uns von den Einen im Damew der metaphysischen Vernunft, und von den Andern im Namen der hyperphysischen Offenbarung ewig wie­ derholt werden, zur allgemeinen Ueberzeugung ge­ schickt sind. Daß dieses gegenwärtig unter uns der Fass ist, scheinen mir eben die Zeichen unsrer Zeit anzuzeigen, die ihnen, mein Freund, so bedenklich vorkommen.

88

D r i t t e r Bri ef.

Offenbar sind cs Wirkungen und Merkmale der al l gemei nen Erschüt t erung aller unsrer bi sheri gen philosophisch theologi schen Lehrgebäude, wovon jedes mit einem Eifer und einer Stärke angegriffen wird, von denen wir bis­ her noch kein Beyspiel hatten. Die Unverträglich­ keit dieser Lehrgebäude ist so sehr ins Reine gebracht, daß die Anhänger derselben, die sich in Rücksicht auf ihre Personen indessen besser vertragen gelernt ha­ ben, bey ihren Vorträgen sich umsonst gegen das Polemisiren zu verwahren suchen. Sie widerlegen auch wider ihren Willen, so bald sie zu beweisen an, fangen; und am Ende zeigt sich, daß sie bloß eine fremde Meynung widerlegten, ohne die ihrige be­ wiesen zu haben. Im wirklichen Kampfe tragt der angreifende Theil, wenn er anders kein Schwach­ kopf ist, immer den Sieg davon. Der Theist glaubt den A l h ei 6 m u 6 aus allen Verfchanzungen getrieben zu haben, indessen der Atheist über die ge« stürzten Bollwerke des Theismus triumphirt. Die Su p e r n a t u r a l i s t e n , die unter den Protestan­ ten keine unfehlbare Kirche, und folglich auch kein eigenes der Vernunft unzugängliches Gebieth ha­ ben, auf dessen Grund und Boden ihre Lehrgebäu­ de gegen Angriffe sicher wären, sehen kein anderes Mittel für sich, als die Uneinigkeit der Philosophen zu ihrem Vortheile zu benutzen, und ihren Bau, wo möglich, auf den Trümmern der von ihren Geg­ nern selbst eingestürzten Vernunftsysteme aufzufüh­ ren. Sie dringen daher mit aller Gewalt darauf.

D ritter Brief.

89

ans dem W iderspruche jener System e die Unzu­ länglichkeit der V ernun ft, und die U nentbehrlichst ihres übernatürlichen S u rro g a ts zu erweisen. A l­ lein so wie jener K am pf angeht, der die B lößen ih­ rer G egner aufdecken soll, zeigt es stch, daß cs ih­ nen selbst unmöglich wird, dabey gleichgültig zublei­ ben. Um sich die Atheisten vom Leibe zu halten, müssen sie sich zu den Theisten schlagen, und aufdiese Weise ihre vorigen Ansprüche gegen den T heis­ m us selbst wieder aufgeben. D ah er die häufigen W idersprüche unter den Anhängern der supernatu­ ralistischen P a rth e y ; indem die einen die U n m ö g ­ l i c h k e i t , die andern die U n e n t b e h r l i c h k e i t eines Vernunftbew eises vom D aseyn G ottes be­ haup ten ; die einen dieses D a s e y n beym B ew eis der O f f e n b a r u n g voraus sehen, die andern das­ selbe a u s d e r O f f e n b a r u n g b e w e i s e n ; die «inen vorher zu wissen meynen, w as sie nachher au fs W o rt der Offenbarung glauben; die andern glau­ ben, bevor sie noch wissen, wem sie zu glauben ha­ ben. D ie s allgemeine Schwanken unserer angenom ­ menen S ystem e ist c s , lieber F re u n d , w as S i e , je nachdem S ie Ih re n S tandp unk t nehmen w ollen, au f der S e ite der Philosophen für G efahr der V e r­ nu nft, au f der S e ite der Theologen aber für G e ­ fahr des G laubens ansehen müssen. In d e m die in die E nge getriebenen Partheyen ihr äußerstes th u n , in der Hitze des S tre ite s ihre Ansprüche übertreiben.

jo

D r i tt er Brief.

und bey ihrer Vertheidigung Blößen geben, die selbst der Angriff ihrer Gegner nicht aufgedeckt hat­ te; sieht der friedliche Zuschauer nicht ohne Kummer die Verfechter der Vernunft für die Sache de6 Un­ glaubens, und die Beschützer des Glaubens für die Sache des Aberglaubens kämpfen, und erklärt sich das Räthsel, wie diese beyden entgegen gesetzten Krankheiten des Geistes unter uns im gleichen V er­ hältnisse so gewaltig zunehmen. Während dieser Kampf vom Fanatismus auf beyden Seiten fortgeführt w ird, nimmt bey einer gewissen Klasse kaltblütigerer Naturalisten und S u ­ pernaturalisten die Ueberzeugung immer mehr über­ hand: daß sie sich keine Hoffnung zu machen haben, ihren Sysiemin allgemeinen Eingang zu verschaf­ fen. Diese Ueberzeugung, der wir von unsrer gegegenwartigen Toleranz und Denkfreyheit vielleicht mehr zu danken haben, als wir uns einbilden, hat unstreitig keinen geringen Antheil an der Gleichgül­ tigkeit, die sowohl gegen die Metaphysik als die Hyperphysik selbst unter einer beträchtlichen Anzahl ih­ rer Bekenner immer merklicher wird, und die neben dem brausenden Ungestüm, womit die metaphysischen und hyperphystschen R e s u l t a t e von andern ver­ theidiget werden, so seltsam auffallt. Viele unse­ rer »eueren philosophischen und theologischen Schnststel! r, die zum Sel'ostdcnken K raft und B e­ ruf fühle», sind der Untersucluingen, bey denen so wenig Beyfall und so viel Widerspruch zu erwarten

D r i t t e r Brief. steht, überdrüssig geworden. Die einen haben sich auf das Studium des Menschen und der physischen Natur, die andern — der Moral und der Bibel mit einem Erfolg eingeschränkt, der in so manchem vortreflichen Werke der Welt vor Augen liegt. Aber so wie auf der einen S eite: nt eben diesem Erfolge der Kaltsinn guter Köpfe gegen Metaphysik und Hyperphysik zunimmt, auf der andern Srire aber durch den fortgesrhten Kampf der Partheyen die Unerweislichkcit der bisherigen Systeme immer ein­ leuchtender wird; so muß es endlich auch den Phi­ losophen und Theologen von jener Klasse unmöglich werden, die Antwort auf die Frage vom Daseyn Gottes wie bisher als gefunden voraus zu sehen: und da sie doch diese Frage weder vermeiden, noch unbeantwortet lassen können; so werden auch siesich genöthiget sehen, dem kritischen Z w e i f e l über die Möglichkeit einer allgemein befriedigenden Antwort Gehör zu geben. Dieser Zweifel hat mit dem gewöhnlichen Skepticismus, der es bloß beym Nichtwissen bewen­ den läßt, sowenig gemein, daß er in eben demVerhätnisse, als seine Bedeutung gefaßt, wird, ein dringendes Bedürfniß seiner Auflösung mit sich führt. Das höchst wichtige und immer fortwirken­ de Interesse, welches die Menschheit an der Ueber­ zeugung vom Daseyn Goltcö nimmt, und welchem selbst die unsiligen Folgen des Aberglaubens und Unglaubens so laut da» Wort reden, macht hier

92

D r i t t e r Brief.

alle Gleichgültigkeit unmöglich, und schafft den Z w e i f e l in die bestimmte F r a g e u m: I s t e i ­ ne allgemein befriedigende A n t w o r t ü b e r die F r a g e v o m D a s e y n G o t t e s m ö g l i c h ? oder vielmehr (da diese Möglichkeit durch keine schon wirkliche A ntw ort erwiesen werden kann,sondern erst untersucht werden m u ß )— W i e ist e i n e s ol che A n t w o r t m ö g l i c h ? Dies P roblem ist der P u n k t, in welchem sich die W ege der Metaphysik und Hyperphysik endigen, die sich rückwärts ins Unendliche verlieren, und im­ mer weiter vom Ziele abführen — der P u n k t, von welchem der neue und einzige W eg v o r w ä r t s an­ geht. W ir haben die beyden Abwege zurück gelas­ sen , wenn mir uns einmal bey diesem Punkte befin­ den ; und da wir nicht stehen bleiben können, so müssen w ir den W eg vor u ns a n treten , oder wel­ ches eines ist, wir müssen das Problem auflösen. D ie B edingungen dieser Auflösung a u ß e r h a l b des G e b i e t h e s d e r V e r n u n f t aufsuchen, oder dieses Gebieth mit unsrer b i s h e r i g e n M e ­ t a p h y s i k verwechseln, würde eben so viel seyn, als rückwärts gehen, und sich wieder au f einen der vori­ gen W ege verirren. E s ist also nichts anderes ü b rig , als ein noch u n b e k a n n t e s G e b i e t h d e r V e r n u n f t , auf welchem die gedachten B e ­ dingungen liegen müssen, vor allem kennen zu ler­ nen. W enn man sich bey der Untersuchung dieses G ebiethes nicht außerhalb desselben in den unendli-

D r i t t e r Brief. chen Spielraum der Phantasie verlieren will; so müssen vor allen D ingen die Gränzen desselben ge» irnu' und bestimmt angegeben werden; oder wel­ ches eben so viel heißt: man muß eine auf einem all# gemein geltenden Princip fest stehende A ntwort a u f die Fragen ausfindig machen: „ W a s ist überhaupt » e r k e n n b a r ? W a s ist unter E r k e n n t n i ß v e r „ m ö g e n zu verstehen ? und worin besteht das ei» »genthümliche Geschäft der V e r n u n f t beym E r ­ nennen überhaupt?" Mich d ün kt, lieber Freund, ich sehe S ie bey diesen Problem en den K opf schütteln. Nicht etw a, weil S ie nicht überzeugt w aren, daß die Auflösung derselben der e i n z i g mö g l i c h e W eg sey, der al­ lenfalls zum Ziel« führen könnte. »Aber, höre ich S i e sagen, eben der kleine Umstand, baß diese F ra ­ gen nach allem, w as bisher in der spekulativen P h i­ losophie von großen und kleinen M ännern samt und sonders geleistet w u rd e, noch immer Probleme ge­ blieben sind, giebt eine starke V erm uthung, daß sie auch immer Problem e bleiben werden.- — Ic h ha# be freylich den G a n g , den der menschliche G eist nehmen m ußte, um zu diesen Problemen zu gelan­ gen , im vorhergehenden nur sehr flüchtig anzeigen können; aber nichts desto weniger scheint mir. I h r E in w u rf sich daraus beantworten zu lassen. Alle wesentlicheren Schicksale, die unsre spekulative P h i­ losophie bis jetzt erfahren hat, mußten v o r h e r g e ­ g a n g e n seyn, ehe m an daran denken konnte, jene

D r i t t e r Bri efs

94

Probleme in ihrem eigenthümlichen S in n e , und so, wie derselbe durch die Absicht ihrer Auflösung be» stimmt wirb, auch nur v o r zu l egen, geschweige dann aufzulösen.

Alle

diejenigen

Philosophen,

welche die Erkenntnißgründe für die Grundwahrhei« ten der Religion und M oralität, so wie die ersten Grundsätze des NalurrechteS und der M oral, b c« r ei t e g e f un de n zu haben glaubten, konnten sich wohl nie im Ernste einfallen lasse«, sich selbst zufra« gen, ob und w ie ee der Vernunft auch mögl i ch wäre,

allgemein gültige Erkenntnißgründe

und

Grundsätze aufzustellen,— da sie ihre Vernunft im wi rkl i chen ^Besitzt solcher Erkenntnißgründe und Grundsätze glaubten.

Und wäre ihnen auch diese

Frage von andern vorgelegt worden: so würden sie statt aller Antwort ihre angeblichen Besitzungen auf« gewiesen haben.

Auf eben dieselbe Weise würden

die At hei st en und S u p e r n a t u r a l i s t e n ver­ fahren seyn, welche ebenfalls jenen Fragen durch entscheidende Antworten, wie wohl von ganz ande­ rer Ar t , z uvor gekommen sind. Und nun bitte ich S>e, lieber Freund, ja nicht zu vergessen, daß die philosophische W elt von je her größtentheils aus D o g m a t i k e r n bestanden habe; so daß man viel­ leicht gegen Einen Skeptiker hundert Dogmatiker zählen dürfte. Gleichwohl war dieser so breite, und so stark betretene Weg vor der Vorlegung und Auflösung jener durch den kritischen Zweifel veranlaßten Probte«

D r i t t e r Brief. tue, nicht nur unvermeidlich; sondern sogar als eine entfernte V orbereitung zu denselben umentbehrlich. O hne den durch die sujje Einbildung gefundener W ahrheit unterstützten und belebten Eifer der D og­ matiker, würden jene zahlreichen und zmm Theil be­ wundernswürdigen Vorübungen des philosophischen Geistes nicht zu S ta n d e gekommen seyn, denen die V ern u n ft den G ra d der Entwicklung verdankt, der bey größeren Unternehmungen voraus gesetzt wird. W ahrend dieser langwierigen Periode bestand das Verdienst des S k e p t i c i s m u s , auch nur größten# theils d arin , daß er die Dogmatiker theils ihre al­ ten Beweise zu schärfen, theile auf Neue zu sinnen zwang, ihrer Selbstgenügsamkeit Schranken sehte, und ihren E ifer in Athem erhielt. N ie aber ver­ mochte er6, ihnen ihre angebliche Erkenntnisse des Uebersinnlichrn zu entreissen. E r Halle ihnen nichts besseres dafür zu geben; und würde auf die F rage: W a s ist e r k e n n b a r ? keine andre A ntw ort ge­ h ab t haben, a ls : N ic h ts ', oder aufs höchste: I c h w e i ß es ni cht ! D ie Dogmatiker fehlen daher ihre W ege ungehindert fo rt, und mußten sie w e i t g e n u g fortsetzen, bis sie selbst und ihre Zuschauer gew ahr werden konnten, daß diese W ege in eben dem Verhältnisse vom Ziele abführten, als sie auf denselben weiter fortrückten, und bis die Skeptiker durch den Augenschein überzeugt werden konnten, daß es einen d r i t t e n bisher noch unbetretenen W eg gebe, der gegen alle ihre bisherigen Einwen­ dungen gesichert wäre. V o r diesem Zeitpunkte

D r i t t e r Brief.

96

würde es weder rathsam noch möglich gewesen seyn, die dogmatischen Fortschritte aufzuhalten.

Nichts

ist begreiflicher, als warum dieser Zeitpunkt nicht früher eintrat.

D ie Geschichte der Zeiten und V ö l­

ker, die in den Wissenschaften etwas beträchtliches geleistet haben, giebt uns deutlich genug die Ursa­ chen a n , durch welche die Fortschritte der Philoso­ phie so oft bald erschwert, bald unterbrochen wur­ den.

S e it der Wiederauflebung der Wissenschaf­

ten unter uns hatten die Dogmatiker eine geraume Zeit nöthig, bis sie in zweyen einander ungefähr das Gleichgewicht haltenden Hauptpartheyen als thodoren

0 r-

und H e t e r o d o x e n auftreten konn­

ten, bis di ese ihre Nothdurft frey und laut genug abhandeln durften, und j en e sich gcnöthiget sahen, die Vernunft zu Hülfe zu rufen; bis endlich durch den fortgesehten Kam pf die Schwierigkeit seiner E n t­ scheidung so groß und so auffallend wurde, daß der kaltblütigere Theil selbst der Theologen und Philoso­ phen von Profession auf die Gedanken gerieth, die ganze Fehde wäre entweder gar nicht, oder wenig­ stens keineswegs durch die bisher gebrauchten Waffen zu beendigen.

S o sehr die M eynung, welche den

S tre it zwischen den Naturalisten und Supcrnaturalisten für nothwendig endlos, und folglich auch für vergeblicherklärt, der Bequemlichkeit der E m p i ­ r i k e r zu Statten kömmt; so entscheidend ist das Uebergewicht, welches die entgegen gesetzte Ueber­ zeugung,

„daß dieser S tre it von einem M iß v e ­

rständnisse abhange, mit welchem er einst von selbst »auf.

Dritter Brief.

97

«aufhören müsse," durch das roid)tilgt: utnb ewig fortdauernde Interesse erhalt, das ttne Menschheiit an der noch nicht entschiedenen Ha.upttfnag«e nimmt, die nichts geringeres als die wissenschafklichen Fun» damente der Religion betrifft. S o metaphysisch daher auch die Frage: W a $ v e r m a g die V e r n u n f t ? klingt; svistsiegleich» wohl diejenige,die aus demverwirrtenLmrimen der theo­ logischen Kämpfe am vernehmlichstem h ervor tont; und diese Kämpfe werden immer ausvruetlicher f ü r und w id er das Vermögen und Recht der V er­ nunft, in den Angelegenheiten der Religion zuerst zu sprechen, geführt. „Durch Vernuft all ein ist »ah# «re Erkenntniß Gottes möglich!“ — „ durch V er­ n u n ft ist sie unmöglich!" heißen bi« Losungen der streitenden Partheyen, und die wirklichen oder an­ geblichen Beweise für diese beyden Behauptungen sind die Waffen, womit sie gegen einan der zu Felde ziehen. M an bestrebt sich auch ohne ausdrückliche Verabredung, und durch ein gemeinschaftliches B e ­ dürfniß gedrungen, auszumachen, »was die V er­ n u n ft vermöge." Man beruft sich v«vn seinem an­ gefochtenen Systeme auf daß Verm ögen oder Un­ vermögen der Vernunft, aus welchem man unstrei­ tige Prämissen für seine streitigen Be hamptungen zu erhalten hofft. Der Mangel an solichen Prämissen ist also die Schwierigkeit, worauf beyde Partheyen zugleich stoßen, und diese sind daherlvenn eigentlichen Punkte ihres alten Mißverständnisses näher als sie je waren, und als sie selbst wissen.

G

Dritter Brief.

98

Ein dunkles aber lebhaftes Gefühl dieser Schwier tigkeit äußert sich merklich genug an der in unsern letzten Zeiten so sichtbar gewordenen Verzweiflung, seine Meynungen durch Vernunftbeweise durchsetzen, und seine Zweifel durch Vernunftgründe auflösen zu tonnen.

Diese Verzweiflung hat zur gegenwärti­

gen Gleichgültigkeit und Verachtung gegen die M e ­ taphysik nicht wenig beygetragen.

S ie hat so man­

chen neuerlich veranlaßt, seine wankende Metaphy­ sik durch lMystik und Kvbalistik zu unterstützen; so manchen verleitet, den Einladungen geheimer Gesell­ schaften Gehör zu geben, die ihm durch Traditionen und Offenbarungen die Fragen zu beantworten ver­ sprachen, welche ihm durch Vernunft unbcantwortlich schienen; so manchen genöthiget, von der V e r­ nunft an WahrheitSgcfühl, gesunden Menschenver­ stand, Jntuitionösinn, und wie die Winkeltribunale alle heißen mögen, u. s. w. zu appelliren.

S ie ist

e6 endlich, die den von Ih n e n , mein Freund so rich­ tig bemerkten, und unsrer Zeit so eigenthümlichen Phänomenen eines

förml ichen

Hasses zum Grunde liegt.

Vernunft-

Es mag wchl viel­

leicht auch der niedrige Eigennutz und die Herrsch­ sucht der Elenden, die von der Vernunft so vieles für ihr Gewerbe, und ihre alten Plane zu besorgen haben, bey dieser traurigen Erscheinung mitwirken. Allem, lassen S ie uns gerecht seyn! Schon die all­ gemein anerkannte Rechtschaffenheit mancher S chrift stellet, die sich laut und öffentlich gegen die Vernunft in Rcligionösachen erklärt haben, müßte unö Bürge

D r i t t e r Brief.

99

dafür seyn, daß die betrogene Erwartu ng einer be­ friedigenden Antwort für den Kopf, bey einer Art# gelcgenhcit, an welcher das beste Herz gerade den stärksten Antheil nimmt, die Ursache des Krieges war, den ste der Vernunft angekündiget haben. Die gedachten Schriftsteller geben diese Ursache bestimmt genug an: indem sie der Vernunft den Mangel all» gemein gültiger Principien, aus denen sich die Frage über das Dasey» Gottes beantworten ließe, so all» gemein und so ausdrücklich Schuld geben. D a die Beweise, womit sie diesen Vorwurf zu erhärten su­ chen, aus der bisherigen Metaphysik genommen, und gegen die bisherige Metaphysik gerichtet sind, so zeigt sich, daß diese Schriftsteller Vernunft mit Metaphysik verwechseln, und der Ersteren zur Last le­ gen, was eigentlich nur auf Rechnung der Letztem kommen kann. Ih re Gegner, die Vertheidiger der so genannten natürlichen Religion, werden durch die­ se» V o rw u rf genöthiget, die allgemein gültigen Principien, die sie vorher langst gefunden zu lvaben glaubten, erst aufzusuchen, und endlich ebenfalls rinzugestehen, daß die bisherige Form ihrer Ueber­ zeugung nicht so unmittelbar in der allen Menschen gemeinschaftlichen Form der Vernunft gegründet sey, und daß sie der Vernunft bisher eine» Besitz verdankt haben, den sic eigentlich nur der Metaphy­ sik schuldig waren. A u f diesem Wege wird man sich immer «mehr der Ueberzeugung nähern, daß die V m iu in f ft

IOO

D ritte r Brief.

v o n beyden P a r t h e y e n v e r k a n n t wur de. Wi e vieles vereiniget flcfr nicht, unsern Zeitgenossen diese wichtige Wahrheit einleuchtend zu machen! Noch nie hat man der Vernunft so offenbar zu v i e l und zu weni g z u g e mu t h e t als gegen­ wärtig. Die Abgötterey, welche mit ihr getrieben, und die Verachtung, die ihr bezeugt w ird, gehen bis zum Lächerlichen; während so wohl die übertrie­ benen Lobsprüche, als auch die Verläumdungen, womit man ihr zu begegnen gewohnt wird, noch zu keiner Zeit so allgemein angegriffen, und so geschickt widerlegt worden sind. Die vernünftigeren Anhän­ ger jeder Parthey müssen endlich auf den Gedanken kommen, den Grund der Uebertreibungen, die ih­ nen selbst an ihren eigenen Partheygenossen auffal­ len, in den ihrer ganzen Parthey gemei nschaf t l i c h e n P r i n c i p i e n aufzusuchen; da auch sogar ihnen, und zwar selbst von den vernünftigeren A n­ hängern der Gegenparthey einstimmig verVorw urf übertriebener Ansprüche für oder gegen die Vernunft gemacht wird. Man ist auf der einen Seite eben so allgemein und vollkommen überzeugt, daß der V er­ nunft zu viel — als auf der andern, daß ihr zu we­ nig zugemuthet werde, oder welches eben so viel heißt, beyde Thei l e beschuldigen sich einander des V e r k e n n e n 6 der V e r n u n f t . Da nun jeder Theil seine Bekanntschaft mit der Vernunft vor seinen, Gegentheile rechtfertigen muß, so sieht sich jeder gcnöthiget zu den Gründen, die bisher nur ihn und seine Parthey befriediget haben, Beweise

D r i t t e r Br i e f .

10 1

aufzufinden, die auch seinen G egnern einzuleuchten vermögen. Jeder muß also über seine bisher für die erfien gehaltenen Grundsätze hinaus gehen, M erkmale der V ern u n ft aulsuchen, die er bisher noch nicht gefunden h a t, und feine K enntniß des V erm ögens und der Befugnisse der V e rn u n ft, all­ gemein — das heißt, für sich und feine G egner — gültig zu begründen suchen. Keine der streitenden Partheyen kann also m it ihrer eigenen bisherigen K enntniß der V ern u n ft zufrieden seyn, so wenig als sie es mit der ihrer G egner ist; keine kann es beym Alten bewenden lassen, und das B ed ü rfn iß einer neuen Untersuchung des V orstellungsverm ögens m uß also von den denkenden Köpfen beyder P a r ­ theyen endlich eben so allgemein eingesehen w erden, a ls schon itzt beyde P artheyen überzeugt sind, daß die V ern u n ft (von den G eg n ern ) verkannt wird. D a s P ro blem : W a s v e r m a g d i e V e r ­ n u n f t ? w ird also durch die gegenwärtigen Zeit­ umstände nothwendig gemacht, vorbereitet und auf­ gegeben. E s würde schon kein kleines V erdienst unsers Ja h rh u n d e rts seyn, das alte unselige M iß ­ verständniß, der sich selbst verkennenden V e rn u n ft, welches, so unvermeidlich dasselbe auch dem mensch­ lichen Geiste au f dem langen und beschwerlichen W e­ ge, den er bis zur wissenschaftlichen Erkenntniß sei­ nes V erm ögens zurück legen m ußte, gewesen ist, gleichwohl unter die größten Uebel g eh ö rt, unter welchen die Menschheit je gelitten h a t; daS M ißver-

102

D r i t t er

B rief.

ständniß, welches Jahrtausende unter allerley Ge­ stalten in der Wclr Unheil gestiftet hat, die kulrivirtcn Nationen den Hungen und unblutigen Fehden der Orthodoxie und Hcterodoric preis gab, Un­ glauben und Aberglauben nothwendig machte, die Kräfte so vieler vorzüglichen Köpfe mit unnützen Spitzfindigkeiten und Zänkcrcyen verschwendete, und in allen diesen seinen traurigen Felgen immer fort­ dauern zu müssen schien; — cd würde, sage ich, schon kein kleines Verdienst unsers Jahrhunderts seyn, dieses Mißverständniß aus der Dunkel­ heitverworrener Begriffe hervor gezogen, und da­ durch ein Problem herbey geführt zu haben, dessen Auflösung nichts geringeres als allgemeingültigeErste Grundsätze unsrer Pflichten und Rechte in diesem, — und einen allgemein gültigen Grund unsrer Erwartung für das zukünftige Leben hoffen läßt, daö Ende aller philcsophischenund theologischen Ketzereyen, und im Gebiethe der spekulativen Philo­ sophie einen ewigen Frieden verspricht, von dem noch kein S a i n t - P i er r e bisher geträumt hat. Aber wie? wennauch die Auflösung dieses großen Pro­ blemes unserm sich zum Ende neigenden Jahrhun­ derte vorbehalten wäre? Wenn noch vor dem völli­ gen Ablauf desselben in Deutschland der größere Theil guter mit Philosophie sich beschäftigender Kö­ pfe über allgemein gültige Principien einig würde? und wenn diese, die von nun an aufhörten, sich, ohnc'ed zu wissen und zu wollen, entgegen zu arbeiten, mit, ohne alle Verabredung, vereinigten Kräften

D r i t t e r Brief.

103

anfingen, das allgemeingültige Allgemeingeltendzu machen? Eine glänzendere Krone könnte wohl kaum den Verdiensten unsers Jahrhunderts aufgesetzt wer» den; und Deutschland könnte das Geschäft seines erhabenen Berufes, als die k ü n ft i g e Schule Europe ns mit keinem gründlicheren und zweckmä­ ßigeren Eingang eröffnen. Ich weiß, lieber Freund, daß Ihnen meine Hoffnungen schwärmerisch scheinen müssen. Denn ich habe Ihnen bisher nicht viel mehr, als das gegen­ wärtig mehr als jemals dringende Bedürfniß des Gegenstandes derselben zeigen können. Was werden Sie erst von der Kaltblütigkeit meiner Phi­ losophie denken, wenn ich Ihnen sage, daß der G r u n d , von dem ich die Erfüllung meiner Hoff­ nungen erwarte, in einem einzigen Buche vor­ handen sey? Es ist dieses zwar freylich ein Buch, das, nachdem man Jahre hindurch sein Daseyn kaum bemerkt hat, seit Jahren her mehr als irgend ein anderes Aufsehen macht, unser philosophisches Pu­ blikum in eine ganz außerordentliche Thätigkeit seht, und seinem Verfasser eine Verehrung erworben hat, deren Verletzung selbst von seinen Gegnern mit Un­ willen und Spott gerächt wird. Aber eben dieses Buch ist, nach dem eigenen Geständnisse des Ver­ fassers, und derjenigen, die er für seine ach­ ten Schüler erkennt, von den meisten seiner bisherigen Prüfer nicht verstanden wor-

104

Dritter

d e n ; *) der g r ö ß e r e

Brief. Theil unsrer berühmten

philosophischen Sckriftsteller hat sich gegen dassel­ be erklärt, und einige darunter sind eben itzt damit beschäftiget, in hauptsächlich zu diesem Zwecke ange­ legten Magazinen und Bibliotheken zu zeigen, daß der In h a lt desselben in Rücksicht auf das, was sie an ihm w a h r finden, a l t , in Rücksicht auf dasjeni­ ge aber, was sie an ihm für neu gelten lassen, theils unerweislich, theils ungereimt sey.

D as

E v a n g e l i u m der r e i n e n V e r n u n f t ist den Heterodoxen Thorheit, und den Orthodoxen A e» gerniß; und in keinem Buche, die einzige A p o k a ­ lypse vielleicht ausgenommen, hat man so verschie­ dene und einander so sehr entgegen gesehte Dinge ge­ funden.

D ie Kritik der V ernunft ist von D o g ­

m a t i k e r n für den Versuch eines S k e p t i k e r s ausgerufen, der die Gewißheit alles Wissens unter­ grabt, —

von S k e p t i k e r n für die stolze A n­

maßung, auf den Trümmern der bisherigen Systeme einen neuen allgemein herrschenden Dogmatismus aufzuführen, —

von den S u p e r n a t u r a l i s t e n

für einen fein angelegten Kunstgriff, die h i s t o r i ­ schen Fundamente der Religion zu verdrängen, und den Naturalismus ohne Polemik zu begrün»

*) Ich verweise meine Leser hierüber auf die Abhand­ lung: Ueber d i e b i s her i ge n Schicksale der Kanlischen Phi l os o ph i e, die dem V e r ­ suche einer neuen T h e o r i e de- menschli­ chen V or stel l ung-ver mögens als Vor re de beygefügt, aber auch besonder- abgedruckt, J e na bey M a u k e , zu haben ist.

D ritter Brief. dm, —

von den N a t u r a lis t e n für eine neue

Stühe der sinkenden Glaubensphilosophie, —

von

den M a t e r i a l i s t e n für eine idealische Widerle» gung der Realität der Materie, —

von den S p i ­

r i t u s listen für eine unverantwortliche Einschrän­ kung alles Wirklichen auf die unter den Namen des Gebieths der Erfahrung versteckte Körperwelt, — von den E k l e k t i k e r n für die S tiftung einer neuen Sekte,

die an Allgenügsamkeit und Intoleranz

noch nie ihres gleichen hatte, und das Sklavcnjoch eines Systemes dem vor kurzem frey gewordenen Nacken

der

deutschen Philosophie

aufzudringen

droht, — von den P o p u l a r p h i l o s o p h e n end­ lich bald für die l ächerliche Unternehmung, mitten in unserm aufgeklärten und geschmackvollen Zeitalter den

gesunden

Menschenverstand

durch

scholastische Terminologie und Spitzfindigkeiten aus der philosophischen W elt zu verdrängen, bald aber für den ä r g e r l i c h e n Stein des Anstoßes, derben feit kurzen durch so viele leicht verständliche Schrift­ steller geebneten Weg zur Volksphilosophie unzu­ gänglich macht, und an welchem bereits nicht nur der Verstand hoffnungsvoller Jünglinge, sondern auch die philosophische Reputation berühmter M änner ge­ scheitert wäre.

Ic h kann hier diesen Beschuldigun­

gen freylich nichts anders entgegen setzen, als die nur in den Augen meines Freundes bedeutende Versiche­ rung, daß ich von j eder mir bekannt gewordenen Einwendung ger ade das G e g e n t h e i l

in der

K r i t i k der V e r n u n f t gefunden habe;

nach-

D r i t t e r Brief. dem ich dieses Werk mährend einer von allen Ge­ schäften und Sorgen ganz freyen Muße mit aller mir möglichen Aufmerksamkeit f ü n f m a l gelesen, und zu den ersten Durchlcsungcn alle dem Werke nachtheiligen Vorurtheile mitgebracht habe, die man bey einem Menschen voraus fetzen kann, der nach einer zehnjährigen Beschäftigung mit 'der spe­ kulativen Philosophie endlich alle von ihm nach und nach angenommenen dogmatischen Systeme, mit ei­ nem nicht weniger dogmatischen Skepticismus ver­ tauscht hatte. Obwohl mich eben die verschiedenen und einander entgegen gesetzten B e r i c h t e , welche die Gegner der Kantischen Philosophie von der eigentlichen Beschaffenheit und dem Werthe der­ selben an das Publikum gelangen lassen, von dem verhaßten Vorwurfe: „Klüger als der größte Theil „meiner philosophischen Zeitgenossen seyn zu wollen," vor Ihnen und jedem billig denkenden Manne los sprechen: so würde ich gleichwohl durch mein Ur­ theil von dieser neuen Ph i l o s o p h i e , wenn es öffentlich bekannt würde, bcn jenem größeren Theile alle gute Meynung von meiner Urtheilskraft und Bescheidenheit verwirkt haben. Allein auch auf die­ se, und auf jede andere Gefahr, würde ich kein Bedenken tragen, laut und öffentlich zu bekennen, was ich Ihnen hier bctheure: Daß ich die K r i t i k der V e r n u n f t für das größte unter allen mir be­ kannten Meisterwerken des philosophischen Geistes halte; daß ich durch sie in ^tand gesetzt worden bin, mir alle meine philosophischen Zweifel auf eine

Dritter Brief.

tc>7

K opf und Her; völlig befriedigende Weise zu ♦ eant» woi te n ; und daß sie meiner lebendigsten Ueberzeu­ gung nach a l l e D a ta zur Auflösung des g r o ­ ß e n P r o b l e m e s , das durch die von mir ge­ schilderte Erschütterung auf den Feldern der Wissen­ schaften herben geführt und aufgeworfen ist — ge­ liefert habe. D ie v ö l l i g n e u e und g a n z v o l ­ l e n d e t e Entwicklung des E r k e n n t n i ß v e r m ö g e n s , die in ihr enthalten ist, v e r e i n i g e t die großen aber einander entgegen gesetzten Gesichts­ punkte, aus welchen Locke und Lei bni t z den menschlichen Geist untersucht haben, und erfüllt, ja übertrifft sogar die strengen Forderungen, die D a» v i d H u rne an die Philosophie in Rücksicht auf die G ew ißheit ihrer Grundsätze gethan hat. Alle ihre Hauptmomente lassen sich auf einen a l l g e m e i n g e l t e n d e n Ä r u n d zurück führen, *) — der nu r in einen bestimmten Ausdruck eingekleidet, und im Zusammenhang mit seinen Folgen aufgestellt werden darf, um zum a l l g e m e i n g e l t e n d e n G r u n d , sa tz e zu werden, — und sie stehen alsdann in ei­ nem sehr einfachen, leicht verständlichen, mit Einem * ) D ie s habe ich in meiner n e u e n T h e o r i e d;s V o r s t e l l u n g s v e r m ö g e n s zu leisten v e r s u c h t . W enn dieser Versuch nicht ganz mißlungen hat, so stellt er die ganze kritische E l e m e n t a r p h i l o s o r p h i e u n a b h ä n g i g von den G rü nd en , a u f welchen sie in der Kritik der reinen V ernunft fe st s t e h t , vom neuen a u f; und dient, da er a u f einem ganz verschiedenen W ege zu eben denselben Resultaieti führt, den Kanlischen Entdeckungen, alS eine den N « c h n u n g s p k o b » n ähnliche B estätigung.

io8

D r i t t e r Br i e f .

B lick' übersehbaren Systeme fest, auö welchem sich mit Bestimmtheit und Leichtigkeit nicht nur eine neue allgemein gültige M e t a p h y s i k , das heißt die wahre Wissenschaft theils der allgemeinen und noth­ wendigen Prädikate der erkennbaren und begreifli­ chen , theils der nothwendigen Merkmale der nur durch V ern un ft denkbaren und unbegreiflichen Gegenstände, sondern auch der höchste Gesichtspunkt aller Geschichte, die oberste G rundregel des G e ­ schmackes, das Princip aller Philosophie der Reli­ gion, der erste Grundsatz des N aturrechts, und das Grundgesetz der M o ral, in einem zwar bisher »er­ kannten, aber die gerechten Forderungen aller P a r , theyen befriedigenden S in n e , ableiten lassen. Und sonach würden wir in eben dem Zeitpunkte, wo das B ed ü rfn iß einer gänzlichen Reformation der P hilo­ sophie durch eine allgemeine Erschütterung auf allen Feldern der philosophischen Wissenschaften aufs höch­ ste gestiegen w a r , zugleich das einzig mögliche und völlig zureichende M ittel einer solchen Reformation erhallen haben, und wir dürften mit freudiger E r ­ wartung einer der allgemeinsten, merkwürdigsten und wohlthätigsten Revolutionen entgegen se­ h e n , die sich je im menschlichen Geiste ereignet ha­ ben. I c h hoffe S i e von der Gründlichkeit dieser E r ­ w artung dadurch zu überzeugen, daß ich Ih n e n in meinen 'olgenden Briefen die vornehmsten R e s u l ­ t a t e , welche die Kantische Philosophie über das

D r i t t e r Vrief.

109

g r o ß e T h e m a aller Philosophie, nämlich u m sre P f l i c h t e n u n d R e c h t e in d i e s e m , u n d d e n G r u n d u n s r e r H o f f n u n g im künfti« g e n t e b e n , aufstellt, nach und nach vorlege, und S i e dadurch, daß ich S ie vorläufig mit den F o l ­ g e n des kritischen S ystem es bekannt mache, zum S tu d iu m desselben nach seinen G r ü n d e n einlade und vorbereite. D ie Resultate selbst werde ich da­ her unabhängig von ihren in der Kritik der V ern u n ft entwickelten Präm issen vortragen; fie dageqen an bereits vorhandene Ueberzeugungen anzuknüpfen, ihren Zusammenhang m it den wesentlichsten wissen­ schaftlichen und sittlichen Bedürfnissen unsres Zeital­ te r s , ihren E influß a u f die B eylegung alter und neuer Streitigkeiten der Philosophen, und ihre Uebereinstimmung m it dem w as die größten philo­ sophischen K öpfe aller Zeiten von den merkwürdigsten Problem en der Philosophie gedacht haben, sichtbar zu machen suchen. Ic h werde es auch nur m it den ä u ß e r e n G ründen dieser Resultate zu thun haben, und ersuche S ie daher, I h r Urtheil über die i n n e r e n G rü n d e so lange zurück zu halten, bis sie M uß e ge­ funden haben w erden, dieselben aus der Q uelle selbst zu schöpfen. D ie unphilosophischen und philo­ sophischen V o ru rth e ile , welche den Resultaten der neuen Philosophie entgegen stehen, und die ich n u r zu wohl aus eigener E rfahrung kenne, sind oh­ nehin a u s den inneren G ründen um so schwerer zu widerlegen, als sie theils den W illen abgeneigt, theils den V erstand weniger aufgelegt m achen, sich

I TO

Vierrer Brief.

m s das allerdings jcbavre S t u d i u m des kritischen SnsiemeS selbst mitEiser und Erfolg zu verwenden. D a unser Briefwccl'scl durch I h r e Besorgnisse über den gegenwärtigen Zustand von den Angelegew Heiken der Religion veranlasset worden ist, so lassen S i c mich in meinem nächsten Briefe mit demjenigen Resultate beginnen, das S i e in jener Rücksicht vor allen andern interessiren muß. V i e r t e r

Brief.

D a s R e s u lta t der K a n tisc h e n P h ilo s o ­ p h i e ü b e r d ie F r a g e v o m D a s e y n G o t ­ t e s , v e r g l i c h e n so w o h l m i t d e m a l l g e ­ m einen als den b e s o n d e re n R e s u l t a t e n der b ish e rig e n P h ilo s o p h ie üb er diesen G egenstand. 5 B a S ich bisher von dem M a n g e l einer allgemein befrikdigendenAntwort auf dieFragc vomDaseynGon les behauptet habe, gilt eigentlich mehr von den G r ü n ­ den und Beweisen dieser Antwort, als von der Ant­ wort stlbst, welche durch eine Mehrheit der S t i m m e n , die, genau besehen, der Einhelligkeit nichts nachgiebt, b e j a h e n d auS'ällt. Dieses mit einer so allgemeinen U bereinstimmung gefällte, und durch das wichtigste Interesse der Menschheit bestätigte Urtheil heißt daher mit allem Rechte ein Ausspruch des gesunden und gemeinen Menschenverstandes, und muß auf unum­ stößlichen G rü n d en , und unwiderstehlichen Triebfe-

V i e r t e r Brief.

m

'

dem beruhen, die immer da gewesen seyn, immer fortgewirkt haben müssen, und daher zwar gefunden und entwickelt, aber nicht erfunden und geändert werden können.

Nichts desto weniger kann der ei»

gentliche, vorzügliche, oder gar ausschließende, A n ­ theil, den die von der Sinnlichkeit und dem V e r ­ stände wesentlich verschiedene Vernunft, als ein'be­ sonderes Vermögen betrachtet, an dieser Ueberzeu­ gung hat,*) immer unentschieden, unerwiesen,ja sogar gänzlich unbekannt gewesen seyn, ohne daß darum die ser Antheil weniger wirklich, oder diese Ueberzeugung weniger

gegründet gewesen

wäre.

D ie

sieben

Hauptfarben haben durch ihre gleiche Mischung im­ mer den Grund der weißen Farbe enthalten, auch

bevor

N e w t o n das Daseyn dieser sieben Haupt­

farben in jedem sichtstrahle, und das Resultat ihrer gleichen Mischung an der weißen Farbe entdeckt hat. D e r N ew t o n i a n e r , der allen denjenigen, welche die Theorie der sieben Farben entweder nicht wissen oder nicht zugeben wollen, die Empfindung der wei­ ßen Farbe abstreiten wollte, würde nicht viel lhörich-

*) Die V e rn u n ft bedarf zur Entwicklung ihres Der« mSgenS der vorhergehenden Funktionen der S in m lichkeit und des Verstandes; und in so fern hangt freylich auch die Ueberzeugung vom Daseyn Gottes von der Sinnlichkeit und dem Verstände ab. Aber der S to ff zur Vorstellung eine« wirkliche» Körpers wird der Sinnlichkeit durch Eindruck vo» außen gegeben, während, wie'die kritische Philo» sophie zeigt, der S to ff zur Vorstellung der Gott» heir nur in der Form der Vernunft bestimmt sey» kann, und wirklich bestimmt ist.

Vierter Brief.

112

tchuldigungen. **) Siehe S . 101. derselben Antwort.

mit seinem auf M r m

144

Vi e r t e r Br i e f .

Grundsätze hatte vereinigen können: „ I n Absicht „ a u f Lehren ewiger W ahrheiten keine andere Ueber* „zeugung gelten zu lassen, als die Ueberzeugung „durch V ernunftgründe." — D e m sey aber wie ihm wolle, so bleibt dem S tre ite zwischen Jac o b i und M endelssohn das V erdienst, die dialektische Doppelsinnigkeit unsrer M etaphysik hervor getrieben, und in allgemeinere Aufmerksamkeit gebracht zu ha­ ben. M endelssohn schuhte und vertheidigte den dogmatischen Theism us, und hielt denselben, da ihm die neueO.urlle philosophischer Ueberzeugung so g ut a ls garm chtgeöffnetw ar,unterallenandernSystem enfür d a- einzige erweisliche. Jaco b i hingegen, * ) „schützt und vertheidiget, Philosophie gegen P h ilo ­ so p h ie gehalten, den A theism us, und laß t ihn, „trenn keine neue Cuittie der Evidenz geöffnet w ird, „als das bündigste unter allen System en gelten. Beyde M a n n er haben die G ründe ihrer so sehr ent­ gegen gesetzten M eynungen in einer und eben dersel­ ben Wissenschaft — in unsrer bisherigen M etap h y ­ sik— gefunden, und auf eine A rt dargethan, die ihrem allgemein anerkannten philosophischen Geiste, und ihrer innigen Bekanntschaft m it dieser W issen­ schaft daß vollgültigste Zeugniß giebt. W ie sehr muß also diese merkwürdige und auffallende T hatsa­ che den Beweisen zu S ta tte n kom m en, m it welchen die Kritik der V ern unft unsre bisherige M etaphysik überführt h a t, daß sie widersprechende Ne>ultate

noth« * ) Resultate, © . 154.

Fünfter Brief.

HS

nothwendig begünstigen müsse! W ie sehr m uß sie aber auch die denkenden Köpfe unter unsern Zeitge­ nossen auffordern, den Vorschlägen G ehör ju ge­ ben , welche eben diese Kritik der V ern u n ft für eine bessere Metaphysik gethan hatFünfter

Brref .

D a s R e s u l t a t der K r i t i k der V e r n u n f t ü b e r den n o t h w e n d i g e n Z u s a m m e n h a n g z wi s c h e n M o r a l u n d R e l i g i o n . S i e B estätigung des G erüchtes, daß der öffentliche V o rtra g der K r i t i k d e r V e r n u n f t au f einer g«, wissen deutschen Universität verbothen sey, würde m ir lange nicht so unerw artet seyn, als I h n e n , mein Freund, die W iderlegung desselben seyn m üß­ te. W a s besorgen S i e nicht alles von der m ehral« jemals geschäftigen P arth ey der Z eloten, die ihre Ueberzeugung von den G rundw ahrheiten der R eliligion und der M o ralität lieber aus jeder anderen Q uelle, nur nicht aus der V e r n u n f t abgelei­ tet wissen will? Ich hingegen, der ich der entgegen gesetzten und besseren P arthey ein immer mehr zu­ nehmendes Uebcrgcwicht zutraue; ich erwarte gera­ de von dieser den heftigsten und wirksamsten W ider­ stand gegen die n e u e P h i l o s o p h i e , *) ohne ihn *) Diese Erwartung ist, von der Zeit a n , da ich si« zu­ erst geäußert Hane, durch den größten Theil unsrer Philosophen von Profession, «Heils in eigenen Düchern

K

146

Fünfter Brief.

jedoch auch in seinen stärksten Ausbrüchen zu fürcht ten.

Hat es die Kritik der Vernunft durch die Fest­

setzung des V e r n u n f t g l a u b e n s mit den Schwärmern auf beyden Seiten verdorben, wovon die einen ihren Glauben durchaus nicht von der V e r­ nunft annehmen, und die andern, auf das W i sse n erpicht, der Vernunft selbst nicht gl a ub en wollen: so hat sie es durch die Vernichtung aller objek tiven B e w e i s e für das Daseyst Gottes auch mit allen den aufgeklarten Vertheidigern der Religion aufzunehmen, die mit M e n d e l so h n diese Bewei­ se für die Grundwahrheiten der Religion selbst anse­ hen, oder wenigstens der Meynung des verewigten Mannes beypflichten:') »Kein Verehrer der G ott* „heit müsse den mindesten Beweisgrund verwerfen, „der nur einige Uebcrredungskraft mit sich führt.“ S ie , mein Freund, der S ie sich selbst zu dieser Klaffe bekennen, geben mir keinen geringen Beweis sowohl Ihres Zutrauens, als Ih re r unbefangenen Wahrheitsliebe, indem S ie mich auffordern, der Kantischrn Philosophie hierüber das W ort zu re­ den.

und Dissertationen, theil- in Magazinen und Biblio­ theken, in dem größten Theile unsrer gelehrten Zeit tungen und kritischen Journale, auf dem größten Theil« unsrer philosophischen Kathedern — erfüllt worden. * ) Abhandlung über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften, S>. 102. in der neuen Auflage. Ber­ lin, bey Dprner 1786.

Fünfter Brief.

147

S ie frügen in Ihrem lehten Briefe: „W as „soll die Religion durch den Umsturz von Beweisen „ gewinnen, denen eine so beträchtliche Menge großer „und kleiner Geister ausschließende Kraft der Ueber» „Zeugung einräumt, und denen die Religion so viel „von ihren Siegen über dicZweifelsucht derUngläu« „bigen, und die Vernunft von dem Ansehen zu ver­ danken hat, das ihr nach und nach von den Su» „pernaturalisten selbst in den Angelegenheiten der „Religion eingestanden wird?" — Ich glaube hier­ auf mit Zuversicht antworten zu können: „D ie Re­ lig io n gewinnt durch die Hinwegraumung dieser „Beweise (so wie dieses Geschäft durch die Kantische „Philosophie vorgenommen wird), nichts g e rin „ g e r e s , als einen einzigen u n e r sc h üt t er l i„chen und a l l g e m e i n g ü l t i g e n E r k e n n t n i ß „g ru n d ihrer ersten Grundwahrheit, der auf dem „ W e g e d e r V e r n u n f t d i e V e r e i n i g u n g der „ R e l i g i o n und d e r M o r a l vollendet, welche „durch das C h r i s t e n t h u m auf dem W e g e des „ H e r z e n s eingeleitet worden ist." Ich hoffe mich hierüber zu Ih re r Befriedigung zu erklären. D i e s e V e r e i n i g u n g , eingeleitet zu einer Zeit, wo die Trennung zwischen Religion und M oral den höchsten Grad erreicht zu haben schien, ist ein Verdienst deS Christenthums, da« ihm seine Feinde selbst nicht absprechen können; seine Freunde aber nicht genug zu schähen wissen, we«n sie noch ein größeres fordern, um den erhabenen S tifter deffel«

148

F ü n fte r B rie f.

den mit dem Ehrennam en eines Retters der Mensch­ heit zu benennen. J e s u s C h r i s t u s hatte bey dem großen Haufen seiner Zeitgenossen Religion ohne M o ra l, und bey ein paar philosophischen S ek ten M o ra l ohne Religion angetroffen. D e r Gesinnung desjenigen gemäß, der ihn gesandt hatte, mußte sei» ne Aufmerksamkeit den g r ö ß e r e n Theil treffen, oh» ne den k l e i n e r e n zu vernachlässigen; und R e l i » g i o n , wozu die allgemeinere Anlage und V o rb e ­ reitung da w a r , mußte die G r u n d l a g e einer neuen m o r a l i s c h e n K u l t u r werden, welche den Bedürfnissen des gemeinen M a n n e s sowohl als des aufgeklärteren Denkers angemessen seyn sollte. S e i ­ ne Lehre sehte also den M i t t e l b e g r i ff fest, an den sich die feinste Spekulation, und die sinnlichste V o r ­ stellungsart der Menschen mit gleicher Leichtigkeit a n ­ schließen konnte; und allenthalben, wo man sich der Lehre J e s u gemäß das höchste Wesen als V a t e r , und das menschliche Geschlecht als dessen F a m i ­ l i e dachte, wurde die M o r a l auch für den gemein­ sten Verstand e i n l e u c h t e n d , und die R e l i g i o n für den kaltblütigsten Philosophen r ü h r e n d . M o ­ ral und Religion waren nun nicht nur mit einander ausgesöhnt, sondern auch durch ein inniges V e rh ä lt­ niß v e r e i n i g e t , nach welchem die M o ra l wenig­ stens in so ferne von der Religion abhing, als sie derselben A u s b r e i t u n g und W i r k s a m k e i t zu danken hatte. D ie religiöse S anktion verschaffte den feineren und erhabenem Vorschriften der M o r a l den a l l g e m e i n e r e n Eingang, den sie außerdem

f ü n f t e r Brief.

149

bey dem rohen und ungebildeten Verslande des ge­ meinen Mannes nicht gefunden hatten, und gib ih­ nen das l ebhaf t ere I nt eresse, ohne welches sic auf das Herz des kälteren Denkers gemeiniglich ge, ringe Wirkung äußern. Der eine vergab nun fei, nen Feinden, »um des himmlischen Vaters willen, „der seine Sonne über die Guten und Bösen auf» „gehen läßt," und erfüllte damit eine Pflicht, von deren Daseyn sich noch vor kurzem so mancher 5Ro» ralphilosoph nichts träumen ließ. Der andere hin, gegen, den feine Philosophie wirklich zur Ueberzeus gung von dieser Pflicht geführt hatte, traf nun in seiner Religion, die ihn an seinem Feinde „den „Sohn des allgemeinen Menschenvaters wahrneh­ men ließ, den Beweggrund an, den er der Wider­ spenstigkeit seines Herzens entgegen sehen konnte.— Auf diese Weise bildete das C h r i st en t h u m im ei­ gentlichsten Verstände W e l t b ü r g e r , und hatte bey diesem großen Geschäfte vor der Philosophie den Vorzug voraus, daß es sich keineswegs, wie diese, nur auf jene Klassen von Menschen einschränken durfte, denen das zufällige Loos einer höheren K ul­ tur zu Theil ward. Seine eigentliche Bestimmung war also, und wird es zu allen Zeiten seyn: „Die „moralischen Aussprüche der V e r n u n f t theils für „den Verstand des gemeinen Mannes zu versinnli, „chen, theils dem Denker anö Herz zu legen, und „folglich der V e r n u n f t bey der sittlichen Bildung «der Menschheit wohlthätig an die Hand zu gehen." Weit entfernt also Behauptungen durchzusehen.

Fünfter B rief. bey welchen die Philosophie den Finger au f ben M u n d zu legen h ätte, noch weniger aber Philosophie überflüssig zu machen, oder sie vom Angesichte der E rde zu vertilgen, w ar vielmehr dem Christenthume auf» behalten, die Resultate von den tiefsinnigen Bclrach» tungen der Weltweisen zum gemeinschaftlichen Besitz aller S tä n d e zu machen, den kalten B e y fa ll, den diese Resultate bis dahin bey einer kleinen Anzahl denkender Köpfe gefunden h a tte n , in w arm e Liebe und thätige A usübung umzuschaffen, u n d , w as die S o k r a t e vergebens versucht haben — die Philoso» phie aus den unfruchtbaren Gegenden der bloßen Spekulation herab zu ziehen, und in die wirkliche W e lt einzuführen.— Ic h d arf nicht besorgen, lie­ ber F reund, daß S i e an diesen G rundzügen, so idralisch sie auch manchem andern vorkommen d ü rf­ ten, das C h r i st e n t h u m verkennen w erden; wohl gemerkt', in so f e r n als es sich durch die Lehre und die Beyspiele seines S tifte rs dem gesunden Auge des unpartheyischen Forschers darstellt, den G ru n d zur glücklichen V ereinigung der Religion und M o ra l ge­ legt, und selbst mitten unter allen M ißhandlungen, die «6 von Aberglauben und Unglauben zu leiden h a tte , nie seinen wohlthätigen Einfluß auf die Er» ziehung der Menschheit ganz verloren hat. W aru m m uß ich hier von dem Undinge spre­ chen, welches den N am en des Christenthums so lange gemißbraucht, und den Geist desselben allenthalben, wo eö sich des K ö r p e r s bemächtigen konnte, ver»

Fünfter Brief. drängt hat? und war um kann ich ihm keinen andern Namen geben, als denjenigen, unter welchem es so viel Unheil

angerichtet h a t —

Orthodoxie?

Wahrend der Zeit, als die freye und Wissenschaftlieche Kultur derVernunft mit dem römischen Reiche verfiel, und unter dem Schutt« desselben von Des­ poten und Barbaren vergraben wurde, errang sich diese Ausgeburt der Unwissenheit und des Stolzer der N e u p l a t o n i k e r diejenige Uebermacht über den menschlichen Geist, durch welche es ihr in kur­ zem eben so leicht wurde, denkenden Köpfen Bvrurtheile des Pöbels, als dem gemeinen Manne unver­ ständliche Sahe einer verdorbenen Schulweisheit— als göttliche Aussprüche aufzudringen, dieselben an die Stelle der einfachen und gemeinnützigen Lehren des Evangeliums zu sehen, und den blinden Glau­ ben an ihr Machtwort nicht nur als die erste aller moralischen Pflichten, sondern auch als den genugt h u e n d e n Ersah für die Vernachlässigung aller übrigen geltend zu machen. I n eben dem Verhält­ nisse, als es ihr gelungen w ar, den Gebrauch des einzigen Vermögens, welches den Menschen zum moralischen We s en erhebet, zu unterdrücken, zerstörte sie die Früchte des schönen Bundes wieder, den das Christenthum zwischen Religion und M oral gestiftet hat.

S ie unterschob dem großen und rüh­

renden Gemählde, das Christus von dem h i m m ­ lischen V a t er aufgestellt hat, ein B ild , an wel­ chem alles unbegr ei fl ich war.

Kein Wunderl

daß es durchaus unmoralisch wurde; während dis

152

Fü nft er Brief.

obentheuerlichenVoriiellungSarten, welche das H ei­ denthum von seinen Göttern unterhielt, so manche rührende und herzerhöhende Züge von Humanität auszuweisen hatten.

D ie Menschheit war nun weit

schlimmer daran, als sie es bey der vorigen Tren­ nung zwischen Religion und M o ra l gewesen war. D ie Religion wurde die Sanktion der Unsittlichkeir, und ganze Tribunale, hohe Schulen, Nationen, beschlossen nun, und führten! unter dem Vorwande der Religion Unthaten aus, von denen man in der Geschichte des Fanatismus vor der Einführung des Christenthums kaum E i n Beyspiel finden wird. — D ie Vernunft begann sich mit der Wiederaufiebung der Wissenschaften zu erholen; und nun schienen sich sogar ihre Freunde mit ihren Feinden zu vereinigen, um die Trennung zwischen Religion und M o ra l aufs äußerste zu treiben.

W enn die letzteren allen Hand­

lungen, welche bloß a u s * ) v e r n ü n f t i g e n B e ­ weggründen geschahen, im Namen Gottes alles V e r ­ dienst absprachen; so suchten und fanden die erstem ihre M o ral in den Schriften der Alten und in ih­ rer eigenen Vernunft wieder auf.

Allein in eben

dem Verhältnisse als sie Religion von M o ra l zu un­ terscheiden, und die von einer Seite unstreitige Un­ abhängigkeit der letztem von der erster« einzusehen ansingen, trennten sie beyde von einander, und be­ gannen den von einer andern Seile nicht weniger

*) D. h. Begreiflichen, Natürlichen. Man erklärt« sogar die Tugenden eines S o k r a t e s für glänzend« Laster.

Fünf t er Bri ef.

153

unstreitigen Zusammenhang derselben zu verkennen. S ie wurden um so viel geneigter, alle Religion überhaupt entbehrlich zu fünden, da ste nicht selten Jahre lang vergebens gearbeitet hatten, die vielen und groben Irrthüm er, die sie mit dem Religions­ unterricht in ihrer Jugend eingesogen hatten, von dem Wahren und Wohlthätigen der Religion abzu­ sondern. S o viel auch die Vernunft, seitdem sie durch die protestantische R e f o r m a t i o n , wenigstens«» der einen Hälfte der christlichen W e lt, den freyen Gebrauch ihrer Kräfte zurück erhalten, und beson­ ders seitdem sie sich in den lehtern Zeiten von den natürlichen Folgen ihrer vorigen Gefangenschaft so sichtbar erholet hat, geleistet haben mag, um die Vereinigung zwischen Religion und Moral wieder herzustellen: so war doch der bisherige Erfolg ih­ rer Bemühungen unstreitig mehr V o r b e r e i t u n g , als V o l l e n d u n g dieses großen Geschäftes. W e r weiß nicht, daß die Partheyen der gegen die M 0r a l der V e r n u n f t

gleichgültigen

O r t hob o


siuß des hyperphysischen und metaphysischen Erkenntnißgrundeö der Religion liegt deutlich genug in der ungeheuren Verwirrung am Tage, welche unter den Begriffen beyder Partheyen von dem V e r h ä l t ­ nisse der

Moral

z ur R e l i g i o n

herrscht.

D ie Hyperphysiker sehen sich nothwendig gedrungen, zwey

verschiedene Sittengesehe

anzunehmen, ein

N a t ü r l i ch e 6 auö der Vernunft, und ein U e b e r natürliches ganz

aus

ihrem

unabhängigen

von der V e r n u n f t Glauben;

und

je

nachdem der Metaphysik« in seinen Speculationen Gründe für oder wider das Daseyn Gottes gefun«

F ü n f t e r Brief. den zu haben glaubt, nennt er entweder seine Moral Religion, oder er versagt ihr diesen Namen, das heißt: er hebt die Religion entweder in ihrem we­ sentlichen Unterschiede von der M oral, oder gerade zu, und also in beyden Fallen in der Sache selbst, auf. Es haben wohl manche versucht, weder Mt# taphysiker noch Hyperphysikcr seyn zu wollen; allein sie haben eben dadurch die Widersprüche von beyden, ohne es zu wissen, auf ihre eigene Rechnung genom­ men. W ir haben erst vor kurzem das Beyspiel ei­ nes geistvollen philosophischen Schriftstellers erlebt, welcher der Metaphysik allen Beyfall aufkündigte, aber ihr zugleich nicht nur einräumte, sondern durch sie zu erweisen suchte: „Jeder Weg der Demonstration «gehe in den Fatalismus aus- — und der von dem orthodoxen, dem blinden, ode? Wunderglauben nichts wissen wollte, aber dennoch die Religion auf einen Glauben gründete, den die Vernunft nicht ge­ ben kann. Wenn sich nun der Eklektiker über den Zusammenhang der Religion und Moral kaum ohne Widersprüche erklären kann, wenn er bald die eine der anderen, bald die andere der einen zum Grunde legt, bald beyde aus ganz verschiedenen Quellen her­ holt: so werden Sie, lieber Freund, ohne Zweifel mich warnen, die Schuld davon ja nicht der Philo­ sophie anzurechnen. Aber ich werde Ihnen die Un­ schuld ihrer Freundin nicht eher eingestehen, bis Sie mir das philosophische Werk aufweisen, welches die gänzliche Verschiedenheit zwischen den Erkenntniß­ quellen der Religion und Moral nicht vielmehr be-

Fünf t er Br i ef .

159

günstigst, als aufgehoben halte. Oder nennen S ie dies Religion von Moralableitcn : wenn man die so genannten Pflichten der Religion aus dem Sittengesehe demonstrier, den Grund aller Religion aber, die Ueberzeugung vom Daseyn und den Eigenschaf­ ten der Gottheit, außer dem Felde der praktischen Vernunft aufsucht, und noch dazu von einer Wissen­ schaft borgt, die durch die Vieldeutigkeit ihrer Grundsähe, durch welche sie das Daseyn und das Nichtseyn der Gottheit mit gleicher Leichtigkeit be­ weist, theils ihre eifrigsten

Anhänger im

ewigen

S treiterhält, theils die Gleichgültigkeit und V e r­ achtung unbefangener Zuschauer auf sich zieht? Und ist es nicht eben der streitige metaphysische Erkenntnißgrund, für das Daseyn Gottes, der durch die Ungleichartigst feines Ursprungs sowohl als seiner Evidenz bi* Religion von der M oral trennt? Kann wohl der Philosoph hoffen, das Recht der Vernunft, in den Angelegenheiten der Religion zuerst zu spre­ chen, gegen diejenigen behaupten zu können, die ihm einen von der Vernunft unabhängigen G l a u b e n aufdringen wollen: so lange er selbst genöthiget ist, seinen Gegnern ein W i s s e n aufzudringen, das in seinen Gründen eben so wenig allgemein einleuchtend ist, und mit den Gründen der M oral eben so wenig nothwendig zusammen hängt, als der b l i n d e G l a u b e n , den es verdrängen soll? Um also die Religion vollständig und allgemein einleuchtend auf Moral zu gründen, müßte die Phi-

i6o

F ü n f t e r Br i ef .

losophie, e r s t e n s , den Ueberzeugungsgrund für das Daseyn und die Eigenschaften der Gottheit aus den Principien des SircengeseheS ableiten, zwey, t enö, diesen mor al i schen E r k e n n t n i ß g r u n d als den E i n z i g e n

geltend machen.

D a s Erste

wird ihr nicht besser als bisher gelingen: D a s Zwey» te aber ist schlechterdings unmöglich, wenn sie nicht die beyden anderen unstatthaften Erkenntnißgründe zugleich hinweg räumt, und folglich an dem M e t a » physischen eben so deutlich d e n M i ß b r a u c h d e r V e r n u n f t aufdeckt, als sie an dem Hyperphysisthrn den E i n g r i f f i n di e Recht e de r V e r » n u n ft zu erweisen hat.

D ie eine Hälfte des Pro»

blemeS, welches unsre Philosophie zum B ehuf der Religion aufzulösen hatte, wäre also:

»D ie Nich-

„ tigkeit der metaphysischen Beweise nicht nur ohne »Nachtheil, sondern zum Besten der vernünftigen »Ueberzeugung vom Daseyn und den Eigenschaften »der Gottheit darzuthun.-—

Ic h glaube mit bestem

Grunde behaupten zu können, daß die P hi ofophie die­ ses Problem vor der K r i t i k d e r V e r n u n f t nicht aufgelöset habe. Namen

von

Alles, was bis dahin in ihrem Supernaturalisten,

atHeist»

fchen N a t u r a l i s t e n und S k e p t i k e r n gegen die metaphysischen Beweise auf die Bahn gebracht wur­ de, traf eben so sehr die Grundwahrheit der Reli» gion selbst, als die Beweise. Form

dieser Beweise, ohne

Da

die

deren

logische Richtigkeit

sie auch keinen denkenden Th e i s t e n getauscht haben würden, gegen alle Dialektik fest stand: so gingen die

fünfter Brief. die Einwürfe gerade auf den I n h a l t , und wur­ den hierdurch eigentliche Gegenbeweise, metaphysi­ sche Gründe des Gegentheils, die alle darauf hin­ aus liefen, daß man der Vernunft das Vermögen das Daseyn Gottes zu beweisen absprach, weil man in ihr das Vermögen, das Nichtscyn Gottes zu be­ weisen, gefunden zu haben glaubte. Auch hievon giebt uns die lehrreiche Streitigkeit zwischen Jacobi und M e n d e ls so hn ein Beyspiel. Ich wähle hiezu den bereits angeführten S a ß , den der Gegner der metaphysischen Beweise aufstellt: „ I e „der Weg der Demoastration geht in den FataliS„nutS aus." Hat cs mit diesem Sahe seine Rich­ tigkeit, und sind alle diese zum Fatalismus führende Wege (oder auch nur ein einziger davon) der philosophirenden Vernunft unvermeidlich, oder durch diese Vernunft unwiderlegbar: so ist der Wider­ spruch zwischen Vernunft und Glauben entschieden; so ist die Vernunft entweder nothwendig ungläubig, oder der Glauven nothwendig unvernünftig; so reißt die Vernunft durch Demonstration ein, was sie durch das Sittcngcseß baut, oder, wie J a c o b i w ill, auf das Zeugniß der Geschichte annimmt. Sind hingegen, wie der vortreffliche Schriftsteller selbst voraus seht, die fatalistischen Wege alle so be­ schaffen, daß sie von der Vernunft für B l e n d ­ werke anerkannt werden können und müssen: so ste­ hen M e n d e l s s o h n s th.eistisehe Beweise wenig­ stens in so weit fest, als sie sich, auch selbst als Blendwerke, durch kein anderes Blendwerk aufhe-

i

Fünf t er Bri ef . bcn lassen.

Und warum sollte der Gläubige aus

zweyen Blendwerken, wovon bas eine seinem G la u ­ ben zu widersprechen, das and re aber denselben zu bestätigen scheint, gerade dieses angreifen, und je­ nes schonen wollen? Sollen nun die metaphysischen Scheinbeweise nicht nur ohne Nachtheil, sondern zum Vortheile des moralischen Erkenntnißgrundes widerlegt wer­ den, so muß dieses nicht durch G e g e n b e w e i s e , sondern durch Gründe geschehen, durch welche alle Gegenbeweise selbst, so gut als die Beweise, aufge­ hoben werden; durch G ründe, welche, da sieden Theisten seiner eingebildeten SchuHwehre berauben, ihn zugleich aller Furcht vor den nicht weniger einge­ bildeten Waffen seiner Gegner überheben.

Noch

mehr! S o ll dem moralischen Erkenntnißgrunde sein Vorzug, als der einzige Probhaltige, auf immer zu­ gesichert, und der Vernunft ihr endloses Bestreben nach neuen Beweisen (welches auch nur durch bloßen Zweifel an der unauSgemachten Unmöglichkeit sol­ cher Beweise unterhalten wurde), auf immer einge­ stellt

werden: so müssen die Gründe, welche die

Nichtigkeit der metaphysischen Beweise für und wi­ der das Daseyn Gottes aufdecken, nicht nur die bis­ her vorgebrachten, sondern alle möglichen Beweise dieser A rt, oder vielmehr ihre M ö g l i c h k e i t selbst treffen; ein Umstand, an den sich nicht denken laßt, bevor cs nicht aus einem allgemein geltenden P rin ­ cip erwiesen ist, »daß die Vernunft kein Vermögen

Fü nfter Brief. „besitze, das Daseyn oder Nichtseyn von G6# jekres einer bloßen I d e e ist also auch nur blo'ß @t* genstand deS Glauben-.

Siebenter Brief. mehr und mehr fest seht?, war also derVernunft aus ihrem Wege zum moralischen eben so unvermeidlich als der historische. I n eben dem Verhältnisse, als der historische E r kenntnißgrund der herrschende blieb, konnte d e rW iderspruch zwischm ihm und dem philosophischen we­ niger zum Vorscheine kommen. gen vieler Weltweisen schienen

Selbst in den A u ­ die V e r n u n f t ­

schlüsse nur gemacht zu seyn, um das Resultat der religiösen Traditionen zu bestätigen, und auch selbst in den für die Philosophie günstigsten Epochen wa­ ren die Gränzlinien zwischen Wissen und Glauben, und zwischen dem Natürlichen und Uebrrnatürlichen keineswegs bestimmt und sichtbar genug, um zu ver­ hindern, daß nicht wieder beyde Erkenntnißqucllen der Religion in eine ei nzi ge zusammen fließen, und die religiöse Ueberzeugung auch selbst in den A u ­ gen der Aufgeklärteren das Ansehen gewinnen muß­ te, als ob sie von der Geschichte d i e M a t e r i e , von der Philosophie aber die bloße F o r m entlehnte. Wenigstens war dies letzte der F a ll, als die Philosophie unter den Handen der n e u e r e n P l a ­ t o » i ker verdorben. und nach und nach zur Theorie desjenigen blinden Glaubens herab gesunken war, der in den darauf folgenden Jahrhunderten zu einer Alleinherrschaft gelangte, welche ihn nach und nach in S ta n d setzte, dem gesunkenen Rom den Scepter über die W e lt durch Aberglauben zurück zu geben.

Siebenter Brief.

•i97

den es durch Despotismus verloren hatte — eine Alleinherrschaft, die ihn zum obersten Princip nicht nur der Theologie und Moral, sondern auch der po­ sitiven und natürlichen Rechte, der Staats- und Kriegskunst, mit Einem Worte aller Ueberbleibfel des menschlichen Wissens machte, die er ihrer äußer­ sten Unentbehrlichkeit wegen nicht hatte vertilgen kön­ nen. Die unterdrückte Vernunft, welcher wahrend dieser ganzen Periode ihrer Dienstbarkeit nichts an­ ders zu thun übrig war, als ihrem Despoten zu stöh­ nen, brachte nun das großeReligionösystem der Unfehlbarkeit zu Stande, das einzige un­ ter allen auf historischem Grunde entstandenen Lehr, gebäuden der Religion, das durch den Zusammen­ hang und die Gleichartigkeit seiner Theile den Na­ men eines Systemes verdient. Die Vernunft hat an demselben alles erschöpft, was sie zum Vortheile des blinden Glaubens thun konnte, alles was sich aus seinem Grundsätze folgern laßt, und gefolgert werden muß. Jeder Anhänger des blinden Glau­ bens hat seitdem keine andere Wahl, als diesem Be, tynntniffe beyzupflichten, oder sich in ungleich größe­ re Widersprüche zu verwickeln; und in dieser Rück­ sicht dürfte es die christliche Welt wohl großentheilS der menschlichen Inkonsequenz zu verdan­ ken haben, wenn sie, wenigstens ihrer einen Halste nach, nicht mehr unter den Befehlen der unfehlba­ ren Glaubensrichter steht. Lassen (Sie mich im Vor­ übergehen anmerken, lieber Freund, daß der verführerijche Reiz, den die Religion des neuen RomS

Siebenter Brief. in Len H anden eines geschickten W erb e rs erhalten kann, hauptsächlich in ihrer systematischen G ru n d la ge liegt, und vielleicht dürften gegen diesen Reiz ge. rade jene protestantischen E iferer am wenigsten gesi­ chert seyn, die nicht begreifen können, wie ein ver­ nünftiger Katholik in dem v o l l e n d e t e n G e b ä u ­ d e ruhig und bequem wohnen, könne, indessen d as Z i o n , welches sie bewachen zu müssen glauben, au s l a u t e r T r ü m m e r n j e n e s G e b ä u d e s besteht. Denkenden Köpfen hingegen kann und m uß die B etrachtung des noch aufrecht stehenden S y s t e m s d e r U n f e h l b a r k e i t d e n Vort hei l gew ahren, daß sie ihnen an einem höchst auffallenden Beyspiele zeigt, wohin die mißverstandene Unbegreiflichkeit des gött­ lichen D aseyns in dem Erkcnntnißgrund« der R e li­ gion führt. D e n n , f ü r s E r s t e : wird diese U n ­ begreiflichkeit nicht aus dem M an g el der Anschau­ ung hergeleitet, die wir unsern V ernunftbegriffcn von der G ottheit nicht unterlegen können ;* ) so wird sie von dem M erkm ale d e s D a s e y n ö , dem sie zu­ kömmt, auf die M erkm ale der bloßen I d e e der G o tth eit, denen sie nicht zukömmt, vom D aseyn des G egenstandes dieser Id e e a u f den G egenstand selbst üb ertrag en, der alsdann nicht mehr durch die reine *) Anschauung ist nur von demjenigen möglich, w as um sere S i n n l i c h k e i t asficiren k a n n ; der 93 e r s t a n d denkt das A n s c h a u l i c h e ; b i t 9 3 e r n u n f t hingegen dasjenige, dem die Form aller Anschauung widerspricht.

S i e b e n t e r Bri ef .

199

Vernunfcidee und ihre durchaus begreiflichen Merkmale bestimmt wird. Im Gegentheil begimnt min die Vorstellung der Gottheit von ihrem unbe­ greiflichen Gegenstände modiflcirt zu werden, hört auf V e r n u n f t i d e e zu sey», und die Gottheit wird unter E i g e n s c h a f t e n vorgestellt, die alle eben so wenig begreiflich seyn dürfen, als ihr D a ­ s e y n , mit Einem W orte, unter l a u t e r G e ­ h e i mn i s s e n . — Z w e y t e n ö : wird jene den Vernunftideen fehlend« Anschauung nicht durch ei­ nen Glauben vertreten, den die Vernunft sich selbst vorschreibt; so muß es durch einen Glauben gesche­ hen , den ihr ein äußeres Zeugniß von Thatsachen oufdringt,und zwar von solchcnThatsachen,die,um baS Unbegreifliche bezeugen zu können, der V ernunft eben so unbegreiflich seyn müssen, als die W ahrheit, die durch sie z ue r s t angekündiget und bezeugt w ird/ mit Einem W orte — W u n d e r . Sollen d r i t ­ t e n s diese G e h e i m n i s s e und W u n d e r bey allen Fortschritten des menschlichen Geistes nichts yon ih­ rer Glaubwürdigkeit verlieren, oder sollen sie viel­ mehr überhaupt Glaubwürdigkeit für alle diejenigen haben, die nicht selbst Augen- und Ohrenzeugen bey der übernatürlichen Begebenheit seyn konnten: so muß der Zeuge, der für ihre Wahrheit bürgt, u n ­ f e h l b a r seyn; und da der todte Buchstabe erst von den Begriffen seiner Ausleger Leben erhält, so muß jener unfehlbare Bürge ein lebendiger, gegen alle Irrthü m er gesicherter Ausleger des S innes seyn, der den Formeln der Geheimnisse, und den Urkun-

S ie b e n te r

200

B rie f.

den der Wunder entspricht; eü muß eine u n f e h l b a r r e K i r ch e geben. D a ß diese Geheimnisse und Wunder * ) m it dem unfehlbaren Glaubenstribunale stehen und fü lle n, beweiset das Schicksal, das so manches von ihnen erfahren hat, seitdem das unpolitische Betragen der Unfehlbaren einen Theil der Christenheit ge nöthiget hat, gegen ihre Unfehlbarkeit zu protestiren.

Frey­

lich herrscht auch noch bey diesem Theile blinder G lau­ be, und wird noch so lange herrschen, als man das Unbegreifliche aus noch unbegreiflicheren Gründen glauben wird.

Allein was ist aus denjenigen Ueber«

bleibseln des römischen Systems geworden, welche unsre Reformatoren mit und ohne ihren W illen bey­ behalten haben, nachdem diese einmal ihren Nach­ folgern das Recht und Beyspiel hinterlassen haben, an den Trümmern zu thun, was sie an dem G an ­ zen gethan haben ? Welcher Unterschied zwischen der katholischen H y p e r p h y s i k , die durchaus sich selbst *) Um einer nur gar zu sehr besorglichen Mißdeutung

vorzubeugen, erklärt der Verfasser, daß hier durchaus nur von solche» Geheimnissen und Wundern die Rebe ist, welche der Vernunft ihr göttliches Recht, bey der religiösen Ueberzeugung zuer st zu spr echen, rau­ ben müssen. D ie Erfahrung hat zwar gezeugt, wie wenig m ir diese Protestation bey unsern philosophi-renden Hyperphysikern, geholfen hat. Allein indem ich auf die Ueberzeugung unheilbarer Metaphysik« und Hyperphysiker gerne Verzicht thue, wünschte ich von der gegenwärtig freylich noch sehr kleinen Anzahl m e i n e s Publikum- um so weniger mißverstanden za

«erden.

Siebenter B r ie f.

201

gleich bleibt, den wesentlubcn Glicderbau ihres Sy» ftemS unverrückt erhalt, :nb bey allen ihren Refor» mationen durch den weltlichen Arm immer nur ihre Außenseite ganz zu ihrem Vortheile verändert, — und der protestantischen, die nicht nur dem imauf* Haltsamen Eindringen der Vernunft von allen Sei­ ten bloß steht, sondern auch sogar der E i n b i i» dungökraft ihrer eigenen Apostel preis gegeben ist, und die durch keineGese llschaft der reinen Lehre verhindern könnte, daß sie nicht durch die in­ neren Uneinigkeiten ihrer Anhänger selbst endlich aufgerieben werden müßte, wenn diese Anhänger nicht durch einen auswärtigen Streit genölhigct wür­ den, gegen gemeinschaftliche Gegner (die N a tu ra ­ listen) gemeine Sache zu machen. — Die Vernunft hatte kaum durch die Wiederauflebung der Wissenschaften im Occidente einigen Gebrauch ihrer Freyheit zurück erhalten; und die Philosophie hatte kaum ihre so lang unterbrochene Beschäftigung mit dem Erkenntnißgrunde der Reli­ gion wieder hervor genommen; als es sich zu zeigen anfing, daß sich die philosophischen Gründe für das Daseyn Gottes und der künftigen Welt mit den historischen nicht mehr so leicht als vorher vereinbaren ließen. I n der Folge wurde der W i­ derspruch zwischen den beyden Erkenntnißgründen in eben dem Verhältnisse sichtbarer, als die Oberherr­ schaft des blinden Glaubens, größtentheils durch al­ lerley äußereVeranlassungen undpolitischeRevolutio»

Siebenter B r ie f .

2 02

nen, abnahm.

D ie Vernunft sollte durch zwey E r -

kreme auf den M ittelweg der Wahrheit geleitet wer­ den.

D ie Hyperphysik hatte, während ihrer golde-

nen Zeit, durch Vervielfältigung ihrer Wunder und Geheimnisse das Unbegreifliche an der Religion

so

weit getrieben, und das Allerheiligste in eine so un­ durchdringliche Dunkelheit gehüllet, daß das B e ­ dürfniß des Uchtes, so bald es nur durch einige Fun­ ken gereizt wurde, so gleich im höchsten Grade ge­ fühlt werden mußte.

D es durchaus Unbegreifli­

chen überdrüssig, schlugen sich selbst denkende Köpfe von nun an mit einer leidenschaftlichen W arm e auf die

S eite

des

Begreiflichen.

D ie theologischen

Id een der reinen Vernunft wurden nun mit Eifer hervor gesucht, und besonders von D e s ca r t es an bis auf unsre Zeiten bis tu einer Vollständigkeit entwickelt, die selbst der Kritik der Vernunft in b i cs ser Rücksicht

wenig mehr zu thun übrig ließ.

M a n war mit den Bedingungen des strengern B e ­ weises näher bekannt geworden, und die Bem er­ kung, daß die Uebereinstimmung unter den M erk­ malen des theologischen Vernunftbegriffes des streng­ sten Beweises fähig w äre, vollendete den metaphy­ sischen Erkenntnißgrund, wozu bereits alle M ateria­ lien in der griechischen Philosophie vorhanden waren, und durch welchen man in der Religion eben so sehr olles Glaubens überhoben zu seyn wähnte, als man sich durch den hyperphysischen zum Verzicht auf al­ les Wissen verpflichtet hielt.

Die augenscheinlichsir Probe, wie nahe die ver­ meintliche De menst rot ion an den Unglauben, den sie eben so sehr als den Aberglauben unmöglich machen sollte, angränzt, hat der S p i n o z i s m u S gegeben, der sich dem metaphysischen Systeme der Theologie gegen überstellte, da Descart es durch die Festsetzung des ontologischen Beweises kaum eben die letzte Hand an dieses System gelegt zu ha­ ben schien. I n einem und eben demselben Begriffe vom allerrealsten Wesen, in welchem der eine gro­ ße Mann das not hwendi ge Daseyn gefunden hatte, entdeckte der andere die ei n zi g eS u b st a n j. Beyde irrten über den Begriff vom göttl i chen D a se y n. Der eine glaubte die Realität desselben out objrktivenGründen von einemGegenstande beweisen zu können, von dem keine Anschauung möglich ist; und der andere glaubte diesem Begriffe die Anschauung des erfüllten Raumes (der Ausdehnung) unterlegen -u müssen, die zu jedem Beweise von der Wirklich­ keit eineö erkennbaren Gegenstandes nothwendig ist. S p i n o z a irrte, indem er demVernunftbegriffe ei­ ne Anschauung aufdrang, durch welche der Ver, nunftbegriff zerstört werden mußte; aber er hatte Recht, daß er sich kein Daseyn ohne Ausdeh­ n ung des Beweises fähig denken konnte. Kant hat unwidersprechlich dargethan, daß der Begriff des D a s e y n s ursprünglich ein Stammbegriff des Ver­ standes ist, der ohne mögliche Anschauung im Rau­ me (Ausdehnung) und in der Zeit durchaus leer, das heißt für unser Erkenntnißvermögen ohne Ger

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S i e b e n t e r B ri ef .

gcnfhnb ist. Sollte dies nicht für manchen Halbtenker Veranlassung gewesen seyn, den Verfasser der Kritik der Vernunft für einen S p i n o z i f t e n zu erklären? Der S p i n o z i s m u s ist aus dem Felde der Metaphysik unzefahr das, was der Katholicismus auf dem Felde der Hyperphysik ist — das System, welches unter allen Systemen der Parthey, zu wel­ cher eö gehört, daö konsequenteste und vollständigste is t, und den Anhängern des metaphysischen Erkennt­ nißgrundes eben denselben Dienst thun kann, den ic h vom Katholicismus in Rücksicht auf die auf­ geklärteren Vertheidiger des hyperphysifchen be­ hauptet habe, nehmlich ihnen die Augen über ihre Grundsätze eröffnen zu helfen. Die Verwechslung der G o t t h e i t mit d e rS in n e n w e l t ist demMetaphysiker unvermeidlich, so bald er auf dem We­ ge der Demonstration über kurz oder lang gewahr wird, daß sich die logische Wirklichkeit von der reel­ len, die bloß Denkbare von der Erkennbaren unter­ scheiden müsse; daß der Unterschied zwischen Denken und Erkennen im Anschauen (das beym lehtern neben dem Denken Statt findet) bestehen; und daß das Merkmal desjenigen anschaulich-wirklichen Gegen­ standes, der keine bloße Vorstellung ist, B e h a r ­ ren i m Raum e, Ausdehnung seyn müsse. Da« her nahm Spinoza nur zwey Attribute des Re­ ellen, Beharrlichen, Substanziellen an: DieAusdehnung, durch welche sich die Substanz als da-

Siebenter Brief.

20g

Bleibende im Raume, als ausgedehnt (dem au# Hern Sinne), und die Vorstellung, durch wel­ che sich die Substanz als Denkkraft (als das durch den inneren Sinn vorstellbare Bleibende) an­ kündiget. Und hier liegt der Grund des einheimischen Streikes, welcher unsre Metaphysik« entzweyt, und der durch jeden Fortschritt unsrer bisherigen Philosophie vielmehr immer weiter getrieben, als beygelegt werden mußte. Der Begriff des göttli­ chen Daseyns wurde von den E in en bey ihren Be­ weisen mit Ausschluß aller Anschauung, und also in wie ferne er bloße logische Bedeutung zuläßt, von den Andern aber mit In b e g r i f f der Anschauung, und also in demjenigen Sinne genommen, in welchem das Daseyn zwar zum Merkmale der erkennbaren, aber eben darum auch nur der anschaulichen Gegenstände wird, und folglich der Idee eines von berSSelt verschiede­ ne n ,nut durchVernunft denkbaren demV erstände unbegreiflichtn Gegenstandes widerspricht. Beyde konnten und mußten also einander widerlegen, ohne darum ihre eigenen Behauptungen durchsehen zu kön­ nen. Der Theist konnte den Vorwurf nicht von sich ablehnen, daß seinem durchaus richtigen Vernunft­ begriffe die wesentliche Bedingung fehle, unter welcher allein ein Daseyn überhaupt als erkennbar erweislich ist; und sein Gegner mußte sich überzeu­ gen lassen, daß sein richtiger Begriff vom erkenn»

206

Siebenter Brief.

baren Daseyn auf die Idee von dem allemalftm Wesen nicht angewendet werden könne, weil sonst der streng erweisliche Vernunftbegriff durch ein ihm widersprechendes Merkmal, das nur aufGegenstande der Sinnlichkeit paßt, zerstört werden müßte. Die K r i t i k der V e r n u n f t tritt zwischen bey­ de ins Mittel, und stndet den eigentlichen S treit­ punkt durch die Verhandlungen der Partheyen selbst schon in so weit erörtert, daß ihr Ausspruch den hel­ leren Köpfen auf beyden Seiten nicht leicht unver­ ständlich seyn kann. Dieser Ausspruch ist im folgcndenResultat ihrerUntersuchungen enthalten: „ Die «Idee H«S unendlichen We s e n s , die von dem «theologischen Vernunftbegriffe unzertrennlich ist, «widerspricht der Anschauung, die sich von demV e­ rgriffe des erkennbaren (durch Verstand und S inn­ lichkeit zugleich vorstellbaren) Daseyns eben so we­ in ig trennen läßt." Hieraus «rgiebt sich also, daß der S p i n o zi st eben so sehr berechtiget war, für die Bedingungen seines Begriffes von erkennbarer Exi» stenz, als der Theist, für die Bedingungen seiner anschauungslosen Vernunftidee, zu streiten; daß aber der eine eben so Unrecht hatte, wenn er mit sei­ nem Begriffe von erkennbarer Existenz die theologi­ sche Vernunftidee widerlegt, als der andere, wenn er das erkennbare Daseyn von dem Objekte jener Vernunftidee erwiesen zu haben glaubte. Denn die Unmöglichkeit der Anschauung, die dem Widersprü­ che zwischen dem Begriffe der erkennbaren Existenz und der Idee der Gottheit zum Grunde liegt, kann

Si e b e n t e r B r i e f .

207

eben so wenig etwas gegen die M ö g lic h k e it und Wirklichkeit des Gegenstandes dieser Idee an sich, als der anschauungrleere Vernunftbegriff an sich etwas fü r die Wi r kl i chkei t dieses Gegen, standes beweisen. Der Theist muß also die Unbe­ greiflichkeit des göttlichen Daseyns zum Vorthci'e des theologischen Vernunftbegriffes einräumen; sein Gegner aber eingestehen, daß diese Unbegreiflichkeit keineswegs von einem Widersprüche von Seiten des Gegenstandes, sondern bloß von dem Man« gel an Anschauung von unsrer S e i t e herrühre; und indem sich auf diese Art der Ei ne mit der Erweislichkeit des Vernunftbegriffes begnü­ gen muß, der Ander e aber gegen dieselbe nichts mehr einzuwenden hat, so bleibt beyden nichts an« deresübrig, als der praktisch enVernunftGe« hör zu geben, die sie zu g l a u b en nöthiget, waS sie nicht b e gr e i f e n können. Wenn man also aus den bisherigen Erkennt« nißgründen der Religion alles Widersprechende Hirn weg räumt, so bleiben folgende drey El ement e der religiösen Ueberzeugung übrig: Erstens, dee nothwendige Vernunftbegriff, oder die m etap hy« sischeJdee von der Gottheit; zweytens, die Unbegr ei f l i chkei t des göttlichen Das e y n s ; und d r i t t e n s , der Gr u n d in der praktisch en V e r n u n f t , welcher den moralischen G l a u b e n nothwendig macht. Diese sind die Elemente des philosophischen Vc r n u n f t g l a u b e n S , oder

208

S i e b e n t e r Brief.

der d e u t l i c h e n E in s ic h t in die durchgängig bestimmte N a tu r der V e r n u n f t, durch welche der menschliche Geist das ih m schlechterdings nichc e r ­ k e n n b a r e Daseyn der nur d e n k b a r e n Gottheit g l a u b e n m u ß ; mit einem G la u b e n , der nicht fe­ ster gegründet seyn kann, als in dem nothwendigen und unveränderlichen Wesen der V e rn u n ft selbst. Diese Elemente machten v o r ihrer Entwicklung das G e f ü h l von der Nothwendigkeit dieses G laubens a u s , und enthielten in so ferne, ohne dafür aner­ kannt zu seyn, von je her den wahren G r u n d aller religiösen Ueberzeugung. — J e n e s G e f ü h l er­ wachte zugleich mit dem m o r a l i s c h e n , von dem es eine nothwendige Folge ist, und mit dem es, im Ganzen genommen, immer einerley Schicksal erfah­ ren hat. D ie selbstthätige Wirksamkeit d e r p r a k ­ t i s chen V e r n u n f t ( d a s G ö t t l i c h e i n u n s ) war also durch die S tim m e des m o r a l i sch e n G er fü h l s die e r st e Aufforderung zum G lauben an die Gottheit. Aber da die Entwicklung der moralischen Begriffe, die durch diesen Glauben befördert wer­ ten sollte, vorher gehen m ußte, bevor die Gesetze tn b Beschaffenheit jener Sclbstthatigkeit d e u t l i c h anerkannt werden konnten; so ist es begreiflich genug, warum eben dasselbe Element der religiösen Ueber­ zeugung, welches seiner Wirksamkeit nach das e rs te w a r , in der Reihe, wie cs zur Evidenz der V e rtiunfteiusichtgelangen konnte, das letzte seyn muß­ te. — D a s erste in dieser Reihe w ar die U n b e ­ gr ei f l i chke i t des g ö t t l i c he n D a s e y n s . Wir

Si ebent er Brief.

209

W ir haben gesehen, wie diese Unbegreiflichkeit, bey der Dunkelheit der beyden übrigen Elemente, noth­ wendig den Hyper physischen Erkenntnißgrund erzeugen mußte, der es jedoch nicht verhindern konn­ te, daß sich ihm nicht der m et a p h y si s ch e Erkennt­ nißgrund entgegen sitzte, nachdem die Vernunft an ihrem n o t h w e n d i g e n B e g r i f f e von der Gott­ heit das an dere Element der religiösen Ueberzeu­ gung deutlich entwickelt hatte. — Die Ursache, warum sich diese beyden Erkenntnißgründe eben so wenig vereinigen lassen, als sie einander verdrängen können, liegt in der N atur der beyden Elemente, aus welchen sie entstanden sind, und die sich ohne D a j w i s c h e n k u n f t des d r i t t e n nothwendig einander ausschließen, ohne sich unter einander auf­ zuheben. Die Un b e g r e i f l i c h k e i t des g ö t t ­ lichen D a s e y n s verträgt sich so lange nicht in ei­ ner und eben derselben Vorstellung eines konse­ quent en Denkers mit dem n o t h w e n d i g e n V e r n u n f t b e g r i f f e von der Gottheit, als nicht der unwiderstehliche Glaubensgrund der pr akt i ­ schen V e r n u n f t entwickelt und anerkannt wird, jener Grund, der den Begriff des Daseyns, das sich hier nicht als er kennbar beweisen laßt, mit dein Vernunftbegriffe, der durchaus, aber auch nur als bloßer Begriff, erweislich ist, zu verbinden nöthiget, und den Ue b e r z e u g u n g s g r u n d der R e l i ­ g i o n vollendet, indem E r dasjenige, was an dem­ selben ewig unerweislich bleiben muß, zu unsrer Be­ friedigung ersehet. — Der unvermeidliche Streit

O

-1 0

Si ebent er B r i e f .

zwischen den Hyperphysikern und Metaphysikern — der gegenwärtig nur darum weniger Aufsehen macht, weil er mehr vor dem Richterstuhle der V e rn u n ft, als vor den Winkeltribunälen des Aberglauben und Unglaubens geführt wird —

muß also das W ahre

sowohl als das Falsche an den beyden angenomme« nen Erkenntnißgründen immer sichtbarer hervor trei­ ben: und so wie auf diese Weise die wirklichen Ele­ mente der relig.ösen Ueberzeugung, die in jedem die­ ser Erkenntnißgründe e i n z e l n enthalten sind, an Evidenz gewinnen müssen; so muß auch ihre U tu V e r t r ä g l i c h k e i t o h n e d a s D r i t t e , welches sie unter einander verbindet, immer einleuchtender werden. — religiösen

W i r können uns also den Gang der Ueberzeugung, so wohl

als die E>U-

stehungSart, die Naturabsicht und das Schicksal je­ ner beyden Erkenntnißgründe, mit ziemlicher Sicher­ heit erklären.

D e r hyperphysi sche und m e t a ­

physische Erkenntnißgrund mußten den m o r a l i ­ schen vorbereiten;

übernatürliche

und n a ­

t ür l i che Religion sollen sich in die sittliche auf­ lösen; A b e r g l a u b e n und U n g l a u b e n werden den V e r n u n f t g l a u b e n

herbey führen

tu

Achter Brief. D a s R e s u l t a t der Kri t i k der V e r n m n f t ü b e r d a s z u k ü n f t i g e Leben. S i e Kritik der V e rn u n ft, hat, wie ich in meinem letzten B riefe erw ähnt habe, den höchsten Grumdsatz aller Philosophie der Religion in der N atu r der prak­ tischen V ern u n ft — welche zugleich die ( E r w a r t u n g e i n e s z u k ü n f t i g e n L e b e n s , und den G la u ­ ben an das D aseyn e i n e s h ö c h s t e n P r i n c i p s d e r s i t t l i c h e n u n d n a t ü r l i c h e n G e s e tz e nothwendig macht — entdeckt, und auf immer fest gesetzt. I c h habe bisher zu zeigen gesucht, daß die in! der philosophischen W elt einst allgemeine Anerken­ nung jenes höchsten G rundsatzes, in w ie f e r n e durch denselben der einzige probehaltige Ueberzeu« gu ngsgrund für das Daseyn G ottes bestimmt w ird, durch den natürlichen G ang der allmählichen Entwick­ lung de- menschlichen Geistes endlich herbey geführt werden müsse, und daß von dieser Anerkennung die allgemeine G rün dung der Religion auf M o ra litä t in der p h i l o s o p h i s c h e n , und die Wieder»,creknigu ng von beyden in der ch r i st l i ch e n W e lt aibhän« ge. Alles dieses muß sich von eben demselben P rin ­ cip der reinen Philosophie der Religion zeigen llaffm, i n w ie f e r n e durch dasselbe auch der einzig,« pro­ behaltige UeberzeugungSgrund vom zuf fi nft t i gt et i L e b e n seine wahre Bedeutung und Evidenz sc h a lt. D ie beyden Glaubensartikel der praktischen Vemium st

212

Achter Brief.

find durch ihre Natur, ihren Ursprung, und ihre Schicksale so innig vereinigt, daß sich fast alles, was m diesen Rücksichten von dem Einen gilt, auch auf den Anderen anwenden läßt. Die Absicht meines gegenwärtigen Briefes ist 2h"rn diese Anwendung, die ich in der Hauptsache Ihrem eigenen Scharfsinne überlasse, durch einige Winke zu erleichtern. Ich unterscheidedas Interesse, welches der Ge­ danke an eine gränzenlose Fortdauer unsers Daseyns für uns haben muß, in das sinnliche und mora­ lische. Beyde verhalten sich gegen einander wie I n s t i n k t und V e r n u n f t , oder bestimmter zu reden, wieder sinnliche, auf bloßes Bedürfniß gegründete, von der Beschaffenheit der Empfäng­ lichkeit und den Gegenständen seiner Befriedigung abhängige Trieb, und die S e lb s tt h ä ti g k e i t des Geistes, die sich bloß nach ihren eigenen Gese­ tzen lenkt. Der sinnliche Trieb der immer nur den Zustand des empfindenden Subjekte«, in wie ferne dasselbe das E m p si n d en d e ist, *) zum Gegenstand Daher die Modifikationen, welche die äußeren Empfindungen durch die fünf Sinne in diesem Le< den erhalten, auch von der Idee des zukünf t i gen so schwer zu trennen find. Wenn es dem gemeinen Manne nicht durch da- Uebergewichl seiner Phanta­ sie über seine Dentkräft unmöglich würbe sich dakünftige Leben als einen Zustand zu denken, in wel­ chem nicht- gefühlt, geschmeckt, gerochen, gehört und gesehen wird; so würde alles sinnliche Interesse dieseLebens durch «ine solche Vorstellung für ihn verloren gehen.

Achter B r i e f . har, wird durch denVerstand, vermittelst des Be­ griffes der Subsistanz zum Streben nach B e h a rr­ lichkeit jenes Zustandes, und durch V e r n u n f t zum Streben!nach gränzenloser Beharrlichkeit bestimmt. Wie denn aber auch immer der sinn­ liche Trieb des Lebens in die Form unsers Begeh» rungsvermögcns eingewebt seyn mag: so ist doch we» nigstenö so viel gewiß, daß er vorhanden ist, und sich selbst bey gesundem Zustande des Leibes und der Seele keine Gränzen sehen kann. Daß das Inte­ resse, welches die Fortdauer unsers Daseyns durch diesen Trieb für uns hat, schlechterdings keinen Ueberzeugungsgrund für die Wirklichkeit dieser Fort­ dauer abgeben könne, bedarf für S ie , lieber Freund, wohl keines Beweises. Das M o r a l i ­ sche hingegen, welches zuerst durch die Kritik der Vernunft in seine reinen Elemente aufgelöset worden ist, hat einen ganz anderen Ursprung. Es grün­ det sich dasselbe auf die entweder bloß gefühlte oder deutlich entwickelte Nothwendigkeit, welche die Ver­ nunft in der ursprünglichen Einrichtung ihrer Natur antrifft, zum Behuf der moralischen GesehgebunA eine Welt anzunehmen, in welcher Sittlichkeit und Glückseligkeit in der vollkommensten Harmonie ste­ hen, und wo der Gegenstand der beydcn vereinigten nothwendigen Triebe der menschlichen Natur, die durch vollkommenste S i t t l i c h k e i t bestimmte höch­ ste Glückseligkeit, oder das höchste G u t des menschlichen Geistes, durch ein endloses Fort­ schreiten und Annähern erreichbar ist. Wenn esan».

ülctu er B r i e f . Hers, wie ich hier nur voraus sehen, nicht beweisen kann, mit dein Grunde dieses Interesses in der Form der Vernunft seine Richtigkeit hat: so ist chier keineswegs um die Befriedigung eines Triebes zu thun, der nicht nothwendiger ist als unser Da­ seyn selbst, mit dem er zugleich aufhören müßte, und der seinen ganzen Zweck völlig erreicht haben würde, wenn er zu unsrer Selbsterhaltung so lange fortwirkte, als wir selbst sind. Sondern es ist hier das Interesse des S i t t en g ese h es selbst, das, von unsern Bedürfnissen und sinnlichen Trieben ganz un­ abhängig, mit denselben in keinem andern Verhält­ nisse steht, als daß es die einen einschränkt, und die andern sich unterwirft; eS ist ein Interesse, das von uns unbedingte Achtung fordert, und das wir anerkennen müssen, wenn 'ch unsere Neigung auch noch so sehr dagegen empört. Und dieses Interesse Ist es, welches schlechterdings und ohne Rücksicht auf unsern Vortheil, die Erwartung eines zukünftigen Lebens nothwendig macht. Es ist die absolute Nothwendigkeit des (wohl verstandenen) Sittengesehes, welche auf die von ihr unzertrennliche Wirklichkeit der Fortdauer unsers Daseyns zu schlie­ ßen nöthiget, nicht weil sonst die Wirklichkeit dieses Gesetzes, die aus seiner absoluten Nothwendigkeit folgt, nicht erweislich wäre; sondern weil die Ue­ berzeugung von der wirklichen Fortdauer unsers Da­ seyns, von der Ueberzeugung von der Wirklichkeit des SittengeseheS in einem und eben demselben Be­ wußtseyn unzertrennlich ist; wenn anders die deutli-

Achter B r i e f .

215

che Vorstellung von dieser Unzertrcnnlichkeit nicht durch metaphysische Vorurtheile über die Natur der Seele, oder durch einen unrichtigen Begriff vom Sittengesehe gehindert wird. Beyde Arten von Interesse am zukünftigen Le­ ben sind in der ursprünglichen Einrichtung desenschlichen Vorstellung-- und Begehrungsvermögens ge­ gründet, und eben darum sind auch beydegleich noth­ wendig. Nichts desto weniger konnte, eben der Na­ tur jener Einrichtung zufolge, das moralische Inte­ resse bey dem Gange seiner allmählichen Entwicklung unmöglich mit dem sinnlichen gleiche Schritte hat­ ten. Bevor jenes auch nur dunkel geahndet werben konnte: mußte das moralische G e f ü h l , wo­ durch die praktische Vernunft ihre Thätigkeit ankün­ diget , bereits erwacht seyn. Bevor es sich auf be­ stimmte und deutliche Begriffe zurück fuhren ließ: mußte die wissenschaftliche Kultur der Moral ziem­ lich weit vorgerückt seyn. Bevor es sich aus feiner ersten Quelle, der Form der praktischen Vernunft ableiten liest: mußte die Kritik der reinen Vernunft diese Form durch eine vollendete Zergliederung des Erkenntnißvermögens entdeckt haben. Bevor es endlich in dieser seiner Ableitung auch nur von den besten Köpfen allgemein verstanden und an­ genommen werden wird: wird die kritische Philoso­ phie durch mehrere selbstdenkende Köpfe bearbeitet, einfacher und faßlicher dargestellt; werden eingewur­ zelte metaphysische und hyperphysische Vorurtheile:

Achter Brief. ausgerettet; wird mit Einem Worte, eine Reforma, tion der Philosophie vorher gehen müssen, von der sich noch immer der g.ößte Theil der Philosophen von Prosession nichts träumen läßt. Eben so wenig konnte da< moralische Interesse am zukünftigen iiben in einer auch noch so dunkeln Vorstellung zum Bewußtseyn des menschlichen Gei« sicögelangen, bevor nicht die V e r n u n f t i d e e von der G o t t h e i t an der Morgendämmerung des moralischen Gefühls sichtbar geworden war, welches einige vorher gegangene Grade der Kultur, die nur im gesellschaftlichen Leben möglich ist, vor­ aus seht. Die gebundenen Geisteskräfte des rohen, noch nicht zum Bürger gewordenen, Sohnes der Natur wurden durch die Befriedigung der sinnlichen Bedürfnisse, und überhaupt, durch die Empfindun­ gen desSichkbaren und G e g e n w ä r t i g e n er­ schöpft; und nur erst im Schoße der Gesellschaft waren ihnen Muße und Veranlassungen aufbehal­ ten, um sich nach und nach zum U n si ch t b a r en und Zukünf t i gen zu erheben. N ur durch die bür­ gerlichen Verhältnisse konnte die Reihe von Erfah­ rungen herbey geführt werden, an der sich die Be­ griffe von Recht und Unrecht, von guten und bösen Handlungen, von Lohn und S trafe, und endlich von einem unsichtbaren Ausspender v o n beyden allmählich zu entwickeln vermochten. D a die Begebenhei t en, woran sich diese Begriffe «läuterten, bestätigten, oder eigentlicher »ersinn#

Achter B r i e f .

217

lic h te n , der S e g e n der dem Rechtschaffenen, und der Fluch der dem Basewichte auf dem F u ß e n a ch fo lg te , fürs erste nichts als zeitliche B e ­ lohnungen und Strafen von dem unsichtbaren Rich­ ter ankündigten; so schrankte sich wohl eine Z e i t l a n g alles, was man von der Gottheit hoffte und fürchtete, auf das g e g e n w ä r t i g e Leben ein; und es wird begreiflich genug, warum man an den Ueberbleibseln der ältesten Geschichte so ungleich äl­ tere und häufigere Svuren des moralischen Glau­ bens an die Gottheit, als der moralischen Erwar­ tung eines zukünftigen Lebens antrifft.

Vielleicht

dürften in dieser Rücksicht diejenigen nicht sehr Un­ recht haben, welche sogar in der ältesten Religions­ geschichte der H e b r ä e r unwidersprechliche Beweist gefunden haben wollen, daß man an die Gottheit weit früher, als an die Unsterblichkeit der Seele ge­ glaubt habe. Die Erwartung von Belohnung und S trafeseht Ueberzeugung vom Daseyn eines Richters vor­ aus;

und zukünftige Belohnungen und Strafen

waren die ersten und einzig möglichen Merkmale, unter welchen sich die Menschen ihre Fortdauer nach dem Tode denken konnten, bevor sie sich den spät entstandenen metaphysischen Begrifferkünstelt hatten. Die Ueberzeugung von einem Unterschiede zwischen der Natur der Seele und des Körpers war es gewiß nicht, was z u e r st den Gedanken eines Lebens nach dem Tode, eines Seyns ohne Körper, der noch heüi

Achter Brief. zu Tage mit so vielen Schwierigkeiten zu kämpfen h a t, weckte, begünstigte, zur Gewißheit

erhob.

Selbst das sinnliche Interesse an der Fortsetzung des Daseyns nach dem Tode hatte zu seiner eigenen Er» Weckung und Entwicklung des früheren, oder wenig­ stens gleichzeitigen Begriffes künftiger Belohnungen und S trafen von nöthen. Denn sollte sich der Trieb zum Leben jenseit- des G rabe- Aussichten eröffnen: so mußte etwas vorhanden seyn, woran er sich fest halten konnte, nachdem ihm der Schauplatz der sichtbaren W e lt , den ihm der Tod auf immer ver­ schließen sollte, nichts mehr anzubieten hatte.

D er

früher entstandene Glaube an das Daseyn Gottes hatte dem menschlichen Geiste eine unsi cht bar e W e l t eröffnet: und je mehr auf der einen Seite die Ueberzeugung von dem übermenschlichen Vergel­ ter de- Guten und Bösen durch Priester und G e­ setzgeber, durch religiöse und politische Einrichtungen eingewurzelt und verbreitet w a r, und je öfter und allgemeiner sich die Bemerkung aufdrang, daß nicht olle ausgezeichnete Rechtschaffene und Bösewichte ihre V e r g e l t u n g

hienieden

empfangen

h a t t e n ; desto unvermeidlicher, interessanter und einleuchtender mußte der Gedanke werden, der den unsichtbaren g e n vorstellte,

Vergelter auch als

zukünftir

und an dem Tode einen Uebergang

in eine andere W e lt finden ließ, in welcher der Mensch, der hienieden v o r G o t t gewandelt hatte, b ey G o t t (im Himmel) ein seliges, derjenige aber, der hienieden ein g o t t l o s e s Leben geführt hatte.

Achter B rie f. weit vom Sitze der Gottheit entfernt (in der Hölle) «in qualvolles Daseyn zu erwarten hätte. Von nun an gab es für den menschlichen Geist eine bestimmte Form, unter welcher er sich in seiner Jugmd ohne Schwierigkeit eben denselben Begriff des Daseyns nach dem Tode denken konnte, der ihm in seinen reiferen Jahren so viele Mühe und Streit kostete, sobald er ihn unter anderen For men zudenken versuchte. Die Hoffnung und die Furcht, die die­ sen Begriff unter jener Form nothwendig begleite­ ten, drückten ihn tief in die Gemüther ein. Beyde Gemüthsbewegungen waren zum Theil natürliche Folgen des Bewußtseyns guter oder schlimmer Handlungen, Aeußerungen, die bey aller ihrer E i­ gennützigkeit dennoch wirkliche Thätigkeit der in der sittlichen Gesetzgebung derselben praktischen V e r n u n f t voraus setzten, welcher der Glaube an ein zukünftiges Leben eben so viel von seinemWachs« th u me, als von seinerEntstehung zu verdanken

hatte. M au trenne von den verschiedenen alten Volks» lehren, und den ältesten philosophischen Hypothesen über das Leben nach dem Tode das offenbar Fabel­ hafte und Widersprechende, das sie sammt und son, ders mehr oder weniger mit sich führen, hebe dasje­ nige heraus, was ihnen sammt und sonders zum Grunde liegt, oder, welches eben so viel ist, sondere alles Gemeinschaftliche von ihnen ab, und setze es, wie billig, auf die Rechnung des gesunden Verstan-

220

Ac ht e r

Brief.

d e s ; und man wird zuverlässig für den Antheil des. selben nid't mehr und nicht weniger übrig behalten, als den B e g r i f f e i n e s g u t e n o d e r s c h l i m­ m e n S ch i ck sa l s nach dem Tode, welches von dem s i t t l i c h e n W andel vor dem Tode bestimmt wird. S o sehr jene Zabel» unv Hypothesen, diesen Begriff verunstaltet haben, so ist es doch augenscheinlich ge­ n u g , daß sie den Schein von W a h rh e it, den jede von ihnen eine Zeitlang behauptet hat, ursprünglich n u r ihm allein schuldig seyn, und daß sie, unabhän­ gig von seinem'.Grunde in der V e rn u n ft, nicht das mindeste zu d e r j e n i g e n Evidenz beytragen konn­ ten, von welcher feine V e r b r e i t u n g , die weiter a ls jede einzelne Volköreligion und philosophische S ekte reichte, und seine D a u e r , durch welche er sie alle überlebte — abhängen mußte. Dieser Begriff also, dessen moralischer Ursprung wohl keinem Zweifel unterworfen seyn kann, liegt d e r j e n i g e n Ueberzeugung vom zukünftigen ^eben zum G runde, die v o r allen historischen Traditionen, und metaphysischen Svcculationen da war (weil sie die­ selben erst veranlaßte),sich bey den unaufhörlichenVer« Änderungen derselben unverrückt erhielt, und n ach ih­ nen allen fortdauern m u ß ; nachdem sie jenen G r a d von allgemeiner Evidenz erreicht haben w ird , zu welchem sie nur auf den Trüm m ernlder Hyperphysik und Metaphysik empor steigen kann. Alle historischen Traditionen und metaphysischen Speculationen g i n g e n von jener Ueberzeugung

Achter B r i e f .

321

aus. Die erst.n Offenbarungen der P r o ­ pheten sowohl, als die ersten Untersuchungen der Philosophen betrafen bloß b:e Beschaf­ fenheit des zukünftigen Lebens. Sie fetzten also die W i r k l i chk ei t besteIben voraus. Diese Voraussetzung hatte keinen andern Grund, alt die in der Form der praktischen 93ermmft bestimmte Nothwendigkeit, zukünftigeBelohnnungen undStras fen anzunehmen. Denn auch selbst alle Nachrichten der Propheten aus der andern Welt, und alle Resulta­ te der Philosophen über den zukünftigen Zustand der Seele, sehten wiederum die künftigen B e ­ lohnungen und S t r a f e n als etwas be­ reits Bekanntes v o r a u s , und alles das Neue, was sie zu dieser vorhergegangenen Ueberzeu­ gung hinzu setzten, bestand in nichts anderem, als in verschiedenen Vorstellungsarten von der Art und Weise der Vergeltung jenseits des Grabes; deren Wirklichkeit an sichselbst so ausgemacht war, daß sie kein Prophet zu offenbaren, und kein Philosoph zu beweisen unternahm — bis nicht eben die Offenba­ rungen und Beweise über die Besechafenheit je­ ner künftigen Vergeltung die Zweifel an der Wirk» l ich keil derselben veranlasset und herbey geführt haben. Allein, gleichwie die Beschäftigungen des menschlichen Geistes bey dieser wich tigen Angelegen­ heit mit der P orauösetzung der Wir kl ic hke it, und der Untersuchung der Beschaffenheit des zukünftigen Lebens begannen, eben so wer­ den sie sich vermittelst der kritischen Philosophie mit

2 22

51 d )tc r B r i e f .

der Ueberzeugung endi gen, daß jene B e schaffienheit nur durch Vernunft denkbar, kei­ neswegs durch Verstand und Sinnlichkeit er kenn­ b a r , u:nb jene Vo r a u s s e t z u n g eben so recht­ mäßi g als n o t h w e n d i g seyn u n d b l e i b e n müsse. S o wie der menschliche Geist von den Gesetzen seiner Natur geleitet wurde, auch bevor er sie ken­ nen gelernt hatte; wie z. B . die Menschen lange vorher Vernunstschlüsse machten, ehe sie wußten, was ein Vernunftschluß wäre; eben so bewirkte das moralische Interesse an der Fortdauer unsers Daseyns Ueberzeugung von der Unsterblichkeit, ohne daß er als der eigentliche, und einzig probehältige Grund jener Ueberzeugung erkannt worden wäre. Diese höchst wichtige Entdeckung war so lange unmöglich, oder mußte wenigstens so lange' nur V e r m u t h u n g bleiben, als nicht die Evidenz des Sittengesetzes durch die Fortschritte der moralischen Kultur jenen Grad von Stärke erreicht hatte, die der Ueberzeu­ gungsgrund von den Grundwahrheiten der Religion haben muß, wenn er als der nur E i n z i g e aner­ kannt seyn, und gleichwohl in dieser Eigenschaft das ganze Gebäude der religiösen Ueberzeugung tragen soll. S ie war so lange unmöglich, als die spekulati­ ve Vernunft in ihrer Selbsterkenntniß nicht so weit gekommen war, daß sie ie Unmöglichkeit sowohl hi, storifd t t als metaphysischer Beweise für das Daseyn und die Beschaffenheit von Gegenständen, die außer»

Achter Brief.

225

halb der Sinnenwelt liegen, einsehen konnte und mußte. Die beyden unstatthaften Erkenntnißgründe, mit welchen sich die religiöse Ueberzeugung wahrend der langen Zwischenzeit beholfen hatte, waren zur Vorbereitung auf jene große Entdeckung schlechter, dingS un en tbehrl i ch. Indem der historische den Grund der Ueberzeugung von einem zukünftigen Leben aus einer ü b e r na t ür l i c he n O f f e n b a ­ rungherleitete, machte er die Beweise, für welche jene Zeiten durchaus nicht empfänglich gewesen wa­ ren, überflüssig, ersetzte sie durch das Gewicht einer untrüglichen Ansehens, und verschaffte damit der Grundwahrheit der Religion jene Fortpflanzung und Verbreitung, die außerdem nicht zu erhalten gewe­ sen wären. W er wird es läugnenkönnen, daß ihm die moralische Kultur in dieser Rücksicht größtentheilr die vielen und wichtigen Vortheile zu danken hatte, welche sie aus der Hoffnung und Furcht des Him ­ mels und der Hölle gezogen hat? D er metaphysische Erkenntnißgrund half durch die scheinbare Evidenz seiner Beweise die reli­ giöse Ueberzeugung fortpflanzen, vertheidigte sieauf der einen Seite gegen die Angriffe der Zweifler, und sicherte auf der andern der V e r n u n f t den E i n ­ fl uß a u f di esel be z u , den ihr der historische Erkenntnißgrund außerdem gänzlich geraubt haben würde.

Endlich beförderte er durch die Streitig-

Ächter Br i e f .

seiten, die er veranlaßte, die Entwicklung und die Selbsterkenntniß der spekulativen V e r n u n f t, ohne welche die Entdeckung und Anerkennung des einzigen wahren Erkenntnißgrundes ein auf immer unauflös­ liches Räthsel hätte bleiben müssen. Auch waren die beyden scheinbaren Erkennt» nißgründe auf dem W ege zu jener Entdeckung und Anerkennung des einzig probehältigen eben so u n» v e r m e i d l i c h als — unentbehrlich. S c h o n der nothwendigeZusammenhang des D a s e y n s G o t t e S mit den künftigen Belohnungen und S tr a f e n macht es begreiflich genug, daß der Erkenntnißgrund für diese in eben dem Verhältnisse historisch werden m u ß t e , als eö der Erkenntnißgrund für jenes ge­ worden war. D ie G o tth eit, die sogar ihr D a ­ s e y n offenbarte, offenbarte sich um so viel mehr auch als Richter der Lebendigen und der T o d te n ; und m an fand diese übernatürliche B elehrung für desto noth­ wendiger, je weniger mcn sich den eigentlichen U r­ sprung einer Ueberzeugung zu erklären wußte, die bey aller ihrer auffallenden Unentbehrlichkeit und V e r ­ breitung, entweder gar keinen begreiflichen G ru n d , oder höchstens nur solche Beweise aufzuzeigen hatte, die theils dem großen Haufen ganz unverständlich bleiben mußten, theils selbst unter den W enigen, die sich damit abgeben konnten, endlose Streitigkeiten verursachten. — B eydes war und ist der Fall bey den m e t a p h y s i s c h e n G ründen für die F o rt auer unsers D a s e y n s; ungeachtet sie aus einer Quelle ge­ flossen

Achter Brief.

225

flössen sind, die jedem denkenden Kcpfe in dieAugen springen mußte. Der auffallende Unterschied zivi» schen den Vorstellungen de6 inneren und des äußeren S i n n e s , zwischen Gedanken und Sensationen, zwischen Bewußtseyn und Bewegung machten diejenige Unterscheidung zwischenKörper und Seele unvermeidlich, auf welche die Metaphysik ihre bekannten Demonstrationen gründete; und dieseDe­ monstrationen mußten in der Folge um so wichtiger und einleuchtender werden, da sie die einzigen Waf­ fen waren, womit sich die Lehre vom zukünftigen Le­ ben sowohl gegen die Bestreiter der Offenbarung, als auch gegen alle diejenigen vertheidigen ließ, welche in der Unbegreiflichkeit eines einfachen Wesens Grundes genug gefunden zu haben glaubten, die Seelein Eine Klasse mit dem Körper zu sehen, und ihr einerley Schicksal mit demselben vorher zu sagen. Allein so unentbehrlich und unvermeidlich die Entstehung und Verbreitung der beyden unächtti) Erkenntnißgründe in Rücksicht auf die bisherige Bildung der praktischen und theoretischen Vernunft gewesen war: eben so unentbehrlich und unvermeid­ lich ist ihre H i n w e g r ä u m u n g in Rücksicht auf den zukünftigen rechten Gebrauch der praktischen und theoretischen Vernunft; oder bestimmter zu reden, so sehr hängt von dieser Hinwegraumung erstens die Wiedervereinigung zwischen Religion und M o­ ral, und zweytens die Rettung drr Grundwahr-

P

Achter B r ie f. heilen der Religion gegen die heutigen Angriffe, und die Festsetzung derselben für alle künftigen Zeilen ab. Wenn Sie bedenken wollen, lieber Freund, daß eine und eben dieselbe Maaßregel der Erste­ hungskunst, welche bey der Behandlung des Kindes unentbehrlich war. dem Knaben, und noch mehr dem Jünglinge verderblich seyn könne: so werden Sie es vielleicht weniger paradox finden, wenn ich behaup­ te, daß eben dieselben Erkenntnißgründe, welche ei­ ne Zeit lang unentbehrlich waren, um der Religion ihren wohlthätigen Einfluß auf die moralische B il­ dung zuzusichern, in der Folge die Religion um die­ sen Einfluß bringen müßten. Lassen Sie mich die­ ses zuerst von dem historischen Erkenntniß« gründe zeigen. Um mir den Weg zu diesem Beweise abzukür­ zen, unterscheide ich die beyden folgenden Satze: „DaS Sittengesktz muß beobachtet werden, w e i l „künftige Belohnungen und Strafen darauf gesetzt „sind" — und: „ W e i l das Sittengesetz beob­ achtet werden m tt ß, sind künftige Belohnungen „und Strafen darauf gesetzt." Die Ueberzeugung von dem ersten dieser Sahe kann zwar Handlungen hervor bringen, die vollkommen die Außenseite und die wohlthätigen äußeren Folgen der moralischen ha« den; sic kann überhaupt als Vorbereitung zur mo­ ralischen Bildung beytragen. Sie kann, sage ich , und sie kann es nur unter der Voraussetzung,

Achter B r i e f .

227

daß die äußere Handlung, wodur ch sich der Gläubi­ ge den Himmel erhandeln, und von der Hölle los kaufen will, zufälliger Weise eben dieselbe ist, wel­ che durch das Sittengefeh vorgeschrieben, und durch den rein vernünftigen Willen, der nichts als die Ge­ setzmäßigkeit der uneigennützigen Handlung zum Ob­ jekt gehabt hätte, erzeugt worden wäre. Allein sie muß jede eigentliche moralische H a n d l u n g unmöglich machen, weil sie die uneigennüHigr Gesinnung erstickt, die der Sittlichkeit wesent­ lich ist. Dem zweyten Sahe hingegen liegt diejeni­ ge Ueberzeugung zum Grunde, welche die,schon für sich fest stehende moralische Gesinnung minder E r­ wartung künftiger Belohnungen und Strafen ver­ bindet; die äußeren Beweggründe der Hoffnung und Furcht der inneren Verbindlichkeit des Sittenge» sehes unterwirft; und die lehtere geltend macht, oh­ ne sie der Unterstühung, die ihr die ersteregewähren kann und muß, zu berauben. taffen Sie uns se­ hen, lieber Freund, welche von diesen beyden Ue­ berzeugungen bey dem historischen E r k e n n t n iß g r u n v e S tatt finde. W ir wollen annehmen, die Quelle der Ueberzeugung von einem zukünftigen teben läge ganz außer dem Gebiethe der Vernunft — und dies müssen wir annehmen, wenn wir sieursprünglichvon einer übernatürlichen Offen­ barung herleiten wollen. I n diesem Falle giebt es zwischen dem Sittengesehe, und den zukünftigen Be­ lohnungen und Strafen keinen, der V e r n u n f t einleuchtenden, nothwendigen Zusammenhang;

228

siebter Brief.

und die geoffenbarte Verbindung von beyden hangt einzig und allein von dein W i l l e n der Gottbeit ab; und noch dazu von einem W illen, der dabey nach keiner Marime z» Werke geht, welche die menschli­ che Vernunft auf die göttliche übertragen hatte, weil sie dieselbe in sich selbst fand; nach keiner Maxime, die der Vernunft begreiflich wäre, und die sich folg» lich auch ohne Offenbarung, hatte angeben laffen müssen. Wenn S i c, lieber Freund, mir hier ein­ wenden wollten: »Die göttliche Vernunft könne durchaus nicht nach demMaaßstabe der menschlichen beurtheilet werben, und ihre Regeln müßten uns schlechterdings unbegreiflich bleiben;" so kom­ men Sie selbst meiner Absicht auf dem halben W e­ ge entgegen. Denn ist die Gesetzgebung, die wir die sittliche nennen, das Produkt einer u n b e g r e i f ­ lichen Vernunft, und eines u»er f or schl i chen W i l l e n s : so ist die innere, der menschlichen V e r­ nunft einleuchtende Nothwendigkeit, wodurch sich die sittlichen Gesetze von den posi t i ven unter­ scheiden, eine bloße Täuschung, und wir folgen bey der Beobachtung des Sittengesehes keineswegs un­ srer eigenen Ueberzeugung, der sel bst t hät i gen Leitung unsrer Vernunft, der Neigung unseres ver­ nünftigen Willens, sondern der Uebermacht eines fremden Willens, dem es eben darum, weil er sich durch uns unbegreifliche Gründe bestimmt, ewig un­ möglich bleibt, uns von der Re c h t mä ß i g k e i t sei­ ner (Jeborhe zu überzeugen, und der sich damit be­ gnügen muß, uns durch Hoffnung und Furcht zu ei-

Achter Brief.

229

nem eigennützigen sklavischen Gehorsam zu zwingen. S o ll also die Sittlichkeit von der Offenbarung nicht vielmehr ganz aufgehoben, als unterstützt werden: so muß die letztere die Vernunstmaßigkeit der sittli­ chen Gesetzgebung, und mit derselben «ine nothwen­ dige, der Vernunft begreifliche, und folglich auch, wenigstens ihrerDenkbarkeit nach, erweiölicheVerknüpfung zwischen dem Sittengesetze, und den zukünf­ tigen Belohnungen und Strafen voraus sehen; so muß sie der Vernunft das Recht einräumen, bey der Ueberzeugung von dem zukünftigen Leben zuerst zu sprechen; so kann sie keineswegs den ersten, höch­ sten, mit einem W orte, den eigentlichen Erkennt­ nißgrund für diese Grundwahrheit der Religion ab­ geben *) Ueberall und zu allen Zeiten, wo die O f f e n ­ b a r u n g für diesen Erkenntnißgrund gegolten hat, war die Religion von der M oral getrennt, oder hat es vielmehr zwey verschiedene Sittengesehe gegeben, ein N a t ü r l i c h e s und ein U e b e r n a t ü r l i c h e S ; die mit einander in einem unaufhörlichen Streite wa­ ren.

Eine nothwendige Folge davon w ar, daß bis

Religion derjenigen, die sich Christen nannten, mit ihrer Sittlichkeit gemeiniglich im umgekehrten V e r­ hältnisse stand, und daß es Zeiten gab, wo die Leh, *) Es ist also hier n ic h t von der Möglichkeit und Um entbehrlichkeit der O f f e n b a r u n g ü b e r h a u pt in Rücksicht auf das zukünftige Leben die Rede. A n m ert. f ü r mei ne hyperphysischey W i d e r l e g e r .

2ZO

A chter

B rief.

rer des Christenthums feverlich erklärten der un­ schuldigste und rechtschaffenste Lebenswandel, in so ferne er von der Gelehrigkeit gegen die Aussorüche der natürlichen Vernunft herrühre, könne nicht ein­ mal vom ewigen Feuer retten, viel weniger zur E r­ wartung einer künftigen Glückseligkeit berechtigen. Die christliche Moral, war wirklich so u n b eg r ei f* l i chgeworden, als der Wille der Gottheit, wovon sie hergeleitet wurde, und welchen man entweder durch unmittelbare Erleuchtung von oben herab, oder wenigstens eben so sehr aus den Religionsbüehern der Hebräer als von den vier Evangelisten, nach der Auslegung einer unfehlbaren Kirche, erfah­ ren zu müssen glaubte. Wer vermag die Unge­ reimtheiten und Abscheulichkeiten aufzuzahlen, die der historische Erkenntnißgrund durch diese Kanäle über die vortreffliche Lehre deö Evangeliums gebracht hat? Man entsagte dem Gebrauche der Vernunft in der Religion, das heißt, gerade in derjenigen Angelegenheit, wo er am unentbehrlichsten war; er­ hob sinnlose Schulformcln in den Rang der Grund­ wahrheiten der Religion, und den blinden Glauben an offenbare Widersprüche zur ersten Bedingung des göttlichen Wohlgefallens z verschwor den Ehestand, und mit ihm alle übrigen Pflichten gegen die Gesell­ schaft ; bestrafte die Verschiedenheit der Religions­ meynungen mit Feuer und Schwcrd u. s. ro. Der Ueberzeugungsgrund, warum man dies olles thun müsse, war der unbegreifliche W i l ­ le der Gottheit; und der B ew egg ru nd, warum

Achter Brief.

231

man cs wirklich that, Hoffnung des Himmels und Furcht vor der H ölle; ohne welche man eS sehr überflüssig gefunden haben wurde,, sich nach jenem unbegreiflichen W i l l e n zu richten. Noch galten unter dem Namen der zehn Ge» böthe einige Naturgesehe, freylich nicht als sitt­ lich , aber doch wenigstens als positiv. Sie hat» ten ihre Erhaltung größtentheils ihrer äußersten Un­ entbehrlichfeit, mit unter auch wohl dem geistlichen Schöppenstuhle über -ie Gewissen zu danken, der aus ihren Uebertre tungen seine besten dienten zog, aber dadurch die Menschheit auch sogarum den größten Theil des äußerenWohlstandeö brachte, den ihr sonst selbst die blinde und unmoralische Beobach­ tung jener Gebothe hätte gewähren müssen. Die Lehre von der Schlüsselgewalt und den genugthuenden B u ßw e rk en privilegirte end­ lich alle Schandthaten, indem sie die Furcht vor ei­ ner zukünftigen Strafe, worüber man sich mit den Priestern absinden konnte, überflüssig machte. Und doch ist diese abscheuliche Lehre nichts weniger alö ui* gereimt, wenn man den historischen Erkenntnißgrund, als den einzig probehaltigen voraus seht. Denn warum sollte der unerforschliche Wille,:>der nach keinem uns bekannten Vernunftgefthe»handelt, eine Verbindung zwischen Gesetz und Vergeltung, die bloß auf seiner Willkühr beruht, nicht aufheben können, so oft es ihm beliebt, wie er die physischen

Acht er B r i e f . NlatuirgeseHe in den Wunderwerken zum Behuf der Durchsetzung seiner übernatürlichen Absichten üi'pcnfcirt? Waruim feilte er die Vollmacht >ener Aufhcbumg nicht an, dnc,enigenübertragen, welche uns sei­ ne gehcinmißweUen Decrete, die mir ohne Ankündi­ gung nie erfahren kennten, anzukündigen bestellt sind? Warum sollen die Bedingungen, an welche diese Gewalthaber die Nachlassung der Strafe knü­ pfen, eben v e r n ü n f t i g seyn, da die Vernunft schon an der Verknüpfung deß Gesehcs und der Vergeltung keinen Antheil hatte? Seitdem es den Protestanten gelungen ist, sich von der Bothmäßigkeit dm nur in so ferne Wohlgefallen finden, als dieser m v v r Eigenschaft einer reinen Intelligenz handelte, und folglich allen denjenigen Trieben entgegen arbeitete, die ihren G ru n d im organischen Körper hatten ; und als ü b e r n a t ü r l i c h e I n t e l l i g e n z konnte die G ottheit auch nur diejenigen g e i s t i g e n H andlun­ gen der menschlichen Seele billigen, die n i ch t a u S n a t ü r l i c h e n Beweggründen, sondern lediglich um der Gottheit willen, und durch unmittelbaren Einfiuß der Gottheit unternommen und ausgeführt wurden. D a h e r erklärten die christlichen M vstagogen nicht nur jede Befriedigung der sinnlichen Trie­ be, sondern selbst das Denken für u n h e i l i g , so­ bald dasselbe durch keine übernatürliche Erleuchtung des heiligen Geistes geleitet wurde. D a diese E r ­ leuchtung in Rücksicht auf die G rundwahrheiten der Religion nur den die Kirche reprasentirendcn Bi# schössen zu Theil w u rd e : so wurde selbst das Denken über die G o tth eit, in wie ferne dasselbe von den Glaubensformeln abwich, für eine unnachlaßliche S ü n d e gegen den heiligen Geist erklärt; wahrend die Befriedigung der sinnlichen Triebe, in wie ferne sie zur Eristenz der Gläubigen als conditio sine qua non unvermeidlich ist, auf Nachsicht von der B a r m ­ herzigkeit G ottes zahlen konnte. Auch bey dieser Id e e der mystischen M etap h y­ sik trifft der ungebildete gemeine Menschenverstand mit der verirrten phllvsophirenden V e rn u n ft auf eben

ZwölfterBrief.

357

eben demselben Abwege zusammen, und macht uns die schnelle und allgemeine Verbreitung derselben in der christlichen Welt, und die wichtige Nolle, welche ste in der Volksreligion gespielt hat, und zum Theile noch spielt, sehr begreiflich. Ich befinde mich hier bey dem Punkte, wo sich Metaphysik und Hyperphysik einander die Hand bieten. Denn ungeachtet die letztere, von philosophischen Köpfen bearbeitet, Materialien zu einem Systeme enthalt, das so gut als irgend ein anderes der bisherigen den Namen eines Phi l osophi schen verdient: so gehört sie doch, in wie ferne sie auf über natürl i che Fakt a gebaut ist, dem nach dem Zeugnisse der Sinne urtheilen­ den gemeinen Verstände an, den die philosophirende Vernunft bey mancher Verlegenheit mit Recht und Unrecht zu Hülfe zu rufen gewdhnt ist. Wenn Nationen, die noch nicht aus dem Zu­ stande der Barbarey heraus getreten, oder in densel­ ben zurück gesunken sind, auf was immer für einem Wege dazu gekommen sind, einen von der N a t u r verschiedenen G o t t zu glauben: so werden sie diesen Gott der N atur, eben so wie die Seele dem Leibe, im geraden Widerspruch entgegen sehen, aber ihn auch zugleich in eben dem Verhältnisse mit der Natur verwechseln, als sie mit der Natur noch unbekannt sind. I n der Dämmerung der Vernunft kann der Uebergang von der nächsten be­ sten natürlichen Wirkung zu einer übernatürlichen Ursache ohne einen merklichen Sprung geschehen.

Aa

z§8

Zwöl fter Bri ef.

Das wenige B e k a n n t e

ist dein

Goltekverehrer —

N atu r,

Unbekannte —

G ott,

das

unwissenden u n e nd l ic h e

und er steht sich ge-

nöthiget, allenthalben, wo er nicht die sicktbareHand der Einen antrifft, dieunsichtbare des Andern anzu­ nehmen. D ie Glieder der Kette, an welcher jede ein­ zelne Begebenheit hangt, find in den meisten F a l­ len allen menschlichen Augen verborgen; nur der letzte R in g , der fie alle an J u p i t e r s Throne fest h a lt, ist groß und scheinbar genug, um allgemein bemerkt zu werden. DieS gilt besonders von den schreckbaren Naturerscheinungen

während der

Jugend des menschlichen Geschlechtes.

früheren

Je u n g e ­

w ö h n l i c h e r eine solche Erscheinung war, umso viel weniger fand der rohe und unersahrne Sohn der N a tu r in der Reihe seiner bisherigen Erfahrungen etwas, das er (ich als Ursache davon angeben konnte.

Je f ü r c h t e r l i c h e r sie war, destomehr

bekümmerte er sich um ihre Ursache, und desto ge­ neigter war er, dieselbe außerhalb der Reihe seiner Erfahrungen (außerhalb der N a tu r) aufzusuchen. J e g r ö ß e r sie war, je unermeßlicher für seine be­ täubte

Vorstellungskraft, desto

augenscheinlicher

wurde ihm die unbekannte übernatürliche Ursache. S o verschieden nun auch Begebenheiten dieser A rt von einander seyn mochten; wenn sie nur un ge­ w öhnlich,

fürchterlich,

und g r o ß waren:

so führten sie ihn immer auf ein und eben dasselbe

Zw ölfter Brief.

359

unbekannte übernatürliche W esen zurück, das sich bey jeder ähnlichen Gelegenheit seiner Phantasie tie­ fer eindrückte. B e y dem immer zunehmenden D ran g e, ein ihm so wichtiges W esen naher kennen zu lernen, w ar nichts natürlicher, als daß er die E i­ genschaften und die S in n e s a rt der G ottheit au s dem, w as er sie w i r k e n , und folglich auch wol» l e n ließ, errathen zu können glaubte. D a G o tt im mer das U n g e w ö h n l i c h e , die N a tu r aber das G e w ö h n l i c h e wirkte und wollte: so entwickelte sich nach und nach die Id ee e in tS W iderspruches in der W eise zu handeln und zu wollen zwischen G o tt und der N a tu r. S ie h a n ­ d e l t e n einander e n t g e g e n , und wo man in der N a tu r einen W illen annehmen zu müjfcn glaubte, da setzte m an einen das Gegentheil der G ottheit w o l l e n d e n , einen b ö se n Geist hin. D a G o tt immer das S c h r e c k b a r e , die N a ­ tu r aber das A n g e n e h m e that und w ollte: so w urde der erw ähnte W iderspruch viel auffallender. B e y den Fröm m eren, oder, welches in jenen Zeiten eben dasselbe w ar, bey den F u r c h t s a m e r e n , m ußte m it der Ehrfurcht vor dem Urheber des Schreckbaren, gegen die wirkende Ursache des Ange­ nehmen eine A rt von Gleichgültigkeit entstehen, die besondere bey lang anhaltenden Beängstigungen in V erach tung überging. Hierzu kamen noch die schlimmen Folgen des nur zu gewöhnlichen M ißbrau-

Zwölfter Brief. cheS im Genusse des Angenehmen. Dasjenige, was den Unbesonnenen zu Handlungen, die ihn un­ glücklichmachten, verleitet halte, war angenehm; dasjenige, was ihn von solchen Handlungen zurück hielt, schreckbar. Die unbestimmten Begriffe vom Angenehmen, Besen und Natürlichen einerseits, andrerseits aber vom Sch» eckbaren, Guten und Gött­ lichen stoffen in zwey dunkle Hauplideen zusammen. Es schien ausgemacht, Gott bringe eben so sehr aufs E n t b e h r e n , als die Natur aufs Ge n i e ­ ßen. Der Schmerz wurde heilig, die Freude un­ heilig; Erzeugen Naturdienst, Zerstören Gottesdienst. M an glaubte durch Überschwemmungen, Erdbeben u. f. w. und hauptsächlich durch den Blitz­ strahl erfahren zu haben, waö der heilige und wohl­ gefällige Wille Gottes wäre; eilte mit B r a n d ­ o p f e r n von Früchten, Thieren und Menschen her­ bey, und brachte lieber freywillig etwas, um nicht gezwungen alles hingeben zu müssen. Die Natur starker als alle Vorurtheile, hatte sich indessen gleich­ wohl im Besitze derjenigen Genüsse, von denen die Fortdauer sowohl der Individuen als der Gattung abhangt, erhallen; und die Menschen waren sich be­ wußt, von Zeit zu Zeit der Natur durch solche Ge­ nüsse gedient zu haben. Sie zitterten daher vor den schlimmen Folgen, und suchten ihrer lästigen Furcht dadurch loö zu werden, daß sie die Gottheit von Zeit zu Zeit durch freywilliges Entbehren, durch Schmer­ zen und Zerstören besänftigten.

Zwölfter Brief.

z6r

D er Um'»and endlich, daß man die g r oße n Begebenheiten immer von Gort; die kleineren hin­ gegen von der N atur herleitete, mußte die Entge­ gensetzung zwischen Gott und N atur aufs höchste treiben.

Indem man Gott selbst unmittelbar das­

jenige wirken ließ, was über die bekannten Kräfte der Natur hinaus zu gehen schien; ließ man ihn zu­ letzt auch fast nichts mehr wollen, als was über die Kräfte der Natur wirklich hinaus ging. D er Mensch hatte nicht natürliche Kräfte genug den Forderun­ gen Gottes an ihn Genüge zu thun; er mußte mit übernatürlichem Vermögen, mit dem, was man in der Folge in den theologischen Schulen G n a d e nannte, von oben herab ausgerüstet werden, wenn er etwas vornehmen sollte, was weder böse noch gleichgültig, das heißt weder im Widersprüche noch im Gegensatze mit dem Willen Gottes stehen sollte. D ie N a tu r, der man nur Kleinigkeiten zutraute, sank immer tiefer in den Augen der Frömmigkeit her­ ab, in dem Verhältnisse, als sich von Zeit zu Zeit wahre und eingebildete Bedürfnisse zeigten, die man durch keine natürlichen M ittel zu befriedigen wußte. B ey allen diesen Gelegenheiten wurde man gewohnt, die Gottheit herbey zu rufen, die N atur vorbey zu gehen, und sich selbst aller M ittel zu berauben, um seinen Zweck desto gewisser zu erreichen. Die Auf­ lösung schwerer Aufgaben für den Verstand wurde von

Geheimnissen,

den

Gedanken Gottes;

und die Ausführung schwerer Unternehmungen von W u n d e r n , den Handlungen Gottes, erwartet^

Zwölfter Brief.

362

D e r Maaßsiab, womit die Größe einer W i r ­ kung gemessen wurde, war die Starke des ss nl chm Eindruckes und des sichtbaren Aufwandes Kräften.

von

Es konnte daher nicht fchUn, daß man

in jenen Zeiten oft an sich sehr unbedeutende Bege­ benheiten auf die Rechnung G ottes, sehr wichtige hingegen auf die Rechnung der N a tu r sehte. N cht nur an der majestätischen Stim m e des Donners, auch an den gichtifchen Verzerrungen der P y t h i a erkannte man den gegenwärtigen G ott.

Hingegen

erklärte man noch in den spatesten Zeiten die Tugen­ den eines S o k r a t e ö

für glanzende Lasier, weil

man sie den natürlichen Kräften dieses M annes, und keiner theologischen Gnade zuschrieb. W a s dem Urheber der schreckbaren N aturer­ scheinungen gefallen sollte, mußte gewaltsame A n ­ strengungen gekostet haben.

W a s mit Leichtigkeit

und Lust geschah, war entweder gleichgültig oder bö­ se.

D ie (Schwierigkeiten, die man beym Opfern,

Entbehren, und Selbstpeinigen fühlte, theilten daher der Heiligkeit dieser Gebräuche eine besondere S a n k ­ tion m it; und machte, daß man daö leichte Genie­ ßen um so viel unheiliger fand.

W enn man sich bey

Opferschmausen mit freyerem Gewissen und reichli­ cher als sonst gütlich t h a t : so geschah e§, weil man sich durch vorher gegangenes Fasten, und durch die Brandopfer die Erlaubniß, oder wenigstens die Nachsicht der Gottheit eingehandelt zu haben glaubte.

Zwölfter Brief.

z6z

I n dem V erhältnisse, als die E rfahrungen deö menschlichen G eschlechtes, und m it denselben die B e k a n n t s c h a f t m i t d e r N a t u r zunahm , nahmen die ungewöhnlichen schreckbaren und auf­ fallend großen Erscheinungen a b , und das 93orur­ theil des W iderspruches zwischen G o tt und der N a ­ tu r fand in so ferne immer weniger N a h ru n g . Al­ lein dieses gilt auch nur von der physischen N a tu r. D e r sinnlich vorgestellte W iderspruch zwischen ihr und der G ottheit w ar endlich in helleren Zeitaltern beynahe ganz verschwunden, und die übernatürlichen K räfte wurden nur bey außerordentlichen Gelegen­ heiten in B ew egung gesetzt, nicht um der N a tu r entgegen zu wirken, sondern ihre unzureichenden K räfte zu erhöhen oder zu ersehen. D e r m o r o I i« sche W i d e r s p r u c h hingegen zwischen G o t t und dem M e n s c h e n blieb nicht nur übrig, sondern er­ hielt m it jedem unauflöslichen Problem e über die un­ zähligen C o l l i s i o n e n z w i s c h e n S i n n l i c h ­ k e i t u n d V e r n u n f t neue B estätigung. D ev sinnliche T rieb hieß der m e n s c h l i c h e , oder auch der n a t ü r l i c h e , sich selbst überlassene W ille ; die bis dahin n ur durch V erbothe sich äußernde moralische V e rn u n ft, hieß der W i l l e G o t t e s . D ieser W iderspruch w urde endlich vom W i l» l e n auch au f die d e n k e n d e V e r n u n f t ausge­ dehnt. I h r e W e ish e it, m it welcher sie natürlicher W eise in sehr vielen Fällen die Forderungen des sinn­ lichen Triebes gegen mißverstandene R eligiosität in

5^4

Zwölfter Brief.

S c h u h nehmen mußte, wurde T h o r h e i t vor G o tt- J e öfter sie bey fortschreitender K ultur mit Zweifeln und Einwendungen gegen die herrschende VorsiellungSart von der G o tth e it, und gegen die Glaubensartikel a u ftra t, desto mehr wurden die Priester und frommen sayen in ihrer M ey n u n g von der Verkehrtheit und Unheiligfeit der natürlichen V ern u n ft bestärkt. S i e hatte durch die Erbsünde eben so sehr gelitten, als der Wille.. Beyde waren durch natürliche M ittel unheilbar; der V e r n u n f t konnte nur durch G e h e i m n i s s e , dem W i l l e n nur durch W u n d e r geholfen werden, und ihre W i ­ derspenstigkeit gegen die unbegreiflichen Gedanken, und den unerforschlichen Willen G o tte s, war durch nichts zu bändigen, als durch b l i n d e n G l a u b e n , und b l i n d e n G c h o r s a m. Allmählicher U e b e r g a n g aus der He r r s c h a f t des bloßen I n s t i n k t e s zur S e l b s t b e h e r r s c h u n g durch Vernunft, scheint mir das endliche Resultat der G e s c h i c h t e de r M e n schhci t . W en n man den P u n k t, von dem die Menschheit ausgegangen ist, mit demjeni­ gen, dem sie sich nähern muß, vergleicht: so «giebt es sich, daß eine Zeit gewesen ist, in welcher die G ei­ steskräfte des Menschen zu schwach waren, und daß eine Zeit kommen m u ß , in welcher sie zu stark seyn w erden, um das Joch des blinden G laubens und G ehorsam s zu ertragen. N ie waren die Menschen der G ottheit naher, als in diesen Zeiten, in welchen

Zwölfter Brief.

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sie, dem Urtheile der Frörnlerzunft zufolge, am m ei» sien von ihr entfernt seyn sollten. I n der Periode bet bloßen Instinktes und der gänzlichen U nthätigfeit der V e rn u n ft, da die junge Menschheit als S ä u g lin g am B usen der N a tu r lag, und weder von metaphysischen Id e e n noch hyperphysischkn G laubensartikeln träum te: o f f e n b a r t e ihr der Urheber der N a tu r feinen W illen durch die S tim m e ihres ungebildeten aber auch unverdorbenen Herzens. S ie erfüllte fein Geseh durch die B efrie­ digung ihrer unschuldigen Triebe, wurde bey jedem ihrer S ch ritte von ihm selbst geleitet, und w ar voll­ kommen E in es S in n e s mit ih m , ohne daß sie ihn v o n d e r N a t u r , dem O rg a n e, durch welches er ihr allein sichtbar werden konnte, zu u n t e r s c h e i ­ d e n ver mochte. W ährend dieser reinsten und unm ittelbarsten G em einschaft, die zwischen G o tt und Sterblichen o h n e V e r m i t t e l u n g d e r V e r n u n f t S t a t t finden kann, erfuhren sie genau so viel von ihm , als E r sie erfahren lassen wollte. D ie Zunahm e der Bevölkerung legte dem menschlichen Instinkte bald genug Hindernisse in den W e g , die n u r durch eine K ra ft nach und nach über­ w unden werden konnten, welche bis dahin als bloßes V erm ögen unentwickelt in dem Menschen lag, und die allein durch einen langwierigen und schweren K a m p f m it jenen Hindernissen zur siegenden S tä rk e u n d freyen Wirksamkeit gelangen sollte. D iese-

366

Zwölfter Vrief.

selbstthätige Vermögen heißt V e r n u n f t . Ih r unentbehrlicher durch äußere Umstände veranlaßter Gebrauch während deS Zustandes i hr er S c h w a c h e hatte in dem Natursinne des Menschen jene Unordnung hervor bringen müssen, durch welche die vorige Harmonie mit der Gottheit auf lange Zeit zerstört wurde. Der erste Schritt der V er­ nunft war durch einen F a l l begleitet, war Entfer­ nung von der N atur, und der, durch die Natur lenkenden, Gottheit. Es gehören Jahrtaufende von vielfältigen mei­ stens traurigen Erfahrungen dazu,bis der f rey ge­ lassene Zögling der Natur aus f r e y e r W a h l nicht weniger richtig wollen lernt, als er im S t a n ­ de der Unschuld aus unvermeidlichem Triebe ge­ wollt hatte; und bis er in der Gesellschaft alsB u rger durch Vernunft das Natürliche, Unschuldige, Gesehmäßige findet, was ihm als bloßen Natu menschen in feinem engen Familienkreis: durch I n ­ stinkt eigenthümlichwar, mit Einem Worte, Vis er sich zur Eintracht zwischen Instinkt und Vernunft empor schwingt. I n der Zwischenzeit, da die Menschheit den unbesonnenen brausenden Jüngling, daS M ittel­ ding zwischen Mann und Kind, verstellte, hatte sie auf er einen dre:te dem Instinkte den vorigen Ge­ horsam aus'. kündiget, und auf verändern erst durch ihre Verirrungen lernen müssen, durch Vernunft

Zwölfter Vrief.

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ihre eigene Führerinn zu ferm. A u s dem zusammen gcschcen dunkln Gefühle ihrer K ra ft und ihrer Ohn* macht, ihres Verm ögens zu herrschen, und ihres Bedürfnisses zu gehorchen, ihrer Abhängigkeit und ihrer Freyheit entstand nach und nach ein I r r t h u m , der endlich allgemein herrschend w urde, und um so tauschender war, je mehr er wirklich von der W ahr« hclt entlehnt hatte. D ie Menschen glaubten zwar gehorchen, aber nur höheren W esen, als sie selbst waren, gehorchen zu müssen; u n b e g r e i f l i c h e n W esen, die ihre Eigenschaften durch andere W ege als die V e rn u n ft; ü b e r n a t ü r l i c h e n Wesen, die ihren Willen durch andere W ege als die N a r u r offenbarten. D ie Schwache der V e rn u n ft, und die Unordnung des Instinktes zusammen ge* nommen, machten diejenige Disposition aus, welche die Menschen nicht wahrnehmen ließ, daß die Ei* genschaften, die sie der Gottheit beylegten, wider* sprechend, und die Handlungen, die sie sich von der* selben befehlen ließen, ungereimt waren. Diese Disposition ist, w as wir heut zu Tage b l i n d e n G l a u b e n nennen. E s thaten sich bald ungebetene V o r m ü n ­ d e r d e r Menschen hervor, die schlau genug waren, u m ausfündig zu machen, daß ein politisches G e ­ bäude, welches m it dem bleyernen Dache des b l i n* d e n G e h o r s a m s gedeckt werden sollte, auf keinem andern G runde fest stehen könne, als auf dem b l i n * den G lauben. S i e t r a t e n als V ertraute und

Zwölfter Brief. Bevollmächtigte der erwähnten höheren Wesen auf, und nahmen in dieser Eigenschaft das Vermögen, die Freyheit, das leben, und da ihnen die V ernunft gefährlich zu werden ansing, auch die V ernunft ih­ rer Untergebenen in Beschlag. noS, N u m a , Lykurg

W enn ein M i»

den Göttern nichts an­

ders >n den M u n d legten, als was ihnen ihre rich­ tigen Einsichten in die Staatskunst, und ihre Liebe gegen ihre Völker eingegeben hatte: so machten sie Ausnahmen von der R egel, nach welcher die vor­ gebliche Gottheit so abscheulich war, als der Unter­ drücker, den sie als ihren politischen Stellvertreter mit u n u ms c h r ä n k t e r M a c h t, und als den Aus­ leget ihres Willens mit U n f e h l b a r k e i t belehnet halte. N iem als, und nirgendwo war das v o l l k o m­ menst e' Wesen den Menschen fremder geworden, als wann und wo cs von Abgesandten undD ollm aschcrn höherer Wesen wimmelte; wo alles im N a ­ men der Götter geschlichtet wurde, wo alles überna­ türlich zuging.

N ie kannte man den Urheber der

N atu r weniger, als da man lauter bestimmte E r­ fahrungsbegriffe von ihm zu haben glaubte, nach welchen es eine allgemein ausgemachte Sache schien, daß er seine Macht nur durch W u n d e r , und seine Weisheit nur durch G e h e i m n i s s e offenbare, und daß man nur durch blinden Giauben an unbegreifli­ che

(fachen und unverständliche S ä h e auf seine

Güce Ansprüche

machen könne.

Man fürchtete sich,

Zwölfter Brief. ihn zum Menschen herab zu würdigen, wenn man sich seine Macht, Weisheit und Güte durch Ideen der menschliche n Vernunft dachte.

M an legte

ihm daher zwar diese Attribute bey, aber trennte sie sorgfältig von allem Begreiflichen, und unterwarfsie dafür einer Willkühr, die so blind war als das ttn* g e f ä h r und das S ch i cks a l der Afterphilosophie. A uf der andern Seite hingegen trug man kein B e­ denken, ihn als einen D e s p o t e n anzukündigen, der den offenen Blick der Vernunft für Entheiligung seiner Majestät aufnähme; beleidigt, und nur durch B lu t versöhnt werden könne; seine Gunst auf willkührlich gewählte Lieblinge einschränke u. s. w. Lan­ ge genug hat dieser verderbliche Begriff das wohlthä­ tige und

unentbehrliche I d e a l der höchsten

Vollkommenheit

verdrängt, das nur reinen

Herzen offenbar, und nur durch reine Vernunft er­ reicht wird. Lange genug hat er die Menschen in eben dem Verhältnisse von Gott und ihrer Glückse­ ligkeit entfernt, als die Aufbewahrer der Geheimnis­ se und Auöspender der Wundergaben geschäftig wa­ ren, sie der Gottheit näher zu bringen; und nur seit kurzem, und noch bey weitem nicht überall, kann man, ohne Gefahr für einen Gotteöläugner gehalten zu werden, laut sagen: daß jenem Begriffe zum Glücke des Menschen, kein

Gegenst and ent ­

spreche. Nichts ist begreiflicher als wie es zuging, daß sich diese VorstellungSarl so lange unter den M en­ schen erhalte» konnte.

S o wie sich mit den Fort­

schritten der bürgerlichen Gesellschaften die Begriffe

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Zwölfter Brief.

entwickelten, und die Bedürfnisse vervielfältigten fühlten sich die irdischen V i c e g ö t t e r nicht länger gewachsen, ihr inS unermeßliche anwachsendes E i ­ genthum mit Einem Blicke zu übersehen.

S ie theil«

ten sich in zwey Klassen, wovon die eine die Bewa« chung der physischen, und die andere der mo r a » lisch e n Kräfte der Menschen auf sich nahm.

Der

b l i n d e G l a u b e verbürgte beyden ihren Besitz. E s war also sehr natürlich, daß sie ihm auch wieder den (einigen, mit aller ihrer Macht -— das heißt, mit nicht viel weniger als der Sum m e aller phrstfchen und moralischen Kräfte der Menschen — ver­ bürgten.

W a s die einen mit vollen Schatzkam­

mern und

an der Spitze ihrer Reisigen nicht ver­

mochten, daß konnten die andern auf den Kanzeln der Kirchen und Schulen. reichten beyde ihre Absichten.

Allein gemeiniglich er­ P h a r a o veranstal«

tete M a n g e l , und feine P r i e s t e r — U nroif« s e n he i t im lande; und das Volk drängte sich von allen Seiten an sie heran, um für B r o d b l >» d ;,« gehör chen,

und für B e l e h r u n g b l i n d zu

glauben. Ic h wende meine Blicke von diesem schrecklichen Zustande der Menschheit, der nun wohl gottlob größ« tenthcilö vorüber ist; und erhole mich durch die herz­ erhöhende Aussicht auf die Periode, die mit der er­ rungenen S e l b s t e r k e n n t n i ß für die Menschheit angeht.

der V e r n u n f t

D ie Morgenröche der

Unschuld bricht wieder hervor, und die Epoke nähert sich, wo der Mensch aus eigener K raft aufdem Weg einher geht, worauf er ehedem durch die Hand der

Zwölfter Brief.

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N a tu r am Gängelbande des Instinkts geführt wur­ de, der Zeitpunkt wo er a l S M a n n durch V ernunft und Gefühl die Glückseligkeit veredelt und vervielfäl­ tiget wieder findet, die er als Sind durchs Gefühl allem kaum gekostet halte.

D ie unendliche M acht,

Weisheit und G üte, die durch ihre vereinigte W ir ­ kung fein kindliches Herz gelenkt hatte, tritt dann als reinesIdeal der höchstcnVollkommenheitauSdem Chaos verworrener Ahndungen hervor, und wird die höchste leitende Grundregel feiner V ern u n ft; so wie die vornehmste Triebfeder feines Herzens; das Ziel, von dem fein D e n k e n ausgeht, und zu dem ihn fein W o l l e n zurückführt; der G r u n d , den er voraus fetzt, wenn er im Studium der N atu r Ordnung, Zusammenhang, Endzweck aufsucht; der G e g e n ­ st and, dem er entgegen strebt, wenn er durch seine Handlungen

O rdnung,

Zusammenhang, M m #

schenwohi hervor bringt.

S o stellt die S t a r k e

der e n t wi c k e l t e n V e r n u n f t a l l e i n di e H a r ­ mo n i e d e s M e n sch en m i t d e r G o t t h e i t wi e ­ d e r her, wel che durch die Sc h wä c h e der un­ entwickelten V e r n u n f t a u f i mmer a u f g e ­ h o b e n schien.

O mein Freund! welche Seligkeit

liegt in dem Gedanken, etwas, sey es auch noch so wenig, dazu beytragen zu können und zu wollen, daß diese Epoke schneller heran rück«?

Ende des ersten Bandes. Leipzig, gedruckt bey Christian Fri edri ch S o l b r i g .

Druckfehler. C . 39. Z. z. v. unt. G e s c h r e ib e r , l. G e s c h ic h t­ s c h re ib e r. S . 41 . Z . 10. v. ob. streiche: u n d n a c h , aus. S . 58. Z. i. v. ob. d ie s d ie l. d ie d ie s . S . 87. Z. 13. v. ob. streiche: w e i l , aus.