Briefe über die Kantische Philosophie II 9783111432151, 9783111066615

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Briefe über die Kantische Philosophie II
 9783111432151, 9783111066615

Table of contents :
Vorrede
Inhalt
1. Brief. Ueber einige Vorurtheile gegen die Kantische Philosophie
2. Brief. Von der bisherigen Uneinigkeit der philosophierenden Vernunft mit sich selbst über die Quelle der Pflicht und des Rechtes
3. Brief. Von dem künftigen Einverständnisse der philosophierenden Vernunft mit sich selbst über die Quelle der Pflicht und des Rechtes.
4. Brief. Ueber die bisherige Mißhelligkeit zwischen der moralischen und politischen Gesetzgebung, und zwischen der natürlichen und der positiven Rechtswissenschaft
5. Brief. Ueber die künftige Einhelligkeit zwischen der moralischen und politischen Gesetzgebung, und zwischen der natürlichen und positiven Rechtswissenschaft
6. Brief. Versuch einer neuen Darstellung der Grundbegriffe und Grundsätze der Moral und des Naturrechts
7.Brief. Ueber den bisher verkannten Unterschied zwischen dem uneigennützigen und dem eigennützigen Triebe, und zwischen diesen beiden Trieben und dem Willen
8. Brief. Erörterung des Begriffes von der Freiheit des Willens
9. Brief. Ueber die Unverträglichkeit aller bisherigen philosophischen Begriffe von der Seele mit dem richtigen Begriffe von der Freiheit des Willens
10. Brief. Ueber die Unverträglichkeit zwischen den bisherigen Philosophischen Ueberzeugungsgründen vom Dasein Gottes und den richtigen Begriffen von der Freiheit und dem Gesetzt des Willens
11. Brief. Grundlinien zur Geschichte der bisherigen Moralphilosophie überhaupt, und insbesondere der stoischen und epikurischen
12. Brief. Ueber die äußere Möglichkeit des künftigen Einverständnisses der Selbstdenker über die Principien der Moralphilosophie

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Bri ef e üb e r die

Kantische Philosophie. Vo n

Carl

Leonhard

Zweyter

Reinhold.

Band.

Leipzig,

bey G e o r g

J o a c h i m Gös c he n 1 7 9 2

.

Vor r ede.

r L /ie nächste Absicht der in demgegenwärti» gen Bande gesammelten Briefe war nicht mehr meinen Freund zum Studium derKantiscdeu Philosophie einzuladen, sondern ihm dasselbe in Rücksicht auf denjenigen Theil die­ ser Philosophie, der das unmittelbarste In ­ teresse für ihn hat, den er am besten verstan­ den zu haben glaubt, und der mir nichts desto weniger am meisten einer Erörterung für ihn zu bedürfen schien, zu erleichtern. Die K r i ­ tik der praktischen Ve rnu nft hat in

seinem He r z e n einen eben so untrüglichen als

bereitwilligen Ausleger gefunden, der aber gleichwohl in so ferne mißverstanden werden kann, als man cs bey den bloßen Aussprücken desselben auck in solchen Fallen bewenden laßt, wo man die Gründe davon aussuchen sollte. Der Gebrauch, den mein Freund von man­ chen Ausdrucken und Redensarten jenes wich­ tigen Werkes zu machen ansing, ließ mir kaum einen Zweifel übrig, daß bey seinen neuen Ueberzeugungen das sittliche Gefühl dem Ge­ schäfte der philosophierenden Vernunft nicht selten zuvor geeilt haben müsse. Ich sah ihn Behauptungen, die nach der Absicht des Phi­ losophen von Königsberg nichts als vorläufige Erläuterungen seyn sollten, als Erklärungen und Grundsätze anwenden, und sich dadurch in die Nothwendigkeit versetzen, dasselbe S y ­ stem, das ihn, im Ganzen genommen, über ecke seine Erwartung befriediget har, in man­ chen einzelnen Theilen widersprechend zu fin­ den. Ueber,zeugt, daß ich feinen hieraus ent­ standenen Bedenklichkeiten auf keine andere Weife abzuhelfen vermöchte, entschloß ich mich zu demVersuch, ihm das g a n z e F u nDament der neuen M o r a l p h i l o s o ­ phie aus erneut Gesichtspunkte zu zeigen,

der von dem K a n tischen gänzlich verschie­ den wäre, und durch den er genöthiget wür­ de, die Theile desselben, die seinem Blicke bisher zu nahe gelegen hatten, in einer größe­ ren Entfernung, diejenigen aber, die er in dunkler Ferne kaum zu bemerken schien, in der Nahe ins Auge zu fassen. Ich schlug dabey folgenden Weg ein. Einige ziemlich weit verbreitete und tief eingewurzelte Vorurtheile gegen die Kanti­ sche Philosophie überhaupt, auf welche mich mein Freund aufmerksam gemacht Halle, wur­ den mir die Veranlassung, ihn für den Gang und die Methode meiner künftigen Be­ trachtungen im ersten B r i e f e vorzube­ reiten. Die v o r lä u fig e n Kenntnisse, durch deren Entwickelung ich hierauf den neuen philosophischen B e g r i f f von der S i t t l i c h k e i t zu beleuchten unternehme, zerfallen in Aeußere und I n n e r e . Die Einen gehen der ausführlichen Darstellung dieses Begriffes, und der durch

VI

Vorrede.

denselben bestimmten Principien der Moral und des Narmrccdts, welche den Inhalt des sechsten Briefes ausmacht, im zwey­ ten bis fünften vorher. Hier suche ich, durch die Erörterung des Widerstreites ;wi» schen den bisherigen verschiedenen philosophi­ schen Begriffen von Pflicht und Recht, und der Mißhelligkeit zwischen den Principien der moralischen und der bürgerlichen Gesetz­ gebung, wie auch den Wissenschaften des natürlichen und des positiven Rechts, das Bedürfniß eines bestimmteren Begriffes vom Slttengesetze sichtbar zu machen, und zu zei­ gen, daß durch den von Kant aufgestellten Begriff die Mißverständnisse gehoben wer­ den, welche jene Uneinigkeit vorzüglich ver­ anlasset und begünstiget haben. Die inneren Prämissen dieses Begriffes, welche nach allein, was in den Kantischen Schriften zum Vortheile dessel­ ben geleistet ist, gleichwohl noch erst zu ent­ decken übrig waren (oder es noch immer sind), betreffen die eigenthümlichen Merkmale des W ille n s, in wie ferne die freye Handlung desselben sowohl von

V orrede.

vk

der Wirksamkeit der bloßen Vernunft, alö von dem unwillknhrlichen Begehren verschie­ den ist. Zu Folge des analytischen Ganges, an welchen die philosophierende Vernunft bey der fortschreitenden Entwickelung der Grundvermögen des Gemüthes gebunden ist, konnten jene Merkmale nur erst nach dem vorläufig bestimmten Begriffe von dem eigen­ thümlichen Gesetze des Willens, welcher durch K a n t zuerst aufgestellt worden ist» ge­ funden werden. Sie sind in der K r i t i k der praktischen V e r n u n f t sowohl als in der G r u n d l e g u n g zur M e t a p h y s i k der S i t t e n zwar nicht unrichtig, aber völ­ lig unentwickelt vorausgesetzt, und die Auf­ stellung ihrer bestimmten Begriffe ist durch diese Werke zwar erst möglich, aber eben jo wenig leicht als entbehrlich gemacht wor­ den. Der Mangel dieser Bestimmtheit hat sich in allen mir bis jetzt bekannt geworde­ nen Schriften angekündiget, in welchen die Kantische Theorie der Sittlichkeit entweder beurtheilt oder benutzt wird, mW in denen die eigentliche mW unbedingte Frenheit des Willens, die K a n t bey jeder Gelegenheit behauptet, selbst von Freunden seiner Phi-

Vllt

Vorrede.

losophie, entweder als etwas nickt denkbares von der Hand gewiesen, oder ausdrücklich nur auf die sittlich guten Handlungen eingeschränkt, oder doch wenigstens durch Nebertragung auf die Sclbsttharigkelt der Vernunft auf eine solche Weise gedacht wird, daß man sie nur durch Inkonsequenz auf die sittlich böfen ausdehnen kann. Daß mir mein langwieriges mW mühsames For­ schen nach dem Charakter der Freyheit des Willens nicht ganz mißlungen sey, läßt mich die S i m p l i c i t ä t und Evidenz hoffen, die ich nach einer gänzlichen Verän­ derung meiner bisherigen hicher gehörigen Vorstcllungsart, in meinen gegenwärtigen Begriffen sowohl von jener Freyhei t , als von der besonderen Art der N o t h ­ wendigkeit, die der P f l i c h t — und der besonderen Art der Freu heit, die dem Recht in engster B e d e u t u n g * ) ei* ) Worunter ich mir weder das Vermögen nach Gesetzen zu handeln, noch seine Pflicht zu thun, sondern nur die W i l l k ü h r , die durch das Gesetz des Willens zugesichert ist, denken kann.

Vorrede.

ix

gcntfiumftd) ist, anzutreffen glaube, und durch welche cs mir allein möglich werden kennte, in den Versuch einer neuen D a r s t e l l u n g der G r u n d b e g r i f f e und Grundsätze der M o r a l und des Na r u r r e c h t s (sechster B r i e f ) die Pr äc i s i o n zu bringen, die einige Beurtheiler m demselben gesunden haben. Wahrhcirliebende Selbstdenker allein können mich belehren: ob und in wie ferne ich mich in dieser Hoffnung getauscht habe; und die Wichtigkeit des Gegenstandes macht es mir zur besondern Pflicht, sie um die Wohlthat dieser Belehrung zu bitten. Vorzüglich möchte ich, so ferne es ohne Unbescheidenheit geschehen könnte, den Ver­ fasser der merkwürdigen Recension der K ri­ tik der praktische» Vernunft in der Allgem. Litt. Zeit. N r. 188 a. b. 1788. dazu auffor­ dern , dessen Eiuwendnngen, wie er selbst an­ deuten zu wollen schien, mehr den Ausdruck als den Sinn der Hauptidee jenes Meister«. Werkes betroffen haben, und mir bey mei­ nen Untersuchungen über die Freyheit frucht­ bare Winke geworden sind. Ich kann mir,

so wenig als E r , in der Wirksamkeit der V e rn u n ft eigentliche Freyheit denken, und, so wenig als E r , die V ern u n ft in dem S in n e p r a k t i s c h nennen, als ob sie den vollständigen, durch sich selbst bestimmenden G ru n d einer H andlung des W illens ent«, hielte. Auch meist ich, daß man S ein e E inw ürfe gegen die Freyheit , durch die B e ­ rufung au f den gemeinen und gesunden Ver«. stand, oder auf die Thatsache des B ew ußt­ seyns und die Unbegreiflichkeit derselben (b lange vergeblich widerlegen w erde, als m an ihm nicht die D e n k b a r k e i t d e r F r e y ­ h e i t an einem bestimmten Begriffe vom W i l l e n dargethan haben wird. D ie W iederholungen, die ich mir bey der ausführlichen, im a c h te n B r i e f e ent* haltenen E rörterung jenes Begriffes erlau­ ben zu muffen glaubte, sind durch die m an­ nigfaltigen Mißverständnisse, die ich von ver­ schiedenen älteren und neueren angenomme­ nen V orstellungsarten zu besorgen harre, veranlasset, und vielleicht auch gerechtfertiget.

V orrede.

j ti

Nach dieser Ausführlichkeit konnte ich mich im n e u n t e n und z e h n t e n B r i e f e um so viel kürzer fassen, wo ich diesen Beariff gegen die bisherigen metaphysischen Vorstellungsarten von der S e e l e , und die bisherigen Ucberzeugungsgründe vom D a s e y n G o t t e s zu retten hatte. M it dem e i l f t e n B r i e f e , in wel­ chem ick mich eben desselben Begriffes als eines S c h l ü s s e l s zur G e s c h ic h te d e r b i s h e r i g e n M o r a l p h i l o s o p h i e be­ dient habe, beschließen die Betrachtungen, welche sich mit der in ne r e m Möglichkeit des künftigen Einverständnisses unter den Selbstdenkern über die Principien dieser Wissenschaft beschäftigen. Durch den z w ö l f t e n und lehten B r i e f sollte die ä u ß e r e Möglichkeit die­ ses Einverständnisses erläutert werden, Auch von diesem z w e y t e n B a n d e ist ein großer Theil des In h a lts in ver­ schiedenen einzelnen Aufsätzen durch den t e u t s c h e n M e r k u r zur vorläufigen Be-

seit

V o rred e.

mtheilung ausgestellt, und theils nach den auf diesem W ege erhaltenen Erinnerungen, theils nach eigenen späteren Einsichten bald berichtiget, bald ergänzt, bald völlig um* gearbeitet worden. Jena, den i sten Oktober 1792.

I n h a l t .

1. Brief. Ueber einige Vorurtheile gegen die Kantifche Philosophie.

«

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Seite

z

2. Brief. Von der bisherigen Uneinigkeit der philoso­ phierenden Vernunft mit sich selbst über die Quelle der Pflicht und des Rechtes.

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38

Inhalt. 3. Brief. Don dem künftigen Einverständnisse der ’phi« losophierenden

Vernunft

mit sich selbst

über die Quelle der Pflicht und deS Rechtes. Seite

64

4. Brief. Hebet die bisherige Mißhelligkeit zwischen der moralischen und politischen Gesetzgebung, und zwischen der natürlichen und der post, tiven Rechtswissenschaft.

5.



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gA

Brief.

Heber die künftige Einhelligkeit zwischen der moralischen und politischen Gesetzgebung, und zwischen der natürlichen und positiven Rechtswissenschaft.



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»

136

6. Brie f. Versuch einer neuen Darstellung der Grund­ begriffe und Grundsätze der Moral und deS NaturrechtS.

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174

Inhalt. 7. Brief. Ueber den bisher verkannten Unterschied zwi­ schen dem uneigennützigen und dem eigennützi­ gen Triebe, und zwischen diesen beyden Trie­ ben und dem Willen»

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Seite aaq

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8. B r ie f. Erörterung des Begriffes von der Freyheit des Willens.

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, 6-

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9. Brief» Ueber die Unverträglichkeit aller bisherigen philosophischen Begriffe von der Seele m it dem richtigen Begriffe von der Freyheit des W illrns.

»

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*

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308

10. Brief. tleber die Unverträglichkeit zwischen den bishe­ rigen Philosophischen UeberzeugungsgründeN vom Daseyn Gottes und den richtigen fbt* -rissen von der Freyheit und dem (Besetzt des Willens.

»

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»

Z ji

Inhalt, ii. Brief. Grundlinien zur Geschichte der bisherigen Mo­ ralphilosophie überhaupt, und insbesondere der stoischen und epikurischen.

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Seite 38*

12. B rief. lieber die äußere Möglichkeit des künftigen

Einverständnisses der Selbstdenker über die Principien der Moralphilosophie.

-

418

Briefe

B r i e f e über

di e K a n t i s c h e P h i l o s o p h i e .

Zweyter

RelnholbS Dr. r. Dd.

Band.

A

Erster Br i e f . Ueber

einige V o r urtheile gegen Kantische Philosophie.

bid

fV

^ 5 h r langes Verzeichniß ungünstiger Urtheile von be­ rühmten M ännern über die gegenwärtigen Beschäfti­ gungen der philosophircnden V ernunft hat mich g ar nicht befremdet. Hoben S ie vergessen, lieber Freund, daß die Philosophie überhaupt, sie mochte auch w as immer für einen Beynam en führen, unter den P rie ­ stern der Religion und der Gerechtigkeit nie viele Freunde gehabt hat? Fakta, und zwar lauter F akta der ä u ß e r n bald natürlichen, bald übernatürlichen E rfahrung, waren von jeher die einzige ächte E r ­ kenntnißquelle, aus welcher die große und herr­ schende Parthey der sogenannten r e c h t g l ä u b i g e n G ottes- und Rechtsgelehrcen alle religiöse Ueber­ zeugung und alles Recht abgeleitet wissen wollte. Aus dem nicht selten wohlgemeynten und immer wohlbezahlten Bestreben dieser V orm ünder der übrigen Menschheit, die h a n d g r e i f l i c h e n G rund­ festen, auf denen das zeitliche und ewige W ohl ihrer Zöglinge fest steht, unverrückt zu erhalten, w ird die Abneigung derselben gegen die Neuerungen der Philosophen um so begreiflicher, je weniger es sich

4

Erster Brief.

läugnenläßt, das; die meisten positiven G l a u ­ bensartikel und Rechtstitel in demselben Augenblicke zu schwanken anfangen, als man, in Rücksicht auf die einen über die Möglichkeit, und in Rücksicht auf die andern über die Rechtmässigkeit der sie begründenden Thatsachen, zu philosophieren beginnt. Hatte die Philosophie, wie man ihr so oft eingeschärft hat, nur über diese zwey Punkte den Finger auf den Mund gelegt, so möchte sie dann alles übrige unter und über dem Monde, die Ver­ nunft selbst nicht ausgenommen, kritisiert haben, ohne daß unsre positiven Theologen und Juristen davon mehrere Kenntniß genommen hätten, als unsre Aerzte, Geschichtsforscher, Dichter u. s. w. (einige seltene Ausnahmen abgerechnet) von allen ihren Schicksalen, Entdeckungen, Vorschlägen u. s. w. wirklich noch immer zu nehmen pflegen. Allein da sie in den letzteren Zeiten mehr als jemals in die ihr fremden Gebiethe jener beyden Fakultäten einzudringen versucht hat; da es nunmehr am Tage liegt, daß dasjenige, was sie natürliche Theo­ logie und Nat urrecht nennt, keineswegs ein bloßer Versuch seyn soll, ebendasselbe, was in der positiven Theologie und J u r is p r u d e n z auf sichtbare und hörbare, auch wohl fühlbare That­ sachen gegründet ist, zumUeberflusse auch noch durch Vernunftbeweise zu unterstützen; da es weltkundig ist, daß die Resultate, welche von diesen beyden philosophischen Wissenschaften aufgestellt werden sol­ len, mit den symbolischen Büchern der drey privi-

Erster B ri ef .

5

legierten Religionen, mit den durch Herkommen und geschriebene Gesetze geheiligten Formen des Rechtes, und mit den durch wirklichen, zum Theil uralten, Besch verbürgten Gerechtsamen geistlicher und weltlicher Obrigkeit nicht ohne große Einschrän­ kung bestehen können: so hat es die Philosophie wohl nur dem toleranten Genius unsers Zeitalters zu ver­ danken, daß man, anstatt auf dem Wege Rechtens gegen sievorzuschreiten, und ihr durch den obrigkeitli­ chen Arm Stillschweigen auflegen zu lasten, sich bloß damit begnügt, ihr vor dem Publikum einen bösen Namen zu machen. Hiezu giebt der leidige Umstand, daß die politische Revolution in Frankreich, die man ihr zuschreibt, und die.wissen­ schaftliche, mit welcher sie selbst in Teutschland heimgesucht wird, in Einem Zeitpunkte zusam­ men treffen, eine ganz neue in ihrer A rt einzige Veranlassung. Die Feinde der Philosophie sahen sich dadurch in Stand gesetzt, sie zugleich von zwey sehr empfindlichen Seiten anzugreifen, die Verderb­ lichkeit ihres äußeren Einflusses und die Schwache ihrks inneren Zustandes durch zwey der ganzen Welt vor Augen liegende Beyspiele zu beleuchten, und sie für die fürchterlichen Neuerungen, die sie in Frank­ reich auf den Gebiethen der Theologen und Juristen angerichtet hat, durch die lächerlichen Neuerungen, die in Teutschland auf ihrem eigenen Gebiethe vor­ gehen, hart genug büßen zu lassen*). *) >, Wie viele solcher litterarischer Seuchen." schreibt ein ungenannter, aber gewiß nicht namenloser Schrift«

5

Erster B r i e f.

Es war zu vermuthen, daß man über den bösen Namen, der jene beyden Beschuldigungen zu. fbmmen genommen bezeichnen soll, nicht lange ver­ legen seyn würde; und der teutsche Gelehrte, dem S ie so wenig Dank wissen, daß er das gefährliche, ober Gottlob! noch nicht sehr weit weder unter uns noch im Auslande verbreitete Vorurtheil: daß die teutsche N a t io n die erste des E rd ­ bodens wäre," mit vieler S a c h k e n n t U l ß widerlegt, hat für diesen Namen mit dem glücklich­ sten Scharstmne das W o r t gefunden. Da die neuen Gesetzgeber Frankreichs ihre Staatsverfassung auf (leider schwankende) Principien des Naturrechts, die freylich in Rücksicht auf das alte phy­ sische Princip des Stärkern, metaphysisch heißen können, zu gründen versuchten; und da die gegenwärtige Reformation der Philosophie in Teutschland von der Kantischen Prüfung der M e­ taphysik ausging: so ist der Ausdruck m et a p h yfteller im Neuen Teutschen Museum 10 St. 1790. S. 1019)“ hoben wir nicht in Teutschland erlebt »wischen der Poungischen Nachrgedanken wür­ den beyde die Menschheit zwar nach Einem ihrer wefentlichen Merkmale kennen, beyde aber auch das Wesen derselben gleich viel verkennen. Beyde wür­ den bey dem unstreitig Wahren, was sie in ihren Systemen über den Menschen, von seiner thie­ rischen Natur die eine, und von der Vernunft die andere, vorbringen könnten, gleichwohl über die eigentliche Natur des Menschen nie etwas wahres gesagt haben, und nur über den bloßen Namen des Gegenstandes einig seyn, deffen Wesen sie er­ gründet zu haben wähnten. Dieses ist das Schicksal der bisherigen Systeme der Moral und des Raturrechkes unter den Händen der Pfle-

Zweyter Brief.

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g tr und Vertheidiger dieser Wissenschaften ge­ wesen. D ie G e g n e r des Naturrechts verlangen eben nicht das Daseyn des G e f ü h l s für Recht und Un­ recht in Zweifel zu ziehen. Allein da sie bey ihrer Charakteristik dieses Gefühls in der That jedes we­ s e n t l ic h e M erkmahl desselben verfehlen, so bleibt ihnen für das, was sie R e c h t nennen, keine ein­ zige derjenigen Bestimmungen übrig, die der Sprach­ gebrauch für das Work N a t u r r e c h t fordert. S ie gestehen, daß dieses W ort unter diesen Bestimmun­ gen fiir sie keinen S in n habe; oder, welches eben so viel heißt, sie laugnen das N a t u r r e ch t. S ie läugnen es, säge ich, indem sie sowohl die Unei gen« n ü h i g k e i t des Gefühls von Recht und Unrecht in Rücksicht auf seine Q u e l l e , als auch die N o t h ­ w e n d i g k e i t und U n v e r ä n d e r l i c h k e i t dessel­ ben in Rücksicht auf sein O b j e k t bestreiten. S ie leiten zwar dieses Objekt von der Verbindlichkeit des B ü r g e r s her, seinen eigenen Vortheil dem Vortheile des S ta a te s unterzuordnen. Allein sie suchen den Grund dieser Verbindlichkeit, den sie kei­ neswegs in allen Fallen, wo sie anerkanntermaßen S ta tt findet, im Nuhen des ei nzel nen B ürgers antreffen, in der jedem Einzelnen überlegenen S tärke der ganzen Gesellschaft auf. Ih re r Meynung zu Fol e hat der ganze S ta a t so wenig als der einzelne B ü rg er ein anderes Recht als dasjenige, welches durch sein Bedürfniß und durch seine physischen Kräfte bestimmt, und wodurch er in den S tan d ge«

6o

Zweyter B r i e f .

seht wird, durch Zwang solche Handlungen seiner einzelnen Glieder zu verhindern, die mit seiner (Er­ haltung unverträglich, und solche hervor zu bringen, die zu derselben unentbehrlich sind. S ie läugnen daher auch nicht, daß es nach diesen Voraussetzun­ gen nur der eigennützige Trieb des Individuums seyn könne, durch welchen dasselbe bestimmt werde, die Verbindlichkeit gelten zu lassen, die ihm der Vortheil des Staates auflegt, und die in allen den Fällen, wo der Zwang vereitelt werden kann, und kein überwiegender Privatvortheil den- Ausschlag giebt, durch den eigennützigen Trieb selbst wieder aufgehoben wird. S ie geben freylich auch zu, daß selbst in solchen F a l l e n die gemeinschädlichen Handlungen durch unangenehme Gefühle nicht sel­ ten begleitet und verhindert würden. Aber sie er­ klären diese Thatsache als eine Folge der E r z i e ­ hung und G e w o h n h e i t ; und glauben durch das Beyspiel des Geitzigen, der über das M ittel zum Genuß den Genuß selbst vergißt, oder densel­ ben vielmehr im bloßen Besitze jenes M ittels an­ trifft, gar wohl begreifen zu können, wie der Mensch dahin gelange, bey der wesentlichen Eigennützigkeit aller seiner Triebe gleichwohl auch in solchen Fällen gemeinschädliche Handlungen zu fürchten, und ge­ meinnützige zu lieben, wo er von den einen keinen reellen Nachthell, und von den andern keinen reellen Vortheil für sein eigenes Ic h vorhersieht. I n die­ sem Systeme ist alles R e c h t, was der Mensch ohne seinen Nachtheil ausführen kann, und nur

Z w e y te r B r i e f -

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dasjenige — Recht der N a tu r, was er durch feine physischen K rä fte als I n d iv id u u m ausführen kann. Dieses natürliche Recht ist durch das Recht des Staates, oder dasjenige, was die Gesellschaft ohne ihren Schaden durchsetzen kann, auf das B ürgerliche eingeschränkt, und für all« diejenigen Fälle gänzlich aufgehoben, wo die Gesell« schaft die Forderungen ihres Bedürfnisses durch ih t Uebergewicht an Stärke gegen die Individuen be­ haupten kann. Da sich aber diese Falle keineswegs unter schlechterdings allgemeine Regeln bringen las­ sen (indem sie von einem zufälligen Zusammenfluss« veränderlicher Umstände abhängen) so könne es we­ der ein R aturrecht noch ein Gesellschafts­ recht geben, das als Wissenschaft auf allgemein» geltenden Grundsätzen a p rio ri feststände: sondern alles wirkliche Recht, wie dasselbe auch heißen Möge, bliebe der Beurtheilung der Privat- und Staats­ klugheit überlassen, durch welche das große schlech­ terdings allgemeine Naturgesetz des Eigennutzes als das einzige letzte Princip bald des Privatvortheils, bald der Staatsräson ( ratio flatus) auf die jedes­ malige individuelle jage der Umstände angewendet werden müßte. Daß durch diese Erklärungsart des Rechts und Unrechts aller innere Unterschied zwischen Ge­ rechtigkeit und Ungerechtigkeit aufgehoben, die W ür­ de der Menschheit vernichtet, und das Wohl und Weh derselben dem blinden Zufalle, und feinem Repro*

6s

Zweyter B r i e f .

fentanten dem Despotismus einzig und allein unterwarfen werde — ist wohl schon sehr oft gesagt und gezeigt, aber damit keineswegs bewirkt worden, daß nicht diese abscheuliche Theorie noch heut zu Tage von einer beträchtlichen Menge S t a a t s m ä n n e r ihrem politischen Systeme von Staasverfassung und Staatsverwaltung zum Grunde gelegt würde. D ie leidigen F o l g e n , durch welche man diese V o rfie l, lungsart vergebens zu widerlegen gesucht hat, wer­ ben daher die Menschheit so lange zu bedrücken und zu erniedrigen fortfahren, als nicht die Gründe der­ selben durch allgemeingeltende Grundsatz«, von de­ nen man sich bis itzt nichts träumen ließ, widerlegt werden. Vergebens wird man derselben das m oralische G e f ü h l entgegensehen, so lange dieses verschiedene Auslegungen zuläßt, und, auf Begriffe gebracht, vieldeutig, schwankend und verkannt wird, so lange nicht der einzig wahre, einzig mögliche und durchgängig bestimmte Begriff von der wirkenden Ursache desselben entdeckt und anerkannt ist. D ie einzig richtige Erklärungsart von dem sittlichen Gefühle, die meiner Ueberzeugung nach noch nicht gegeben ist, und die sich aus den Princi­ pien jeder bisherigen Philosophie nimmermehr geben läß t, müßte das W ahre, das in jeder andern bis­ her versuchten enthalten ist, in sich vereinigen, und das Falsche, das dieselben unter einander in Wider­ spruch sehte, ausschließen. Durch sie müßte es pinleuchtend werden, wie die philosophierende V er-

Zweyter Brief.

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nunft zu den verschiedmen Hypothesen, womit sich dieselbe in ihren unter sich uneinigen Repräsentativem bisher beholfen h a t, gelangen m ußte, und warum keine derselben zur allgemeinen Befriedigung ge­ schickt w ar. D urch sie endlich müßte sich einerseits die U n e i g e n i i ü h i g k e i t , N o t h w e n d i g k e i t und A l l g e m e i n h e i t des Grundes von dem G e­ fühl des Rechts und Unrechts, und mit derselben die R e a l i t ä t des R a t u r r c c h t S gegen seine G e g ­ n e r — andererseits aber das bisherige N i c h t v o r « hanhenseyn desselben als Wissenschaft gegen seine bisherigen V e r t h e i d i g e r - begreifen, erklären, erweisen lassen. I c h bin überzeugt, daß diese E rklärungsart aus den Principien der K a n t i s c h e n Philosophie erfolgen müsse, und m it denselben von dm Selbst­ denkern künftiger Generationen allgemein anerkannt werden wird. Ic h weiß aber, daß ich dieselbe eins!* weilen selbst nur als eine Hypothese aufstellen kann, indem ich mich begnügen m uß, sie lediglich durch ihre F o l g e n zu erläutern. D ie Entwicklung ih­ rer G r ü n d e seht eine ganz neue Theorie des B e g e h r u n g s v e r m ö g e n s und des W i l l e n s vor­ au s, zu der ich S ie , l. F r., eben durch diese vorläufi­ gen Betrachtungen vorzubereiten wünsche, und auch nur v o r b e r e i t e n kann.

D r i t t e r Brief. D o n dem künftigen Einverständnisse der philosophierenden V e r n u n f t mif sich selbst über die Quelle der Pfl ich t und des RechfeS.

s%> ^Hch muß Sie noch einmal daran erinnern, lieber Freund, daß S ie hier keine Darstellung der G r ü n* de zu erwarten haben, aufweichen die folgende E r­ klärungsart von der wirkenden Ursache des Gefühls für Recht und Unrecht beruht. Ich werde daher kaum vermeiden können, manches vorzubringen, wo­ für Sie In so ferne, aber auch nur in so ferne dunkel seyn dürfte, als eö für S ie noch unerwiefen ist, und für itzt auch noch unerwiefen bleiben muß. Für mich ist es durch K a n t s K r i t i k der praktischen V e r n u n f t erwiesen, und für S ie stelle ich es einstweilen als Hypothese auf: i ) daß die Quelle der M o r a l i t ä t , der Bestimmungsgrund des Sittengesehes, und folglich auch die wirkende Ursache des si t t l i chen G e fü h l s keineswegs, in der Empfänglichkeit für Lust und Un­ lust, oder in dem Triebe nach Vergnügen zu finden sey, man mag sich diesen Trieb durch Erziehung, durch bürgerliche Verfassung oder durch Klugheit modificiert denken; man mag denselben vernünftige Selbstliebe, Streben nach Glückseligkeit, oder auch selbst Trieb nach Vollkommenheit, nennen, und das Gesetz

D r i t t e r Brief.

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Gesetz, dem E r für den Dillen S a n k t i o n geben soll, in der menschlichen oder in der göttlichen Ver­ nunft, oder in dem nothwendigen Zusammenhang der D in g e an sich aussuchen. 2) Daß das Sittengesetz sich dadurch unter allen wirklichen und möglichen Gesehen auszeichne, daß es eine V o r s c h r i f t ist, die den Grund ihrer Nothwendigkeit in sich selber enthält, daher ohne alle fremde Sanktion Gesetz ist, und folglich ledi­ glich um ihrer selbst willen befolgt werden kann. 3) Daß die Quelle dieses Gesetzes allein in der selbstthätigen N a t u r der V e r n u n f t anzutreffen sey, welche, in wie ferne sie dem W il­ len ein Gesetz giebt, das seine absolute Nothwendig­ keit und Allgemeinheit nur durch sie all ei n er­ hält, und das nur durch Fre yh eit des Willens ausgeübt und übertreten werden kann, praktische V e r n u n f t heißt. Dieser Begriff von der praktischen V e r ­ n u n f t muß einerseits durch seine Neuheit, ande­ rerseits durch die unrichtigen Merkmale, die sich aus unsern bisherigen unbestimmten Begriffen von V e r n u n f t überhaupt in denselben eindringen, für jeden, der die K r i t i k der praktischen V e r ­ n u nf t noch nicht studiert und verstanden hat, eine Dunkelheit haben, die ich wenigstens in so ferne hin­ wegzuräumen suchen w ill, als es zu meiner gegen­ wärtigen Absicht nöthig ist. Da die Methode, nach welcher dieser B e g r i f f in dem erwähnten Werke entwickelt ist, bey aller ihrer Vortrefflichkeit meiner Rnnholde Dr. r. Dd. E

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D r i t t e r Brief.

Ueberzeugung nach keinen verständlichen Auszug zuläßt, so bleibt mir nichts andres übrig als denselben durch folgende Resultate meines eigenen Nachden­ kens zu beleuchten, deren weitere Ausführung ich mir für eine andere Gelegenheit vorbehalte. Ich verstehe unter V e r n u n f t das Vermögen der Person zu den durch ihre übrigen Vermö­ gen möglichen Wirkungen sich selbst Vorschriften (Regeln) zugeben. Jede Vorschrift, zu welcher der Vernunft ein G r u n d außer ihrem eigenen Vermögen gegeben seyn muß, heißt in so fern theoretisch, und das Vermögen der Person gegebene Gründe zur A ll­ gemeinheit einer Regel zu erheben, oder aus g ege. benen Gründen Vorschriften zu erzeugen, heißt theoretische Vernunft. Die gegebenen Gründe zu solchen Vorschriften aufsuchen, heißt räson­ nieren. Die Vorschrift, zu welcher der Vernunft kein Grund außer ihrem eigenen Vermögen gegeben ist, heißt praktisch, und das Vermögen der Person eine Vorschrift zu geben, zu welcher der Grund in ihrer bloßen Selbstthätigkeit liegt, heißt praktische V e r n u n f t. Solche Regeln aufstel­ len heißt durch reine Vernunft handeln, (nicht Räsonnieren, aber auch noch nicht W ol le n ). Die theoretische V o r s c h r if t wird nicht durch bloße Vernunft absolut nothwendig, das heißt, ein Ge seh, sondern nur durch den der Vernunft gegebenen Grund. Sie ist daher ein bedingtes,

Dr i t t e r Brief.

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das heißt, ein von einer außerhalb der Vernunft selbst gelegenen Bedingung abhängiges VernunftgeseH * ). * ) Diese« leuchtet bey dem höchsten theoretischen Ver« nunftgefttze, dem Satze de« Widerspruche«: „Keinem Dinge kommen widersprechend« „ M e r k m a l e zu" schon au« dem Umstande «ln, daß diese Regel nur durch die Voraussetzung zum G e» seh wird. daß ein M a n n i g f a l t i g e « gegeben sey, da« die Vernunft nicht herbeyschaffen kann, und bey welchem der Grund, warum »« sich auf Einheit bringen läßt oder nicht, indem Gegebenen, und nicht in der H a n dl u n g , welche die Einheit her« vorbringt, liegen muß. Daher auch keinem einzigen Subjekte sein positive« oder negative« Prädikat b l oft durch den Satz de« Widersprüche« zukömmt; au« dem sich allein, und ohne Voraussetzung eine« von ihm selbst verschiedenen, gegebenen Grunde«, nie begreifen läßt, warum entweder ein positive« Prdikat» da« dem Subjekte dem Sah de« Wider­ spruch« zu!Folge bloß zukommen kann, demselben wirklich zukömmt, oder wie da« Subjekt zu dem posi ti ven Prädikate gelangt, durch welche« da« entgegengesetzte negativ«, dem Sah de« Widere sprach« gemäß au« dem Subjekte «««geschloffen wird. Dem Zirkel kommt die Rundung, dem Sah de« Widerspruch« gemäß, zu, weil sie im Zirkel al« g ee geben vorausgesetzt wirb; aber sie kömmt ihm kei« ne«wege« bloß durch diesen Sah zu. D ir Vor« sch r ist der Vernunft, weiche den Zirkel ai« N icht­ rund zu denken verbiethet, ist nur dadurch G e seh, weil in Zirkel da« entgegengesetzt« Merkmal R u n d gegeben ist. Alle logische Gesetz« sind bloße Regeln der Vernunft, dir Gesetze der S i n n ­ lichkeit und de« Verstände«, welche die Krie tik d. r. D. und die Elementarphilosophie ausstellt, sind Naturgesetze de« menschlichen Grifte«, und da« S i t t r n g e s e h ist da« einzige eigentlich« Gr< seh der V e r n u n f t .

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D ritter

B r i e f.

D i e p r a k t i s c h e Vorschrift wird durch bloße V e rn u n ft, in welcher ihr G rund allein enthalten ist, zu einer absolut nothwendigen Vorschrift, oder zum G e seh. S ie allein ist also ein schlechthin u n b e ­ d i n g t e s , von allen außer der bloßen Selbstthätig, feit gelegenen Bedingungen unabhängiges, V er« nunftgeseh. I n wie ferne das p r a k t i s c h e Gesetz in der­ jenigen Vorschrift besteht, deren G rund in der S e l b s t t h ä t i g k e i t der V ernunft liegt, in so ferne heißt es ein G esetz d e r F r e y h e i t . I n wie ferne das t h e o r e t i s c h e Gesetz in derjenigen Vorschrift besteht, deren G rund nicht in der bloßen Selbstthätigkeit der V e rn u n ft, sondern außerhalb derselben g e g e b e n ist, in so ferne heißt es ein N a t u r g e s e t z . D a das praktische Gesetz außer dem V erm ö­ gen sich selbst Vorschrift zu geben, keinen G rund hat, so kann es auch nur in einer solchen Vorschrift beste­ hen , die keinen andern Z w eck h a t, als die V o r­ schrift selbst, in einer Regel, die lediglich durch sich selbst gilt, in dem Gesetze, das keiner Sanktion be­ d a rf, weil es dieselbe in sich selbst enthalt. D ie ursprüngliche, einzig mögliche, unveränderliche H a n d l u n g S w e i s e der praktischen V ern u n ft, (das G e­ setz ihrer N atu r) besteht also in der unbedingten G e­ setzgebung, im Aufstellen der Vorschrift um der V orschrift willen, in der A u t o n o m i e d e r V ernunft.

D ritter

Brief.

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I n wie ferne das praktische Gesetz lediglich in der reinen Selbstthätigkeit der Person gegründet ist, in so ferne können demselben diejenigen W irkungsar­ ten, die nicht von der Person als Person abhängen, keineswegs unterworfen seyn. D a s praktische G e­ setz ist daher kein Gesetz des Instinkts und keines un­ willkürlichen Begehrens. D ie Regeln, welche durch die Vernunft dem bloßen Begehren vorge­ schrieben werden, sind daher bloß theoretisch, erhal­ ten den Grund ihrer Nothwendigkeit durch den Trieb nach Vergnügen, und sind Naturgesetze des Begehrungsvermögens. D em praktischen Gesetze kann nur die W irkungsart unterworfen styn, die lediglich von der P er­ son als Person abhängt. Diese besteht einzig und allein in dem W o l l e n , oder in der Handlung der Person, durch welche sich dieselbe (nicht zu einer Forderung), sondern zur Befriedigung oder Nicht» Befriedigung einer Forderung des Begehrungsververmögens selbst bestimmt. D a s Gesetz der praktischen Vernunft hat also kein a n d e r e s O b j e k t a l s d.as W o l l e n , und die praktische V ernunft schreibt nicht den Forderungen, sondern den Beftiedigungen oder Nichtbesriedigungen des Begehrens, in w ie f e r n e dieselben von der Freyheit der P e r­ son abhängen, ein Gesetz vor, das nur durch diese Freyheit — nur freywillig — beobachtet, aber eben darum auch übertreten werden kann. Auch als Gesttz des W illens, als Gesetz, dem sich die Person nur durch Freyheit unterwerfen kann,

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Dritter

Brief.

ist das praktische Gesetz, Gesetz der Fre yh eit , und von jedem bloß theoretischen Gesetze des Begeh­ rens (dahin auch das GeseH des Strebens nach Glück­ seligkeit gehört) als bloßem Naturgesetze wesent­ lich verschieden. Die praktische Vernunft ist nicht der W ille, und der Wille ist nicht die praktische Vernunft, selbst der reine Wille nicht. Reines W o lle n ist Selbstbestimmung zur Befriedigung oder Nichtbe­ friedigung des Begehrens, um des praktischen Ge­ setzes willen. Die Handlung des reinen Willens ist eine Handlung nach diesem Gesetze. Die Hand­ lung der praktischen Vernunft stellt das bloße G e. fetz im Selbstbewußtseyn auf. Diese ist Handlung durch bloße V e r n u n f t , die nur diese einzige Handlungsweise hat; jene ist Handlung durch Frey­ heit des W i l l e n s , die zweyerley Handlungs­ weisen hat, die als reiner oder als unreiner Wille handeln kann. S i t t e n , in engster Bedeutung des Wortes, heißen die freywilligen Befriedigungen und Nichtbefriedigungen der Forderungen des Begeh, rungsvermögens. Das praktische GeseH heißt S i ttengesetz, in wie ferne ihm diese Befriedigungen und Nichtbefriedigungen untergeordnet sind, und Gesetz des reinen W i l l e n s , in wie ferne reines W o l l e n sein Objekt ist. Pflicht ist alles, was durch das Sittengesetz nothwendig, Recht, was durch dasselbe möglich, Unrecht, was durch dasselbe unmöglich ist.

Dr i t t e r Bri ef .



D a s Bewußtseyn der Uebereinstimmung oder des Widerspruches einer Willenshandlung mit dem Sittengeseh kündiget sich dem G e f ü h l v e r m ö g e n durch Vergnügen oder Mißvergnügen an, und hierin besteht das s itt liche G e f ü h l . I n wie ferne nun die Pflichtmäßigkeit oder Pflichtwidrigkeit, Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit, die sich durch das sittliche Gefühl ankündi­ get, von dem Sittengeseh abhängt, in so ferne ist die p r a k t i s c h e V e r n u n f t die w i r k e n d e U rsa ch e d e s s ittlichen G e f ü h l s . D a s N a t u r recht schränkt sich zwar auf das Recht, das durch Zwang durchgeseht, und das Unrecht, das durch Zwang gehindert werden d a r f , ein, und beschäftiget sich folglich nur mit einer A r t des R e c h t s , das aber eben darum, in wie ferne es unter die Gattung R e c h t gehört, durch daß S i t ­ t e n g e s e h bestimmt wird. Ungeachtet der Zwang physische Kräfte, und gegebene Fälle der äußeren Erfahrung, und daher außer dem Bewußtseyn des Sittengesehes noch andere Thatsachen und Ueberzeugungen voraus seht, so kann doch durch alle diese Thatsachen und Ueberzeugungen nur die Anwendung des praktischen Gesetzes, nicht das Gesetz selbst, bestimmt werden, von welcher die Recht­ mäßigkeit des Zwanges abhängt. D a s G e f ü h l v o n Siecht und U nr ec h t ist daher in allen seinen möglichen Arten und Aeußerungen Wirkung der praktischen V ernunft, und als solche, bey allen sei­ nen noch so verschiedenen Erscheinungen, selbst da wo

Dritter

Brief.

es im irrigen Gewissen geschäftig ist, seiner Quelle nach n o t h w e n d i g und a l l g e m e i n , seinem O b­ jekte nach u n v e r ä n d e r l i c h , seiner N atu r nach u n e i g e n n ü t z i g und u n t r ü g l i c h .

Und nun lassen S ie uns versuchen, ob und in wie ferne sich die verschiedenen Eigenthümlichkeiten oder Charaktere des G efühls von Recht und Unrecht, die zwar in den bisherigen Erklärungsarten dieses G efühls nicht unbemerkt geblieben sind, aber sich in keiner derselben vereinigen ließen, auö unserer neuen E rklärungsart sammt und sonders begrtijcn lassen. A ls W irkung der p r a k t i s c h e n V ernunft seht das Gefühl von Recht und Unrecht keineswegs w i s s e n s c h a f t l i c h e K u ltu r, sondern nur diejenige (Stufe des gemeinen Gebrauches der V ernunft vor­ a u s, auf welcher der Mensch über die Angelegenhei­ ten seines eigennützigen T riebes, oder welches eben so viel h e iß t, über die Befriedigung seiner sinnlichen Bedürfnisse, und über die Verhältnisse, in welche er durch dieselben in Rücksicht au f andere Menschen verseht w ird, nachzudenken angefangen h a t; eine S tu fe , auf welcher sich auch der gemeinste M an n in jeder bürgerlichen Gesellschaft befindet. D ie p r a t ­ tisc h e V ernunft kann ihr Gesetz keineswegs v o r der Anwendbarkeit desselben im Bewußtseyn ankün­ digen. Diese Anwendbarkeit kann sich nicht eher einfinden als die t h e o r e t i s c h e V ernunft die Falle zu d e n k e n verm ag, die zur Anwendung jenes Ge»

D r i t t e r Bri ef.

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setzes vorausgesetzt werden, und die sich nur aus den D a t i s d e r äußeren und inneren E r f a h r u n g zie­ hen lassen. S o lange daher in dem rohen Sohne der N atur noch der bloße I n s t i n k t feine eigenen Angelegenheiten besorgt; so lange die Gegenstände seiner Bedürfnisse nicht durch die Denkkraft modificiert, verfeinert, erhöht, vervielfältigt sind; so lange, mit einem Worte, der Mensch über sein W ohl und Weh noch nicht zu räsonni eren angefangen hat: so lange schlummert seine Persönl ichkei t in ihm ; so lange ist er nicht zum Gebrauch und Be« wußtseyn seiner Freyheit erwacht; so lange hat er noch keinen W i l l e n durch den er dem Jnjiinkte entweder nach dem SittengeseH zu gebiethen, oder gegen dasselbe zu dienen vermag; so lange kennt er auch keine andere als physische G e f ü h l e , und er ist nur der äußeren Gestalt und dem innern, noch nicht in K raft übergegangenen V e r m ö g e n nach, von dem vernunftloftn Thiere unterschieden. D a ­ her kömmt es, daß der außer aller bürgerlichen Ge­ sellschaft lebende W ilde gar nichts, und der in einem noch jungen und rohen Staate lebende Barbar nur sehr wenig vom moralischen Gefühle weiß, und daß sich die Beyspiele von Tugend und Laster, Ge­ rechtigkeit und Ungerechtigkeit, in dem Verhältnisse in einem Staate vervielfältigen, als die äußere Kultur des eigennützigen Triebes, die sich durch den Luxus ankündiget, weiter gediehen ist. Je zahl­ reicher und mannigfaltiger die Fälle sind, welche der praktischen Vernunft durch die Erfahrung vorgelegt

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D r i tt e r Brief.

werden, und durch welche sie veranlaßt wird, ihrGe. seh durch mannigfaltige Gebothe und Verbothe zu wieverholen, darzustellen und einzuschärfen; desto häu­ figer, lebhafter, verschiedenartiger müssen auch die Aeußerungen des Gefühls von Recht und Unrecht werden. D ie wirkende Ursache dieses Gefühls ist daher keineswegs in der bürgerlichen G esell­ schaft und ihren Einrichtungen, sondern in einer Triebfeder des menschlichen Geistes aufzusuchen, die nicht von außenher gespannt w ird, aber doch zur Aeußerung ihrer Selbstthätigkeit derjenigen Erfah­ rung bedarf, die sich nur im Schooße der Gesellschaft machen läßt. Als Wirkung der praktischen Vernunft hängt das moralische Gefühl eben so wenig als das Bewußtseyn der Persönlichkeit, mit dem es aus einer­ ley Quelle entspringt, vom Raisonnement ab. Das G ese h, das sichdurch dieses Gefühl ankündiget, hat seinen Grund in der Vernunft selbst, und zwar in derjenigen Aeußerung, in welcher die Vernunft von nichts außer ihr selbst abhangt. Das Bewußtseyn dieses Gesetzes ist daher immer wahr und untrüglich, ungeachtet das Urtheil über seine Anwendung auf einzelne Fälle darum trüglich seyn kann, und oft wirklich trugt, weil dasselbe von den theoretischen Wirkungen der Vernunft, und durch diese von g eg e benen Gründen, die nicht immer in unserer Ge­ walt sind, abhängt. Daher bas i r r i g e Gewis­ sen; wobey unter dem untrüglichen Obersatz, wel-

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cher das Gesetz ausdrückt, ein unrichtiger, entweder aus Trugschlüssen oder aus mangelhaften Erfahrun­ gen gezogener Untersatz subsumirt w ird, woraus sich als Schlußsah ein Urtheil ergiebt, das bey aller seiner theoretischen Unrichtigkeit praktisch wahr ist, und, in der Ausübung befolgt oder vernachlässiget, entweder eine tugendhafte oder lasterhafte Handlung ausmacht. Das Gefühl, wodurch sich Recht und Unrecht ankündigen, seht daher in Rücksicht auf sein eigentliches Objekt kein gewisses M aß theoretischer Einsichten, keine von äußeren Umständen und inne­ ren Graden der Fähigkeiten abhängende Aufklärung voraus: sondern dasselbe erwacht (nicht durch, aber) m it dem Gebrauch der den Instinkt, auf was immer für eine Weise, modificierenden Denkkraft, und koexistiert, durch die Untrüglichkeit, Reinheit und Heiligkeit seiner Quelle gesichert, in dem gemeinsten Manne neben der tiefsten Unwissenheit und den grob« sten Irrthüm ern, wie in dem gebildetsten Geiste neben den künstlichsten Theorien ( die ihm so oft seine W irk­ lichkeit und Möglichkeit absprechen) mit gleicher un­ veränderlicher Wahrheit. Alle die feinen und gro­ ben Irrthüm er, durchweiche das moralische Gefühl in Rücksicht sowohl auf seinen Entstehungegrund, als auch auf die Anwendung des Gesetzes, das sich in ihm ankündigt, bisher mißverstanden worden ist, können zwar die wohlthätigen F ol g en dieses Ge­ fühls aber keineswegs die wirkende Ursache des­ selben beschränken. S ie vermögen weder die Selbst­ thätigkeit der praktischen Vernunft, die ihr Gesetz

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D r i t t e r Brief.

aufstellt, noch diejenige Freyheit des Willens zu ver­ mindern, durch welche die Person jenem Gesetz ent­ weder gemäß oder zuwider handelt, und von der allein die Sittlichkeit oder Unsittlichkeit, Rechtschaffenheit oder Niederträchtigkeit, mit einem Worte der innere W e rt h der Person bey aller größeren oder Hei­ neren Aufklärung des Kopfes, bey vielen oder weni­ gen unfreiwilligen Irrthümern abhängt. Denken Sie Sich, (.Fr., dieSittlichkeik als das Produkt einerseits der praktischen, d. H. der nicht räsonnierenden, sondern unbedingt gebie­ thenden V ern unf t, andererseits aber des freyen W ill e n s , der in jedem gegebenen Falle das prak­ tische Gesetz ergreifen oder vernachlässigen kann; und es wird Ihnen in die Augen springen, warum und in wie ferne die Sittlichkeit von allen Weisen und Guten aller Zeiten als das höchste und gleich, wohl jedem Menschen erreichbare, als das Einzige nur durch ihn selbst mögliche, seinen inneren W e rt h von seinen äußern Schicksalen unabhängig bestimmende G u t anerkannt werden konnte und mußte. Und nun denken Sie Sich die Sittlichkeit als das Produkt einerseits der theoretischen, d.h. der räsonnierenden, von gegebenen Gründen abhängi­ gen Vernunft, andererseits des Triebes nacb Vergnügen der theils an die Resultate eben die­ ser Vernunft, theils an die Beschaffenheit seine:

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Objekte gebunden ist — und Sie werden die er« wähnten Aussagen der Weisen und Guten für nichts als rednerische Figuren, oder gutherzige Traumcreyen halten müssen. Da es aber für Sie und für mich keine höhere, reinere, ausgemachtere Wahrheit giebt und geben kann, als die in jenen Aussagen enthalten ist: sowerden Ihnen mit mir alle Theorien ungereimt und abscheulich vorkommen müssen, nach welchen die Sittlichkeit als eine bloße Wirkung der Denkkraft in uns, und der Dinge außer uns, von der wissenschaft­ lichen Kultur und von Zufällen gleich abhängig seyn müßte; nach welchen die Rechtschaffenheit bloß theo­ retischen Einsichten und einem sie bald hervorbrin­ genden, bald zerstörenden Zwange der Naturnoth­ wendigkeit unterworfen wäre; nach welchen endlich das wahre Gefühl von Recht und Unrecht den be­ stimmten und richtigen Begriff von Sittlichkeit voraussehte, und daher nicht nur demgemeinen Manne, sondern selbst unter den Philosophen allen denjenigen Partheyen fehlen müßte, die in ihren einander ent­ gegengesetzten Lehrbcgriffen, von denen entweder nur Einer oder gar keiner der wahre seyn kann, diesen Einen verfehlt hätten. Durch unsre Erklärungsart, aber auch nur durch sie allein, wird es begreiflich, wie das G efü h l von Recht und U nrecht, bey aller Trüglichkeit der B e g r i f f e von demselben, von seinem Objekt und seinem Entstehungsgrunde, gleichwohl schlechter­ dings untrüglich seyn könne und müsse. Das sittliche G e f ü h l ist Wirkung der handelnden.

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Dritter

Brief.

und in so ferne nur von sich selbst abhängenden und untrüglichen V ernunft; der B e g r i f f hingegen ist Wirkung der d e n k e n d e n , und in so ferne von äußeren Umständen abhängenden, und daher nichts weniger als untrüglichen V ernunft; oder vielmehr, er ist so lange nicht das W erk der V e r n u n f t , als er nicht durch bloße, reine, und in so ferne völlig entwickelte, sich selbst erkennende, ihr eigenthümli­ ches Geschäft von dem Einflüsse der übrigen V er­ mögen des Gemüthes unterscheidende Vernunft her­ vorgebracht ist. Ic h rede hier von dem vollständi­ gen, richtigen, durchaus wahren Begriffe, der eben darum von allen Zusätzen der Phantasie rein seyn m uß, in seiner Zusammensetzung weder ein wesentliches Merkmal fehlen lassen, noch ein überflüssiges enthalten darf, und daher, durch eine vollendete Zer­ gliederung seines In h a lts bis an die Gränze des B e ­ greiflichen zurück geführt, erschöpft seyn muß. Ein solcher Begriff läßt sich nur durch eine Philosophie hoffen, die der menschliche Geist bis jetzt noch nicht errungen hat, und die nur mit der Entdeckung eines letzten allgemeingeltenden Fundamentes alles philo­ sophischen Wissens beginnen kann. B is dahin wird jeder philosophische B e g r i f f von Reckt und Un­ recht sich seinem Objekte mehr oder weniger nähern, nie dasselbe erreichen, und bey aller W ahrheit ein. zelner Merkmale als Grundbegriff, als Vorstel­ lung von dem W e se n seines Objektes, falsch seyn; er wird nur so lange richtig seyn, als er in seiner gänzlichen Undeutlichkeit mit dem moralischen G e.

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fühle selbst verwechselt, — er wird in dem Au. genblicke unrichtig werden, als er zur Deutlichkeit er­ hoben wird *). B is dahin wird auch jede Hand­ lung, die nicht aus dem bloßen moralischen Gefühle hervorquillt, sondern etwa nach einer aus demunrich­ tigen Begriffe von Sittlichkeit gezogenen Folgerung unternommen wird, zwar für moralisch gehalten werden, aber nichts weniger als moralisch seyn. I n dieser Rücksicht hätte unser bisheriges Philosophie­ ren über Sittlichkeit wohl alle Sittlichkeit aufheben müssen, wenn diese von der denkenden Vernunft und von Begriffen überhaupt abhienge. Gleichwohl hat die Philosophie durch das Unrichtige, das in allen ihren bisher aufgestellten Begriffen von Moralität enthalten ist, der eigentlich moralischen K u l­ tu r eben so viel Abbruch, als durch das Richtige, das in diesen Begriffen zerstreut vorkömmt. Vorschub gethan. Denn, wenn sie durch das letztere das moralische Gefühl weckte und unterstützte, so reihte und bestärkte sie durch das erstere den eigen­ nützigen T rie b , indem sie das P rin c ip der Selbstliebe bald offenbar, bald unter einem an­ deren Namen, zum Range der moralischen Trieb­ feder erhob. * ) Ein deutlicher, da« heißt ein zergliedert« Begriff ist darum noch kein richt iger Begriff. Die Zer« gliederung zeigt nur, was man in dem Begriff zu­ sammengefaßt hat; nicht was man in denselben hätte aufnehmen oder weglassen sollen. J a ' der De» griff kann auch durch ungeschickte Zergliederung selbst unrichtig werden.

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Das ästhetische G e fü h l hat mit dem moralischen unter andern auch dieses gemein, daß es sich selbst überlassen untrüglich ist, — auf B e g riffe gebracht, die nicht das Werk einer auf allgemeingeltenden Grundsätzen feststehenden Philo­ sophie sind, verkannt, — und, in wie ferne diese Begriffe auf das Urtheil der Künstler und Kunst­ kenner Einfluß gewinnen, in seiner reinen und vol len Wirksamkeit gehindert wird. Durch den be­ kannten Zusammenfluß günstiger Umstande erwachte das G e fü h l der S chönheit bey dm a lte n Griechen in seiner ursprünglichen Reinheit und Energie, und brachte Meisterwerke der Kunst her­ vor, die bis jetzt unerreichbar geblieben sind. Ic h stimme dem vortrefflichen Verfasser des Aufsatzes die Kunst und das Z e ita lte r in der T h a ­ lia völlig bey, wenn er behauptet, daß der Ge­ schmack und der durch denselben bestimmte Kunst­ sinn der Griechen, weit entfernt durch unsre Th e orien wiederhergestellt zu werden, vielmehr durch dieselben (so viel an ihnen liegt) unmöglich gemacht werde. Gefühle können durch keine Begriffe ersetzt, noch weniger aber können die Objekte untrüglicher Gefühle durch vieldeutige, schwankende, halbwahre Begriffe gedacht werden, ohne Grundsätze zu ver­ anlassen, die jenen Gefühlen widersprechen. Allein ich bin überzeugt, daß der Geschmack der Griechen nicht nur wieder aufleben, sondern eine Stütze er­ halten wird, die er nie gehabt hat, und durch die ihm eine ewige Dauer zugesichert werden wird, wenn

es

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es einst der philosophierenden Vernunft gelungen senn wird, nicht etwa was sich nur fühlen laßt, zu denken, sondern die wirkende Ursache der ästhetischen Gefühle aus einer feststehenden Wissenschaft der Vermögen des Gemüthes abzuleiten, und einen B e g ri.ff von Schönheit aufzustellen, vernicht we. niger als das Gefühl derselben untrüglich ist. Ich kehre zu unsrer Erklärungsart des Ge­ fühls von Recht und Unrecht zurück, um zu zeigen, wie sich durch dieselbe die Entstehung der verschiede­ nen bisherigen Grundbegriffe von P flic ht und Recht begreifen, und das Wahre und Falsche in denselben bestimmen.lassen. I n wie ferne Pflicht und Recht lediglich in dem von allem Räsonnement unabhängigen Ge­ setz der praktischen Vernunft gegründet sind, in so ferne können sie sich im Bewußtseyn urspkÜNglich keineswegs durch Beg rif fe, sondern nur durch Gefühle ankündigen, und zwar nur durch solche Gefühle, die von allen durch physische Ein­ drücke erzeugten Empfindungen wesentlich verschie­ den sind, und die den einzigen praktischen, von allem Räsonnement unabhängigen, und allgemeingültigen Ueberzeugungsgrund für das Sittengesetz und Na­ turrecht ausmachen. Man begreift hieraus, wie die engländischen Vertheidiger des moralischen S i n n e s dazu gelangt sind, den letzten angebli­ chen und eigentlichen Grund für Sittlichkeit und Recht in einem bloßen Gefühle aufzusuchen, daZ Neinholds Dr. 2 . D> 3

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sich aus seinem Objekte nicht erklären ließe, weil dieses Objekt nur durch dasselbe im Bewußtseyn be­ stimmt würde; das dem Willen durch Vergnügen und Mißvergnügen ankündigte, was er zu thun und zu unterlassen hätte; das man aber übrigens weder für eine Wirkung theoretischer Einsichten, noch äußerer Eindrücke auf das Gemüth ansehen, folg­ lich weder von der Denkkraft noch von der Sinnlich­ keit ableiten könnte. Aber man begreift auch Erstens, daß in dieser Erklärungsart der im sittlichen Gefühl unstreitig vorhandene ursprüngliche Ueberzeugungsgrund von Pflichtend Recht, mit dem Grunde der Möglichkeit und W i r k ­ lichkeit dieser Objekte verwechselt, und dasssittliche Gefühl, das nur W ir ku n g der sittlichen Triebfe­ der seyn kann, für diese Triebfeder selbst, oder für die Ursache jenes Gefühls angenommen ist. Zweytens, daß durch die Behauptung: Es lasse sich für die Sittlichkeit außer dem bloßen Gefühle kein Criterium angeben, und das sittliche Gefühl sey in Rücksicht auf seine wirkende Ursache unbegreiflich, Pflicht und Recht unter die q ual i t a t e s o c c u l t a s gezählt, und der V e r ­ nunft alle Möglichkeit abgesprochen wird, das sitt­ liche und unsittliche Gefühl von dem nichtsittlichen zu unterscheiden. Zwar soll sich der Charakter der Sittlichkeit und Unsittlichkeit nach diesem Systeme durch bas sittliche Vergnügen und Mißvergnügen genugsam im Bewußtseyn ankündigen. Aber woran

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soll sich die S i tt l i c h k e i t dieses Vergnügens und Mißvergnügens erkennen, wodurch diese just und Unlust von allen andern unterscheiden lasse», wenn sie nur als Wirkungen einer ganz unbekannten Ursache, und keineswegs als das durch sich selbst einleuchtende Produkt der prakti­ schen V e r n u n f t im Bewußtseyn vorkommen sollten? D r i t t e n s . Ware das Vergnügen und Mißvergnügen das lehte und einzige Criterium, durch welches sichRecht und Unrecht dem Bewußtseyn an­ kündigten, und läge folglich der lehte begreifliche und angebliche Grund desSittengeseHes lediglich in einer unbegreiflichen Lust und Unlust: so würde diesesGe« seh keineswegs in der Selbstthätigkeit, sondern in einem leidenden Vermögen der Person gegründet seyn; und es würde von der unbekannten Ursache der sittlichen Lust und Unlust abhangen, ob und wenn sie der Person jenes derselben fremde GeseH ankündigen oder vielmehr auflegen würde oder nicht. — Durch diese Lust und Unlust würde aber nicht nur das S ittengefeh, sondern auch die sittliche Handlung selbst bestimmt seyn; sie würden nicht nur den Grund ent­ halten, durch den dieses GeseH gegeben, sondern auch durch den dasselbe befolgt wird. Die unsitt­ liche Handlung würde aus der bloßen Abwesenheit jener Lust und Unlust, oder aus dem Uebergewichte des physischen Vergnügens über das moralische er­ folgen; und da sich die Person dabey bloß leidend verhalten könnte, so würde die Freyheit des W il-

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Dritter

Brief.

len6, die sich im Selbstbewußtseyn ankündiget, und der von dieser Freyheit abhängende Unterschied zwi­ schen dem Freywilligen und Unfreywilligen, und der innere Charakter, der die sittlichen und unsittlichen Handlungen -von den nichtsittlichen unterscheidet, eine bloße Täuschung seyn. W a h r ist daher in dem Systeme der engli­ schen Weltweisen, daß das sittliche Gefühl die ur­ sprüngliche und natürliche A rt und Weise ist, wie stch Pflicht und Recht im Bewußtseyn ankündigen : aber u n w a h r ist es, daß dieses Gefühl der ur­ sprüngliche Bestimmungögrund sowohl des Sitten« gefetzes als des demselben gemäßen WollenS sty. Dieses wird durch F r e y h e i t der Person, jenes durch die praktische Vernunft bestimmt. Durch unsre Erklärungsart wird es begreif­ lich, wie andere Philosophen dazu gelangt sind, das W o h l w o l l e n als den eigentlichen Bestimmungs­ grund von Pflicht und Recht anzunehmen; und es wird zugleich einleuchtend, was in ihrer Vorstel­ lungsart Wahres und Unwahres enthalten ist. M an würde die teutschen Weltweisen, die stch zu dersel­ ben bekennen, mißverstehen, wenn man dafür hiel­ te, daß sie unter diesem W o h l w o l l e n , etwa wie Rousseau, das sympathetische Gefühl gedacht wis­ sen wollten, das, in der Reihbarkeit der Organisa­ tion gegründet. Recht und Unrecht der Beschaffen­ heit unsrer Muskeln und Nerven unterwerfen

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würde. — Wenn man ihre Behauptungen im Zusammenhange erwägt, so ergiebt es sich, daß sie unter dem vermenschlichen Natur eigenthümli­ chen Wohlwollen, in welchem sie den Grund der sittlichen Verbindlichkeit gefunden zu haben meynen, eine Gesinnung gegen andere Menschen verstehen, die schlechterdings unveränderlichen Gesehen unterworfen ist, und die sich theils durch Enthal­ tung von aller Beeinträchtigung des fremden Wohl­ standes als Gerechtigkeit, theils durch die thätige Beförderung desselben als W o h lth ä ti g ­ keit äußert. Es ergiebt sich aber auch eben dar­ aus, daß sie nur von dem sittlichen Wohlwol­ len, das heißt, demjenigen sprechen, welches aus dem Sittengesehe erfolgt, und das eben darum keineswegs der Grund der Verbindlichkeit dessel­ ben seyn kann. Sie behaupten sehr richtig, daß die Pf li cht in allen Fällen anderen Menschen Scha­ den zuzufügen verbiethe, und in gewissen Fällen den Nutzen derselben zu besorgen gebiethe, und daß jeder Mensch ein strenges Recht habe von keinem andern beleidigt zu werden. Aber da sie selbst keineswegs jede, durch was immer für einen Grund bestimm­ te, Enthaltung von Beleidigung für eine Handlung der Gerechtigkeit, noch jedes Wohlthun ohne Ausnahme für eine Handlung der Pflicht anerkennen; so können sie unmöglich, ohne sich selbst zu widersprechen, den Grund der Gerechtigkeit und Pflichtmäßigkeit in dem Abscheu vor Beleidigung, und in der Lust am Wohlthun aufsuchen, welche beyde

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in vielen Fällen unsittlich fcnit können, und in den meisten wenigstens nichtsittlich sind. Durch unsere Erklärungsart wird es begreif­ lich, wie andere Philosophen dazu gelangt sind, den eigentlichen Bestimmungsgrund von Pflicht und Recht in dem Triebe nach Glückseligkeit, das heißt, in dem durch theoretische Vernunft modificierten Triebe nach Vergnügen aufzusuchen. Es ist eine unläugbare Thatsache, daß sich das Gefühl der Pfiichtmäßigkeit und Pflichtwidrigkeit, Rechtmä­ ßigkeit und Unrechtmäßigkeit durch Vergnügen und Mißvergnügen ankündiget. Durch das sittliche Gefühl wird daher auch derjenige Trieb befriedigt und beschränkt, der, in wie ferne er Vergnügen überhaupt zum Objekt hat, eigennützig heißt. Als tust und Unlust gehört also auch das sittliche Gefühl unter die Objekte des eigennützigen Triebes, unge­ achtet seine wirkende Ursache die praktische Vernunft, die nichts als das Gesetz um seiner selbst willen zum Objekt hat, ein schlechterdings uneigennütziger Trieb heißen muß. Als Vergnügen gehört das moralische Gefühl unter die Bestandtheile der Glückseligkeit, und als Objekte dieses Vergnügens gehören Pflicht und Recht unser die Objekte desTriebes nach G l ü ckfeligkeit. Allein, daraus, daß die Sittlichkeit auch eine der unmittelbaren Befriedigungen dieses Triebes ist, folgt doch keineswegs, daß sie nichts anderes sey. Daraus, daß derselbe bey demSit»

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tengeseße auch seineRechnung findet, folgt nochnicht, daß er der sittliche Gesehgeber sey. Die praktische Vernunft liefert durch das sitt­ liche Vergnügen nicht nur unmittelbare Bestandtheile der Glückseligkeit, sondern stellt auch durch ihr Ge seh eine der vornehmsten Bedingungen auf, unter welchen sich die übrigen Arten des Vergnügens zur Idee der wahren Glückseligkeit vereinigen lasten. Ohne den dem Sittengeseh angemessenen Willen ist diese Idee nicht einmal denkbar. Unsittlichkeit ist eine unerschöpfliche Quelle auch desphysischenElends, und die sittliche Gesinnung verwahrt nicht nur gegen zahllose vermeidliche Uebel, und macht die unver­ meidlichen erträglich, sondern gewährt einzig und durch sich selbst wahre Ruhe und Zufriedenheit des Herzens, und durch den vernünftigen Gebrauch der Gaben des Glückes und der Natur eine Menge un­ schuldiger Freuden, von denen der Lasterhafte sich selbst ausschließt. Grundes genug, um die S i t t l i chk ei t als ein M ittel zur Glückseligkeit, und zwar in wie ferne die reinen, dauerhaftesten, edelsten Ge­ nüsse aus ihr hervorquellen, in wie ferne sie auf das ganze Leben den entscheidendsten Einfluß hat, und in wie ferne sie die einzige lediglich von uns selbst abhängige Bedingung des Wohlbefin­ dens ist, für das erste und vornehmste Mittel zur Glückseligkeit anzuerkennen. Aber auch Veranlas­ sung genug, sie durch eben dasjenige zu verkennen, wodurch man sieam bestimmtesten zu erkennenglaubt.

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Dritter

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und sie in ihren Gründen herabzusehen, indem man sie in ihren Folgen erhebt. Veranlassung genug, zu wahnen, daß sie, die unstreitig das vornehmste M itte l zur Glückseligkeit ist, auch keinen andern und hohem Zweck haben könne, — daß der Einfluß des Sittenqefetzes auf das Wohlbefinden den letzten und eigentlichen Grund seiner Verbindlichkeit ausmache, und daß der W ille bey der Befolgung desselben nichts als jenen Einfluß vor Augen haben könne. So wurde das Gesetz, das seinen so großen und entschei­ denden Einstuß auf Glückseligkeit eben dem Umstande verdankt, daß es als Gesetz der praktischen Vernunft lediglich durch sich selbst nothwendig und von der Sanktion des Triebes nach Vergnügen unabhängig ist, dieser Sanktion unterworfen, und die sittliche Gesinnung, aus der nur in so ferne und in dem Ver­ hältnisse Glückseligkeit erfolgt, als in derselben der freye Willen das Gesetz lediglich um des Gesetzes willen befolgt, die Gesinnung, für welche die Glück­ seligkeit selbst nur in so ferne einen Werth hat, als sie aus der Sittlichkeit erfolgt, die Gesinnung, welche das Wohlbefinden nur als ein M ittel zum Rechthandeln gebraucht, und Tod und leben der Psticht unterordnet — unter dem Namen des Stre­ bend nach Glückseligkeit mit bloßer Selbstliebe und eigennütziger Klugheit verwechselt. So kam die M o­ ral zu der leidigen Benennung der Glückselig­ keit 6 l eh r e, durch welche sie so mancher berühmte Schriftsteller unter uns nicht nur am bestimmtesten zu bezeichnen, sondern auch noch zu ehren meynt.

Dritter

Brief.

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Daben vergaß man, daß die Begründung und Vermehrung der Glückseligkeit, die sich keines­ wegs unabhängig von äußeren Umständen denken läßt, unter Voraussehung dieser Umstände zwar die natürliche, aber keineswegs ohne dieseVoraussetzung die unmittelbare und schlechthin nothwendige Folge des moralischen V e r h a l te n s sey. Glückse­ ligkeit, wenn man andere einen Zustand des gegen­ wärtigen Lebens (ohne darum das zukünftige auszu­ schließen,) darunter verstehen w ill, erfolgt aus der Sittlichkeit nur dann und in so ferne, wenn und in wie ferne — nicht bloß die äußern Thatsachen der Erfahrung ( ohne welche sich die Erhaltung und der wenigstens erträgliche Zustand der physischen Exi­ stenz durchaus nicht denken lassen,) gegeben, sondern auch, wenn und in wie ferne die U rt h e il e der D e n k k r a f t , durch welche die Anwendung des an sich unfehlbaren Sittengefetzes auf einzelne Fälle be­ stimmtwird, richtig sind: das heißt, wenn unter dem untrüglichen Obersatz, den die praktische V er­ nunft durchs moralische Gefühl ankündiget, keine unrichtigen Untersatze subsumirt werden; wenn die freye Handlung nicht bloß praktisch, sondern auch theoretisch vernünftig, nicht bloß moralisch, sondern auch klug ist, und folglich aus keinem irrigen Gewis­ sen erfolgt. Eben diese unläugbare Unentbehrlich­ keit der K l u g h e i t , welche allein verhindern kann, daß nicht eine und eben dieselbe Handlung für die Vernunft praktisch nothwendig und theoretisch un­ möglich, innerlich gut und äußerlich verderblich,

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D ritte r Brief.

heilig und thöricht sen, und aus der sich die Wichtig­ keit der wissenschaftlichen Kultur in Rücksicht auf die moralische am auffallendsten crgiebt, hat das Mißverständniß veranlasset, durch welches die Weisheit, oder die moralische Klugheit, mit der Klugheit überhaupt verwechselt, die Regel der A n ­ wendung des SittengeseheS, welche Erfahrung und theoretische Vernunft vorausseht, für das S ittengeseh selbst, das von beyden unabhängig ist, an­ gesehen, und Sittlichkeit und Recht in dem bloßen wohlverstandenen Eigennutz (der ihnen freylich nicht widersprechen, aber sie eben so wenig begründen kann) aufgesucht und gefunden wurden. Durch unsre Erklärungsart wird es begreif, lich, wie andere Philosophen dazu gelangt sind, den Bestimmungsgrund von Pflicht und Recht in der V o l lk o m m e nh e it, als dem nothwendigen Ob­ jekte unsrer vernünftigen Natur, anzutreffen. Der durch praktische Vernunft bestimmte Gegenstand des moralischen Gefühls ist freylich, in wie ferne er Ge­ setz ist, eine Vollkommenheit, und die demselben gemäße Handlung des Willens läßt sich nicht ohne Einheit des Mannigfaltigen, ohne Zusammenstim­ mung zu Einem Zwecke denken. Allein da nicht jede Vollkommenheit Objekt des moralischen Ge­ fühls, nicht jede Einheit des Mannigfaltigen W ir­ kung der praktischen Vernunft und des freyen W il­ lens, nicht jede Zusammenstimmung zu einem Zwecke die lediglich um ihrer selbst willen beabsichtigte Ge-

Dritter

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§r

fetzmäßigkeit ist: so kann die moralische Voll­ kommenheit nicht ohne Ungereimtheit durch Voll­ kommenheit überhaupt erklärt werden; so kann nicht jede Vollkommenheit als solche, sondern nur dieje­ nige, die nicht Grund, sondern nur Folge der Handlung der praktischen Vernunft ist, das Objekt des moralischen Vergnügens seyn; so kann auch nicht diese Vollkommenheit und das ihr entsprechend« Vergnügen, sondern nur die wirkende Ursache von beyden, die durch sich selbst gesetzgebende Vernunft, allein der bestimmende Grund von Pflicht und Recht seyn. Durch unsre Erklärungsart wird es begreif­ lich, wie eine sehr ansehnliche Parthey von (Schrift­ stellern dazu gelangt ist, das Naturrecht von der M oral zu trennen, und den Grund des Einen gänz­ lich außerhalb des Gebiethes der Andern aufzusuchen. Indem sie die innere, von aller äußeren Nöthigung unabhängige, und durch die vernünftige Natur ledi­ glich bestimmte Verbindlichkeit des Sittengesetzes anerkennen, und dieselbe von der äußeren Verbind­ lichkeit, die sie für den Charakter des Naturrechtes halten, von der Zwangspflicht unterscheiden, glauben sie den Charakter der M o r a l i t ä t lediglich auf die Gewissenspflicht einschränken, und den Grund des Naturrechts in einem bloß physischen und eigennützigen Triebe, den sie den Trieb der Selbst­ erhaltung nmnen, annehmen zu müssen. Allein sie verwechseln das physische Vermögen zu zwin-

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Dritter

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gm, ohne welches sich frenlich keine Zwangspflicht denken laßt, und das nur im Körper gegründet seyn kann, mit dem moralischen, ohne welches der Z w a n g unmöglich mit Pflicht und Recht zusammen gedacht werden kann, und das nur aus der prakti­ schen Vernunft quillt. Der Trieb der Selbsterhal­ tung kann so wenig der Grund des Naturrechtes seyn, daß er selbst vielmehr nur in Rücksicht auf die Re c h t mä ß i g k e i t seiner Forderungen Objekt desselben seyn kann; und diese Rechtmäßigkeit wird durch ein Geseh bestimmt, nach welchem die Selbst­ erhaltung in vielen Fällen der Erhaltung anderer aufgeopfert werden muß. N ur dann kann der Zwang zu einem Rechte erhoben werden, wenn die Sclbsterhaltung nicht etwa bloß durch das Naturgesetz mög­ lich , sondern auch durch das Sittengesetz erlaubt ist. D as Naturrecht läßt sichdaher in seinem Unterschiede von demjenigen Theile der M oral, der die bloßen Gewissenspflichten behandelt, zwar nicht ohne den Trieb der Selbsterhaltung denken, und dieser letztere gehört in so ferne allerdings zum Objekte desselben; aber nur als der durch das Recht bestimmbare, nicht als der das Recht bestimmende Bestandtheil dieses Objektes; nur als dasjenige, wodurch die Pflicht zur Zwangspflicht, nicht wodurch sie zur Pflicht wird, als die Materie, nicht als die Form des stren­ gen Rechtes; — oder das Naturrecht ist nichts als was man, durch einen unverantwortlichen Mißbrauch des Wortes Recht das Recht des S t ä r k e r n nennt.

D r i t t e r Brief.

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Aus unserer Erklärungsart wird es begreiflich, wie auch sonst wohlgesinnte und feibsidenkendeSchnftstellet1/ wie sogar Philosophen von Profession diesen Mißbrauch für den einzig richtigen Gebrauch, dep außer dem Gerichtshöfe des Gewissens von dem Worte Recht gemacht werden dürfte, halten kennten. Das Gesetz, welches die praktische Vernunft! dem Naturrechte zum Grunde legt, fordert ebei^ dieselbe Unverletzlichkeit der Personen und des Eigenthums, und eben dieselbe tAufopferung des Privatvortheils, welche der Staat zu seiner E r­ haltung zu erzwingen genöthiget, oder durch aus­ drückliche -und stillschweigende V e rträ g e zu for­ dern berechtiget ist. Eine allerdings blendende Ver­ anlassung, jene Forderungen des Naturrechtes nicht vom moralischen Gesetze, sondern das Naturrecht Und dieses Gesetz selbst vom Bedürfnisse des Staates-und den Folgen dieses Bedürfnisses, Ver­ trägen, positiven Gesetzen, Einrichtungen u. s.nv. abzuleiten. Diese Täuschung wird auch noch durch die unleugbaren Thatsachen unterstützt — daß in dem Staate, als S taat, keine anderen als posij tive Gesetze gelten; daß die meisten Menschen.nur durch die Furcht vor der Strafe von Verbrechen ab­ gehalten werden: daß, nach dem Zeugnisse der Ge­ schichte , die bürgerlichen Gesellschaften und dir vor­ züglichsten unter den Repräsentanten und Regenten derselben kein höheres Gesetz als den V o r th e il des Staates, oder den Wohlstand ihres Eigenthums über sich erkannten. Alle diese Thatsachen erfolgen

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Dri tt er Brief.

nach unsrer Erklarungsart, theils aus bet Freyheit des Willens, durch welche der Mensch gegen dos Gesetz der praktischen Vernunft dem Instinkte eben sowohl zu dienen als durch dasselbe ihm zu gebiethen vermag; theils aus der Beschränktheit des mensch­ lichen Geistes, der nicht nur zur richtigen Anwen­ dung des Sittengesetzes, sondern auch zur Kenntniß seines wahren Vortheils des langwierigen Utuerrichres der Erfahrung, und einer langsam fortschreiten­ den Kultur seiner Denkkraft bedarf; theils endlich daraus, daß der Vortheil des Staates, in wie ferne er den Gesehen der Gerechtigkeit nicht zuwider ist, für den Staat Recht und für dessenVerwalter Pflicht ist. Für denjenigen hingegen, der den Bestimmungsgrund von Pflicht und Recht nur in der äu­ ßern Erfahrung aufsucht, müssen jene Thatsachen freylich nur aus dem eigennützigen, an physische und psychologische Gesetze gebundenen Triebe erfolgen, und die leidige Voraussetzung bestätigen, daß sich unter Pflicht keine andere Nothwendigkeit, und un­ ter Recht keine andere Möglichkeit denken lasse, als die aus demUebergewichte der S t ä r k e erfolgt. Wer kennt nicht die Geschicklichkeit gewisser W e l t ­ leute, jede Handlung der Gerechtigkeit, der Güte und der Großmuth aufs natürlichste aus der Selbst­ liebe — und jede, bey der diese Hypothese nicht auslangt, aus — Wahnsinn zu erklären? Sie beweisen dadurch allerdings, daß ihr Gefühl für Sittlichkeit nicht viel klarer seyn könne, als ihr Be­ griff von Sittlichkeit deutlich ist; zeigen hingegen

D r i t t e r Br i e f .

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eine desto ausgebreiteter? Wetterführung und tiefere Erkenntniß — I h r e r S e l b ft. D a sich das praktische Gesetz n u r im S e l b s t b e w u ß t s e y n ankündigen kann, und das Wesen der M oralität in der freyen, dieses Geseh ergreifenden, oder ver­ werfenden, und also durch Freyheit demselben ge­ mäßen oder widersprechenden R i c h t u n g des blo­ ß e n W i l l e n s besteht: so läßt sich aus der äu ­ ß e rn , in der Erfahrung sich offenbarenden GesetzMäßigkeit und Gesehwidrigkeit einer Handlung (aus der bloßen Legalität oder Illegalität) keineswegs auf ihre M oralität schließen. W er daher die Realität des Sittengesehes und Naturrechtes lediglich nach äußeren Erfahrungen prüfen will, der wird dieselbe jederzeit, und zumal bey dem bisherigen und gegen­ wärtigen Zustande unserer wissenschaftlichen und mo­ ralischen K ultur, für einen frommen Traum eines gutherzigen Schw ärm ers anzusehen geneigt seyn, und das B onm ot des seligen S c h m a u ß , der sich als Professor des Naturrechtes P ro fe flo r N o n E n tis schrieb, nicht sowohl für einen witzigen Ein­ fall, als für ein Resultat des philosophischen Scharf­ sinnes anerkennen. A us unserer Erklärungsart wird es endlich begreifiich, warum wir bis jetzt noch keine M o r a l und kein Naturrecht als Wissenschaft, d. h. als ein feststehendes, anerkanntes und einziges, aus allgemein­ geltenden Grundsätzen bestehendes System auszu­ weisen habe». D a s mor alis che G e f ü h l , wo-

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D r i t t e r Brief.

durch sich Pflicht und Recht bisher allein unverkenn­ bar ankündigten, und welches bis jetzt den einzigen wahren Ueberzeugungsgrund von der Realität, und eigentlichen Beschaffenheit des Objektes der M oral und de« Naturrechtes ausmachte, wird zwar soll« Wirkung der praktischen Vernunft immer u n trü g ­ lich , aber auch zugleich so lange unbegreiflich bleiben muffen, als nicht der eigenthümliche Cha­ rakter der V e r n u n f t , dasjenige, was sie vom Verstände sowohl als von der Sinnlichkeit urzter« scheidet, und was ihr, als denkender und handeln­ der Vernunft, sowohl gemeinschaftlich, als in bey« den Rücksichten ausschließend zukommt, völlig ent­ deckt, entwickelt, und auf allgemeingeltende .Grund­ sätze zurückgeführt ist. B is dahin wird jeder Grundbegriff der Moral und des Naturrechtes mehr öder weniger undeutlich und willkührlich, und in so ferne zum ersten allgemeingeltenden Grundsätze der Wissenschaft untauglich ftyn. E r wird seine Undeutlichkeit und Willkührlichkeit dadurch offenba­ ren, daß er verschiedener Deutungen fähig seyn, and nur Eine unter den Partheyen der Kenner und Pfleger der angeblichen Wissenschaft befriedigen wird. Es wird so vielerley Hauptvorsiellungsarten von dem-Objekte der Moral und des Naturrechtes geben, als es metaphysische Hauptsysieme giebt. Ich- kenne kaum etwas ungereimteres, als die Protestationen so mancher Moralisten und Naturrechtölehrer gegen die Metaphysik,

aus

D r i t t e r Brief.

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aus der sie doch sammt und sonders ihre Bekannt­ schaft mit der wirkenden Ursache der Gefühle von Pflicht und Recht schöpfen müssen, wenn sie nicht ihre Unwissenheit dieser Ursache eingestehen, und folglich ihren Grundbegriff von Recht für grund­ los oder unbegreiflich erklären wollen. S o lange nun noch diese Metaphysik, als angebliche Wissen­ schaft der D i n g e an sich, auch die besten Köpfe verwirren wird: so lange wird man auch die Vernunft das Gesetz der sittlichen Handlungen nicht aus ihrer Selbstthätigkeit schöpfen, sondern von den leidigen D i n g e n an sich erhalten- las­ sen; und dieses Gesetz wird so vielerlei) Auslegun­ gen zulassen, als es tehrmeynungen über die N a ­ tur dieser Dinge giebt und geben kann. Allein in keiner einzigen derselben wird die Selbstthätig­ keit der Vernunft, ihr praktisches Gesetz und die F r e y h e i t des Willens, welche zusammen die eigenthümlichen Charaktere der Sittlichkeit und der wirkenden Ursache des Gefühls von Pflicht und Recht sind, denkbar seyn; sie werden in einigen geradezu geläugnet, in den übrigen aber mit leeren und den Begriffen widersprechenden Worten be­ hauptet werden. D ie M oral und das Naturrecht werden auch nicht eher Wissenschaft werden, das heißt, aus allgemeingeltenden Grund - Lehr - und Fol­ gesätzen bestehen können, als bis das große, von dem einen Theile der bisherigen Philosophen für unauflöslich, von dem andern für längst aufgelöst gehaltene Problem von dem Relnholdö Dr. z, Dd.

Gesetze und von ©

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Dr i t t e r

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der F r e y h e it des W ill e n s die von jenem Gesetz nicht aufgehoben, sondern viel­ mehr vorausgesetzt wird zur allgemeinen Befriedigung aller zukünftigen Selbstdenker aufge­ löst, und die Philosophie aus einem Aggre­ gate unzusammenhängend« und einander widerspre­ chender Meynungen zu einem einzig möglichen und wirklichen streng wissenschaftlichen System er­ hoben seyn wird; eine Bedingung, deren reelle Möglichkeit sich bey dem gegenwärtigen Zustande unsrer wissenschaftlichen und sittlichen Kultur freylich leichter bezweifeln als begreifen läßt.

V i e r t e r Br i e f . Ueber die bisherige Mi ßhelligkeit zwi­ schen der moralischen und der p o l i t i ­ schen Gesetzgebung, und zwischen der natürlichen und der positiven Rechtswissenschaft. ( § ie bemerken sehr richtig, l. F r., daß die gegen­ seitige Unzufriedenheit die gegenwärtig zwischen den Philosophen und den Pflegern der positiven Wissen­ schaften herrscht, und die sich auf beyden Seiten nicht selten durch Verachtung oder Lästerung dessen, was man nicht versteht, äußert, die leidige

Vierter Brief.

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Folge haben müsse, beyde Theile der wicl'tlgen V o r­ theile zu berauben, welche sie durch gegenseitige M it­ theilung und Benutzung ihrer E insichten für die K ul­ tu r ihrer eigenen Facher gewinnen könnten nnd soll­ ten. N ichts desto weniger glaube ich diese Unzu­ friedenheit demjenigen Einverständnisse weit vor­ ziehen zu müss-n, welches sich noch vor kurzem auf die Verm engung der R e l i g i o n mit der M o r a l, und des p o s itiv e n Rechts mit dem n a t ü r l i c h e n gründete; wo der Philosoph alle G e w is s e n s ­ p f l i c h t von dem geoffenbarten W illen G ottes, und alles ä u ß e r e R e c h t von der Staatsverfassung und dem W illen der politischen Gesetzgeber ablei­ tete , und der Theolog und Ju rist zu philosophieren glaubten, wenn sie das P o s i t i v e an den kirch­ lichen Glaubensartikeln und politischen Gesehen aus der M e t a p h y s i k demonstrierten. Ic h sehe an die­ ser ehemaligen Eintracht eine eben so natürliche Folge des v e r k a n n t e n U n t e r s c h i e d e s , als an der heutigen Mißhelligkeit — des v e r k a n n t e n Z u ­ s a m m e n h a n g s zwischen den philosophischen und positiven Wissenschaften. W enn sich das Verkanntseyn einer unentbehr­ lichen Sachet-urch g l e i c h z e i t i g e Geringschätzung und Überschätzung, welche ihr von zwey entgegen­ gesetzten Partheyen widerfährt, ankündiget, und wenn das Ü bertriebene an der Herabsetzung sowohl als an der Erhebung a u f f a l l e n d w ird; so führt es die Epoche herbey, mit welcher, durch genauere

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Vierter

Brief.

Bekanntschaft mit der Sache selbst, eine richtigere Schätzung ihres Werthes, und ein besserer Gebrauch derselben anfangt. Die Rechtsgelehrten und Staatsmänner werfen den Philosophen Geringschä­ tzung , und diese jenen Ueberschätzung des positiven Rechtes vor. Wenn diese Vorwürfe, die noch nie so laut lind so allgemein als eben jetzt ertönt haben, gegründet sind: so war das Bedürfniß, die herr­ schenden Begriffe über diesen wichtigen, von zy>ey Partheyen gleich verkannten Gegenstand zu berich­ tigen, noch nie so dringend, und eine Revolut i on in diesen Begriffen, die für die Philosophie, Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Staatskunst die wohlthätigsten Folgen haben muß, noch nie so nahe, als gegenwärtig. Es ist nicht sowohl die Gesinnung des großen Haufens, als die Denkart der Aufgeklärteren, die sich heut zu Tage gegen den Zwang der positiveil Ge­ setze und Rechte empört. Der Pöbel schleppt das gewohnte Joch, das ihm die Willkühr eines Despo­ ten auflegt, und das er nur durch die Unbesonnen­ heit desselben gezwungen abwirft, in der Gedankenlosigkeit eines Lastthiers dahin; während er die recht­ mäßigste Gewalt den Handen, denen er sie selbst anvertraut hätte, in dem Augenblicke wieder entreißen würde, als er den unvermeidlichen aber gerechten Druck derselben unangenehm zu füh­ len anfinge. Der selbstdenkende Menschenfreund hingegen,, welcher die Untersuchung der sittlichen

V ie rte r B rie f.

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Verbindlichkeit und der durch dieselbe bestimmten unveränderlichen Pflichten und unverlierbaren Rechte der Menschheit zu seinem Hauptgeschäfte macht, und der die unläugbaren und empörenden Widersprüche, die ihm zwischen den sittlichen Pflichten und Rechten und manchen positiven Gesehen und sogenannten Rechten in die Augen springen, keineSwegeS als ein gleichgültiger Zuschauer betrachten kann, — fühlt sich dann durch den Unwillen in seiner Gemüthsstimmung geneigt, das Ganze der bisherigen positiven Einrichtungen für nicht viel mehr als für eine trau« rige Nothhülfe anzusehen, die den Mangel der mo­ ralischen Kultur eben so augenscheinlich ankündiget, als unwürdig ersetzt und nachtheilig verewigt. .Auf der andern Seite sind es zwar freylich meistens nur die feilen Miethlinge der Unterdrücker, die theils schwärmerischen, theils Hinteristligen Verfechter des Aberglaubens, und die blinden Werkzeuge des poli­ tischen Mechanismus, welche die ursprüngli­ chen (sogenannten natürlichen) Rechte der Menschheit lästern oder verspotten, die deutlich­ sten Auesprüche der Vernunft durch sinnlose Glau­ bensartikel niederschlagen, die dringendsten Fede­ rungen der Menschlichkeit durch Herkommen und ge­ schriebene Gesetze abfertigen. Allein auch nicht we­ nige helldenkende und wohlwollende Rechtsgelehrte und Staatsmänner sind völlig überzeugt, daß die Vernunft keinesweges aus sich selbst Regeln schöpfen könne, noch weniger aber, daß sie lediglich durch sich selbst ein nothwendiges allgemeines, und

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V i e r t e r Br i e f .

zwar ein a lle in h e ilig e s und unveränderliches Gesetz ausstelle, wodurch sie den der positiven Gesetz» gebung geleitet würde. Sie glauben zu wissen, daß die Vernunft auch in dieser Rücksicht, wie in allen übrigen, lediglich von der Erfahrung abhange, nie durch sich selbst, sondern immer nur durch fremde Thatsachen bestimmt werden müsse, und folglich keine anderen als positive Gesetze hervorbringen, und den politischen Verfassungen und Verwaltungen zum Grunde legen könne. Sie lehren daher, daß die bereits vorhandenen, durch bloße sinnliche Bedürf­ nisse der Gesellschaft und äußere Umstände veran­ laßten positiven Gesetze die einzige Grundlage von neuen und bessern werden könnten, bey deren Erzeugung die Vernunft ebenfalls N U r nach Maß­ gabe jener Bedürfnisse und Umstände zu Werke ge­ hen könnte. Sie berufen sich zur Bestätigung die­ ser Behauptungen auf die Philosophen von Pro­ fession, von denen ohngefähr die eine Hälfte das Vorhandenseyn, und die Möglichkeit ursprünglicher, durch bloße Vernunft bestimmbarer Rechte der Menschheit läugnet, die andere aber über das We­ sen und die eigentliche Beschaffenheit dieser Rechte nur so lange mit sich selbst einig ist, als sie ihre schwankenden Begriffe in rednerische Darstellungen verhüllt; in dem Augenblicke aber, als sie sich auf eine genauere Rechenschaft über dieselben einläßt, in Partheyen zerfällt, deren Meynungen sich gegen­ seitig aufheben.

Vierter

Brief.

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Philosophen und Juristen sind darüber einig. Laß der gegenwärtige Einfluß der Philosophie auf die Jurisprudenz sehr unbedeutend sey; und der Philosoph sieht aus diesem Grunde die Jurispru­ denz, der Jurist hingegen die Philosophie für etwas eben sounbedeutendes an. Beyde vergessen die Un­ vollkommenheiten ihres eigenen Faches über die Feh­ ler des fremden, welche sie nicht sowohl in dem verbesserlichen Zustande beyder Wissenschaften, als in einer vorausgesetzten Unverbesserlichkeit derselben aufsuchen. Der Jurist findet an dem Feststehenden und Ausgemachten seines Faches den w issenschaftli­ chen C ha ra k te r, den er an dem Schwankenden und Streitigen der Philosophie vermißt. E r sieht die positiven Rechte auf unläugbare Thatsa­ chen, die sogenannten natürlichen hingegen auf streitige und vieldeutige Principien gegründet. E r sieht jene durch Gesetze bestimmt, die theils durch die natürlichen Bedürfnisse, theils durch die Gewalt der Staaten festgehalten werden: diese aber von sogenannten Grundsätzen abhängig, welche durch Leute ohne alle Erfahrung, aller Erfahrung zuwider, und zum Behuf anderer schon vorher als wahr angenommener Behauptungen erkünstelt sind, uhb die selbst in den Studierstuben, außer welchen sie durchaus keine Gültigkeit haben, eben so oft geläugnet als behauptet werden. E r glaubt, eben diese Unzuverlässigkeit jedes bisher aufgestellten Grundbegriffes vom N a t u r recht, die sich durch

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V i e r t e r Br i ef .

die fortwährenden Streitigkeiten unter den eifrigsten Vertheidigern dieser angeblichen Wissenschaft offen­ bare, mache es den Gesetzgebern sowohl als den Ge« sehkundigen zur Pflicht, sich sorgfältig alles Gebrau­ ches jener angeblichen Principien zu enthalten, und die bisher so glücklich behauptete Unabhängigkeit der mit dem Wohl und Weh der Menschheit so innigst zusammenhängenden Wissenschaft des Rechts — von bloßen Meynungen, auch für die Zukunft durchzusehen. Der Philosoph hingegen findet eben an dem Feststehenden und Ausgemachten der positiven Rechte nicht selten den Charakter der Unwissenheit und des Stumpfsinnes, die sich der fortschreitenden und durch allmähliche Anerkennung der unwandelbaren Gesetze der Vernunft zu bewirkenden Veredlung der Menschheit widersehen. Er sieht an den Thatsa­ chen, worauf jene Rechte gebaut sind, gemeiniglich nichts als Erscheinungen der Ungerechtigkeit und der Unvernunft in finstern Zeitaltern, unglückliche Be­ gebenheiten für den größern Theil der Menschheit, durch Zufall veranlaßt, deren Folgen der Zufall selbst längst wieder gut gemacht haben könnte, wenn sie nicht eben durch geschriebene und mit Gewalt be­ festigte Gesetze eine künstliche Dauer erhalten hät­ ten. Nichts ist in seinen Augen ungereimter, als die angebliche Unveränderlichkeit der positiven Ge­ setze durch die Sanktion, die ihnen die physische Ge­ walt des Stärkern giebt. Denn er weiß, daß dies«

Vi erter Brief.

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Sanktion, wenn sie nicht dem Geseh der Gerechtig­ keit untergeordnet, und durch die unveränderlichen Regeln der mit sich selbst einigen Vernunft gelenkt w ird, lediglich von äußern Umständen abhängt, die in einem unaufhörlichen Wechsel begriffen sind, und um so gewisser den Umsturz einer unnatürlichen und ungerechten Staatsverfassung herbeyführen, je künst­ licher und je gewaltsamer die Maßregeln waren, durch welche der Despot der (zur fortschreitenden Vered­ lung bestimmten) menschlichen Natur die veralteten Formen ihrer Unmündigkeit aufzudringen strebt. D er Jurist glaubt die gute Sache derjenigen Gesetze zu fuhren, die für die Menschen, wie sie nach dem Zeugnisse der Erfahrung wirklich beschaffe» sind, gemacht wären. E r spottet über die angebli­ chen Gesetze, aus denen die Philosophen die natür­ lichen Pflichten und Rechte herleiten, und die nur für das Abst r akt um Menschheit, nur für die Menschen, wie sie nach metaphysischen Spekulatio­ nen beschaffen seyn sollten, berechnet wären. Ekel und Unwillen ergreift ihn bey dem Gedanken an Ge­ setze, zu deren Erkennmiß der gesunde Menschen­ verstand nicht hinreiche, ob sie gleich für alle M en­ schen ohne Ausnahme da seyn sollten; welche wahr zu finden, man durchaus Philosoph, und zwar von der Sekte des Schriftstellers seyn müsse, der sie ge­ gen die Schriftsteller von andern Sekten vertheidi­ get; — und deren Beobachtung eben dieselbe K ul­ tur schonvoraussetzen würde, die der Philosoph selbst

Vierter Brief. erst durch sie erwartet. E r beruft sich aus das über alle Zweifel erhabene Daseyn der positiven Gesetze, welches denselben durch ihre, dem gesunden Men­ schenverstände einleuchtende Unentbehrlichen aus im­ mer verbürgt würde; während die Entbehrlichkeit der philosophischen Pflichten und Rechte durch ihre fettst auf den Studierstuben noch streitige Wirklich, feit, und durch die Thatsache, daß sich die wirkliche W elt ohne sie bisher beholfen hat, außer allem Streit gesetzt würde. Der Philosoph macht den positiven Gesetzen den Vorwurf, daß sie für die wirklichen Menschen, Hur in wie ferne diese durch äußere und veränderliche Umstände der Erfahrung modificiertflnd, und ohne Rücksicht auf die unverlierbaren Forderungen ihrer unter allen diesen Umständen unveränderlichen ver­ nünftigen N a t u r berechnet wären; baß sie eben die moralischen Uebel, deren Folgen sie zurück zu treiben bestimmt waren, durch die Aufstellung und Verewigung der Gründe derselben hervorbrächten; daß sie, um die äußeren Erscheinungen des Lasters zu verhindern, die Tugend unmöglich machten, um die Aeußerungen der Unsittlichkeit zu unterdrücken, die Fortschritte der Sittlichkeit aufhielten — und, um ein unrichtiges Ideal eines Bürgers zu realisie­ ren , den wahren Charakter der Menschheit zerstörten. Der Philosoph weiß, daß die Menschen kei­ neswegs wirklich dasjenige sind, was die meisten positiven Gesetze von ihnen voraussetzen. Er weiß.

Vierter Brief.

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daß bey diesen Gesehen mehr auf zufällige Erschei­ nungen der menschlichen Natur unter zufälligen äu­ ßeren Lagen, als auf das Wesen derselben, das niemand weniger als den Eroberern und Despoten bekannt seyn könnte, Rücksicht genommen scn. E r weiß, daß die S i t t e n , von denen das Wohl ei­ nes Staates mehr als von seiner Verfassung ab­ hängt, durch Zwangsgesetze weder hervorge­ bracht noch erseht, sondern nur unter der V or­ aussetzung begünstiget werden können, daß diese Gesetze den von ihnen unabhängigen Principien der Sittlichkeit nicht widersprechen. E r weiß, daß die positiven Gesetze ihre wahre Brauchbarkeit nur durch die Ger echti gkei t erhalten können, die nur dann S ta tt findet, wenn der mit ihnen verbundene Zwang nicht bloß durch physische Macht durchgesetzt, son­ dern durch ein höheres, über alle Ausnahmen erha­ benes Gesetz bestimmt wird, das sich von jeher durchs moralische Gefühl angekündigt hat, und des­ sen bestimmten B e g r i f f nur die Philosophie Herbeyschaffen kann. E r weiß, daß die Erhaltung einer S t a a t ö v e r f a s s u n g und eines S t a a t e s zwey sehr verschiedene Dinge sind; daß die eine nur um der andern willen da seyn soll; und daß es daher Fälle geben könne, wo die Verfassung -em Staate aufgeopfert werden müsse; ja! daß, so ein noth­ wendiger Zweck auch die Erhaltung des Staates seyn möge, sie gleichwohl nicht jedes M ittel rechtfertigen könne; und daß ungerechte positive Gesetze und eine auf Unterdrückung wesentlicher Menschenrechte ge-

jc

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Vierter Brief.

gründete Verfassung, den S taat durch eben dieselben Scüßen, durch welche sie ihn eine Zeit lang schein­ bar empor halt, untergraben müsse. E r erkennt, mit einem Worte, die Unentbehrlichkeit positiver Ge­ setze und Rechte: aber er fordert zur G ü l t i g k e i t derselben, daß sie nicht durch die Rücksicht auf V o r­ theil oder Nachtheil des, auf was immer eine A rt, S t ä r k e r n im Staate bestimmt seyn, daß sie kei­ neswegs durch bloße physische Gewalt bestehen sol­ len. E r fordert zu ihrer Gültigkeit diejenige Recht­ mäßigkeit, von der alle diejenigen keinen B egriff haben, welche dieselbe von der Triebfeder des Eigen­ nutzes und der Sanktion durch Zwang abhängen las­ sen; eine Rechtmäßigkcit, die, in wie ferne sie die Gültigkeit von jedem positiven Gesetze und Rechte be­ gründen soll, von keinem derselben die Fol ge seyn kann; und in wie ferne sie von der, der Mensch­ heit wesentlichen F r e y h e i t des W i l l e n s unzer­ trennlich ist, das Eigenthümliche hat, daß sie bey vielen menschlichen Handlungen vermißt wird, ohne bey einer einzigen entbehrlich zu seyn; daß ihre un­ bedingte Nothwendigkeit durch keine ihr widersprechende Begebenheiten, Gesetze, Verfassungen u. s. w. widerlegt werden kann; daß der Rechtschaffene, der ihr aus freyer Willkühr huldigt, sie darum nicht we­ niger für unnachlaßliche Pflicht, ansehen, und der Bösewicht, der ihr aus eben dieser W illkühr zuwi­ der handelt, sich als einen Nichtswürdigen verab­ scheuen, oder wenigstens verachten müsse.

Vierter Brief. D er Jurist glaubt eben in der von der na« türlichen Freyheit

Recht mäßi gkei t

unzertrennlichen

den zureichenden Grund angeben zu

können, warum er das Naturrecht für eine höchst bedenkliche Chimäre erklärt. E r meynt, eben darum, weil die positiven Gesetze, ihrer N a tu r nach, von dein freyen Willen der Unterthanen unabhängig wä­ ren, wurde durch sie das Eigenthum, die öffentliche R u h e,

und das gemeine Beste überhaupt, sicher

gestellt: während ebendiese Gesetze, um der verän­ derten Beschaffenheit der Sraatsbedürfniffe ange­ messen zu seyn, dem Willen der Obrigkeit unterwor­ fen wären, und diese daher a l l e i n in einem S taate f r e y seyn müßte. E r meynt, das Naturrecht hebe durch den Umstand, daß die Gültigkeit des Gesetzes, worauf dasselbe beruht, der Ueberzeugung und dem Selbstgefühl eines jeden unterworfen sey, alle S i ­ cherheit des Eigenthums auf, gebe die Staaten un­ aufhörlichen Revolutionen Preis,

und begünstige

einen weit schlimmeren Despotismus, als jedes von ihm unabhängige positive Recht; indem es durch den Vorzug, den es sich über das letztere anmaßt, den Unterthan zum Richter der Obrigkeit setzt, Unzu­ friedenheit mit den feststehenden Staatsverfassungen, Verachtung gegen die althergebrachten Gesetze, Haß gegen ihre Vertreter verbreitet, und den größeren und schlechteren Theil einer Nation zur Unterdrückung des kleineren und besseren einladet. D e r Philosoph behauptet, daß sich ohne jene ursprüngliche, unverlierbare persönliche F r e y h e i t

1 10

Vierter

B r i e f.

der menschlichen Natur kein Recht überhaupt den­ ken lasse; daß die positiven Gesetze nur in so 'ernt rechtmäßig seyn und heißen können, als se die Schuss« wehre jener Freyheit sind; daß die gesetzgebende Macht im Staate, die mit der Obrigkeit nicht zu verwechseln ist, ihre rechtmäßige Gewalt nicht von ihrer physischen Stärke, sondern von dem allgemei­ nen vernünftigen W i l l e n allein erhalten könne; und daß folglich alle Obrigkeiten ohne Ausnahme den von Ih re r Privatwillkühr unabhängigen Gesetzen jenes Willens unterworfen seyen. Er weiß gar wohl, daß das Naturrecht ohne positive Gesetze eben so gewiß ein bloßes (obgleich durchgängig durch Ver­ nunft bestimmtes) Ideal wäre, als die Rechtmäßig­ keit der positiven Gesetzen ohne jenes Recht ein Un­ ding seyn würde, und daß die Erkennmiß des Na­ turrechtes eben so viele Hochachtung gegen gerechte als Verachtung gegen ungerechte positive Gesetze hervorbringt. E r läugnet nicht, daß unbestimmte Grundsätze des mißverstandenen Naturrechtes zum Vorwand von Empörungen gemißbraucht werden können. Aber er behauptet, daß der Grund von der bisherigen Unbestimmtheit und Unrichtigkeit in den herrschenden Begriffen über diesen wichtigen Ge­ genstand, grbßtentheils in der durch ungerechte po­ sitive Gesetze mittelbar und unmittelbar gehinderten Kultur und beschränkten Denkfreyheit aufzusuchen sey. E r giebt zu, daß z. B . bey der gegenwärti­ gen Revolution in Frankreich die Repräsentanten der Nation im Namen des größeren Theiles den Rech-

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ten des kleinern zu nahe getreten sind: aber er er« kennt eben daran eine der leidige» Folgen des von« gen Despotismus, der die Rechte des größeren Theils zum Vortheil des kleinern in Beschlag genommen hatte. E r sucht die Ursache von der zu weit getriebenen und in so ferne unrichtigen Anwendung der Principien des Naturrechtes in derjenigen Un­ bestimmtheit und Vieldeutigkeit dieser Principien auf, womit sie unter den vorigen Regierungen von Phi­ losophen aufgestellt und verbreitet wurden, denen bey ihren Schriften mehr darum zu thun war, ihre G e f ü h l e deö Unrechts laut werden zu lasten, als den B e g r i f f des Rechts kaltblütig zu entwikkeln, mehr durch Voltairschen S pott, oder Rousseausche Beredsamkeit, auf Welt - und Geschäftsleute zu wirken, als durch schulgerechte Erörterungen die alten Streitigkeiten der Philoso­ phen von Profession zu erneuern und schlichten zu wollen. D ie juristischen Ueberschäßer des positiven Rechtes geben nicht nur zu, sondern behaupten so­ gar bey jeder Gelegenheit, daß es den philosophi­ schen Geringschähern desselben — und diese geben ebenfalls nicht nur zu, sondern behaupten sogar, daß es jenen an einem bestimmten B e g r i f f e von dem zwischen ihnen streitigen Gegenstände fehle; und beyde erkennen, daß mit dem Mangel eines solchen Begriffes bey der Gegenpatthey auch die Veranlas­ sung ihres Streites dlishören würde. Unpartheyische Zuschauer hingegen sind längst darüber einig, daß

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dieser Mangel benden (heisenden Parthenon ge­ meinschaftlich sey, und dass die Pfleger des positi­ ven Rechts, die durch dasselbe das Nafurredu ver­ drängen wollen, das Wesen von beyden eben so we­ nig kennen, als die Philosophen, welche das posi­ tive Recht durch das natürliche überflüssig machen zu können glauben. Allein nur äußerst wenige un­ ter diesen Unpartheyischen dürften ihre Unparcheylichkeit weit genug treiben, um sich überzeugen zu lassen, daß auch ihre Begriffe nicht bestimmt ge­ nug sind, um sich aus denselben den gemeinschaft­ lichen Grund des Mißverständnisses zwischen den beyden Partheyen angeben zu können. N ur we­ nige dürften mit den logischen Bedingungen der Beendigung eines solches Streites bekannt genug seyn, um sowohl zu wissen, daß hiezu ein durch­ gängig bestimmter Begriff unentbehrlich sey, als auch: was zu einem solchen B e g r i f f e gehöre. Nur wenige endlich dürften den Zu­ stand der Quellen, aus welchen die Begriffe vom positiven Rechte bisher geschöpft worden sind, und aus welchen sie geschöpft werden können und sollen, genug untersucht haben, um einzusehen, dass, so lange jener Zustand wahret, ein durchgängig be­ stimmter Begriff von diesem hdchstwichtigen Ge­ genstände schlechterdings unmöglich sey. Zwar ist die Unpartheylichkeit unsrer unpar­ theyischen Zuschauer nicht seltkn eine bloße Folge ihrer Gleichgültigkeit über den Gegenstand des S trei­ tes,

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tes, auch wohl des Stumpfsinnes, und der Arbeit scheue, die unter der Maske einer gemäßigten Denkart so gerne dahin gestellt seyn lasten, was sich nicht ohne Anstrengung und seltene Vorkenntnisse prüfen laßt. Allein ich weiß, daß auch sehr vor. zügliche Köpfe, und eifrige Forscher der Wahrheit, die im Allgemeinen soleicht zu erringende Ueber­ zeugung, daß die Wahrheit zwischen zwey Extremen das M it tel halte, aus den ge­ genwärtigen Fall anwenden, und schon dadurch allein den bestimmten Begriff vom positiven Recht zu besitzen glauben. Gleichwohl kann man zu die­ semBegriffe keineswegs durch jene allgemeineUeber, zeugung gelangen: sondern sein Besitz muß vor. her gehen, wenn der vorgeschlagene Mittelweg zwischen der Ueberschähung und Geringschätzung des verkannten Gegenstandes etwas mehr als ein ausgetretener Gemeinplatz seyn soll, auf dem sich die Vermittler in einem ewigen Zirkel vergebens herumtummeln. Ich glaube daher die Wahrheit ganz auf meiner Seite zu haben, wenn ich be­ haupte, daß es bey dem bisherigen Zustande der Philosophie, Jurisprudenz und Staatskunst auch den aufgeklärtesten Philosophen, Juristen und Staatsmännern an einem durchgängig bestimmten, und durchaus richtigen Begriff vom positiven Rechte gefehlt habe. Man sammle und vergleiche die hier, her gehörigen Aeußerungen unserer vorzüglichsten Selbstdenker; und man wird freylich ihre Begriffe vom positiven Rechte ungleich bestimmter und richt ReinholbS Dr. 3. D. H

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kiger als die herrschenden, aber so wenig durch­ g ä n g i g bestimmt und ganz wahr finden, dass man vielmehr über ihre Verschiedenheit und den durch­ gängigen Widerspruch in den wesentlichsten Merk­ malen erstaunen, und über den gänzlichen Mangel feststehender Principien des Rechtes, der freylich in den gedankenlosen Lukubrationen der sogenannten Praktiker und bey dem mechanischen Gang juristi­ scher Geschäfte selten in die Augen fallen kann, kei­ nen Augenblick zweifelhaft bleiben wird. Nichts ist natürlicher, als daß der selbstdenkende Rechtsge­ lehrte und Staatsmann versucht wird, seinen be­ s ti mmteren Begriff für einen durchgängig bestimmten zu halten, wenn er denselben mit den gewöhnlichen Begriffen seiner gelehrten auch wohl berühmten College» vergleicht, die unter posi­ tivem Rechte nichts weiter als das Aggregat von den­ jenigen feststehenden Verfassungen, Gesehen und Befugnissen verstehen, die freylich unläugbare That­ sachen sind, und über welche, in wie ferne sie sich in dieser Eigenschaft erweisen lassen, keine Verschie­ denheit der Meynungen S tatt finden kann; bey de­ nen aber der bloß gelehrte Jurist den in der Wissen, schaff des Rechts allerdings bedeutenden Umstand vergißt, daß ih r wirkliches V o r h a n d e n ­ seyn durchaus nichts für i h r e Rechtmä­ ß i g k e i t beweise. Es fehlt uns nicht an philosophischen Ju ri­ sten und Geschäftsmännern,

die über das positiv«

Vierter Brief. Recht weit bestimmter und richtiger denken, als die­ jenigen unter den Philosophen von Profession, die dasselbe mit dem Naturrecht verwechseln, und nur in so ferne gelten lassen, als es sich a p rio ri demon­ strieren läßt, die entweder aus m a t e r i a l i s t i ­ schen, oder s pinozistischen oder skeptischen Grundsätzen das positive Recht für das einzig N a ­ türliche erklären, oder mit den Supernaturalisten alles Recht, von der an sich unbegreiflichen und nur durch Offenbarung bekannten, willkührlichen V er­ anstaltung der Gottheit herleiten. Allein so lange die bessere Einsicht nur in der Entfernung von ge­ wissen ungereimten Vorstellungsarten besteht; so lange eine bloß negative Richtigkeit des Begriffes für die positive gehalten w ird: so lange ist für das Einverständniß der Selbstdenker so viel als nichts gewonnen. M an kann gar wohl darüber einig seyn, was ein D ing nicht sey, ohne darum sich über das, was es wirklich sey, zu verstehen; und man ist viel­ leicht nie weiter von der letztem Erkenntniß entfernt, als wenn man sie bereits in der erstem zu besitzen glaubt. D ie Unrichtigkeit von manchen angenom­ menen Vorstellungsarten über das positive Recht wird ziemlich allgemein durch die Ungereimtheit ih­ rer Folgen eingesehen, ohne daß darum die Rich­ tigkeit der einzigen wahren Vorstellungsart aus ihren einzig möglichen Gründen, meines W is­ sens, auch nur von Einem Schriftsteller bisher dargethan worden wäre.

V ierter Brief. Um eben d iese R i c h t i g k e i t , die nur dem d u r c h g ä n g ig b e s tim m te n Begriffe vom posi­ tiven Rechte eigen ist, die von einer Z u s a m m e n , f a s s u n g der in ihm enthaltenen M erkm ale ab­ h an g t, wobey weder ein w e s e n tlic h e s weggelas­ sen noch ein ü b e r f lü s s ig e s aufgenommen ist, und die daher durch keine bloße Zergliederung des B egriffes, d e n m a n w irk lic h h a t , sondern nur durch die Wissenschaft möglich ist, die den B e ­ griff, d e n m a n h a b e n so ll, vorbereitet — um diese Richtigkeit hat man sich bisher gar nicht bekümmert, und zwar aus der sehr begreiflichen U r­ sache, weil m an weder von ihrer Möglichkeit noch von ihrer Unentbehrlichfeit auch nur die entfernteste Ahndung hatte, und wohl noch gegenwärtig nicht hat. W ie hatten auch außerdem berühmte und m it uuter auch philosophierende Juristen dafür halten können, daß eS für den richtigen B eg riff vom p o ­ s i t i v e n R e c h te ganz gleichgültig sey, w as m an von dem sogenannten N a t ü r l i c h e n denken möge? W ie hätte man sich sonst auch nur im Traum e ein­ fallen lassen können, daß die philosophischen B e ­ griffe von Recht und Unrecht, daß alles, w as m an bisher Meynungen der Philosophen nannte, daß der Zustand der Philosophie— auf das positive Recht und die Wissenschaft desselben keinen entscheidenden Einfluß habe, und daß man überhaupt ein selbst­ denkender Rechtsgelehrter seyn könne, ohne P h ilo ­ soph im strengsten S in n « des W ortes zu seyn? W ie hätte das gegenwärtig herrschende, und einst in den

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Augen unsrer Nachkommen gewiß eben so lächerliche als in den Augen unsrer Zeitgenossen ehrwürdige V orurtheil so tief einwurzeln können, daß man ein N aturalist oder Supernaturalist, ein Dogmatiker oder Skeptiker, ein Materialist oder Spiritualist seyn, und gleichwohl o h ne I n k o n s e q u e n z ei* nen richtigen und bestimmten Begriff von Recht und Unrecht haben könne? W ie hatte man sonst eine erschöpfende Zergliederung der Begriffe von Sittlichkeit, Freyheit, Selbstthätigkeit, V e r n u n f t , — deren Richtigkeit oder Unrichtig­ keit mit dem Begriffe von Recht und Unrecht in ei­ nem und eben demselben Kopfe nur durch Gedan­ kenlosigkeit oder Irrth u m ohne Zusammenhang seyn kann — als eine für den Juristen ganz entbehrliche und zeitverderbende Arbeit von der Hand weisen, au f die Zergliederer jener Begriffe mit stolzer Gleich­ gültigkeit oder wohl gar mit S pott herabsehen, und sich dadurch nicht nur keineswegs Beschämung, son­ dern das Ansehen eines weisen S a c h k e n n e r s erwerben können? D ie positive Rechtskunde ist seit einer gerau­ men Zeit durch sorgfältigere Bearbeitung und B e ­ nutzung ihrer hi s tor is chen Hilfsquellen mit einem unermeßlichen Stoffe bereichert worden. D a s drin­ gende Bedürfniß, die herbeygeschafften M aterialien auch nur einigermaßen in Ordnung zu bringen, hat die Errichtung neuer Facher veranlaßt, die ihren S tiftern den Ruhm und den Ehrentitel der Rrfor-

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matoren erworben haben. Durch diese neuer F ä ­ cher waren freylich eben so viele Arten posciver Rechte, die kurz vorher unter einander vermengt und verwechselt wurden, abgesondert aufgeüellk. Allein, da bey dieser Vervielfältigung der A rte n an die durchgängige Bestimmtheit des G a tt u ig S b e g r i f f e s , der als le ite n d e s Princip der B e ­ urtheilung derselbe« hätte zum Grunde liegen sillen, gar nicht gedacht wurde: so mußte natürlich erfol­ gen, was in der That erfolgt ist, daß nehmlich der I n h a l t des Begriffes vom positiven Rechte durch eben die historischen Hülfsmittel, wodurch man den­ selben genauer bestimmt zu haben meynte, weit un­ bestimmter geworden ist; und daß mit jeder »euen Provinz, wodurch man das Gebieth der Wissenschaft erweiterte, die Gränzen desselben ungewisser und streitiger geworden sind. Indem man der Erfah­ rung und der Geschichte a l l e s und der Philosophie n ic h ts zu danken haben wollte, wurde derAnstruch von was immer für einer T h a t s a c h e , zumal von einem p o s i t i v e n G esetze, auf den C h a r a k ­ t e r d e r R e c h t m ä ß i g k e i t , immer anschlie­ ßender bloß hi stor isch bestimmt; und so nurde ziemlich alles poli ti s ch wir kli che für mo r a ­ lisch m ö g l i c h , das heißt, für r e c h t m ä ß i g erklärt. D ie Priester der Gerechtigkeit überließen es den Philosophen, unter sich darüber zu zaiken: was R e c h t heißen solle? und befragten ihrerseits die Erfahrung über das, was in der wirklichen Welt w i r k l i c h so h i e ß e ; erkannten dann auch für

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Recht, was durch das Corpus J u ris , den West­ fälischen Frieden, u.s.w. zu diesem Rang erhoben, und nicht etwa durch das fürstliche Cabinet desselben entsteht worden ist. — Uebrigens bekümmerten sie sich wenig um die Einwendungen der grübelnden M o r a l i s t e n , welche an jenen historischen Quel­ len der positiven Rechtmäßigkeit neben den unver­ kennbaren Spuren des natürlichen Gefühls für Recht und Unrecht nicht weniger unzweydeutige Merkmale des blinden Zufalls, der Unterdrückung und der gro­ ben Unwissenheit bemerkt haben wollten. Es ist eine Folge der Beschränktheit des mensch­ lichen Geistes, daß er so leicht und so gewöhnlich bey seinen Nachforschungen bald das Allgemeine über das Besondere, bald dieses über jenes aus den Augen verliert. Ein berühmter Schriftsteller, der seit mehreren Jahren Materialien f ir das, was er Geschichte der Menschheit nennt, sam­ melt, und der, wie es sich aus den Protzen, die er von Zeit zu Zeit aus seinen Collektaneen dem Publi­ kum vorlegt, ergiebt, die Eigenheiten der verschiede­ nen Stämme und Völker mit eben soglücklichem E r­ folg als seltenem Fleiße studiert — vergißt darüber sosehr sich mit dem Charakter der Mensch­ heit überhaupt bekannt zu machen, daß er sich die Sklaverey mit diesem Charakter zusammen den­ ken kann, und zur völligen Zuläffigkeit derselben nichts weiter, als eine von der Natur weniger frey­ gebig ausgestattete Organisation fordert. Auf eine

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ähnliche Weise haben unsre berühmten juristischen Schriftsteller über die mühsamen und zum Theil ver­ dienstvollen Untersuchungen, welche sie über die be­ sonderen positiven Rechte nach den histori­ schen Erkenntnißquellen derselben angestellt haben, den Begriff des positiven Rechtes überhaupt vernachlässigt. Da sie denselben aber nichts desto weniger bey unzähligen Veranlassungen denken muß­ ten: so dachten sie ihn in so ferne unrichtig, als sie die Merkmale, die seinen In h a lt ausmachen, aus den konkreten Begriffen, die ihm nur untergeord­ net seyn können, und folglich seine R ichtig ke it voraussetzen, zu abstrahieren gewohnt wurden. Es giebt wirkliche Menschen, die durch ihre Gesin­ nungen nicht weniger als durch ihr äußeres Schicksal Sklaven sind; „ a l s o , " schließt jener Philosoph, „ ist zwischen Menschheit und Sklaverey kein W i„ dersprach." Es sind durch gewisse positive Gesetze wirklich sogenannte Rechte der Leibeigenschaft, der willkührlichen Fürstengewalt, der Intoleranz u. s. w. festgesetzt; „ a l s o , " schließt der Rechtsgelehrte, «findet zwischen Recht und Leibeigenschaft, will,, kührlicher Fürstengewalt und Intoleranz u. s. w. » kein Widerspruch S ta tt." Diesem Raisonnemmt zu Folge denkt er sich dann das positive Recht überhaupt, als dasjenige Et w a s , das unter andern auch Leibeigenschaft, willkührliche Fürsten­ gewalt und Intoleranz moralisch möglich, daö heißt, rechtmäßig macht!!

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Wenn die Gegner des Naturrechtes die Nichtigkeit desselben aus den Streitigkeiten der Philosophen über den Grundbegriff folgern; so glauben sie nicht weniger die ausschließende Re a­ l i t ä t des positiven Rechtes durch den Um­ stand beweisen zu können, daß von den Kennem und Pflegern desselben über den Grundbegriff dieses Rechtes selten oder gar nie gestritten wird. Diese Eintracht ist nun freylich nicht zu laugnen, so wenig als die Zuverlässigkeit des Mittels, durchwel­ ches sie erreicht wurde; eines M ittels, durch wel­ ches auf einmal alle Streitigkeiten der Philosophen beendiget werden könnten, wenn sich dieselben, wie es in der Periode der Popularphilofophie wirklich den Anschein hatte, dazu bequemen wollten. D ie Kenner und Pfleger des positiven Rechtes ersparten sich alle Zänkereyen über den Grundbegriff ihrer Wissenschaft, indem sie sich sorgfältig des Nachdenkens über denselben enthielten. Hierzu haben die Selbstdenker unter ihnen, von de­ nen hier allein die Rede ist, und die allein Gründe nöthig haben, um sich in einem gegebenen Falle des Denkens zu enthalten, sehr scheinbare, sogar philo­ sophische Gründe. S ie hüten sich, ihre Zeit mit Grübeln, das heißt, mit Nachdenken über einen Gegenstand zu verschwenden, über den sich nichts weiter heraus bringen läßt, als was jedermann längst weiß. I n diesem Falle glauben sie sich mit dem allgemeinen B e g r i f f e vom positiven Rechte zu befinden. Sie sehen denselben als etwas längst

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ausqemachtes und allgemein anerkanntes voraus. Die Verschiedenheit der Erklärungen, unter welchen er selbst von Schriftstellern aus ihrem M ittel aufge­ stellt wird, betrifft in ihren Augen bloß W o rte , worüber sich Männer, die über die S a ch e selbst ei­ nig sind, nie zu streiten pflegen. Das positive Recht ist ihnen ein Ding, dessen ursprüngliche V or­ stellung sich durchaus nicht zergliedern läßt; und un­ bekümmert, ob diese Vorstellung angeboren, oder, wie die Vorstellungen von Farben und Tönen, aus Eindrücken entsprungen sey, erklären sie dieselbe für «in bloßes Abstraktum aus den individuellen Vorstellungen von den besondern in der Welt festste­ henden sogenannten Rechten. Indem sie den B e ­ g r if f des Rechts mit dem Gefühle desselben, das freylich eine einfache Vorstellung ist, verwechseln, so glauben sie, daß es dem Rechtsverständigen gar nicht auf die Untersuchung des I n h a l t s von jenem Begriffe ankäme, der sich nicht weiter auflösen ließe, und in eben derselben Form in allen einzelnen Fällen wieder vorkäme; daß ihm hingegen Alles an dem Umfange desselbengelegen seyn müsse, dessen V oll­ ständigkeit lediglich von der Menge und Beschaffen­ heit der juristischen Gelehrsamkeit und Erfahrung ab­ hängt ; und daß daher der Begriff des nächsten be­ sten, von allen philosophischen Einsichten entblößten Praktikers demBegriffe des Ersten unter allen philo­ sophischen Selbstdenkern vorzuziehen sey. Verge­ bens würde man ihnen zu zeigen suchen, daß der Be­ griff vom Recht überhaupt, und folglich auchvom

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positiven Recht, weder einf ach noch aus E r s a h r u n g s b e g r i f f e n a b s t r a h i e r t seyn könne; daß er durch die Denkkraft aus vielen höheren Begriffen zusammengesetzt, und eben darum der Gefahr, durch M angel oder Ueberffuß unrichtig gedacht zu werden, ausgesetzt sey; daß diese Unrichtigkeit durch P rax is und Erfahrung keineswegs aufgehoben, sondern viel­ mehr bey derselben durch die wiederholte Anwendung eines falschen Grundbegriffes vermehrt werde; und daß daher der erfahrenste S taatsm ann und Pfleger der Gerechtigkeit einen weit unrichtigem Begriff von Recht und Unrecht haben könne, als der nächste beste B a u e r, der seinen kunstlosen verworrenen B egriff lediglich von seinem sittlichen G e f ü h l e abstrahiert. Vergebens würde ihnen der Philosoph diese Einwen­ dungen entgegen stellen. D enn leider können sie ihn, in Rücksicht auf den (für sie ausgemachten) Ursprung des Begriffes von Recht aus der E rfahrung, auf eine sehr ansehnliche Parthey der Philosophen von Profession verweisen, welche alle Begriffe ohne Aus­ nahme aus jener Quelle ableitet; in Rücksicht auf die E i n f a c h h e i t aber — auf die gegenwärtig mehr als je verwickelten Streitigkeiten unter den Ken­ nern und Pflegern des N aturrechts, die jenen B e ­ griff zergliedert haben, und dadurch auf ganz wider­ sprechende Resultate gelangt sind. D ie sich selbst aufdringende Bemerkung, daß eben jmer Ursprung a u s d er E r f a h r u n g , und noch mehr die angebliche E i n f a c h h e i t allen Streik

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über die Merkmale des Begriffes vom Recht un­ möglich machen würden, wenn sie in der That S tatt fanden, scheint auf die Wenigen, denen sie nicht ent­ gangen ist, keinen andern Einfluß gehabt zu haben, als daß sie durch dieselbebestimmt wurden, die ganze Frage über den Ursprung und die Beschaffenheit jenes Begriffes als unbeantwortlich und überflüssig aufzu­ geben. „D e r wirklichen W e lt" habe ich Einen von diesen sagen hören, „is t es nicht um den V e ­ r g r if f des Rechtes, sondern um die Sache selbst „zu thu«, und die Sorge für diese macht es uns zur „P flich t, von den Uneinigkeiten über jenen keine „ Kenntniß zu nehmen." Als ich ihm hierauf er­ wiederte : „ daßdas Recht keine Sache wäre, die, „ wie ein Naturprodukt, unabhängig vom menschlichen «Geiste existierte; daß es als eine bloße Eigenschaft «des menschlichen Willens an den positiven Gesehen »entweder garnicht, oder nur durch vorhergegan„gene richtige Vorstellung von demselben, vorhan» den seynkönne; daß die V or st el l u n g des Rechts ,, dieRechtmäßigkeit einerHandlung begründen müsse, «und eben darum nicht erst aus derselben erfolgen „könne" — wurde ich mit dem Name» eines Id e a lis te n abgefertiget; und ich weiß, daß die ganze Zunft der Popularphilosophen das Urtheil ge­ gen die Gesundheit meines Menschenverstandes, das in jener Benennung enthalten ist, unterschrieben ha­ ben würde. Ich ließ mich dadurch nicht abschrecken, demManne einzuwenden: „daß es, wenigstens auf «dem Gebiethe der Wissenschaft, mehr auf

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„den B e g r i f f , durch den man allein etwas von der „Sache weiß, als auf die Sache selbst ankäme, und „daß von dem richtigen oder unrichtigen Begriffe das „glückliche oder unglückliche Schicksal der Sache auf „dem Gebiethe der Wissenschaft einzig und allein ab„hange." Allein ich brachte es mit diesem Einwurfe nicht weiter, als daß er mir die Unentbehrlichkeit der Logik für die Wissenschaft der Rechte einräum­ te, der sogenannten gesunden Logik, die von so manchem denkenden W elt - und Geschäftsmanne für die einzig mögliche und wahre Philosophie anerkannt wird, und welche man gleichwohl noch immer sogerne in die natürl iche und künstliche eintheilt; ver­ muthlich um sich durch den Besiß der natürlichen Logik, den die Gesetze des Wo hl st ande s jedem Ehrenmanne eingestehen, der unnöthigen und müh­ samen Weitläuftigkeiten, welche das Studium der künstlichen kosten würde, zu überheben. Unsre Ge­ schäftsmänner und schreibenden Gelehrten, die ihren akademischen Unterricht noch in einer Zeit erhalten haben, wo die wissenschaftliche Logik in größerm An­ sehen stand, pflegen sich unter einander immer eine» V e r s e he ns gegen die Logik zu beschuldigen, so oft sie sich einen unrichtigen B egriff, der nicht geradezu auf unwahren Thatsachen beruht, vorwer­ fen zu können glauben. W er sollte I h n e n auch zumuthen, zu wissen, worüber die Philosophen, und sogar die Logiker von Profession noch lange nicht im Reinen sind: - daß die Logik den I n h a l t von kei­ nem Begriffe Herbeyschaffen, daß sie nur die R e -

V i e r t e r Br i ef . geln aufstellen könne, nach welchen derselbe aus andern Quellen hergeleitet, und, wenn er ge­ funden ist, angewendet werden müsse; daß sie bey philosophischen Begriffen die höheren (nicht logigischen) P rincipie n, durch welche jener Inhalt bestimmt wird, ebensowenig als bey den historischen Begriffen die Data der Erfahrung, ersehen könne; und daß sie folglich nur in so ferne gesund heißen dürfe, in wie ferne sie die übrigen philosophischen Wissenschaften nicht nur nicht verdrängt, sondern vielmehr die Unentbehrlichkeit und Wichtigkeit derselben in ein helleres Licht seht." Wenn man auch nur die wenigen von mir bis­ her angedeuteten Vorurtheile, die von unsern be­ rühmtesten Rechtsgelehrten und Staatsmännern als weise Maximen befolgt und verbreitet werden, in Erwägung zieht: so wird man eösehr begreiflich fin­ den , wie es zuging, daß man bey der wissenschaft­ lichen Behandlung despositiven Rechts bisher nichts so sehr und so allgemein vernachlässigte, als was im ganzen Gebiethe der Wissenschaft das Erste und Wichtigste seyn sollte, den B e g r i f f ihres Ge­ genstandes; daß man sich diese Vernachlässigung sogar zum Verdienste anrechnete, und den rechten Weg zu einer Reformation der Rechtswissenschaft eingeschlagen zu haben meynte, indem man dasjeni­ ge, was ihr als Grund vorhergehen muß, für eine bloße Folge anzusehen anfieng, die sichaus demS tu­ dium derselben von selbst ergeben würde. Verge-

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bens wird man sich in der bisherigen Encyklopädie der Jurisprudenz nach einer vorbereitenden Wissenschaft (Propädeutik) umsehen*), welche das gestimmte Studium dieses Faches einleitete, sich vor allem mit dem Begriffe des positiven Rechtes beschäftigte, bi» Quellen, woraus er zu schöpfen ist, angäbe, seinen I n h a l t von seinem Umfange genau abgesondert vortrüge, den Un­ terschied sowohl als den Zusammenhang sei­ nes Objektes m it dem Naturrechte entwickelte, und, mit Einem Worte, das M i t t el g l i ed, durch wel­ ches die philosophische mit der positiven Rechtswissen­ schaft zusammenhängt, ausmachte. D i efe Wissenschaft kann nur das Werk der Philosophie seyn, die allein den durchgängig bestimm­ ten I n h a l t jenes Begriffes aufzustellen vermag. Die Wissenschaft des positiven Rechtes seht ihn vor­ aus, und kann ihn eben darum nicht herbey schaffen. E r muß an ihrerSpihe stehen, und kann ebendarum in ihrem ganzen Gebiethe nichts über sich haben. E r muß, als das allgemeine K r i t e r i u m der posi­ tiven Rechtmäßigkeit überhaupt, der Beurtheilung jeder Thatsache vorhergehen, die in jenem Gebiethe vorkommt, und kann eben darum weder in irgend einer von diesen Thatsachen enthalten seyn, noch von ihnen allen zusammen genommen abgezogen werden. Der Philosoph muß durch den entwickelten I n h a l t * ) Don nicht wenigen wirb die Encyklopädie selbst für diese Propädeutik angesehen und gebraucht.

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des Begriffes im A l l g em ei n e n bestimmen, was in den U m f a n g des positiven Rechtes gehören könne, und was aus demselben ausgeschlossen bleiben muffe; sowie der positive J u r i s t allein, und nur als solcher, sich mit demjenigen beschäf­ tigen kann, was in diesen Umfang wirklich ge. hört. Das Letztere kann der Philosoph als Philo» soph sowenig wissen, als der Jurist in der Eigenschaft des Juristen das Erstere. Der Philosoph muß dem Juristen die Bestimmung der wirklichen posi­ tiven Rechte, ihrer Arten und Individualitäten, über» lassen, der in dieser Rücksicht nicht auf Philosophie, sondern nur auf Geschichte und Erfahrung bauen kann. Der Philosoph, der aus seinen wissenschaft­ lichen Principien schöpfen w ill, was sich nur aus diesen beyden Quellen schöpfen läßt, macht in den Augen der W elt - und Geschäftsleute die Philoso» phie, in den meinigen aber nur sich selbst lächerlich, indem er etwas geltend machen w ill, was er selbst nicht kennt. Allein der Rechtsgelehrte, der die Wirklichkeit der besondern positiven Rechte durch Ge­ schichte und Erfahrung festsetzt, ohne unabhängig von beyden über die Rechtmäßigkei t derselben, durch einen bestimmten Begriff des positiven Rech­ tes überhaupt, mit sich selbst einig zu seyn; der RechkSverständige, der etwas für rechtmäßig aner­ kennt, weil es unter diesem Namen angenommen, durch Gewohnheit, Gewalt u. s. w. eingeführt ist; der also, anstatt das F a k t u m — dieses bestehe in einem positiven Gesetze, einer Regierungsform, einem

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einem Friedensschlüsse u. f. w. oder in was immer für einer juristischen Thatsache — der Rechtmä­ ßigkeit unterzuordnen, diese lediglich aus dem Faktum ableitet, — ist mir zwar nicht lächerlich; ober seine Gedankenlosigkeit und Unwissenheit ist mir nicht weniger abscheulich, als die Dummheit, die bis» weilen aus irrigem Gewissen, aber immer im Namen entweder der Religion oder des Staates, bisher jo viel geraubt und gemordet hat. Indem ich es durch die Behauptung: daß der Jurist, als solcher, den durchgängig bestimmten Begriff vom positiven Rechte schlechterdings nicht aufzubringen vermöge, mit den Rechtsgelehrten, Staatsmännern und Geschäftsleuten verderbe, em­ pöre ich die Philoftphen nicht weniger gegen mich, da ich gestehe: daß es, meiner innigsten Ueberzeu­ gung nach, der bisherigen Philosophie selbst an einem solchemBegriffe gefehlt hat. I n den seltenen Fällen, wo sich Philosophen von Profession mit dem positiven Rechte beschäftigten, nahmen sie entweder die schwan­ kenden und vieldeutigen Begriffe der Juristen an; oder sie bestritten dieselben, ohne sie auch. nur durch angeblich bessere zu ersehen; oder sie stellten ihnen andere entgegen, in welchen das sogenannte natür­ liche Recht mit dem positiven vermengt war. Bey der großen Gleichgültigkeit, die (zumal unter un­ sern Popularphilosophen, mit denen die Lehrstühle der Universitäten grdßtentheils beseht sind) gegen die durchgängige Be stimmtheit der philoso, Mtinholve Br. L. Bd. I

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phischen Begriffe herrscht, ist wohl nichts natürli­ cher, als daß die meisten unter ihnen den Begriff des positiven Rechts entweder gänzlich dahin gestellt fenti ließen, oder die durchgängige Bestimmtheit desselben theils für unmöglich ansahen, theils aber, indem sie die speciellejuristische Kenntniß seines Um­ fangs mit der allgemeinen und philosophischen sei­ nes I n h a l t s verwechselten, nur in der Rechts­ wissenschaft selbst für möglich hielten/ und sie daher den Juristen überlassen zu müssen glaubten, wah­ rend sie ihre Untersuchungen auf den Begriff des Rechts überhaupt, oder höchstens des Naturrechts einschränkten. Es ist freylich nichts gewissers, als daß diese beyden Begriffe von dem des positiven Rechtes vorausgesetzt werden, und unabhängig von demselben aufgestellt werden müssen. Allein, „was positiv heiße, und heißen könne, ohne daß der Begriff des Rechts, wenn er mit dem des positiven verbunden wird, aufgehoben werde," — diese Frage kann eben so wenig als die Frage über das Recht überhaupt von dem positiven Juristen als solchen,"muß schlechterdings durch Philoso­ phie beantwortet werden. Ueber die eine sowohl als die andere Frage hat die Philosophie bisher allerley mehr oder we­ niger unbestimmte Antworten, aber keineswegs die durchgängig bestimmte und einzig mögliche ausgestellt; und sie kann dieselbe auch so lange nicht aus»' stellen, als sie. selbst ihrem inneren Zustande nach

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bleibt, was sie bisher war, und als ihre Anhänger, die über alle Einwendungen erhabenen, und an sich selbst zur allgemeinenPeftiedigung tauglichen Grund, begriffe von Recht und positivem Rechte entweder schon wirklich zu besitzen glauben, oder für etwas, unmögliches halten. Die Uneinigkeit über diese- Grundbegriffe, eine That. fache, die wohl noch in keinem Zeitalter auffallender war als in dem unsrigen findet nicht etwa bloß un. fer dem großen Haufen der Halbdenker und Nach, bethet Statt: sondern sie geht von demhohen Rathe der Selbstdenker als von ihrem Hauptsitze aus. So lange aber diese Uneinigkeit dauert, (und sie wird so lange dauern, als der Mangel einer auf allgemein­ geltenden letzten Principien feststehender Elementar­ philosophie) so lange hat die Philosophie der Juris­ prudenz nichts anzubiethen, was diese als ein wissen­ schaftliches Princip, dasheißt, alseine zuverlässige, ausgemachte, unfehlbare Grundlage gebrauchen könnte; und der Jurist hat keine andre Wahl, als entwert yqn der Philosophie einen sogenannten Grundbegriff zu entlehnen, den er aus mehreren, mit gleichem Scharfsinn behaupteten Wahlen muß, und der immer von dreyphilosophischenPartheyen ge. gen Eine verworfen wird; oder wenn er einen sol­ chen Begriff (was ihm wohl nicht zu verdenken seyn dürfte) für kein Princip gelten lassen will, sich, dex ziemlich gemeinen Praxis zu Folge, ohne alles philosophische Princip zu behelfen.

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0 3 i cvt ct B r ie f.

Es fehlt aller bisherigen Philosophie an einem dlrrcbgängigbestimmten Begriffe vom Recht über. Haupt, und man kartn, so lange vergegenwärtige Zustand der Philosophie dauert, auch nicht darüber einig werden, was zu einem solchen Begriffe gehöre. Der Nebel) in welchen unsre Popularphilosophie diese Frage einhüllt, ist für gewohnliche Augen undurchdringlich. Sie hat alle Untersuchung über das, was man sich unter Vor. steltungen, Gedanken und Empfindungen, Begriffen und Gefühlen zu denken habe, als überflüssig und bedenklich verschrien; und folglich auch die Aufmerksamkeit auf den merkwürdigen Un« terschied zwischen Begriff und Gefühl, worauf bey jener Frage soviel ankömmt, niedergeschlagen. Sie hat das Gefühl des Rechts, das den äußeren Handlungen vorhergehen muß, undin Erman» gelung eines Begriffes zureicht, mit dem Begriffe des Rechts, welcher der Wissenschaft unent. behclich ist, — das eine, das sich als praktische Triebfeder der Handlung nicht zergliedern läßt, mit dem andern, der, als wissenschaftliches Principvoller,dete Zergliederung vorausseht- vermengt. Al­ lein dieses Unwesen der Popularphilosophie bekürnmerk mich nur in so ferne, als es eine Folge derjenigen Anarchie unter den Selbstdenkern ist, die von den meisten unter ihnen für das Kennzeichen und die Schuhwehre ihrer Freyheit gehalten wird, die aber, in meinen Augen wenigstens, als die Folge des Mangels allgemeingeltender Principien, die

Vierter Brief. F re y h e it der Vernunft mit dem, wodurch alle Freyheit untergraben wird — mit der G esetzlo­ s ig k e it verwechselt hat. D ie Popularphilosophen haben aufgehört den eigentlichen Selbstdenkern nach« zubethen, weil ste bey der aufs äußerste getriebenen Uneinigkeit unttr denselben nicht mehr wußten, was sie nachzubethen hatten. S ie halten sich an das G efü h l des Rechts, weil die Mangelhaftigkeit jedes von irgend einem Selbstdenker aufgestellten B e g rif» fe s von mehrern anderen feines Gleichen so augen­ scheinlich dargethan ist. Möchten sie sich doch m it diesem Gefühle, das, wo es sich wirklich äußert, auch wirklich untrüglich ist, behelfen, wenn es an­ ders nur möglich wäre, auf dem Gebiethe der Wis­ senschaft sich eines Gefühls zu bedienen, ohne den Gegenstand desselben zu denken, das heißt, durch Begriffe vorzustellen. Bey dem gegenwärtigen Zustande unsrer mo­ ralischen, wissenschaftlichen und politischen Kultur könnte dem verkannten und gemißbraucht«» positiven Rechte einstweilen kein wichtigerer Dienst geleistet werden, als wenn die Ueberzeugung: „daß es den Juristen sowohl als den Philosophen an einem gehö­ rig bestimmten Begriffe von demselben gefehlt habe," einleuchtend begründet, belebt, und verbreitet würde. Denn außerdem, daß sich nicht erwarten läßt, daß man sich um etwas bemühen werde, w a s man be rei ts zu besihen g l a u b t , ist auch schon durch diese Ueberzeugung die R e a l i t ä t des

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Vierter Brief.

positiven Rechtes, wenigstens gegen diejenigen V o r. würfe gerettet, denen dasselbe in der Form, in wel» cher es von den Juristen bisher bearbeitet und von den Philosophen vernachlässiget wurde, ausgesetzt war. Die Gründe, aus denen ich diese Ueberzeu­ gung herzuleiten versucht habe, treten übrigens der Ehre der verdienstvollen Selbstdenker unter den bishingen Juristen, Lehrern des Naturrechtes, und Philosophen so wenig zu nahe, daß diese vielmehr vollkommen durch sie gerechtfertiget werden. Der positive Rechtsgelehrte, der bisher unter den vor. handenen Begriffen vom positiven und natürlichen Rechte denjenigen wählte, der ihm der bestimmteste schien, hat keine Ursache sichdarüber zu schämen, daß sein Begriff nicht durchgängig bestimmt ist. E r mußte sich an dasjenige halten, was ihm die philo» sophische Rechtswissenschaft vorgearbeitet hat, und konnte keinen vollkommnern Begriff von den Objek­ ten seiner Wissenschaft erringen, als die philosophie­ rende Vernunft bisher errungen hat. Dieß gilt auch von den bisherigen Bearbeitern des Natur» rechtes. Die durchgängige Bestimmtheit der höhern Begriffe, die von dem Begriffe dieses Rechts und des Rechts überhaupt vorausgesetzt werden, liegt außer dem Gebiethe ihrer Wissenschaft, und hängt von der auf allgemeingeltenden letzten Grundsätzen feststehenden praktischen Elementarphilosophie ab. Der Mangel an dieser letztem fällt endlich keineswegs den grossen Männern zur Last, welche bisher die Fundamente des philosophischen Wissens bearbeitet

Vierter Brief.

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haben; indem diesem M angel nur durch einen F ort­ schritt der philosophierenden Vernunft abgeholfen werden konnte, der nicht ohne die Vorarbeiten je» «er M änner, und nicht ohne die bisherigen Schick» sale der Philosophie möglich war. D er durchgän­ gig bestimmte B egriff des positiven Rechtes seht eine Reformation der Philosophie voraus, welche durch die größte Revolution, die je im menschlichen Geiste vorgegangen ist, vermittelst der Entdeckung undHnerkennung allgemeingeltender Principien der Anarchie unter den Selbstdenkern ein Ende machen m uß; — eine Reformation, welche alle bisherigen Partheyen empören, und alle K räfte derselben zur Vertheidi­ gung der bisherigen Vorstellungsarten auffordern muß; eine Reformation also, welche viel Kampf und davon unzertrennliche Stauhwolken veranlassen muß, die sich nur mit der Zeit verlieren können. S ie begreifen daher leicht, l. F r., warum ich den durch-, g ä n g i g b e s t i m m t e n B e g r i f f des p o s i t i v e n R e c h t e s , auch wenn ich ihn (welches noch lange nicht der Fall ist) selbst errungen hätte, noch nicht mit E r­ folg aufstellen könnte; und warum ich mich auch in dem folgenden Briefe begnügen muß , er s t ens über den w e s e n t l i c h e n U n t e r s c h i e d , z w e y t e n - über den w e s e n t l i c h e n Z u s a m m e n h a n g zwischen dem positiven Rechte und dem sogenannten natürlilichen, bloße, aber wie ich hoffe verständliche, Winke zu geben.

lz6 Fünfter

Brief.

U e b e r di e k ü n f t i g e E i n h e l l i g k e i t zwi sehen d e r m o r a l i s c h e n u n d p o l i t i s c h e n G e s e t z g e b u n g u n d z wi s c h e n d e r n a ­ türlichen und positiven Rechts­ wissenschaft.

X - 'i e Wirklichkeit des von unsrer bisherigen P h ilo ­ sophie theils geläugneten, theils verkannten u n e i ­ g e n n ü t z i g e n T r i e b e s in der menschlichen N a tu r , und sein V erhältniß zu dem langst und allge­ m ein anerkannten e i g e n n ü t z i g e n , ergiebt sich a u s der durch K a n t zuerst vorgenommenen Zerglie­ derung der ursprünglichen, aller Erfahrung vorher­ gehenden und zum G runde liegenden Vermögen des menschlichen Geistes. Allein da die Widersinnigkeit dieses uneigennützigen Triebes und der von ihm un­ zertrennlichen F r e y h e i t für die meisten Philoso­ phen unserer Zeit ausgemacht ist: so ist auch die ganze Kantische Philosophie in den A ugm dieser P h i­ losophen durch eben dasselbe Resultat widerlegt, wel­ ches ihr zur höchsten Empfehlung dienen sollte. D ie Geschichte der Philosophie lehrt zwar durch unzählige Beyspiele, daß neuentdeckte W ahrheiten in eben dem V erhältnisse, als sie sich von den herrschenden V orurtheilen weiter entfernten, und, um verstanden zu w erden, ungewöhnlichere Geisteskräfte vorausehten, auch weniger verstanden und allgemeiner als

Fünfter B r i e f .

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Ungereimcheiten verschrieen wurden, während wirk­ liche Ungereimtheiten für ausgemachte Wahrheiten galten. Allein ich kann und will hieraus kein gün­ stiges Vorurtheil für den erwähnten uneigennützigen Trieb gezogen wissen, indem ich denselben als eine bloße Hypothese bey der angekündigten Erörte­ rung voraussetze. Wenn es mir auf diese Weis« gelingt, das eigentliche und einzig mögliche Ver­ hä ltn iß zwischen dem natürlichen und po­ sitiven Rechte zu finden, so wird aus demselben von selbst einleuchten, wie es zugieng, daß dasselbe bisher von den Philosophen nicht weniger als von den Juristen verkannt wurde; und daß bald der Unterschied zwischen dem natürlichen und positi­ ven Rechte in eine Entgegensetzung durch Widerspruch, bald der Zusammenhang zwi­ schen beyden in eine Verwechselung ausartete. Der bestimmtere Begriffvon Recht und Gerechtigkeit, der mich durch diese beydenKlip­ pen hindurch geführt hat, läßt sich nur aus dem un­ eigennützigen Triebe und dem Verhältnisse desselben zum eigennützigen ableiten. Giebt es in der ursprünglichen Einrichtung der menschlichen Natur neben dem eigennützigen Triebe, der als Instinkt von den sinnlichen Bedürf­ nissen und Eindrücken abhängt, einen von beyden und von aller Lust und Unlust unabhängigen, und in so fern uneigennützigen Trieb, der nichts als Gesetz-

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Fünfter Brief.

Mäßigkeit um ihrer selbst willen zum Objekt hat, und eben dasselbe ist, wovon ich in meinem vorletzten B rie funter dem Namen der praktischen Vernunft ge­ sprochen habe: — dann ist das Rechtmäßige, an und für sich selbst, von dem Nützlichen über­ haupt, und folglich auch sogar von dem G e m e i nnützigen wesentlich verschieden; und es ergiebt sich, baß das Gemeinnützige, ungeachtet es so. «whl im natürlichen als positiven Rechte mit dem Rechtmäßigen verknüpft ist * ) , gleichwohl ganz verschiedene Anlagen im menschlichen Geiste voraus­ setze, und nach ganz verschiedenen Principien beur­ theilt werden müsse. Bey der Beurtheilung des bloßen Rechtes hat die Vernunft die Forderung ihres eigenen Triebes, der nur durch Handeln nach ihrem eigenen Gesetze beftiedigt wird — bey der Beurtheilung des Nutzens hingegen die Forderung eines von dem ihrigen verschiedenen Triebes vor Augen, der nur durch etwas Gegebenes befriediget werden kann, und den sie, als Denkkrast, nach M aß­ gabe äußerer, nur in der Erfahrung vorkommender Umstande, zu seinem eigenen Vortheile leitet. Im ersten Falle wirkt sie als die fü r und durch sich selbst geschäftige, folglich als handelnde (prakti­ sche) — im zweyten hingegen nur als die für und * ) Das Rechtmäßig» ist immer gemeinnützig, aber da- Gemei nnüt zi ge nicht immer rechtmä. ß ig. Die Geschichte läßt uns in mancher höchst ungerechten H a n d l u n g eine sehr gemein« nützige B e g e b e n h e i t wahrnehmen.

Fünfter Brief. durch den eigennützigen Trieb beschäftigte denkendtheoretische) Vernunft. Beym bloßen R echt e ist ihre Vorschrift ein Gesetz, dem sich der eigennützige Trieb unterwerfen soll; beym bloßen Nutzen ist ihre Vorschrift eine Regel, die nur-durch den ei­ gennützigen Trieb die Sanktion der Nothwendig­ keit erhält. Dieser wesentliche Unterschied zwischen der Beherrschung des eigennützigen Triebes durch S i t t l ic h k e i t , und der Leitung desselben durch bloße Klugh eit, ist in Rücksicht seiner Folgen ( für die Glückseligkeit) nicht weniger als in Rück­ sicht seiner Gründe, auffallend. Die Sittlichkeit hat nur einen negativen, die Klugheit hingegen, wenn sie vom Glücke unterstützt wird, einen po­ sitiven Einfluß auf dasWohlbefinden. D ie Uebereinstimmung unter den verschiedenen Forderun­ gen des eigennützigen Triebes in der Person und wäh­ rend des Lebens von Einem und ebendemselben Men­ schen, ist, in wie ferne sie durch das Gesetz des uneigennützigen Triebes (durch bloße Sittlichkeit) be­ stimmtwird, auch nur n eg at iv , besteht in nichts weiter, als in der Abwesenheit des Widerspruchs un­ ter den Neigungen, und bringt nichts anderes als Zufriedenheit (das Glück des Weisen) hervor. Auch die Uebereinstimmung zwischen den Forderun­ gen des eigennützigen Triebes in E in em Menschen, und den Forderungen ebendesselben Triebes in allen Menschen, oder die Gemeinnützigkeit, ist, in

Fünfter Brief. wie ferne sie durch das Recht allein bestimmt wird, bloß n e g a t i v ; sie besteht in nichts weiter, als in der Abwesenheit des Widerspruches zwischen dem Privatinteresse und dem gemeinen Nutzen, und bringt nichts anderes als Unschädlichkeit des Individuums für die Gesellschaft, Sicherheit des Lebens und Eigenthums, hervor. Allein auch selbst dieses n e gat i ve W o h l b e f i n d e n erfolgt keines­ wegs unmittelbar aus der bloßen Rechtmäßig» f e i t , sondern nur vermittelst derjenigen Klugheit, welche die Angelegenheiten des eigennützigen Triebes in so ferne besorgt, als sie besorgt werden müssen, wenn der uneigennützige Trieb geltend gemacht wer­ den, und seinGesetz Anwendung erhalten soll. Diese Klugheit, die, in wie ferne sie den eigennützigen Trieb nur um des uneigennützigen willen befriediget, W e i s ­ heit heißt, tragt im Menschen für sein Leben und Eigenthum Sorge, nicht weil und in wie ferne er beydes zur Befriedigung feines Triebes nach V e r­ gnügen, sondern weil und in wie ferne er beydes zum R e c ht ha n de ln bedarf. S ie schonet das Leben und Eigenthum anderer, nicht weil und in wie ferne außerdem das eigene Leben und Eigenthum Gefahr läuft, sondern weil und in wie ferne der andere auf sein Leben und Eigenthum ebendasselbe Recht hat als ich auf das meinige. Diese Klugheit hangt in Rücksicht auf das Sittengesetz, das durch sie feine Anwendung erhält (ausgeführt wird) von dem un­ eigennützigen, — in Rücksicht auf die Regel der A nw endung jenes Gesetzes aber von dem eigen-

Fün fter Brief.

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nützigen Triebe, und den Objekten desselben in der Erfahrung ab. Daß ich keinem Menschen Schaden zufügen darf, ist ein Gesetz der Gerechtigkeit, das, von aller Erfahrung unabhängig, in meiner vernünftigen Natur gegründet ist. Worin aber der Schaden bestehe, und wie er vermieden werden könne, ist ein Ausspruch derKlugheit, welche die dazu gehörigen Data nur aus dem eigennützigen Triebe und der Erfahrung schöpfen kann. Hiedurch löset sich das Räthsel von selbst aus: wie alles Recht überhaupt von der Erfahrung'unabhän. gig seyn könne, und gleichwohl kein besonderes Recht, dasselbe Mag nun natürlich »bet positiv heißen, ohne besondere Data der Erfahrung sich denken lasse; und wie die Gerechtigkeit auch bey je­ dem p o s i t i v e n Gesetze und Rechte ihren Be­ stimmungsgrund (a p rio ri) lediglich aus der ver­ nünftigen Natur desmenschlichen Geistes ziehen, und nichts desto weniger nicht einmal ein bloß n a t ü r ­ liches Gesetz und Recht, das mehr alsdeu allgemeinen Begriff der Gerechtigkeit ausdrückte, ohne aus der Erfahrung zu schöpfen, ausgestellt wer­ den könne. Der Unterschied zwischen dem natür­ lich en und p 0 si t i v en Rechte besteht daher keines­ wegs darin, daß das eine seinen Inhalt aus der bloßen Vernunft, das andere aus der Erfahrung her­ leitet; weil beyde nur das allgemeine Gesetz der Gerechtigkeit aus der bloßen Vernunft, die Regel der Anwendung dieses Gesetzes aber nur aus der Er­ fahrung ziehen können.

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Fünfter Brief.

Aber worin besteht denn nun der U n k e r sch i e d zwischen diesen beyden Rechten? Um diese Frage zu beantworten, muß ich vorher dm Unterschied und Zusammenhang zwischen M oral und Naturrecht ge­ nauer, als wohl bis jeht noch geschehen ist, zu bestimmm, suchen. Ohne hierüber bestimmtere,Begriffe vorhergehen zulassen, wird man,das positive Recht von dem Natürlichen immer nur auf Unkosten des in beyden g e m e i n s c h a f t l i c h e n U r s p r u n g s ihrer G e r e c h t i g k e i t unterscheiden können, und das positive Recht durch einen B egriff denken, der den Charakter der Gerechtigkeit ausschließt, und die P h i­ losophen berechtiget, denselben für ihr Notutrecht allein in Anspruch zu nehmen. M an hat zwar schon eine geraume Zeit her die eigentliche M oral von dem eigentlichen N aturrechte dadurch unterschieden, daß man dieses auf die Z w a n g s p f l i c h t e n , jenes auf die G e w i s s e n s ­ p f l i c h t e n einschränkte. Allein da man die Quelle der P f l i c h t ü b e r h a u p t verkannte, so haben E i­ nige jene Unterscheidung so weit getrieben, daß ße allen gemeinschaftlichen Ursprung der beyden Arten von Pflichten läugneten, und mit demselben die M o­ ralität der Zwangöpflichten aufhoben; während an­ dere die Zwangspflichten von den Gewissenspflich­ ten ableiteten, und das Naturrecht mehr durch W orte als in der Sache selbst von der M oral unterschieden.

F ünfter

Brie f.

14.3

Noch größer ist die Unbestimmtheit, die bey der bisherigen Unterscheidung zwischenGewissenö, recht und Zwangsrecht Statt findet; wovon das erstere lediglich der Moral angehören, das letz­ tere ausschließend der Gegenstand des Natutrechts seyn s o llte . Allein da man von der Quelle der Rechts überhaupt keinen deutlichen Begriff aus­ zuweisen hatte: so wurde >e»e Unterscheidung von Einigen so weit getrieben, daß aller gemeinschaft­ liche Ursprung dieser beyden Arten desRechts, und mit demselben die Moralität des Naturrechts, aufge­ hoben, und dasselbe zu dem sogenannten Recht des Stärkern herabgewürdiget wurde; während andere die Zwangsrechte von Gewissensrechten ableiteten, und das Naturrecht eben dadurch mehr dem Aus­ druck als dem Begriffe nach von der Moral un­ terschieden. Indem ich nun den auf diese Weise gleich ver­ kannten Zusammenhang und Unterschied zwischen Moral und Naturrecht am Leitfaden unsers hypothe­ tisch angenommenen Begriffes von der pr a kt i schen V e r n u n f t , oder dem uneigennützigen Triebe, auf­ suche, finde ich mich bey meinem Unternehmen auf eine unerwartete Weise durch den Sprachgebrauch unterstützt, der meinen folgenden Erörterungen durch bestätigende Aus spräche des gesunden Menschenverstandeö eine Faßlichkeit zu geben ver­ spricht, die ich ihnen durch keine Deutlichkeit der Entwicklung zu verschaffen vermocht hätte.

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F ünfter

B rie f.

Ich verstehe unter diesen Aussprüchen U r ­ theile der durch richtige oder v ie lm e h r untrügliche Gefühle geleiteten V e r ­ nunft *). Sie gehen den Urtheilen der philoso­ phierenden oder sich selbst durch B e g r i f f t leitenden V e r n u n f t vorher, begleiten diesel­ ben, und berichtigen, läutern und ergänzen die un­ vollkommenen Begriffe, durchweiche dieseVernunft, bevor sie durch eine vollständige Entwicklung der Grundbegriffe mit stch selbst über die letzten Principien einig geworden ist, sich selbst mißleiten müßte. B is zu dieser Epoche ist die philosophie­ rende Vernunft in ihren Repräsentanten in einem un­ aufhörlichen Streite begriffen, der in jedem einzel­ nen Falle, wo es auf Entscheidung ankömmt, enttzveder nur zum Nachtheile der Wahrheit, oder nur durch * ) Da da« moralisch« Gefühl Wirkung der prakti« sch«» Vernunft ist, so ist das Urtheil der durchs moralische Gefühl geleiteten Vernunft» der einzig« Ausspruch des gesunde« Menschen« verstände«, wobey die Vernunft unfehlbar sich selbst leitet. Der Philosoph, dem es um Wahr« heit zu thun ist, hat also vor allem seinen Charakter zu verbessern, wenn er mit Er« folg seine Begriffe berichtigen will. Di« Vernunft hat bisher bey ihren philosophischen Vorarbeiten stch selbst durch Begriffe zu leiten versucht, aber nur durchGesühle wirklich sich selbst geleitet. Ze mehr der Philosoph sein moralisches Gefühl übt, desto mehr nähert sich die philosophierende Vernunft in seiner Person der Eintracht mit sich selbst, die zu ihrer Mündigkeit unentbehrlich ist.

F ü n f t e r B r i e f.

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durch einen Ausspruch des gesunden Menschenverstandes entschieden werden kann, der auf dem Gebiethe der Wissenschaft ein M a c h t s p r u c h ist, und so lange bleiben m uß, so lange er kein philosophisch ausgemachtes K riterium für die Gesundheit seiner Quelle erhalten kann, d. H. bis durch den Besitz einer feststehenden Elementarphilosophie die philosophie­ rende V ernunft mit sich selbst und mit dem gesun­ den Menschenverstände völlig einverstanden ist. D e r S p r a c h g e b r a u c h gehört in Rücksicht auf das, w as in ihm wirklich a l l g e m e i n g e l t e n d ist, unter die Aussprüche des gesunden Menschenverstan­ des, deren Leitung sich die philosophierende V ernunft so lange überlassen muß, als sie sich selbst nicht lei­ ten kann. I n dem Verhältnisse als sie sich von dem Allgemeingeltenden im Sprachgebrauchs ent­ fernt, w ird sie m it sich selbst uneiniger; in dem V e r­ hältnisse als sie zu dieser Richtschnur zurückkehrt,— einiger. D ie W inke, die ihr der gesunde Menschen­ verstand durch dieses Orakel giebt, sind oft so sehr in die Augen springend, daß man es sich nur aus der Hitze des S tre ite s erklären kann, wie dieselben von den kämpfenden Philosophen übersehen werden kön­ nen. E in sehr auffallendes Beyspiel davon ist der Ausdruck: N a t u r r e c h t . S o oft das W o rt R e c h t im praktischen S i n ­ ne, das heißt in Rücksicht auf den W i l l e n , ge­ braucht wird, finde ich den gemeinen Sprachgebrauch darüber m it sich selbst einig, durch dasselbe das M o Retnhvldö D r. 2. D .

K

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Fünfter Brief.

r a lis c h m b g lic h e im Gegensatz mir dem P h y ­ sis c h m ö g lic h e n , das D ü r f e n in seinem U nter­ schiede vom bloßen K ö n n e n zu bezeichnen. Diese Unterscheidung und Entgegensetzung gründet sich, in wie ferne sie den Sprachgebrauch für sich h a t, kei­ neswegs auf die sittlichen B e g r i f f e , über welche bisher kein Einverständniß vorhanden ist, sondern au f das untrügliche und gleichförmige m o r a l i s c h e G e f ü h l , und gehört durch dasselbe unter die Auösprüche des gesunden Menschenverstandes. Diesem Ausspruche gemäß muß also nicht nur in der M o ra l, sondern auch im N a t u r r e c h t e und in der p o s i­ t i v e n J u r i s p r u d e n z , unter R e c h t nur das S i t t l i c h m ö g l i c h e verstanden werden; und zwi­ schen diesen drey Wissenschaften findet ein w e s e n t ­ l i c h e r Z u s a m m e n h a n g S ta tt, in wie ferne sie sich mit etwas, das in eigentlicher Bedeutung R e c h t heißt, beschäftigen. Allein die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Begriffes von diesem Zusammenhange zwischen M o ­ ral und N aturrecht, (und durchs N aturrecht auch zwischen M oral und positiven Recht) hangt e r s t e n s von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit des B e g r i f ­ f e s vom Recht, (der nicht, wie das G e f ü h l davon, untrüglich ist,) von der m o r a l i s c h e n Möglichkeit, und folglich auch vom Begriffe der M o r a l i t ä t , ab. Nach der V orstellungsart der K a n t i s c h e n P h i l o s o p h i e besieht die M o r a l i t ä t in dem Verhältnisse einer Handlung des W illens zum Geseh

Fünf t er

Brief.

MT

der praktischen Vernunft, d. H. in der Uebereinstim­ mung oder dem Widerspruche der Handlung des Willens mit dem durch sich selbst nothwendige» Ver* nunftgesetze. Die Moralität hängt in so ferne ganz von der F r ey h ei t ( nicht der praktischen Ver» nunft, die nur Eine Handlungsweise hat, sondern) des W i l l e n s ab, in wie ferne das praktische Ge­ setz nur durch diese Freyheit befolgt oder übertre­ tenwerdenkann. In wie ferne der W ille frey ist, ist ihm das Befolgen undUebertwen des Sittengesetzes gleich möglich; hierin besteht seine natürliche Freyheit, sein physisches Vermögen. In wie ferne der Wille unter dem Sittengesehe steht, ist ihm nur dasjenige möglich, was diesem Gesetze nicht widerspricht; hierin besteht seine moralische Freyh eit, sein moralisches Vermögen, R ech t. Diese ist die weitere Bedeutung der moralischen Möglichkeit des WollenS oder des Rechts, worunter sowohl Pflicht als Recht in engerer Bedeutung be­ griffen ist. Was dem Gesetze nicht widerspricht, und noch dazu durch dasselbe für den Willen das E in zigmögliche, d. h. Nothwendig ist, heißt P fl ic h t. Was dem Gesetze nicht widerspricht, aber durch dasselbe für den Willen nicht das Einzig­ mögliche, nicht nothwendig, sondern bloß möglich ist, was also der W ille dem Gesetz unbeschadet thun oder lassen kann, heißt Recht in engerer Bedeu­ tung , in welcher dasselbe die Pflicht nicht unter sich begreift, sondern ihr gegenüber steht. Dieses Recht ist die durchs Gesetz zugestandene und zugesicherte

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fünfter Brief.

Freyheit des Willens, die moralische Frevheit im engern Sinne; ein G u t , das der natür lichen Frevheit weit vorzuziehen, und neben der sitt-= lichtn Gesinnung das höchste und heiligste ist. Diesem Begriffe zu Folge bedeutet Recht nicht bloß in der Moral, sondern auch im N a t u r r ech t e, keineswegs ein physisches Vermögen, oder na­ türliche Freyheit des Willens, und auch in der positiven Rechtswissenschaft keineswegs bloß dasje­ nige, was positiven Gesehen zu Folge mög­ lich ist, das worauf keine Strafe geseht ist; auch nicht die Freyheit, die dem Willen durch bloße Zwangsgesehe zugesichert ist. Sowohl das n a t ü r ­ liche als das positive Recht sind, in wie ferne sie als Arten unter der Gattung Recht stehen, ein moralisches durchs bloße Geseh der praktischen Ver­ nunft bestimmtes V e rm ö ge n , moralische Freyheit des Wi lle n s. Die Richtigkeit des Begriffes von diesem Zu­ sammenhange zwischen Moral, Naturrecht und po­ sitivem Rechte hangt z w e y t en S von dem bestimm­ ten Begriffe des Unterschiedes zwischen den Ob­ jekten dieser drey Wissenschaften ab. Dieser Un­ terschied besteht in den charakteristischen Merkmalen, wodurch sich das natürliche und positive Recht als Arten sowohl von der Gattung als von einander selbst unterscheiden. Auch diese Merkmale finde ich durch lehrreiche Winke des Sprachgebrauches an-

Fünft er B r i e f .

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gedeutet. Sollte man es einem blossen Eigensinne desselben zuschreiben dürfen, daß er weder für die M o r a l noch für das Natnrrecht den Ausdruck: Wissenschaft der Naturpflicht bestimmt hat? E r unterscheidet allgemein zwischen bloß mo­ ralischen und bürgerlichen Pflichten, zwi­ schen solchen, die lediglich durch das S i t t e n g e seh, und solchen, die außerdem noch durch posi­ tive Gesetze bestimmt werden, und von denen die einen nur die innere Sanktion durch Vernunft, die andern auch noch die äußere durch die Macht der Ge­ sellschaft für sich haben. Dieser Anzeige zu Folge ist die M oral die Wissenschaft der sittlichen Gesetzge­ bung, die positive Jurisprudenz aber die Wissenschaft der positiven Gesetzgebung. Alle Pflichten und Rechte, in wie ferne sie durchs Sittengesetz bestimmt werden, folglich in so ferne auch die Zwangspfiichten und Zwangsrechte, gehören in die M o r a l in dieser B e­ deutung *). I n engerer Bedeutung begreift die M oral diejenigen Pflichten und Rechte, die durchs Sittengesetz bestimmt werden, in so ferne sie keine äußere Sanktion haben, die Gewissenspflich­ ten und Gewissensrechte. Die Zw a n gs ­ pflicht hat entweder die blosse Sanktion des S ittengesetzes, ist in so ferne eine A rt von Gewissens­ pflicht und gehört in die M o r a l in engerer Bedeu­ tung ; oder sie hat die 'Sanktion des positiven Ge* ) Nicht nur das Naturrecht, sondern auch das post» tive Recht gehört in die Moral in dieser Dr« deutung.

F tin ftc r

B r ie f.

setzes und gehört in die Wissenschaft der positiven Ge« setzgebung. Das N a rurrecht begreift keine Pflicht, (auch die Zwangspflicht nicht,) und ist, wie schon sein bloßer Name ankündiget, eine Wissenschaft bloßer Rech te. Es ist merkwürdig, daß die M oral, ungeachtet sie sich ausschließend mir den Pflichten beschäftiget, die keine positive Sanktion haben, gleichwohl nicht Wissenschaft der N a t u r ­ pflicht heißt. Das W ort N a t u r , welches im Gegensatz mit der Freyheit physische Gesetzmä­ ßigkeit und unvermeidliche Nothwendigkeit ausdrückt, widerspricht in so ferne dem Begriffe der Pfli ch t, der die moralische Gesetzmäßigkeit, die Gesetz­ mäßigkeit, welche die Freyheit nicht aufhebt, eine Nothwendigkeit, der sich der W ille seinem physi­ schen Vermögen nach unterwerfen und entziehen kann, bedeutet. Der gesunde Menschenverstand, welcher durch das moralische Gefühl die moralische Nothwendigkeit von der physischen, die Pflicht vom Zwang unterscheidet, hat es daher dem Sprachge« brauche unmöglich gemacht, die Worte N a t u r und P fl i cht in Einem Ausdruck zu verbinden. Aber eben dieses Gefühl hat es ihm nicht nur gestattet, son­ dern sogar zum Gesetze gemacht, die Worte N a t u r und Recht zu verknüpfen, um dadurch das Objekt einer Wissenschaft zu bezeichnen, die von den Wissen­ schaften der bloß sittlichen Pflichten und Rechte, sowohl als der bürgerlichen wesentlich verschie­ den seyn sollte. Nach dem S i n n e des Sprach­ gebrauchs sollte durch das Wort Naturrecht kei-

Fünfter

Brief.

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neswegS bloß das vom positiven unterschiedene, das sittliche ZwangSrccht, keineswegs die bloße Sanktion, die der Zwang durchs SittengeseH erhält, bezeichnet werden. Denn eben derselbe Sprachge­ brauch hat das W ort N a t u r unschicklich gesunden, um bey der Zwangspflichc die S i t t l i c h k e i t je­ ner Sanktion anzudeuten. Es sollte also N a t u r ­ recht ein Recht anzeigen, das nicht nur von dem posi­ tiven, sondern auch von dem durchs bloße Sittengesetz bestimmten, bloß sittlichen Rechte, (auch vom Zwangs­ rechte, in wie ferne dieses zugleich Gewissensrecht ist,) wesentlich verschieden ist; ein Recht, das zwar als solches durch das Sittengesetz, aber als N a t u r ­ recht nicht durch dasselbe allein, son­ dern vermittelst der Dazwischenkunft der N a t u r , oder der physischen Nothwendigkeit, bestimmt wird. Wie ist nun ein solches Recht denkbar? Wie kann aus physischer Nothwendigkeit ein moralisches Ver­ mögen, eine durch das Sittengesctz bestimmte Frey­ heit des Willens entstehen. Unsere Hypothese giebt hierüber folgenden Aufschluß. Jeder Mensch steht, in wie ferne er W il­ len hat, unter keinem andern Gesetze, als dem der praktischen Vernunft, das seine Freyheit nicht auf­ hebt, weil er dieses Gesetz nur frey beobachten kann, und weil daher seine Freyheit durch dasselbe sich selbst beschränkt. Während der Mensch in Rücksicht auf sein ( unwillkürliches) Begehren bloßen N a t u r ­ gesetzen unterworfen ist, ist er in Rücksicht auf die

izr

Fünf t er

Br i e f .

Befriedigung oder Nichtbefriedigung der Forderun­ gen dieses Begehrens, so weit dieselbe von seinem W i l l e n abhängt, keinem andern Ge­ setze untergeordnet, als dem Sittcngesetze, welches das Einzige Geseh des Willens und der Freyheit ist. Es ist mir daher, in wie ferne ich Mensch Bin, durch dieses Geseh schlechterdings und ohne Ausnahme unmöglich, einen andern Menschen nach bloßen Gesehen des Begehrens und der physischen K ra ft, d. H. nach bloßen Naturge­ setzen, mit Willen zu behandeln. Die Person des Andern, die, wie die meinige, in Rücksicht auf die freiwilligen Befriedigungen oder Nichtbefriedigungen ihres Begehrungsvermögens unter keinemandern Ge­ setze als der praktischen Vernunft, dem Gesetze der Freyheit, steht, kann von mir, ohne daß^ich diesem Gesetze nicht unmittelbar zuwider handle, keineswegs der bloßen Forderung meines unwillkürlichen Be­ gehrens durch meinen Willen unterworfen werden. Die Beschränkung der Willkühr eines Andern, die ihm nicht durch das Gesetz der praktischen Vernunft, sondern durch meine bloße Willkühr und zur bloßen Befriedigung einer Forderung meines Begehrungs­ vermögens aufgelegt wird, heißt angreifender Zw a n g , der schlechterdings und ohne Ausnahme moralisch unmöglich, ungerecht ist. Das N aturrecht kann daher nie das Recht eines angrei­ fenden Zwangs bedeuten.

Fünfter

Bricf.

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Aber eben dasselbe Gesetz, das mir den an­ greifenden Zwang unmöglich macht, macht mir den vertheidigenden nicht unmöglich, sondern derselbe wird mir vermittelst des ungerechten Angriffes durch das Gesetz möglich. Ich zwinge dann nicht mehr zur Befriedigung meines Begeh­ rens, sondern hindere den Andern mich zur Befrie­ digung -des seimgen zu zwingen. Das Sittengeseh gestattet meinem Willen nicht unmittelbar, son­ dern nur durch Voraussetzung der Thatsache des un­ rechtmäßigen Zwangs, der mir angethan wird, die F r e yh e it , mich des Zwangs zu bedienen, um den Zwang abzutreiben. Ich behandle nach dem bloßen Naturgesetz mit Bewilligung des Gesetzes der Frey­ heit denjenigen, der mich gegen dieses Gesetz nach jenem behandeln will. Dieses Recht nun heißt N a ­ tu r recht, in wie ferne ich dasselbe durch den un­ rechtmäßigen Angriff, und folglich durch das von dem Andern übertretene S it te n g e setz erhalte, wodurch dieser in so ferne seine Unver­ letzlichkeit gegen mich verwirkt hat — Es ist nicht NaNirrecht, sondern Gewissensrecht, in wie ferne der Gebrauch desselben von dem Sittengesetz in meiner Person, von den Aussprüchen meines Ge­ wissens, abhängt. I n der letztekn Rücksicht gehört es in die M o r a l , und nur in der erstem macht es das Objekt der besondern Wissenschaft aus, welcher der Sprachgebrauch ausschließend den Namen des Naturrechtes bestimmt hak.

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Fünfter

B r ie f.

Ich begreife nun auch, warum dieser Sprach» gebrauch nicht daö Wort Zwangsrecht gewählt hat, um diese Wissenschaft zu bezeichnen. Das Öbjekt derselben ist keineswegs das Recht zu zwin­ gen überhaupt, und insbesondere keineswegs das Recht zu zwingen, in wie ferne es durch das Gewiss sen des Angegriffenen bestimmt w ird, innerliches Recht, Gewissensrecht ist; sondern nur das Zwangs­ recht, in wie ferne es lediglich von der Handlung des Angreifers abhängt, äußerliches, und darum bloß natürliches Recht ist; ein Recht das, in wie ferne «s durch den Angriff gegeben ist, auch durch nichts als durch Aufhebung desselben von der Seite desAn­ greifers, folglich nicht durch das Gewissen des An­ gegriffenen aufgehoben werden kann; das also durch den Namen Naturrecht nicht nur seine 93erschiedenheit, sondern auch seine Unabhängig­ keit von dem bloß sittlichen Rechte, dem Gewissens­ rechte, ankündiget. Auf diese Weise allein ist mir die Gerechtig­ keit , die für mich bisher ein undurchdringliches Ge­ heimniß der menschlichen Natur war, begreiflich ge­ worden. Ich weiß nun erst, worum ich einen an­ dern Menschen zu meinem bloßen Vortheile nicht zwingen darf, auch wenn ich ihn durch meine phy­ sischen Kräfte zwingen konnte; auch wenn mein ei­ gennütziger Trieb diesen Zwang forderte, und die Klugheit selbst nichts dagegen einzuwenden hätte. Ich weiß nun, wie und warum es mir möglich sey.

F ü n fte r B r ie f. einen solchen mir zugefügten Zwang durch Zwang zurück' zu treiben, auch wenn es mir dazu an überle* gener physischer Kraft fehlt; d. H. wie und warum mir mein Recht durch keine Gewalt geraubt werden könne. Ich begreife nun den höchst merkwürdigen, bisher so sehr verkannten Unterschiedzwischen körper­ licher und geistiger, physischer und moralischer, ab­ hängiger und unabhängiger Kraft meiner Natur, der sich an dem so allgemein gefühlten und so we­ nig begriffenen Unterschied zwischen Könner» und D ü rfe n , zwischen Müssen und S o lle n äu­ ßert — zwischen dem, was ich durch das Gesetz der Fr eyheit, dem ich mich selbst unterwerfe, darf und soll, und dem, was ich durch das Gesetz der Nothwendigkeit, dem ich durch mein unwillkührliches Begehren unterworfen bin — kann und muß. — Ich begreife endlich auch, wie es ein in gewissen Fällen äußeres Recht für mich geben könne, das selbst dann noch äußeres Recht bleibt, wenn es für mich innerlich Unrecht ist, und warum mich keine menschliche Gewalt abhalten darf, auch gegen mein Gewissen den unrechtmäßigen Zwang durch Zwang abzutreiben, z. B . mich der Gewalt der Gesellschaft zu bedienen, um mein Ei­ genthum dem unrechtmäßigen Besitzer zu entreißen; wie es mit Einem Wort ein Recht geben könne, daS mir vor demRichterstuhle der öffentlichen Gerechtig­ keit auch dann noch zugesprochen werden muß, wenn es mir vor dem Richterstuhle meines Gewissens ab­ gesprochen ist.

Fünfter Bri ef . Ich bedarf nun keineswegs der leidigen Hnpothese von einem N a t u r s t a n d e , der nie da w ar, und der nie da seyn wird, um mir von demjenigen Zwangsrechte, welches das Objekt des N aturrechts ausmacht, einen bestimmten Begriff zu erringen. I n wie fern a l l e s R e c h t überhaupt aus dem in der menschlichen N atur gegründete», Verhältnisse der praktischen Vernunft zum Begehrungsvermögen, oder, welches eben so viel heißt, des eigennützigen Triebes zum uneigennützigen, als den beyden B e . standtheilen dieser N a tu r, erfolgt, in so ferne ist Recht n a t ü r l i c h e n U r s p r u n g s . V e r­ trage und überhaupt alle Thatsachen, durch welche b e s o n d e r e Rechte bestimmt werden, können nur die Materialien herbey schaffen, denen allein der un­ eigennützige Trieb im menschlichen Geiste das ihm eigenthümliche Gepräge der Gerechtigkeit aufdrückt. D a s N a t u r r e c h t begreift daher alle ä u ­ ß e r e n Zwangsrechte ohne Ausnahme, in wie ferne ste unter der von der physischen Gewalt der Gesell­ schaft unabhängigen Sanktion des Sittengesetzes ste­ hen; d as p o s it i ve R ec ht begreift eben die­ s elben Rechte und Pflichten, in wie ferne sie durch die besagte Gewalt auch noch eine äußere, durch po­ sitive Gesetze bestimmte Sanktion erhalten haben. Jedes positive Gesetz hat, in wie ferne dasselbe ge­ rech t ist, diese doppelte Sanktion. Durch die eine ist es ge r echt, durch die andere po s i t i v; durch die eine ist es n a t ü r l i c h , in der urfprungli-

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chen Kraft der menschlichen Natur gegr ündet, durch die andere ist es künstlich und der Schwachheit dieser Natur angemessen. In dieser Bedeutung erstreckt sich das Naturrecht soweit, als alle ge­ rechten Gesetze, und die durch dieselben bestimmten Rechte, sie mögen nun positiv seyn oder nicht; und das positive Recht schließt in dieser Bedeutung alle ungerechten Gesehe aus, die wirklich die positive Sanktion haben, und begreift alle ge­ rechten noch nicht gegebenen in sich, welche diese Sanktion erst erhalten sollen. Allein in der en­ geren Bedeutung, in welcher unter dem N a­ tu r recht eine besondere Wissenschaft verstanden wird, begreift dasselbe nur diejenigen Anwendungen des allgemeinen Grundgesetzes des äußeren Rech­ tes zu zwingen, welche sich aus den bestimm­ ten aber allgemeinen Begriffen von Gesellschaft, bür­ gerlicher Verbindung, Staat u. s. w. ergeben; wah­ rend unter positivem Recht, in engerer Bedeu­ tung, der Inbegriff von solchen Gesehen und Be­ fugnissen verstanden wird, welche durch die Sank­ tion der öffentlichen Gewalt, unter dem Namen von Pflichten und Rechten, wirklich feststehen, und in so ferne keinesweges immer Anwendungen des Grundgesetzes der Gerechtigkeit sind, aber doch im­ mer seyn sollten. Es ist eine allgemein bekannte Thatsache, daß die positive Jurisprudenz lange vor allen Spuren eines wissenschaftlichen Naturrechtes vorhanden war^

Fünfter Brief. E s hat gerechte und ungerechte positive Gesetze gege« Ben, lange bevor sich die Philosophen über den B e ­ g r if f v o n R e c h t unter einander zur Rechenschaft gezogen haben. Dieser unter den Selbstdenkern vom ersten R ange noch heut zu Tage streitige B eg riff konnte daher unmöglich der Gerechtigkeit jener G e­ setze, als ihr Besiim m ungsgrund, vorhergegangen seyn; er mußte zum Theil erst von ihnen selbst ab­ gezogen werden. J e weiter man ins A lterthum zurückgeht, um unter den historischen D enkm älern die © puren der Entstehung der positiven Gesetze auf­ zusuchen, desto einleuchtender wird der Ursprung des positiven Rechtes aus dem durch bloße Klugheit ge­ leiteten eigennützigen Triebe; desto weniger bleibt es «wem Zweifel unterworfen, daß man die Gerechtig­ keit und Ungerechtigkeit der positiven Gesetze in ihrer Gemeinnützigkeit und Gemeinschädlichkeit aufgesucht, «der vielmehr nur für einen und ebendenselben C ha­ rakter guter oder schlimmer Gesetze angesehen habe. S o unstreitig nun diese Thatsache ist, so sehr mußte sie bisher mißverstanden werden, und durch ihr M iß ­ verständniß jeden bestimmten B egriff von dem w ah­ ren Verhältnisse zwischen dem natürlichen und posi­ tiven Rechte unmöglich machen. D a s Gemeinnützige kann seine gesetzliche Sanktion entweder n a t ü r l i c h durch den uneigen­ nützigen, oder künst l i ch durch den eigennützigen Trieb erhalten. E s kann zw ar auch der bloße E i­ gennutz von gemeinschädlichen Handlungen abhalten:

Fünfter B rief. aber er kann es nur in denjenigen Fällen, wo der Privatvortheil des Handelnden durch den gemeinen Nutzen der Gesellschaft nicht eingeschränkt, sondern befördert wird. Je seltener nun dergleichen Fälle sind, und je weniger von dem bloßen eigennützigen Triebe der einzelnen Personen freywillige Opfer zum gemeinen Besten zu erwarten sind, desto mehr sieht sich die Gesellschaft genöthiget, die zu ihrer Erhal­ tung unentbehrlichen Einschränkungen des eigennützi­ gen Triebes der einzelnen Glieder durch Vorschriften zu bestimmen, und diesen Vorschriften durch ihre jedem Einzelnen überlegene physische Gewalt die Sanktion des Gesetzes zugeben. Daher die bloße Gemeinnützigkeit eines positiven Gesetzes, in wie ferne sie, unabhängig von allem uneigennützigen Triebe, unabhängig vom Gesetz der praktischen Ver­ nunft, durch bloße eigennützige Klugheit bestimmt wird. Allein wenn sich die Gewalt der Gesellschaft in den Händen eines Einzigen oder auch Mehrerer befindet, welche von derselben einen willkührlichen Gebrauch machen können, sokann dieft Ge­ walt auch solche Vorschriften aufstellen und zu Ge­ setzen erheben, welche den eigennützigen Trieb der übrigen Glieder der Gesellschaft zum bloßen Vortheil des Einzigen oder der Mehreren einschränken. Die Beobachtung eines solchen schädlichen Gesetzes wird für die Unterthanen nur in so ferne nützlich, als sie dieselben gegen das größere Uebel der S tra fe sicherstellt, und kann nur in dem Sinne gemein­ nützig heißen, als sie etwa größeren Uebeln zuvor«

Fünfter Brief. kömmt, die aus einer Empörung gegen die unter­ drückende Regierung erfolgen können. Ein positives Gesetz kann entweder im gemei­ nen Nutzen der Gesellschaft, oder im blossen P riv at­ nutzen der Gewalthaber seinen Entstehungsgrund haden. 3 m ersten Falle ist das Gesetz, in wie ferne es it> dem g e m e i n s c h a f t l i c h e n eigennützigen Triebe A l l e r seinen Grund hat (als g e m e i n ­ n ü tzig ), weder gerecht noch ungerecht; enthält aber den S t o f f der Rechtmäßigkeit, biethet dem unei­ gennützigen Triebe einen Fall an, worauf dessen G e­ setz paßt, weckt das sittliche G efühl, und erhält durch dasselbe die Sanktion der Gerechtigkeit. I m zweyten Falle ist das Gesetz, in wie ferne es in dem Privatnutzen des Stärkern, der dem gemeinen Nutzen widerspricht, seinen Grund hat (als g e m e i n sch ä dl ich), noch so wenig ungerecht, als die Verwüstun­ gen eines Raubthieres in einer Heerde Schafe; aber in w ie f er n e dasselbe von einem Wesen her­ kömmt, das unter dem Gesetze des uneigennützigen Triebes steht, empört es das erwachte sittliche G e­ fühl, und erhält durch dasselbe, und in der letztem Rücksicht allein, den Charakter der U n g e r e c h ­ t i g k e i t . Auf diese Weise sind freylich die positiven Gesetze, und die durch sie bestimmten Rechte, zuerst durch den bloßen eigennützigen Trieb und durch die m it der Erfahrung heranreifende Klugheit entstan­ den. Allein wer wirb darum ihre G e r e c h t i g k e i t aus eben denselben Quellen entspringen lassen? D er

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D er eigennützige Trieb in der menschlichen N atu r erwacht v o r dem uneigennützigen: die V e r­ nunftist, als Klugheit, im Dienste des Instinktes geschäftig, bevor sie, als Weisheit, zu gebiethen an­ fängt; und die politische Kultur des menschlichen Geistes geht der moralischen vorher. Bevor die ent­ wickeltere Vernunft anfing sich über das Gefühl von Recht und Unrecht zur Rechenschaft zu ziehen, mußte dieses Gefühl mannigfaltig geübt werden, und bevor dasselbe bis zur Energie einer merklichen Triebfeder in der bürgerlichen Gesetzgebung gedeihen konnte, hatte das bloße Bedürfniß der Gesellschaft durch ei­ gennützige Klugheit positive Gesetze herbeiführen müssen. M ein mit der Ueberzeugung von der G e­ meinnützigkeit dieser Gesetze erwachte, wenn und wo dieselbe S ta tt fand, das Gefühl ihrer Gerechtig­ keit. Ungeachtet das Gesetz als p o s itiv nur durch physische Gewalt festgesetzt w ar, wurde es als ge­ re c h t durch das Gesetz der Freyheit bestätiget, und ungeachtet diese mor alis che Sanktion in Rücksicht auf ihren Grund ein so tiefes Geheimniß ge­ blieben ist, daß sie (und zwar von Philosophen und Rechtslehrern) sehr oft mit der p o s i t i v e n ver­ wechseltwurde, so ist sie doch darum nicht weniger immer vorhanden und geschäftig gewesen, ja sie ist in Rücksicht aus ihre Aeußerung im moralischen G e­ fühle, an der Vorstellungsart auch des gemeinsten M annes, in unfern Zeiten — so wie der Gesetzge­ ber und S tifter der S taaten in den ältesten Zeiten, auffallend sichtbar. ReinhelbS Dr. z. Dd.

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Es bedurfte eben nidtt einer sehr laugwierigen Erfahrung im geselligen Leben, um in dem menschlichen Geiste denjenigen Grad von Klugheit zu entwickeln, der dazu nöthig ist, um die Sicher­ heit des Lebens und Eigenthums zum Gegenstand po­ sitiver Gesehe zu machen. Die Gemeinschädlichkeit der Handlungen, welche durch diese Gesetze verbo­ then wurden, mußte sich auch dem gemeinsten V er­ stände aufdringen, und den uneigennützigen Trieb in ihm auffordern, diesen Verbothen die Sanktion sei­ nes Gesetzes zu ertheilen. Allein alle Erfahrungen aller Zeiten und Völker haben bisher nicht zugereicht, um den menschlichen Geist bis zu dem Grad p o li­ tischer Weisheit (worunter ich hier keineswegs die schlaue aber armselige Kunst der sogenannten K a b i­ nette verstanden wissen w ill) zu erheben, auf wel­ chem er sich befinden muß, wenn er Staatsverfas­ sungen und Regierungsformen mehr auf Grundsätze der durch Erfahrung erprobten und allgemein aner­ kannten Gemeinnützigkeit, als auf solche Thatsachen gründen soll, die bald ein günstiger, bald ungünsti­ ger Zufall ausstellt, und der Stärkere im Staate zu seinem Vortheil und zum Nachtheil seiner Nachbarn benutzt — wenn politische Klugheit zu derjenigen politischen Gerechtigkeit reifen soll, von welcher bis­ her, außer den Kriegömanifesten, die im Grunde die bittersten Satyren, und einigen philosophischen Tractaten, die nicht viel mehr als deklamatorische jobrede», auf sie sind, kaum die Rede war. Der Unterschied zwischen den bürgerlichen und den

F ü n f t e r B ti ef. im engeren Sinne politischen Gesehen ist sehr wesentlich. Die bürgerlichen müssen, in wie ferne sie gerecht seyn sollen, die Erhaltung des S t a a t s nur durch die Sicherheit seiner einzel­ nen Glieder beabsichtigen. Ihre Gemeinnützig­ keit erfolgt aus dem Nutzen eines jeden Einzelnen, der durch sie gegen ungerechten Zwang geschützt wird, und ist in so ferne keiner Veränderung, kei­ nem Zweifel, keiner Ausnahme unterworfen. Die politischen hingegen müssen, in wie ferne sie gerecht seyn sollen, den V o r t h e i l der Einzelnen durch das W oh l des S taa tes beabsichtigen. Ihre Gemeinnützigkeit hängt daher von der größeren oder kleineren Entfernung einer Staatsverfassung von dem nie völlig erreichbaren Ideale eines voll­ kommenen Staates ab, in welchem die höchste Gewalt in den Händen, denen sie anvertraut ist, keinen andern als einen gemeinnützigen Ge­ brauch zuläßt. Die politischen Gesetze bestehen nur in einigen wenigen Staaten in ausdrücklichen durch Verträge festgesetzten Gränzbestimmungen der gegenseitigen Pflichten zwischen Regenten und Unter­ thanen. In den meisten übrigen kann man sich un­ ter denselben nichts als die feststehende Regierungs­ form denken, die ohne Verträge, durch bloße Gewalt eingeführt, und durch Besitz und Gewohnheit festge­ halten ist. Was ist da natürlicher, als daß siemehr für den Privatvortheil der Gewalthaber, als für den allgemeinen Nutzen berechnet sind? Da die Gemein­ nützigkeit einer jeden auch durch Verträge bestimm-

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Fünfter B rief.

feit Staatsverfassung von unzähligen der Vernunft ganz fremden Thatsachen und zufälligen Begebenhei­ ten abhängt, so sind alle bloß politischen Princi­ pien unzähligen Ausnahmen, Zweifeln und Verän­ derungen unterworfen. Daher kömmt es, daß der gemeine Menschenverstand, welcher die Gemein­ nützigkeit bürgerlicher Gesetzeso leicht anerkenntund der Sanktion des moralischen Gefühls unter­ w irft, die Gemeinnützigkeit und Gerechtigkeit der politischen, so selten richtig zu beurtheilen vermag, und daß sich die philosophierende Vernunft bisher fast noch nie mit Staatsverbcsserungen beschäftigte, ohne entweder die Gerechtigkeit einer politischen Einrich­ tung der Gemeinnützigkeit, oder diese jener aufzuop­ fern. Daher kömmt es, daß die politische Rechts­ wissenschaft so weit hinter der bürgerlichen zurück ge­ blieben ist, daß wir keine politische Rechtspflege ha­ ben, und die Entscheidung politischer Rechtsangele­ genheiten Kriegen und Revolutionen, oder, welches eben so viel ist, dem Zufalle überlassen müssen. Da der bloße eigennützige Trieb dem posi­ tiven Gesetze sich nur in so ferne in allen Fällen un­ terw irft, als er durch die Gewalt der Gesellschaft dazu gezwungen wird, so hängt die positive Sanktion die­ ses Gesetzes von den M itteln ab, durch welche die Macht der Gesellschaft zu einem Ganzen vereini­ get wird. Es ist ungereimt, den Ursprung dieser Vereinigung, ohne welche sich kein Staat denken läßt, und folglich den Entstehungsgrund des Staa­ tes, indem sogenannten gesellschaftlichen V e r -

Fünf t er

Brief.

trag aufsuchen zu wollen, nachdem so viele Jahr­ tausende der nur im Schoße der bürgerlichen Gesell« schüft möglichen Kultur noch nicht vermocht haben, auch nur ein einziges Volk zu dem Grade von Aufkläriing zu erheben, den die zur Festsetzung der Be­ dingungen jenes Vertrags nöthige Uebereinstimmung A l le r zu einem wahrhaft allgemeinen Willen vor­ aussetzen würde. Bey der unumschränkten Monarchie und Aristokratie, wo sich die ge­ setzgebende und ausübende Gewaltin Einer und eben­ derselben Hand befindet, ist der Regent starker als die ganze Gesellschaft, an deren Spitze er steht. Diese überwiegende Gewalt kann er weder eintm ausdrücklichen nocheinem stillschweigenden Vertrage, er kann sie dem Zufalle zu verdanken haben, der, im Gegensatz mit der bey der Entstehung der bürger­ lichen Gesellschaft noch ganz unentwickelten Ver­ nunft, als der wahre Stifter der unumschränk­ ten Gewalt anzusehen ist. Ich setze hier die Naturnothwendigkeit dem sich selbst durch Vernunft lenkenden Willen entgegen, und nenne jede Begebenheit, welche nicht durch kie­ sen Willen veranstaltet worden ist, Zufall. Je weiter man die Geschichte der Staaten ins hohe Al­ terthum hinauf verfolgt, desto mehr verschwinden in derselben die Spuren von dem Antheil, den dieVer­ nunft in späteren Zeiten immer mehr und mehr an der Gründung und Befestigung der Staaten zu er­ ringen anfing, desto ausschließenderund auffallender

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Fünfter Brief.

ist die Ziisammenwirkung lediglich äußerer Umstände und Schicksale auf die Formen der bürgerlichen Ge­ sellschaften, desto sichtbarer ist die phnsische Gemalt des Starkem, als die vornehmste Triebfeder der po­ litischen Maschine. Wenn man alles, was nicht durch die m en schliche Vernunft zu Stande kam, auf die Rechnung der göttlichen seht, und an der Stelle des Zufalls den Willen der Gottheit zu denken gewohnt ist, so muß man freylich den Ursprung der uneingeschränk­ ten obrigkeitlichen Gewalt in der Gottheit aufsuchen, und das durch bloße Gesetze der Naturnothwendig­ keit beschrankte Vermögen eines Regenten, wenn es anders einmal ein Recht heißen soll, ein gö ttl i­ ches Recht nennen. Despotengewalt war der Gründung und Befestigung der Staaten unentbehr­ lich, und in so ferne erkenne ich sie für eine wohlthä­ tige Erziehungsanstalt der Menschheit. In wie ferne die Macht der Gesellschaft nur durch den Zufall in die Hände eines Einzigen oder Einiger gelegt ist, i n so fe r n ist der Regent bey dem Gebrauch dieser Macht, die er für sein Eigen­ thum ansieht, durch kein anderes Gesetz als durch dasjenige eingeschränkt, das ihm sein eigennütziger Trieb vermittelst seiner Klugheit vorschreibt. In so ferne werden auch die von demRegenten aufgestellten politischen Gesetzedas Gepräge deseigennützigen Trie­ bes an sich haben; sie werden auf Erhaltung und

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Vermehrung der willkührlichen Gewalt abzwecken, und Pflichten der Unterthanen gegen den Regenten bestimmen, ohne von Pflichten des Regenten gegen die Unterthanen Erwähnung zu thun. Nur ein sol­ cher Despotismus konnte denGrund zu der politischen Kultur legen, die der moralischenvorhergehen mußte. Man muß auch nicht vergessen, daß die Despoten snfangs keine andere Rechte der Menschheit in Be« schlag genommen haben, als solche, welchedieMen­ schen weder kannten noch gebrauchen sonnten. Da sich die bloße Klugheit mit dem eigennützi­ gen, Weisheit aber nur mit dem uneigennützigen Triebe entwickelt, so ist nichts natürlicher, als daß die Despoten und ihre Genossen unter allen Menschen, die ersten klug, und die letzten weise werden müssen. Allein durch eben diese Klugheit, die sie, im Ganzen genommen, auf ihre eignen.Kosten nicht weniger als auf die Kosten der Unterthanen erringen müssen, sind sie, wider oder wenigstens ohne ih­ ren Willen, Erzieher und Wohlthäter der Mensch, heit geworden. Da die höchsteGewalt bey jedem positiven Ge­ setze vorausgesetzt wird, so kann dieselbe unter keinem solchen Gesetze stehen. Sie hat also keinan­ deres Gesetz,über sich, als das ihr von außen durch die Naturnothwendigkeit vermittelst der Klugheit, oder. von innen durch Sittlichkeit vorgeschrieben wird. Wenn daher der Regent durch positive Gesetze einge­ schränkt ist, so ist dieses ein Zeichen, daß die höchste

Fünfter

Brief.

Gewalt getheilt ist. Die positive Verbindlichkeit, die nur von der zwingenden Gewalt abhängt, kann demjenigen nicht aufgelegt werden, der alle Gewalt in seinen Händen hat. Wenn also eine eingeschränkte Regierung nicht entweder in Anarchie oder Despo­ tismus ausarten soll, so muß die Gewalt des Regen­ ten mit derjenigen, welche den Unterthanen vorbe­ halten bleibt, im Gleichgewichte stehen. Die­ ses Gleichgewicht kann durch kein positives Gesetz fest geholten »erben, auch nicht durch was immer für einen Vertrag, der vermittelst der Sanktion einer unwiderstehlichen Gewalt verbürgt würde. Es kann nur allein durch solche, dem Vertrag gün­ stige, äußere Umstände, welche beyde Partheym durch ihren eigenen Vortheil an das poli­ tische GeseH fesseln, empor gehalten, oder, in wie ferne diese Umstände und ihr. Einfluß auf den eigennützigen Trieb veränderlich sind — durch nichts als die gemeinschaftliche Anerkennung des Ge­ setzes der Uneigennühigkeit, das heißt, durch Ge­ rechtigkeit, gesichert werden. I n der vollkommensten Staatsverfassung, welche die Welt bis jetzt aufzuweisen hatte, in der Eng ländischen, ist die Monarchie dadurch be­ schränkt, daß die höchste Gewalt zwischen dem Kö­ nige und der Nation, oder eigentlicher zwischen den erblichen und den gewählten Repräsentanten der Na­ tion, getheilt ist. Das Gleichgewicht zwischen die­ sen beyden Mächten ist freylich durch Gesetzebestimmt,

F ü n f t e r B r i e f. an welche beyde Partheyen gebunden sind. Aber was bindet sie an dieselbe? D a sich die gesammte M acht der N ation in ihren Handen befindet, so ha­ ben sie keine Gewalt ü b er sich, durch welche sie zur Handhabung der Konstitution gezwungen werden könnten. D ie Gesetze, die dieser Constitution zum ©runde liegen, haben also keine Sanktion der höch­ sten G ew alt, und sind folglich keine eigentlichen po­ s itiv e n Gesetze. I n der That suchen die S taatskundigen die p o litisc h e Sanktion, durch welche das Gleichgewicht der beyden Mächte gesichert wird, lediglich in dem e n tg e g e n g e s e tz te n I n ­ te re s s e der beyden Partheyen auf, durch welches jede derselben, auf die Erhaltung der ihr einge­ räumten Gewalt eifersüchtig, die andere innerhalb der gesetzlichen Schranken zu erhalten aufgefordert wird. D ie Handhabung der Gesetze, durch welche die Gränzen der beiderseitigen Gewalt bestimmt sich, ist in so fern eine bloße Folge der Furcht oder des Zwangs zwischen den beyden Partheyen, die tutch einen entgegengesetzten Eigennutz in einem unaufhirlichen S treite erhalten werden, der sich früher oter später, durch allerley zufällige äußere Veranlassun­ gen, mit der Unterjochung der einen P arthey, und dem Untergange der Konstitution endigen kann. I n wie ferne ein politisches Gesetz, oder auch der Inbe­ griff aller politischen Gesetze eines S taates, die Kon­ stitution, keine andere Sanktion als die des Eigen­ nutzes der getheilten, und durch entgegengesetztes I n ­ teresse im Gleichgewichte erhaltenen Mächte hat, in

Fünfter B r ie f. so ferne fehlet es ihm an der Festigkeit, Dauerbas? tigkeit und Unwiderstehlichkeit, die den Charakter eines durch moralische und physische Sanktion festste­ henden positiven Gesetzes ausmacht. H u me gotraut sich aus diesen Gründen seiner vaterländischen Constitution nichts weniger als eine ewige D auer zn versprecht« *). Nichts desto weniger besteht die S t a a t S kunst (die nie zur eigentlichen Wissenschaft werde« kann, obwohl sie solche Wissenschaften voraussetzt) in der Geschicklichkeit, die in der N atu r einer ge­ g e b e n e n bürgerlichen Gesellschaft gegründeten, einander entgegengesetzten Interessen, zwischen S tä n ­ den, Klassen u. s. w. so zu verbinden, daß sie einan­ der nicht zum Untergange des Ganzen aufreiben, son­ dern zum Vortheile desselben einschränken. I n die­ ser Rücksicht muß der politische Gesetzgeber (der S tifter oder Verbesserer einer Staatsversassung) wie der bürgerliche, gerade so zu Werke gehen, als vb seine Unterthanen, mit deren e i g e n n ü t z i g e n Triebe er es zunächst zu thun hat, keinen andern alg diesen, E r selbst aber keinen andern als den unei­ gennütz igen hätte. Ich sage, er muß so zu Werke gehen, als ob E r für seine Person keinen andern Trieb hätte als den uneigennützigen. Denn außerdem wird aus * ) Essays T, vemment.

I. The VII

Essay.

The

B ritish

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Fünfter Brief.

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dem noch so künstlichen Spiele der sich einander ein­ schränkenden bloß eigennützigen Triebfedern nur die Erhaltung der R e g i e r u n g s f o r m und des V o r­ theils der R e g i e r e n d e n , nicht die Erhaltung und das Wohl des S t a a t e s , oder der ganzen bürger­ lichen Gesellschaft, erfolgen können. Das Interesse der R e g e nt e n ist außer dem nur z u f ä l l i g e r W e i f e und. nur in gewissen Rücksichten mit dem Interesse der R e g i e r t e n verknüpft, und die Politik ist nichts, als die eben so verächtliche als verderbliche Kunst, den großem Theil der Menschen in den Fes­ seln des kleinem zu erhalten. Wem fällt hier nicht die vorige Constitution der sogenannten R e p u b l i k P o l e n ein, in welcher alle gesetzlichen gegenseitigen Einschränkungen der Teilnehmer an der höchstes» Gewalt darauf hinaus liefen, dem Adel seine un­ glückliche Tyrannengewalt über Bürgerund Bauern zuzusichern? D ie politischen Gesetze sind u n k lu g , wenn sie nicht den Eigennutz der Theilnehmer an der höch­ sten Gewalt durch sich selbst einschränken. Aber dadurch, daß sie diese Bedingung erfüllen, sind sie noch keineswegs gerecht. Den Charakter der Ge­ rechtigkeit erhalten sie nur dadurch, daß sie die ein­ zelnen Glieder der Regierung nicht bloß durch ihren Privatvortheil i nt er es si re n, sondern durch das gemei ne Beste, auch ohne alle Rücksicht auf Privatvortheil, verpflichten. S ie sind unge­ recht, in wie ferne sie den Unterthanen zur blo-

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Brief.

ßen Befried,'gung des eigennützigen Triebes der Re« genten Zwang auflegen. Da die Gemeinnützigkeit der politischen Ge­ setze durch Klugheit erzielt werden muß, diese aber von der Erfahrung abhängt; so begreift es sich, daß eben dasselbe politische Gesetz, das unter gewissen in der Erfahrung gegebenen Umständen (z. B . auf einem niedrigen Grade der Kultur eines Volkes) ge­ meinnützig und in so fern? nicht ungerecht war, in der Folge, unter andern Umständen und bey einem höhern Grade der Kultur, gemeinschädlich und un­ gerecht werden kann. So groß und wichtig aber auch die Rolle seyn mag, die in Rücksicht auf die Data der Erfahrung dem Z u falle, und in Rücksicht auf den Zufall der K lug h e it überlassen bleiben muß, so ist doch die Unentbehrlichkeit des uneigennützigen Triebes durch das Gesetz der Gerechtigkeit nicht geringer, wenn die politischen Gesetze gemeinnützig werden sollen. Eine Staatsverfassung, in welcher durch bloße po­ litische Kunst gegen alle Collisionen zwischen dem E i­ gennutz der Regenten und dem gemeinen Besten ge­ sorgt ist, ist und bleibt ein unerreichbares Ideal; und es giebt eben darum keine völlig sichere Schutzwehre der Menschheit gegenUnterdrückung als dieAn­ erkennung der Gerechtigkeit. Der Einfluß der moralischen Gesinnung auf Staatsverfassung und Staatsverwaltung bleibt so

F ü n f te r B r ie f.

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lange dem Zufalle überlassen, als die Quelle der Gerechtigkeit theils ein völliges Geheimniß, theils unter den Selbstdenkern und ienkern des Geistes der Nationen streitig ist. Die Vernunft räumt offenbar dem Zufalle zu viel ein, wenn sie nicht genau die verschiedenen Triebfedern, die beym Wohl des Staates zusammen zu wirken haben, von einander zu unterscheiden, wenn sie nicht anzugeben weiß, was der Zufall, d. H. das von ihr ganz unabhängige Schicksal, was die Klug, heit, und was die Weisheit beyzutragen haben; und wenn sie fortfährt, (was sie wahrend des Zu­ standes ihrer Unmündigkeit nicht wohl lassen konnte,) das Geseh ihrer eigenen steyen Wirkung, ihrer Autonomie, sich aus den Gesehenber Nen Triebes, die durch ein bloßes unfreywilliges B e ­ gehren bestimmte Handlung, ist le g a l, wenn sie, welches nur zufälliger Weise möglich ist, mit der Handlung übereinstimmt, die nach dem Gesetz des W illens erfolgt wäre. D ie Le g a l i t ä t d er W il­ lenshandlung hingegen ist M o r a l i t ä t. D ie Selbst­ bestimmung hat kein anderes Gesetz, als das prakti­ sche, das sie erfüllen oder übertreten kann. D ie Unterscheidung des le g a le n W illens von dem m o­ ra lisc h e n setzt daher einen unbestimmten Begriff vom Willen voraus, in welchem das Wollen noch nicht genug von dem B e g e h r e n , das kein W ol­ len ist, unterschieden wird. Jede Beschränkung des eigennützigen Triebes, welche nicht durch die Rücksicht auf das praktische Gesetz, sondern entweder unfreiwillig, durch den Zwang der Naturnothwendigkeit, oder auch sreywiklig, aber durch die bloße Klugheit, geschieht, die den eigennützigen Trieb n u r um seines eigenen V o r­ theils willen, folglich durch ih n se lb st, be­ schrankt, ist also nicht moralisch. i o) Unterordnung,nicht U n t e r d r ü c k u n g , Beschränkung, nicht V e r n i c h t u n g der freywilli­ gen Befriedigungen des eigennützigen Triebes ist das Objekt des Sittengesetzes. Beyde Triebe sind der menschlichen N atu r wesentlich, und der Uneigen­ nützige kann zur Befriedigung seiner eigenen Forde­ rung, zur Erfüllung des Sittengesehes, des eigen-

Sechster B r ie f .

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nützigen Triebes keineswegs entbehren. E r selbst seht daher der Beschränkung desselben Gränzen. Ich nenne diese Gränzen die moralischen, um sie von denjenigen zu unterscheiden, welche durch Naturnothwendigkeit gesetzt werden, und welche die physischen heißen können. Man bemerkt die letztem bey den instinktartigen Handlungen, z. B . einer unwillkührlichen Selbstvertheidigung bey einem plötzlichen Ueberfall. In solchen Fällen wirkt der eigennützige Trieb ohne durch den uneigennützigen be­ schränkt zu seyn, aber auch ohne denselben zu be­ schränken; die Handlung ist nicht moralisch, aber auch nicht unmoralisch. I n den physischen Schranken der Mora­ lität und der Freyheit läßt sich keineswegs der Grund unsittlicher Handlungen aufsuchen; denn wo diese Schranken vorkommen, ist weder Sittlich­ keit noch Unsittlichkeit denkbar. Allein durch den unrichtigen Begriff von sittlicher Handlung, der dieselbe als bloße Handlung der prak­ tischen V e r n u n f t denkt, und von Frey­ heit, der dieselbe in der bloßen Selbstthä­ tigkeit dieser V e r n u n f t aussucht, wird man in die Nothwendigkeit gesetzt, den Grund nur der sittlichen Handlungen allein in der Freyheit, der unsittlichen aber in den Schranken der Frey­ heit anzunehmen, nur die Sittlichkeit dem Willen der Person, die Unsittlichkeit aber dem unglücklichen Schicksal zuzuschreiben.

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Sechster B rie f.

11) Der uneigennützige Trieb fetzt der B e­ schränkung des eigennützigen in so ferne Gränzen, als er um seiner selbst willen, in gewissen Fällen, Befriedigung desselben vorschreibt. Die moralische Gränze der Beschränkung des eigennützigen Triebes besteht daher in der vorge­ schriebenen Befriedigung einer Forderung dessel­ ben zum Behuf des Sittengesetzes, folglich in einer Befriedigung, die, in wie ferne sie lediglich um des uneigennützigen Triebes willen vorgenommen wird, negative Beschränkung des Eigennutzens heißen kann. Ich kann mein Leben um des Genusses, oder um des Gesetzes willen erhalten. Nur das letztere ist moralisch. 12) Die moralische Beschränkung des eigen­ nützigen Triebes heißt positiv, wenn sie in einer vorgeschriebenen Enthaltung, negativ, wenn sie in einer vorgeschriebenen Befriedigung besteht.

Recht in wei t er er Bedeut ung. 13) Recht in moralischer aber weiterer Bedeutung, heißt das sittliche Vermögen ( facultas m oralis) welches als solches n u r ein Vermögen des W i l l e n s , und zwar das durchs Gesetz der praktischen V e r n u n f t bestimmte Vermögen desselben seyn kann. Als Objekt des W i llens bedeutet das Recht dieSchranken, welche bas Sittengesetz der Freyheit des Willens, und diese durch das Sittengeseh sich selbst setzt; als

Be-

S e c h s t e r B r i es. Beschaffenheit des W i l l e n s — die Richtung, welche das Sicccnqesetz. der Freyheit vor­ schreibt, und die Freyheic durch das Gesetz sich sel­ ber giebt; eine Richtung, die durch ihren Bestim­ mungsgrund, die praktische Vernunft, unveränder­ lich und untrüglich ist. Als Beschaffenheit einer (freyen) Handlung bedeutet es jede Angemes­ senheit zum Sittengesetze, jede sittliche Gesetzmä­ ßigkeit, sie mag nun in der Ausübung des Gebothe­ nen und des Erlaubten, oder in der Unterlassung des Verbothenen bestehen. Wenn man das Gemeinschaftliche aller dieser Bestimmungen zusammenfaßt, so erhält man fol­ genden G a tt u ng sb e g rif f: Recht ist, was durch F re y h e it des W i l l e n s vermittelst des Sittengesehes möglich ist. Diese G a t t u n g begreift folgende zwey A r t en unter sich, dasjenige, was durch Freyheit vermittelst des S it­ tengesehes einzig möglich, d .i. nothwendig ist, und dasjenige, was durch Freyheit vermittelst des Sittengesetzes (n ich t einzig, sondern nur) bloß möglich ist. Dieses ist das Recht in en­ gerer Bedeutung, jenes die Pflicht.

Pflicht. 14) Die durch das Gesetz des uneigennützi­ gen Triebes bestimmte Nothwendigkeit der Beschrän­ kung des eigennützigen heißt die P fl »th t Reinhvlde D r. 2. Bd.

N

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Sechster B r ie f .

Pflicht ist vom Gesetz unter schieden wie Folge vom Grunde. D aö Smengesetz ist die allge­ meine Vorschrift der Unterordnung der freiwilligen Befriedigungen des eigennützigen Triebes unter den uneigennützigen; die P fl ic h t, die besondere V or­ schrift, die aus jener allgemeinen erfolgt. Das Sittengefeh begreift die allgemeine Nothwendigkeit des sittlichen W illens; die Pflicht die besondere Nothwendigkeit, welche durch das Sittengesetz be­ stimmt ist. Die allgemeinste Pflicht ist die aus dem Sittengesetz erfolgende Nothwendigkeit, nichts ;u thun, was dem Sittengesetze widerspricht; eine P flicht, die auch bey den bloß erlaubten Hand­ lungen durch die Rücksicht aus ihr Erlaubtseyn er­ fü llt wird. Nicht jede Nothwendigkeit der Beschränkung des eigennützigen Triebes ist P f l i c h t ; sondern nur diejenige, die im uneigennützigen Triebe gegründet ist, und die Befriedigungen desselben, in wie ferne sie vom freyen W i l l e n abhängen, zum Objekt hat. Jede andere ist Zwang; und zwar innerer Zwang, wenn sie im eigeniützigen Triebe selbst gegründet ist, wenn z. B . eine kleinere gegenwärtige Befriedigung oder Besitränkung einer großem zukünftigen aufgeopfert wir» — äußerer Zwang, wenn sie außer dem egennützigen Triebe gegründet ist, z. B . bey jidem Unglück.

Sechster B r ie f. Zwang und Pflicht sind daher wesentlich von einander verschieden, und zwar dadurch: daß die Nothwendigkeit des einen aus dem Naturgesetze er­ folgt, und in so ferne unvermeidlich ist; die Noth­ wendigkeit der andern aber aus dem Gesetze der Freyheit quillt, dem der Wollende zuwider han­ deln kann. DieNöthiqung beyder Pflicht heißt ein S o l­ le n , J b e y m Zwange ein Müssen. Jede Handlung aus Pflicht ist Beschränkung (positive oder negative) des eigennützigen Triebes; und keine Handlung, die zur bloßen Befriedigung des eigennützigen Triebes um seiner selbst willen unternommen wird, kann in so ferne aus Pflicht unternommen seyn.

Vollkommene und unvollkommene P 5l ich r. 1 5 ) Die Pflicht heißt vollkommen, welche u n m i t t e l b a r aus dem Sittengesehe er­ folgt, folglich in einer Nothwendigkeit besteht, die sich, ohne alle andere Voraussetzung, aus der allge­ meinsten Forderung des uneigennützigen Triebes ergiebt, und daher auch keine Ausnahme zuläßt. Die unvollkommene Pflicht erfolgt nur mittelbar, vermittelst einer von der Forderung des uneigennützi­ gen Triebes verschiedenen Voraussetzung aus dem Sittengesetze, verbindet folglich nur dann und in wie ferne diese Voraussetzung S tatt findet, und da­ her nicht ohne Ausnahme.

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Sechster B rief.

Aus dem Sittengesetze, oder der allgemeinen Nothwendigkeit der freywilligen Unterordnung des eigennützigen Triebes unter den uneigennützigen, er­ folgt unmittelbar und ohne alle Voraussetzung nichts anders als die Unmöglichkeit des Gegen­ theils, oder die Unmöglichkeit der freywilligen Un­ terordnung der allgemeinsten Forderung des uneigennützigen Triebes unter die Forderung des eigennützigen, oder die Nothwendigkeit der Enthal­ tung von allen solchen Handlungen, die nur durch eine solche Unterordnung möglich find. Das Sittengesetz kann durch keine demselben widersprechende Maxime aufgehoben werden, weil es absolut nothwendig ist; wohl aber die Ausübung desselben, die von der Freyheit abhangt. Die Maxime, die dem Sittengesetze unmittelbar und ohne Ausnahme widerspricht, und die folglich durch dasselbe unmittelbar und ohne Ausnahme unmöglich ist, ist daher nur diejenige, durch weiche die Aus­ übung des Sittengesetzes unmöglich ge­ macht wird, und die Nothwendigkeit, sich solcher Maximen zu enthalten, ist die allgemeinste v o l l kom m en e P fl i ch t. Die erste, allgemeinste und unentbehrlichste B e d in g u ng der Ausübung des Sittengesetzes ist die Fre yh e it des W i l ­ lens, die sich durch das praktische Gesetz nur in so ferne selbst beschränken kann, als ihr keine von die­ sem Gesetze verschiedene Schranken gesetzt sind; die ihre Aeußerungen nur in so ferne dem Sitkenge-

Sechster B r ie f .

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setz unterwerfen kann, als dieselben nicht bereits ei­ nem andern Gesetze unterworfen find. Jede Maxi­ me also, welche die Freyheit des W i l l e n s durch bloße Naturgesetze beschränkt, je­ des Wollen, basten Willen der Autonomie entzieht, jedeWillenshandlung, durchweiche eine Person den blcßen Forderungen deS eigennützigen Triebes untergeordnet wird — macht die Ausübung des Sittengesetzes unmöglich, und die Enthaltung von jeder solchen' Handlung ist der Gegenstand der allgemeinsten vollkommenen Pflicht.

Recht in engerer Bedeutung. 16) Die durch das Gesetz des uneigennützi­ gen Triebes bestimmte Möglichkeit der freywilligen Befriedigung des eigennützigen Triebes heißt ein Recht. Recht in engerer Bedeutung, und folg­ lich im Gegensatze mit der Pflicht, ist dasjenige, was dem Willen durch das Sittengesetz nicht einzig möglich, nicht nothwendig, sondern bloß möglich ist. Das, was dem Willen durch das Sittengesetz einzig möglich ist, ist Pflicht, folglich positive oder negative Beschränkung des eigennützigen Triebes, und ist entweder Nichtbefriedigung oder Befriedigung um des Sittengesetzes willen. Das,wasdem Willen durchs Sittengesetz bloß möglich ist, kann daher weder positive noch negative Beschränkung,

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S e c h s kor B r i e f .

sondern bloße Möglichkeit der Betriiedi« gung des eigennützigen Triebes seyn. Das Recht in engerer Bedeutung fündet also nur in denjenigen Fallen Statt, wo h m s1l illen die Befriedigung des eigennützigen Triebes Durch das Sittengesetz weder nothwendig noch unmöglich ist, wo also diese Befriedigung durch das S»trengesetz der Freyheit lediglich überlassen wird. Diese durch das Sillengesetz unbeschrankte Freyheit einer Willenöhandlung, die demselben nicht widerspricht, aber auch nicht aus demselben erfolgt, die folglich weder verbothen noch gebothen, sondern der W illfuhr überlassen, bloß erlaubt ist, macht das W e ­ sen des Rechts in engerer Bedeutung aus, und enthält den Grund, warum die bloß rechtmäßige Handlung eben sowohl unterlassen als ausgeübt wer­ den darf, warum man von feinem Rechte nachlassen darf. Ein solches Recht steht in so ferne un ter der allgemeinsten Pflicht, oder der Nothwendigkeit nichts zu wollen, was dem Sitkengesetze widerspricht, in wie ferne die Rücksicht auf diese Pflicht so­ wohl bey der Ausübung als bey der Unterlassung ei­ ner bloß rechtmäßigen Handlung durchs Sittenge­ setz nothwendig ist. Allein das Recht er fo lg t keineswegs aus dieser, oder was immer für einer andern Pflicht; sondern aus dem Gesetze, durch welches dem Willen

Sechster Brief.

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seine natürliche Freyheit gelassen wird. W eder durch die Ausübung noch durch die Unterlassung der rechtmäßigen H andlung wird eine Pflicht erfüllt; sondern nur durch die auf das Gesetz genommene Rücksicht, die der Erkenntniß und dem Gebrauche des Rechts vorhergehen m uß, und die das einzige Pflichtmüßige bey demselben ist. D em Sittengesetze widerspricht die Unmög­ lichkeit desjenigen, w as einmal durch das Sitten* gesetz möglich ist. E s ist also dem Willen durch dasselbe unmöglich, es ist ihm verbothen, das Recht aufzuheben. D a s Recht ist in so ferne die n a ­ türliche F r e y h e i t u n t e r d e r S a n k t i o n des S i t t e n g e s e t z e s . E s gehört eben so wesentlich zum Rechte, sich desselben nicht begeben, als durch dasselbe nach bloßer, W illkühr handeln zu dürfen. I c h d arf die H a n d l u n g , zu der ich ein Recht ha­ be, thun oder unterlassen, wie mirs beliebt; aber ich darf mich des R e c h t e s selb st nicht berauben. 1 7 ) D a s Recht heißt das ä u ß e r l i c h e ( m a te r ia le ) in wie ferne die Handlung durchs Sittengesetz weder gebothen noch verbothen, bloß nicht unerlaubt ist; — d a s i n n e r l i c h e (fo rm a le ) in wie ferne die Handlung dem vernünftigen S u b ­ jekte nur durch ausdrückliche Rücksicht auf die allge­ meinste Pflicht möglich, e r l a u b t , ist. D a s Sittengesetz ordnet alle freywilligen Handlungen dem uneigennützigen Triebe unter, und

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Sechster B r i e f .

fordert daher auch den denjenigen Handlungen, die es der Willkühr überläßt, ausdrückliche Rücksicht auf seine Bewilligung, als auf eine c o n d itio fine qua non der moralischen Möglichkeit des E nt­ schlusses. Durch diese Huldigung gegen das S ittengeseh wird eine Handlung, die zur bloßen Befrie­ digung des eigennützigen Triebes unternommen wird, und der in dieser Eigenschaft der Charakter der M o ­ ralität fehlen würde, zur sittlichen Handlung erho­ ben. Diese Moralität des bloß Erlaubten ist in der philosophischen Sittenlehre bisher vernachlösstget worden, indem man die Sittlichkeit auflauter Pflichten einschränkte, und die Rechte aus den Pflichten ableitete, oder vielmehr damit verwechselte, nach der schwankenden Maxime: Ic h d a r f was ich soll, und weil ich soll. 18) Recht verhält sichzur Pflicht, wie Mög­ lichkeit der Befriedigung zur Nothwendigkeit der Beschränkung des eigennützigen Triebes. Darum kann auch das eine nie zugleich das andere seyn, noch eins aus dem andern erfolgen. Beyde folgen aus dem Gesetze, das man nicht mit der Pflicht verwechseln muß. Wenn man unter gesetzmäßig nicht bloß das, was durchs Gesetz einzig möglich ist, das P fl ic k t mäßige, sondern auch das, was dem Gesetze nicht widerspricht, das bloß Rechtmäßige versteht, so erhalten die Worte gesetzmäßig und rechtmäßig eine gemeinschaftliche Bedeutung,

Sechster B r ie f.

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und man bedient sich des Ausdruckes recht thun auch da, wo man eigentlich P f l i c h t thun sagen sollte. Allein in der genauer bestimmten Bedeu­ tung muß RechtgeradedasGegentheilvon P f l i c h t bezeichnen; durch Pflicht wird die Willkühr in Rück­ sicht auf den eigennützigen Trieb jederzeit einge­ schränkt; durch Recht wird sie jederzeit sich selbst überlassen. Die Möglichkeit einer pflichtmäßigen Handlung wird ziemlich allgemein ein Recht ge­ nannt. Meynt man damit die weitere Bedeu­ tung, in der das einzigmögliche auch Recht heißt, so ist der Satz: Jede Pflicht ist auch ein Recht, tautologisch. Versteht man aber das Recht in engerer Bedeutung, so ist der Satz falsch; denn er sagt dann so viel als: Jede Pflicht ist etwas bloß mögliches. „A ber die Erfüllung der „ Pflicht fetzt doch die Möglichkeit dieser Erfüllung „voraus!" J a ! aber nur keine bloß »moralische Möglichkeit, kein bloßes Recht. Die Erfüllung der Pflicht ist immer moralisch nothwendig, nie bloß moralisch möglich. Die physische Möglichkeit derselben aber ist kein Recht, keine durch Gesetz be­ stimmte Möglichkeit, kein Dürfen. Dieß gilt auch von dem Vermögen der Person, pflichtmäßig oder pflichtwidrig zu handeln. Dieses ist die n a tü r ­ liche F r e y h e it des W illens, und ist nur dann und in so ferne ein Recht, als sie durchs Sittengesetz bestimmt, das heißt, nicht mehr bloße natürliche

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Sechster Br i e f .

Freyheit ist. Es ist daher gleich ungereimt zu be­ haupten, daß man ein Recht habe, seine Pflicht zu thun, als daß man eine Pflicht habe, sein Recht auszuüben; daß man dürfe was und weil man solle, als daß man solle, was und weil man dürfe. Ver­ steht man unter D ü r f e n nichts anders als nicht »erbothen seyn, so heißt: Ich darf was und weil ich soll, nichts anders als — „ Es ist mir nicht ver­ bothen was und weil mir etwas gebothen ist — " und sollten die Moralisten und Naturrechtslehrer nur dieß gemeynt haben, indem sie bey der Entwicklung des Begriffes von Recht jene leidige Formel so oft im Munde führten ?

Vollkommenes ititb unvollkomme­ nes Recht. 19) Das Recht heißt vollkommen, welches unmittelbar aus dem Sittengesetze erfolgt, folglich in einer Freyheit besteht, die sich ohne alle andere Voraussetzung aus der allgemeinsten Forderung des uneigennützigen Triebes ergiebt, und daher keineAus­ nahme zulaßt. Das unvollkommene Recht erfolgt aus dem Sittengesetze nur unter Voraussetzungen, die vom Gesetze selbst verschieden sind, und last in so ferne Ausnahmen zu. Aus der natürlichen Freyheit des Willens und aus der praktischen Vernunft erfolgt unmittelbar und ohne alle andere Voraussetzung, die sittliche Mög­ lichkeit, die durch das Gesetz unbeschränkte Freyheit

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des Willens in Rücksicht auf alle Wandlungen, die durch das ("esich weder gebothen noch verbothen find. I n dieser F re y h e it der Person alles zu thun oder zu lassen, was weder psbchtmaßig noch pflicht­ widrig ist, besteht das allgemeinste vollkom­ mene Recht des Menschen. Dieses Recht steht un m it te lb a r , ohne Ausnahme unter der Sanktion des Sittengesetzes, und kann von der Person weder aufgegeben, noch ihr von einer andern entrissen werden. Es ist u r­ sprüngliches und unverlierbares Recht. Nicht so das unvollkommene Recht, wel­ ches mit der Voraussetzung, durch welche es vom Sittengesetz abgeleitet ist, erworben und ver­ loren wird. M it dem vollkommenen Rechte ist die voll­ kommene Pflicht verbunden, jenes Recht nicht zu be­ schranken. Die vollkommne Pflicht besteht ebenin der Nothwendigkeit, sich von aller Beschränkung der Freyheit, die nicht im Sittengesehe gegründet ist, folglich von jeder Beeinträchtigung des vollkomme­ nen Rechts zu enthalten. Aber diese Pflicht ent­ springt so wenig aus dem Rechte, als das Recht aus der Pflicht, sondern beyde aus dem Sittenge­ sehe und dem Verhältnisse desselben zur Freyheit des Willens. Das vollkommene Recht kann durch keine Pflicht erhalten, und durch keine aufgehoben werden; jeder Mensch besitzt es durch seine natürliche Frey­ heit, und es wird ihm durch das Sittcngefetz zuge-

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Sechster B rie f.

sichert. Man kann dasselbe nur durch einen unrich. rigen Begriff aus Pflichten ableiten. Die Grundbegriffe von Pflicht und Recht las. sen sich nur aus dein Verhältnisse des uneigennützi­ gen Triebes zum eigennützigen, aber aus keinem die­ ser Triebe einzeln und für sich selbst betrachtet, und folglich weder aus der Vernunft, noch aus der Selbst­ liebe (dem eigennützigen Triebe) einseitig ableiten. Weder einem bloß vernünftigen noch einem bloß sinnlichen Wesen können Pflichten und Rechte zukommen, weder der Gottheit noch dem vernunft­ losen Thiere. Allein auch nicht aus jedem Verhält­ nisse zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, sondern nur aus demjenigen, welches die praktische Vernunft, die Vernunft als uneigennütziger Trieb, durch den W i l l e n zur Sinnlichkeit, als dem eigennützigen, hat, ergiebt sich der Grundbe­ g riff der Sittlichkeit. So lange noch der eine Theil der Philosophen denselben aus dem bloßen eigen­ nützigen, durch D e n kk r a ft nur geleiteten oder vielmehr berathenen Triebe, sie mögen densel­ ben vernünftige Selbstliebe, oder den Trieb nach Glückseligkeit nennen; der andere Theil hingegen aus der bloßen (lind zwar aus der — für das Ver­ mögen , den Zusammenhang der D in g e an sich vorzustellen — gehaltenen) Vernunft ableiten wird; aber auch so lange die Freunde der kritischen Philosophie, bey ihrer Ableitung der S i t t l i c h ­ keit aus der praktischen Vernunft, die Selbsttha-

Sechster Br i ef . tigkeit dieser Vernunft mit der Freyheit des Willens verwechseln, und sich unter Will e » nichts als Kau­ salität der Vernunft denken werden: so lange wird cs nicht bloß an allgemeingeltenden, sonder» mich an wahren Principien der Moral und des Naturrechts fehlen müssen. G u t und Gerecht. 20) G u t in der weiteren aber moralischen Bedeutung dieses Wortes heißt die Handlung des Willens, in wie ferne sie dem Sittengesetze gemäß ist; folglich nicht nur die pflichtmäßige, sondern auch die rechtmäßige Handlung. 21) Gerecht in weiterer Bedeutung ist die Willenshandlung, die demRecht angemessenist; folg­ lich sowohl die Ausübung eines Rechts, als auch die Enthaltung von der Beeinträchtigung des Rechtes. Dieses lehtere ist Gerechtigkeit in engerer Bedeutung; lind da jene Enthaltung, oder die Unterlassung jeder willkührlichen Beschränkung der natürlichen Freyheit zur bloßen Befriedigung des eigennützigen Triebes, das Objekt der vollkommenen Pflicht ist, so ist alles Gerecht, was durch vollkommene Pflicht bestimmt ist. Gerechtigkeit ist daher die Uebereinstim­ mung des Willens mit dem Sittengesetze in denjeni­ gen Vorschriften, die aus demselben unmittelbarund ohne Ausnahme erfolgen. Ungerecht ist das Wol­ len, welches der vollkommenen Pflicht widerspricht. Unrecht Heißtalles, was durchs Sittengesetz un-

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(r •’cMtev B'ief.

möglich gemacht wird. Das Ungerechte beareift nur das in sich, was durch die allgemeinste V o r­ schrift desselben unmittelbar, und folglich ohne Aus­ nahme, unmöglich gemacht ist. 2 2 ) Gute, in der moralischen aber enge­ ren Bedeutung des Wortes, in wie ferne man sie der Gerechtigkeit entgegen seht, ist die Ueber­ einstimmung des Willens mit dem Sittenqesetze in denjenigen Vorschriften, die nicht unmittelbar und ohne andere Voraussetzung aus demselben erfolgen. Eine gute Handlung in diesem Sinne, ist eine solche, welche eine unvollkommene Pflicht erfüllt. Die bisherige - Unbestimmtheit der Begriffe von der vollkommenen und unvollkommenen Pflicht, hat das Vorurtheil begünstiget, daß in der Güte mehr M oralität als in der Gerechtigkeit enthalten sey; wobey man unter andern vergessen zu haben scheint, daß es eine Gute geben könne, die nicht moralisch ist, aber keine solche Gerechtigkeit.

P flich ten und Rechte gegen uns selbst. 23) In Rücksicht ans unser eigenes Selbst ist die negative Beschränkung des eigennützigen Trie­ bes, d. H. die Befriedigung desselben, die durch das Gesetz nothwendig ist, ein Geboth; die positive Beschränkung, die vorgeschriebene Enthaltung von einex Befriedigung, die durch das Gesetz unmöglich gemacht ist, ein V e r b o t h ; die weder gebothene

Sechst er B rief.

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noch verbothene Befriedigung, ein Recht. Diese Gebothe, Verbothe und Rechte machen die Pflichten und Rechte gegen uns selbst aus.

P f l i c h t en und Rechte gegen Andre. 24) Da der uneigennützige Trieb lediglich durch sich selbst, und keineswegs durch das Interesse des eigennützigen, sein Gesetz giebt, das er der Selbst­ liebe, aber nicht durch die Selbstliebe, vorschreibt, aus welcher er für die Gültigkeit seines Gesetzes schlechterdings keine Sanktion erhalten kann, noch nöthig hat, und da dieses Gesetz in allen Personen oder Subjekten des uneigennützigen Triebes eben dasselbe ist: so beschränkt es unsern eigennützigen Trieb durch die Person eines andern Menschen nicht weniger als durch unsere eigene; nur mit dem Unter­ schiede, daß der uneigennützige Trieb in unsrer eige­ nen Person unsern eigennützigen unmittelbar, der uneigennützige Trieb in der Person einesAndern aber unsern eigennützigen nur mittelbar, d. i. vermittelst des uneigennützigen in uns selbst, beschranken kann. Die vernünftige Natur eines Andern kann mir nur durch die meinige Gesetze vorschreiben. 2 5 ) Die durch das Gesetz des uneigennützi­ gen Triebes bestimmte Nothwendigkeit der Beschrän­ kung unsers eigennützigen Triebes in Rücksicht auf andere Personen heißt Pfli ch t gegen Andere; die durch diesesGesetz bestimmte Möglichkeit der Be-

sog

Sechst er B r i e f .

stiedigung unsres eigennützigen Triebes in Rücksicht auf Andere, heißt Recht gegen Andere. Die Pflicht gegen Andere begreift i ) die Nothwendigkeit, solche Handlungen zu unterlassen, durch welche der eigennützige Trieb aesetzwidrig in uns befriediget und in Andern beschränkt würde, Verbothe; 2) die Nothwendigkeit solcher gesetzmäßigen Handlungen, durch welche der eigennützige Trieb in uns beschränkt, in Andern aber befriediget wird, Gebothe.

Wo h l t h ä t i g k e i t . 26) Die freywillige Beschränkung des eigen­ nützigen Triebes in uns, zur Befriedigung eben desselben Triebes in Andern, heißt Handlung der Wohlthätigkeit. In dem allgemeinen Begriffe der Wohlthä­ tigkeit ist keineswegs -das Merkmal der sittlichen Güte enthalten, wenn derselbe richtig gedacht wird. Die Handlung der Wohlthätigkeit kann bald pflichtmäßig, bald bloß rechtmäßig, bald aber pflichtwi­ drig seyn, je nachdem dieselbe dem Willen durch das Sittengcsetz entweder nothwendig, oder bloß mög­ lich, oder unmöglich ist. Pflicht ist die Handlung der Wohltlatigkeit nur in denjenigen Fällen, wo uns die Befriedi­ gung des eigennützigen Triebes in Andern durch das Gesetz des Uneigennützigen in uns, und zwcr in Rücksicht auf eben dasselbe Gesetz in Andern »ochwendig gemacht wird. Nicht

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Nicht nur wer aus g r ö b e re m Eigennuß, fr. i. lediglich in der Absicht, um wieder zu empfangen, sondern auch, wer aus dem f e i n e r n , ohne 9iud> sicht auf Wiedererstattung, aber bestimmt durch das Vergnügen an der G estalt, den Talenten, der Gegenliebe u. f. w. im Andern, oder endlich aus dem f e i ns t en, bloß um des Genusses willen, den das W ohlthun an und für sich gewährt, wohlthätig ist; — wer mit Einem W orte nicht aus Rücksicht auf die vernünftige N a tu r, aus Ac h t u n g gegen den An* dern als Person (S ubjekt desSittengeseßes) Wohl» thaten ausübt, hat in so ferne nicht a u s P f l i c h t gehandelt. Allein er kann re c h t gethan, und zwar in* nerlich rechtmäßig gehandelt haben, wenn feine in dem eigennützigen Triebe gegründete Handlung in einem gegebenen Falle nicht nur dem SittengeseHe nicht widerßwicht, sondern auch mit der geseHmäßigen Rücksicht auf ihre moralische Möglichkeit un­ ternommen ist. D ie Handlung der Wohlthätigkeit ist pflicht­ w idrig, wenn sie in einem gegebenen Falle einer ho­ hem P flicht, das heißt einer solchen, die unmit­ telbarer und naher unter dem SittengeseHe enthal­ ten ist, widerspricht. D ie Pflicht der Wohlthätigkeit ist u n v o l l ­ k o m m e n e Pflicht, weil sie nicht unmittelbar und ohne alle VorausseHung, folglich auch nicht ohne Ausnahme aus dem SittengeseHe erfolgt. ReinholdS Dr. 2 . D.

0

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Sechster Brief. Ge r e c h t i g k e i t g e g e n An d r e .

28 ) D ie moralische Unmöglichkeit, die P e r­ son eines Andern (ein Subjekt des uneigennützigen T r i e b e s ) willkührlich den bloßen Forderungen des eigennützigen Triebes in uns unterzuordnen, ist unmittelbar Folge des Sittengesetzes; und daher ist die Enthaltung von einer solchen Unterordnung ohne Ausnahme durch das Sittengesetz nothwendig, d. H. v o l l k o m m e n e P f lic h t. 2 9 ) D ie Maxime, durch welche der fteye W ille einem andern Gesetze als dem praktischen un­ terworfen wird, widerspricht unmittelbar dem S i t ­ tengesetze. S ie besteht aber in nichts andern, als in der freiwilligen Unterordnung einer Person ( sie sey nun unsre eigne oder die eines Andern) unter die bloße Forderung unsers eigennützigen Triebes. B etrift sie eine andere Person, so wird der Wille derselben diese erste Bedingung der Erfüllung des Sittenqesetzes, durch den W illen einer andern Person beschränkt; es wird der Freyheit des Andern ihr Vermögen, sich bloß nach dem praktischen Gesetze zu bestimmen, geraubt; ein freyes Subjekt des Sittengesetzes wird durch ein anderes stcywillig dem bloßen Naturgesetze unterworfen, und ein Subjekt des uneigennützigen Triebes, welches sich in dieser Eigenschaft des eigen­ nützigen Triebes nur als eines M ittels bedienen kann, wird durch ein anderes Subjekt dieser A rt als ein bloßes M ittel dieses Triebes gemißbraucht.

Sechster Brief.

sn

I n wie ferne die Erfüllung der vollkommenen Pflicht gegen Andere in der Achtung und Schonung der Rechte Anderer besteht, heißt sie Gerechtigkeit gegen Andere.

Zw ang , Zwangsrecht, Z w a n g s ­ pflicht. 3 0 ) D e r Z w ang, oder diejenige Beschran. fung der willkührlichen Befriedigung des eigennützi­ gen Triebes, die nicht im Gesetz des uneigennützigen gegründet ist, steht an und für (ich selbst mit diesem Gesetze in keinem Widersprüche. D er Mensch wird fyirch Naturnothwendigkeit nach physischen Gesehen g^w ungen, Eigenthum , Gesundheit, das Leben selbst aufzugeben; er leidet durch vernunftlose Thiere M d durch wahnsinnige Menschen Zwang, wobey er sic^ >nür über U n g l ü c k , me über U nr ech t und Ungerechtigkeit zu beklagen Ursache hat. 3 1 ) U n g e r e c h t ist derjenige Z w a n g , der einer Person durch eine Person (die eigene oder eine andere) willkührlich und zur bloßen Befriedigung des eigennützigen Triebes zugefügt wird. Jede freywillige und nicht im Sittengeseße gegründete B e ­ schränkung der natürlichen Freyheit der Person, oder, welches eben so viel heißt, jede Beeinträchtigung des Rechtes ist daher Z w a n g , und zwar un ge r ec h­ ter Z w a n g . D ie Gerechtigkeit gegen Andere besteht in der Enthaltung von aller willkührlichen Beschränkung

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Sechster Brief.

der freiwilligen Befriedigung des eigennützigen Triedes in Andern zur bloßen Befriedigung desselben Trie­ bes in uns. Eine solcheBeschränkung heißt Zwang, in wie ferne sie nicht im Gesetze des uneigennützigen Triebes gegründet ist. Also bestehet die Gerechtigkeit in der Enthaltung vom Zwang, der einem Andern zur Befriedigung unsres eigennützigen Triebes angethan würde. Da die allgemeinste vollkommene Pflicht in der Nothwendigkeit besteht, sich aller solcher M axi­ men zu enthalten, durch welche die Freyheit, als die erste Bedingung der Ausübung des SittengeseßeS, beschrankt würde, die (Einschränkung der Freyheit aber, die nicht durch die Freyheit selbst, vermittelst des praktischen Gesetzes, geschieht, Z w an g 'ist, urib wenn sie durch denWillen geschieht, fr e y w il l ig e r Zwang ; sobesteht auch die allgemeinste vollkommene Pflicht in der N oth wendigkeit der E n t h a l ­ tung von allem fre yw ill ig e n Zwange. In wie fern unter Zwang jede Beschränkung der willkührlichen Befriedigung verstanden wird, die nicht im Gesetz der Freyheit gegründet ist, in so ferne wird hier durch denselben keineswegs bloß die physische, sondern auch die psychologische Überwäl­ tigung, durch List nicht weniger als durch Gewalt, überhaupt alles, was den Andern zu seinem Nach­ theil und zu unserm Vortheil nöthigt, bezeichnet. 3 2) Der Satz, der den Begriff der vollkom­ menen Pflicht ausdrückt, oder der Grundsatz der­ selben heißt: D u sollst keinen Menschen

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B rie f.

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w i l lk ü hr l ic h zur bloßen B e f r i e d i g u n g deines eigennützigen T r i e b e s zwingen. 3 3) Das Sittcngefetz, welches dem Andern es unmöglich macht, mich freywillig zur blo­ ßen Befriedigung feines eigennützigen Triebes zu zwingen, macht es mir möglich, von ihm nicht gezwungen zu werden; indem es ihm die P f l i c h t auffegt, mich nicht zu nöthigen, giebt es mir das R ech t, mich nicht nöthigen zu lassen, und die Thatsache des unrechtmäßigen Zwanges , den er mir zufügt, seht mich in den Stand, mein Recht, nicht gezwungen zu werden, durch Zwang geltend zu machen. Durch diesen vertheidigenden Zwang wird die Willkühr des Angreifers nur in Rücksicht auf eine solche Befriedigung seines eigennützigen Triebes beschränkt, die ihm ohnehin durch das Sittengesetz unmittelbar verbothen ist, während der Angegriffene keine andere Beschränkung feines eigennützigen Trie­ bes hindert, als eine solche, die ihm nicht durch das Sittengesetz, sondern durch den eigennützigen Trieb des Andern gegen das Sittengesetz aufgelegt wird. 3 4) Re chtmäßig ist der Zwang nur dann und nur in so ferne, wenn und in wie ferne derselbe zur Zurücktreibung des unrechtmäßigen Zwanges ge­ braucht wird, und das Z w a n g s r ech t ist die durch das Sittengesetz bestimmte Möglichkeit, unrechtmäßi­ gen Zwang durch Zwang abzuhalten. 3 5) Jede vollkommene Pflicht heißt, in wie ferne ihre Uebertretung ein Zwangsrecht in dem An­ gegriffenen erzeugt, eine Z w a n g s p f l i ch t. Jede

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Sechster B r i e f .

Pflicht ü b e rh a u p t, in wie ferne ihre Erfüllung der Willkühr und eigenen Beurtheilung des Verpflich­ teten überlassen werden soll, und daher nicht er­ zwungen werden darf, heißt G ew issenspflicht. Die Z w a n g s p flic h t muß mit der P flic h t zu zw ingen nicht verwechselt werden. Durch die Eine ist das Zwingen verbothen, durch die An­ dere gebothen; die Eine wird durch Enthaltung vom Zwang, die Andere durch Ausübung desselben erfüllt. Das Zwangsrecht entsteht keineswegs aus der Pflicht zu zwingen in dem Angegriffenen, auch nicht aus der Zwangspflicht im Angreifer, und er­ folgt überhaupt aus keiner Pflicht, sondern aue dem S it te n ge se t z, durch welches der Zwang dem Angreifer unmöglich, dem Angegriffenen aber unter Voraussetzung des A n g r i f f e s möglich wird.

Gewissensrecht und Narurreckl. 3 6 ) Das Zwangsrecht heißt das inner­ liche, in wie ferne der Zwang in einem gegebenen Falle durch keine Gewissenspflicht gebothen und verbothen ist; das äußerliche, in wie fern» der Zwang durch unrechtmäßigen Zwang, folglich turch ein äußerliches F a k t u m , möglich gemacht vird. Das Zwangsrecht hört erstens auf en i n ­ nerliches Recht zu seyn, wenn mir in einen ge­ gebenen Falle das Zurücktreiben des ungerehten Zwanges zur Gewissenspflicht wird. D a es mir unter dieser Voraussetzung nur durch meine ver­ nünftige Natur no th we n di g , durch die venünf-

Sechster Brief.

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tige N atur des A n d e r n hingegen nur mögl i ch w ird, den Andern zu zwingen; so ist meine inner« liche P f l i c h t , diesen Zwang auszuüben äußerlich ein bloßes Recht; und ungeachtet der Zwang in Rücksicht auf meine Person (111 fo ro c o n s c ie n tia e ) pflichtmäßig ist, so bleibt er darum gleichwohl in Rücksicht auf die Person des Andern (in fo ro e x te r n o ) b l o ß r e c h t m ä ß i g . D a s Zwangsrecht hört z w e y t e n - auf ein inneres Recht zu seyn, wenn die Ausübung in einem gegebenen Falle durch eine Gewissenöpflicht aufgeho­ ben wird. D a s Sittengefeh kann wohl unter ge« wissen Umständen dem Angegriffenen gebiethen, einen unrechtmäßigen Zwang zu leiden: allein dieser Zwang wird dadurch von der S eite des Angreifers, nicht rechtmäßig; der Angegriffene, der zu keiner Gewissenspflicht gezwungen werden darf, behält fein äußerliches Zwangsrecht auch wenn kein inner« liches vorhanden ist, und der vertheidigende Zwang, der in Rücksicht auf die Person des Vertheidigers ( i n fo ro c o n s c ie n tia e ) pflichtwidrig ist, bleibt darum gleichwohl in Rücksicht auf die Person des Angreifers ( in fo ro e x te r n o ) rechtmäßig. g ? ) I n wie ferne das äußerliche Zwangs­ recht durch keine Gewissenspflicht, die den unrecht­ mäßigen Zwang entweder zu leiden oder zurückzutrei­ ben gebiethet, aufgehoben werden kann, in so ferne heißt es das s t r enge ä u ß e r e R ec h t. D ie S trenge des Zwangsrechts besteht aljö in der äußerlichen Unverlierbarkeit, die demselben

Sechster Brief. durch das Sittengesetz zugesichert ist, aber keines, wegö davon abhängt, daß die Ausübung desselben dem Angegriffenen durch das Sittengeseß nothwen­ dig, sondern davon, daß dem Angreifer die H in­ derung dieser Ausübung durch das SittengeseH un­ möglich gemacht wird. 3 8) Das innerliche Zwangsrecht ist ein Ge­ wissensrecht und gehört in die M o ra l; das äußer­ liche strenge Zwangsrecht heißt das nat ürliche Recht, und macht das Objekt derjenigen Wissen­ schaft aus, für die der Name des NaturrcchtS durch den Sprachgebrauch bestimmt ist. Unter Naturgesetz, in wie ferne dasselbe vom Sittengesetze unterschieden wird, begreift man die allgemeinen Regeln, welche Naturnothwendigkeit, physische Nöthigung, Zwang, ausdrücken. Der Mensch steht in Rücksicht nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf jeden andern Menschen, keines­ wegs unter bloßen Naturgesetzen, sondern, in wie ferne er einen Willen hat, unter dem Sittengesetze, dem Gesetze der Freyheit. E r darf also von keinem Menschen so lange nicht nach dem bloßen Naturge­ setze (dem sogenannten Rechte des Stärker») behan­ delt werden, als er nicht zuerst den Andern bloß nach diesem Gesetze behandelt hak. Das Gesetz der Freyheit, welches dem Einen verbiethet, die Person des Andern dem bloßen Naturgesetze zu unterwerfen, erlaubt es diesem Andern, um diese Unterwerfung zu verhindern, das bloße Naturgesetz gegen den E i­ nen geltend zu machen.

Sechster

B rief.

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3 9 ) D a s natürliche R echt, oder das N a ­ tu r recht als Objekt der Wissenschaft dieses N a ­ m ens, ist das sittliche Verm ögen, andere M en­ schen nach bloßen Naturgesetzen zu behandeln, in w ie f e r ne dasselbe von der unrechtmäßigen Behand­ lung nach diesen Gesehen abhangt. 4 0 ) D ie Wissenschaft des Naturrechts schränkt sich daher nur auf das äußerliche strenge Zwangsrecht ein, und begreift die vollkommenen Pflichten nur in so f e r n e , als sich ihre Erfüllung erzwingen läßt. 4 1 ) D er S a h , der den Begriff des äußer­ lichen strengen Zwangsrechts ausdrückt, ist daher der erste Grundsah des NaturrechtS, und heißt: D u d a r f s t d e n j e n i g e n , d er dich zu r blo­ ß e n B e f r i e d i g u n g s ei nes e i g e n n ü t z i g e n T r i e b e s z w i n g t , durch Z w a n g a b h a l t e n . Dieser S a h gilt in der M o r a l nur b e d i n g t , nämlich unter der Voraussetzung, daß daö Zurück­ treiben des Zwangs durch keine Gewissenepflicht ge­ bothen oder verbothen ist; im N a t u r r e c h t e aber unbedingt, weil hier nur von der äußern und in so fern unverlierbaren Rechtmäßigkeit die Rede ist. D er Grundsatz, der den Begriff der vollkom­ menen Pflicht gegen Andere ausdrückt, muß von dem Satze, der den Begriff des äußerlichen Zwangs­ rechtes bezeichnet, genau unterschieben werden. D er eine gehört in die M oral, der andere ist der erste Grundsatz des N aturrechts, und die Vermengung oder Verwechselung dieser S ä h e , hat die Vermen-

s>8

Sechster Brief.

gung oder Verwechselung der Moral und des N a turrechts zur Folge. Der Begriff des Zwangsrechtes ist kei­ neswegs mit dem Begriffe des vol lk omme nen Rechts gegen andere v ö l l i g gleichgeltend; und auch in dem Begriffe der Z w a ng sp f l i c ht dezeichnet das Wort Z w a n g ein Merkmal, das keineswegs schon in dem Begriffe der vollkommenen Pflicht an und für sich selbst liegt, sondern das erst zu demselben hinzu kömmt, wenn man das, unter der Voraussetzung der U e b e r t r e t u n g dieser Pflicht, als einer C o n d itio fine qua non, aus dem Sittengesetze erfolgende Recht zu zwingen, hinzudenkt. Die Pflicht, sich von unrechtmäßigem Zwang zu enthalten, findet durch das Sittengesetz unmittel­ bar ohne alle andere Voraussetzung und ohne Aus­ nahme S ta tt, bedarf und verträgt in so ferne keine fremde Sanktion, und gehört in die M o r a l . Das Recht zu zwingen hingegen, das nur unter der V o r­ aussetzung der Thatsache des unrechtmäßigen Zwan­ ges S tatt findet, giebt der vollkommenen Pflicht eine äußere S a n k t i o n durch die physische Gewalt, deren rechtmäßigen Gebrauch der Angrei­ fer zu befürchten hat. N u r in Rücksicht auf diese äußere Sanktion, oder, welches eben so viel heißt, nur in wie ferne ihre Erfüllung erzwungen werden darf — ( in wie ferne sie ein fo ru m externum zuläßt) gehört die vollkommene Pflicht ins Natur­ recht. Auch jenes D ü r f e n , das Recht zu zwin-

Sechster B r i e f .

Le­

gen, kommt nur als äußerliches, von der Thatsache des unrechtmäßigen Zwangs abhängiges Recht, und in wie ferne es durch Andere nicht gehindert werden d a r f , im Naturrecht in Betrachtung. Die Theo­ rie von dem sittlichen Gebrauch desselben, so wie von seiner innerlichen Gültigkeit in Rücksicht auf den A n g e g r iffe n e n , muß der M o r a l überlassen bleiben. 4 2 ) I n wie ferne die positive S a n k ­ tion der bürgerlichen und politischen G e ­ setzgebung Z w a n g ist, die äußere Rechtmä­ ßigkeit des Zwangs ihren Principien nach im N a ­ tu rr echt festgesetzt wird, das Naturrecht aber die Wissenschaft des Sittengesetzes oder die M o r a l voraussetzt, in so ferne ist das N a tu r r e c h t das verbindende Mittelglied zwischen dem Gewissens­ recht und dem positiven Recht, zwischen der sittlichen und der positiven Gesetzgebung. Aus dieser Entwicklung läßt sich bestimmt an­ geben, was in den bisherigen verschiedenen Theo­ rien des Naturrechtes, und in dm einseitigen V or­ stellungsarten, welche dieses Recht entweder von der bloßen Pflicht überhaupt, oder von der physi­ schen Stärke, oder von der Selbstliebe, oder von der natürlichen Freyheit, oder von der ursprüngli­ chen Gleichheit aller Menschen ableiten, zugleich Wahres und Falsches enthalten ist. Jede dieser Meynungm hat irgend etwas, das zum Begriffe des Naturrechts gehört, für den ganzen B e ­ griff angenommen.

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Sechster Brief.

Es ergiebt sich aber auch, daß nichts als der Begriff von der strengen Rechtmäßig­ keit, keineswegs aber der ganze In h a lt des Naturrechts, z. B . die Begriffe von Eigen thu m , V e r t r a g e n , u. f. ro. aus der M oral geschöpft werden können, und daß das Naturrecht seinem eigenthümlichen In h a lt nach von der M oral und dem positiven Rechte gleich wesentlich ver­ schieden sey.

Siebenter Brief. Ueber den bisher verkannten Unter­ schied zwischen dem uneigennützigen und dem eigennützigen Triebe, und zwi­ schen diesen beyden Trieben und dem W i l l e n . 5 9 ? it Recht, l. F r., fordern S ie mich zur Erhörtung der Behauptungen auf, die ich bey meiner neuen D a r s t e ll u n g der Grun dbe gr iffe und Grundsätze der M o r a l und des N a ­ turrechtes als ausgemacht angenommen habe, und durch welche ich im menschlichen Begehrungs­ vermögen einen wesentlichen Unterschied sowohl zwi­ schen einem uneigennützigen und einem eigen­ nützigen Triebe, als auch zwischen diesen beyden Trieben und dem W i l l e n voraussehe; einen Unter­ schied, aus dem sich, wenn er einmal zugegeben ist, alle in jener Darstellung von mir aufgestellten Grund-

Siebenter B r i e f .

321

Lehr- und Folgest he, wie Sie'mir gestanden haben, zu Ihrer völligen Befriedigung ergeben. Es ist nicht zu laugnen, daß auch schon in der bisherigen Philosophie Verschiedenheiten zwischen diesen drey Vermögen des Gemüthes behauptet wurden. Allein die Philosophen, welche diese Verschiedenheiten zugaben, waren nicht nur unter sich darüber uneinig, worin sie dieselben bestehen lassen sollten; sondern sie hatten es noch mit einer sehr ansehnlichen Parthey aufzunehmen, welche alle auch noch so verschiedene. Aeußerungen des Begeh» rungsvermögens aus dem einzigen eigennützigen Triebe abgeleitet wissen wollten, und folglich allen reellen Unterschied zwischen jenen drey Vermögen aufhoben. Die philosophierende Vernunft ist in ihren bisherigen Repräsentanten mit sich selbst uneinig: „O b eS im menschlichen BegehrungSvermögen „überhaupt eine uneigennützige Triebfeder gebe oder „nicht, und ob dieselbe von der allgemein anet* „kannten eigennützigen wesentlich verschieden sey „oder nicht." Der Grund von dieser, wie von jeder andern Uneinigkeit unter denRepräsentanten der Philosophie« renden Vernunft, liegt in einem allen Partheyen gemeinschaftlichen Mißverständnisse. Er bder

Si ebent er B r i c f .

2ZI

uneigennützig sey? als eine leidige Veranlassung zu bloßen Wortstreicigkeiten von der Hand weisen. Durch die nähere Bestimmung des Begriffes vom Ve rgnügen überhaupt, als einer Gathing, hat der S treit über die Uneigennützigkeit der sittlichen Triebfeder eine andere Wendung erhalten. M an unterschied nun das bloße Vergnügen überhaupt von dem W o h lg e fa lle n , durch wel­ ches dasselbe begleitet wird. Das Eine ist etwas, das sich lediglich auf das vorstellende Subjekt, das Andere etwas, das sich auf ein vorgestelltes Objekt bezieht. Das Eine ist ein mehr oder weniger kla­ res, aber immer undeutliches Bewußtseyn unsres eigenen Zustandes, Gefühl einer Veränderung in uns, die mit einem Triebe übereinstimmt, ein Gemüthözustand, der, in wie ferne er nur als Befriedi­ gung des Bedürfnisses leicht und stark afficiert zu werden interessiert, an und für sich selbst eigen­ nützig genannt werden muß. Das Andere hin­ gegen ist nach der Beschaffenheit des Objektes ver­ schieden, und ist bald eine bloße Folge, bald aber der G r u n d des Vergnügens, welches sonach in einem vorzüglichern engern Sinne bald eigennützig, bald uneigennützig heißen kann. I n dem ersten Falle gefallt das Objekt nur um des an­ genehmen Zustandes willen, in welchen das Sub­ jekt durch dasselbe versetzt wird; der Grund des Wohlgefallens liegt im Genusse. Im zweyten Falle gefällt das Objekt um seiner selbst willen; der an-

Siebenter B rie f.

832

genehme Zustand des Subjektes erfolgt aus dem Wohlgefallen am Objekte, und der Grund des Ge­ nusses liegt im Wohlgefallen. Wenn bey dieser an fruchtbaren Winken aller­ dings reichhaltigen Theorie, die Frage über die Uneigennühigkeit der sittlichen Triebfeder nicht viel­ mehr dtftch einen blendenden Einfall abgewiesen, als gründlich beantwortet werden soll, so muß der Begriff des W o h l g e f a l l e n s , wichtige Rölle spielt,

der hier eine so

und den man gleichwohl in

einer höchst auffallenden Unbestimmtheit gelassen hat, genau bestimmt werden. M a n hat noch sehr wenig für die Bestimmt­ heit dieses Begriffes gewonnen, wenn man sich nicht weiter darüber zu erklären weiss, als daß man durch denselben den Beyfall denken müsse, den der V e r­ stand dem Objekte des Vergnügens giebt. es fragt sich: W as heißt dieser B e y f a l l ?

Denn Als

eine Handlung des Verstandes muß er in einem U r t h e i l e bestehen,

als B e y f a l l in einem U r­

theile, das Uebereinstimmung ankündigt, und als Wohlgefallen

muß er von dem Urtheile ver­

schieden seyn, welches eine bloße U e b e r z e u g u n g ausmacht.

Ein Gegenstand ü b e r z e u g t , in wie

ferne er mit der Vorstellung, die wir von ihm ha­ ben, übereinstimmt;

er g e f ä l l t , in wie ferne er

durch die Vorstellung, die wir von ihm haben, mit uns selbst ü b e r e i n st i m m t.

D em Beyfalle der

Ueberzeugung liegt die Uebereinstimmung zwischen

Si ebent er Brief. Vorstellung und Objekt 51:111 Grunde, und er ist ein Urtheil, durch welches dem Begriffe, den wie vom Objekte haben, das Prädikat W a h r bengelegt w ird. D em Beyfalle des Wohlgefallens liegt die Uebereinstimmung zwischen dem vorstellenden S u b ­ jekte und dem vorgestellten Objekte zum Grunde, und er ist ein Urtheil, durch welches w ir dem Objekte die Prädikate A n g e n e h m , oder S c h ö n , oder S i t tlic h g u t beylegen, je nachdem dasselbe durch die V orstellung, die wir davon haben, entweder mit den p h y sisc h e n und in so ferne bloß sinnlichen, oder mit den ä s th e tis c h e n , oder m it den m o r a ­ lisc h e n Anlagen des vorstellenden Subjektes, und den durch dieselben bestimmten Forderungen über­ einstimmt. D e r G rund des U rtheils, durch welches ei­ nem Objekte das P rädikat A n g e n e h m beygelegt w ird , liegt in dem V ergnügen, das dem Urtheile vorhergeht, und durch welches sich die Ueberein­ stimmung des Objektes m it dem sinnlichen Triebe des Subjektes allein anzukündigen verm ag; und hierin besteht die Eigennützigkeit des physischen V er­ gnügens. D e r G rund des Urtheils, durch welches einem Objekte das P räd ikat S i t t l i c h g u t beyge­ legt wird, d arf also nicht in dem V ergnügen liegen, und dieses d arf nicht dem Urtheile vorhergehen, son­ dern muß erst auf dasselbe und aus demselben erfol­ g en , wenn das sittliche Vergnügen uneigennützig seyn soll. D a s sittliche Wohlgefallen müßte also einerseits m it dem Beyfalle der Ueberzeugung, oder

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Siebenter Brief'

dem Urtheil über die W a h r h e i t gemein haben, daß es, wie dieses, nicht durch Vergnügen bestimmt werden d arf, d. H. uneigennützig ist; andererseits aber mit dem physischen Wohlgefallen, oder dem Ur« theile über bloße A n n e h m l i c h k e i t , daß es, wie dieses, die Uebereinstimmung des Gegenstandes nicht m it der V orstellung, sondern mit dem vorstellenden Subjekte betrifft, daß es kein logisches und theore­ tisches Urtheil ist. Nach diesen Voraussehungen entsteht die F ra g e : W orin liegt der bestimmende G rund des sittlichen W ohlgefallens, das heißt, desjenigen U r­ theils über die Uebereinstimmung eines Objekts m it den sittlichen Anlagen des Subjektes, das dem sitt­ lichen V ergnügen vorhergehen muß ? D a m an un­ ter S i t t l i c h k e i t nichts als die Gesetzmäßigkeit des W ollens versteht, so kann man unter den sitt­ lichen Anlagen nichts als den W i l l e n selbst und die V erm ögen des G em üthes denken, 'von denen das Gesetz des W illens, so weit sich dasselbe im B ew u ß t­ seyn ankündiget, abhängt. D a s Objekt aber, das m it diesen Anlagen übereinstimmt, kann nichts an­ dres seyn, als eine Handlung des W illens, die je­ nem Gesetze gemäß ist. D a s sittliche Wohlgefallen m uß also das Urtheil über die Gesetzmäßigkeit einer W illenshandlung seyn; und das Prädikat G u t , das durch dieses Urtheil aufgestellt wird, kann nichts als d i e s e G e s e t z m ä ß i g k e i t bedeuten.

Siebenter B r ie f . Da das Gesetz des Willens das Eigen, thüm liche hat, daß es bey aller feiner Nothwen­ digkeit gleichwohl durch den Willen selbst übertre­ ten werden kann; da eine Handlung des Willens dadurch, daß sie sittlich nothwendig ist, nicht un­ vermeidlich wirklich wird: so laßt sich das sittliche Wohlgefallen oder das Urtheil über die Gesetzmäßig­ keit einer Handlung deö Willens unterscheiden: er­ stens, in das Urtheil über die Gesetzmäßigkeit der Handlung die geschehen soll,, und zweytenö in das Urtheil über die Gesetzmäßigkeit der Handlung die geschehen is t; eine Unterscheidung, die für den Gegenstand unserer Untersuchung von entscheidender Wichtigkeit ist, und daher genauer entwickelt werden muß. Das Eine von diesen beyden Urtheilen geht der sittlichen Handlung vorher, das Andere folgt auf dieselbe; das Eine betrifft die Gesetzmäßigkeit einer Handlung, vdn der demWillen das Gegentheil noch immer physisch möglich ist; das Andere betrifft die Wirklichkeit der schon vorhandenen gesetzmäßigen Handlung; das Eine enthält den Beyfall, der dem bloßen Gesetze, das Andere den Beyfall, der ber Hand­ lung nach dem Gesetze gegeben wird; das Eine ist von der Wirklichkeit des sittlichen Entschlusses ganz unabhängig, und hat oft kein Vergnügen, sondern Mißvergnügen über die Einschränkungen, die vom Gesetze vorgeschrieben werden, zur Folge, daßAn­ dere hangt von der Wirklichkeit des sittlichen Ent­ schlusses ab, und hat unvermeidlich das Vergnügen der Zufriedenheit und Achtung gegen sich selbst zur

Siebenter B r ie f. Folge. Das Urtheil, daß die Handlung geschehen soll, findcr auch dann S tatt, und bleibt unwider­ ruflich dasselbe, wenn die Handlung auch nicht wirk­ lich, oder wenn sogar ihr Gegentheil wirklich ge­ schieht; daher muß dieses Urtheil von dem Vergnü­ gen und Mißvergnügen, das aus der Wirklichkeit »der Nichtwirklichkeit der Handlung erfolgt, ganz unabhängig senn. Das Urtheil, daß die Hand­ lung, die geschehen sollte, geschehen sey, ist eben so zufällig als die Wirklichkeit, die durch dasselbe vorausgesetzt wird, und die keineswegs aus ser Ge­ setzmäßigkeit unvermeidlich nothwendig erfolgt, und in so ferne ist auch das Wohlgefallen an der Wirklichkeit der gesetzmäßigen Handlung von dem Wohlgefallen an der Gesetzmäßigkeit unabhängig. Welche von diesen beyden Arten des Wohlge­ fallens enthält nun den Grund des sittlichen Wollens, oder desjenigen Vergnügens, durch welches der Wille zu einer sittlichen Handlung bestimmt wer­ den muß? Vielleicht etwa das Wohlgefallen an der Wirklichkeit der gesetzmäßigen Handlung? Allein dieses setzt ja eben diese Wirklichkeit voraus, die durch das aus ihm erfolgende und den Willen be­ stimmende Vergnügen erklärt werden soll. Das Vergnügen wäre zugleich Grund und Folge der wirklichen Handlung des Willens, und diese zugleich Grund und Folge des Vergnügens; ja, das Wohl­ gefallen selbst, in wie ferne es die Wirklichkeit der

Siebenter Br i e f .

S37

Handlung, diese aber das Vergnügen voraus seht, daß aus dem Wohlgefallen erfolgt, wäre zugleich Grund und Folge sowohl des Vergnügens als der wirklichen Handlung. Diese Zirkel können nur durch einen sehr leicht aufzuhebenden Schein verdeckt werden, wenn man etwa behaupten wollte: „ Das Vergnügen an der „vorausgesehenen Wirklichkeit der sittlichen „ Handlung könne ohne Ungereimtheit zugleich als „ Grund und Folge dieser Wirklichkeit gedacht wer„ den." Denn diese Wirklichkeit läßt sich doch nur in so ferne voraussehen, als sie vom Willen abhängt, und hängt durch das den Willen bestimmende V er­ gnügen nur in so ferne voin Willen ab, als sie vor­ ausgesehen wird. Außerdem dringt sich die Haupt­ frage von selbst auf: W ie hängt das Vergnügen mit der vorausgesehenen wirklichen Handlung zu­ sammen ? oder, was ist in der wirklichen Handlung dasjenige, woraus das Vergnügen erfolgt, das in der Voraussehung den Willen bestimmt? „ D i e S i t t l i c h k e i t " ist die einzig denkbare Antwort auf diese Frage: „oder die Uebereinstimmung der „Handlung mit dem Gesetze des Willens ist das» „ jenige, wodurch die vorausgesehene wirkliche Hand» „ lung Grund des Vergnügens wird." So wäre denn also das Vergnügen an der Handlung eine Folge des Urtheils über die Gesetzmäßigkeit derselben, de» Urtheils, daß die Handlung geschehen soll, des W o h lg e fa l le n s von der ersteren A rt.

2jg

Siebenter Brief.

I n diesem Falle müßte also das Vergnügen, durch welches der W ille sittlich zu handeln bestimmt w ürde, eine unvermeidlich nothwendige Folge des Urtheils seyn, daß die Handlung geschehen soll, und daher, so oft jenes Urtheil S t a t t findet, auch die sitt­ liche Handlung unvermeidlich erfolgen. W o diese Handlung nicht wirklich öder ihr Gegentheil wirklich geworden w äre, müßte auch jenes Urtheil nicht da gewesen seyn; wo sie nicht geschah, hätte sie auch nicht geschehen sollen; und wo sie geschehen sollte, wäre das Nichtgeschehen unmöglich gewesen. S o sehr auch diese Folgerungen, durch welche alle Z u r e c h n u n g , und mit derselben aller U nter­ schied zwischen s i t t l i c h e n und n i c h t s i t t l i c h e n Handlungen aufgehoben wird, dem moralischen G e­ fühle und dem Zeugnisse des Gewissens widerspre­ chen, so wenig können sie von den Philosophen, welche das V ergnügen, sie mögen es auch uneigennützig oder eigennützig nennen, als die sittliche Trieb­ feder annehmen, ohne Inkonsequenz geläugnet wer. den. S i e werden auch wirklich von mehreren ein­ gestanden, welche die Sittlichkeit des W ollens in der Uneigenni'itzigkeit des V ergnügens, durch wel­ ches der W ille bey gewissen Handlungen bestimmt w ird, entdeckt, und eben dadurch einen innern U n­ terschied zwischen Sittlichkeit und Unsittlichkeit fest­ gesetzt zu haben glauben. D er Umstand, daß sich a u s diesem Unterschiede die Z u r e c h n u n g der un­ sittlichen Handlung nicht begreifen läßt, bekümmert

S iebenter

55rief.

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sie um so weniger, da sie in dem Begriffe dersel­ ben nichts weiter als eine der Menschheit wohlthä­ tige Täuschung zu finden glauben. Ihnen muß gezeigt werden, daß ihr Begriff vom uneigennützigen Vergnügen, durch ihren Begriff vom Willen aufgehoben wird. Das Vergnügen, das ihrer Theorie zufolge den Willen zur sittlichen Handlung bejlirtimt, ist dadurch uneigennützig, weil es aus dem Urtheile, daß die Handlung geschehen soll, aus dem Wohl­ gefallen an der bloßen Gesetzmäßigkeit erfolgt. A l­ lein nach ihrem' Begriffe vom Willen muß auch die­ ses Urtheil, folglich das sittliche Wohlgefallen selbst, in einem vorhergehenden und dasselbe bestimmenden Vergnügen gegründet, und daher eigennützig seyn. Sobald einmal vorausgesetzt wird, daß der Wille überhaupt durch Vergnügen bestimmt werden müsse, so kann man sich unter dem Gesetze des Willens nur eine solche Vorschrift der Vernunft denken, die lediglich durch Vergnügen für den Willen Nothwen­ digkeit erhält (Gesetz wird), und die daher von dem Willen nur in so ferne befolgt werden kann, als er durch Vergnügen dazu bestimmt wird. Ich kann glso unter jener Voraussetzung nur in so ferne das Urtheil fällen, daß die Handlung geschehen soll '(daß sie für meinen Willen gesetzmäßig ist), als die Vorschrift zu derselben durch Vergnügen zum Ge­ setz erhoben wird, oder, welches dasselbe heißt, als ich die Rechnung meines Vergnügens dabey sinde.

Si ebent er B r i e f . Das sittliche Vergnügen ist also nicht bloß als Ver­ gnügen überhaupt, sondern insbesondere auch als das sittliche in engster Bedeutung des Wortes E i­ gennützig, weites, wie das physische Vergnü­ gen, mir keinem andern Wohlgefallen als einem solchen verknüpft ist, das selbst wieder nur aus dem Vergnügen erfolgt. Der S treit über die uneigen­ nützige Triebfeder ist also auch durch die Wendung, die er dusch die Unterscheidung zwischen Vergnügen und Wohlgefallen erhalten hat, ein bloßer W ort­ skreit geblieben, und die Vertheidiger der Uneigennützigkeit fechten für eilt W ort ohne Begriff. Der Vorwurf: die behauptete Uneigennützigfeit der sittlichen Triebfeder durch die Erklärung der­ selben wieder aufgehoben zu haben, scheint die eng­ ländischen Vertheidiger des moralischen Sinnes in so ferne weniger zu treffen, als sie den Grund des sittlichen Vergnügens in einem angebornen besondern Gesühlvermögen bestehen lassen, das sich als ein solches nicht weiter begreifen ließe, und welches die Sittlichkeit einer Handlung durch ein u n er k lä r­ bares Vergnügen im Bewußtseyn ankündigte. S ie nennen das Vergnügen, welches den Willen zu einer Handlung bestimmt, eigennützig, wenn dasselbe nicht unmittelbar aus der Handlung selbst, sondern aus den Folgen derselben — uneigen­ nützig, wenn es aus der Handlung selbst, ohne Rücksicht auf die Folgen, geschöpft wird. Das durch ein solches Vergnügen bestimmte Wollen iss ihnen das sittliche. Allein

Siebenter B r i e f .

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Allein das W ort uneigennützig wird auch in diesem Systeme nicht weniger als in jedem an­ dern, das den Willen durch Vergnügen bestimmt werden laßt, gemißbraucht, indem es gebraucht wird, Handlungen, die nur der A rt nach verschieden sind, durch die Benennung einer verschiedenen G at­ tung zu bezeichnen. Das Vorgefühl des Vergnü­ gens, das aus einer künftigen Handlung unmittel­ bar geschöpft wird, ist freylich auf eine andere A rt eigennützig, als dasjenige, das sich auf die bloßen Folgen der Handlung gründet; aber darum nichts weniger als uneigennützig, sobald es als B e ­ s ti mm un gs g ru n d des Willens gedacht wird. Nutzen ist M i t t e l des V e r g n ü g e n s , und eigen, nützig ist alles Interesse, das in der Tüchtigkeit zum Vergnügen gegründet ist. Jedes Vergnügen, das nur aus einem andern Vergnügen erfolgt, und jede Handlung, die bloßes M i t t e l zum V er­ gnügen ist, muß in so fern eigennützig heißen. D ie Willenshandlung, die sich nur als Grund und Folge eines Vergnügens, dasselbe mag aus dem Vergnü­ gen anderer Menschen geschöpft werden oder nicht, denken läßt, hat keinen andern Zweck als eigenes Vergnügen, ist also bloßes M ittel zum eigenen V e rgnügen, ist also in eigentlicher Bedeutung des W or­ tes eigennützig. Uneigennützig in eigentlicher Bedeutung würde daher das moralische Vergnügen nur dann und nur in so ferne heißen können, wann und in wie ferne Reinholds D r. 2 « D .

2

Siebenter Brief. dasselbe nicht als G rund, sondern nur als Folge der sittlichen Handlung gedacht werden könnte. D as sittliche Wollen würde Objekt des sittlichen V ergnü­ gens, dieses aber keineswegs das Objekt von jenem seyn können; das Vergnügen erfolgte aus der Hand­ lung, aber nicht die Handlung aus dem V ergnügen; die Handlung würde das Vergnügen nur in so ferne zur Folge haben, als sie dasselbe nicht zum Bestim mungsgrund hatte, und der Wille würde nur in so ferne sittlich handeln können, als er zu handeln ver­ mag, ohne dazu durch Vergnügen bestimmt zu wer­ den. Eine sittliche Handlung um des V ergnügenwillen das daraus erfolgt vornehmen wollen, würde nichts anders seyn, als ein M ittel ergreifen, das seinen Zweck aufhebt. D ie Tugend würde sich in so ferne selbst belohnen, als Vergnügen aus ihr ent­ springt ; aber dieses würde auch nur in so ferne aus ihr entspringen, als der Tugendhafte dasselbe nicht zum Zweck seiner Handlung gemacht, als er schlech­ terdings auf allen Lohn Verzicht gethan hat. D ie Sittlichkeit würde die G o t t h e i t seyn, d e r e n W i l l e n m a n nicht in so f e r n e t h u t , a l s m a n sie l i e b t , s o n d e r n , die m a n n u r i n so f e r n e l i e b t , a l s m a n i h r e n W i l l e n thut. Da ß d ies er Begriff von Uneigennühigkeit allen durch die bisherige Philosophie angenommenen Grundbegriffen der M oralität geradezu widerspreche, und daß daher, wenn derselbe anders richtig ist, die Uneigennühigkeit in keinem bisherigen Systeme dev

Si ebent er B r ,'ef.

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Moral mehr als dem bloßen leeren Namen nach an­ zutreffen sey, darf nun wohl nicht erst gezeigt wer­ den. Desto sorgfältiger muß aber dieser neue und der Kantischen Philosophie ganz eigenthüm­ liche Begriff in seinen wesentlichen Merkmalen erör­ tert und gegen die Widersprüche gesichert werden, welche er nach allen bisherigen Vorstellungsarten zu enthalten scheinen muß. Das allgemeine Vorurtheil, daß dieVernunft nur durch Lust und Unlust den Willen zu bestimmen vermöge, und daß daher das sogenannte vernünftige Vergnügen die Triebfeder der Sittlichkeit sey, wird durch nichts so sehr als durch die allgemeine Unbe­ stimmtheit aller bisherigen Begriffe vom W ille n unterstützt. Jeder dieser Begriffe enthielt freylich E in wahres Merkmal des Willens. Aber diese Merkmale waren immer nur solche, die dem Willen mit andern Zuständen des Gemüthes gemein sind, und unter denen bis jetzt das einzige fehlte, welches dem Willen eigenthümlich ist, und wodurch er sich von allen mir ihm verwandten Zuständen des Gemüthes auszeichnef. Man hat allerdings in so ferne dem Sprachgeb'rauche gehuldiget, als man unter Begehren im weiterer Bedeutung, und als Gattung, das unrvillkührliche und das w illkür­ liche Begehren als verschiedene Arten zusammen faßte, und unter dem Einen das Begehren in engerer Bedeutung, unter dem Andern aber das W o l l e n verstand. Allein, da es diesen Be«

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Siebenter Br ief.

griffen an Bestimmtheit gebrach, so war, bcn aller Eintracht über Worte, der Streit über die Bedeu­ tung derselben unvermeidlich, so oft man sich über den Unterschied zwischen Wollen und Begehren zu einer genaueren Rechenschaft zog. Eö sind freylich unläugbare Thatsachen, E r­ stens, daß beym Wollen sowohl, als beym un­ freywilligen Begehren, derjenige T r i e b , der nur durch Lust und Unlust in T h ä ti g k e i t gesetzt werden kann, — Zweytens, daß beym Wollen außer jenem Triebe auch noch die V e r n u n f t auf eine besondere Weise— geschäftig ist. Diese beyden unstreitigen Thatsachen des Bewußt­ seyns sind die unstreitige Veranlassung gewesen, den Willen für den durch V e r n u n f t geleiteten T r i e b nach Ve rg nü g e n zu halten; eine Mey­ nung, die daS Gemeinschaftliche aller bisher verschiedenen Theorien des Willens und der Sittlich­ keit begreift, und eben darum die genaueste Prü­ fung erfordert. Es ist allerdings Thatsache des Bewußtseyns, daß beym Wollen auch ein unwillkührliäws Begeh­ ren S tatt findet, und es ergiebt sich durch Reflexion über dieses Begehren, daß dasselbe Vergnügen zum Objekt und zum Grunde habe. Allein es ist nicht weniger eine Thatsache deS Bewußtseyns, daß das Wollen etwas mehr als ein bloßes unwillkührliches Begehren ist, daß bey jenem Gemüthszustande

S i e b e n ler B r i e f.

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eine-besondere Handlung vorkomme, welche E n t ­ schluß heißt, und welche durch Reflexion über die­ selbe von der Forderung des unwillkührlichcn Be­ gehrens unterschieden wird. W ir sind uns dieses Entschlusses, als der eigenthümlichen Handlung unsres Ic h s (der Person in uns) bewußt, und insbesondere als derjenigen Handlung, durch welche w ir zwar die Forderung des Begehrens weder aufstellen noch aufheben, aber doch die B e f r i e ­ digung derselben gestatten oder versagen können. Diese Befriedigung oder Nichtbeftiedigung muß von jener Forderung genau unterschieden werden. Die Forderung des bloßen Begehrens ist keineHand­ lung des Willens, ungeachtet sie beym Wollen vor­ kommt. Die Befriedigung ist zwar Objekt dieser Forderung; aber sie ist nur bey den unwillkürlichen Handlungen zugleich auch die Wirkung der Forde­ rung. Bey den Handlungen des Willens ist sie Wirkung des Entschlusses. Sie ist ein nothwen­ diger Gegenstand des unwillkührlichcn Begehrens; aber nur ein zu fä lli g er des Wollens, welches auch die Nichtbefriedigung hatte beschließen können. Wenn man nun die Forderung des Begeh­ rens, in wie ferne das Vergnügen für sie Grund und Folge, d .i. Zweck ist, eigennützig nennt; so ist freylich kein Wollen ohne eine Forderung des eigennützigen Triebes, aber auch keines durch diese Forderung allein denkbar. Die Wirkung des eigen­ nützigen Triebes geht in der Person vor, die sich

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Siebenter B rie f.

dabey mehr leidend als thätig verhält, ist unwillkührlich. Dasjenige, wodurch die Befriedigung oder Nichtbefriedigung dieser Forderung ein Wollen wird, geht nicht bloß in der Person vor, die stch dabey mehr thätig als leidend verhält; sondern ist Handlung -er Person selbst, und ist willkührlich. Daraus also, daß alles bloße Begehren durch Ver­ gnügen bestimmt wird, und daher eigennützig ist, folgt also keineswegs, daß auch alles Wollen durch Vergnügen bestimmt werde und eigennützig sey. Vielmehr in wie ferne das Bestimmtwerden durch Vergnügen ein leidender, das Wollen aber ein selbst­ thätiger Zustand des Gemüthes, in wie ferne das Wollen vom bloßen Begehren wesentlich verschieden ist, in so ferne läßt sich kein Wollen überhaupt als ein Bestimmtwerden durch Vergnügen denken. Ich verstehe daher unter Wollen: Sich selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Begehrens, oder einer Forderung des eigennützigen Triebes bestimmen; — unter Begehren in engerer Bedeutung aber: Das Bestimmtwerden durch Ver­ gnügen, oder durch Lust und Unlust überhaupt, die Forderung des eigennützigen Triebes. Handlungen, die im bloßen Begehren ihren Grund haben, heißen instinktartig, und sind bloß thierisch. Bey diesen bestimmt sich die Person nicht selbst zum Handeln, sie wird dazu bestimmt. Der eigennützige Trieb wird in der Person befrie­ digt, aber nicht durch die Person; durch eine

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W irk u ng i n der Person, nicht durch eine H a n dlung der Person. Handlungen, die im W i l l e n ihren Grund haben, heißen vernünftig, und sind eigentlich menschlich. Bey diesen bestimmt sich die Person selbst zum Handel», und wird nicht dazu bestimmt. Der eigennützige Trieb wird dabey entweder be­ friediget, oder nicht befriediget; nicht durch sich selbst, sondern durch die Person; nicht j durch die umvillkührliche Forderung, die nur allein Befrie­ digung, sondern durchdie Willkühr, welche Beftiedi» digung oder Nichtbesriedigung zum Objekt hat; nicht durch eine W irk un g in der Person, sondern durch Handlung der Person. Jedes Wollen ist daher Befriedigung oder Richtbefriedigung de» eigennützigen Triebes; aber kein Wollen ist Handlung dieses Triebes. Kein Wollen ist ohne Reih der Lust und Unlust,, aber auch keines als eine Handlung denkbar, die ledi­ glich durch diesen Reiß bestimmt würde. Beym Bestimmtwerden durch diesen Reih wirkt etwas in der Person, beym Wollen handelt sie selbst. M an hat sich Vie Selbsithätigkeit, die sich bey jeder Handlung des Willens im Selbstbe­ wußtseyn ankündigt, aus den Aeußerungen der De nkkraft, die bey diesem Zustande des Ge­ müthes gestbastig ist, zu erklären gesucht, und da­ her die Wirksamkeit der Vernunft in die Defini­ tion des Willens aufgenommen.

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E s ist allerdings Thatsache des Bewußtseyns, daß die Person beym Wollen durch Vernunft han­ dele; aber auch nicht weniger, daß sie benm W ol­ len den Aussprüchen der Vernunft entgegen han­ deln, die Vernunft mißbrauchen könne. M an hebt den Unterschied zwischen der u n s ittlic h e n und der n ic h ts ittlic h e n Handlung, zwischen dem böftn Willen und der, zwar schädlichen, aber unschul­ digen Aeußerung des Instinktes auf, wenn man beyde aus dem M angel an Besonnenheit, Ueberlegung und W ahl ableitet. D ie unsittliche Handlung laßt sich so wenig als die sittliche ohne den zum Wesen der Handlung gehörigen Gebrauch der V ernunft denken. Schon dgrum also, weil die unsittliche Handlung als eine Handlung des W illens gegen die V ernunft gedacht werden m uß, würden die Erklä­ rungen, welche den Willen für ein vernünftiges Begehren ( a p p e titu s ra tio n alis ) , und die Frey­ heit für das Vermögen, dasjenige zu wählen, was das Beste scheint, ( facu ltas e lig cn d i id q u o d Optimum v id e tu r) ausgeben, verwerflich seyn. Eine Handlung, die lediglich aus einem instinktar­ tigen Begehren erfolgt, ist freylich nicht vernünf­ tig ; aber die Person handelt bey derselben so wenig gegen die Vernunft als durch Vernunft. Aber soll darum eine Handlung der ihre Vernunft mißbrau­ chenden Person, eine Handlung w i d e r die V er­ nunft, ein v e r n ü n f t i g e s Begehren heißen? Und welchen bestimmten Begriff kann man mit dem W orte d a s B e s te verbinden, wenn man be-

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fi(tupfet, die Person thue ben der unsittlichen Hand­ lung was ihr das Beste scheint? Wie? bey derjenigen Handlung, durch welche sie das blojf Angenehme dem Guten vorsteht, und wobey sie sich bewußt seyn muß, daß sie nicht das Beste, sondern das allein Schlechte wählt? Es laßt sich hingegen ein unwillkührlichesBegehren denken, bey welchemdie Vernunft wirklich gebraucht wird. Man kann unwillkührlich auch solche Gegenstände begehren, an deren Vorstellung und Erkenntniß die Vernunft einen we­ sentlichen Antheil hat, und die nur für Menschen Objekte des Begehrens sind: Macht, Reichthum, Ansehen u. s. w. Und sollten wir nie durch daS unwillkührliche Begehren solcher Objekte zu unwill­ kürlichen Handlungen hingerissen, übereilt wer­ den? Sollten Neigungen, bey denen die Vernunft nicht weniger als die Sinnlichkeit mitwirkt, nie ohne unser Wissen und Wollen auf unser Betragen Einfluß haben? Sollte der durch Vernunft modificierte Trieb nach Vergnügen nicht sehr oft in uns wirksam seyn, ohne daß unser Wille dabey geschäf­ tig ist? M it Einem Worte: Sollte nicht oft ein ver­ nünftiges Begehren ohne alles Wollen S tatt finden? Eine willkürliche Befriedigung des eigen­ nützigen Triebes hört darum nicht auf ein Wollen zu seyn, weil sie dem Gesetze der Vernunft zuwider ist; denn es giebt auch ein unsittliches Wol-

2so

Siebenter Brief.

len ; und eine Forderung des eigennützigen Trie­ bes, und die unwillkührliche Befriedigung der» selben, ist darum noch kein Wollen, weil die Ver­ nunft Antheil daran hat; denn es giebt auch un­ willkürliche und bloß nichtstttlichc Handlungen, die keineswegs in dem Thierischen unsrer Natur allein gegründet sind. Das Wollen kann also weder in der Vernünftigkeit der Forderung, noch in der Vernünftigkeit der Befriedigung deö eigennützigen Triebes bestehen. Das Wollen ist schlechterdings keine Forde­ rung des eigennützigen Triebes, weder eine ver­ nünftige noch eine vernunftlose. Beyde sind oft ohne alles Wollen vorhanden. In wie ferne man nun unter der Forderung dieses Triebes ein Bestimmtwerden durch Vergnügen und ein Streben nach tust versteht, in so ferne ist das Wollen kein bloßes Bestimmtwerden durch Vergnüget», weder durch eigennütziges noch durch uneigennütziges; und kein bloßes Streben nach tust, weder nach der ver­ nünftigen noch der unvernünftigen, kann ein Wollen heißen. Wenigstens würde diese Bezeichnung des Willens als logische Erklärung desselben um nichts richtiger seyn, als diejenige, die den Menschen zu einem unbefiederten zweyfüßigcn Thiere macht, weil auch diese Merkmale in dem Begriffe desselben un­ ser andern vorkommen. Beym Wollen bestimmt die Person sich selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung ei-

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ssi

tier Forderung de» eigennützigen Triebes. Sie kann bey dieser Selbstbestimmung ihre Vernunft gesetzmäßig oder gesetzwidrig, folglich willkührlich gebrauchen. Der Antheil, den die Vernunft an der Selbstbestimmung beym Wollen hat, muß als» der Willkührlichkeit ihres Gebrauches bey diesem Gemüthszustande nicht widersprechen; es muß sich ein willkührlicher Gebrauch der Vernunft denken lassen. Da die Vernunft das Vermögen ist, durch welches die Person den übrigen Vermögen des Ge» muthes Vorschriften giebt: so kann der Antheil der Vernunft an der Selbstbestimmung zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Begeh» rens auch nur in einer Vorschrift bestehen; und wirklich besteht das ganz Eigenthümliche der Wil» lenshandlung, der Entschluß, in nichts anderm als in der V orsch rift, die sich die Person zur W irklichkeit der B efriedigung oder Nichtbefriedigung des eigennützige» Triebes giebt. Diese Vorschrift macht die eigentliche und eigenthümliche Handlung des Wollens, oder viel» mehr den Aktus per Person beym Wollen aus, und muß daher genau unterschieden werden: Erstens von den Vorschriften, welche die bloßen Forderungen des eigennützigen TriebeS betreffen, Regeln find, welche den Trieb nach Ver­ gnügen modificieren, durch ihn die Sanktion der Gesetze erhalten, und Naturgesetze des unwillkühr-

Siebenter Brief. tieften Begehrens sind. Sie sind Vorschriftenwelche der eigennützige Trieb durch die Ver­ nunft aufstellt, während die Vorschrift zur Wirk­ lichkeit der Befriedigung oder Nichtbeftiedigung nicht von diesem Triebe, sondern von der Person selbst durch Vernunft gegeben wird. Jene gehörenzu den Forderungen des durch Vernunft modificierten Begehrens, und werden bey den un­ freywilligen Handlungen durch den eigennützigen Trieb ausgeführt, bey den freiwilligen aber der W illkühr der Person vorgehalten, welche die Befriedi­ gung derselben beschließen oder abweisen kann. Diese hingegen ist die Selbstbestimmung, durch welche die Person die Befriedigung beschließt oder abweiset. Eben darum aber muß sie auch Z w ey t en s von der Vorschrift unterschieden werdet», welche die Person durch die praktische Ver­ nunft sich selbst giebt. Diese ist durch reine V e r n u n f t aufgestellt, und hat. lediglich durch dieselbe die Sanktion des Gesetzes. Sie ist die schlechthin nothwendige Forderung des uneigennühigen Triebes, das Gesetz, welches alle willkührlichen Befriedigungen und Nichtbefriedigungen des eigennützigen Triebes der Gesetzmäßigkeit unterzu­ ordnen befiehlt, während die Vorschrift zur Wirk­ lichkeit der Befriedigung oder Nichtbefriedigung zu­ fällig ist, und jenem Gesetze gemäß oder zuwider seyn kann, kein Gesetz, sondern die Handlung der Selbstbestimmung ist, bey welcher die Person ihre

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Vernunft dem praktischen Gesetze derselben gemäß oder zuwider gebrauchen kann. Diese sowohl von dem praktischen Gesetze des Willens als von den Naturgesetzen des Begehrens ganz verschiedene Vorschrift zur Wirklichkeit der Befriedigung oder Nichtbefriedigung des eigennützi­ gen Triebes, wird durch den Namen der Maxime des W i ll e n s bezeichnet, und laßt sich nur als die Handlung des willkührlichen, lediglich der Person selbst untergeordneten, durch bloße Freyheit be­ stimmbaren Vernunftgebrauchs denken. In der Maxime ist Vernunft mit Willkühr; im N a­ turgesetz des Begehrens Vernunft mit dem Triebe nach Vergnügen vereinigt; im prakti­ schen Gesetze ist Vernunft für sich allein geschäf­ tig. Dreyerley Vorschriften, die als Vorschriften Aeußerungen der Vernunft sind, unter denen aber die erste ihren determinierenden Grund in der Freyheit der Person, die zweyte in just und Unlust, die dritte in der bloßen Vernunft hat. Man kann daher auch den Willen als das Vermö­ gen der Maximen, oder der willkührlichen Vor» schristen zur Wirklichkeit der Befriedigung oder Nichtbefriedigung des eigennützigen Triebes erklären. I n wie ferne die Maximen willkührliche Vorschrif­ ten sind, in so ferne haben sie ihren Grund weder im uneigennützigen noch im eigennützigen Triebe, weder in der Vernunft noch in der Sinnlichkeit, weder im Gesetze noch im Vergnügen, sondern in der Frey-

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heit, die den eigenthümlichen Charakter der Maxi­ me und deö Willens ausmacht. Das Gesetz der praktischen Vernunft laßt sich nur durch den Willen, für den es allein gegeben ist, befolgen; keineswegs aber durch ein unfrevwilliges Begehren, das unter dem Naturgesetze steht, und wobey der Trieb nach Vergnügen eine Vorschrift ausführt, die nur durch ihn die Sanktion eines Gesetzes erhalten hat. Die praktische Vernunft schreibt nicht den Forderungen, sondern den Befrie­ digungen des eigennützigen Triebes, in wie ferne sie von dem Willen abhängen, oder, welches eben so viel heißt, in wie ferne sie durch Maximen bestimm­ bar sind, dein Gesetz vor. Das nächste Objekt des praktischen Gesetzes sind die M axim en, durch welche allein die Befriedigungen oder Nichtbefrie­ digungen des eigennützigen Triebes jenem Gesetze unterworfen sind. Eben darum aber, weil die For­ derungen des praktischen Gesetzes nur die Maximen betreffen, so können sie auch nur durch Maximen er­ füllt werden, und die Vorschrift, die durch bloße Vernunft Gesetz, mithin absolut nothwendig ist, hat daß Eigenthümliche, daß sie mir durch willkührliche Vorschriften beobachtet, aber eben darum auch übertreten werden kann. Die Forderungen der beyden Triebe, des ei­ gennützigen und uneigennützigen, heißen Triebfe­ dern des W ill e ns , in wie ferne sie bey den

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Brief.

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willkührlichen Befriedigungen oder Nichtbefriedigungen des Begehrens beschäftiget sind. Die Forderung des uneigennützigen TriebeS, oder das praktische Gesetz, kann nie durch sich selbst, sondern nur durch den W illen zur Trieb­ feder einer Befriedigung oder Zuchtbefriedigung des Begehrens werden, dahingegen die Forderung des eigennützigen Triebes, (oder Lust und Unlust,) durch sich selbst die Triebfeder aller unwillkührlichen Begehrungen, und der aus denselben erfol­ genden Handlungen ist. In Rücksicht auf das unwillkührliche Begehren ist nur eine einzige — in Rücksicht auf den Willen hingegen sind zwey verschiedene Triebfedern möglich,— das prak­ tische Gesetz — und das Vergnügen. Die Forderung des eigennützigen Triebes sowohl als die des uneigennützigen können nur durch willkührliche Vorschriften, nur durch Maximen zu Triebfedern des Willens werden; sie sind nur in so ferne als Bestimmungsgründe der Befriedi­ gung oder NichlbefNkdlAung des eigennützigen Trie­ bes beym Wollen denkbar, als sie von der Person in ihre Maxime aufgenommen werden. Der Wille bestimmt sich seine Triebfeder selbst. Die allgemeinste Forderung des praktischen Gesetzes an die Person schreibt derselben vor, daß sie die Gesetzmäßigkeit durch ihre Maxime zur Trieb­ feder der willkührlichen Befriedigungen oder Nicht«

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beftiedigungen des eigennützigen Triebes machen soll; und dieser Forderung widerspricht jede M axi­ me, welche hi ft oder Unlust ohne Rücksicht auf die Gesetzmäßigkeit als Triebfeder der Handlung aufnimmt. Die sittliche M a x im e ist vom Sitten, gest! und jeder Forderung des uneigennützigen Trie­ bes so sehr, als von dem Naturgesetze des Begeh­ rens und jeder Forderung des eigennützigen Triebes verschieden. Diese beyden Gesetze sind Vorschrif­ ten, die der Person, die eine durch bloße praktische Vernunft, die andere durch theoretische Vernunft, vermittelst Lust und Unlust gegeben sind. Die sittliche Maxime ist eine Vorschrift, die sich die Person selbst giebt. Jene beyden Forderungen sind unwillkührlich, die Maxime ist willkührlich. Die praktische Vernunft giebt ihr Gesetz nothwen­ dig, die sittliche Maxime beobachtet dasselbe frey. D ie eine kann nichts als das Gesetz aufstellen, das durch die Maxime ausgeführt wird. Die unsittliche M a x im e ist von der Forderung des eigennützigen Triebes so sehr als von der Forderung des uneigennützigen verschieden. S ie ist Vorschrift, die durch W illkühr, folglich in so ferne keineswegs durch Lust oder Unlust bestimmt w ird; Vorschrift, durch welche die Person Lust oder Unlust willkührlich, und gegen die Forderung des uneigennützigen Triebes zur Triebfeder macht; Vor-

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Vorschrift, durch welche die Person sich entschließt, sich gegen das Geseh durch Lust oder Unlust bestimmen zu lasten. Wenn man, was bisher von allen philosophi­ schen Sekten und Schulen geschehen ist, die Hand­ lungen des Willens mit den Aeußerungen der Ver­ nunft beym Wollen verwechselt, diese Aeußerungen selbst nicht genug von einander unterscheidet, die verschiedenen Funktionen des Vermögens der Vor­ schriften in den Maximen, dem praktischen Gesetz, und den Gesetzen des Begehrens unter einander ver­ mengt; — so wird man die eigentlichen Principien der Moral, zu denen nicht bloß das praktische Ge­ seh, sondern auch der B e g riff des W ille n s gehört, anstatt ste zu entwickeln und aufzuklaren, vielmehr verwirre», und verdunkeln mustert» Unter andern wird man durch eine sehr natürliche Erschlei­ chung die Vernunft bey den sittlichen Handlungen personificieren, oder, welches eben so viel heißt, die praktische Vernunft unabhängig von der W illkühr der Person handeln lassen. Die unsittliche Maxime hört alsdann auf, als Vorschrift, folglich als Aeußerung der Vernunft, denkbar zu seyn, und es bleibt der handelnden Vernunft keine andere Maxime möglich, als das praktische Gesetz selbst. Es giebt dann keinen willkührlichen Gebrauch der Vernunft beym Wollen, und die unsittlichen Hand­ lungen hören auf frey zu seyn. Die Vernunft hat eine ihr gegebeneForm, an der weder sie selbst noch die Person etwas andern Reinholbs Dr. r. Dd. R

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Siebenter B r i e f .

kann, an welche daher die Person in so ferne gebun­ den ist. Das Gesetz dieser Form wird durch den Satz des Widerspruchs ausgedrückt, und in Kraft dieses Gesetzes, und soweit als die Person an dasselbe gebunden ist, kann durch sie nichts Widersprechen­ des wirklich werden. Dieses ist beym vernünfti­ gen Denken der Fall, daher sich auch nichts W i­ dersprechendes denken laßt. Beym Denken ist da6 Subjekt an dieses Gesetz gebunden. Das Denken kann daher auch nicht sowohl eine Handlung, als eine W irkung der Person durch Vernunft heißen. Das Denken ist nur dann und in so ferne Handlung der Person, als es vom Willen abhängt, frey­ w illig ist. Der Wille giebt sich durch die Maximen seine Handlungsweise selbst, oder vielmehr, erbestimmt sich zu einer von zwey entgegengesetzten, der Person gegebenen Handlungsweisen, wahrend das Den­ ken durch Vernunft an eine einzige gebunden ist. Beym Wollen allein handelt die Person, weil der Grund nicht nur, daß sie wirket, sondern auch, daß sie so und nicht anders wirkt, in ihr selbst, in ihrem Vermögen ungebunden und ungezwungen zu seyn, liegt. Die W irkung der Vernunft kann nie der Vernunft widersprechen; wohl aber die H a n d l u n g der Person durch Vernunft, weil diese letztere nicht in der bestimmten Handlungsweise der Vernunft, sondern in dem Vermögen, sich seine Handlungs­ weise selbst zu bestimmen, und die Vernunft will­ kürlich zu gebrauchen, gegründet ist.

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Diesen Erörterungen zu Folge muß nun die Frage über die Uneigennüßigkeit der fi t t * ließen und die Eigennützigkeit der un, sittlichen Triebfeder folgendermaßen beantwortet werden. Der Bestimmungsgrund des sittlichen Wollens liegt keineswegs im bloßen uneigennützigen, und des Unsittlichen keineswegs im bloßen eigennützigen Triebe; weder der eine in der bloßen Vernunft, noch der andere in der bloßen Sinnlichkeit; obgleich die Forderung des uneigennützigen Triebes die ein­ zige Triebfeder der sittlichen, und die Forderung des eigennützigen die einzige Triebfeder der unsitt­ lichen Handlung ist. Der Bestimmungsgrund beyder Handlungen liegt in der W i l l kü h r der Person, wel­ che diese oder jene Forderung zur Triebfeder er­ hebt, — folglich in der Freyheit des Willens, oder dem Vermögen, sich selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Begehrens zu bestimmen, welches nur dadurch möglich ist, daß man sich ent­ weder durch das freywillig ergriffene praktische Ge­ setz, oder durch Vergnügen gegen dasselbe bestimmt. Die Forderungen des eigennützigen sowohl als des uneigennützigen Triebes müssen freylich bey jedemWollen vorhanden seyn, und sind schondarum, weil ohne sie kein Wollen denkbar ist. Gründe, und weil die Gegenstände des Wollens durch sie bestimmt werden, objektive Gründe des Wiklens. Allein sie sind an und für sich nur ve>ran-

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Siebenter Br i ef .

lassende, und nicht durch sich selbst be< stim m ende Gründe desselben. Der Wille hat nur einen einzigen durch sich selbst bestim. menden Grund, und dieser ist die Freyheit, das V er­ mögen der Selbstbestimmung, durch welches einer von den beyden veranlassenden zum bestim ­ menden gemacht wird. Der Wille wird daher weder durch Eigennützigkeit noch durchUneigennüßlgkeit bestimmt, sondern er bestimmt sich selbst ent­ weder zur Einen oder zur Andern. Bey der sittlichen Handlung liegt der durch stch selbst bestimmende Grund in der Freyheit, der veranlassende im Gesetze der praktischen Vernunft, das durch Freyheit zum mittelbar be­ stimmenden erhoben w ird; folglich liegt dieser Grund durchaus in keinem Vergnügen, weder im eigen­ nützigen noch im uneigennützigen. Das letztere ist Folge, nicht Grund der Selbstbestimmung durchs Gesetz, welches weder durch Vergnügen zum Gesetz gemacht, noch durch dasselbe zur Ausübung ge­ bracht wird. Bey der unsittlichen Handlung liegt der durch sich selbst bestimmende Grund in der Freyheit, der veranlassende aber in einer Forderung des eigen­ nützigen Triebes, die der Forderung des uneigen, uützigen widerspricht, und durch Freyheit zum mit­ telbar bestimmenden Grunde erhoben wird. Ver­ gnügen, und zwar eigennütziges, das heißt, ein sol,

Siebenter Brief. ches Vergnügen, das nicht bloß Folge, sondern auch Zweck der Handlung ist, liegt also zwar der unsittlichen Handlung zum G runde, aber auch nur darum , weil es durch Freyheit zum Grunde ge­ legt wird. D a das V e r g n ü g e n ü b e r h a u p t we­ d e r d e n s u b j e k t i v e n noch den o b j e k t i v e n B e s t i m m u n g s g r u n d der s i t t l i c h e n H a n d ­ l u n g a b g e b e n ka nn : so kann unter dem s i t t ­ lich en V e r g n ü g e n durchaus kein solches ver­ standen werden, welches auf irgend eine A rt der Sittlichkeit, es sey nun dem Gesetze oder dem W illen der dasselbe befolgt, zum G r u n d e gelegt wer­ den könnte; sondern eö laßt sich nur als dasjenige denken, das mit dem Gesetze und dem Entschlüsse, der demselben gemäß ist, als F o l g e zusammen­ hängt« N u r in so ferne kann es auch ein uneigen­ nütziges Vergnügen im eigentlichen S in n e des W or­ tes geben, und es ist durchaus kein anderes V ergnü­ gen möglich, das diese Benennung fuhren könnte, als das si ttlich e, welches kein anderes Objekt als den g u t e n W i l l e n , und keine andere w i r k e n d e U r s a c h e als die Freyheit in ihrer Eintracht mit der praktischen Vernunft haben kann.

Achter Br i e f . E rör ter un g des B e g r iff e s von der Freyi heit des W illens .

fre y lic h , l. Fr., ist die Freyheit in demjeni­ gen Begriffe vom Willen, über den Sie mit mir einig geworden sind, so nothwendig und so ausdrück­ lich enthalten, daß sich derselbe ohne dieses Merk­ mal schlechterdings nicht denken läßt; und nicht mit Unrecht behaupten S ie, es müsse in den Äu­ gendes gesunden Verstandes zu keiner geringen Em­ pfehlung dieses Begriffes gereichen, daß es sich schon aus ihm allein ergebe, nicht nur daß, son­ dern auch in wie ferne der Wille, frey ist. Gleichwohl halte ich mich weder durch diesen Um­ stand, noch auch durch alles, was ich in meinem letzten Briefe in einer andern Rücksicht von dem Charakter des Willens gesagt habe, des Verspre­ chens entlediget, über den B e g r i f f der Freyheit, dessen durchgängige Bestimmtheit in den Prämissen der Moral und des Naturrechts eine der ersten Bedingungen ist, eine besondere und ausführ­ liche Erörterung aufzustellen. Die Aufgabe, die ich mir dadurch vorlege, ist diejenige, die sich un­ ter allen, womit sich die philosophierende Vernunft bisher beschäftigt hat, in dem leidigsten Zustande befindet. Sie ist durch jede versuchte Auslösung nur noch mehr verwickelt, und ihre Data sind mit

Acht er B r i e f .

jedem Fortschritte der Metaphysik mehr verkannt und verunstaltet worden. Alle bisherigen philoso­ phischen Systeme, und alle metaphysischen Begriffe ohne Ausnahme stehen mit dem richtigen Begriffe von der Freyheit im geraden Widerspruche. Auch die K r i t i k der reinen und der praktischen V e r n u n f t hat diesen Begriff nur angedeutet, keineswegs aber mit denjenigen Merkmalen aufge­ stellt, die seinen Gegenstand von allen andern unterscheiden. Sie hat noch keine Erklärung davon geben können, weil sie dieselbe nur erst mög­ lich machen konnte und mußte; und der Uebergang von dieser nun vorhandenen Möglichkeit zur W irk­ lichkeit ist durch die meisten hieher gehörigen Schrif­ ten der Freunde der kritischen Philosophie vielmehr erschwert als erleichtert worden. Die dem Be­ wußtseyn so nahe, aber vielleicht eben darum der Spekulation bis jetzt so fern gelegene Unterschei­ dung zwischen der unwillkührlichen Forderung und der willkührlichen Befriedigung die beym Wollen S tatt findet, öffnet den Weg zu diesem Uebergange, den ich bereits zurückgelegt zu haben glaube, wenn ich mir den Willen als das Vermögen der Person denke, sich selbst zur wirklichen Befriedigung oder Nichtbefriedigung einer Forderung des Begeh­ rens zu bestimmen. So einfach und einleuchtend aber auch das Merkmal der Freyheit vor demBlicke meines Geistes schwebt, wenn ich dasselbe mit die­ sem Begriffe vom Willen und den Thatsachen des sittlichen Bewußtseyns vergleiche, so sehr verwickelt

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Achter Brief.

und verdunkelt sich dasselbe, indem ich es in seine ein« zelnen Bestandtheile auflöse, und diese im Zusam­ menhange mit gewissen noch ungelauterten, aber gleichwohl sie betreffenden Ueberzeugungen zu denket» suche. Ein finsterer Nebel, der sich aus der Un­ bestimmtheit verwandter und angranzender Begriffe über meinen Begriff von der Freyheit zusammen zog, sollte zerstreut werden. Hier ist das Resultat meines Versuches. Is t Erstens der Wille überhaupt: „das „Vermögen der Person sich selbst zur wirklichen „Befriedigung oder Nichtbefriedigung einer For­ derung des eigennützigen Triebes zu bestimmen;" so laßt er sich nicht ohne diejenige Freyheit den­ ken, die in der Unabhängigkeit der Per­ son von der Nöthigung durch jene For­ derung besteht. Dieses einzelne Merkmal der Freyheit kömmt im Systeme der Deterministen vor, welche die ganze Freyheit in demselben bestehen ließen. Sie nannten den Willen das vernünftige Begeh­ ren, und gestanden ihm, als dem Vermögen durch Vernunft determinirt zu werden, die Frey­ heit vom Zwange des Instinktes zu. Allein, da sie unter der Handlung des W il­ lens nichts weiter als die Aeußerung des durch Denk­ kraft geleiteten Triebes nach Vergnügen gedacht wissen wollten, und da sie folglich den wesentlichen

Achter B r i e f .

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Unterschied zwischen dem Willen und dem umriß* sichtlichen durch Vernunft modificierten Begchrungsvermögen verkannten: so war die von ihnen behaup­ tete Freyheit nichts weiter als die aus der Denkkraft unvermeidlich erfolgende Beschränkung des Instink­ tes, in der eben so wenig als im unbeschränkten Instinkte sich eine Willkuhr denken läßt. S ie war die Unabhängigkeit des unwillkuhrlichen Triebes nach Vergnügen vom Zwang des gegenwärtigen E in­ druckes, die bloße Folge der Abhängigkeit dessel­ ben von der Denkkraft, nicht Freyheit des W illens. Außerdem wurde von den Deterministen vor­ ausgesetzt, daß bey dem durch Vernunft geleitete« Begehren das Vergnügen den Grund enthielte, durch den die Person bestimmt würde der Leitung der V ernunft zu folgen. Die von ihnen behauptete Abhängigkeit des Willens von der V ernunft war also nichts weniger als Unabhängigkeit vom Triebe nach V ergnügen, und der ganze Unterschied zwi­ schen einer instinktartigen und einer freyen Hand­ lung bestand ihrem Systeme zufolge darin, daß die Person bey der letzter« m i t t e l b a r , nehmlich vermittelst der Denkkraft, beyder erster« aber u n ­ m i t t e l b a r von der Nöthigung durch Lust und Unlust abhienge. Endlich, da im Systeme der Deterministen die Vorstellungen der Sinnlichkeit von denen der Vernunft nur dadurch verschieden sind, daß durch

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Achter B r i e f .

diese die Dinge w ie sie a n sich se lb s t sin d ,' durch jene aber d e r b lo ß e S c h e in derselben vorgestellt würde; und da ferner das v e r n ü n f ­ t i g e Erkenntnißvcrmögen indem Verm ögen beste­ hen soll, sich des Z u s a m m e n h a n g s d e r D i n g e a n sich b e w u ß t zu w e r d e n : so kann in die­ sem System e d u rch V e r n u n f t b e s t i m m t w e r d e n nichts anders heißen, als durch den von der Person ganz unabhängigen Zusammenhang der D i n g e an sich bestimmt werden; folglich — durch V ernunft von der unvermeidlichen N a tu rnothwendigkeit abhängen. D ie W irkung des B e gehmngövermögens, die unmittelbar von einem sinn­ lichen Eindruck, und von der Beschaffenheit der Organisation abhängt, heißt in diesem System e eine u n v e r m e i d l i c h n o t h w e n d i g e H andlung des In stin k ts; diejenige hingegen, die von dem unveränderlichen Zusammenhange der D i n g e a n sich, vermittelst des.V erm ögens sich desselben be­ wußt zu werden, abhängt, soll die freye Handlung des W illens seyn!! Noch nie dürfte wohl ein Resultat der philosophierenden V ernunft in einem härteren Widerspruche m it den Ueberzeugungen deö gesunden Menschenverstandes gestanden haben. I s t Z w e y t e n S der s i t t l i c h e oder r e i n e W ille: „ d a s Verm ögen der Person, sich selbst zur „ wirklichen Befriedigung oder Nichtbefriedigung „einer Forderung des eigennützigen Triebes der F o r­ d e r u n g des Uneigennützigen (oder dem praktischen

Achter B r ie f.

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„Gesetze) gemäß zu bestimmen;" so läßt sich die Freyheit des Willens nicht ohne die absolute Unab­ hängigkeit der Vernunft in ihrem praktischen Ge­ setze von just und Unlust, und folglich nur dadurch denken, daß das praktische Gesetz eine Vorschrift ist, die ihre gesetzliche Sanktion durch bloße Ver­ nunft, und keineswegs durch den Trieb nach Ver­ gnügen erhält. Ueber diese Freyheit, die nichts als die Un­ abhängigkeit der praktischen Vernunft von allen Bestimmungsgründen durch Lust und Unlust ist, und welche zwar zur Freyheit des Willens gehört, aber keineswegs dieselbe allein ausmacht, habe ich in den meisten hieher gehörigen Schriften der Freunde der Kantischen Philosophie Aeußerungen angetroffen, die mich nichts anderes vermuthen lassen, als daß dieses einzelne Merkmal der Freyheit von diesen Schriftstellern für die ganze Freyheit gehalten wird. Aus der Verwechslung der zwar selbstthäti­ gen, aber nichts weniger als freyen Handlung der praktischen Vernunft , — die nichts als das Gesetz giebt, — mit der Handlung des Willens, — der nur dadurch als der Reine handelt, daß er dieses Gesetz frey ergreift — muß nichts geringe­ res als die Unmöglichkeit der Freyheit für alle u nsi t t l i chen Handlungen erfolgen. Sobald einmal angenommen ist, daß die Freyheit des reinen Wolle ns lediglich in der Selbstthätigkeit der prak-

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Achter B r ie f .

tischen Vernunft besieht, so muß man auch zuge­ hen, daß das unreine W o l le n , welches nicht durch praktische Vernunft bewirkt wird, keineswegs frey sey. Wirklich hat einer der vorzüglichsten Schriftsteller aus der Kantischen Schule gegen Kant zu beweisen gesucht, daß bey den unsittlichen Hand­ lungen nicht etwa bloß der veranlassende, sondern auch der bestimmende Grund des Wollens außer der Person aufzusuchen, und der W ille nur in den sittlichen Handlungen allein frey sey. Die Kantischen Schriften haben den be­ stimmten Begriff, der das logische Wesen des W il­ lens enthalt, nur erst vorbereitet, keineswegs schon geliefert. Sie beschreiben den Willen bald durch dieses bald durch jenes Merkmal, das zwar densel­ ben jedesmal nach der Rücksicht, in der von ihm die Rede ist, bestimmt genug bezeichnet, aber welches, in andern Rücksichten gebraucht, ihn mit andern Dingen vermengen würde. K a n ts Aeußerungen von dem Willen sollten, seiner eigenen Absicht nach, immer nur eine gewisse Bestimmung des Willens, die mit andern zum Wesen desselben gehört, nie aber das Wesen selbst ausdrücken. Wenn er da­ her den Willen bald „ Causalität der Vernunft," bald „e in Vermögen nach Principien, oder nach „der Vorstellung der Gesetze zu handeln," bald „e in Vermögen, etwas gemäß einer Idee „hervorzubringen" nennt: so ist es seine Schuld nicht, wenn diese Redensarten, die, als bloße Ex-

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Positionen von ihm gebraucht, völlig wahr sind, von seinen Schülern zu D e fin itio n e n erhoben, und eben dadurch schlechterdings unwahr werden. Alle die angeführten Aeußerungen über den Willen werden in demselben Augenblicke unrichtig, als man sie für logische Erklärungen annimmt. Denn keine laßt sich mit dem Erklärten umkehren. Auch beydem vernünftigen Denken, nicht beym Wol­ len allein, handelt die Person durch Vernunft (wenn man nicht etwa unter Handeln schon das Wollen allein versteht); und selbst beymWollen kommen dreyerley Vorschriften der Vernunft: die M a­ xime, das praktische Geseh, und das Na. turgesetz des Begehrens; vor, bey deren je­ der die Vernunft auf eine andere Weife Caufalität hat. Die mit der produktiven Einbildungskraft gepaarte Vernunft handelt beym Studium der Mathematik nach Principien, und die Einbildungskraft bringt geometrische Figuren, gemäß einer Idee hervor, ohne daß dabey der W ille geschäf­ tig wäre. I n der K r it ik der praktischen V er­ n u n ft ist von dem empirischen W ille n als dem sinnlich-pathologisch-afficierten die Rede. Wenn die Expositionen über diesen Willen, die in dem Schmidschen Wörterbuche (nach der zweyten Ausgabe) aufgestellt sind, als logische Erklärungen gelten sollen, so werden sie sämmtlich unrichtig. „ Empirischer Wille ist das Vermögen,

Achter B r ie f. „nach empirischen, von der prakkischen Sinnlichkeit „abhängigen, Vernunftgrundsähen zu handeln." Das Vermögen, nach Vorschriften der Vernunft zu handeln, welche durch Lust und Unlust ihre Sank­ tion erhalten, das Vermögen, durch die bloße Forderung des eigennützigen Triebes bestimmt zu handeln, gehört zum Willen, aber ist nichts we­ niger als ein Wille selbst. Ferner heißt der em­ pirische W i l l e daselbst: „E in W ille, wel„cher der sinnlichen Natur unterworfen ist, wo die „ih n bestimmenden Vorstellungen durch sinnliche „Gegenstände hervorgebracht werden." Sinnliche Vorstellungen können durch sich selbst nuy ein un­ willkürliches Begehren, kein Wollen bestimmen. Der unsittliche Wille bestimmt sich selbst durch die dem Gesetze widersprechenden Forderungen der Sinnlichkeit. Endlich wird der empirische Wille derjenige genannt: „der auf das relativ gute, auf „ Glückseligkeit und was damit verbunden ist, geht." S oll das Gehen hier eben so viel heißen, als durch feine Natur auf die besagten Gegenstände einge­ schränkt seyn: so kann dieses keineswegs vom W il­ len, sondern lediglich von dem durch Vernunft modificierten unwillkührlichen Begehren gelten, das kein Wollen, ein empirisches so wenig als ein reines, heißen kann. Nach allen diesen Angaben würde der empirische Wille nicht frey seyn, würde die Freyheit bloß auf den Reinen eingeschränkt werden müssen.

Achter B r ie f . I n demselben Wörterbuchs heißt es von der praktischen F r e y h m , und also doch wohl von der Freyheit des Willens: „Siesey in poju „ t i v e r Bedeutung Abhängigkeit des Willens von „ der ihn unmittelbar bestimmenden Vernunft, von „dem reinen Sittengesehe, die Autonomie des „W ille n s ;" wobey S . 5 9 und 238 der K r i t i k der praktischen V ern unf t angeführt werden. Hier wird also die Freyheit nur dem reinen W il­ len zugestanden, und folglich dem unreinen ab» gesprochen. Allein die Abhängigkeit des Willens von der praktischen Vernunft ist so wenig Frey­ heit von was immer für einem Willen > daß sie vielmehr Einschränkung derselben ist; aber freylich eine Einschränkung, durch welch« die Frey­ heit darum nicht aufgehoben wird, weil sie nur durch die Freyheit, die das GefeH der praktischen Vernunft befolgen oder übertreten kann, sich selbst gesetzt wird. Der praktischen Vernunft kömmt nichts als die Aufstellung des Gesetzes, der Frey­ heit aber die Ausführung desselben zu. Nur diese, nicht jene, handelt sittlich; und die Autonomie des Willens besteht nicht bloß in der Gesetzgebung durch Vernunft, wobey die Person zwar selbstthä­ tig aber unwillkührlicch zu Werke geht, sondern in der «Selbstbestimmung des Willens für dieses Gesetz, an welches er sich selbst bindet.

Is t D ritte n s die Freyheit des W il­ lens: „das Vermögen der Person sich selbst zur

27 s

A c h te r B r i e f .

„ Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Begeh« „ renS entweder nach dem praktischen Gesetze oder „ gegen dasselbe zu bestim m en;" so besteht sie we­ der in der blossen Unabhängigkeit des W illens vom Zwange durch den In stin k t, und von der N öthi« gu ng durch unwillkührliches von der V ernunft modisiciertes Begehren, noch auch in der blossen U nabhän­ gigkeit der praktischen V ernunft, von allem w as sie nicht selbstist, noch auch in diesen beyden Arten von Un­ abhängigkeit zusammen genommen a l l e i n , son­ dern auch in d er U n a b h ä n g ig k e it d e r P e r ­ so n v o n d e r N ö t h i g u n g durch d ie p r a k ­ tische V e r n u n f t se lb st. I m n e g a tiv e n S in n e begreift sie diese "drey Arten der U nabhän­ gigkeit, und im p o s itiv e n S inne ist sie das 58er» nogen der Selbstbestimmung durch W illkühr für oder gegen das praktische Gesetz. D er re in e W ille sowohl als der u n r e i n e sind daher nichts andres als die beyden gleich mög­ lichen Handlungsweisen des f r e y e n W illens; beyde zusammen genommen gehören zur N a tu r der Freyheit, die ohne die Eine von beyden denkbar zu seyn aufhört. D a s reine Wollen ist nur darum frey , weil es Aeußerung desjenigen V erm ögens ist, vor, dem es abhängt auch unrein zu wollen. D e r fchton reine Wille ist freylich an die durchs Gesetz beftinrime, und der schon unreine an die durch lust oder Unlust gegen das Gesetz bestimmte H andlungsweuse gebunden; aber sowohl bey dem einen als dem andern

Achter B r i e f .

273

andem bindet die Person sich selbst an eine dieser Handlungsweisen, die ihr beyde gleich möglich sind. Absolute Freyheit kömmt also dem Willen weder allein, in wie serne er als re ine r, noch in wie ferne er als unreiner W ille handelt, zu; sondern in wie ferne er in beyden Eigenschaften handeln kann. Reiner W ille kann daher keine besondere A r t , sondern nur eine der beyden möglichen beson­ dern Aeußerungen des freyen W i l l e n s bedeu­ ten, diejenige nämlich, die dem praktischen Ge­ setze gemäß ist, das sittliche W o lle n . Dem reinen Willen steht daher auch nur der unreine, d. h. der unsittliche W ille entgegen, und wenn man unter empirischen Willen nicht bloß den unsitt­ lichen verstehen w ill, so kann man denselben keines­ wegs dem reinen entgegensetzen. Empirischer W ille kann nicht die besondere A r t eines von der Erfahrung abhängigen Willens, verglichen mit einem andern lediglich a p rio ri be­ stimmbaren bedeuten. Denn da der W ille überhaupt das Vermögen ist, sich selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung einer Forderung des eigennützigen Triebes zu bestimmen; diese Forderungen aber mit­ telbar oder unmittelbar von der Erfahrung abhän­ gen: so ist alles W o lle n in dieser Rücksicht empirisch. RrinholbS Dr. 2. D.

S74

Achter B r i e f .

Z um B e h u f der Wissenschaft der M oral müs­ sen freylich die r e in e n G e se tz e des W illens von Len e m p ir is c h e n , die Forderungen des uneigen­ nützigen Triebes, in wie ferne sie lediglich a p r io r i durch praktische V ernunft bestimmt sind, von ihren Anwendungen auf die nur a p o s te r io r i bestimm­ baren Forderungen des eigennützigen Triebes unter­ schieden und abgesondert werden, wo dann der W ille in Rücksicht auf die Einen der r e in e , in Rücksicht au f die anderen der e m p iris c h e heißen kann. Allein in d ie s e m V erstände ist dann der reine und empirische W ille e in u n d e b e n d e r s e lb e W ille nur au s verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet, in seinem künstlich isolirten Verhältnisse zur bloßen praktischen V ern u n ft, und dann durch die Gesetze derselben zu den bloßen Forderungen des eigen­ nützigen Triebes. D a die Lust — oder Unlust — durch welche sich der W ille zur unsittlichen Handlung selbst be­ stim m t, immer von der E rfah ru n g , das praktische Gesetz aber, durch welches er sich zur sittlichen be­ stim m t, durchaus nicht von der E rfahrung abhängt; so ist nichts leichter als den unsittlichen W illen m it dem empirischen, und den sittlichen mit dem reinen, in wie ferne er dem empirischen entgegen steht, zu verwechseln. E s wäre daher zu wünschen, daß man entweder den Ausdruck r e i n e r W i l l e nur für den s i ttli c h e n , oder nur für den s p r io r i bestimmbaren gebrauchte, um die Sprachver­ w irrung in einer so wichtigen Angelegenheit zu

Achter B rief.

L?5

vermeiden. D a der sittliche Wille nur in wie ferne er mit dem reinen praktischen Gesetze im Verhältnisse steht, a p r io r i , in Rücksicht auf die Anwendung dieses Gesetzes aber in jedem gegebenen Falle, oder in Rücksicht auf die M a t e r i e des Gesetzes, die immer vom eigennützigen Triebe herbeygefchaft werden m uß, a p o s te rio ri bestimm­ bar ist; da jedes wir kli che Wollen eine Befrie­ digung oder Nichtbefriedigung dieses Triebes be­ trifft, so werde ich unter dem r e i n e n Willen immer nur den si ttl ichen verstehen, und unter dem u n r e i n e n nicht dem e m p i r i s c he n , sondern den u n s i t t l i c h e n , der, in wie ferne er Handlung ge­ gen das praktische Gesetz ist, keineswegs von der b l o ß e n Erfahrung abhängt. D er Wille hört auf frey zu seyn, wenn man denselben einseitig betrachtet, und seine N atur ent­ weder allein in seinem Verhältnisse zum uneigen­ nützigen, oder allein zum eigennützigen Triebe be­ stehen läßt, wenn man sich denselben entweder dem praktischen Gesetze oder dem Naturgesetze des B e ­ gehrens u n t e r w o r f e n denkt. Durch jedes von diesen beyden Gestehen wird er von dem andern un­ abhängig, durch Las Vermögen der Selbstbestim­ mung aber ist er vsn sich allein abhängig. Ohne das praktische Gesetz würde er von dem bloßen N atu r­ gesetze des Begehrens abhängen, und nicht nur nicht ftey, sondern nicht einmal ein W i l l e , son­ dern ein unwillkürliches Begehren seyn, und ohne die Naturgesetze des Begehrens würde er von dem

276

Achter B r i e f .

bloßen praktischen Gesetze abhangen, die bloße praktische V ernunft selbst, und folglich zwar selbst­ thätig, aber nicht frey und kein W i l l e , kein V e r­ mögen sich zur Befriedigung oder Nichtbesriedigung eines Begehrens zu bestimmen seyn. I n dieser Rücksicht ist die B ehauptung der K r i t i k d e r p r a k t i s c h e n V e r n u n f t : „ d a ß der B egriff der „F rey h eit seine R ealität erst durch das B ew ußt„ seyn des Sittengesetzes erhalte," unstreitig w ahr. D ie Person kann sich des V erm ögens sich selbst zu bestimmen nur in so ferne bewußt werden, als sie sich des V erm ögens sich nach zwey verschiedenen Gesetzen zu bestimmen, und folglich als sie sich die­ ser verschiedenen Gesetze selbst bewußt ist. Aber eben darum kann auch die Freyheit keineswegs in dem Vermögen nur E ines von beyden Gesetzen zu befolgen bestehen, und jene K a n t i s c h e B ehaup­ tung kann keineswegs den S in n haben: „ d a ß die „ R e a litä t der Freyheit von dem Bewußtseyn des „ Sittengefetzes a l l e i n abhänge." D ie R ealität der Freyheit hängt vom B e ­ wußtseyn der Forderung sowohl des eigennützigen a ls des uneigennützigen T riebes, aber auch noch überdiefes von dem Bewußtseyn des V erm ögens ab, die Befriedigungen und Nichtbefriedigungen des E i­ gennützigen entweder durch oder gegen die Forderung des uneigennützigen selb st zu bestimmen. D a s eine ist das Bewußtseyn der v e r a n l a s s e n d e n G rü n d e, das andere das Bewußtseyn des d u rc h

Achter B rie f.

277

sich selbst bestimmenden Grundes, der die veranlassenden zu bestimmenden erhebt; das eigentliche Bewußtseim seines bloßen Selbstes, als handelnden Wesens. Das klare, aber keineswegs durch deutliche Begriffe unterfh'chte Bewußtseyn dieses durch sich selbst bestimmenden Vermögens hat im Systeme der Ae quil ibris ten diejenige Spur des richtigen Begriffes von der Freyheit angegeben, die, aus Mangel an bestimmten Begriffen von den übrigen Vermögen des Gemüthes, weder von ihnen selbst gehörig benutzt, noch von ihren Gegnern verstanden wurde. Offenbar wollten sie durch die von ihnen behauptete Gle ich g ü lt ig ke it des Willens gegen alle Beweggründe, und durch das sogenannte Gleichgewicht, in welchem sich der W ille in Rücksicht auf die Forderungen sowohl der Vernunft als der Sinnlichkeit befände, nichts als die Unab­ hängigkeit der Selbstbestimmung von allen objekti­ ven Gründen, die Willkührlichkeit des Vernunftge­ brauchs bey den Maximen andeuten. Allein, da sie in ihrem unbestimmten Begriffe vom Willen kei­ neswegs den S inn anzugeben vermochten, in wel­ chem die Selbstbestimmung beym Wollen von der Sinnlichkeit und der Vernunft unabhängig sind: so mußten sie eine solche Unabhängigkeit des W il­ lens theils wirklich behaupten, theils zu behaupten scheinen, die wirklich nicht S ta tt findet, die anderen Thatsachen des Bewußtseyns widerspricht, ja die so­ gar den Begriff des Willens selbst aufhebt.

278

Achter B r i e f .

Erstens war in ihrem Begriffe das Ver« hältniß des Willens zu den beyden Trieben der menschlichen Natur, das Verhältniß der sich selbst bestimmenden Handlungsweise zu den bey­ den als bestimmtgegebenen, das Verhältniß der willkührlichen Vorschrift zu den unwillkührlichen Forderungen des eigennützigen und des unei­ gennützigen Triebes keineswegs sichtbar. Sie ver­ kannten daher die Unentbehrlichkeit beyder Triebe, ihrer gegebenen Handlungsweisen, und ih­ rer Forderungen bey jedem Wollen, und die Ab­ hängigkeit des Willens von denselben, um über­ haupt sich äußern zu können. Sie ließen daher auch: Z w ey t en S, die Freyheit keineswegs in dem Vermögen sittlich oder unsittlich zu handeln bestehen. Dadurch wurde ihr Begriff vom Willen bald zu eng bald zu weit. Zu weit, wenn sie dem Willen auch andere Objekte zuerkannten, als die entweder gesetzmäßige oder gesetzwidrige Befriedigung oder Nichcbefriedigung des eigennützigen Triebes — zu enge, wenn sie denselben mit dem bloßen Begehren verwechselten, wohin sie gewöhnlich gerathen muß­ ten, wenn sie ihn von der Denkkraft unterscheiden wollten. Wirklich hat mancher Aequilibrist, um sich die von allen objektiven Bestimmungsgründen unab­ hängige Handlung des Willens begreiflich zu machen, das Ve rg nüg en , das aus der bloßen Willkührlichkeit der Handlung geschöpft würde, ausdrück­ lich als den subjektiven Bestimmungsgrund des Wol-

lens angegeben, und auf diese Weise die behauptete Freyheit durch die Erklärung derselben wieder auf­ gehoben. D r i t t e n s , wenn auch der Aequilibrist die Abhängigkeit des Willens von den veranlassenden objektiven Gründen nicht verkannt hätte: so würde er die Unentbchrlichkeit der Vernunft zum Akt der Selbstbestimmung, der in der Maxime (oder in der willkührlich gegebenen Vorschrift zur wirk­ lichen Befriedigung oder Nichtbeftiedigung entwe­ der nach dem praktischen Gesehe oder gegen dasselbe) besteht, verkannt haben. I n Rücksicht auf die Maximen hängt der Wille von dem Vermögen der Person, Vorschriften zu geben, oder von der V e r ­ nu nft , nicht weniger als von der W i l l k ü h r ab, die der Grund zu diesen Vorschriften bey den Maxi­ men ist, die aber ohne den Gebrauch, den sie da­ bey von der Vernunft macht, sich nicht als Bestim­ mungsgrund der Willenshandlung, nicht als das durch den Entschluß wirkende denken ließe. Die Maxime ist ein Resultat der Willkühr und der Vernunft, eine Vorschrift unter der Sanktion der Willkühr, durch die entweder das praktische Gesetz, oder die demselben entgegen gesetzten Reitze der, tust oder Unlust in den Willen aufgenommen, und aus bloß veranlassenden zu bestimmenden Grün­ den der Handlung gemacht werden. Dieser letztere Umstand ist die eigentliche Thatsache der Freyheit, und das Wahre, welches

Achter B r i e f . den A e q u ilib riste n undeutlich vor dem Blicke des Geistes schwebte, den ihre Gegner mehr auf die übrigen Thatsachen des Bewußtseyns beym Wollen gerichtet hatten. Das Lächerliche, das der D e te rm in ist auf den A e q u ilib riste n durch das Gleichniß von B u r i d a n s Esel zu bringen suchte, der zwischen zwey Bündeln Heu, die ihn entweder gar nicht oder gleich stark afficierten, verhungern müßte, fällt auf den Determinismus selbst zurück. Eü ist frey­ lich unläugbar, daß aus dem einmal angenomme­ nen Gleichgewichte zwischen zwey entgegengesetzten objektiven Gründen des Wollens, und aus der Gleichgültigkeit des Willens gegen beyde keine Handlung erfolgen könne. Allein beym Willen ist außer der Unabhängigkeit von dem Bestimmtwer­ den durch die objektiven Gründe, worin bloß das Negative der Freyheit besteht, auch noch das Vermögen der Selbstbestimmung, das Vermögen, einen von den veranlassenden Gründen zum bestim­ menden zu erheben, das Positive der Freyheit vorhanden, wodurch dieselbe zur Freyheit des W i l ­ lens wird, und wodurch sich die Persönlichkeit, der unterscheidende Charaker des menschlichen Willens von dem bloß thierischen Begehren, ankündiget. Dieser Charakter wird von den Deterministen dem Menschen in so ferne abgesprochen, in wie ferne sie den bestimmenden Grund von allen seinen Handlun­ gen außer ihm (von den sogenannten Willens­ handlungen in der durch die Dinge an sich b*>

Achter Brief.

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stimmten Vernunft) aufsuchen, und den M« ri­ schen mit Buridans Esel dadurch wirklich in Eine Klasse sehen, daß sie beyden nur in so ferne ein Vermögen zuhandeln einräumen, als sie beyde durch ein Uebergewicht äußerer, von ihnen selbst ganz un­ abhängiger Gründe zum Handeln genöthiget werden lassen, nur mit dem Unterschiede, daß der Mensch m it , der Esel ohn« Bewußtseyn jener Gründe, genöthigt wirkt. Das Positive bey der Freyheit besteht in der Selbstthätigkeit der Person beym Wollen, einer ganz besondern Selbstrhätigkeit, die von der Selbstthätigkeit der Vernunft, oder durch Ver­ nunft genau unterschieden werden muß, die von manchen Freunden der Kantischen Philosophie aber mit der Selbstthätigkeit der praktischen Vernunft, in der sie das Positive des freyen Willens aufsuch­ ten, verwechselt wurde. Ohne die Selbstthätigkeit der praktischen Vernunft, die das Geseh, aber auch nur das Gesetz, dem Willen giebt, ließe sich keine Ausübung der Selbstthätigst des Willens denken, aber diese wird keineswegs durch jene gedacht. Durch die praktische Vernunft bestimmt die Person selbst, aber unwillkührlich, dem Willen sein Gesetz; durch die Selbstthätigkeit der Willkühr hingegen handelt sie diesem Gesetze gemäß oder zuwider. Diese ist der einzige subjektive, und durch sich selbst bestimmende Grund— jene gehört zugleich mit den Forderungen des Triebes nach Vergnügen

282

Achter B r i e f .

zu fcen objektiven und an sich selbst bloß veranlassen­ den Gründen des Wollens. Es kann daher nicht ohne Ungereimtheit nach dem objektiven, außer der Freyheit des Subjektes gelegenen Grunde der freyen und eigenthüm­ lichen Handlung des Willens gefragt werden. Diese Frage würde eben so viel heißen, als: „W o rin liegt der objektive Grund, durch welchen „ das Vermögen von objektiven Gründen unabhän„g ig zu handeln bestimmt wird?" Es läßt sich kein objektiver Grund des Wollens denken, der nicht diesen Rang der Freyheit zu danken hatte. Die freye Handlung ist darum nichts weniger als grund­ los. Ih r Grund ist die Freyheit selbst. Aber diese ist auch der letzte denkbare Grund jener Hand­ lung. Sie ist die absolute, die erste Ursache ihrer Handlung, über welche sich nicht weiter hinausgehen läßt, weil sie wirklich von keiner andern abhängt. Fragen: Warum der freye Wille sich auf diese oder jene Art bestimmt habe, heißt fragen: Warum er frey ist? Voraussehen, er bedürfe eines von ihm selbst verschiedenen Grundes, heißt ihm seine Freyheit absprechen. Man hat gegen diesen Begriff der Frey­ heit das logische Geseh des zureichenden Grundes ausgerufen, dem derselbe geradezu widersprechen sollte. Allein der Begriff der Freyheit widerspricht diesem Gesehe nicht mehr und nicht weniger, als demselben der Begriff einer absoluten und ersten

Achter Brief.

28Z

Ursache, welche sich jene Gegner der Freyheit bey andern Gelegenheiten gar wohl denken können, wi­ derspricht. DaS logische Gesetz fordert keineswegs für alles was da ist eine von diesem D a ­ seyn verschiedene Ursache, sonst würde das D a ­ seyn Gottes, ja selbst jedes Daseyn von Ewigkeit durch jenes Gesetz unmöglich seyn, sondern es for­ dert, daß nichts ohne Grund gedacht werde. Die Vernunft hat aber einen sehr reellen Grund, die Freyheit als eine absolute Ursache zu denken; nämlich das Selbstbewußtseyn, durch wel­ ches sich die Handlung dieses Vermögens als eine Thatsache ankündiget, und den gemei nen und gesunden Ve rs t an d berechtiget, von ih­ rer Wirklichkeit auf ihre Möglichkeit zu schließen. Dabey muß es auch die philosophierende V e r n u n f t bewenden lassen, die durch genaue Entwicklung der verschiedenen beym Wollen beschäf­ tigten Vermögen des Gemüthes zwar völlig begreift, d a ß der Wille frey ist, aber nicht wie diese Freyheit möglich ist. S ie begreift aber auch selbst durch diese Entwicklung, warum sich dieses W i e ? nicht begreifen laßt. Es ergiebt sich nämlich aus dersel­ ben, daß das Vermögen der Maximen, oder der willkührlichen Vorschriften ein von der praktischen Vernunft sowohl als von dem sinnlichen und durch theoretische Vernunft modisicierten unwillkührlichen Begehrungsvermögen ganz verschiedenes, mit bey­ den zwar im Zusammenhang sich äußerndes, aber

884

Achter B r i e f .

in Rücksicht auf seine eigenthümliche Form von beyden unabhängiges Vermögen des Gemüthes, ein Grundvermögen sey, das sich als ein solches von keinem Andern ableiten, und daher auch aus keinem Andern begreifen und erklären läßt. Die Freyheit des W il­ lens ist daher um nichts unbegreiflicher als jedes andere Grundvermögen des Gemüthes, als die Sinnlichkeit, der Verstand und die Vernunft, die sich dem Bewußtseyn nur durch ihre Wirkungen offenbaren, in ihren Gründen aber in so ferne un­ begreiflich sind, als sie selbst den letzten angeblichen Gründ ihrer Wirkungsarten in sich enthalten. Aus ihren Wirkungen, durch welche sie unVorstellungen sind, welche nur in so ferne P rädikate sol­ cher Objekte, die keine Verstellungen sind, werden können, als diese Objekte v o r g e s t e l l t w erden; daß sie keineswegs den Objekten als D i n g e n a n sic h , sondern nur als v o r g e s t e l l t e n ( nur durch die auf dieselben bezogene V orstellung) zukommen;

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N e u n t e r 35rief.

daß die Merkmale der durch bloße Verminst vor­ stellbaren Objekte denselben nur durch die in der Einrichtung der Verminst gegründeten Formen der vernünftigen Vorstellung, und durchaus nicht un­ abhängig von jener Einrichtung als Dingen an sich beygelegt werden können; daß der Stoff der si n ti­ tschen Vorstellungen allein durch die Dinge außer uns in unserm Gemüthe bestimmt werde, das Gemüthe daher nur in Rücksicht auf die Vorstellun­ gen des äußeren Sinnes von den Dingen außer ihm selber abhange, und nur in so ferne durch dieselben de terminiert werden könne. Hieraus, und aus dem von mir aufgestellten und erörterten Begriffe des W i l l e n s ergiebt sich, i ) daß wir beym W o l le n nur in so ferne von den Ding en außer uns abhängen, als das unwillkührliche und sinnliche Begehrungsvermögen dabey geschäftig ist. 2) Daß wir beym Wollen keineswegs durch Dinge außer uns determiniert find, in wie ferne die Vernunft dabey geschäftig ist, die ganz nach ihren eigenen von jenen Dingen unabhängigen Ge­ sehen wirksam ist. 3) Daß die beym Wollen vorkommende Forderung des eigennützigen Triebes, des sinn­ lichen durch theoretische Vernunft modistcierten Be­ gehrens, theils durch die Dinge außer uns, theils durch die Gesetze der Denkkraft in uns determi­ niert werde.

Neunter Brief.

345

4 ) D aß die beym W ollen vorkommende Forderung des uneigennützigen Triebes, das abso­ lut nothwendige Gesetz des W illens, durch bloße V ern u n ft, und folglich durchaus nicht durch D inge außer uns determiniert sey. 5 ) D aß das Determiniertwerden durch D inge außer uns und durch V ernunft in uns beym W ol­ len nur dasjenige betreffe, w as dabey u n w i l l k ü h r li ch ist, die Forderungen des eigennützigen und der uneigennützigen Triebes. 6 ) D a ß das W i l l k ü h r l i c h e beym W ol­ len, die Selbstbestimmung zur Befriedigung oder Nichtbesriedigung jener Forderungen, die von den­ selben unterschieden werden m uß , sich durchaus nicht als ein D eterm iniertwerden, weder durch die D inge außer u n s, noch durch V ernunft in uns, noch durch beyde zugleich denken lasse. Allein aus eben den Präm issen, aus welchen sich diese Resultate für den B egriff des f r e y e n W i l l e n s ergeben, ergiebt sich auch derjenige B e ­ griff von der S e e l e , der sich allein m it diesem B e ­ griffe von der Freyheit verträgt. Jenen Präm issen zu Folge kann die S eele, oder das Subjekt der Sinnlichkeit des V erstandes, der V ernunft, des E rkennens, Begehrens und W ollens, so wenig als irgend ein anderes von ihr verschiedenes D in g , weder durch V ernunft, noch durch Sinnlichkeit, in der Eigenschaft eines D in «

345

Neunter B rie f.

ges an sich erkannt werden. Das Merkmal der Substanz komme ihr freylich nothwendig, aber nicht als D in g e an sich, sondern nur als sor­ gest ell kem Dinge zu, ist ursprünglich nichts weiter als eine lediglich in der Einrichtung der Dcnkkraft bestimmte Form einer Vorstellung, die also nur durch die Vorstellung zu einem Merkmale der Seele wird. Die Substanzialität bedeutet daher keines­ wegs die innere unabhängig von der Vorstellung eigenthümliche Natur der Seele, sondern nur das wesentliche in der Natur der Denkkraft bestimmte Merkmal, unter welchem das an sich unbegreif­ liche und nicht vorstellbare Wesen der Seele als Subjekt des Gemüthes gedacht wird. Die Kraft der Seele als Substanz gedacht, bedeutet daher kei­ neswegs das Wesen derselben als eines Dinges an sich, sondern nur den Inbegriff der Vermögen des Gemüthes als Prädikat eines Subjektes vorgestellt, welches nicht als Prädikat eines andern, sondern nur als absolutes Subjekt gedacht werden kann, wo­ für man aber außer jenem Inbegriff kein anderes Prädikat auszuweisen hat, das man also nur als Subjekt jener Vermögen zu erkennen vermag. Die Vermögen des Gemüthes erfolgen nicht aus dem Begriffe der Substanz, der ohne sie leer seyn wür­ de, und nur durch sie zum Begriff der Substanz der Seele erhoben wird. Sie kündigen sich lediglich durch die verschiedenen Zustande des B e­ wußtseyns, welche Fühlen, Empfinden, A n ­ schauen, B e g r e i fe n , Denken, Erkennen,

Neunter B r ie f .

347

B egehren, W o lle n u. s. w. heißen, an; und man kann unter ihnen nichts weiter, als die lediglich durch ihre Wirkungen (die Thatsachen des Bewußt­ seyns) bffli't’iiüchm, in ihren Gründen aber unbe­ greiflichen Vermögen der Seele, die G r u n d v e r ­ mögen des Gemüthes verstehen. Unter diese Grundvermögen gehört auch der Wille und seine Freyheit, als das Vermögen der Seele, sich selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines.Begeh, rens zu bestimmen; ein Grundvermögen, das sich so wenig als irgend ein anderes aus dem Begriffe der Substanz ableiten läßt, sondern jfich nur durch Thatsachen des Bewußtseyns offenbart, aber dessen bestimmter Begriff dem bestimmten Begriffe der Substanz keineswegs widerspricht, nachdem der lehtere von den unrichtigen Bestimmungen, unter wel­ chen er in allen bisherigen philosophischen Systemen gedacht wurde, gereiniget worden ist. I n wie ferne man von der Seele die bloße Substanz abgesondert von ihren Prädikaten, den Vermögen des Gemüthes, denkt, in so ferne wird sie als ein bloßes Subjekt, das kein Prädikat eines andern Subjektes ist, gedacht, und in dieser Eigenschaft ist sie nun für alle diejenigen Prädikckke empfänglich, die ihr, den Thatsachen des Bewußtseyns zu Folge, beyge­ legt werden müssen. Zu Folge dieser Thatsachen wird sie in Rücksicht auf den Zustand des unwillkührliche n, sowohl des bloß instinktartigen, als des durch Vernunft modificierten Begehrens, als ein bestimmbares, von Dingen außer ihr und

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Neunter Brief.

den Gesetzen der V ernunft abhängiges, in ?Xucf< steht auf den Zustand des W o l l e n s aber als ein selbsibesiimmcudes und in so ferne f r e y e s S u b ­ jekt gedacht. A us dem Resultate der K r i t i k d e r r e i ­ n e n V e r n u n f t , welches den R a u m als die in der S i n n l i c h k e i t des Vorstellungsvermögens bestimmte Form der Vorstellung des äußern S i n ­ n e s, folglich auch als ein M erkm al aufstellt, das den durch diese Vorstellung vorgestellten Objekten zwar nothwendig, aber mich nur als vorgestellten und nicht als D i n g e n a n sich zukömmt, ergiebt es sich, daß das M erkm al der A u s d e h n u n g , oder des e r f ü l l t e n R a u m e s nur den E r s c h e i ­ n u n g e n d e s ä u ß e r n S i n n e s als solchen, d. H. nur den Objekten, die durch den äußern S in n vorstellbar sind, und nur in wie ferne sie durch den­ selben vorstellbar sind, beygelegt werden könne. D ie S e e le läßt sich d a h e r nicht als eine a u s g e ­ d e h n t e S u b s t a n z vorstellen, und kann keines­ w egs den Gesetzen solcher S ubstanzen, die um- E r ­ scheinungen des äußern S in n e s sind, unterworfen werden. D er M a t e r i a l i s m u s ist also ein blo­ ßes M ißverständnis des seine Grundvermögen ver­ kennenden menschlichen G eistes, und weder aus den schon jetzt bekannten noch den künftig zu entdecken­ den Gesetzen der E r s c h e i n u n g e n d e s ä u ß e ­ r e n S in n e s , oder der Körperwelt, läßt sich ein auch nur denkbarer G rund gegen die Freyheit des W illens aufbringen.

N e u n t e r B rief.

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D ie Merkmale der S u 6 ff a n j i n ( i1 a t lind der E i n f a c h h e i t werden der Seele keineswegs, wie der Skeptiker behauptet, ohne einen vor dem Richterstuhle der philosophierenden V ernunft probehaltigen G rund beygelegt. S ie kommen ihr durch die Gesetze der verschiedenen Grundvermögen der G em üthes zu, und werden ihr nicht um der unbe­ kannten Ursachen, sondern um der bekannten W ir­ kungen dieser Grundvermögen willen beygelegt. S i e werden frevlich grundlos befunden, wenn mail ihren >G rund dort aufsucht, wo er nicht vorhanden seyn kann, in dem unrichtigen B egriffe, der als D i n g a n sich gedachten Substanz der S eele. Außer­ dem aber haben sie eben dieselben G ründe für sich, welche der Skeptiker anerkennt, und auf welche er sein eigenes Raifonnement stützt, nämlich T h a t ­ sa c h e n , und zwar lauter solche Thatsachen, die in jedem menschlichen Bewußtseyn vorkommen, zu deren genauen U n t e r s c h e i d u n g und richtigen B eu r t h e i l u n g aber freylich die allmähliche K ultur der philosophierenden V ern u n ft, und durch diesel­ be eben jene supernaturalistischen und naturali­ stischen^ skeptischen und dogmatischen, m ateria­ listischen lind spiritualistischen Versuche vorherge­ hen m ußten, durchweiche jene Unterscheidung und Beurtheilung theils erschwert, theils befördert, in einzelnen Personen und Sekten gehindert, im menschlichen Geiste überhaupt aber immer näher herbeygeführt wurde.

350

Neunter B r i e f .

Die in moralischer Rücksicht so wicktiqen Ueber­ zeugungen von der Substanzialirät, Unlöiperlichfeit und Freyheit der Seele bedürfen in so ferne kei­ neswegs einer übernatürlichen Offen bar ring, als sie wie jede andere Ueberzeugung des gemeinen Verstandes lediglich von natürlichen Thatsachen des Bewußtseyns abhängen, außerdem aber bloß na­ türliche Eigenschaften der menschlichen Seele betref­ fen, deren philosophische E rk en ntn iß aber freylich nur durch eine allmähliche und langsame Ent­ wickelung der Denkkraft möglich war, von der sich auch eine durchaus begreifliche pragmatische Ge­ schichte entwerfen läßt, so bald sie bis zu bestimm­ ten Begriffen von den verschiedenen Grundvermö­ gen des menschlichen Geistes einmal gelangt ist. Inden bisher nicht genug bestimmten, und größtentheils unrichtigen Begriffen von diesen Grundvermögen liegt die einzige Ursache, warum die philosophierende Vernunft bey der Rechenschaft, welche sie sich über die Ueberzeugungen von der Substanzialität, Einfachheit und Freyheit der Seele zu geben versuchte, mit sich selbst bisher uneinig war, während der gemeine und gesunde Verstand, der die Seele von jeher vom Leibe unterschied, und dieselbe in den Handlungen des Willens von jeher als frey.dachte, feine Ueberzeugungen durch Gefühle aus Thatsachen des Bewußtseyns schöpfte, die er ohne Unter­ suchung ihrer Gründe annahm, und über welche

Zehnter B r ie f.

zsi

er aus dein einfachen Grunde mit sich selbst einig blieb, weil er jener Untersuchung weder fähig noch bedürftig ist.

Zehnter

Brief.

U e b e r d ie U n v e r tr ä g lic h k e it z w isc h e n den b is h e r ig e n p h ilo so p h isch en U eberzeug u n g s g r ü n d e n vom D a s e y n G o t t e s u n d den r ic h tig e n B e g r i f f e n v o n der F r e y h e it und dem G esetze des W il le n s . Gedanke, mein Theuerster, den S i e mir in Ihrem letzten Briefe mitgetheilt haben, ist darum nicht weniger neu, nicht weniger groß, und nicht weniger der Ih r ig e , weil ihn jeder S elb st­ denker, der in den Geist der kritischen Philosophie eingedrungen ist, früher' oder später denken muß. E ö ist ein eigenthümlicher und merkwürdiger V o r­ zug d ie se r Philosophie, daß ihre Anhänger über jede Aufgabe, die sich aus den ursprünglichen und allgemeinen Gesetzen des Vorstellungsvermogens be­ antworten läßt, ohne alle Verabredung über kurz oder lang auf eben dieselben Resultate gelangen müssen. Meine Bemerkungen über Ih r e neuen

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Zehnter B r i e f .

Ideen werden Ihnen daher schwerlich etwas Neues sagen können, und sollen Sie auch nur in Stand setzen, zu beurtheilen, ob und in wie ferne ich Sie wirklich verstanden habe. Völlig wahr und höchst wichtig finde ich Ih re Bemerkung: „ daß die Sittlichkeit nach unsern'. Be­ g r iffe von derselben, durchaus nicht bestehen „könnte, wenn es einen von ihr unabhängigen und „folglich theoretischen Beweis für das Daseyn „ G o t t e s gäbe, derselbe möchte nun aus histori­ schen oder philosophischen Quellen geschöpft seyn." Freylich kann diese Bemerkung nur unsern Be­ griff von der Sittlichkeit betreffen, von dem wir uns, bey aller Evidenz, die er für uns hat, und,bey aller Seligkeit, die er uns gewahrt und verheißt, nicht verbergen können, daß er nur von äußerst we­ nigen unsrer Zeitgenossen angenommen ist, und von den meisten und angesehensten Philosophen von Pro­ fession angefochten wird. W ir haben alle die ver­ schiedenen einander noch so sehr widersprechenden Vorstellungsarten, durch welche sich die bisherige Philosophie das Ei ne, was der Menschheit N o t h ist, zu enträthseln versucht hat, einstim­ mig wider uns. Nicht nur der konsequentere S »pe rn a tu ra lis t, für den die Ueberzeugung von der Sittlichkeit eine bloße Folge von der Ueber­ zeugung vom Daseyn Gottes ist; nicht nur der konsequentere Atheist, der die Ueberzeugung vom Daseyn Gottes weder für einen Grund, noch für

eine

Zehnter Brief.

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eine Folge der Ueberzeugung von der Sittlichkeit gehalten wissen w ill; sondern auch jeder m ir be­ kannte M oralphilosoph (den einzigen K r i t i s c h e n ausgenommen) wird, wenn er anders seinen Grund­ sätzen getreu bleibt, einen B e g r iff von der S it t ­ lichkeit verwerfen müssen, der zwar die Ueberzeu­ gung vom Daseyn G ottes begründen kann, und bey konsequenten Denkern wirklich begründen muß, der aber selbst nicht nur ke i n e F o l g e dieser Ueber­ zeugung seyn, sondern auch mit derselben, s o b a l d sie nicht s e i ne F o l g e is t, durchaus nicht be­ stehen kann. D ieses kann auch in der That von der Sittlichkeit nach keinem der bisherigen Begriffe von derselben gelten: nach welchen sie entweder der zuletzt auf Furcht und Hoffnung gegründete Ent­ schluß ist, die geoffenbarten Gesetze eines unsicht­ baren Oberherren zu befolgen; oder die sogenannte L e b e n s k l u g h e i t , welche das Interesse des Trie­ bes nach Vergnügen durch kluge W ah l seiner G e­ genstände zu besorgen gelernt hat; oder die durch Erziehung und Gewohnheit erworbene Fertigkeit, die Triebfeder des Eigennutzes zum eigenen V or­ theil derselben den Einschränkungen anzupassen, die ihr das Interesse der bürgerlichen Gesellschaft auf­ dringt; oder das sogenannte W o h l w o l l e n , das in einem angebornen Triebe nach demjenigen V er­ gnügen bestehen soll, welches gemeinnützige Hand­ lungen ohne Rücksicht auf eigenen V ortheil unter gewissen Umständen gewähren können; oder endlich das stoisch e V erm ögen, nicht durch sinnliche Ein* Reinholdö Dr. 2. D . 3

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Zehnter Brief.

drücke, sondern durch die durchdacktc Nothwendig­ keit eines vor unfern Kräften qnn; unabhängigen Zusammenhangs der Dinge außer uns, der entwe­ der Vollkommenheit, oder Gesetz, oder Naturord­ nung, oder Wille Gottes, oder wie immer sonst heißen mag, bestimmt zu werden.

Nach unsern Begriffen*) ist die S i t r lich ke it ein v ö llig freyes und ganz un­ eigennütziges W o lle n des Gesetzmäßi­ gen um seiner S elbst w ille n , und die sittliche H andlung so wie die U nsittlich e , die man von der bloß N ic h t sittlichen unterschei­ den muß, die eigenthümliche Aeußerung der Frey* ) Auch nach den Begriffen eines Mannes, der zwar (in der Abhandlung D a v i d Hunte oder über I d e a l i s m u s und R e a l i s m u s ) unter den Gegnern der theoretischen Principien der Kantischen Philosophie aufgetreten ist; aber dessen Einwendungen zur Erörterung und Befestigung der­ selben um so gewisser beytragen werden, da diese theoretischen Principien zu denselben praktischen führen, dir (meines Wissens) noch kein anderer philosophischer Schriftsteller durch das eigene Licht seines Geistes heller beleuchtet hat, als eben dieser Verfasser in der merkwürdigen kleinen Schrift: E t w a« da« Lrssing gesagt hat; und in der vielleicht noch merkwürdigern B r i e f s a m m l u n g E du a rd A l l w i l l ' « i. Th. Zn der letztem habe ich dis wahreste, lebendigste, in ihrer Art einzige Beschreibung der Aeußerungen de« ächten mo­ ralischen Gefühls im wirklichen Leben und an indi­ viduellen, freylich höchst seltenen, Charakteren ge­ funden.

Zehnter B r i e f . h e i t unsres W illens; emes V erm ögens, das eben so allgemein aus Thatsachen durch das Selbstbe­ wußtseyn bekannt ist, als dasselbe, durch die m ißlun­ gene»» Versuche seine M ö g l i c h k e i t zu erklären, in jeder bisherigen Philosophie verkannt wird; eines V erm ögens, das eben durch jene Versuche für die meisten unbefangenen Selbstdcnker zu einem Räthsel geworden ist, welches sie gewöhnlich dahin gestellt seyn lassen, weil sie an der Möglichkeit seiner A uf­ lösung verzweifeln, ungeachtet ihnen, u n d d en Edelsten unter ihnen am allermeisten, diese Auflösung so sehr am Herzen liegt, daß sie, falls es nur anders durch ä u ß e r e Umstände nicht etwa unmöglich w äre, sich gerne der jetzt noch so schtveren und langwierigen Arbeit des S tu d iu m s der kritischen Philosophie unterzögen, wenn sie anders v o r demselben überzeugt werden könnten, daß diese Philosophie wirklich die einzig mögliche und völlig befriedigende A ntw ort auf die große Frage von der Freyheit an die H and gebe. W ir iitMschejden uns als P e r s o n e n von denjenigen D ingen, vie wir S a c h e n nennen, und bezeichnen durch den N am en der P e r s o n a l i t ä t ein uns durch das Selbstbeivußtseyn bekanntes s e l b s t s t ä n d i g e s S e y n , das sich diesem B e ­ wußtseyn nur durch S e l b s t t h ä t i g k e i t im H an­ deln ankündiget. B e y derjenigen Abhängigkeit unsrer Individualität von der O rganisation, und überhaupt von den D ingen außer u n s , deren wir

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Zehnter

Brief.

uns eben so einleuchtend, als der Unabhängigkeit, die uns zu Personen macht, bewußt sind, ist unsre eigentliche Selbstthästgkeit lediglich auf ein W o l ­ len, und zwar nur auf das indem wil lk ühr lichen Gebrauch der V e r n u n f t , durchweiche wir allein unsre übrigen Vermögen in unsrer Gewalt haben, bestehende Wollen eingeschränkt. Da wir auf der einen Seite nach unsrer erkennbaren und physischen Existenz, so weit dieselbe reicht, Glieder von der Kette der Sinnenwesen sind, wie jede an­ dere Erscheinung dahin schwinden, und bloße S a ­ chen heißen können; sind wir von der andern Seite durch eine uns eigene Selbstthätigkeit in Stand gesetzt, uns, um unsre Persönlichkeit zu retten, über die physische Existenz emporzuschwingen, und uns selbst ein moralisches Daseyn zu geben. Dadurch, und dadurch allein ist uns der Rang und die Würde einer Person zugesichert. Durch die unwillkührlichen Handlungen unsers Körpers ge­ hören wir unter die Pflanzen; durch die unwill­ kührlichen Handlungen unsers Gemüthes aber, die lediglich im Triebe des Bedürfnisses, im Instinkte, in der Abhängigkeit von Eindrücken ihren Grund haben, gehören wir unter die Thi e ra rt en : »nd folglich durch diese beyden, uns keineswegs allein eigenthümlichen Handlungsweisen — bloß unter die Sachen. Nur durch das unabhängige Ver­ mögen des sich selbst bestimmenden Willens allein, welcher den Trieb des Bedürfnisses zwar nicht ver­ drängen, aber doch nach einem Gesetz, dessen

Zehnter B r i e f .

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Ausübung er in seiner Gemalt hat, len. km kann, können und muffen wir uns als v er n ü n f. tige Thiere, als Wesen, die nie als Sachen angesehen und gebraucht werden dürfen, als Per. so n en denken. Auch der Lasterhafte ist sich der Freyheit als einer Thatsache bewusst. E r kann die strasende Stimme seines Gewissens nie ganz übertäuben, welche der Unabhängigkeit seines Willens von dem Zwange der Naturnothwendigkeit, durch die er sich gerne entschuldigen möchte, so laut das W ort redet, und welche durch das Bewußtseyn, daß ev anders habe handeln sollen, die Ausflucht der vernünftelnden Eigenliebe, daß er nicht anders habe handeln können, immer auf eine Zeit lang ver­ stummen heißt. Allein seine Vernunft, die er durch sein freywilliges Dienen unter den Befehlen des Instinktes herabgewürdiget hat, schwankt zwi­ schen Anklagen und Entschuldigen, Billigen uud Mißbilligen des Lasters hin und her, ohne je über ihre Unabhängigkeit, die ihm immer mehr und mehr verhaßt wird, mit sich selbst einig zu werden. Der edle Mann hingegen hält sich fest an das Bewußt­ seyn seiner Freyheit, die ihm allein seinen Werth und seine Glückseligkeit verbürgt und in so ferne sein höchstes Gut ist. M it jedem seiner Fehltritte, de­ ren er sich immer nur mit Reue und Beschämung bewußt ist, nimmt seine Ehrfurcht vor dem strengen Richterstuhle seines Gewissens zu, dem er durch

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Zehnter B r i ef.

freywillige Anerkennung seiner gemißbrauchten Frey­ heit huldiget. Er steht daher auch von jedem Falle stärker auf. Allein man laste den Mann , der sich seiner Freyheit bloß als einer Thatsache, aber ohne einen völlig deutlichen Begriff von derselben, be­ wußt ist, und der dieses Bewußtseyn als edler Mann schätzt, liebt und nährt, man laste ihn sich auf einer Stufe von wissenschaftlicher Kultur befinden, wo er über die Principien des menschlichen Wissens zwar viel gelesen und gedacht hat, aber mit sich selbst nicht einig geworden ist; so werden aus seinen unbestimm­ ten Begriffen von N a t u r und V e r n u n f t , I n ­ stinkt und Se lb s t th ä ti g k e it , physischer und moralischer N oth we nd igk ei t, über kurz oder lang Zweifel über die M ö g lic h keit der Thatsache seines freyen Willens hervorgehen, die ihm wenigstens die Furcht abdringen werden: 06 nicht die Wirklichkei t derselben eine bloße Täu­ schung sey? Die Furcht, ob er nicht seine edelsten Entschlüsse für Wirkungen einer fremden ihn bestim­ menden Gewalt, und seine Person in jeder Rücksicht für ein bloßes Werkzeug der Naturnotwendigkeit halten müsse? Ob es nicht bey allem Anschein von Selbstthätigkeit und Unabhängigkeit, der ihm zu gewissen Zeiten wie ein angenehmer Traum beywoh­ ne, gleichwohl keineswegs auf ihn selbst ankäme, daß in jedem gegebenen Falle sein Wille durch V e r ­ n u n f t, oder durch S in n l i c h k e i t bestimmt handle? Ob er nicht in den Fällen, wo er durch Vernunft (oder durch den durchdachten Zu-

Zehnter B r ief.

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s a m m e n h a n g d e r D i n g e a n sich) bestimmt w erde, noch weit weniger f r e y h a n d l e , als wenn er im Dienste des sinnlichen Triebes nur durch einen einzelnen Eindruck bestimmt w irkte, da er dort durch die ganze N a tu r, hier aber nur durch eine einzelne Erscheinung derselben, g e z w u n g e n w ürde? I c h glaube zw ar, daß diese Zweifel durch ei­ nen hohen G rad von Festigkeit der moralischen G e­ sinnung n ie d e r g e s c h la g e n , aber ich w eiß, daß sie durch keinen denkbaren G rad derselben a u f g e lö ­ set werden können. D e r gute W ille kann sie wohl abweisen aber nicht beantworten. D ie in ihren P r in ­ cipien m it sich selbst uneinige D enkkraft wird jene Bedenklichkeiten auch wider ihren eigenen W illen zurückrufen, und die t h e o r e t i s c h e V ernu nft wird immer denselben K noten wieder schürzen, den die p r a k t i s c h e kaum erst zerhauen hat. D a ß man sich bey einer T heorie, welche die Freyheit bloß dem N am en nach behauptet, in der S ach e selbst aber aufhebt, gleichwohl durch die E v id e n z d e s S e l b s t b e w u ß t s e y n s für wirklich frey halten, ja, daß selbst der entschiedenste V e r­ theidiger einer durchgängigen N aturnothwendigkeit in K rm t jener Evidenz moralisch handeln könne, wird aus der I n k o n s e q u e n z des auf jeder S tu fe seiner K ultur beschränkten menschlichen Geistes begreif­ lich genug. Aber das Interesse der Menschheit ist in der T hat übel geborgen, so lange es nur durch die

Zehnter B rie f. Inkonsequenz der Selbsidenker (undzwar gerade der edelsten unter ihnen) sicher gestellt wer­ den kann. Leider ist die Anzahl der Menschen selbst unter den kultivirtesten Klassen klein genug, bloßer Sittlichkeit inkonsequent dächten, und das Nichtseyn der Freyheit, das sich, meiner Ueber­ zeugung nach, aus den theoretischen Principien je­ der bisherigen Philosophie ergiebt, dürfte wohl von einem großem Theile mehr gehofft als gefürch­ tet seyn. So lange die Philosophie die Gründe dieser Furcht für den Rechtschaffenen und dieser Hoff­ nung für den Bösewicht nicht nur nicht hinweg­ räumt, sondern vielmehr aufstellt und vervielfältiget, so lange hat sie in meinen Augen noch weniger als nichts für die eigentliche moralische Kultur der Menschheit gethan. Ich kann ihr in so ferne nicht einmal den Namen der wissenschaftlichen Philosophie und das Verdienst einräumen, die eigentliche wissenschaftliche K u l t u r des menschlichen Geistes auch nur angefangen zu ha­ ben, die, so wie sie nur von einen: höchsten allge­ meingeltenden Princip des Denkens ausgehen, und nur zu einem höchsten allgemeingeltenden Gesetz des sittlichen Handels hinführen kann, den Selbsiden­ ker nicht nur nicht mit sich selbst und mit andern entzweyen, sondern ihm vielmehr das Geheimniß der in der Natur des menschlichen Geistes gegründeten vollkommenen Eintracht zwischen der denkenden und handelnden Vernunft auf immer enthül­ len muß.

Zehnter B rief.

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Dieses Geheimniß liegt in dem richtigen Ver­ griffe von der Freyheit des W illens, und kann nur durch die vollendete Entwicklung desselben enthüllt werden, aus der sich allein das V erhältniß, der in ihren Vorschriften nur von sich selbst abhängigen, der p tra f tischen, — zu der in ihren Vorschriften von etwas anderm, z . B . von Lust und Unlust, abhängi­ gen, der th e o r e tis c h e n V ernunft, und dieser beyden Wirkungsarten der V ernunft zur Handlung durch F r e y h e i t , die das Wollen entweder durchs praktische Gesetz, oder gegen dasselbe durch Lust oder Unlust bestimmt, ergeben kann. D a sich das Sittcngeseh nur als das G e seh d e s W i l l e n s , der Wille aber nicht ohne den r i c h t i g e n B e g r i f f v o n d e r F r e y h e i t rich­ tig denken lä ß t; so enthält dieser Begriff die Ueber­ zeugung, welche der W i s s e n s c h a f t des S itte n ­ gesetzes v o r h e r g e h e n , und als C o n d i t i o fin e q u a n o n dieselbe begründen m u ß , die G r u n d ­ w a h r h e i t d e r M o r a l , so wie die U e b e r ­ z e u g u n g v o n d e r F r e y h e i t a.ls e i n e r T h a t s a c h e d e s B e w u ß t s e y n s jede sittliche und unsittliche Handlung begründet, und in so ferne die Grundwahrheit ist, von welcher als einer c o n d i t i o sine q u a n o n , d ie M o r a l i t ä t abhängt. A lles, w as daher den Gebrauch oder auch die Ueberzeugung von der Freyheit des W illens aufhebt,

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Zehnter B r ie f .

das hebt auch die M o r a l i t ä t , den eigenthümlichen Charakter der Menschheit, die Würde unserer Natur, die höchste Bedingung unserer Perfektibilität, die innere Quelle unserer Glückseligkeit auf, und macht alle M o r a l , Wissenschaft des Sittengesehes, unmöglich. Wenn wir nun das Daseyn Gottes nicht etwa praktisch glauben, sondern theoretisch erkennen sollten, d. H., wenn wir von demselben nicht durch das vorher, und von ihm unabhängig anerkannte Sittengeseh, sondern auf was immer für einem Wege theoretischer Einsicht überzeugt werden könnten, so würde Freyheit deß Willens ein Un­ ding seyn. Die Selbstthätigkeit des Willens würde ihre Richtung nicht mehr in ihrer Gewalt haben, und eben darum aufhören Selbsithätigkeit des W il­ lens zu seyn. W ir würden das Sittengesetz nicht mehr für das Gesetz, dessen Befolgung oder Uebertretung von unsrer W i l l k ü h r abhängt, sondern für den unwiderstehlichen Willen eines Ober Herrn ansehen müssen, der die Befolgung seiner Vorschrif­ ten durch Maßregeln, die für unser sinnliches I n ­ teresse unendlich fürchterlich oder unendlich ein­ ladend seyn müssen, durchzusetzen, die Macht und den Vorsatz haben muß. Furcht und Hoffnung von einer ganz andern Art, als sie bey einem cufs G ebieth der natürlichen Erfahrung einge­ schränkten Erkenntnisvermögen möglich wären, Nei­ gungen, gegen welche wegen der Unendlichkeit ihres

Zehnter B r i e f .

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Gegenstandes keine Willkühr eines endlichen Geistes auszuhalten vermöchte, ein unwillkührliches, aller Selbstbestimmung des abhängigen Wesens trctzbiethendes Begehren würde dann bey der Befolgung des Sittengesehes an die Stelle der freyen, steh selbst überlassenen Selbstthätigkeit eintreten, das uneigennützige Wollen der Gesetzmäßigkeit, ja das Wollen überhaupt unmöglich machen, und folglich in der That das Sittengesetz aufheben. N ur dann, und nur in so ferne als die Ueber­ zeugung vom Daseyn Gottes durch die von ihr völlig unabhängige Ueberzeugung von dem Sittengesehe bestimmt wird, liegt in der Grundwahrheit der Re­ ligion ein äußerer Grund, der die Forderungen des uneigennützigen Triebes an den Eigennützigen unterstützt, ohne die Unabhängigkeit dieser Forde­ rungen von dem Interesse des eigennützigen aufzu­ heben, und der den Instinkt im Zaume hält, ohne der Freyheil Gewalt anzuthun. Die Ueberzeugung vom Daseyn Gottes ist dann kein Wissen, sondern ein Glaube, und zwar kein historischer, sondern ein moralischer, das heißt ein solcher Glaube, der nur Folge, nie Grund der moralischen Gesinnung seyn kann; ein Fürwahrhalten, durch welches die Anerkennung der Wirklichkeit und der Heiligkeit des S it­ tengesetzes zwar vorausgesetzt, aber keineswegs ver­ ursachet wird, und welches die uneigennützige Gesin­ nung so wenig zerstören kann, daß es vielmehr ohne dieselbe schlechterdings nicht bestehen könnte. Die

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Zehnter B r ie f .

Furcht vor der Gerechtigkeit und die Hoffnung von der Güte des Urhebers der Natur, werden bey die­ ser A rt vvn Ueberzeugung im strengsten Sinne mo­ ralisch, indem beyde nur in der uneigennützigen Achtung gegen das Gesetz gegründet sind, indem es nur die sittliche Gesinnung und in derselben unser ei­ gener freyer vernünftiger Wille ist, welche von der Gottheit Einschränkung oder Vergrößerung unsrer Glückseligkeit, nach dem Maße der persönlichen Würdigkeit, und bloß um der Heiligkeit des Ge­ setzes willen fordern und erwarten kann. Das I n ­ teresse unsers Eigennutzes wird durch das Interesse am Gesetze, nicht dieses durch jenes aufgefordert; die Eigenliebe wird durch die Anhänglichkeit an der Pflicht, nicht diese durch jene in Bewegung gesetzt; wir hoffen und fürchten von Gott, weil wir seinen Willen achten, und achten diesen Willen, nicht weil wir hoffen und fürchte». Das Daseyn von was immer für einem be­ stimmten Gegenstände kann sich uns nur durch die Eigenschaften und Beschaffenheiten desselben unkun­ digen, lind unser Begriff von dem Gegenstände taun nur aus der Vorstellung seiner Eigenschaften und Beschaffenheiten bestehen. I n dein moralischen Glauben werden wir vom Dasenn Gottes nur durch unsre moralische Gesinnung überzeugt, und die E i­ genschaft, unter welcher sich uns die Gottheit in dem­ selben ankündiget, ist die von den Schranken der endlichen Natur getrennte S i t t l i c h k e i t ; eine Ei-

Z e h n t e r B r i e f.

z6 z

genschaft, die wir ihrem positiven M erkmale nach nur aus unserm Selbstbewußtseyn kennen, die m ir durch das Zeugnis? des Gewissens, aber durch dasselbe auch dem gemeinen M anne einleuchtet, und von welcher der Selbstdenker einen vollständigen, durch­ gängig bestimmten B egriff haben kann, weil alle D a ta zu demselben in den ursprünglichen und allge­ meinen Anlagen unsres Gemüthes wirklich gegeben sind. I n wie ferne nun die vollkommenste S ittlich­ keit, das c h a r a k t e r i s t i s c h e M erkm al ist, unter welchem wir uns die Gottheit denken, und dem wir alle anderen Beschaffenheiten derselben u n t e r o r d ­ n e n müssen, in so ferne kündigt uns die Gottheit ihr Daseyn nur von derjenigen S e ite a n , von der sie allein einem e n d l i c h e n , v e r n ü n f t i g e n W e­ sen begreiflich seyn, von der sie ihm allein uneigen­ nützige V erehrung einstoßen, von der sie allein von einem sonst abhängigen, beschränkten, ohne sie hülflosen Wesen, eine freye und ihrer selbst würdige An­ betung erwarten kann; eine G esinnung, gleich weit entfernt von dem Sklavensinne des abergläubischen Fröm m lers, und dem zügellosen Uebermuthe des un­ gläubigen G rüblers. I s t hingegen die Sittlichkeit, die wir entweder gar nicht, oder nur durch das B e ­ wußtseyn unsrer Freyheit kennen, nicht das e i g e n ­ thümliche und D asey n ankündigende M erkm al der G ottheit für uns, so tritt an die S telle desselben das M erkm al einer U r k r a f t ein, bieder A t h e i s t gemeiniglich in der b e w e g e n d e n K r a f t d e r N a t u r aussucht, und in welcher e r, was er

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Zehnt er

B r i cf.

ihr auch für einen Namen gebe» mag, immer den überzeugendsten Grund zu finden glaubt, die Frey­ heit seines eigenen Willens für eine bloße Täuschung zu erklären. Diese Urkraft wird von dem S u p ernaturalisten zwar als ein lebendiges Wesen ge­ dacht, aber mit einem unsrer Vernunft v ö l l i g u n begreiflichen Willen begabt, der von unserm vernünftigen Willen nicht etwa durch die bloßen Schranken desselben, sondern seiner wesentlichen Form und innern Natur nach ganz verschieden, folg­ lich für uns schlechterdings unerforschlich, und nur durch übernatürliche Offenbarung erkennbar ist; einem Willen, der dem unsrigen lauter Gesetze vor­ schreibt, die unsrer Vernunft fremd sind, nur um des Gesetzgebers willen befolgt werden können, und in so ferne alle Moralität aufheben. Der konsequente Sup ern atu ra lis t pre­ digte Religion ohne M o r a l , und der konsequente N a t u r a l i s t Moral ohne Religion. Der erstere erklärte die Sittenlehre der Vernunft (die philosophische M o r a l ) für eigennützige Klugheit, welche dem Menschen keinen innern Werth zu geben, ihn dem Auge Gottes keinesweges wohlgefällig zu machen vermag, Thorheit vor Gott und die Theorie glänzender Laster ist. Die wahre Tugend, die er ausschließend mit dem Namen H eiligk eit zu be­ zeichnen vermeynte, und die für ihn das Objekt der theologischen M o r a l war, glaubte er in einer Handlungsweise, in einer Richtung des Willens ge-

Zehnter Brie f.

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funden 311 haben, die ihre T r i e b f e d e r sowohl als ihr G esetz nicht außer der Gottheit selbst haben könnte, die durch die natürlichen, dem Menschen eigenthümlichen K räfte, schlechterdings unmöglich w äre, und daher nur ein übernatürliches Geschenk, W irkung der G n a d e sevn könnte. D er konsequen­ tere N a t u r a l i s t hingegen, der in der Sittlichkeit nichts als die natürliche Handlungsweise des durch K lugheit sich selbst lenkenden Triebes nach V ergnü­ gen erkannte, sah die Religion als eine Herabwür­ digung der menschlichen N a tu r, als die geschworne Feindin der V ernunft und Zerstörerin aller S ittlich­ keit an. E r beschuldigte sie, daß sie dem Menschen Bew eggründe des Handelns aufdränge, die seiner N a tu r fremd und zuwider wären; daß sie ihm alle natürliche Liebe zum Guten unmöglich, und sei­ nen W illen zum Sklaven eines Gespenstes mache, dessen R ealität und ganze Furchtbarkeit nur die W ir­ kung einer regellosen, durch Wissenschaft, Geschmack und Sittlichkeit ungebändigten Phantasie seyn könnte. B eyde einander so sehr entgegen gesetzte V o r­ stellungsarten waren auf unstreitige, aber einseitig gesehene W ahrheiten, aufdaö m o r a l i s c h e , aber a u f keine bestimmten Begriffe zurückgeführte G e ­ f ü h l gegründet. D er Supernaturalist ahndete d i e U n z e m e n n l i c h k e i t zwi schen R e l i g i o n u n d M o r a l , der N aturalist d ie U n a b h ä n g i g k e i t der M o r a l von Reli gi on. Beyde stritten für die von ihnen (der Wirklichkeit nach) gefühlte.

Z68

Zehnter

Brief.

aber (dor Möglichkeit nack') verkannte un ei ge nnützige Gesinnung: der Eupernaturalist, in­ dem er umtsr der natürlichen Triebfeder zur Tugend bett; Trieb nach Vergnügen verstand, imb verwarf; ber Naturalist, indem er unter der n a t ü rlichen Triebfeder die Vernunft dachte und ver­ ehrte. Von beyden wurde die moralische Ver­ nunft p ersonificiert. Der Supernacuralist suchte diese Vernunft, weil er sie nicht mit dem sinn­ lichen Begehrungsvermögen (dem natürlichen Menschen) zu vereinigen wußte, — außer dem Menschen auf, und schuf sie zur Gott hei t. Aber eben darum mußte er den Willen des Menschen einem demselben fremden Gesetze unterwerfen, das nur durch die Triebfeder des Eigennutzes befolgt werden konnte. Er mußte den Willen der Gottheit zur Unvernunft herabwürdigen, indem er die Vorschrif­ ten desselben dem vernünftigen Willen des Menschen widersprechen ließ. — Die Vernunft wurde von dem Naturalisten personisiciert. Sie wurde von ihm, weil er in ihrer Handlungsweise den Cha­ rakter der allenthalben nach Gesetzen wirkenden N a­ tur wahirz»nehmen glaubte, zur wirkenden N a ­ tu r umgeschaffen. Aber eben darum mußte auch der sinnlliche Trieb, der ebenfalls eine Handlungs­ weise de>r N a t u r ist, nur durch sein eigenes I n ­ teresse diem; Gesetze der Vernunft untergeordnet, und folglich bety den sittlichen Handlungen zwar die HandlumgSweise des Instinktes der Form der Ver­ nunft, caber die Realisirung dieser Form bloß der Trieb

Z e h n t e r S S n ’cs. T r i e b f e d e r des Instinktes unterworfen werden. D ie E d e l g e s i n n t e n von beyden Partheven strit­ ten für die W ü r d e , und folglich für dos W e s e n d e r T u g e n d , welches sie, durch ihre E rklärun­ gen darüber und ihre Beweise d afü r, in der S ache selbst aufhoben. Beyde verkannten die > p r a t ­ t i sche V ernunft; die E inen, indem sie dieselbe ausschließend der G o t t h e i t , die A ndern, indem sie dieselbe eben so ausschließend der N a t u r ein­ räumten ; und diese praktische V ernunft hörte eben darum auf pr a k t i s c h zu seyn, weil sie in beyden System en von der den sinnlichen Trieb n u r d u rc h F r e y h e i t de s W i l l e n s beherrschenden S elbstthätigfeit der V ernunft unterschieden w urde. W e ­ der die G o t t h e i t des S upernaturalisien, noch d i e N a t u r des N aturalisten, waren daher s i t t l i c h e W e s e n , und was uns der Eine au f Unkosten der M oralität geben wollte, verdiente eben so wenig den N am en der R eligion, als was der Andere auf U n­ kosten der Religion zu gewinnen m eynte, den N a ­ men der M oralität. D er V o rw u rf, den einzigen prvbehältigen Ueberzeugungsgrund für das Daseyn G ottes durch das Verkennen des einzigen charakteristischen M erk ­ m a ls, wodurch sich die Gottheit uns ankündigen kann, aufgehoben zu haben, trifft aber nicht nur denSupernaturalistcn so gut als den a t h e i s t i s c h e n N a t u r a l i s t e n , sondern auch jeden konsequenten T h e i s t e n . S o g a r der so genannte p h y s i k o t h e o « NeinholdsDr. a .D . 2 (a

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Zehnt er B r i e f .

logische Beweis, durch welchen man die Gottheit aus der Ordnung und Regelmäßigkeit der Natur zu erkennen glaubte, kann nicht nur nicht ohne, son­ dern nur durch die Voraussetzung des von ihm ganz unabhängigen moralischen UeberzeugungSgrundes, auf die S i t t l i c h k e i t als das charakteristische Merkmal der Gottheit führen. Eben darum kann derselbe keineswegs als ein für sich bestehender Grund, als ein eigentlicher probehältiger Beweis angenommen werden. Gesetzt auch, daß man die Analogie gelten laßt, durchweiche allein die auf dem kleinen Gesichtskreise unsers Wissens noch lange nicht allenthalben einleuchtende Regelmäßigkeit sich auf das ganze Universum ausdehnen laßt, was hat­ ten wir für einen ausgemachten, über alle Einwen­ dungen erhabenen Grund, diese Regelmäßigkeit zur Zweckmäßigkeit zu erheben? Z u r Zrveckmäß igkeit, sage ich, von der wir sogar auf dem uns bekannten Gebiethe der Erfahrung fast eben so oft alle Spuren verlieren, als sich uns dieselben in ein­ zelnen Erscheinungen aufdringen? Zur Zweckmäßig­ keit, welche durch die Schicksale der Mensch­ heit eben so oft und so einleuchtend widerlegt, als durch den bewundernswürdigen Bau unsers orga­ nischen Körpers bewiesen scheint, und die we­ nigstens an den Regierungsfornien, dem Zustande der Kultur, und überhaupt an allen moralischett Erscheinungen eben so dunkel und unmerklich ist, als sie an den physischen hell einleuchtet? Was hätte man für einen Grund, die E r h a l cu n g des

Z e h n t e r 2 3 rief.

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G a n z e n , (gesetzt auch, daß m an in derselben das letzte Resultat aller N aturansialten anträfe) nicht für eine b lo ß e F o lg e einer in dem unbegreiflichen W esen der N atu r selbst imvohnenden N a t u r n 0 t H. W e n d ig k e it, sondern für die A b s ic h t eines von der N a tu r verschiedenen, aber nicht weniger als sie selbst unbegreiflichen Wesens anzusehen? W a s hat­ ten wir endlich für einen G ru n d , selbst diese b e a b ­ s ic h tig te Erhaltung des G anzen, falls sie auch zugestanden w äre, nicht einer bloßen K l u g h e i t , sondern der W e i s h e i t jenes Urhebers zuzuschrei­ ben, oder, welches eben so viel heißt, die V ernünf­ tigkeit der Opfer, die von den einzelnen Theilen dem G anzen dargebracht werden m üßen, und die uns oft so theuer zu stehen kommen, nicht aus dem Un­ vermögen eines durch Naturnvthwendigkeit einge­ schränkten, sondern aus der freyen W ah l eines grän­ zenlos selbstthätigen W illens zu erklären, und sie da­ her nicht etwa mit der Resignation der Verzweiflung, m it erkünstelter Apathie gegen eine blinde N othw en­ digkeit, gegen ein G ott und Menschen beherrschen­ des F a tu m , zu ertragen, sondern m it freywilligem Gehorsam gegen die Rathschlüße der höchsten W eis­ heit auf uns zu nehm en, wenn nicht eben jenes allgemeine B este, jen>e beabsichtigte E rhaltung und Vervollkommnung des Ganzen die natürlichste F o r­ derung der dem ediern Theil unsers S elbstes eigen­ thümlichen Uneigennützigkeit, das G eboth unsers eignen freyen W illens, und die nächste Folge w äre, die sich aus der frey und um ihrer selbst willen ge-

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Zehnter B r i e f .

wollten Gesetzmäßigkeit crgiebt? und wenn wir nicht eben diese Gesinnung, das Erhabenste, Beste, Heiligste was wir kennen, von den Schranken unsrer sinnlichen Natur abgesondert, auf das U r wesen übertragen, und dadurch die Ordnung r:nd Regel­ mäßigkeit in der Natur zu einer beabsichtigten, :nb zwar lediglich um ihrer selbst willen beabsichtigten, Gesetzmastigkeit erheben müßten ? Die Realität ei­ ner solchen durchgängigen, und zwar u neigen» nützig gewellten Gesetzmäßigkeit, ist in so ferne Unabhängig von unsern theoretischen Einsichten, un­ abhängig von unsrer beschränkten Kenntniß der N a­ tur für uns ausgemacht. Der uns durch unsre mo­ ralische Natur im Selbstbewußtseyn unsrer Freyheit geoffenbarte Charakter der Gottheit macht es un­ möglich und nothwendig, uns die Zweckmäßigkeit der physischen Natur, dort wo wir sie antreffen, vhne Z i r k e l zu erklären, — wo wir sie vermis­ sen, ohne Besorgniß einer täuschenden Analogie vorauszusetzen, allenthalben aber dieselbe eben so wenig für die Aeußerung der eigennützigen Klugheit eines durch Naturnothwendigkeit eingeschränkten W el t b a u m ei ste r s, als für die bloße Folge einer im Wesen der Welt selbst gegründete» Narurordhung, sondern lediglich für die freywillige Wirkung der Selbstthätigkeit eines weisen W e l t schöp­ fet 6 anzusehen. W ir vermögen G o t t und die N a t u r nur durch die Handlungsweisen, die wir beyden

Zehnter B r i e f .

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beylegen, von einander zu unterscheiden, und die einzige Handlungsweise, durch welche w ir das W ir­ ken der Gottheit vom Wirken der N atu r, der geisiigen K raft von der mechanischen unterscheiden kön­ nen, ist die a b s o lu te S e l b s t t h ä t i g k e i t , die wir den b e w e g e n d e n , nach den Gesehen von R au m und Zeit wirkenden K räften nicht einräumen können, und die wir aus keiner andern Q uelle, als durch das Selbstbewußtseyn, worin sich unsre eigne Selbstthätigkeit als f r e y e r W i l l e offenbart,ken­ nen. D urch die t h e o r e t i s c h e V ernunft und in derselben erkennen wir nur ein V erm ögen, nach g e» d a c h t e n G e s e h e n zu handeln; durch die p r a k ­ tische aber und in derselben ein V erm ögen, die Gesetzmäßigkeit frey, uneigennützig, bloß um ihrer selbst willen zu wollen. Gesetzt also auch, die B e ­ trachtung der N a tu r nöthigte uns, das Daseyn eines durchgängig nach Gesetzen handelnden UrwesenS an­ zunehmen, so würde uns doch nur das Bew ußtseyn der sittlichen Verbindlichkeit überzeugen können, daß dieses Urwesin bey seinem gesetzmäßigen Handeln die Gesetzmäßigkeit allein sich zum höchsten Zweck sehen könne. Ohne jenes Bewußtseyn würden w ir der V ernunft nichts weiter als ein Verm ögen zutrauen, den in der N a tu r, und zwar in den Eigenschaften und Beschaffenheiten der D i n g e a n sich, gegrün­ deten Zusammenhang v o r z u s t e l l e n , der nur G eg e n s t a n d , nicht das W e r k der V ernunft seyn könnte. D ie Gesetzmäßigkeit der N a tu r würde daher entweder der bloße Ausdruck einer innern N a -

374

Zehnter B r i e f .

turnothwendigkeit seyn, die nicht als Urkraft ver­ nünftig ist, sondern zu der sich die Vernunft, oder daS Vermögen die Gesetzmäßigkeit vorzustellen, als eine ihrer mannigfaltigen W i r k u n g e n verhalt; oder die Gesetzmäßigkeit würde doch nicht Zweck und Wirkung eines praktisch vernünftigen Willens, son­ dern nur Mittel eines theoretisch vernünftigen Urwesens fern, das nur nach der Vorstellung des Gesetzes, nicht durch das Wollen desselben handelt, das Gesetz durch Naturnothwendigkeit empfangt, nicht durch Selbstthätigkeit giebt, und dasselbe einem Zwecke unterordnet, der nicht aus dem freyen Willen her­ vorgeht. Der Zweck des reinen W i l l e n s kann kein anderer seyn als das Gesetz, das die bloße Ver­ nunft aufstellt, und die Freyheit bloß um seiner selbst willen ausführt. Jeder andere Zweck, zu dem sich das Gesetz nur als Mittel verhalt, bindet die Selbstthätigkeit an einen ihr fremden Grund, und ordnet sie einer Vorschrift unter, die nicht ihr eigenes Werk ist. Diese Eigenschaft des praktisch vernünftigen Willens, die der Gottheit schlechterdings bengelegt werden muß, wenn wir sie nicht mit blinder Natur­ nothwendigkeit verwechseln oder derselben unterord­ nen, und in beyden Fällen sie aufheben wollen, kann uns ursprünglich auf keinem andern Wege, als durch das moralische Gefühl, und in demselben nur durch das Bewußtseyn unsrer Freyheit offenbar werden. Das sittliche Wollen laßt sich weder natürlichen noch über­ natürlichen Erscheinungen ablernen. Daß sich Ge­ setzmäßigkeit um ihrer selbst willen wollen lasse, und

Zehnter B rief.

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wirklich gewollt werde, läßt sich uns durch kein W under von außenher offenbaren, läßt sich selbst durch keine Zergliederung des theoretischen V ern u n ft. Vermögens, so wenig als durch ein die ganze E w ig . keit fortgesetztes S tud ium der physischen N a tu r her­ aus bringen; es kann nur durch die praktische V e r­ nunft und durch Freyheit, die durch Handeln in u n s ihr Daseyn bewahren, und sich nicht außer dem Bewußtseyn unsrer Persönlichkeit äußern, einleuchtend werden. I n u n s selbst also muffen w ir das M erkm al der Gottheit aufsuchen, durch welches uns dieselbe allein ihr Daseyn ankündigen kann; das M erkm al, welches dieselbe der V ernunft jedes M e n ­ schen zugänglich und den Glauben an sie von seinen theoretischen Einsichten unabhängig m acht; das ein­ zige, durch welches nicht nur aller Widerspruch zwi­ schen Religion und M oral aufgehoben, sondern auch der nothwendige, aber auch einzig durch dasselbe denkbare Zusammenhang zwischen beyden auf immer gesichert ist. Durch dieses M erkm al lernen w ir an der G ott­ heit gerade dasjenige kennen, w as bisher von den T h e o l o g e n genvöhnlich für das t i e f s t e G e h e i m ­ n i ß ausgegeben w urde, und woran uns am aller­ meisten gelegen seyn muß — die eigentliche Trieb­ feder ihres W illen s, den höchsten Zweck aller ihrer Handlungen, und das oberste Gesetz ihrer W eisheit. S o lange es nur bloße Ahndungen vom reinen S i t tengesehe gab, und die praktische V ernun ft nur noch

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Z e h n t e r B r i e f.

in einem undurchdringlichen Nebel von Vorurtheilen wirkte, den die Irrthümer der theoretischen uni sie herum zusammen gezogen, so lange war srtnlich der Wille der Gottheit ein Geheimniß. Damals waren die GcttcSgelehrtcn unter sich einig, daß man nur durch äußere übernatürliche Offenbarung erfah­ ren könnte, was uns die Gottheit von ihren uucrforschlichen Rathschlüsscn wissen zu lassen für gut fände. Dafür war aber auch das meiste, was die Stellvertreter und Seher Gottes den Laien im Na. men Gottes ankündigten, entweder unsittlich, oder wenigstens unvernünftig. Um die Gottheit von der Natur zu unterscheiden, setzten sie beyde in allen ih­ ren Eigenschaften einander entgegen, machten die menschliche Natur zur erklärten Feindin Gottes, und ließen die unbegreifliche Weisheit als Bedingung ihrer Aussöhnung mit der Menschheit nichts anders wollen, als was der Menschheit zuwider war, Verläugnung der Naturtriebe, Verzicht auf Frevheit des Willens und Gefangcnnehmung der Vernunft zum Behuf des blinden Glaubens. Frcolich wird durch die heut zu Tage viel weiter vorgerückte B e­ kanntschaft mit der Natur der fweruakuralistische Widerspruch zwischen dem freyen Willen der Gott­ heit und der menschlichen Verminst st gemildert. Allein so lange man das Höchste Ge, des göttli­ chen Willens, den letzten Zweck der göttlichen Vernunft für ein Geheimniß ansieht, das nur durch Offenbarung bekannt werden kann; so lange man dieses Gesetz und diesen Zweck von der frey und um

Zehnter Brief.

37 7

ihrer selbst willen beabsichtigten Gesetzmäßigkeit u nt er schei bet : so lange kann der G ottheit nur durch Inkonsequenz das S i t t l i c h e , das heißt, ein uns völlig begreifliches, durch unser Selbstbewußtseyn einleuchtendes W o l l e n , beygelegt werden. S o lange die F r e y h e i t und das G esetz d e s W i l l e n s wie bisher verkannt, und mit ih­ nen der eigentliche G r u n d und die N a tu r der sittli­ chen Verbindlichkeit unsern Selbstdenkern ein G e­ heimniß bleiben, so lange die Philosophie durch ihre mißlungenen Spekulationen über dieses große P r o ­ blem in vier H a u p t p a r t h e y e n und in die zahl­ losen Modifikationen derselben getheilt seyn, oder, welches für mich eben so viel heißt, so lange der B e ­ griff der Sittlichkeit aus dem durch die theoretische V ernunft geleiteten Triebe nach V e r g n ü g e n , oder auch aus dev mit dem s i t t l i c h e n W i l l e n verwechselten p r a k t i s c h e n V ernunft abgeleitet, und daher in bendcn Fällen die F r e y h e i t geläugnet werden w ird: so lange wird auch der eigentliche Ueberzeugungsgrund vom Daseyn G ottes ein G e ­ h e i m n i ß bleiben, und die G r u n d w a h r h e i t d e r R e l i g i o n wird das Schicksal haben, das sie noch gegenwärtig h a t, von dem einen Theile der P h ile scpben nach verschiedenen einander widerspre­ chenden M ethoden durch sogenannte Beweise der theoretischen V ernunft demonstriert, von dem zwey­ ten aus übernatürlichen Begebenheiten, Inspiratio­ nen und den heiligen Büchern der H ebräer erwiesen.

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Zehnter Brief.

von dem dritten geradezu geleugnet, und von dem vierten als ein unauflösliches Problem , als eine F ra g e , die für uns keinen S in n hat, von der H and gewiesen zu werden; so lange wird auch die t i e f e

Gleichgültigkeit

g egen

Religion

ü b e r h a u p t fortwähren müssen, die sich des groß, ten Theils unserer denkenden K öpfe, und durch diesel­ ben auch eines nicht unbeträchtlichen Theils des gro­ ßen H aufens bemächtiget h a t; eine Gleichgültigkeit, die den mißlichen Zustand der theoretischen Erkenntniß der Grundwahrheiten der Religion vielleicht noch m ehr ankündiget, als den von so manchem blinden © le re r gepredigten V erfall der S itte n , und die an die S telle des Fanatism us in dem Verhältnisse ein­ getreten ist, als die Theorie der Sittlichkeit vom st oi sc he n M o n a c h i s m u s zum e p i k u r i s c h e n L i b e r t i n i s m u s überging, und die T u g e n d , au s der thörichten Spekulation des Aberglaubens, sich durch Entbehren und Nichtthun von der Hölle los und im Himmel anzukaufen, die klügere Kunst des Unglaubens geworden ist, über den durch M ä ß i­ gung gesicherten und erhöheten G e n u ß des gegenw ä r t i g e n Lebens das z u k ü n f t i g e zu v e r g e s ­ se n . D en weitern Fortschritt lind das Umsichgrei­ fen dieser Gleichgültigkeit zu hemmen, das I n te r ­ esse des gegenwärtigen Lebens mit der E rw artung eines zukünftigen zu vereinigen, und die S ittlich­ keit durch deutliche Begriffe von ihrer eigentlichen Triebfeder zu dem anerkannten Range der W e i s ­ h e i t zu erheben, kann nur das W erk einer n e u e n

Zehnter Brief.

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P h i l o s o p h i e sevn, welche nach einer vollendeten und strengen Wissenschaft der ursprünglichen F orm unserer Geisteskräfte das Problem von der Freyheit des W illens auflösen w ird, das von allen bisherigen Philosophiern nicht einmal gehörig aufgeworfen, sondern in dem Verhältnisse mehr verwickelt worden ist, als sich ihre Spekulationen von denjenigen Ueber, zeugungen des gemeinen und gesund#» V erstandes entfernten, welche die Freyheit des W illens als Thatsache des Bewußtseyns annim m t, und welcher die m it sich selbst einige philosophierende V ernunft nie widersprechen kann. Durch jene Auflösung wer­ den sich die Bedenklichkeiten, Zweifel und Einw ürfe nach und nach von selbst verlieren, welche die theo­ retische V ernunft bey dem bisherigen Zustande der Philosophie den A u 6 s p r ä c h e n d e r p r a k t i s c h e n entgegen setzte. M it ihnen werden auch die bishe­ rigen Scheingründe f ü r und w i d e r das D a s e y n G o t t e s aus dem Gebiethe der Philosophie ver­ schwinden , und dem einzig wahren UeberzeugungLgrunde R aum lassen, den der Selbstdenker in dem endlich mich durch seine theoretischen Principien völ­ lig gerechtfertigten Bewußtseyn der Freyheit finden wird. R e l i g i o s i t ä t wird Folge der M o r a l i ­ t ä t , belohnende Aufmunterung der T ugend, und züchtigendes Schrecken des Lasters werden. N u r in den Augenblicken, wo der Bösewicht den Richter­ stuhl seines Gewissens, um sich vor demselben zu ent» sündigen, in Anspruch zu nehmen strebt, wird er das Daseyn G ottes bezweifeln können, während der

380

Ze hnt e r B r i e f .

Rechtschaffene durch jede gute Handlung in seinem G laliben gestärkt werden, in jeder eine neue B e stä­ tigung von der R ealität des w e ise n und g u t e n Urwesens erhalten wird, das sich ihm durch den Adel seiner eigenen S eele ankündiget. M it vergebens abgewandtem Auge des Geistes wird der eine vor dem Gedanken an den Richter zittern, der ihm durch feine eigene V ernunft sein Urtheil spricht, und von dem er sich weder hinter die Bollwerke des Atheis­ m u s, noch des dogmatischen Skepticism us — die nicht mehr seyn werden — verbergen kann. D e r andere hingegen wird mit jedem Fortschritte auf dem W ege der moralischen K ultur die G ottheit näher kennen lernen, und in dem Gedanken an dieselbe mehr W ah rh eit, Interesse, Seligkeit antreffen. Und es wird erfüllt werden in jenen T agen, wgS in einem sehr bekannten, aber von den S u p ern atu ra­ listen wie von den N aturalisten gleich verkannten B uche geschrieben steht: S e l i g stnd d ie , w elch e r e i n e s H e r z e n s s i n d , d e n n sie w e r d e n G o t t anschauen.

38i

Stifter

B r i e f.

© m n b l i n i e n zur Geschichte der bisheri­ gen M o ral ph ilo so phi e überhaupt, und insbesondere der stoischen und epikurischen. E s hat Sie befremdet, l. Fr., daß ich in der I h ­ nen mitgetheilten Betrachtung über die Unei­ nigkeit der philosophierenden V e r n u n f t mi t sich selbst in Rücksicht a u f die B e ­ gr if fe von P fl i c h t und Recht * ) , den S t o i ciömuS und E p ik u r ie m u s mit Stillschweigen übergangen habe. Sie bemerken sehr richtig: „A lle „ auch noch so verschiedenen Vorstellungearten von „der S i t t l i c h k e i t , (nicht einmal die skepti­ sch en und supernaturalistischen auögenom„men) wären nichts weiter als verschiedene Modi„ stkationen entweder des epikurischen oder des stoi„ schen Grundbegriffes, und durch eine genaue 93er« „gleichung dieser beyden müsse sich der Gesichts« „ punkt ergeben, aus welchem sich die G e schichte „aller Fortschritte und Verirrungen der über die „M oralität philosophierenden Vernunft als ein „pragmatisches Ganzes darstellen läßt." Ich bin hierüber völlig mit Ihnen einverstanden. Allein ich glaubte diese wichtige Vergleichung bis da­ hin aufschieben zu müssen, wo ich durch meine Er* ) Der zweyte Drief in diesem Bande.

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Eilfter Brief.

crferunqcn der B e g r i f f e von der Freyheit, und dem eigennützigen und uneigennützi­ gen Triebe die Merkmale desjenigen Begriffes von der S i t t l i c h k e i t aufgestellt Hütte, der, von dem stoischen und epikurischen gleich wesentlich verschieden, allein in Stand setzen kann, die bishe­ rigen Vorstellung-arten nicht selbst wieder als Par­ they, das heißt, weder als Stoiker noch als Epiku­ räer, beurtheilen zu müssen. Wenn die von mir ent­ wickelten Grundbegriffe von der Freyheit und dem Gesetze des W i l l e n s richtig sind: so müssen dieselben die einzig möglichen Principien einer unpartheyischen und fruchtbaren Vergleichung des Stoicismus und Epikurismus enthalten; so muß sich aus denselben der Ursprung, das Wesen und jede Eigenthümlichkeit von beyden in einem ganz neuen und Hellen Lichte zeigen, das Wahre von dem Falschen in beyden mit Bestimmtheit absondern, und das Mißverständniß, das ihnen gemeinschaft­ lich zum Grunde liegt, genau angeben, und völlig hinwegräumen lassen. Auf der andern Seite müs­ sen aber auch meine Grundbegriffe von der Freyheit und dem Gesetze des Willens vermittelst einer sol­ chen durch sie allein möglichen Auflösung bisher un­ auflöslicher Räthsel eine Bestätigung erhalten, die denselben bey ihrer Neuheit und ihrem Widerspruch mit den bisher angenommenen und angewöhn­ ten Vorstellungsarten nichts weniger als entbehr­ lich seyn kann.

E ilfte r

B rie f.

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Die ausführliche Behandlung dieses Stoffes würde nur durch ein ziemlich weitläufiges Werk möglich seyn, zu dem ich hier nur einige Hauptideen entwerfen kann. Dem richtigen, aber bis jetzt noch ganz »er« kannten Begriffe von der F re y h e it des W i l ­ lens ist in der künftigen praktischen Philosophie eben dieselbe Funktion aufbehalten, die dem richti­ gen und bis jetzt nicht weniger verkannten Begriffe von der Vo rs tellun g in der künftigen P h i l o ­ sophie überhaupt, und insbesondere in der theoretischen bevorsteht. Der eine wird wie der andere die erste, folglich zwar nicht die einzige, aber doch die vornehmste Bedingung ausmachen, unter welcher die philosophierende Vernunft in ihren künftigen Repräsentanten über die ihr eigenthümli­ chen Principien mit sich selbst einig seyn wird. Nicht jedes Mißverständniß, aber dochdas v or n eh m st e, welches die E m p ir i k e r und R a tio n a lis te n bisher entzweyt und den Skepticismus begrün­ det hat, fällt durch denjenigen Begriff von Vorstel­ lung hinweg, aus dem es sich ergiebt, daß die V or­ stellungen weder aus der Erfahrung geschöpft noch auch angeboren seyn können. Nicht jedes M i ß ­ verständniß, aber doch das vornehmste, wel­ ches die S t o i k e r und Ep ik ur ä e r bisher ent­ zweyt und den Sk ep tic is m u s in der Moral be­ gründet hat, fällt durch denjenigen Begriff von der F r e y h e it des W i l l e n s hinweg, aus dem es

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Lüfter Brief.

sich ergiebt, daß die sittlichen Handlungen weder durch V ernunft noch durch das Streben nach V e r ­ gnügen, weder durch den uneigennützigen noch durch den eigennützigen Trieb, weder als einzeln betrach­ te t, noch auch aus beyden zusammen genommen, a l l e i n hervorgebracht werden können. D e r p h i l o s o p h i s c h b e s t i m mt e B egriff (d e r Grundbegriff) von der Sittlichkeit ist v o r dem p h i l o s o p h i s c h - b e s t i m m t e n Begriffe von dem f r e y e n W i l l e n unmöglich, und dieser letztere setzt die von den Philosophen bisher allgemein vernach­ lässigte Unterscheidung der d r e y v e r s c h i e d e n e n T h a t s a c h e n d e s B e w u ß t s e y n s voraus, die bey jeder eigentlichen Handlung des W illens vor­ kom m en, nämlich: die Unterscheidung der unwillkührlichen Forderung des eigennützigen Triebes von der ebenfalls unwillkührlichen Forderung des unei­ gennützigen, und dieser beyden von der willkührlichen Handlung des Entschlusses. Die philosophisch bestimmte, das heißt, die

a u f ihre letzten G r ü n d e z u r ü c k g e f ü h r t e U n ­ t e r s c h e i d u n g dieser drey Thatsachen, ist nur da­ durch möglich, daß dieselben als verschiedene Fol­ gen verschiedener im menschlichen Gemüthe vorhan­ dener G ründe, oder, welches hier eben so viel heißt, als Aeußerungen v e r s c h i e d e n e r V e r m ö g e n d e s G e m ü t h e s , gedacht und erkannt werden, folglich als die Wirkungen erstens des durch

Eilfter B r i e f .

38 $

theoretische Verminst modisiciertcn Triebes nach V ergnügen, z w e r t e n S der praktischen V ernunft, d r i t t e n s der F reih eit, oder des V erm ögens der W illkühr. D urch den g e m e i n e n u n d g e f u n d e n V e r s t a n d denkt man sich unter diesen drey V e r­ mögen nichts weiter, als die in der S eele wirksamen Ursachen der drey verschiedenen Thatsachen, die man durch b l o ß e aber k l a r e G e f ü h l e kennt, ohne daß man einer weitern Rechenschaft über die F r a g e : W o r i n jene Ursachen beständen? bedürftig oder fähig wäre. M a n unterscheidet durch die Evidenz des G efühls die F o r d e r u n g e n d e s G e w i s s e n s von den F o r d e r u n g e n d e r E i g e n l i e b e , das w as m an thun soll oder d a r f , von dem w as uns zu thun oder zu lasten g e l ü s t e t , und ist sich bew ußt, daß es nur a u f u n s se lb st a n k o m m e , entweder das w as m an soll oder d a r f , oder aber was einem g e l ü s t e t , zu thun o d e r zu lasten. M a n unterscheidet folglich klar genug die Freyheit des W illens von den Aussprüchen des Gewissens, und von den Antrieben durch N eigun­ gen und Begierden. Diese Ueberzeugung des ge­ meinen und gesunden V erstandes ist w a h r , in wie ferne sie durch richtige Gefühle bewirkt und geleitet wird. D ie gänzliche Unbekanntschaft m it den U r­ sachen dieser G efühle, und das Unvermögen diesel­ ben zu untersuchen, schützt gegen diejenigen I r r th ü ­ m er, durch welche jene g e f ü h l t e n T h a t s a c h e n LmnhoidS Dr. a. Bd. E b

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Eilfter Brief.

unter einander vermengt, und ihr Unterschied für eine bloße Täuschung gehalten werden konnie. Die philosophierende V e r n u n f t gegen vermengt jene drey Thatsachen, so lange ii; B e g r i f f e von den Gründen, oder den Vermögen, woraus sie sich dieselben zu erklären strebt, nicht durchgängig bestimmt sind, und Merkmale enthal­ ten, durch welche jene Vermögen unter einander ver­ mengt sind. So lange es der philosophierenden Vernunft noch nicht gelungen ist, die F r e y h e it des W i l lens als ein besonderes Grundvermögen des Ge­ müthes von der Wirksamkeit sowohl des eigennützi­ gen als auch des uneigennützigen Triebes zu unter­ scheiden : so lange ist sie auch genöthigt, die Thatsache der willkührlichen Selbstbestimmung entweder mit der Thatsache der Forderung des eigennützigen oder mit der Thatsache der Forderung des uneigennützigen Triebes zu verwechseln, und eben darum in beyden Fällen einen unrichtigen Begriff von W i l l e n aufzustellen. Dieses war bey allen Systemen der bisher« gen Philosophie der Fall, und ist cs auch noch bey der Vorstellungsart derjenigen Freunde der kritischen Philosophie, welche das Vermögen der Freyheit des Willens in der praktischen Vernunft aufsuchen, eben darum die Thatsache der Selbstbestimmung für die Thatsache der Forderung des uneigennützigen

Eilftcr Brief.

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Triebes halten, und dieselbe nur bey den sittlichen H andlungen für ein wirkliches Faktum , bei) den un. sittlichen aber für eine bloße Täuschung erklären müssen. S ie stellen eine neue Modifikation des S t o i c i s m u s au f, der nur dem Tugendhaften oder d e m .W e is e n die F r e y h e i t einräumte. E s sind nur genau so viele wesentlich verschiedene Grundbegriffe von der Sittlichkeit möglich, als sich Verwechselungen der beym Zustande des W o l­ iens wirksamen Verm ögen des G em üthes mit der Freyheit denken lassen. D ie Freyheit kann nur entweder mit dem uneigennützigen oder m it dem eigennützigen Triebe verwechselt werden. D ie eine Verwechselung giebt den S t o i c i s m u s , die a n . dere den E p i k u r i s m u ö . Beyden System en fehlte es an demjenigen M erkm ale, durch welches sich das W o l l e n von dem u n w i l l k ü h r l i c h e n B e g e h r e n unterscheibet. I n beyden wurde das bloß sinnliche instinkt­ artige Begehren das u n v e r n ü n f t i g e W o l l e n genannt, während unter dem v e r n ü n f t i g e n W o l l e n von dem Stoiker nichts als die W irkung der p r a k t i s c h e n V e r n u n f t , und von dem E p i­ kuräer nichts als W irkung des durch theoretische V ernunft modificierten Triebes nach V ergnügen verstanden wurde. D e r S to icism u s legte die Thatsache der F o r­ derung des uneigennützigen, der Epikurismuö die

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Cilftcr Brief.

Thatsache der Forderung des eigennützigen Triebes zum Grunde. Jedes dieser Systeme ging von einer und zwar nur von Einer der unwillkürlichen Forde­ rungen aus, die bey jedem eigentlichen Wollen vor­ kommen, die sich aber nur durch den richtigen B e­ griff von der Freyheit, der in beyden Systemen fehlte, vereinigen lassen. Jedes stritt für seine Grundwahrheit, die es der Grundwahrheit des an­ dern durch ein gemeinschaftliches Mißversiandmß entgegen zu sehen genüthiget war. Der Stoiker Verkannte die Forderung des durch theoretische Ver­ nunft modificierten eigennützigen Triebes, die er für die Forderung des uneigennützigen hielt, und der Epikuräer die Forderung des uneigennützigen, an deren Stelle er die Forderung des durch theoretische Vernunft modistcierten eigennützigen setzte. Der eine verdrängte durch das Gesetz der praktischen Ver­ nunft das Naturgesetz des durch Denkkraft geleiteten Triebes nach Vergnügen, der andere dieses durch jenes. Beyde Systeme sind so sehr einander entge­ gen gesetzt, als die beyden Triebe, die das einsei­ tige Thema ihrer Untersuchungen ausmachten. Weder in dem stoischen noch in dem epikuri­ schen Grundbegriffe von der Sittlichkeit konnten die beyden Grundtricbe der menschlichen Natur auf eine andere Weise gedacht werden, als dadurch, dasi man den einen an die Stelle des andern fetzte. I n keiner von diesen beyden Vorstellungsarten wurde die Handlung der willkührlichen Selbstbestimmung von

Eilfter Brief.

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den W irkungen der benden Triebe unterschieden. D ie sittliche Handlung musste daher entweder als die blosse W irkung der praktischen V ern u n ft, das ist, des uneigennützigen den eigennützigen nicht lei­ tenden, sondern unterdrückenden Triebes, oder aber als die bloße W irkung des durch theoretische V e r­ nunft modifkierten S treb en s nach V ergnügen, das ist des eigennützigen durch Denkkraft sich selbst lei­ tenden Triebes gedacht werden. D em S toiker konnte keine Befriedigung des eigennützigen Triebes denkbar seyn, welche s ittlic h , und dem Epikuräer keine sittliche H andlung, welche nicht bloße B efrie­ digung des eigennützigen Triebes gewesen wäre. Findet beym Zustande des W ollens keine von den W irkungen der beyden Triebe verschiedene und unabhängige Handlung der Freyheit S t a t t , so ist alles W ollen, folglich auch das sittliche, bloße Aeuße­ rung entweder des uneigennützigen oder des eigen­ nützigen, aber immer des u n w i l l k ü h r l i c h e n B e ­ g e h r e n s , und das Sittengesetz ist ein bloßes N a ­ turgesetz , das durch eine unvermeidliche N othw en­ digkeit erfüllt w ird. D ie S i t t l i c h k e i t besieht dann im S t o i c i s m u s in Rücksicht auf die ver­ nünftige N atur in einer unwillkührlichen M ißbilli­ gring aller Forderungen des eigennützigen Triebes, und in Rücksicht au f die sinnliche N a tu r in der Gleichgültigkeit gegen V ergnügen und Schm erz; die U n s i t t l i c h k e i t aber in dem M ang el an dieser Gleichgültigkeit, der aus der Schw äche der über den

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Eilfter Brief.

Werth der sinnlichen Objekte unrichtig urtheilenden Vernunft erfolgt. Im E p i k u r i s m u s hingegen besteht die S i t t l i c h k e i t in der unwillkührlicbcn durch Lust und Unlust bestimmten Geschäftigkeit der Vernunft, die Angelegenheiten des Triebes noch Vergnügen zu ordnen, und in der Geschmeidigkeit dieses Triebes sich durch Raisonnements lenken zu lasten; die Unsittlichkeit aber, im bloßen Mangel an Klugheit, der aus der Schwache der Vernunft, und aus der übermäßigen Reißbarkeit oder Stumpf, heit der Organe erfolgt. Der richtige Begriff von dem vollständi. gen Objekte des sittlichen Willens, dem ga nz e n Gut e des Menschen (das man unrichtig das höchste genannt hat), ist nur durch einen richtigen Begriff vom W i l l e n möglich, und war daher im Stoicismus sowohl als im Epikurismus unmöglich. Gleichwie dieses ganze G u t nur in der Befrie. digung beyder Triebe der menschlichen Natur be. stehen kann, so setzt der richtige Begriff von dem. selben einen Begriff vom Willen voraus, in welchem nicht nur keiner dieser Triebe den andern aufhebt, sondern vielmehr der eine sich ohne den andern nicht denken läßt, einen Begriff, an welchem cs aller bis­ herigen Philosophie gefehlt hat. Sowohl der Stoiker als Epikuräer nahmen nur Einen vcn den beyden Trieben, die beym Zu­ stande des Wollens geschäftig sind, und deren Aeuße«

Eilfter Brief.

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rungcn nur durch Frenbeit zur Triebfeder der W il­ lenshandlung erhoben werden können, für den sitt­ lichen W illen selbst, und beyde nahmen nur E i n e s der b e y d e n Objekte dieser T riebe, au s deren Wer» etnigung das ganze Objekt des sittlichen W illens be­ g e h t, für dieses G a n z e selb st. D ie Aufmerksamkeit des S to ik ers w ar einzig m it demjenigen Theile des von ihm verkannten gan­ zen G utes beschäftiget, aus welchen der uneigen­ nützige Trieb gerichtet ist. E r entdeckte daher auch von diesem Theile so viel W a h re s, als sich an dem­ selben ohne Rücksicht au f sein richtiges V erhältniß zu dem andern Theile entdecken läßt. E r sehte den Charakter der Sittlichkeit in den wesentlichen Unterschied zwischen dem A n s tä n d ig e n und N ü tz ­ lic h e n , dem a n sich se lb st B e g e h r u n g s w e r ­ th e n , und d e m a n sich se lb s t G l e i c h g ü l t i ­ g e n , dem w a h r e n und s c h e in b a r e n G u t e n , und das W esen der Tugend in ihre Abhängigkeit von der bloßen V ernunft, und in ihre U nabhängig­ keit von der Sinnlichkeit. D ie Aufmerksamkeit des E pikuräers w ar ein­ zig mit demjenigen Theile des von ihm verkannten ganzen G utes beschäftiget, auf welchen der eigen­ nützige Trieb gerichtet ist. E r entdeckte daher auch von diesem Theile so viel W ahres, als sich an dem­ selben ohne Rücksicht au f sein richtiges V erhältniß zu dem andern Theile entdecken laßt. E r fand,

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Eilfter

Brief.

daß sich Glückseligkeit nur als die durch Vernunft veranstaltete Befriedigung des Triebes nach V er­ gnügen denken laste, daß dieser Trieb ein Grundtrieb der menschlichen Natur sey, und daß also seine Be­ friedigung von der Vernunft nicht nur gebilliger, sondern sogar nothwendig befunden werden müsse, daß es zwischen dem Anständigen und dem wahrhaft Nützlichen keinen Unterschied geben könne, und daß die sittliche Handlung als Handlung des vernünfti­ gen Begehrens das vornehmste M i t t e l zur Glück­ seligkeit sey. Beyde verkannten das Verhältniß zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit. Der Stoiker setzte die Sittlichkeit an die Stelle der Glückseligkeit. Er fand die erstere allein des Namens der letztem wür­ dig, erklärte sie nicht nur für das höchste, sondern sogar für das einzige wahre G u t , und sehte alle Gegenstände der Befriedigung des eigennützigen Triebes unter die bloßen Scheingüter, die nur in so ferne Werth erhalten könnten, als sie der ver­ nünftigen Natur Gelegenheit gäben, sie zu verachten. Er schloß aus seinen: Begriffe von Glückseligkeit allen sinnlichen Genuß aus, und nahm nichts als die Zufriedenheit, die aus dem Verstummen der unterdrückten Neigungen und aus dem Bewußtseyn des sittlichen Werthes entspringt, in dieselbe auf. Der Epikuräer setzte die Glückseligkeit au die Stelle der Sittlichkeit. Er erklärte die Glückse­ ligkeit für das höchste Gut, das heißt für dasje-

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niqe, welches allen übrigen Dingen, und folglich euch denHandlungen des vernünftigen Willens, allem den Rang wahrer Güter zu ertheilen fähig wäre, und dem folglich auch die Tugend als Mittel zu fei« nem Zwecke untergeordnet seyn müßte. Er schloß daher aus seinem Begriffe von Sittlichkeit alles aus, was sich nicht aus dem Streben nach Vergnügen und dem Abscheu vor Mißvergnügen begreifen läßt, und nahm in denselben alles auf, was sich als M it­ tel des mannigfaltigsten, innigsten und dauerhafte­ sten Genusses denken läßt. Nach der stoischen Vorstellungsart konnte keine Aeußerung des sinnlichen Triebes durch eine Handlung der Vernunft — und nach der epikuri­ schen keine Handlung der Vernunft anders als durch Aeußerung des sinnlichen Triebes zum Range der Sittlichkeit erhoben werden. Die Vernunft konnte in dem einen Systeme nur durch sich selbst, in dem andern nur durch S in n lic h k e it zur Glück­ seligkeit führen, und ihre beseligende Kraft konnte in dem einen durch Si nnlichkeit nur aufgeho­ ben, in dem andern aber nur allein aus derselben geschöpft werden. Da der Einfluß, den der S to i k e r dem eigennützigen Triebe bey der Sittlichkeit einräumte, bloß negativ ist, und die Funktion, die diesem Triebe bey einer sittlichen Handlung zukommen sollte, lediglich darin besteht, sich durch den uneigen-

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nützigen zurückweisen zu lassen, so konnte in tue fern Systeme keine andere A r t von P f l i c h t S ta t t finden, als diejenige, welche in der N o t h ­ w e n d i g k e i t bes ie ht, sich von den B e ­ f r i e d i g u n g e n des ei ge n n ü t z i g e n T r i e b e s z u e n t h a l t e n , die dem G esetz des u n e i ­ gennützigen widersprechen. Wirklich er­ kannte der Stoicism us keine andern Pflichten für mo r a l i s c h , als die, welche man unter dem Namen der v o l l k o m m e n e n begreift. Diese allein wur­ den von ihm unter die um ihrer selbst willen begehrungSwerthen D inge, unter die wahren Güter, ge­ zahlt, die u n v o l l k o m m e n e n Pflichten hingegen unter die gleichgültigen Dinge und bloßen Scheinguter verwiesen. S o rein und gesund daher die stoische Sittenlehre in Rücksicht auf die P f l i c h ­ t e n d e r . G e r e c h t i g k e i t , d. H. in Rücksicht auf diejenigen Pflichten w ar, welche die Enthaltung von den Befriedigungen gebiethen, die dem prakti­ schen Gesetze wirklich unmittelbar und ohne Aus­ nahme widersprechen, so unrein und schwärmerisch w ar sie in Rücksicht auf die Pflichten der S e l b stli e be und der W o h l t h ä t i g k e i t , in denen sie die durch das Gesetz des uneigennützigen Triebes be ­ stimmte Nothwendigkeit der B e f r i e d i g u n g des eigennützigen in uns selbst und in andern Menschen — und in Rücksicht auf die e r l a u b t e n Genüsse, in denen sie die durch jenes Gesetz mögliche, und in so ferne rechtmäßige Befriedigung des eigennützigen Triebes verkannte. S ie war gcnbthiget, den u n-

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vollkommenen Pflichten und Rechten den Charakter der Sittlichkeit zu rauben, um mit demsel­ ben die vollkommenen ausstatten zu können. D a der E p i k u r ä e r dem eigennützigen Triebe bey der Sittlichkeit keinen andern als einen positiven E i n f l u ß einräumte, da er die Funk­ tion dieses Triebes bey allen sittlichen Handlungen in der Bestätigung und Ausführung der Vorschriften der Vernunft bestehen ließ: so konnte er auch in sei­ nem Systeme keine andere Art von Pflichten auf­ stellen, als diejenige, welche in der N o t h ­ wendigkeit der B e f r i e d i g u n g des eigen­ nützigen T r i e b e s besteht. Daher mußten die unvollkommenen Pflichten im Epikurismus an die Stelle der vollkommenen treten, und den Rang nicht nur der ersten, sondern in so ferne auch der einzigen Pflichten einnehmen, in wie ferne die Pflichten der Gerechtigkeit unter die Pflichten der Selbstliebe und der Wohlthätigkeiten gezählt, und nur als eine Art derselben, wie diese, von den selbstischen und sympathetischen Neigungen abgeleitet wurden. S o wenig daher der epikuri­ schen Sittenlehre in Rücksicht auf die nothwendigen und vernunftmäßigen B e f r i e d i g u n g e n des Triebes nach Vergnügen, die in den Pflichten der Selbstliebe und des Wohlwollens vorkommen, ma­ te ri el l e Wahrheit abgesprochen werden kann: so durchgängig ist ihre Lehre von der G er echti gkei t verwerflich, und diese vollkommene Pflicht, die

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El'lftcr B r i e f .

sich durchaus nicht als Nothwendigkeit einer Befrie­ digung des eigennützigen Triebes, die sich nur als eine durch keinen Nutzen zu vergütende, jede Aus­ sicht auf Nutzen ausschließende Nothwendigkeit der N ic h tb e fri e d ig u n g denken laßt, ist durch den Epikurismus sogar in ihrem ganzen Objekte ver­ kannt worden. Der Charakter der Gerechtigkeit wird gänzlich aufgehoben, wenn man ihre Noth­ wendigkeit von was immer für einer selbstischen oder sympathetischen Neigung ableitet. Diese große Wahrheit kann nicht oft genug wiederhohlt, nicht tief genug eingeprägt werden, da leider! der bey weitem größte Theil unsrer Sittenlehrer auf den Kathedern und Kanzeln in der mit der Glückselig, ktitölehre verwechselten Moral von keinem andern Ursprung der Gerechtigkeit wissen will. So weit ist dieses aufgeklärte Zeitalter in derjenigen Wissen, schaft zurück, die von den Aufklärern selbst bey je­ der Gelegenheit als die unentbehrlichste, wichtigste, leichteste und vollendetste gepriesen wird. Da das nächste unmittelbare und eigentliche Objekt des Sittengesetzes die bloße Handlung des W i l l e n s ist, diese aber in der Selbstbestim­ mung der Person entweder zur B e f r i e ­ digung oder Nichtb efrie digu ng einer Ford erung des eigennützigen Triebes be­ steht: so hat dieser Trieb auf das Objekt des Sit» tengefetzes einen wesentlichen, das heißt einen sol­ chen Eiustuß, ohne welchen sich -'eder das Sitten-

( St i f t er B r i e f .

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gesetz selbst, noch w as im m er für eine sittliche Hand« lung denken laßt. Dieser Einfluß ist n e g a t i v , wo das Gesetz Nichebeftiedigung, poft i v , wo dasselbe Befriedigung des eigennützige» Triebes noth« wendig macht; das eine findet bey den v o l l k o m ­ m e n e n , das andere bey den u n v o l l k o m m e n e n Pflichten S ta tt. D a die S toiker allen p o s i t i v e n Einfluß des eigennützigen Triebes auf die sittlichen Handlungen laugnecen; so konnte es für sie kein anderes Objekt des sittlichen W illens geben, als welches sich au s dem uneigennützigen Triebe allein begreifen läßt — das bloße Gesetz der V ernunft, und durchaus keine andere A rt von Anwendung dieses Gesetzes, als das Zurückweisen der Forderungen des eigennützigen T rie­ b es, und nur eine e i n z i g e T u g e n d , die ihren C harakter und W erth nicht durch die S tä rk e und Beschaffenheit der N eigungen, die durch sie be­ herrscht, und nicht durch die Folgen für das W o h l­ befinden, die durch sie erzeugt werden, sondern a l l e i n durch ihren Ursprung aus der unveränder­ lichen V ernunft erhält. D ie verschiedenen Aeuße­ rungen der vernünftigen N a tu r , welche m an durch die Benennungen b e s o n d e r e r T u g e n d e n von einander unterscheidet, sind in der stoischen V orstel­ lungsart von einander unzertrennlich. D ie V e r­ nunft bleibt immer sich selbst gleich, sie kann sich in keinem Falle zuwider handeln, und der W e is e , in dessen Person sie einmal ihre Wirksamkeit äußert.

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besitzt a lle T u g e n d e n , und der Unweise, der ihr einmal zuwider handelt, a lle la s ie r . Da weder d,e Uebereinstimmung noch der Widerspruch m it der V ernunft G r a d e zulassen, so find auch alle Tugenden und alle lasier, deren W esin in die­ ser Uebereinstimmung und diesem Widerspruche be­ sieht, an innerem W erth unter einander v ö l l i g g le ic h . In d e m die Epikuräer bey den sittlichen H and­ lungen keinen andern als einen p o s itiv e n Einfluß des eigennützigen Triebes anerkannten, so mußten sich in ihrem System e jo v ie le r le y A r te n d e r S i t t l i c h k e i t denken lassen, als es Modifikatio­ nen der Empfänglichkeit von Lust und Unlust durch O rganisation, Tem peram ent, Erziehung, Glücks­ umstände u. s. w . giebt. D ie den eigennützigen T rieb bloß um seiner selbst willen leitende Denkkrast ist in ihren Vorschriften auf bloße Befriedigungen dieses Triebes eingeschränkt, und da diese B efriedi­ gungen sowohl als die Forderungen, die ihnen zum G runde liegen, von äußeren, zufälligen und von der V ernunft unabhängigen Umständen abhängen, so m uß sich die V ernunft bei, der sittlichen Gesetzge­ bung nach diesen Umständen richten. D a s höchste G e se tz also, unter welchem alle sittlichen V erschaf­ fen stehen, und durch welches alle ihre G rltigkeit und Anwendbarkeit erhalten, wird durch den g r ö ß ­ te n m ö g lic h e n V o r t h e i l bestimmt, der sich a u s der jeweiligen äußeren und inneren Lace einer Person ziehen lä ß t, und der so verschieden und so

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veränderlich ist, als diese Lage selbst. Die ge­ rühmte Treue gegen die Forderungen der N a t u r , die von dem Epikuräer als das unveränderliche und feste Princip seiner Moral an­ gegeben wird, läßt sich daher nur als die fortwäh­ rende Veränderlichkeit des sittlichen Charakters, als sklavische Nachgiebigkeit gegen die Launen des Schick­ sals, lind als ununterbrochene Aufmerksamkeit auf das Interesse des gegenwärtigen Augenblickes den­ ken. Diesem Princip zu Folge kann die sittliche Gesinnung entweder nur in der ängstlichen und schlauen Politik bestehen, welche die Kräfte des Gemüthes und die Zeit des Genusses durch peinliche Berechnung der Folgen jeder Handlung, und durch vergebliche Anstrengungen Zufälle vorherzusehen, verschwendet, oder in dem durch Ucberdruß von ei­ ner Klugheit, die das Leben so sauer macht, her­ vorgebrachten Entschlüsse, die Absichten der Natur nicht durch Raisonnements, sondern durch Gefühle allein auszuspähen, lediglich auf die Stimme der Lust und Unlust zu horchen, und dem sogenannten Herzen in A l l e m seinen W i l l e n zu thun. So wurde im Stoicismus die Unabhängigkeit der praktischen Vernunft von dem eigennützigen Triebe bey der sittlichen Gesetzgebung auf die A n ­ wendung des Gesetzes, und im Epikurismus die Abhängigkeit der Person von dem eigennützigen Triebe in der Anwendung des Gesetzes a u f die

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E ilfc e r

B r ie

s.

Gesetzgebung selbst ausgedehnt, und das Gesetz des Willens verlor in dem einen Syste­ me seine Anwendbarkeit für alle diejenigen Falle, wo sich dieselbe nicht ohne positiven Ein­ fluß des eigennützigen Triebes denken lütn, und in dem andern nicht nur seine V e r b in d li c h ­ keit für alle Falle, wo das Gesetz die Forde, rungen des eigennützigen Triebes schlechterdings zurückweiset, sondern auch seine S i t t l i c h k e i t in denjenigen, wo es diese Forderungen begünstiget. Bey keiner andern Aeußerung des morali­ schen Gefühls kündiget sich die Thatsache der Ford erun g des uneigennützigen Triebes fb augenscheinlich und so sehr in ihrem eigenthümli­ chen Lichte an, als bey dem Bewußtseyn der vollkommenen P f l i c h t , wo der uneigennützige Trieb die Herrschaft, die ihm über den eigennützi­ gen im Zustande des Wollens zukommt, am be­ stimmtesten, und zwar dadurch äußert, daß er die, seinem Gesetze widersprechende Befriedigung des letz, fern geradezu abweiset, und Nichtbefriedigung ge­ biethet, während dieser auf Befriedigung dringt. Der gerechte Wille macht hier den Anspruch des einzigen Gesetzes gegen alle Ansprüche der Selbst­ liebe und der Sympathie geltend. Da hingegen beym Bewußtseyn der unvollkommenen P fl i c h te n , wo die praktische Vernunft B e f r i e ­ digung entweder der selbstischen oder der sympa­ thetischen Neigung nothwendig macht, der «nei­ gen-

EiIstcr Bri ef.

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gennützige Trieb die Forderung des eigennützigen sanktioniert, und das Gesetz der Freyheil mit dem Triebe nach Vergnügen Hand in Hand geht, — P f l i c h t und N e i g u n g sich gleichsam in einander verlieren. Hieraus begreift es sich, wie es zuging, daß der Stoiker das E i g e n t h ü m ­ liche der evidentesten Forderung des unei­ gennützigen Triebes zum allgemeinen Charakter der Forderungen dieses Triebes überhaupt erhob, daß er den ganzen Charakter der Sittlichkeit in dem Eigenthümlichen der Gerechtigkeit aufsuchte, und daß seine Sittenlehre in Rücksicht auf die vollkom­ menen Pflichten eben so richtig, als in Rücksicht auf die unvollkommenen unrichtig war. Die N ic h t­ befriedigung des eigennützigen Triebes ist der Menschlichen Natur bey den Pflichten der Gerech­ tigkeit eben so sehr angemessen, als sie derselben bey den Pflichten der Selbstliebe und des Wohlwollens widerspricht, und der uneigennützige Trieb macht in gewissen Fallen die ihm nicht widersprechenden B efriedigungen des eigennützigen eben so noth­ wendig, als er die ihm widersprechenden in andern Fällen unmöglich macht. Die Beschuldigung, welche dem Stoiker durch den Epikuräer gemacht w ird, daß seine Lehre der menschlichen Natur Un­ möglichkeiten zumuthe, würde daher vollkommen ge­ gründet seyn, wenn sie sich auf denjenigen Theil die­ ser Lehre einschränkte, der den erlaubten und gebo­ thenen Befriedigungen des eigennützigen Triebes die Sittlichkeit absprach, und wenn sie nicht diese BeRetnholds Dr. 2. D.

Cc

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( E l f t e r B r i e f.

ß-iedigungcn durch Gründe in Schuß genommen hatte, durch welche die Sittlichkeit derselben nicht weniger aufgehoben wurde. Allein eben so unrich­ tig wird die stoische Moral von einigen neuern' Philosophen beurtheilt, welche derselben eingestehen, sie habe in dem B i l d e des Weisen, das von ihr ausgestellt wurde, das I d e a l der sittlichen Vollkommenheit geliefert, das zwar dem Menschen in keinen: Zeitpunkte seiner Epistenz völlig erreichbar, dem aber derselbe durch Fortschritte ins Unendliche in seiner unsterblichen Existenz sich anzunähern bestimmt wäre, und es sey an diesem Ideale weiter nichts auszusetzen, als daß es von dem Stoiker mit der in diesem Leben er« reichbaren Sittlichkeit, d. i. mit der wirklichen Tu­ gend, verwechselt worden wäre. Es wird dem Stoi« cismus offenbar zu viel eingeräumt, wenn man sein System der Moralität auch nur als bloßes Ideal für wahr und richtig erklärt, so wie demselben offen, bar zu nahe getreten wird, wenn man denjenigen Theil dieses Systemes, der die bloße Gerech tig. keit betrifft, ein unerreichbares Ideal nennt. Was der Stoiker für die Gerechtigkeit fordert, ist nicht mehr und nicht weniger, als was jeder Rechtschaffene durch das sittliche Gefühl sich selbst zumulhen soll, und wirklich erfüllt. Allein was der stoische B e­ griff von den unvollkommenen Pflichten voraussetzt und behauptet, übersteigt niebt nur alle Kräfte der sinnlichen Natur, sondern widerspricht sogar den

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Gesetzen der vernünftigen; ist nicht nur physisch, sondern auch moralisch unmöglich. Die Thatsache der Forderung des durch Denk kraft modificierten Triebes nach Vergnügen kündiget sich in dem B e­ wußtseyn der Pflichten der Selbstliebe und des Wohlwollens durch das Gefühl unter dem Charakter der Sittlichkeit an. Der uneigennützige Trieb gebiethet in gewissen Fällen die Befriedigung der selbstischen oder der sympa­ thetischen Neigung, und man ist sich dabey der Vernünftigkeit der Richtung bewußt, die der Trieb dabey angenommen hat. Veranlassung genug für den Epikuräer, die Nothwendigkeit der Befrie­ digung des eigennützigen Triebes, die hier aus dem Gesetz des uneigennützigen erfolgt, lediglich in dem eigennützigen selbst aufzusuchen; zu wähnen, daß bey der Erfüllung der Pflichten der Selbstliebe und des Wohlwollens kein anderer Trieb als der nach Vergnü­ gen befriediget werde, und daß die Sittlichkeit, welche diesen Trieb durch ihre Vorschriften nur um eines höheren willen begünstiget, keine andere Vor­ schriften enthalte, als welche derselbe nur um seiner selbst willen annehmen kann. Der Epikuräer trifft an den unvollkommenen Pflichten, die immer durch eine Befriedigung des eigennützigen Triebes entwe­ der in uns selbst oder in andern Menschen erfüllt wer­ den, den Charakter desjenigen Triebes an, den er nach seinem Begriffe von der Vernunft (die er für

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eine bloße Modifikation des Empfindungsverm ögens h a lt) für den einzigen G rundtrieb der menschlichen N a tu r annehmen kann. Selbstliebe und S y m p a ­ thie, als die zwey ursprünglich verschiedenen Aeuße­ rungen des Triebes nach Vergnügen, sind ihm daher die einzigen Quellen aller sittlichen Verbindlichkeit, und folglich auch der Gerechtigkeit. W ährend der S toiker den Befriedigungen dieser beyden ursprüng­ lichen Neigungen den R ang der M o ralität aus einem G runde absprach, durch den alle u n v o l l k o m m e n e P f l i c h t , und alles E r l a u b t e aus seiner M o ra l verbannt werden m ußte, räum te der Epikuräer den­ selben den R ang der M oralität ausschließend und aus einem Grunde ein, durch welchen alle v o l l k o m ­ m e n e P f l i c h t aus seiner M o ra l verdrängt wer­ den m ußte; und wenn sich der Stoiker keine s i t t ­ l i che G ü t e denken konnte, die in der B efriedi­ gung der Selbstliebe und der S y m p ath ie besteht, so konnte sich der Epikuräer keine G e r e c h t i g k e i t denken, die etwas andres als eine solche B efriedi­ gu ngw äre. D ie u n v o l l k o m m e n e Pflicht wurde sowohl von dem S toiker als von dem Epikuräer ver­ kannt: von dem Einen dadurch, daß er in dieser P flicht g a r k e i n e , von dem A ndern, daß er in derselben a l l e Sittlichkeit allein antraf. Allein durch den Stoiker wurde wenigstens die vollkommene Pflicht auf Unkosten der unvollkommenen *gerettet, während durch den Epikuräer der B egriff nicht nur der Gerechtigkeit, sondern selbst der eigentlich sittli­ chen Selbstliebe und des W ohlw ollens, folglich der

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Moralität überhaupt, aufgehoben wurde. Der Stoiker stellte dem Epikuräer einen Begriff von der Moralität entgegen, aus welchem die unvollkom­ menen Pflichten ausgeschlossen waren, die nicht nur ihrer M a t e r i e »ach im epikuräischen Begriffe enthalten waren, sondern in demselben das wesent­ lichste Merkmal ausmachten. Der Epikuräer hin­ gegen stellte dem Stoiker einen Begriff von Morali­ tät entgegen, aus welchem der Charakter der Ge­ rechtigkeit ausgeschlossen war, der in dem stoischen Begriffe für das Wesen der Sittlichkeit selbst galt. Keiner vermochte daher das System des Andern durch seine Angriffe umzustoßen, und keiner den An­ dern durch seine Beweise von seinem Systeme zu überzeugen. Das epikurischeIdeal von derGkückseligkeit ist nicht weniger unrichtig, als das stoi­ sche von der Si tt li c h k e it , ungeachtet nicht zu läugnen ist, daß der Stoiker, in wie ferne er die Gerechtigkeit von dem uneigennützigen Triebe ablei­ tete, von der S i t t l i c h k e i t richtiger als der Epi­ kuräer, und dieser, in wie ferne er Befriedigungen des eigennützigen Triebes behauptete, die von der Vernunft gebothen und gebilligt würden, von der Glückseligkeit richtiger als der Stoiker gedacht habe. Ein völlig richtiger Begriff von Glückselig­ keit setzt einen völlig richtigen Begriff von der S itt­ lichkeit voraus, und dieser ist so lange schlechterdings unmöglich, als man die Sittlichkeit entweder aus dem

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bloßen uneigennützigen, oder aus dem bloßen eigen­ nützigen Triebe begreifen w ill, und folglich das S itkengesetz entweder in seiner M a te r ie , oder in seiner F o r m verkennt. Der Stoiker opferte die Materie dieses Gesetzes der Form, der Epikuräer die Form der Materie auf. Dadurch würde der Eine S itt­ lichkeit ohne Glückseligkeit, der Andere aber Glück, seligkcit ohne Sittlichkeit gewonnen haben, wenn sich diese beyden Objekte der menschlichen Natur von einander abgesondert denken ließen, ohne nickt beyde durch diese Absonderung aufzuheben. Was der Stoiker Glückseligkeit nannte, und in der blo­ ßen Befriedigung des uneigennützigen, und in der N ic htb efr ie dig un g des eigennützigen Triebes bestehen ließ, ist für den gemeinen und gesunden Verstand nicht weniger empörend, als dasjenige, was dem Epikuräer S i t t l i c h k e i t Hieß, und nichts als Befriedigung des eigennützigenTriebes seyn sollte. I n so ferne mußte der gemeine und gesunde Ver­ stand den epikurischen Begriff von Glückseligkeit dem! stoischen, und den stoischen Begriff von S i t tlichkeit dem epikurischen vorziehen, ungeachtet es ihm unmöglich werden müßte, diese Sittlichkeit mit jener Glückseligkeit z» vereinigen. Der mit sich selbst einigen philosophierenden Vernunft ist eine Glück­ seligkeit, die in der bloßen Befriedigung des ei­ gennützigen Triebes, und eine S i t t l i c h k e i t , die in der bloßen Nichtbefriedigung dieses Triebes besteht, so wenig denkbar, als eine (91 liesse l i g f eit, in wel­ cher nichts als Befriedigungen des uneigennützig

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gen T r i e b e s enthalten sind, und eine S i t t l i c h ­ keit, die durchaus nichts von diesem Triebe wissen will. Aus dem w ah re n Begriffe der S i t t l i c h , sei f, in welchem der eigennützige T r i e b die M a t e r i e , der uneigennützige die F o r m des Gesetzes liefert, und die F r e y h e i t den Grund der A u s ü b u n g desselben enthält, ergiebt es sich, daß das Sittengesetz selbst diejenige Glückseligkeit zu su­ chen und zu bewirken gebiethet, welche allein diesen Namen verdient, und welche in denjenigen Befrie­ digungen des eigennützigen Triebes besteht, die durch den uneigennützigen theils gebothen, theils erlaubt sind. D i e se Gl ückseligkeit laßt sich eben so wenig ohne gewisse Nichtbefriedigungen des eigen­ nützigen Triebes, die keineswegs aus dem Interesse desselben erfolgen können, als ohne Befriedigungen, die aus dem bloßen Gesetze des uneigennützigen allein unbegreiflich sind, denken. I n ihrem Begriffe sind sowohl H a n d l u n g en der Gerechtigkeit, bey wel­ chen aller Eigennutz verstummen muß, als G e nüsse durch die selbstischen und sympathetischen Neigungendie durch das Gesetz des uneigennützigen Triebes theils gebothen, theils erlaubt sind, unentbehrlich. S ie ist mit Einem Worte das von den Stoikern und Epikuräern gleich verkannte vollständige G u t , das, in wie ferne es das letzte, nur durch Annäherung ins Unendliche erreichbare Ziel der v e r ei ni gt en T r i e b e der menschlichen Natur ist, das höchste G u t heißen kann.

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Eilfker

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Ungeachtet in der sittlichen Gesinnung der konsequenten Stoiker Selbstliebe und Wohlwol len, so wie in der sittlichen Gesinnung der konse­ quenten Epikuräer die strenge Gerechtigkeit fehlen sollte, und der Eine nach seinem Begriffe von Glück­ seligkeit allen physischen — und der Andere nach dem seinigen allen moralischen Vergnügungen hatte entsagen müssen, so waren gleichwohl nur die wenigsten Stoiker und Epikuräer bis zum Bewußt­ seyn und zur Anerkennung dieser Folgen ihrer Grund, begriffe gelangt. Es ist gleich ungereimt, alle Fol­ gerungen eines Systemes für wirkliche Behauptun­ gen der Anhänger desselben auszugeben, und diese Folgerungen nicht zugeben oder vielmehr nicht sehen zu wollen, weil sie jenen nicht eingeleuchtet haben. Die stoische sowohl als die epikurische Sittenlehre war in dem Verhältnisse mehr oder weniger inkonse­ quent, als in denselben die natürlichen Folgen der unrichtigen B e g r i f f e der philosophierenden Vernunft durch die richtigen den gemeinen und gesunden Verstand leitenden Gefühle mehr oder weniger verborgen, verdrängt und berichtiget wor­ den sind. Der Stoiker huldigte dem vernünftigen Wohlwollen und der wohlgeordneten Selbstliebe, und der Epikuräer der strengen Gerechtigkeit durch M a x i m e n , die ihnen durch ihr moralisches Ge­ fühl den Grundsätzen ihrer Systeme zum Trotze aufgedrungen würden. Der Stoiker zahlte manche pflichtmäßige Handlung der Selbstliebe und des Wohlwollens, zu der ihn das Gewissen aufforderte,

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unter die Pflichten der Gerechtigkeit, und der Epi­ kuräer glaubte durch die Handlungen der Gerechtig­ keit, durch die er sein Gewissen befriedigte, bloß seine selbstischen oder sympathetischen Neigungen be­ friediget zu haben. Der Eine wähnte nichts als seine strenge Pflicht gethan zu haben, auch wenn er mit bloßer Erlaubniß des Gesetzes der Stimme der Neigung gefolgt, und der Andere, der durchaus nichts von strenger Pflicht hören wollte, wähnte, der Vernunft lediglich aus Selbstliebe oder Sympa­ thie gehorcht zu haben, auch wenn er ihr die größ­ ten Opfer dieser Neigungen gebracht hatte. In dem Verhältnisse als die Philosophie der Griechen und Römer durch Geschmack und S i t t e n mehr oder weniger unterstützt wurde, ka­ men auch die natürlichen Folgen des von den Stoi­ kern und Epikuräern verkannten Verhältnisses zwi­ schen dem eigennützigen und dem uneigennützigen Triebe mehr oder weniger zum Vorscheine; und im goldenen Ze ita lt er der griechischen Kultur hatte sowohl die stoische Theorie der Sittlichkeit, als auch die epikurische der Glückseligkeit, einerseits durch das Wahre, was in ihnen durch philosophierende Vernunft aufgestellt, und andererseits durch das Falsche, was aus ihnen durch gemeinen und ge­ sunden Verstand entfernt gehalten würde, diejenige Gestalt angenommen, in welcher sie dem Systeme der mit sich selbst einigen philosophierenden Vernunft am nächsten gekommen sind.

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I n diesen bessern Zeiten hatte sich in die stoische Vorstellungsark von der Sittlichkeit ein zwar unbe­ stimmter, aber nicht ganz unrichtiger B egriff von der­ jenigen Glückseligkeit, die zwar die uneigennützige Gesinnung voraussetzt, aber keineswegs aus dersel­ ben a l l e i n erfolgt — und in die epikurische V o rsieliungsart von der Glückseligkeit ein zwar unbe­ stimmter, aber nicht ganz unrichtiger B egriff der Sittlichkeit, die mehr als bloßes M ittel des W ohl­ befindens ist, e i n g e f u n d e n , ohne daß diese bey­ den Begriffe aus den Principien dieser System e, durch welche sie ausgeschlossen waren, erfolgt wären. E i n r i c h t i g e r e s G e f ü h l überstrahlte durch seine Evidenz d ie u n r i c h t i g e r e n B e g r i f f e von dem eigentlichen Zusammenhange zwischen S i t t ­ lichkeit und Glückseligkeit, und hinderte, daß weder im Stoicism us die Glückseligkeit durch die Verwech­ selung mit der bloßen S ittlichkeit, noch im Epiku­ rism us die Sittlichkeit durch die Unterordnung unter die Glückseligkeit, ganz ausgehoben w urde, wie es durch die C o n s e q u e n z der von unrichtigen P r in ­ cipien ausgehenden philosophierenden V ernunft hätte geschehen müssen. N u r dadurch konnte es dem Epikuräer gelin­ gen, die Tugend in ihrer l i e b e n s w ü r d i g e n , und dem Stoiker — dieselbe in ihrer e h r w ü r ­ d i g e n Gestalt darzustellen; dem E inen, die A n­ sprüche der s i n n l i c h e n , und dem Andern — der v e r n ü n f t i g e n N a t u r aus besondern Gesichts-

Eilfter Brief.

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punkten vorläufig zu beleuchten, und sich einerseits um die A n w e n d b a r k e i t , andererseits um die R e i n h e i t der M o ral unsterbliche Verdienste zu erwerben. D urch eben dieselben V eranlassungen, durch welche der Geschmack und die S itte n bey den G rie­ chen und Röm ern in V erfall geriethen, und die rich­ tigen Gefühle, die den gemeinen und gesunden V e r­ stand geleitet hatten, ausarteten, wurde auch die wohlthätige Inkonsequenz des veredelten S to icism u s und Epikurism us eingeschränkt; die in den G run d­ begriffen dieser System e vorhandenen Keim e des I r rth u m s entwickelten sich ungehindert, und der S t o i c i s m u s ging nach und nach in den M o n a » c h i s m u s , und der E p i k u r i s m u s in den L i b e r ­ t i n i s m u s über. D ie stoische V orstellungsart sank fürs erste in den C y n i s m u s zurück, aus welchem sie einst durch die philosophierende V ernunft und den gesun­ den V erstand des Z e n o emporgehoben w urde, in welchem aber von seinem ersten Ursprünge her die Anlagen des M ö n c h s g e i s t e s enthalten w aren, die nachm als, durch die verdorbene M etaphysik der Neuplatoniker und die ausgeartete Religiosi­ tä t unter den Christen modificiert, genährt und groß­ gezogen, die mystische M o ra l der Kirchenväter und M önche hervorbrachte. D e r Unterschied zwischen der Lehre der Cyni­ k er, die uns L u c i a n aus seinem Zeitalter aufbe­ halten h a t, und der Lehre der M ö n c h e , die sich

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in den Klöstern bis auf den heutigen Tag fortpflanzt, besieht vorzüglich darin, daß die sinnlichen Genüsse von den erstem für etwas Gleichgültiges, von den letztem aber für etwas Böses angesehen wer­ den. Die gebothenen, erlaubten und verbote­ nen Befriedigungen des eigennützigen Triebes werden von beyden in eine und eben dieselbe Klasse, nämlich unter die Dinge gesetzt, die der vernünftigen N a t u r ganz fremde wä­ ren. Die Zügellosigkeit der Cyniker fand in dieser Vorstellungsart den Vorwand, unter welchem sie ihrer rohen Sinnlichkeit — an de­ ren Aeußerungen die vernünftige Natur keinen Antheil, folglich auch keine S chuld hätte — «lles einräumten, was sie gelüstete, während die mystische Reli giosität der Mönche für nöthig erachtete, die unvermeidlichen Befriedi­ gungen der natürlichen Bedürfnisse durch Aufop­ ferung von erlaubten auch wohl selbst gebo­ thenen Genüssen, und durch freywillige Selbst­ peinigungen abzubüßen. Die epikurische Vorstellungsart war tief unter die Cyrenäische Theorie des W o h l ­ lebens herabgesunken, aus welcher sie einst durch die philosophierende Vernunft und den gesunden Verstand des Epikurs emporgehoben worden war. I n dem Zustande des äußersten Verderbnisses der Sitten war die Stimme des durch das sittliche Ge­ fühl sprechenden Gewissens verstummt. Der reiche

Stifter Brief.

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und üppige Römer fand, zumal nach dem Umsturz der Republik, in seiner innern sowohl als äußern Erfahrung die Auslegung und Bestätigung einer Lehre, welche das Vergnügen für das durch die Natur bestimmte letzte Ziel aller menschlichen Hand­ lungen ausgab. Er fand in seinen zügellosen Be­ gierden nichts weiter, als das natürliche Streben nach Glückseligkeit, in der Vervielfältigung und Verfei­ nerung der Wollust — die Vernünftigkeit des Vergnügens, und in den an den Schlachtopfern sei­ nes Muthwillens verübten Ungerechtigkeiten — die Erfüllung der ersten unter allen Pflichten, die Be­ friedigung der aufgeklärten Selbstliebe. Das allgemeine Elend, das den Untergang der römischen Monarchie begleitete, vermochte allein diesen abscheulichen Libertinismus nach und nach aus der herrschenden Vorstellungsart zw verdrängen, und dem Monachismus, als dem andern Extreme, den allgemeinen Eingang vorzubereiten, den derselbe in dem Zeitalter der tiefen Unwissenheit und Barba­ rey, das mit der Völkerwanderung hereinbrach, durch die mißverstandenen Lehren des Christenthums gefunden hat. Im Geiste unsers gegenwärtigen Ze it ­ alters geht der mehr oder weniger mönchische S t o i c i s m u s dem S u p e rn a tu r a li s m u s , und der mehr oder weniger libertinische Epikurism us dem N a tu ra l i s m u s zur Seite.

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Der S u p e rn a tu ra lis t, welcher mit phi­ losophischem Geiste Adel des Herzens, und folglich auch ein lebhaftes sittliches Gefühl verbindet, er­ kennt, zumal in den Pflichten der Gerechtigkeit dis Thatfache der Forderung des uneigennühigen Trie­ bes, weiß sich aber dieselbe nur aus dem übernatür­ lich geoffenbarten Willen Gottes zu erklären. I n seinen Augen ist die unbedingte Nothwendigkeit des Sittengesetzes, das sich von keinem zureichenden Grunde außer dem Gesetze selbst ableiten läßt, das gewisse Merkmal des Ursprungs außerhalb der Na­ tur in der göttlichen Willkühr. Der Unterschied zwischen diesem Gesetze und den Vorschriften des sich durch Denkkraft leitenden eigennützigen Triebes be­ weiset ihm, daß nur die letzter» aus der menschlichen, die erster» aus einer übermenschlichen Vernunft ent­ sprungen seyn können. Je mehr er überzeugt ist, daß die Erfüllung des Sittengesetzes der Zweck der Menschheit, und daß die bloße Befriedigung des eigennützigen Triebes keineswegs der Zweck des S it­ tengesetzes ist, und je weniger er die Vorschriften desselben aus den Naturgesetzen des Begehrens zu begreifen vermag, desto mehr sieht er sich genöthiget, den Zweck der Menschheit, das Sittengesetz, und die Belehrung über dasselbe unmittelbar in der Gott­ heit aufzusuchen. Der supernaturalistische S to ik e r hak mit dem naturalistischen gemein, daß beyde das Sittengesetz für ein Gesetz der dem eigen-

Eilfter B ricf. n u |ig tn Triebe widersprechenden V ernunft halten. Aber sie unterscheiden sich durch ihre Begriffe von der menschlichen oder natürlichen V ern u n ft, unter welcher der S upernaturalist eine ausgeartete und dem eigennützigen Triebe dienstbare, der N aturalist aber eine gesunde, und diesen Trieb durch ihre na­ türliche K raft beherrschende V ernunft versteht. D a ­ her der Eine die Sittlichkeit in der Handlungsweise des W illens nach den geoffenbarten Aussprüchen der g ö t t l i c h e n , der Andere aber — nach den durch sich selbst einleuchtenden Forderungen der mens ch­ l i c h e n V ernunft bestehen läßt. D er n a t u r a l i s t i s c h e E p i k u r ä e r sieht das Naturgesetz des B egehrens für das Gesetz des W illen s, und das unw illkürliche S treb en nach Glückseligkeit für die einzige Quelle der S ittlich ­ keit an. I s t er D o g m a t i k e r , so bestimmt er sein Id e a l von Glückseligkeit, und nach demselben seine Theorie der Sittlichkeit d u rc h B e g r i f f e ; ist er S k e p t i k e r , und verläugnet er nicht allen G lau ­ ben an Pflicht und R echt, so beruft er sich auf u n ­ begreifliche G efühle. Als S p i r i t u a l i s t läßt er das W e s e n der S eele in ihrer K r a f t , die G l ü c k s e l i g k e i t in der größten möglichen Entwick­ lung und Aeußerung der Fähigkeiten dieser K raft, die S i t t l i c h k e i t aber in dem V erm ögen beste­ hen, durch das vorausgesehene V ergnügen, das aus einem solchen Gebrauch der Fähigkeitendes G em üthes geschöpft w ird , zu Handlungen bestimme

E i l f t e r B r i e f. zu werden. — Als M a t e r i a l i s t halt er das Wesen der Seele für die Reitzbarkeitder mensch­ lichen Organisation, die Glückseligkeit für die größte mögliche Menge, Mannigfaltigkeit, Fein­ heit und Stärke angenehmer Sensationen, und die S i t t l i c h k e i t für den gesunden und ungehinderten Zustand des Strebens nach dieser Glückseligkeit. — Als Skeptiker endlich, spricht er allen philoso­ phischen B e g r i f f e n sowohl von dem Wesender Seele, als auch allen auf solche B e g r i f f e ge­ bauten Theorien von Glückseligkeit und Sittlichkeit alle Probehältigkeit ab, und nimmt die durch Lust und Unlust sich ankündigenden Gefühle als die einzigen und letzten Triebfedern aller menschlichen Handlungen, und einen durch diese Gefühle zusam­ men genommen bestimmten Trieb nach Glückseligkeit als den besondern Bestimmungsgrund der sittlichen an. Je nachdem nun sein moralisches Gefühl und die durch seinen Willen gelenkte Aufmerksamkeit auf die in diesem Gefühle vorkommenden That­ sachen mehr oder weniger fest und bestimmt ist, wird er unter die physischen und ästhetischen Gefühle, aus denen er sein Ideal von Glückseligkeit schöpft, mehr oder weniger auch die von beyden verschiedenen sitt­ lichen aufnehmen. So hat der edle, nicht weni­ ger fein und richtig fühlende, als hell und scharf denkende H u m e das Vergnügen, das aus den g emeinnützigen, und das Mißvergnügen, das aus den gemeinschädlichen Handlungen ohne Rück­ sicht auf eigenen Nutzen oder Schaden geschöpft würde.

Eilfler B rie f.

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würde, als eine Thatsache aufgestellt, und in derselben den eigenthümlichen Charakter des sittlichen Willens zu finden geglaubt.

Auf diese Weise hat das moralische Gefühl auch sogar zwischen den beyden einander am meisten entgegen gesetzten Vorstellungsarten — der bog matsch-stoischen, und der skeptischepikurischen — ein Einverstandniß über die Uneigennützigkeit des moralischen V e r ­ gnügens hervorgebracht, welches durch die Un­ einigkeit der philosophierenden Vernunft mit steh selber über die Sittlichkeit, als das Objekt dieses Vergnügens, nicht ganz gehindert und auf­ gehoben werden konnte, und dem es nur an dem richtigen Begriffe von der Freyheit des W il­ lens mangelte, um selbst jener Uneinigkeit, unter den edelgesinnten Selbstdenkern (von denen die M o r a l allein reelle Verbesserungen erwarten kann) auf immer ein Ende zu machen.

ReinholdS Dr. 2. D.

Zwölfter Brief. U eber die ä u ß e r e M ö glichkeit des kü n f­ tigen E in v e rs tä n d n is s e s der S e l b s t d e n ­ k e r ü b e r di e P r i n c i p i e n d e r M o * ralphilosophie. I n h a lt I h r e s letzten B rie fe s, l. F r ., hak meine Hoffnung des künftigen Einverständnisses der Selbstdenker über den bestimmten B egriff von der Freyheit und dem Gesetz des W illens so wenig niedergeschlagen, daß er dieselbe vielmehr bis zur ruhigen E rw artung erhöhet hat. Ic h kann nun nicht mehr besorgen, daß ich die ä u ß e r e n Hinder­ nisse verkenne, welche der allgemeinen Anerkennung und richtigen Anwendung jenes wichtigen B egriffes entgegenstehen. Allein je sorgfältiger ich dieselben aufzähle und abwiege, und je genauer ich sie iit ih­ rem Zusammenhange untersuche, desto weniger fürchte ich sie. Ic h kann mich zwar bey einer Untersuchung, die g e g e n das Schooßkind meines Geistes und Herzens angestellt w ird , nicht für uupartheyisch hal­ ten. Allein je lebendiger ich mir bewußt b in , daß ich lieber das Leben als jette Ueberzeugung aufge­ ben möchte, desto dringender fühle ich mich durch eben dieses Bewußtseyn aufgefordert, der großen und schweren Pflicht getreu zu seyn, welche dem Forscher der W ahrheit gegen seine liebsten G edan­ ken die größte S tren g e gebiethet. D a m ir so viel

Z w ö lf t e r B r ie f. daran gelegen ist, mich hierüber nicht getauscht zu haben, so soll mein gegenwärtiger B rief Sie selbst auffordern und in Stand setzen zu beurtheilen: ob mein Bestreben, in Ihren Einwürfen Wahrheit zu finden, ernsthaft undausrichtig war. Das Resultat meines Versuches Ihren Gründen das größte mög­ liche Gewicht zu geben, mich ganz in Ihren Gefichtspunkt zu versetzen, und Ihre Ueberzeugung ge­ gen mich selbst nicht weniger als die meinige gegen Sie geltend zu machen — ist die folgende Unter­ redung zwischen Ihrer von mir angenommenen Person und mir selbst. Sie. Allenthalben, wo man außer dem W i l l e n Fre yh e it aufsucht, stößt man auf D esp oti sm us oder Anarchie. Die S t o i ­ ker suchten sie in der V e r n u n f t ; da wurde die Vernunft selbst zum Despoten, der alle gerech­ ten und unschuldigen Ansprüche der Begierden und Neigungen niederschlug. Die E p i k u r ä e r glaub­ ten sie in der Lust und Unlust gefunden zu haben, unterwarfen die Vorschriften der Vernunft der Sank­ tion des Triebes nach Vergnügen, und stellten da­ durch Anarchie der Begierden und Neigungen auf. Dieses gilt nicht weniger von der Fre yheit des Denkens, ohne welche sich keine Eintracht der Selbstdenker über was immer für philosophische Principien erwarten läßt. Ich will hier nicht von dem Einflüsse sprechen, den die Vorstellungsarten über Religion auf die Begriffe von der Sittlichkeit

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Zwölfter B r i e f .

haben müssen, und der dadurch, daß der Despotis­ mus des Aberglaubens durch die Anarchie des Un­ glaubens immer mehr verdrängt zu werden scheint, um nichts unbeträchtlicher und unschädlicher werden kann. Ich schweige von der unwillkürlichen, un­ merklichen, aber darum nur um so weniger einge­ schränkten Herrschaft, welche die eigennützigen Stei­ gungen bey der Beurtheilung fremder Gedanken auch über Selbstdenker ausüben, und von der kalten Gleich­ gültigkeit oder dem ekelvollen Abscheu, wovon der größte Theil der denkenden Köpfe gegen die Unter­ suchungen über die letzten Principien eingenommen ist. Ich übergehe die Zügellosigkeit des vorschlich bösen Willens, der auch bey Untersuchungen dieser Art die Denkkraft nach willkürlichen Richtungen mit sich fortreißt. Was dieser bey den wenigen Edelgesinnten nicht vermag, das bewirkt die Unbekanntschafc mit den ursprünglichen nothwendigen und allgemeinen Naturgesetzen des menschlichen Geistes. So lange die philosophierende Vernunft in ihren vornehmsten Repräsentanten über diese Gesetze mit sich selbst uneinig ist, so lange muß sie sich mit V or­ aussetzungen, die einstweilen auf Gerathewohl an­ genommen sind, anstatt allgemein gültiger leitender Principien behelfen, und sich in so ferne vom Zufalle beherrschen lassen. Sie hat der günstigen Laune desselben von Zeit zu Zeit einen außerordentlichen Genius zu danken, der, nachdem er einige herr­ schende Vorurthcile seiner philosophierenden Zeitge­ nossen nach einem harten Kampfe mit denselben bc-

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f,egt h a t, auf eine Zeit lang als der P h i l o s o p h d e s Z e i t a l t e r s anerkannt w ird, und wirklich den Geist desselben solange d e s p o tis c h beherrscht, bis die geistlose Anhänglichkeit an den Buchstaben seiner Formeln endlich zum unerträglichen Joche w ird, und den M angel an gemeinschaftlichen Principien, den systemlosen S y n k retism u s, die wahre A n a r ch i e auf dem Gebiethe der Philosophie herbeyführt. S o steht es m it der in n e r e n Freyheit des D en ­ kens, und mit der ä u ß e r e n , wo möglich, noch schlimmer. W a s kann d ie s e bey einer p o l i t i ­ schen Freyheit seyn, die allenthalben, wo sie vor­ handen seyn soll' entweder nur Freyheit der R egen­ ten, Sklavereyder Unterthanen, D e s p o t i s m u s , oder Freyheit der U nterthanen, Sklaverey der R e ­ genten, A n a r c h i e ist? I c h . I c h gebe Ih n e n zu, daß alle diese A r t e n von Freyheit in so f e r n e nicht vorhanden sind, und nicht vorhanden seyn können, als dieselben jene durchgängig bestimmten B egriffe (ih rer O b­ jekte) voraussehen,-welche ohne Eintracht der S e lb st­ denker über Principien nicht möglich sind. I c h weiß auch, daß die unbestimmten B egriffe, womit m an sich bisher behelfen m ußte, zu den beyden E x­ tremen, zum D espotism us und zur Anarchie, hinleiten. Allein eben diese Extreme haben sich durch eine wohl­ thätige Einrichtung der N a tu r von jeher gegenseitig eingeschränkt, und dadurch alle A rten von Freyheit des Denkens in gewissen zunehmenden G raden ver-

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anlasset. Die philosophierende Vernunft hat dem S t r e i t e zwischen dem EpikurismuS und Stoicismus so viele Unabhängigkeit von diesen beyden einseitigen Vorstellungsarten zu danken, als ihr zu den bisherigen Graden von Gesundheit der Moral nöthig war. Sie hat durch den Wechsel zwischen der Alleinherr­ schaft eines Systemes und dem systemlosen (Synkre­ tismus so vielen Raum gewonnen, als ihr zum Fort­ schreiten von den älteren Einsichten zu den neueren unentbehrlich war, und das in einem immerwähren­ den, bald merklichen, bald unmerklichen Kampfe begriffene Streben nach Despotismus und Anarchie hat die Grade von politischer Freyheit erzeugt, unter deren Begünstigung sie sich auf die ansehnliche Stufe von Ausbildung empor geschwungen hat, auf welcher sie sich gegenwärtig befindet. S . Und wer ist Ihnen Bürge dafür, daß dieser Grad von Ausbildung nicht mit dem Grade von politischer Freyheit, der ihn gegenwärtig begün­ stiget, plötzlich zurück sinke, daß wir nicht durch das Uebermaß des immer weiter um sich greifenden Despotismus, und eine allgemeine Anarchie, die dadurch herbeygeführt wird, in die Zeiten der Wild­ heit und Barbarey zurück geworfen werden? Vorber ei t ende Anstalten der politischen K u l t u r. I. Dafür bürget die gegenwärtige K u l t u r durch ihre Verbreitung über alle Kräfte und Fähig-

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feiten des menschlichen Geistes, über alle noch so ver­ schiedenen Angelegenheiten der M enschheit, und unter so vielen von einander unabhängigen N ationen. S . W enn von der bisherigen K u l t u r gan­ zer N ationen die Rede ist, so kann ich mir nicht viel mehr dabei) denken, als diejenige Entwicklung des sinn­ lichen oder eigennützigen Triebes, die durch die bloße Vervielfältigung und Verfeinerung der Gegenstände desselben bewirkt wird. N icht nur die Künste, auch selbst die Wissenschaften haben bisher nur als Sachen des Luxus ihr Glück gemacht, und selbst unsre phi­ losophischen Schriftsteller spotten über denjenigen aus ihrem M ittel, d e r d ie S i n n l i c h k e i t z u m B e h u f d e r V e r n u n f t , u n d n i c ht di e V e r ­ n u n f t z u m B e h u f der S i n n l i c h k e i t kul­ t i v i e r t w is s e n w ill. D ie F r a n z o s e n habe» es in dieser A rt von K ultur am weitesten gebracht. Keine andere N ation verstand es besser, den Taumelbecher künstlicher W ollust zu bereiten. D a ra u s mußte nun erfolgen, w as in unsern Tagen wirklich erfolgt ist. Diejenige Klasse dieser N a tio n , die sich im Besitz befand, den G e n u ß für ein a u s­ schließendes Vorrecht anzusehen, verlor durch Ueber­ m aß des Genusses das Uebergewicht über die übrigen Klassen, die an dem Taumelbecher fast keinen ande­ ren Antheil hatten, als daß sie für die Zubereitung desselben frohnen mußten, um leben zu können. D er Stum pfsinn der A rm en wurde endlich durch die U n­ besonnenheit der Reichen übertreffen, und die A ri-

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stokraten haben in dem ohnmächtigen Zustande ihrer wollüstigen Trunkenheit den Zügel aus der Hand fallen lassen, an dem sich anderswo zu derselben Zeit Hunderttausende aus ihrem Vaterlands geduldig wegführen ließen, um durch die Sabel der Türken und ansteckende Krankheiten dem g em ei n e n B er­ sten aufgeopfert zu werden. Allein was hat Frank­ reich dadurch gewonnen, daß sein Pöbel nun ohne Zügel herumirrt, und jeder Franzose Souverain seyn will? I. Ob Frankreich durch die R ev o lu ­ t i o n mehr gewonnen oder verloren habe, als Ruß­ land und Oestreich durch den letzten Türken­ krieg, hierüber kann nur die Zukunft entscheiden. Wie immer auch der Erfolg jener großen Weltbege­ benheit für Frankreich selbst ausfallen dürfte, so hat doch wenigstens Europa durch dieselbe eine B e l e h ­ rung erhalten, die eben zur rechten Zeit kam, und deren Augenscheinlichkeit und Nachdruck durch die vereinigten Bemühungen seiner größten Schriftsteller nie zu hoffen gewesen wäre. Wodurch hätte den Regenten diejenige Freyheit, die sie ihren Untertha­ nen nicht verweigern dürfen, und den Unterthanen diejenige Unterwerfung, ohne welche sich keine bür­ gerliche Freyheit denken läßt, näher ans Herz gelegt werden können, als durch das große und mannigfal­ tige Unheil, das sie sowohl aus der Unterdrükk u n g als aus dem Mißbrauche der Freyheit in so auffallenden Thatsachen hervorgehen sehen?

Zw ö l f t e r B r i e f . S . Um diese Lehre aus diesem Beyspiele zu ziehen, müßten die Regenten sowohl als die U n­ terthanen im Ganzen genommen weiser seyn, als sie es auf der gegenwärtigen S tu fe der K ultur und nach ihren B etragen zu urtheilen seyn dürften. F ü r jeht möchte es wohl dabey bewenden bleiben, daß die Einen auf eine Zeit lang b e h u t s a m e r , die A n­ dern m u t h i g e r geworden sind. 3 - Ic h zahle nur auf eben die e i q e n n ü h i ge Klugheit, die S ie unserm Zeitalter so willig ein­ räumen , wenn ich von jener B e h u t s a m k e i t und jenem M u t h e wohlthätige Folgen erwarte. M ir ist die Furchtsamkeit der Regenten und die Herzhaf­ tigkeit der Unterthanen, die dazu gehört, daß b e y d e z u d e n L a n d e s g e s e h e n ihre Zuflucht nehmen, sehr willkommen. Ic h erwarte für jeßt die Erhöhung der politischen Freyheit nur von den ä u ß e r e n U m ­ ständen, durch welche die Regenten und U ntertha­ nen genöthiget werden, die S i c h e r h e i t gegen E m ­ p ö r u n g und U n t e r d r ü c k u n g mehr in dem A n­ sehen der G e s e h e , und in der Aufrechthaltung der K o n s t i t u t i o n e n , als in der S tä rk e ihrer A rm e aufzusuchen. S . Ic h fürchte die S ich erh eit, welche durch diese Konstitutionen gewährt wird. D ie m ei­ sten derselben tragen so sichtbar das Gepräge des Z u f a l l s , der sie während einer noch sehr schwa­ chen D äm m erung der V e r n u n f t gestiftet hat,

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daß sie sich so wenig als die übrigen Werke ihres Ur­ hebers unter Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit bringen lassen. Allein auch der Zufall wirkt nach Naturgesetzen, und seine Werkzeuge bey der Grün­ dung der Staatsverfassungen haben wenigstens in so ferne gleichförmig gehandelt, daß sie sich selbst und ihren Nachkommen die Vorrechte, das heißt, die überwiegende S t ä r k e zusicherten, durch welche bey allen Nationen der kleinere Theil über den größeren den Meister spielt. Daß der Adel und die höhere Geistlichkeit in den meisten Verfassungen ausschließend den Namen der S t a n d e führen, und daß man unter dem Namen der N a ­ t i o n nur sie versteht, befremdet erst seit Kurzem einige philosophische Sonderlinge und Enthusiasten, gegen welche von unsern berühmtesten Rechtsgelehrten und Staatskundigen aus der Geschichte und den Gesetzbüchern bewiesen wird, daß an der ganzen Sache nichts als jene B e fr e m d u n g unrechtmä­ ßig sey. Freylich, seitdem das Recht seine Besitzun­ gen durch das Schwert zu erweitern von den Re­ genten in ausschließenden Besitz genommen ist, seit­ dem durch den Landfrieden die ritterlich en Gewerbe eingeschränkt und die bürgerlichen be­ günstiget sind, ist es endlich demFleiße und den Talen­ ten der arbeitenden Klassen gelungen, sich in ih­ ren wohlhabendem Gliedern Stellen unter den sogenannten Gewahrten zu erringen. Der N a­ me B ü r g e r wurde durch das Prädikat: Reich, einer politischen Bedeutung fähig, und die beyden

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hohen S t a n d e dulden in vielen Landern, sogar in ihren Versammlungen, einen d ritten niedrigen neben sich, der ihren Beschlüssen durch seine Z u ­ stimmung leichteren Eingang beym Volke, durch seine Weigerung aber die Gelegenheit verschafft, sch ihres entscheidenden UebergewichtS erfreuen zu können. I. Daß die höheren S t ä n d e fast allenthalben den Namen und die Rechte der Natio­ nen usurpieren, ist so wenig zu läugnen und zu ent­ schuldigen, als daß die Fürsten das Volk als ihr E i­ genthum, als eine S a ch e, die erobert, erheirathet, vertauscht, und verkauft werden kann, behandeln. Allein eben so wenig würde es zu entschuldigen seyn, daß der d r i t t e S t a n d sich des Namens und der Rechte der Nationen anmaße, weil er die meisten Hände aufzuweisen hat. Bey jedem größeren Volke ist er in seinen untersten Klassen weit mehr durch seine natürliche Unm ündigkeit, als durch die Landesverfassung von allem Antheil an der Regierung ausgeschlossen. Aber auch seine höheren Klassen, die ich durch den Namen des M i t t e l ­ standes unterscheide, haben keine Ursache sich über die Vorzüge der beyden andern Stande zu beklagen. Diese Vorzüge sind in ihrem Ursprünge keineswegs so ungerecht und in ihren Folgen keineswegs so schädlich, als sie von unfern gewöhnlichen Apo­ steln der F re y h e it und Gleichheit ausgerufen werden; und aus dem weltbürgerlichen Ge-

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s i c h t s p u n k t e betrachtet, sind sie sogar die wohl­ thätigen Anstalten, denen E uropa seine höhere K ul­ tu r, und der M i t t e l s t a n d einen ihm bevorste­ henden V o rran g über alle andere zu danken hat. H ierüber muß ich mich freylich bestimmter erklären. B e y der G estalt, welche Europa durch die V ölkerwanderung angenommen h at, und in der die ersten historischen Grundlagen unserer heutigen Staatsverfasiungen aufzusuchen sind, befand sich das Landeigenthum auf eine sehr natürliche A rt a u s­ schließend in d e n H a n d e n de r F ü r s t e n und der sogenannten f r e y e n H e r r e n , und das M in im u m s a p ie n tia e , ohne welches auch ein barbarischer S ta a t nicht wohl bestehen kann — in den K ö p f e n der G e i s t l i c h k e i t . D ie Abkömm­ linge der Eroberer mußten mit dem Schw erte v er­ theidigen, was ihre V orältern mit dem Schw erte erworben hatten. D ie Geistlichen, die H andw er­ ker und die B au ern lebten auf den Ländereyen unter dem S ch uhe des Adels, und der W e h r st a n d w ar nicht nur der e rste und wichtigste, sondern er w ür­ de auch lange der e i n z i g e , den S t a a t konstituirende S ta n d geblieben seyn, wenn er lesen und schrei, ben gekonnt hätte. D ie G e i s t l i c h k e i t , auf welche der L e h r s t a n d , wie der W ehrstand auf den A d e l , eingeschränkt w a r, würde durch ihre überlegenen Einsichten über rohe B arb a re n , die alle G ew alt in ihren Händen hatten, und ihr eige­ nes Schicksal der Entscheidung ihrer physischen

Zwöl ft er Br i ef . Kräfte zu überlassen gewohnt waren, wenig »er« möcht haben, wenn sie nicht mit üb ernatürli­ chem Fluch und Segen ausgerüstet gewesen wäre. Dadurch gelang es ihr, Schiedsrichterin zwischen den bewaffneten und streitsüchtigen Beschern des Lündes, Beschützerin der gedrückten Unterthanen, Stühe der bürgerlichen Ordnung, und nach und nach M i tbesitzerin des Landeigenthums und M itstand der freyen Herren zu werden. Der Ades und die Fürsten traten einen Theil ihrer Besitzungen in der gegenwärtigen Welt gegen Anweisungen auf die zukünftige an die Stellvertreter Gottes ab, und der Wehrstand gab sich auf diese Weise selbst ein politisches Gegengewicht, das seine W illkühr ungefähr eben so einschränkte, als durch ihn selbst die Willkühr der Fürsten eingeschränkt war. Und so war der Nährstand allein, aber gewiß ohne Schuld der beyden andern Stände, von der jandstandschaft ausgeschlossen. Die Geistlich­ keit war zu dieser Theilnehmung an der Macht des Staates auf eine weit unschädlichere Art ge­ langt, alsder Adel; der Bürgerstand nähert sich diesem Ziele auf einem edleren Wege. Die Erfindung des Schießpulvers und der Buchdruckerkunst, und die Entdekkung der neuen Welt haben in den Verhält­ nissen zwischen dem Wehr Lehr* und N ä h r ftande jene wesentlichen Veränderungen veranlas­ set, welche heut zu Tage mit den alten Ueberresten

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Z w ö l f t e r B r i ef.

jener Verhältnisse in unsern StaatSversassungen so allffallend kontrastieren. Das Schießpulver hat fast eben so viel beygetragen, den Adel um die aus­ schließenden Vorrechte des Wehrstandes — als die Buchdruckerkunst — die Geistlichkeit um das Privilegium des Lehrstandes zu bringen, und das Gol d von Amerika war dem Fleiße, der Ge­ schicklichkeit und den Einsichten aufbehalten, zu wel­ chen sich ein Theil des Nährstandes unter der V o r ­ mundschaft der hohem S tä n d e allmählich empor gearbeitet hatte. Während die Pfade, auf welchen diese zu ihrem Eigenthume gelangten, längst und (wie zu hoffen steht) auf immer versperrt sind, erhält die Arbeitsamkeit — die unversiegbare Quelle, woraus jener sein Vermögen zieht— durch (ich selbst immer neue Kräfte. Der Luxus er­ schöpft den Adel lind die höhere Geistlichkeit, wäh­ rend er Fabrikanten und Kaufleute bereichert, und der Handel ist im Begriff dem Mittelstände, als dem natürlichen Repräsentanten des Nährsiandes, nach und nach ein Ei genthum zu verschaffen, das seine Ansprüche auf den Rang eines konstituirenden Theils der Nationen endlich über alle Zwei­ fel erheben wird. S . Die Zweifel des Adels lind der hohem Geistlichkeit dürften sich gleichwohl kaum auf eine andere Art auflösen lassen, als auf die neueste der Franzosen.

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I . So lange dieses wirklich der Fall seyn wird, so lange sind auch jene Ansprüche des M ittel­ standes noch bey weitem nicht reif genug. Er weiß selbst nicht was er will, wenn er stch, um die hohem Stände zu unterdrücken, entweder dem Pöbel oder den Fürsten in die Arme wirft. D urch Gewalt wird er sich nie anders, als zu seinem eigenen Nachtheile, der Vormundschaft ent­ ziehen können, in welche ihn zwar nicht die höhere Vernunft, aber doch auch eben so wenig die bloße Willkühr der hohem Stände, sondern der natür­ liche Gang der Weltbegebenheiten verseht hat. I n manchen Ländern Europa's befindet er sich noch im Stand« der Kindheit, hat bisjeht weder Eigenthum noch Kultur genug errungen, um auch nur als d ri tter S t a n d neben den beyden erster» auftreten zu können; und dort, wo er bereits als muthiger J ü n g l i n g erscheint, hat er sich (im Ganzen ge­ nommen) zu einem Grade von Wohlstand und Auf­ klärung empor geschwungen, der ihm den Druck jener Vormundschaft, ohne welchen er nie so weit gekom­ men wäre, theils erleichtert, theils weniger fühlen läßt. Die Naturnothwendigkeit hat ihn in seinen Vorfahren einer gesetzmäßigen Abhängig­ keit unterworfen, welche nur durch V e r n u n f t nach und nach in gesetzmäßige Freyheit um­ geschaffen werden kann. Allein auch die Vernunft vermag dieses nur in so ferne, als sie sich derjenigen Erkenntniß ihrer selbst nähert, die zur Selbstbeherrschung unentbehrlich ist, und

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S t i f t e r Bvi ef .

welche allein die fre m d e A u fs ic h t entbehrlich macht. D e r M ittelstand muß sich durch innere K ra ft des Geistes M ündigkeit und äußere F r e i­ heit erringen, wobey ihm durch äußere Umstände fein Geschäft erleichtert oder erschwert, keineswegs e r s p a r t , aber auch (so viel sich aus dem gegen­ wärtigen Zustande von E uropa schließen läßt) nie wieder eingestellt werden kann. D ie berühmte Frey­ heit der Griechen und Röm er w ar nichts weniger als M ü n d ig k e it. D e r Zufall hatte mehr als die V ernunft für sie gethan, und als jener, w as er geliehen hatte, wieder zurück nahm , sanken die Lehrer und Beherrscher der Menschheit zu dem äußern Schicksal und zu den Gesinnungen armseliger S k la ­ ven herunter. Ic h sehe den Adel und die Geistlich­ keit als Werkzeuge der Naturnothwendigkeit, oder vielmehr der durch Naturnothwendigkeit waltenden V o r s e h u n g , bey der E r z i e h u n g des M i t ­ t e l s t a n d e s , als derjenigen Klasse der Menschen a n , in welcher und durch welche die Menschheit in E uropa den Zustand ihrer M ündigkeit beginnen soll. D ie W e r k z e u g e der N a t u r n o t h w e n d i g k e i t bey diesem Erziehungsgeschäfte konnten und durften freylich noch nicht selbst mündig seyn; aber dieß können und sollen die künftigen W e r k z e u g e d e r V e r n u n f t beym Erziehungsgeschäfte der übrigen Menschheit werden. S . Ic h werde S ie nicht eher ganz verste­ h e n , als bis S ie mir irgend ein bestimmtes M erk­ mal

Z w ö l f t e r

B r i e f .

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m al angegeben haben, woran sich diese künftige M ündigkeit des M ittelstandes erkennen ließe. I n Frankreich dürste derselbe wohl seinen Vorm ündern zu früh entlaufen seyn. I . W ir verstehen uns bester als S i e glauben. D er M ittelstand ist so lange unm ündig, als er seine Freyheit nur durch Unterdrückung der höhern S ta n d e zu erringen weiß. D ie U n a b h ä n g i g k e i t , die er k e n n t und su c h t, ist dann nur die ä u ß e r e , und zwar diejenige, welche der Zufall durch das U e b e r g e w i c h t ph ys i s ch er K r ä f t e giebt und nim m t. W er die Sklaverey nur in seiner eigenen P erson , und den D espotism us nur in der Person eines Andern haßt, wein es nicht eben so unerträg. lich ist, willkührlich zu herrschen, als willkührlich beherrscht zu werden — der ist auch der äußern Freyheit unwürdig, der hat keine Ursache sich zu beklagen, wenn er dieselbe auf eben dem W ege wieder verliert, auf dem er sie gefunden hat. I n der Fran­ zösischen Nationalversammlung sind nur wenige auf­ getreten, welche sich mit gleichem Eifer gegen das W i l l k ü h r l i c h e in der n e u e n Ordnung der D in g e sowohl als in der a l t e n erklärt haben, und ihre S tim m e verlor sich nur zu oft im Getüm m el des K am pfs zwischen Demokraten und Aristokraten, de­ nen es nicht um Freyheit, sondern um die Herrschaft zu thun w är, welche die Einen im N aiyen des V o lk s , die Andern im N am en des K önigs bald er­ s c h l e i c h e n , bald e rt ro t ze n wollten. D ie beReinholbe Dr. r. Dd. Ee

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Zwöl ft er B r i e f .

kannte Hartnäckigkeit, rormit der größere Theil des Adels und der Hähern Geistlichkeit vor demAusbruche der Revolution auf der Behauptung solcher Vorrechte bestand, die, seitdem sie dem Staate verderb­ lich geworden sind, nur durch Unrecht behauptet wer­ den konnten, dürfte freylich die Sachwalter des drit­ ten Standes nicht selten in die traurige Nothwen­ digkeit verseht haben, zu unterdrücken, um nicht selbst unterdrückt zu werden. Allein, alles was sich zur Milderung der bey dieser Revolution vorge­ fallenen Gewaltthätigkeiten sagen läßt, beweiset zu­ gleich : „daß der M i t t e l s t a n d in Frankreich, mit „allen seinen unläugbaren inneren Vorzügen vor „allen übrigen Ständen, gleichwohl bey weitem „nicht den Grad von Kultur des Geistes und des „ Herzend erreicht habe, auf dem sich dieser Stand „befinden muß, wenn er dem in den Regierungs„ formen und Konstitutionen gegründeten Despo­ tis m u s nicht durch Zwang (der denselben nur „unter andern Gestalten wieder herbeyführt), scn„derndurch A u f k l ä r u n g und Veredlung der „ K o n s t i t u e n t e n und Gesetzgeber ei» Ende „ machen soll. “ S . Und wie können Sie glauben, daß der Mittelstand diesen Grad von Kultur, wenn derselbe auch an sich selbst kein unerreichbares Ideal wäre, unter der Vormundschaft erreichen werde, der Sie ihn bis dahin unterworfen wisten wollen? O f­ fenbar haben Sie Sich unter dieser Vormundschaft

Z w 51 fr er B r i e f .

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mehr das alte landständische Verhältniß gedacht, welches theils durch den immer weiter um sich grei­ fenden Despotismus der Fürsten, theil, durch den Reichthum der Bürgerlichen, in den meisten Staa­ ten sehr beschrankt ist, und in vielen kaum dem Na­ men nach besteht. Sie haben darüber den wichti­ gen Einfluß aus den Augen verloren, den der geist­ liche Stand auf den Kanzeln der Kirchen und den Meisten Lehrstühlen der Schulen, und der Adel durch die Verwaltung der wichtigsten Aemter des Staates auf die Kultur aller übrigen Stände hat. Die Denkart, welche von diesen bevden Standen tiuf die­ sem Wege fortgepflanzt und verbreitet wird, ist im Wesentlichen eben dieselbe, die nach der Völker. Wanderung aus dem aristokratischen Regimen le der Eroberer über die Leiber und das Eigenthum der Eroberten, und der Bekehrer über die Seelen und Begriffe der Bekehrten hervorging, der Geist des Lehensystems und der Hierarchie. Der bey weitem größere Theil des Adels sieht noch immer sei­ nen Stand als eine höhere, durch eine bessere N a­ tur zur Beherrschung der übrigen bestimmten Wert« schenrasse — und seine politischen Vorzüge als das Wksen einer guten Staatsverfaffung an, wahrend der bey weitem größere Theil des geistlichen Stan­ des sich für den erblichen Aufbewahrer und Ausleger übernatürlicher Offenbarungen, für den unfehlbaren Glaubenörichter — und die von seinen Vorfahren auf den Mysticismus der neuplatonischen Philosophie zurückgeführte Theorie des Christenthums — für

43ö

Zwölfter Brief.

das Wesen der ächten Religion hält. Beyde wer­ den an den neuen und häufigen Erscheinungen cruer entgegen gesetzten D enkart nichts alsdie unglücklichen Zeichen eines ausartenden Zeitalters gewahr. D a s Empörende dieser Erscheinungen bestärkt sie in den unvernlgbaren, durch die Triebfedern der Erziehung, der Gewohnheit und des Eigennutzes unterstützten V orurtheilen ihres S ta n d e s, und fordert sie auf, zur E rhaltung derselben von außen alle H ülfsm ittel an­ zuw enden, die ihnen ihr B e s itz s ta n d an die H and giebt. S elb st die G räuel des groben Unglau, ben s, der eine Folge des groben Aberglaubens — und des A ufruhrs, der eine Folge des M uthm illenz der Unterdrücker ist, sind der Politik der Hochwür­ digen und Hochgebornen H irten der Völker in dieser Rücksicht willkommen. S ie schrecken die verirrten S chafe in den Schafstall zurück, und zeigen, wie die Ausgänge aus demselben für die Zukunft künst­ licher zu verwahren sind. I . Desto bester! denn ich ehre und liebe diesen Schafstall, in wie ferne er zum Erziehungs­ plan der Menschheit gehört. E r ist eben so unent­ behrlich und unvermeidlich für den Unglauben an G ott und Tugend, der im H e r z e n , und für die U n­ zufriedenheit mit den Regierungssorm en, die in der H e rrs c h s u c h t ihren G rund hat — als für den Aberglauben, der aus U n w is s e n h e it, und die Unterwürfigkeit, die aus S k la v e n si n n entspringt. W e r die Freyheit hastet, weil er nicht K opf genug

Zwölfter B rief.

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hat, um sie von der Zügellosigkeit, die sein Herz empört, zu unterscheiden, wird sich in seinem einge­ sperrten Zustande ganz wohl befinden; und wer un­ ter dem Namen Freyheit die Zügellosigkeit feines eigennützigen Triebes geltend machen will, wird von Rechts wegen an den eisernen Ring des Zwangs angeschmiedet. Durch die Thätigkeit der bürgerlichen Laien, durch Handel, Künste und Wissenschaften, hat sich das gegenseitige Verhältniß der Stände unläugbar mehr von der S e i t e des drit te n S t a n ­ des, als der beyden höheren, verändert. Es giebt nun Laien, welche die Religion bester kennen und reiner lieben, als selbst die versammelten Väter zn Nicea und T r i e n t , und die Verfasser der sym­ bolischen Bücher; es giebt nun Bür gerliche, die es an Eigenthum und Einfluß auf den Staat mit den reichsten und mächtigsten von Adel aufneh­ men können; und die Zahl von beyden nimmt immer mehr zu. Gleichwohl sind .die vortheilhaften V er­ änderungen in dem vorigen Zustande des dritten Standes, die ohne die durch den Adel verhinderte politische Anarchie und ohne die durch die Geistlichkeit beschränkte moralische Zü ge llo­ sigkeit gar nicht denkbar wären, noch keineswegs so weit gediehen, daß nicht noch immer der größere Theil dieses Standes sich auf derjenigen Stufe be­ fände, auswelcher der adelicheund geistliche Aristo, k r a t i s m u s eben so natürlich als wohlchä-

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Zwölfter Brief.

t i g sind; ja, das? nicht sogar die alten Vorurtheile des geistlichen Standes, die den Aberglauben, und des Adels, die den Despotismus begünstigen, un­ entbehrlich geworden wären, um de» neuen Vorurtheilen das Gleichgewicht zu halten, die unter den höheren Klassen des dritten Standes, tbcilz aus dem unmäßigen S t r e b e n nach Geld, theils aus dem v o r e il ig e n Gebrauch eines un­ reif en Wissens entspringen mußten, und die durch ihren immer weiter um sich greifenden E in­ fluß Zügellosigkeit und Anarchie herbey führen würden. S. Sehr wahr, mein Freund! fassen S ie an die Stelle E i n e s unumschränkt herrschenden Vorurtheils zwey einander entgegen gesetzte eintreten, welche sich ben jeder sittlichen Angelegen­ heit der Menschheit in die Herrschaft über die un­ mündige Vernuiut theilen, und S ie haben die so­ genannte A u f k l ä r u n g unsers Zeitalters mit E i n e m Piustlstriche charakterisiert. K a u sm a n u sgeist und Geldsucht, nicht philosophierende V e r n u n f t und H u m a n i t ä t seid es, dem Adelstolz und dem Mönchsgeist Schlanken gesetzt haben; und wenn der S u p e r n a t u r a l i s mu s, der den Aberglauben aufrecht erhalt, die alten Gesetze auf seiner Seite hat, so wird der N a t u r a l i s m u s ben seinen Eroberungen für den Unglauben durch die neun S i t t e n murm'itzt. Wenn man Hessen darf, daß keine dieser Partheyen

Zwölfter Brief.

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über die andere ein entscheidendes Uebergewicht er­ halten werde, so hat man wohl keinen anderen G ru n d , als daß die V e r n u n f t für beyde gleich wenig, lind L e i d e n s c h a f t für beyde gleich viel ge­ schäftig sind und immer seyn werden. I . V e rw a h re M i t t e l w e g ist nur dann erst möglich, wenn die beyden E x t r e m e gegeben sind, und je bestimmter und augenscheinlicher diese zum Vorscheine kommen, desto schneller führen fie die Entdeckung von jenem herbey. J e mehr sich Sklavensinn und Zügellosigkeit, Aberglauben und U nglauben, Neuerungßsucht und steife Anhängliche keit am Alten, einander die H ä n d e b i n d e n, desto mehr lö s e n sie sich gegenseitig die Z u n g e n . B eyde haben in unserm teutschen V aterlande nie weniger gehandelt und nie so laut und so viel gespro­ chen , als gegenwärtig. J a , ich getraue m ir zu behaupten, d a ß , im Ganzen genommen, noch nie so viele bürgerliche O rdnung bey so wenig politischer S klaverey über so viele von einander unabhängige S ta a te n E uropa'S verbreitet w a r, als seitdem die Philosophen m it eben so viel Ungestüm g e g e n die F r e y h e i t d e s W i l l e n s bey den sittlichen H and­ lungen, als f ü r d ie F r e y h e i t d e s M e n s c h e n in der bürgerlichen Gesellschaft gestritten haben. Ic h gebe Ih n e n gerne z u , daß wir noch lange keinen be­ stimmten B eg riff von F r e y h e i t haben, und daß auch unsre Selbstdenker vom ersten R ange über den­ selben noch so bald nicht unter sich einig werden dürf-

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Zwölfter B rie f.

ten. Allein ich behaupte, daß diese Repräsentanten der philosophierenden Vernnnsc durch den Gang, den ihre Untersuchungen seit einigen Jahren genom­ men haben, zu diesem großen Ziel unausbleiblich ge­ langen müssen. Was kann aber denselben zum Be­ huf ihres großen Geschäftes willkommener fenn, als bürgerliche Ordnung mit äußerer F r e y­ h e it verbunden? Freylich nur in dem Grade, in welchem sie ohne Einverstandniß der Selbsidenker über die Gründe der Pflichten und Rechte der Mensch­ heit möglich, aber in welchem sie gleichwohl als äußere Bedingungen zu jenem künftigen (£inVer­ ständniß unentbehrlich sind, um welches in die­ ser Rücksicht die V o l t a i r e durch Bekämpfung des gröberen Aberglaubens und Despotismus, und die Lavater durch Bekämpfung des gröbern Unglau­ bens und der praktischen Zügellosigkeit, gleich große Verdienste haben. Je mehr sich die Vertheidiger des Naturalismus und Supernaturalismus, des Demokratiömus und Aristokratismus u. f. w. einan­ der in die Enge treiben, je mehr sie sich nöthigen, ihre Systeme neu zu begründen, oder, welches eben dasselbe ist, die Gründe ihrer Gründe auszusuchen, und folglich dasjenige zu beweisen, was sie bisher als ausgemacht angenommen haben, desto gegewisser und schneller wird die Grundlosigkeit aller bisherigen Systeme denjenigen Zuschauern einleuch­ ten, deren sittliches Gefühl ohnehin bey keinem der­ selben Befriedigung gefunden hat. Es giebt eine Klasse des Mittelstandes, die beträchtlich an Zahl

Zwölfter Brief.

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ihrer Glieder zunimmt, und sich immer mehr derje­ nigen äußern Lage nähert, die der S i t t l i c h k e i t die günstigste ist, und den glücklichsten S ta n d p u n k t ausmacht, aus welchem sich die An­ gelegenheiten der Menschheit überschauen lasten. Den dem Ueberniuth und der Hartherzigkeit der Un­ terdrücker, und von dem Sklavensinn und der Rach­ sucht der Unterdrückten, von Armuth und Reich­ thum , vom Adel - Pfaffen - und Bauernstolz gleich weit entfernt, ist diese Klasse durch kein persönliches Interesse weder fü r noch gegen was immer für eine der bisherigen politischen Verfassungen, philo­ sophischen Hypothesen und herrschenden Vorstellungs­ arten eingenommen. Für sie ist die gewöhnlichste und verderblichste Quelle des Irrthums — der ge­ heime Einfluß des Eigennuhes auf die Denkart — durch ihr äußeres Schicksal abgeschnitten, während sie durch die goldene Mittelmäßigkeit desselben zur Mäßigung tes Eifers, Unbefangenheit der Untersu­ chung und Unpartheylichkeit der Beurtheilung ge­ stimmt wird. M it Einem Worte, die E rziehe­ r i n der Menschheit scheint alles darauf ange­ legt zu haben, daß die weltbürgerliche Ge­ sinnung, zu welcher sich in den übrigen Standen nur selten ein außerordentlicher Genius empor schwingt, nach und nach die natürliche Sinnes­ art der Selbstdenker aus dem M i t t e l ­ stände werden solle.

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Zwölfter B rie f.

Vorb ereite nde Anstalten der wissen­ schaftlichen und sittlichen K u l r u r . S . Sie trauen also den Weltbürgers»»» doch nur den Selbst de nkcrn zu. Sprechen Sie nicht dadurch Ihrem M ittel stände über­ haupt die künftige Mündigkeit wieder ab, die Sie ihm verheißen haben, und welche keineswegs nur auf einige Glieder desselben eingeschränkt seyn darf, wenn er sich, ohne Gewalt zu brauchen, seiner bis­ herigen politischen Vormundschaft entledigen, und sich zum moralischen Erzieher seiner vorigen V or­ münder empor schwingen soll? I. Auf einer gewissen Stufe wissenschaftli­ cher und sittlicher Kultur, auf der sich die Selbst« tenker bisher freylich noch nie befunden habe», auf der sie sich aber über kurz oder lang gewiß befinden werden, wird etz denselben nicht mehr mißlingen ken­ nen, die unentbehrlichsten, anwendbarsten, schlich, testen Auöfprüchc der mündigen Vernunft den» Gemein sinne der übrigen Klassen des M ittel­ standes einzuflößen. Unter dieser Voraussetzung dürfte sich dieser Stand durch die w e l cb ü r g cr l ichen Maximen nicht weniger auszeichnen, als sich der Adel durch die aristokratischen und die Geist­ lichkeit durch hypcrphysifche Vorurtheile bis« her ausgezeichnet hat. Da er sich seine Glieder nicht wählen kann, wird er freylich immer noch ein« Art von Pöbel enthalten müssen, der durch Kopf und Herz zu jeder lebendigen Ueberzeugung von

Z w ö lf te r B r i e f ,

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Dingen, die sich nicht mit den Händen greifen lassen, unfähig ist. Allein dieser, weit entfernt den Ton angeben z» können, wird nicht nur die Formeln der von den Selbstdenkern einstimmig aufgestellten Be­ griffe nachbethen, sondern auch seine öffentlichen Hand­ lungen nach den äußeren Vorschriften derselben ein­ richten müssen. Da er der durch die Eintracht des besseren Theiles festgesetzten Denkart seinesStandcs keine eigene entgegen zu setzen hat, so wird er derselben den Rang der Mündigkeit eben so wenig streitig machen können, als die herrschenden Denk­ arten des Adels und der Geistlichkeit durch die Aus­ nahmen edelgesinnter Adelichen und helldenkender Priester aufhören können, widernatürlich und übernatürlich zu heißen, S , Ich kann mir von der Stufe der Kul­ tur, auf der Sie den Selbstdenkern einen so ausge­ breiteten und so unwiderstehlichen Einfluß verspre­ chen, feinen Begriff machen. So wie die Sachen jetzt stehen, unterscheiden Sie selbst Ih re zukünfti­ gen Mü n di g e n von den gegenwärtigen Selbsthenkern, aus denen jene erst hervorgehen, und zu denen sie sich wie die wenigen Auserwählten zu den vielen Berufenen verhalten sollen. Run sind aber die Selbstdenker im Mittelstände zwar weniger als in de» übrigen Ständen, aber gleichwohl noch im­ mer von einer Seltenheit, die um so mehr auffallen muß, da der größte Theil der Pfleger der Gelehr­ samkeit und der Wissenschaften zu diesem Stande

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Zwöl f t er B r i e f .

abhört, und die mir lim so bedenklicher ist, je mehr sie mir aus dem gegenwärtigen Zustande der Gelehr­ samkeit und der Wissenschaften erfolgen und zuneh men zu müssen scheint. I n unserm Jahrhunderte, und zumal in ded letztem Halste desselben, haben sich die verschiedenen Felder auf dem Gebiethe des gelehrte» Wissens so sehr vervielfältiget, hat sich die Auobeute roher Materialien auf demselben so übcrniäßig angehäuft, ist die Anzahl der einem jeden Gelehr­ ten in irgend einer Rücksicht unentbehrlichen Bücher so groß geworden, daß der Studierende, der nicht hinter seinem Zeitalter zurück bleiben will, vor lau­ ter Lernen, Sammeln und Lesen selten oder nie zum Selbstdenken Zeit findet, und gewöhnlich als Lehrer und Schriftsteller auftritt, wenn sein Kopf oder sein Kollektaneenbuch voll, und sein Geist unter der Last seiner Belesenheit erstickt ist. Dabey hat man frey­ lich wohl ein gewisses Hauptfach vor Augen, das für jeden schon darum das wichtigste ist, weil er es sich gewählt hat, und das ihm auch nicht im Traume einfallen läßt, es könne außerdem noch ein andres geben, das jeder Selbstdenker wählen müsse, weil es an lind für sich selbst das wichtigste ist. Der Geist des fleißige» Teutschen wird gemeiniglich m dem Verhältnisse Sklave seines Faches, als er sich desselben bemeistert zu haben glaubt. Dasselbe hat sich ihm unvermerkt als der einzige Maßstab aufge­ drungen, nach welchem er das Wesen und die Wich­ tigkeit aller andern Fächer abmißt, unter denen nur diejenigen einige Bedeutung für ihn haben, die er

Zwöl fter B r i e f .

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als Hülsswissenschasten brauchen zu können glaubt, aber die er auch in dieser Eigenschaft um so gewisser verkennt, je mehr er sie nur in derselben kennen zu lernen bemüht war. Da er sie als bloße M ittel für seine individuellen Zwecke behandelt, die P rin­ cipien, nach denen er sie bearbeitet, aus seiner Haupt­ wissenschaft entlehnt, und nur das an ihnen wahr findet, was sich an die einheimischen Begriffe seines Gewerbes anschließt, so geht ihre Brauchbar­ keit unter seinen Händen größten Theils verloren. Vielleicht dürfte der Gebrauch, den die positiven Theologen und J u ris te n bisher von der Ge­ schichte und der Philosophie gemacht haben, diesen Wissenschaften mehr geschadet, als der Theologie und Jurisprudenz genützt haben. Das Wenige, was man in manchem neuern und berühmtem Werke über die theologische M o r a l von dem letzten Grunde der sittlichen Verbindlichkeit — über dog­ matische Theologie von der Quelle der beyden Grundwahrheiten der Religion — und über posi­ tives Recht von dem Grundbegriffe des Naturrechtes nebenher und im Vorbeygehen er­ wähnt findet, hat immer den bestimmten und eigent­ lichen Sinn verloren, in welchem es von dem philo­ sophischen Schriftsteller, dem es nach bloßen H ö­ rensagen abgeborgt ist, aufgestellt worden ist. Der berühmte Theolog und Jurist hat sein eigenes Publikum vor Augen, und weiß, daß er eben sowenig von den Philosophen gelesen wird, als er die Philo­ sophen liest.

Zwöl fter B r i e f .

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Diese letztem smd es wohl vorzüglich, mein Freund,

auf welche S ie unter dem Namen der

S e l b s i d e n k e r zahlen müssen,

indem S ie mit

Recht voraussetzen, daß ohne den dadurch bezeichne­ ten Charakter der Philosoph weniger als Nichts sey. Allein sollte die Zahl und die Beschaffenheit der Selbsidenker aus dieser Klasse nicht in dem Der» Haltnisse abgenommen haben, als die Zahl der Uni­ versitäten, der bestellten Professoren und ihrer Kom. pendien zugenommen hat? Sollte nicht das Talent und die Neigung unsrer Jünglinge für Philosophie durch die vielen Berufenen mehr eingeschläfert und abgestumpft, als durch die wenigen Auserwählten geweckt und geschärft werden? D ie aus lauter M iß ­ verständnissen erzeugten und immer neue M ißver­ ständnisse erzeugenden Streitigkeiten zwischen unsern Kantianern

und

Antikantianern

dürften

doch wohl schwerlich etwas Beträchtliches beytra­ gen, um den philosophischen Geist unsrer Nation (noch weniger aber der wenigen andern, die sich außer der unsrigen durch einen solchen Geist aus­ zeichnen) von der allgemeinen Lähmung zu heilen, die er sich durch das voreilige Streben nach Popula­ rität zugezogen hat.

Unvermögend, der philosophie­

renden Vernunft, die sich in ihren großen Repräsen­ tanten,

in P l a t o und A r i s t o t e l e s ,

Epikur

und Z e n o , D e s C a r t e s und S p i n o z a , Leib­ nitz und Locke u. a. m. mit sich selbst entzweyen mußte, in ihrem Fortschritte zu den letzten und höch­ sten Principien zu folgen,

(durch welche sic allein

Zwölfte r B r i e f .

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mit sich selbst wieder einig werden kann) warf matt sich dem gemeinen sogenannten Menschenverstände in die Arme, verwechselte denselben mit dem gesunden, und sprach ihn in dieser Eigen­ schaft den Stiftern und Sachwaltern der metaphysi­ schen Systeme ab, wahrend man ihn in der Eigen­ schaft des gemeinen zum Richter über die philo­ sophierende Vernunft aufstellte — die allein übet seine Gesundheit zu urtheilen vermag. Man glaubte das Geheimniß entdeckt zu haben, durch welches die Philosophie nicht nur mit den V 0 F* nehmeren Fakultäten ausgesöhnt, sondern auch bey den Ungelehrten und Weitleuten beliebt gemacht werden könnte. Die Professoren arbeiteten in bt< Wette, die Wissenschaft, zu der sich die gemeine V or­ stellungsart nicht bequemen wollte, zur gemeinen Vorstellungsart herab zu stimmen, ihren mündlichen Vortrag und ihre Lehrbücher von jeder Fessel des Systemes zu befreyen , und ihren Zuhörern und Le­ sern die ernste, trockene, peinliche Arbeit des — Den­ kens zu ersparen. Dieser Wetteifer stieg mit der Konkurrenz bet Universitäten und mit der Menge der aus denselben nach Brod und Ruhm ringenden Lehrer. Er stieg in und außer den Universitäten mit der Konkurrenz des Buchhandels, der auf die Herabwürdigung der Gedanken des Lehrstandes zur käuflichen W a a re , und durch dieselbe auf die Denkarten und die Methoden der Schriftsteller wohl nie einen größeren Einstuß hatte. Unsire Buch­ händler, welche den Werth der Geisteswcrke nach

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Z w ö l f t e r B r i c f.

dem zusammengesetzten Verhältniße aus der Größe und Geschwindigkeit des Absatzes berechnen und bezahlen müffen, besitzen ein unfehlbares Mittel, auch solche Philosophen, die sich außerdem mit einem sehr kleinen Pu b lik u m begnügt haben würde», zu dem Entschluß zu bringen, populär zu denken und populär schreiben zu können. I. Wer heißt Sic aber auch die Selbstdenker gerade in derjenigen Klasse von Gelehrten auf» suchen, die durch ihr äußeres Schicksal in die traurige Nothwendigkeit gesetzt sind, die W a h r ­ heit nur in so ferne zu suchen, als sich durch die­ selbe B r o d finden laßt? S . W ir wollen sie allenthalben aussuchen. Eben derselbe äußere Wohlstand, der über den gröber» Eigennutz erhebt, nährt und weckt den feinern, der unter dem Namen der libera­ len Gesinnung die eigentliche Triebfeder ist, welche die Denkkraft so vieler angeblichen Selbstdenker in Thätigkeit setzt. Hieher gehören nicht nur die D il e t t a n t e n , für welche die Wissenschaft nichts weiter als ein zeitvcrtreibendes und zeitverder­ bendes Gedankenspiel ist; sondern auch unsre phi­ losophischen Fechtmeister, die, tun dem Publikum das Schauspiel ihrer Geschicklichkeit zu geben, bald dieses bald jenes System bald angrei­ fen bald vertheidigen; die, wenn sie sich auf das Polieren und Aufstützen der alten Waffen verste­ hen.

Z wöl f t e r Br i ef .

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hen, ihren Zuschauern und sich selbst weiß machen, daß sie mit neuen auftraten, und, da es ihnen zu schwer seyn würde neue Wahrheiten zu erfinden, die federleichte Kunst treiben, die wirklich neu er« fundenen durch alte V o ru rt h e il e zu rot« verlegen. Ich ehre und liebe unsere für die sogenannte große W e l t philosophierenden schönen Geister. Sie wecken die Denkkraft gedankenlo­ ser Geschäftsleute, beleben die Phantasie gefchäft« loser Selbstdenker, und veredeln durch reihende Dar­ stellung ihres eigenen Geschmacks und sittlichen Ge­ fühls den Geist ihrer Leser. Allein ich kann sie un­ möglich für diejenigen halten, durch welche die den­ kende Vernunft über die l eh ten Gründe von Pflicht und Recht mit sich selbst einig werden, oder, was für mich eben dasselbe ist, durch welche die Mensch­ heit über die Angelegenheit, von deren endlicher Entscheidung ihre M ü nd ig ke it abhängen kann, zu etwas Ausgemachtem gelangen soll. Frey­ lich, wenn dieses Ausgemachte, das von jenen ver­ dienstvollen Schriftstellern entweder nicht vermißt, oder als etwas Unmögliches nicht gesucht wird, be­ reits vorhanden wäre, würde dasselbe durch ihre Schriften auf die einzige richtige und würdige Art popularisiert, das heißt, durch Zurückführung auf sittliche Gefühle und Anwendung auf die Be­ dürfnisse des Zeitalters erläutert, und zur Berichti­ gung der Begriffe der kultivierteren Klassen des Reinholvs Dr. 2. Dd. $f

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Zwölfte r B r i e f .

Publikums verarbeitet werden. Allein da allrS, wovon sie bisher ausgehen konnten, wenn von der s ittlic h e n Verbindlichkeit die Rede war, ter den Selbstdenkern vom ersten Range streitig ge­ wesen ist, und nur durch einen neuen Irrthum als ausgemacht angenommen werden konnte; da sie halb wahren Begriffen, die, als Grundsätze gebraucht, immer ganz unwahr werden muffen, durch den Zauber der Darstellung das Ansehen durchgängiger Wahrheiten zu geben genöthiget waren; da sie den Wahn der Entbehrlichkeit einer schulgerechten Forschung und Einkleidung der Principien durch die Leichtigkeit, Schönheit und überredende K raft ihrer Methode veranlaßten, un­ terhielten und verbreiteten: so dürften sie wohl der Gründlichkeit der Kultur des Geistes nicht we­ niger Abbruch, als der A u s b r e it u n g derselben Vorschub gethan, und durch Vervielfältigung und Verjährung unbestimmter, vieldeutiger und schiefer philosophischer B e g r i f f e vielleicht eben so viel geschadet, als durch Erweckung feiner, ed­ ler und erhabener Gefühle genützt haben. Von den philosophischen schönen Geistern sind die schöngeisterischen Philosophen wesent­ lich verschieden, welche den Geschmack nicht als M i t t e l , sondern als den letzten Zweck der K ul­ tu r, die Schönheit für das Kriterium der Wahr­ heit, lind die Philosophie für nichts weiter, als das Thema zu einer schönen Komposition ansehen,

Zwölfter B rief.

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das sich nach den Bedürfnissen des K ünstlers fügen muss S ie glauben der philosophierenden V ernu nft rin großes Kompliment zu machen, wenn sie sich dieselbe als die Seele einer Grazie denken, die keine andere Bestim m ung h a t, als die Reihe eines schö­ nen Körpers zu beleben. S ie verwechseln das H ei­ ligthum der Sittlichkeit mit dem Tempel des G e ­ schmackes, der nur der V orhof zu jenem ist, in wel­ chem sie aber sowohl selbst zurück bleiben, als auch, soviel an ihnen liegt, ihre Leser zurück halten. D e r N am e S e l b s t d e n k e r wird ihnen durch den Schim m er, die Neuheit, Sonderbarkeit und K ühn­ heit ihrer Einfälle bey demjenigen Theile des lesen­ den Publikum s verbürget, der, durch R ang und Vermögen in den S ta n d gesetzt die Wissenschaften als bloßen L u x u s zu treiben, gegen W a h r h e i t in dem Verhältnisse gleichgültiger w ird, als ihm die Reihe der Einkleidung zum dringenderen B ed ü rf­ nisse seiner Unterhaltung geworden sind. Und wie oft haben sich nicht selbst unsre Philosophen von P ro ­ fession, die freylich über nichts weniger, als was sie unter P h i l o s o p h i e denken sollen, einig sind, ver­ leiten lassen, einem glänzenden M eteore der P h a n ­ tasie als einer merkwürdigen Erscheinung des philo­ sophischen Geistes zu huldigen! — U nd , o wie wenig ahnden sie noch bis aufden HeutigenTag den him ­ melweiten Unterschied zwischen der O r i g i n a l i t ä t des G e n i e s und der s e lb s t t h ä t i g e n K r a f t der V e r n u n f t , zwischen dem natürlichen E g o iS m u s des E inen, der seinen Principien die größte

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Zwölfter Brief.

mögliche I n d i v i d u a l i t ä t , und der eben so natürlichen Uneigennüßigkeik der Andern, dieden ihrigen die größte mögliche Allge me inhe it zu geben strebt! I. Heil und Triumph diesem Geiste der selbstthätigen Vernunft, den auch ich mit Ihnen bey dem bunten Haufen vermisse, an welchen der Name Selbstdenker, durch seinen weiten und schwankenden Sinn, verschwendet wird. Dieser Geist, für welchen sie mit Recht fordern, daß ihm die Gelehrsamkeit ihren Reichthum, die Wissenschaft ihre strenge Form, die Popularität ihre Bequem, lichkeit, die Kunst ihren Zauber, der Geschmack seine Genüsse, und das Genie seine Originalität— nicht aufopfern, (denn Er bedarf ihrer Aller) son­ dern— unterordnen sollen; dieser Geist, der weder aus Gelehrsamkeit, noch aus Wissenschaft, noch aus Kunst, noch aus Genie, noch aus allen diesen Eigenschaften zusammen genommen quillt, aber sie alle zu seinem großen Zwecke — der Ve red­ l ung der Menschen — sich unterwirft; die­ ser G o t t in uns ist es eben, der sich mir durch die Gesinnung d/r W e l t b ü r g e r ankündiget, und wodurch ich die Sclbstdenker, aus denen die Klasse der M ü n d ig e n hervorgehen wird, von der Men­ ge, die jenen Namen mit Unrecht führt, auszuzeich­ nen wünsche. Durch diesen Geist unterscheidet sich der W el t b n r g ersi n n von dem unächten p h ilosophischen W o h l w o l l e n , welches Liebe zur

Zwölfter B rief.

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Menschheit überhaupt m it Gleichgültigkeit gegen jedes menschliche In d iv id u u m , W ohlrhatigkeit ge­ gen Fremde mit Ungerechtigkeit gegen V erw andte, Hochschahung des A usländers mit Verachtung des V aterlandes, Unthätigkeit im Kreise seiner B e ru fs­ geschäfte m it der Geschäftigkeit für das B este des U niversum s, so geschickt zu verbinden w eiß; — und von dem C h r i s t k a t h o l i s c h e n W o h l w o l ­ l e n , welches nur durch ein physisches Unvermögen abgehalten werden kann, der Menschheit durch E n t­ völkerung der gegenwärtigen W elt das B ürgerrecht in der zukünftigen aufzudringen. D e r Geist der wahren A l l g e m e i n h e i t , der keiner Indiv idualität zu nahe tritt, sondern sie alle in S ch u h nim m t, äußert sich einzig und allein durch G e r e c h t i g k e i t , und der W eltbürger weiß, daß er gegen A l l e gerecht seyn könne und solle, während er auch unter den günstigsten äußern U m ­ ständen nur gegen E i n i g e w o h l t h ä t i g seyn könne und dürfe, und daß es in keinem Falle le­ d i g l i c h von ihm selbst abhänge, es auch nur gegen einen Einzigen zu seyn. P f l i c h t ist ihm unter allem Heiligen das Heiligste, und weit entfernt, sie nach dem M aßstabe seiner Liebe gegen sich selbst oder andere Menschen allzumesten, ordnet er viel­ m ehr beyde Neigungen unter seine Pflicht. Unter seinen mannigfaltigen Pflichten sucht er im mer die strengste, immer diejenige, die der N eigung am wenigsten schmeichelt, zuerst auf. S e in morali-

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Z w ö l f t e r B r i e f.

scher Enthusiasmus ist nicht Liebe. Denn eben weil er die Gerechtigkeit nicht verkennt, kennt er sie unter keiner andern, als ihrer eigenen, ernsten, fcverlichen, der Sinnlichkeit furchtbaren Gestalt, in welcher sie jede ihr entgegen stehende Aeußerung des eigennützigen Triebes niederschlagt, jede Selbstzu­ friedenheit, die nicht Folge von ihr selbst ist, de­ müthiget — aber eben dadurch die geheimen Hin­ dernisse der freyen Wirksamkeit unsers besseren Selb­ stes hinwegräumt, und in die Thätigkeit des Welt­ bürgers die Gleichförmigkeit, Dauerhaftigkeit und den kaltblütigen Nachdruck bringt, welche kein En­ thusiasmus von was immer für einer auch noch so verschönerten Leidenschaft zu erreichen vermag. Das G e f ü h l von Recht und Unrecht ist unter allen seinen Gefühlen das lebendigste, gegenwär­ tigste, hervorragendste, greift in seine ganze V or­ stellungsart ein, verwebt sich mit allen seinen Be­ griffen, athmet aus seinen Reden und Handlungen, und ist sogar an seinen Vorurtheilen, Uebereilungen und Schwächen unverkennbar. Abkunft, Stand und Gewerbe eines gewöhnlichen Menschen können sich an dem äußern Betragen desselben nicht auffal­ lender verrathen, als die durch Gerechtigkeit gelei­ tete, gereinigte itnb belebte Denkart den Charakter des Weltbürgers in den S c h r if t e n desselben offen­ bart. Man merkt es ihm bald genug an, daß er fein Vaterland, sein Glaubensbekenntnis seine Berufswissenschaft weder allen übrigen vorzieht, well sie die seinigen sind, noch allen andern nach-

Zwölfter Bri ef. setzt, weil ihm vielleicht das Schicksal dabey keine Wahl gelassen hat. Man erkennt ihn an der Wahl des Gesichtspunktes, an der Unwillkührlichkeit der Gründe und der Unbefangenheit des Tones, womit er das Alte und Neue in seinem Fache beurtheilt. Seine Begriffe über positive Theologie »und Juris» prudenz würden auch schon durch die Spuren der Ungerechtigkeit aufgeklärt werden, die er an gewis­ sen in einem Zeitalter der Unwissenheit und Barba­ rey ausgekommenen Dogmen und politischen Gesetzen entdeckt; Spuren, die dem reinen und Hellen Blicke seines Geistes weder durch das geheimnißvolle Dun­ kel an den Einen, noch durch das mit politischer Gewalt festgehaltene Ansehen der Andern verborgen bleiben können. Es wird ihm eben so unmöglich. Recht und Unrecht von geoffenbarten Verfügungen einer unerforschlichen Willkühr — als von den äußern Vortheilen der bürgerlichen Ordnung abzu­ leiten, indem er weder eine wahre Heiligkeit der Religion, noch eine dauerhafte Stütze des Staates kennt, bey der nicht die Gesinnung der Gerechtigkeit vorausgesetzt würde. Durch die rege W irk­ samkeit dieser Gesinnung bringt er nicht weniger Würde in die Spiele der Phantasie auf den Feldern der schönen Künste, als Humanität in die mechani­ schen Arbeiten der positiven Gelehrsamkeit. Die reinen sittlichen Gefühle in ihren interessantesten Erscheinungen (z. B . das majestätische, seelenerhe­ bende Gefühl der Achtung für den Willen des Man­ nes, der den Tod oder ein qualvolles Leben, wovon

Zwöl f t er Bri ef. er sich durch Ungerechtigkeit loskaufen könnte, freywillig w ählt) sind ihm die W ürze, ohne zrvld'e ihm die feinsten Produkte des Geschmackes auf die Länge unschmackhaft werden muffen. E r bestimmt end­ lich die Rangordnung unter den verschiedenen Fächern des menschlichen W issens nach ihrer Unentbehrlich­ keit zur V eredlung der Menschheit. D a er diese V eredlung nur in der Q u e lle d e r G e r e c h tig ­ k e it aufsucht: so ist ihm die W is s e n s c h a f t d ie ­ s e r Q u e l l e , w as auch sein bürgerlicher B e ru f seyn m ag , unter allen die wichtigste, und er vere­ delt die besondern Kenntnisse seines B e ru fs in dem V erhältnisse, als er dieselbe der Wissenschaft des a llg e m e in e n B e r u f s d e r M e n s c h h e it ge­ nauer unterordnet. S ollten S ie an diesen Zügen, so unvollkommen dieselben auch unter meiner D a r ­ stellung ausgefallen sind, die Verwandtschaft des Geistes verkennen, die zwischen dem ediern Theile unserer Selbstdenker neben der auffallendsten V e r­ schiedenheit ihrer Fächer und V orstellungsarten S t a t t findet? D ie Eintracht der Gesinnung zum B eyspiel, zwischen I a c o b i und te s s in q , S pa ld in g und M ö s e r , G a r v e und S c h i l l e r , K a n t und W i e l a n d ? S . Diese Eintracht ist unverkennbar, und in ihren Erscheinungen das tröstlichste, erhabenste, merkwürdigste Schauspiel unter allen, die es für den menschlichen Geist geben kann. Ic b begreife daher, wie so mancher menschenfreundlicher Weise dabey ste-

Z w ö lfte r B r ie f.

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hen bleiben kann, und in demselben das Ziel der Veredlung, das die Menschheit in ihren wenigen Auserwählten erreicht hätte, und den höchsten Grad der (intensiven) Kultur, der nichts weiter als V e r ­ breitung seiner wohlthätigen (Einflüsse zu hoffen und zu wünschen übrig ließe, zu finden'meynt. I n meinen Augen aber hat die Einhelligkeit der weltbürgerlichen Gesinnung so lange den Charakter der Zufälligkeit und Unzuverlässigkeit aller übrigen menschlichen Dinge, als ich dieselbe als die W ir­ kung gewisser, allen Weltbürgern selbst gleich un­ bekannter Triebfedern ansehen muß, über welche sich selbst diese Einträchtigen in dem Verhält­ nisse veruneinigen, als sie dieselbe näher ken­ nen lernen wollen. Von dieser Uneinigkeit sind nur diejenigen unter ihnen ausgenommen, die keine Phi­ losophen von Profession sind, das heißt, die es mit der Bestimmtheit der Begriffe nicht so genau neh­ men. Diese finden in ihrer Gesinnung die l eh t en Gründe ihres Denkens und Wollens, ohne dabey einen Zirkel im Schließen zu vermuthen. Die Reinheit und Lebhaftigkeit ihrer sittlichen Gefühle giebt ihren Maximen eine Evidenz, durch welche die gänzliche Dunkelheit, die über den Entstehungs­ grund dieser Gefühle und die Bestimmungsgründe dieser Maximen liegt, zwar nicht aufgehoben, aber unbemerklich wird. Die Verschiedenheit der For­ meln, in welche die Maximen dieser Männer einge­ kleidet sind, kann sie nicht beunruhigen, indem die von der Unbestimmtheit der Begriffe unzertrennliche

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Zwölfter B r i e f .

Vieldeutigkeit der Werte der Phantasie freye Hand laßt, auch in die verschiedensten Formeln Em und eben dasselbe Gefühl hinein zu legen. Man kam» eS daher auch diesen Männern nicht verdenken, wenn sie die Fehde über die P r i n c i p i e n der M o r a ­ l i t ä t für einen bloßen Dortsireit erklären, der ihnen, wo nicht die moralische Gesinnung der Phi­ losophen von Profession, doch wenigstens alle schulgerechte Philosophie, welche sich mit den letzten Gründen beschäftiget, verdächtig macht. Allein sollten die streitenden Philosophen weniger Recht ha­ ben, wenn sie von jener Einkracht behaupten: daß sie wenigstens eben so sehr von der Verworrenheit der Begriffe als der Klarheit der Gefühle abhänge, mehr die Folge der abgebrochenen als der vollendeten Untersuchung sey, durch Vorurrheile des Kopfes nicht weniger als durch Vorzüge des Herzens begün­ stiget werde, und die Bedürfnisse der sittlichen Kul­ tur der Menschheit ewig unbefriediget lassen müsse? Lebhaftigkeit des sittlichen Gefühls, verbunden mit Unbestimmtheit der Grundbegriffe kann zwar solche Selbstdenker vereinigen, die mehr Dars telle r als Forscher sind; aber sie muß diejenigen ent­ zweien , die mehr, oder auch nur eben so sehr For­ scher als Darsteller sind. Je reiner das Gefühl dieser letztem ist, desto weniger vermögen sie dasselbe mit einem andern als einem durchgängig bestimm­ ten Begriffe zu verbinden, und jeder unrichtige Be­ griff wird ihnen in dem Verhältnisse unerträglicher, je lebendiger ihr reines Gefühl ist.

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I. Eben dieses Gefühl wird also unter den Forschern den bestimmten Begriffallmählich herbey führen, den dasselbe einstweilen unter den D a r ­ stellern durch sich selber ersetzt. S . Ich fürchte leider das Gegentheil. Die Vorurtheile des Kopfes, welche in der Unbekannt­ schaft mit den letzten Gründen, die der menschliche Geist ewig suchen aber nie finden w ird, gegründet find, unterscheiden sichvon den herrschenden I r r ­ thümern, die den besten Willen der gewöhnlichen Menschen irre führen, nur durch die ungewöhnliche Gestalt, die sie in außerordentlichen Geistern an­ nehmen , und unter welcher sie auch bey diesen die Aussprüche des sittlichen Gefühls verdrehen, und die Sanktion desselben für ihre eigenen Rathschläge erschleichen. Der Selbstdenker wird sie in dem Verhältnisse unentbehrlicher, wahrer und ehrwür­ diger finden, je mehr es ihm Zeit und Mühe und Geschicklichkeit gekostet hat, zwischen ihren und sei­ nen sittlichen Gefühlen Eintracht zu erkünsteln, je weniger er sie für die Bestimmtheit seines Begriffs von dem Gegenstände jener Gefühle vermissen zu können glaubt. Die Philosophen von Profession werden ewig genau so viele entgegen gesetzte Grund­ begriffe von Sittlichkeit aufstellen, als es metaphy­ sische Systeme giebt; und wenngleich die Schäd­ lichkeit der durch dieselben verewigten und verbreite­ ten Irrthüm er durch ihren S tre it unter sich selbst gemindert wird, so wird sie doch dadurch keineswegs

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Zwölfter Brief.

ausgehoben. DieSupernaturalisten, welche indem naturalistischen Begriffe von Sittlichkeit die Princi­ pien des Unglaubens, und die Naturalisten, die in demsupernaturalistischen die Principien des Aber­ glaubens wahrnehmen, dürften beyde Recht ha­ ben, in wie ferne das sittliche G e fü h l jeder dieser Hauptpartheyen durch den sittlichen B e g r i f f der Andern empört wird. Freylich wird die prakti­ sche Anwendung jener theoretischen Principien zum Vortheil des populären Aberglaubens und Unglaubens durch die in einer ungewöhnlichen Ge­ sundheit des Herzens gegründete Inkonsequenz bey einigen wenigen vereitelt; aber sie wird auch desto mehr durch die Konsequenz des von beyden Krankheiten des Herzens angesteckten großen Haufens im tehrstande unterstützt. Undwer kann läugnen, daß dieser letztere auf die Kultur des großen Haufens in allen andern S t ä n d e n einen Einstuß behauptet, den die tvelrbürr;erlich ge­ sinnten Selbstdenker schon darum nie erreichen kön­ nen,. weil ihre Gefühle nur von ihres Gleichen, ihre Gedanken aber auch nicht einmal von diesen verstanden werden? I. Ich bin von der bisherigen Un­ mündigkeit der philosophierenden V e r ­ n u n f t eben so sehr überzeugt, als davon, daß die­ selbe aufhören muß, wenn cs einst eine mündige Klasse der weltbürgerlicb gesinnten Selbstdenker ge­ ben soll. W ir haben bis jetzt noch keine Philoso-

Zwöl f t er B r i e f .

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phie, wenn man unter diesem Namen die Wissen­ schaft, über deren Quellen, Elemente und Grund­ begriffe auch nur ihre vornehmsten Pfleger einig wä­ ren, verstehen, und wenn man denselben nicht miß­ brauchen will, um ein unermeßliches Aggregat will­ kürlicher, unter dem Namen von Grundsähen ange­ nommener und angestrittener Voraussetzungen, halb entwickelter Begriffe, vieldeutiger Lehrsätze, sinnreicher Hypothesen, scharfsinniger Bemerkungen, witziger Einfälle und widersprechender Meynungen damit zu bezeichnen. M ir ist die Philosophie in eigentlicher Be­ deutung nichts andres, als die gemeinschaftliche D en kar t der W el tb ü rg e r, die eben so wenig in bloßen gemeinschaftlichen Gefühlen, als in den verschiedenen einander widersprechenden Theorien, durch welche man diese Gefühle zu erklären suchte, bestehen kann. Die Existenz dieser Philosophie setzt freylich eine allgemeine Revolution in den Begriffen voraus, durch welche alles, was bisher nur von einzelnen Sekten als ausgemacht angenommen war, theils als unrichtig befunden, theils durch Ableitung seines bestimmten Sinnes aus etwas allgemein Aus­ gemachtem gegen die bisherige V iel deutigkeit, die Quelle aller Mißverständnisse, gesichert werden muß. Allein der Zustand der philosophierenden Vernunft wird für eben diese Revolution in dem Verhältnisse reifer, in welchem sich die Weltbürgerlich gesinnten Selbstdenker in ihren Gesinnungen eben so sehr gegen einander annähern, als sie sich durch ihre Denkart von einander entfernen. Der

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Srcol f f er B r i e f .

hohe Grad von Einhelligkeit, der in den bisherigen Schriften derselben in Rücksicht auf das von ihnen dargestellte sittliche G e fü h l neben dem durch­ gängigen Widerstreit ihrer gedachten P r i n c i ­ pien herrscht, und der ungeheure Kontra zw schen jener Einhelligkeit und diesem Widerstreit, kann aus sehr begreiflichen Ursachen diesen Schrift­ stellern selbst weniger in die Augen fallen, als er sich ihren Geistesverwandten aus der eben jetzt ange. henden Generation aufdringen wird, in deren Vor­ stellungsarten sich die entgegen gesetzten P h i l o sophieen ihrer Lehrer eben so gewiß gegenseitig auf­ heben, als die sittlichen M a x im e n derselben sich einander unterstützen, beleben, verstärken wer­ den. Je inniger die Eintracht ihrer Herzen und je theurer sie ihnen werden wird, desto unnatürlicher und desto unerträglicher werden sie die Uneinigkeit ihrer Köpfe über das große und heilige Eine finden müssen, das jener Eintracht zum Grunde liegt. Die Einheit ihrer M a x im e n wird dle Einheit der Grundsätze unentbehrlich, und eben dadurch auch unvermeidlich machen, und je öfter und genauer die Beweggründe ihrer Untersu­ chungen von dem Vereinigungspuukto ihrer Ge­ fühle ausgehen werden, desto schneller und gewis­ ser werden diese Untersuchungen endlich in einem Vereinigungspunkte ihrer Gedanken zusammen treffen. Alles bisherige Philosophieren konnte, da man über keine allgemeingeltenden ersten Grund­ sätze einig war, in nichts anderm als im A u ssu ch en

Zwölfter Brief.

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der Gründe zu Ueberzeugungen bestehen, die schon da waren, ohne daß man wußte, wie man zu ihnen gelangt war. Wie nun die Ueberzeu­ gung, von der sich die Vernunft Rechenschaft zu geben sucht, so die Gründe zu denen sie gelangen kann; je lebendiger, wichtiger, reiner diese Ueber­ zeugungen, desto unverkennbarer muß sich die Quelle derselben offenbaren. Die denkende Vernunft kann unmöglich über dasjenige Problem mit sich selbjk uneinig bleiben, das ihr die Wollende vorlegt, und über kurz oder lang werden unsre weltbürgerlich gesinnten Selbftdenker jede Denkart, oder, welches eins ist, jede Philosophie, welche die Gerechtig­ keit aus was immer für einem groben oder feinen Eigennutz ab leitet, eben so unphilosophisch finden, als sie von jeher die Gesinnung, welche die Gerechtigkeit dem Eigennütze unterordnet, pö­ belh aft gefunden haben. S . Ich bezweifle den Einfluß der sittlichen Gesinnung auf die philosophische Denkart so wenig, daß ich vielmehr behaupte, es könne in den Begrif­ fen von S i t t l i c h k e i t , F r e y h e it , Recht und R e l i g io n nur genau so viel Wahrheit vorhanden seyn, als dieselben durch das moralische Gefühl erhal­ ten. Allein eben darum dürfte es die philosophie­ rende Vernunft nie zu durchgängig bestimmten B e­ griffen von diesen Gegenständen, nie zu allgemein geltenden Grundsätzen, und folglich auch nie zur Eintracht mit sich selbst auch nur in ihren edelsten

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Zwölfter Br i ef .

Repräsentanten bringen können. Die bisherig» Uneinigkeit dieser Repräsentanten über die Duelle des sittlichen Gef üh ls und den bestimmten Gegenstand desselben, beweiset einleuchtend genug, daß der menschliche Geist, ohne zu wissen w i e und wodurch, zu diesemGefühle gelange, und daß nicht nur der gemeine Mann, sondern auch der Selbst­ denker vom höchsten Range moralisch gesinnt seyn könne, ohne den Grund seiner Gesinnung zu kennen. Das unbegreifliche, wenigstens bis jetzt noch nicht begriffene E t w a s in uns, dem wir unsre sittlichen Gefühle zu danken haben, erweitert zwar die Grän­ zen unsrer endlichen Kraft, aber hebt sie nicht auf, tiitb reinigt unsre Begriffe, ohne daß dieselben jemals ganz rein werden können. Die Vernunft hat an der V e re dlu ng unsrer Ueberzeugungen keinen an­ dern Antheil, als den einer A u s f ü h r e n « desje­ nigen, was sie im Heiligthume des Gewissens als bloße Zuschauerin wahrnimmt. I n dem Au­ genblicke als sie diese Rolle vergißt, als sie begreifen w ill, was sich nur fühlen, deutlich einsehen, was sich nur klar empsinden laßt, — als sie sich auf den Thron des unbekannten Gottes in uns drängen will — zerfallt sie mit sich selbst, und ihre Wortführer trennen sich in Sekten, die durch ihre Zänkereyen die klaren Aussprüche des sittlichen Gefühls verwirren, und die Grundwahrheiten der Moralität und der Religion zu bloßen Streitfragen herabwürdigen. Ich berufe mich auf die einzige R e v o l u t i o n , die einst durch W e lt b ü rg e rs in n

in

Zwölfter Brief.

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ln der Denkart der Philosophen bewirkt worden ist, «nb die freylich unter allen andern die größte und wohlthätigste war. Sie ging von dem sittlichen Gefühle eines einzigen Mannes aus, dessen Kopf dabey kaum ein anderes Verdienst hatte, als daß er das Organ seines Herzens war. Es war keine tie­ fere, noch weniger aber eine erschöpfende Einsicht in die letzten Gründe, wodurch sich Sokra­ tes über alles, sowohl was die sogenannten Phy ­ siker seiner Zeit über die Grundursachen ge­ träumt, als auch was die Sophisten über die Triebfedern der menschlichen Handlun­ gen vernünftelt hatten, empor schwang; wodurch er dem Gange der philosophierenden Vernunft eine bessere Richtung gab, und der Stifter des schönsten Zeitalters der griechischen Philosophie ward. Sein Geständniß, daß er nichts wisse, war keine Tirade einer erfün(selten Bescheidenheit, sondern in so ferne buchstäblich wahr, als das philoso­ phische Wissen in der Erkenntniß der letzten, und als solche allein zureichenden Gründe beste­ hen soll. E r nannte die ihrem Inhalte nach eben so klaren, als ihren Gründen nach unbegreiflichen Aussprüche des sittlichen Gefühls S ti m m e Got­ tes, und philosophieren hieß ihm sich selbst kennen lernen, nicht.etwa um über die Grü n­ de, sondern um über die Anwendung und Ausfü hrung der göttlichen Gebothe Auf­ schlüsse zu erhalten. Alles, was die Philoso­ phie der Akademiker, Peripatetiker, Stoiker und NeinholdSDr. 2 . Dd.

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Zwölfter Br i e f .

Epikuräer B rauchbares, Veredelndes und W ahres aufgestellt h a t, war Resultat des aus dem so k ra tisc h e u G e s i c h t s p u n k t e angestellten, oder, welches eben dasselbe ist, des durch sittliches G efühl geleiteten S tu d iu m s der Einrichtung und Gesetze des menschlichen G em üthes; alles S tre itig e , G e ­ fährliche, Grundlose und Ungereimte, w as in den Lehren dieser Schulen enthalten m ar, erfolgte aus der Abweichung von jenem Gesichtspunkte, und aus dem leidigen Versuche das Unbegreifliche be­ greifen zu wollen. I . Unstreitig! Allein diese Abweichung wurde unter andern auch dadurch begünstiget, d a ß jener Gesichtspunkt a u f keinen bestimm­ t e n B e g r i f f gebracht w ar, und der l e i d i g e V e r s u c h , von dem S ie sprechen, war und ist eine natürliche Folge des Unvermögens der u n e n t ­ w i c k e l t e n V ernunft, das B e g r e i f l i c h e von dem Unbegreiflichen zu unterscheiden. S o lange die philosophierende V ernunft nicht gewisse, im Hinaufsteigen letzte, und im Herabsteigen erste G ründe i n n e r h a l b d e s G e b i e t h e s d e s B e ­ g r e i f l i c h e n entdeckt hat, und durch dieselben über die G r ä n z e n dieses Gebiethes mit sich selbst einig geworden ist, so l a n g e wird sie beym Aussuchen jener Gründe bald diesseits bald jenseits der G ränzlinie herumschweifen, und in das bodenlose Land der S chim ären gerathen müssen. I n der S p h ä re der ih r ganz a l l e i n e i g e n t h ü m l i c h e n W irksamfeit kann es für sie durchaus nichts Unbegreifliches

£'A'61f;cr B r i e f .

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ccben, und es kömmt nur darauf an, diese Sphäre von derjenigen, auf welcher sie mit den Dingen außer ihr selbst in Verbindung wirkt, und zum Theil von denselben abfängt, unterscheiden zu ler­ nen. Dieses ist aber nur durch mannigfaltige und langwierige Versuche möglich, durch welche sich ihre Kräfte erst entwickeln und offenbaren müssen, und bey welchen sic von keinen durchgängig bestimm­ ten Principien (die nur der späte Erfolg jener Ver­ suche seyn können) geleitet wird. I m nächsten Jahrhunderte dürfte es wohl keinem Philosophen von Profession mehr ein Räthsel seyn, daß seine V o r­ fahren, welche gegenwärtig der Vernunft das V er­ mögen letzte Gründe zu finden absprechen, so­ wohl als die, welche ihr dasselbe einräumen, beyde Recht hatten, rind daß ihre Ueberzeugungen nur durch ein Mißverständniß in Widerspruch ge­ setzt wurden. Man wird darüber einig seyn, daß es auch für die Vernunft auf dem Gebiethe der E r­ fahrung, auf welchem sie die Erscheinungen der N a t u r zu erforschen hat, keine schlechter­ dings letzten Gründe geben könne; daß jeder von ihr auf demselben entdeckte ve rh äl tn iß m ä ßi g letzte G r u n d die künftige Entdeckung eines höheren, von dem er selbst nur eine Folge ist, vorbereite; und daß ihr daher die Erfahrung, als ein unendlicher Wirkungskreis, zum eigentlichen Fortschreiten MS Unendliche angewiesen sey. Allein man wird sich auch über die Behauptung und Anerkennung eines reinen Gebiethes der V e r n u n f t , so aben«

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Z w ö l f t e r B r i e f.

theuerlich jetzt noch die Benennung desselben klingen nluß, verstehen gelernt haben: indeni man ans die­ sem Gebiethe nichts als die Selbsterkenntnis? der Vernunft, das heißt die Wissenschaft der ihr eigenthümlichen, in ihrer Natur btftiinmtm Handlungsweise, und des Verhältnisses dersel­ ben zu den übrigen ihr untergeordneten ursprüng­ lichen Vermögen des Gemüthes, aussuchen und finden wird. Auf diesein Gebiethe mich eä schlechthin letzte Gründe, und unter diesen ein höchstes Gesetz geben, das den bestimmten und unveränderlichen Charakter der V e r n u n f t ausmacht, von dem uns bisher nur das deutliche Bewußtseyn gefehlt hat. Dieses Gesetz, welches, in wie ferne es dem W i l l e n Vorschriften giebt, das moralische heißt, und das sich in dieser Eigenschaft durch ein mehr oder weniger lebhaf­ tes Gefühl in einem klaren aber undeutlichen Be­ wußtseyn von jeher angekündiget hat und immer ankündigen wird, wurde und wird durch jeden B eg r iff mehr oder weniger verkannt, der nicht der durchgängig bestimmte, oder, welches eben so viel heißt, der nicht aus dem reinen Ge­ biethe der V e r m i n fr geschöpft ist, einem Gebiethe zu dessen Entdeckung alle gelungenen und mißlungenen Versuche der philosophierenden, oder eigentlicher Philosophie suchenden Ver­ nunft, von So k r a te s bis auf K a n t , unent­ behrlich waren.

Zwölfter B rie f.'

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Wenn Sokrates, anstatt den göttlichen Willen lediglich in dem sittlichen Gesetze aufzusuchen, dieses aus jenem Geschöpft zu haben meynte; wenn Plat o und Zeno die Sittlichkeit nicht in der Un­ terordnung, sende 11in der Unterdrückung, — E p i ­ kur und Aristoteles hingegen in einem bloßen Mittel der Befriedigung des eigennützigen Triebes bestehen ließen: so war dieses die natürliche Folge desjenigen Mangels an bestimmten Begriffen von der Vernunft und dem Verhältnisse derselben zur Sinnlichkeit, der nur sehr spät, und nicht ohne die vorhergegangenen Mißverständnisse, Streitig­ keiten und Untersuchungen, die er veranlaßte, auf­ gehoben werden konme. Allein, wenn S o k r a te s den vernünftigen Geist im Menschen für eine gött­ liche N a t u r , und in so ferne das sittliche G e ­ setz für den natürlichen Willen dieses Geistes erklärte; wenn P l a t o und Zeno die Forderungen der S in n li c h k e it , in wie ferne sie in der Person des Tugendhaften den Forderungen der Vernunft gemäß sind, mit diesen letztem verwechselten,und in so ferne bey dem zu unterdrückenden sinnlichen Triebe nur die unsittlichen Aeußerungen desselben vor Augen hatten; und wenn E p i k u r und Aristote­ les die Sittlichkeit für das einzige Mittel zur Glückse­ ligkeit hielten, das von dem W i l l e n des Men» scheu abhängt, und in so ferne nur derjenigen Glückseligkeit den Rang der wahren einräumten, die eine Folge des sittlichen Willens ist: so erkenne ich au dieser ihrer Denkart den einstweilig guten

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Zwö I tcr Bri ef.

Erfolg des Versuches der philosophierenden Vernunft, den großen Gegenstand des sittlichen Gefühls auf dem einzig möglichen Wege, das heißt durch Auf­ suchung der Ursache jenes Gefühls, kennen, und denselben von Allem, was zum Nachtheil der moralischen Kultur damit verwechselt werden konnte, unterscheiden zu lernen. So lange nun jene U r­ sache, ich will nicht sagen unbekannt, sondern auch nur in Einem ihrer eigenthümlichen Merkmale ver­ kannt, und folglich jener Versuch der philosophieren­ den Vernunft unvollendet ist; so lange sind alle ver­ schiedenen Begriffe von der Sittlichkeit, bey allem was in ihnen Wahres zerstreut liegt, gleichwohl, in so ferne sie für die G r u n d b e g r i ff e gehalten wer­ den, gänzlich unwahr; alle angeblich wiffenschaftlichen Principien, indem sie für die letzten gelten, Quellen des Irrthum s; alle Theorien der Sittlich­ keit, in so ferne nicht Inkonsequenz ihre praktische Anwendung vereitelt, sittenverdcrblich indem jeder nicht durchgängig bestimmte B e ­ g r if f vom sittlichen Gesetze seiner N a ­ t u r nach entweder zum M y s t i c i s m u s oder zum l i b e r t i n i s i n u s führen muß. Während dixssr Periode besinden sich die weltbürgerlich gesinnten Selbstdenker im S ta n d e der mehr oder weniger rohen N a t u r , in welchem sie sich einander über ihre wichtigsten Gedanken mißverstehen, das künf­ tige Princip ihrer Vereinigung als eine bloße Streit­ frage behandeln, und das, was jedem unter ihnen das heiligste ist, unaufhörlich angreifen und vertheidigen

Zwöl f t er B r i e f .

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muffen. M it ihrer künftigen Einhelligkeit über letzte Principien beginnt ewiger Frieden unter ihnen über das Eine was der Menschheit Not h, und worüber bloß zu meynen und zu streiten der Menschheit schimpflich i st, beginnt Philosophie als Wissenschaft und als natürliche Denkart der Welt­ bürger, beginnt ein S t a n d der Gesellschaft unter den Weisen und Guten, der auf keinem sinnli­ chen und eben darum auch vorübergehenden Interesse, auf keiner Aehnlichkeit in den Temperamenten, Nei­ gungen, und äußeren Bedürfnissen, auf keiner will­ kürlichen Verabredung, mit Einem Worte, üuf nichts Zufälligem und Veränderlichem, sondern lediglich auf dem wesentlichen Charakter der Mensch­ heit, in der Quelle aller Einhelligkeit, in der rei­ nen V e r n u n f t gegründet seyn wird. S . Und sollte diese reine V e r n u n f t kein bloßes Abstraktum seyn und bleiben, das außer einer erkünstelten Idee nirgendwo vorhanden ist? W ird nicht die wirkliche Vernunft durch Klima, O r­ ganisation, Temperament, Erziehung, Regierungs­ form, Leidenschaften u. s. w. so verschiedentlich mcd i f i c i e r t , daß sie in jedem Menschen eine beson­ dere Individualität hat? I. Sollten wohl die weltbürgerlich gesinn­ ten Selbstdenker einst nicht auch vorzüglich darüber einig werden, daß reine V e r n u n f t kein bloßes Abstraktum, sondern etwas sehr Wirkliches, daß sie eben in ihrer Reinheit die einzige wahre Triebfeder des Selbstdenkens und Selbstwollens sey; daß es

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Zwölfter B rief.

schlechterdings keine sittliche Handlung geben könne, als welche durch diese Vernunft geschieht; daß sie das Einzige sey, was im Menschen nicht mobi» ff e i e r t werden darf, und sich auch nicht modifi ­ eseren läßt; das Einzige, was die Menschheit über bloße Thierheit erhebt, was ihr Personalität, und mit derselben ein Gesetz giebt, das unter jedem Klima gelten soll, von dem kein Temperament los­ zählen kann, vor dem alle Neigungen verstummen müssen, lind wodurch P fl ic h t und Recht ihr W ese n, das heißt, ihre Erhabenheit über jede Ausnah­ me, ihre Überlegenheit über alle Begierden, und ihren Vorrang über alle andere Güter, das leben selbst nicht ausgenommen, mit Einem Worte, alle diejenigen Merkmale erhalten, an welchen sie von allen Weisen und Guten von jeher erkannt wor­ den sind? Weder die klimatische, noch die organische, noch die politische, noch irgend eine andere zufällige Ver­ schiedenheit in den Vorstellungsarten der Menschen hat die Einhelligkeit der Logiker und M a t h e m a ­ tiker über gewisse wesentliche Lehrsätze ihrer Wis­ senschaften verhindern können. Wenn in der M a ­ thematik die Bestimmtheit der Begriffe, und mit derselben das allgemeine Gelten der Satze durch die Anschaulichkeit ihrer Gegenstände be­ fördert wird, so muß hingegen die Logik dieses Vortheils gänzlich entbehren; während der bestimmte Begriff von der S i t t l i c h k e i t , wenn er einst erHingen seyn wird, durch das sittliche Gefühl dieje-

nige Evidenz erhalten wird, welche den Aussprüchen dieses Gefühls jederzeit und überall eigenthümlich ist, und die ihnen nur durch die bisherigen unbestimmten Begriffe der Philosophen streitig gemacht werden konnte. Die Eintracht der Selbstdenker, die ich als die Epoche der Mündigkeit der philosophierenden Vernunft erwarte, verliert das Befremdende einer schwärmerischen Hoffnung, so bald man bedenkt, daß sie lediglich nur dasjenige betr-ffen soll, was an und für sich selbst keine Verschiedenheit der Mey« nung, oder vielmehr gar kein Meynen zulaßt, außer in so ferne es verkannt wird; dasjenige, wozu in jedem Menschen die natürliche Anlage a u f eben dieselbe Weise vorhanden seyn muß, wenn er Mensch seyn soll; dasjenige, dessen vollendete Er­ kenntniß keine unmögliche Einsicht in das Wesen ei­ nes Dinges an sich, sondern nichts weiter als eine lange genug fortgesetzte Aufmerksamkeit des menschlichen Geistes auf seine eigenen Handlungen, und die durch dieselbe sowohl als durch die Uneinig­ keit der philosophierenden Vernunft mit sich selbst herbey gesi'ihrte Bekanntschaft mit den ursprüng-, liehen und allgemeinen Gesetzen des menschli­ chen Vorstellungs-Erkenntniß-und BegehrungSvermögens voraussetzt. S . Ich kann mir diese Einhelligkeit nicht ohne allgemeingeltende Formeln denken. Und sollten diese, wenn sie auch an und für sich selbst snöglich wären, bey dem natürlichen Fsrtschreiteq

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des menschlichen Geistes fortdauern können, ohne nicht eben dadurch in G l a u be n s a rti ke l auszu­ arten, durch welche die Freyheit endlich auch in dem einzigen Zufluchtsorte, wo sie sich noch zuweilen gegen Zwang sicher befand, in ihrem innersten Heiligthume beeinträchtiget, und die Denkkraft durch die Philosophen an die Fesseln geschmiedet würde, mit denen ihr der geistliche und weltliche Despotis­ mus bisher vergebens gedroht hat? I Ich kann mir keinen Sprachgebrauch ohne wirklich allgemeingeltende Zeichen der Gcdanken denken. Das allgemeine Gelten eines Aus­ drucks ist eine natürliche Folge von der Bestimmt­ heit feines Sinnes, und findet daher bey allen Be­ griffen, deren Gegenstände durch Anschauung und Erfahrung bestimmt werden, in allen Sprachen Statt. Wenn die philosophierende Vernunft die durchgängig bestimmten Begriffe von Sittlichkeit und von den lehten Principien ihres ei g en t h ü m l ichen Wiffens erworben haben wird: dann werden auch die Ausdrücke, durch welche jene Begriffe be­ zeichnet werden, ohne alle willkührliche V e r ­ abredung nur einen einzigen S i n n haben. Die einmal gefundenen letzten Vermmstgründe be= stimmen die Gränzen der Be gr eiflichkeit, über welche hinaus a u fw ä r t s kein Fortschreiten, außer in das Gebieth des Unsinnes, möglich ist, in welches sich die philosophierende Vernunft bisher so oft verirren mußte, und wodurch die Fort-

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schritte derselben abwärts auf den unermeßlichen 'Feldern des Begreiflichen bisher so sehr verzögert wurden. Das Vermögen über jene Gränzen hin­ aus zu gehen, ist Zügellosigkeit in Unwissenheit ge­ gründet, ein bloßes Unvermögen, das der Fre yh eit Abbruch thut. Die Vernunft dienet, wenn sie fremden Gesehen gehorcht; und dieses ist ihr so lange unvermeidlich, als sie ihre eigenen Ge­ setze von den Gesetzen der physischen Natur entweder gar nicht, oder nur durch Gefühle, nur durch undeut­ liche Vorstellungen zu unterscheiden vermag. Die F r e y h e it der Selbstdenker kann so wenig als die politische mit der Anarchie zusammen bestehen, welche bisher unter ihnen geherrscht hat, und die noch heut zu Tage von den meisten unter ihnen für das Palladium ihrer Freyheit gehalten wird. Die S tifte r oder Verbesserer der verschiedenen einzelnen Systeme herrschten und herrschen noch über eine ge­ wisse Anzahl von andern Selbstdenkern durch die Ueberlegenheit ihrer Tale nte , so wie sie selbst durch den Zufal l beherrscht sind, der doch immer eigentlich den letzten Grund enthielt, warum sie die Verminst lieber auf diese als auf eine andere Weist, lieber skeptisch als dogmatisch, naturalistisch als supernaturalistisch, materiallstisch als spiritualistisch ii. s. w. mißverstanden haben. J a , mein Freund, Zu fa ll war das einzige gemeinschaftliche höchste Princip aller bisherigen Philosophie, und wird es so lange bleiben, als sich unsre Selbstdenker über kein anderes, oder, welches eben so viel ist, so

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lange sie sich über ihre gemeinschaftliche Ver« nun ft nicht vereiniget haben werden, zivifci'en wel­ cher und dem Zufalle kein Mittelding denkbar ist. Wer nicht Zeit, Lust oder Kräfte hat, diesem leidi­ gen Anführer unter dem Namen der philoso­ phierenden V e r n u n f t durch die Labyrinthe der Spekulation zu folgen, der wird von ihm unter dem Namen des gefunden Menschenverstan­ des auf der breiten Heerstraße der Vorurtheile fort­ getrieben , auf welcher dieser blinde Despot des menschlichen Geschlechtes durch Erziehung, Ge­ wohnheit, politisches Bedürfniß, Staatsraifen, symbolische Bücher, unfehlbare Kirchen, stehende KriegSheerc, und wie seine übrigen Satrapen noch heißen mögen, diejenige Einheit der Ueberzeugun­ gen erzwingt, auf welche die Philosophie des großen Haufens so stolz ist; jene Philosophie, die, indem sie die nächsten Gründe für die letzten annimmt, mit Recht die populäre heißt. B . Ich fürchte, dieser große Haufen, zu welchem wir den größten Theil auch der arglosen, wohlmeynenden Gelehrten — in Rücksicht auf ihre Köpfe, und einen nicht unbeträchtlichen Theil vor­ züglicher Köpfe — in Rücksicht auf ihre Herzen zäh. len müssen, wird sich im Ganzen genommen immer selbst gleich, und durch ihn die Philosophie, die eö beyden nächsten Gründen bewenden läßt, im­ mer die herrschende bleiben. Gesetzt auch, daß die Pernunft in ihrem alten Kampfe mit dem Zufall

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den bis jetzt unerhörten Sieg davon trage, daß sie in einer kleinen Anzahl von Weisen über die Princi­ pien ihres Denkens und Wellend mit sich selbst einig werde. Von diesem Zeitpunkt an werden die Schrif­ ten dieser Wenigen den talentvollen Egoisten sowohl als den gewöhnlichen Schwachköpfen in dem Ver­ hältnisse unverständlicher und ungenießbarer gewor­ den seyn, als beyde in denselben die Spuren ihrer eigenen Gesinnung und Denkart vermissen, als sie es unmöglich finden werden, der ungeschmeidigen Sprache der Weltbürger auch nur hin und wieder ihre unbestimmten und willkührlichen Begriffe unterzuschieben, und die reinen Grundsätze derselben auf ihre unreinen Maximen zurück zu führen. Außer dem kleinen Kreise, aus dem sie hervor gegangen find, unbenutzt und ungelesen, werden sich die rcifeck Produkte der mit sich selbst einverstandenen Vernunft in dem Strome der beliebten Lektüre zum Nutzen und Vergnügen verlieren, und nur einem kleinen Theile des lesenden Publikums durch das Geräusch bekannt werden, das ihre Anklage und Verurtheilung vor dem Richterstuhle der herrschen­ den Vorurtheile verursachen dürfte« I. Ich verbitte mir jede Folgerung von dem, was geschehen mußte, da dieweltbürgerlich gesinntes Selbstdcnker nur durch Gefühle einig waren, auf das, was geschehen wird, wenn sie durch B e g r i ff e einig seyn werden; von dem, was geschah, so lange sie einander entgegen arbeiten mußten, auf das, was

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geschehen wird, wenn sie ohne Verabredung einander unterstützen werden; von dem, was geschah, solange sie sich in dem Verhältnisse von einander entfernen mußten, als sie über ihre gemeinschaftlichen Gefühle schärfer nachdachten, auf das, was geschehen wird, wenn selbst die Verschiedenheit ihrer besondern Ge? sichtspunkte den großen Gemeinschaftlichen, dem alle Besondere untergeordnet sind, in helleres Licht setzen, und die Verschiedenheit ihrer Talente, Tem­ peramente, Kenntnisse und individueller Vorstel­ lungsarten nur dazu dienen wird, die Allgemeinheit, Einheit und Fruchtbarkeit ihrer Principien zu bestä­ tigen und den Einfluß derselben zu erweitern. Bey allen bisherigen, die Elemente und Quellen der menschlichen Ueberzeugungen betreffenden Schritten, waren Abschweifungen ins Gebieth des Unbegreifli­ chen unvermeidlich, daher ihre D u n k el h ei t ; liegen zuletzt willkührliche Voraussetzungen zum Grunde, daher ihre Ungewißheit; wurde das Auszuma­ chende durch das Unausgemachte, das zu Bestim­ mende durch das Unbestimmte, das zu Erweisende aus dem Unerwiesenen, in ewigem Zirkel dargethan, daher ihre Trockenheit, S u b t i l i t ä t und Weitschweifigkeit; lauter Uebel, die mit dem Mangel, der sie veranlaßt hat, von selbst aufhören müssen. Man wird auf den Feldern der Spekula­ tion nur sehr wenig mehr zu thun haben, wenn das auf Geradewohk vorgenommene Herumirren auf den­ selben eben so unmöglich als vergeblich seyn wird, indem durch die endlich entdeckten letz-

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tcn P r i n c i p i e n der N a t u r z w e c k j e n e s H e r u m i r r e n s e r f ü l l t ist. D a s Geschäfte der philosophierenden V ernunft auf dem Gebiethe der M e t a p h y s i k wird auf immer beschlossen seyn, und das ganze V erdienst, das sich Selbstdenker um diese, in ihrem In h a lt alsdann vollendete Wissen­ schaft, werden erwerben kennen, wird in der Kürze, S im p licität, Bestimmtheit, m it Einem W orte in dm Vorzügen der Darstellung bestehen, durchweiche eine Wissenschaft, die zu den unentbehrlichsten V o r­ kenntnissen jedes Gelehrten ohne Ausnahme gehört, auch der gewöhnlichsten Fähigkeit eines jeden ange­ messen seyn wird. D ie Wissenschaft der letzten P rin ­ cipien, die gegenwärtig auch von denen, die die Möglichkeit derselben zugeben, für das N o n p lu s u lti.: philosophischer Spekulation gehalten wird, w ird, als E l e m e n t a r p h i l o s o p h i e , die unentbehr­ lichste, aber auch die leichteste und gemeinste unter den eigentlichen Wissenschaften, diejenige werden, in welcher es kein Selbstdenker dem andern zuvor thun kann, und von welcher der letzte, der dieses N am ens werth ist, genau soviel als der erste zu wissen ver­ m ag. M y s t i c i s m u s und L i b e r t i n i s m u s , D e s p o t i s m u s und A n a r c h i e werden an den bisherigen unbestimmten und unrichtigen G rundbe­ griffen der mit sich selbst uneinigen und unmündigen V ernunft die e i n z i g e Schutzwehre verlieren, hinter welcher sie sich bisher gegen g u t g e s i n n t e S e l b s t ­ d e n k e r zu vertheidigen vermochten; sie werden sich nicht, wie gegenwärtig, durch eben dieselben W affen

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schuhen können, durch welche sie der Rechtschaffene angreift; und dieser wird nicht mehr genörhiget feint, Zügellosigkeit durch Sklaverei), die Freyheit der Presse durch den Zwang derselben, IndifferenkismuS durch Intoleranz, lind umgekehrt, einzuschrän­ ken, um sich gegen beyde zu wehren. Aberglauben und Unglauben werden freylich nicht aus der W elt, ober gewiß aus der Denkart der weltbürgerlich ge­ sinnten Selbstdenker verbannt seyn, in welcher sie bisher nur unter der Maske der Sittlichkeit Schuh fanden, und welche, da sie mit sich selbst einig ge. worden ist, und durch diese Einigkeit überwiegende S tärke gewonnen hat, zwar nie allen Einfluß jener beyden Uebel, aber nach und nach die H e r r s c h a f t aufheben w ird, in welche sich diese Ungeheuer bisher über die moralischen Angelegenheiten der Mensch« heil getheilt haben. S . M ein Herz ist auf Ih re r S eite. Allein mein Kopf? — Ich glaube auch dieser würde foU gen, wenn S ie mir unter unsern weltbürgerlich ge, sinnten S c h r i f t s t e l l e r n auch nur ein P a a r aufweisen könnten, das über die letzten G r ü n d e seiner gemeinschaftlichen Gesinnung gleich den­ ken wird. E n d e des z w e y t e n B a n d e s .

Leipzig, gedruckt bey Christian Friedrich Solbrta.